Michel Foucault Der Mut zur Wahrheit Die Regierung des Selbst und der anderen 11 Vorlesung am College de France 19 83/84 Aus dem Französischen von Jürgen Schröder
Suhrkamp
Veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung des Französischen Ministeriums für Kultur Centre National du Livre und der Maison des Sciences de l'Homme, Paris Titel der Originalausgabe: Le courage de La virite. Le gouvernement de soi et des autres II Cours au College de France (1983-1984) © Editions du Seuil und Editions Gallimard 2009 Diese Ausgabe wurde unter der Leitung von Fran<;ois Ewald und Alessandro Fontana von Frederic Gros herausgegeben
Inhalt Yorwort
................................. .
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Yorlesung I (Sitzung vom
1.
Februar 1984, erste Stunde)
13
Vorlesung I (Sitzung vom
1.
Februar 1984, zweite Stunde)
42
Vorlesung 2 (Sitzung vom 8. Februar 1984, erste Stunde)
54
Vorlesung 2 (Sitzung vom 8. Februar 1984, zweite Stunde)
83
Vorlesung 3 (Sitzung vom 15. Februar 1984, erste Stunde)
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Vorlesung 3 (Sitzung vom 15. Februar 1984, zweite Stunde)
13°
Vorlesung 4 (Sitzung vom 22. Februar 1984, erste Stunde)
15 8
© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2010 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgend einer Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbrei tet werden. Satz und Druck: Memminger MedienCentrum Printed in Germany Erste Auflage 2010
Vorlesung 4 (Sitzung vom 22. Februar 1984, zweite Stunde)
188
Vorlesung 5 (Sitzung vom 29. Februar 1984, erste Stunde) ...... .
2°7
Vorlesung 5 (Sitzung vom 29. Februar 1984, zweite Stunde)
233
Vorlesung 6 (Sitzung vom 7. März 1984, erste Stunde)
252
Vorlesung 6 (Sitzung vom 7. März 1984, zweite Stunde)
28 5
ISBN 978-3-518-58544-3 I
2 3 4 5 6 -
15 14 13 12 II 10
Vorlesung 7 (Sitzung vom 14. März 1984, erste Stunde) .........
3°1
Vorlesung 7 (Sitzung vom 14. März 1984, zweite Stunde) ........
326
Vorlesung 8 (Sitzung vom 21. März 1984, erste Stunde) .........
349
Vorlesung 8 (Sitzung vom 21. März 1984, zweite Stunde) ........
377
Vorlesung 9 (Sitzung vom 28. März 1984, erste Stunde) .........
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Vorlesung 9 (Sitzung vom 28. März 1984, zweite Stunde) ........
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Frederic Gros, Situierung der Vorlesungen
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Literaturverzeichnis ......................... . Namenregister ............................. . Ausführliches Inhaltsverzeichnis ............... .
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Vorwort
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:\lichel Foucault hat am College de France von Januar 1971 bis zu seinem Tod im Juni 1984 gelehrt, mit Ausnahme des Jahres : 97'7, seinem Sabbatjahr. Sein Lehrstuhl trug den Titel: »GeIchichte der Denksysteme«. Dieser wurde am 30. November 1969 auf Vorschlag von Jules Yuillemin von der Generalversammlung der Professoren des College de France an Stelle des Lehrstuhls der »Geschichte des philosophischen Denkens« eingerichtet, den J ean Hippolyte bis zu seinem Tod innehatte. Dieselbe Versammlung wählte ).1ichel Foucault am 12. April 1970 zum Lehrstuhlinhaber. 1 Er v."ar 43 Jahre alt. ~\lichel Foucault hielt seine Antrittsvorlesung am 2. Dezember 2 =97 0 • Der Unterricht am College de France gehorcht besonderen Regeln: Die Professoren sind verpflichtet, pro Jahr 26 Unterrichtsstunden abzuleisten (davon kann höchstens die Hälfte in Form von Seminarsitzungen abgegolten werden).3 Sie müssen jedes Jahr ein neuartiges Forschungsvorhaben vorstellen, wodurch sie gezwungen werden sollen, jeweils einen neuen UnIerrichtsinhalt zu bieten. Es gibt keine Anwesenheitspflicht für die Vorlesungen und Seminare; sie setzen weder ein Aufnahmeverfahren noch ein Diplom voraus. Und der Professor stellt auch keines aus. 4 In der Terminologie des College de France Ylichel Foucault hatte für seine Kandidatur ein Plädoyer unter folgender Formel abgefaßt: »Man müßte die Geschichte der Denksysteme unternehmen« (»Titre et Travaux«, in: Dits et Ecrits, I954-I988, hg. v. Danie! Defert und Fran<;;ois Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange, Paris 1994, Bd. I, 1964- I969, S. 842 -846, bes. S. 846; dt. »Titel und Arbeiten«, in: ders., Dits et Ecrits. Schriften, Bd.l, I954-I969, Frankfurt/Main 200I, S. I069-I075, bes. S. I074f.). 2 In der Editions Gallimard im März 197I unter dem Titel L'Ordre du discours (Die Ordnung des Diskurses) publiziert. 3 Was Michel Foucault bis Anfang der 80er Jahre machte. ~ Im Rahmen des College de France. r
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heißt das: Die Professoren haben keine Studenten, sondern Hörer. Die Vorlesungen von Michel Foucault fanden immer mittwochs statt, von Anfang Januar bis Ende März. Die zahlreiche Hörerschaft aus Studenten, Dozenten, Forschern und Neugierigen, darunter zahlreiche Ausländer, füllte zwei Amphitheater im College de France. Michel Foucault hat sich häufig über die Distanz zwischen sich und seinem Publikum und über den mangelnden Austausch beschwert, die diese Form der Vorlesung mit sich brachte. 5 Er träumte von Seminaren als dem Ort echter gemeinsamer Arbeit. Er machte dazu verschiedene Anläufe. In den letzten Jahren widmete er gegen Ende seiner Vorlesungen immer eine gewisse Zeit dem Beantworten von Hörerfragen. Ein Journalist des Nouvel Observateur, Gerard Petitjean, gab die Atmosphäre 1975 mit folgenden Worten wieder: »Wenn Foucault die Arena betritt, eiligen Schritts vorwärtspreschend, wie jemand, der zu einem Kopfsprung ins Wasser ansetzt, steigt er über die Sitzenden hinweg, um zu seinem Pult zu gelangen, schiebt die Tonbänder beiseite, um seine Papiere abzulegen, zieht sein Jackett aus, schaltet die Lampe an und legt los, mit hundert Stundenkilometern. Mit fester und durchdringender Stimme, die von Lautsprechern übertragen wird, als einzigem Zugeständnis an die Modernität eines mit nur einer Lampe erhellten Saals, die ihren Schein zum Stuck hochwirft. Auf dreihundert Sitzplätze pferchen sich fünfhundert Leute, saugen noch den letzten Freiraum auf ... Keinerlei rhetorische Zugeständnisse. Alles transparent und unglaublich effizient. Nicht das kleinste Zugeständnis an die Improvisation. Foucault hat 5 Michel Foucault verlegte 1976 in der - vergeblichen - Hoffnung, die Hörerschaft zu reduzieren, den Vorlesungs beginn von 17 Uhr 45 am
späten Nachmittag auf 9 Uhr morgens. Vgl. den Anfang der ersten Vorlesung (am 7. Januar 1976) von »Il faut defendre la societe«. Cours au College de France (1975-76), unter der Leitung von Franc;ois Ewald und Alessandro Fontana hg. von Mauro Bertani und Alessandro Fontana, Paris 1997 [dt. von M. Ort: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am College de France (I975-76), Frankfurt/Main 1999].
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: JctHL zwölf Stunden, um in öffentlichem Vortrag den Sinn 5,:::tner Forschung des zu Ende gehenden Jahres zu erklären. D2.:'1Cf drängt er alles maximal zusammen und füllt die Randwie jene Korrespondenten, die noch immer allerhand _ sagen haben, wenn sie längst am Fuß der Seite angekommen o:nd. 19 Uhr 15. Foucault hält inne. Die Studenten stürzen zu o:::inem Pult. Nicht um mit ihm zu sprechen, sondern um die ~:;'2Ssettenrecorder abzuschalten. Niemand fragt etwas. In dem Tohuwabohu ist Foucault allein.« Und Foucault dazu: »Man :::,::iEre über das von mir Vorgestellte diskutieren. Manchmal, "V,'enn die Vorlesung nicht gut war, würde ein weniges genügen, tIle Frage, um alles zurechtzurücken. Aber diese Frage kommt ::-,ie. In Frankreich macht die Gruppenbindung jede wirkliche Diskussion unmöglich. Und da es keine Rückkoppelung gibt, . . die Vorlesung theatralisch. Ich habe zu den anwesenden Personen eine Beziehung wie ein Schauspieler oder Akrobat. :.: nd wenn ich aufhöre zu sprechen, die Empfindung totaler Einsamkeit.«6 ~\:i.chel Foucault ging seinen Unterricht wie ein Forscher an: Erkundungen für ein zukünftiges Buch, auch Rodungen für zu problematisierende Felder, die sich wie Einladungen an werdende Forscher anhörten. Auf diese Weise verdoppeln die Vor.esungen im College nicht die veröffentlichten Bücher. Sie neh:nen diese nicht skizzenartig vorweg, auch wenn die Themen der Vorlesungen und Bücher die gleichen sind. Sie haben ihren :::igenen Status und ergeben sich aus dem Einsatz eines bes:immten Diskurses im Gesamt der von Michel Foucault erstellten »philosophischen Akten«. Er breitet darin insbesondere das Programm einer Genealogie der Beziehungen von '~(-issen und Macht aus, im Hinblick auf welche er seine Arseit - im Gegensatz zu der einer Archäologie der Diskursfor:nationen, die sie bisher angeleitet hatte - reflektieren wird. 7
Gerard Petitjean, »Les Grands Pretres de I'Universite franc;aise«, Le Souvel Observateur, 7. April 1975-:- VgL insb. »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: ders., Dits et Eo-its. Schriften, Bd. II, 1970-1975, Frankfurt/Main 2002, S. 166-191.
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Die Vorlesungen hatten auch ihre Funktion innerhalb des Zeitgeschehens. Der Hörer, der ihnen folgte, wurde nicht nur von der Erzählung, die Woche für Woche weitergestrickt wurde, eingenommen; er wurde nicht nur durch die Stringenz des Vortrags verführt; er fand darin auch eine Erhellung der Tagesereignisse. Die Kunst Michel Foucaults bestand in der Durchquerung des Aktuellen mittels der Geschichte. Er konnte von Nietzsche und Aristoteles sprechen, von psychiatrischen Gutachten des 19. Jahrhunderts oder der christlichen Pastoral, der Hörer bezog daraus immer Einsichten in gegenwärtige und zeitgenössische Ereignisse. Michel Foucaults Stärke lag bei diesen Vorlesungen in dieser subtilen Verbindung von Gelehrsamkeit, persönlichem Engagement und einer Arbeit am EreIgms. Die in den 70er Jahren entwickelten und perfektionierten Kassettenrecorder haben das Pult von Michel Foucault in Windeseile erobert. Auf diese Weise wurden die Vorlesungen (und gewisse Seminare) aufbewahrt. Diese Ausgabe hat das öffentlich vorgetragene Wort von Michel Foucault zum Referenten. Sie bietet dessen möglichst wortgetreue Nachschrift. 8 Wir hätten es gerne als solches wiedergegeben. Aber die Umwandlung des Mündlichen ins Schriftliche verlangt den Eingriff des Herausgebers: Zumindest eine Zeichensetzung muß eingeführt und das Ganze in Paragraphen unterteilt werden. Das Prinzip war indes, so nah wie möglich an der tatsächlich vorgetragenen Vorlesung zu bleiben. Wenn es unabdingbar erschien, wurden Wiederaufnahmen und Wiederholungen weggelassen; unvollendete Sätze wurden zu Ende geführt und unrichtige Konstruktionen berichtigt. Auslassungspunkte zeigen an, daß die Aufzeichnung unver8 Insbesondere sind die von Gerard Burlet und Jacques Lagrange erstellten Tonbandaufnahmen verwendet worden, die auch beim College de France und beim IMEC (Institut memoires de l'edition contemporaine) deponiert sind. IO
ist. Wenn der Satz unverständlich ist, haben wir in K:ammern das vermutete Fehlende eingefügt oder er- S:t::-:-:::'len am Fuß der Seite gibt die signifikanten Abwei_-:gt:-: cer Aufzeichnungen Michel Foucaults vom Vorgetra::2
• 1 ~;~"2.eQer.
Z;:2:e v:urden überprüft und die verwendeten TextbezüDer kritische Apparat beschränkt sich darauf, P'.mkte zu erhellen, gewisse Anspielungen zu erläutern -::: :~::ische Punkte zu präzisieren. _.e Lektüre zu erleichtern, wurde jeder Vorlesung eine Zu. -- -.e::-efassung vorangestellt, die die Schwerpunkte der Aus_:-:gen angIbt. ·x!esungstext folgt deren Zusammenfassung, wie sie im des College de France abgedruckt wurde. Michel _~c. ..:.l: redigierte sie im allgemeinen im Juni, also einige Zeit 3eendigung der Vorlesung. Für ihn war das eine gute Ge_..~--;eit, im nachhinein deren Intention und Ziele herauszuSie ist deren beste Präsentation. 3and wird mit einer »Situierung« abgerundet, für die der verantwortlich zeichnet: Darin sollen dem Leser . -;;;·''':5e zum biographischen, ideologischen und politischen . :.:ext geliefert, die Vorlesung in das veröffentlichte Werk und Hinweise hinsichtlich ihrer Stellung inner-2::5 '·erwendeten Korpus gegeben werden, um sie leichter zu machen und Mißverständnisse zu vermeiden, s~ch aus dem Vergessen der Umstände, unter welchen jede ·c.desungen erarbeitet und gehalten wurde, ergeben könnDi:: Vorlesung des Jahres 1983/84 wird von Frederic Gros ~':'-:::sgegeben.
... : ..:.:::sa Ausgabe der Vorlesungen des College de France wird
--:e D:'::.le Seite des »Werks« von Michel Foucault publiziert. Es .- :n: ::igentlichen Sinn nicht um Unveröffentlichtes, da diedas öffentlich von Michel Foucault vorgetragene :.::-: -;r.-iedergibt und die Textstütze, auf die er zurückgriff und II
die unter Umständen sehr ausgefeilt war, vernachlässigt. Daniel Defert, der die Aufzeichnungen von Michel Foucault besitzt, hat den Herausgebern Einsichtnahme in sie gewährt. Wir sind ihm dafür zu großem Dank verpflichtet. Diese Ausgabe der Vorlesungen am College de France wurde von den Erben Michel Foucaults autorisiert, die der großen Nachfrage in Frankreich wie anderswo entgegenzukommen suchten. Und das unter unbestreitbar ernsthaften Voraussetzungen. Die Herausgeber suchten dem Vertrauen, das in sie gesetzt wurde, zu entsprechen. Fram;ois Ewald und Alessandro Fontana
5::zung vom
1.
Vorlesung I Februar 1984, erste Stunde)
',"::'::,::i;;:01'erische StruktHren und Formen der Alethurgie. - Genealo~ :::2rsOichung der parrhesia: die Praktiken des Wahrsprechens in . o::e eigene Person. - Der Lehrmeister im Horizont der Sorge um H:wpteigenschaJt: die parrhesia. - Strukturelle Merkmale: und Risiko. - Der parrhesiastische Pakt. - Parrhesia .':e:017R. - Die parrhesia als eigentliche Modalität des Wahrspre- .:.:::::rastierende Untersuchung zweier anderer Formen des WahrdeT antiken Kultur: Prophezeiung und Weisheit. - Heraklit ".:
. =b:ses Jahr möchte ich mit einigen Betrachtungen fort7cit denen ich letztes Jahr zum Thema der parrhesia, des ,. -;?:cchens, begonnen hatte. Die Vorlesungen, die ich gewerden wohl etwas unzusammenhängend sein, :..im eine Reihe von Dingen geht, die ich gewissermaßen möchte, um nach dieser griechisch-lateinischen :; , die einige Jahre in Anspruch nahm, l auf verschiedene :;~::össische Probleme zurückzukommen, die ich entweder ".~~- •• b beginnt mit folgenden Ausführungen: - _ ~.:.:'t, konnte ich meine Vorlesung nicht wie gewöhnlich Anfang Ja_:: :c'Cginnen. Ich war krank, wirklich krank. Es gab Gerüchte, daß ich -=-=::T:1ine durcheinander gebracht habe, um mich eines Teils meiner - : :t:schaft zu entledigen. Nein, nein, ich war wirklich krank. Daher :;h Sie, mich zu entschuldigen. Ich sehe allerdings, daß das Pro'::e, Anzahl von Plätzen dadurch nicht gelöst wurde. Ist der andere :,,,: denn nicht geöffnet? Haben Sie sich erkundigt? War die Ant1'0' • :-: :::::.deutig? :::.y; aus dem Publikum} - Aber ja. _. 7.-:.,.d also nicht geöffnet? - :::;::. "?:enn man darauf besteht. :nan also darauf besteht ... Dann tut es mir um so mehr leid, weil . .:..::;e:lommen hatte, daß das automatisch geschehen würde. Würde S:.~ s,ö,en nachzuschauen, ob es nicht möglich ist, das jetzt oder even_:_ J,::,. die nächste Stunde zu veranlassen? Ich verabscheue es, Sie kom2".: lassen, um Sie dann diesen katastrophalen materiellen Bedingun.:~..:.s:zusetzen.
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die unter Umständen sehr ausgefeilt war, vernachlässigt. Daniel Defert, der die Aufzeichnungen von Michel Foucault besitzt, hat den Herausgebern Einsichtnahme in sie gewährt. Wir sind ihm dafür zu großem Dank verpflichtet. Diese Ausgabe der Vorlesungen am College de France wurde von den Erben Michel Foucaults autorisiert, die der großen Nachfrage in Frankreich wie anderswo entgegenzukommen suchten. Und das unter unbestreitbar ernsthaften Voraussetzungen. Die Herausgeber suchten dem Vertrauen, das in sie gesetzt wurde, zu entsprechen. Franfois Ewald und Alessandro Fontana
(Sitzung vom
1.
Vorlesung I Februar 1984, erste Stunde)
Erkenntnistheoretische Strukturen und Formen der Alethurgie. - Genealoder Untersuchung der parrhesia: die Praktiken des Wahrsprechens in ;;ezug auf die eigene Person. - Der Lehrmeister im Horizont der Sorge um ;;ch. - Seine HaupteigenschaJt: die parrhesia. - Strukturelle Merkmale: 'X'ahrheit, Engagement und Risiko. - Derparrhesiastische Pakt. - Parrhesia :-ersus Rhetorik. - Die parrhesia als eigentliche Modalität des Wahrsprec,Jens. - Kontrastierende Untersuchung zweier anderer Formen des Wahr,-:-c:rechens in der antiken Kultur: Prophezeiung und Weisheit. - Heraklit ;,nd Sokrates.
=... ':-J Dieses Jahr möchte ich mit einigen Betrachtungen fortiahren, mit denen ich letztes Jahr zum Thema der parrhesia, des Wahrsprechens, begonnen hatte. Die Vorlesungen, die ich geplant habe, werden wohl etwas unzusammenhängend sein, weil es um eine Reihe von Dingen geht, die ich gewissermaßen abschließen möchte, um nach dieser griechisch-lateinischen Reise«, die einige Jahre in Anspruch nahm, l auf verschiedene zeitgenössische Probleme zurückzukommen, die ich entweder Y.
,- Die Vorlesung beginnt mit folgenden Ausführungen: - Leider konnte ich meine Vorlesung nicht wie gewöhnlich Anfang Januar beginnen. Ich war krank, wirklich krank. Es gab Gerüchte, daß ich die Termine durcheinandergebracht habe, um mich eines Teils meiner Zuhörerschaft zu entledigen. Nein, nein, ich war wirklich krank. Daher bitte ich Sie, mich zu entschuldigen. Ich sehe allerdings, daß das Problem der Anzahl von Plätzen dadurch nicht gelöst wurde. Ist der andere Hörsaal denn nicht geöffnet? Haben Sie sich erkundigt? War die Antwort eindeutig? [Antwort aus dem Publikum} - Aber ja. - Er wird also nicht geöffnet? - Doch, wenn man darauf besteht_ - \'Venn man also darauf besteht ... Dann tut es mir um so mehr leid, weil ich angenommen hatte, daß das automatisch geschehen würde. Würde es Sie stören nachzuschauen, ob es nicht möglich ist, das jetzt oder evenruell für die nächste Stunde zu veranlassen? Ich verabscheue es, Sie kommen zu lassen, um Sie dann diesen katastrophalen materiellen Bedingungen auszusetzen. I2
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im zweiten Teil der Vorlesung oder eventuell in Form eines Arbeitsseminars behandeln werde. Hier möchte ich Sie jedoch an folgendes erinnern. Sie wissen, daß die Vorlesungen des College den Bestimmungen gemäß öffentlich sind. Es ist also vollkommen richtig, daß jedermann, übrigens gleichgültig, ob er oder sie französischer Staatsbürger ist, das Recht hat, sie zu hören. Die Professoren am College haben die Pflicht, in diesen öffentlichen Vorlesungen regelmäßig ihre Forschungsergebnisse mitzuteilen. Dieses Prinzip stellt jedoch ein Problem dar und wirft eine Reihe von Schwierigkeiten auf, da die Forschungsarbeit, die man leisten kann - vor allem [zu] solchen Fragen wie jenen, die ich früher behandelt habe [und] auf die ich jetzt zurückkommen möchte, d. h. die Analyse bestimmter Praktiken und Institutionen in der modernen Gesellschaft -, immer mehr zu einem kollektiven Projekt wird, das sich natürlich nur [in] Form eines geschlossenen Seminars verwirklichen läßt und nicht in einem Vorlesungssaal wie diesem hier und mit einem so großen Publikum. 2 Ich verhehle Ihnen nicht, daß ich die Frage stellen werde, ob es möglich ist, d. h., ob es von der Institution akzeptiert werden kann, die Arbeit, die ich hier vorstelle, zwischen öffentlichen Vorlesungen - die, ich wiederhole es, zu meinen Verpflichtungen und zu Ihren Rechten gehören - und Veranstaltungen aufzuteilen, die auf kleine Arbeitsgruppen beschränkt wären, welche eine gewisse Zahl von Studenten oder Forschern enthielten, die eine größere Spezialisierung im Hinblick auf die jeweils zu erforschende Frage aufwiesen. Die öffentlichen Vorlesungen wären gewissermaßen die exoterische Version der etwas esoterischeren Gruppenarbeit. Jedenfalls weiß ich noch nicht, wie viele öffentliche Vorlesungen ich halten werde und bis wann ich sie halten werde. Wenn Sie wollen, nehmen wir das also in Angriff, und dann wird man schon sehen. Dieses Jahr möchte ich gerne die Untersuchung des freimütigen Sprechens, der parrhesia als Modalität des Wahrsprechens fortsetzen. Für diejenigen unter Ihnen, die letztes Jahr möglicherweise nicht da waren, rufe ich die allgemeine Idee in Erin-
r:erung. Es ist wirklich ungemein interessant und wichtig, die eigentümlichen Strukturen der verschiedenen Diskurse, die als v.'ahre Diskurse auftreten und auch so aufgenommen werden, im Hinblick auf ihre spezifischen Eigenschaften zu analysieren. Die Analyse dieser Strukturen könnte man allgemein als erkenntnistheoretische Analyse bezeichnen. Andererseits hatte ich aber den Eindruck, daß es auch interessant wäre, die Bedingungen und Formen des Handlungstyps zu untersuchen, durch den das Subjekt, das die Wahrheit sagt, sich manifestiert, was bedeuten soll: sich selbst als jemanden vorstellt und von den anderen als jemand erkannt wird, der die Wahrheit sagt. Es v;ürde sich also keinesfalls um eine Untersuchung der Frage handeln, welche Diskursformen dafür verantwortlich sind, daß der Diskurs als wahr anerkannt wird. Die Frage lautet vielmehr: Auf welche Weise konstituiert sich das Individuum selbst in seinem Akt des Wahrsprechens, und wie wird es von den anderen als Subjekt konstituiert, das einen wahren Diskurs hält, auf welche Weise stellt sich derjenige, der die Wahrheit sagt, in seinen eigenen Augen und in den Augen der anderen die Form des Subjekts vor, das die Wahrheit sagt. Die Untersuchung dieses Bereichs könnte man im Unterschied zur Untersuchung erkenntnistheoretischer Strukturen als Untersuchung der »alethurgischen« Formen bezeichnen. Ich verwende hier ein Wort, das ich letztes Jahr oder vor zwei Jahren kommentiert habe. Etymologisch betrachtet, ist die Alethurgie die Schöpfung der Wahrheit, der Akt, durch den sich die Wahrheit offenbart. 3 Lassen wir also die Untersuchungen vom Typ »erkenntnistheoretische Struktur« beiseite und untersuchen wir stattdessen die »alethurgischen Formen«. Das ist der Rahmen, in dem ich den Begriff und die Praxis der parrhesia erforsche. Aber denjenigen unter Ihnen, die nicht da waren, möchte ich erklären, wie ich zu dieser Problemstellung gelangt bin. Ich bin zu ihr im Ausgang von der alten Frage gelangt, die eine traditionelle Frage im Zentrum der abendländischen Philosophie ist, nämlich nach den Beziehungen zwischen Subjekt und Wahrheit. Diese Frage stellte ich zunächst in den klassischen,
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gewöhnlichen, traditionellen Begriffen, d. h., aufgrund welcher Praktiken und anhand welcher Diskurstypen versuchte man, die Wahrheit über das Subjekt zu sagen? Zum Beispiel: Aufgrund welcher Praktiken, anhand welcher Diskurstypen versuchte man, die Wahrheit über das wahnsinnige Subjekt oder das straffällige Subjekt zu sagen?4 Aufgrund welcher Diskurspraktiken wurde das sprechende Subjekt, das arbeitende Subjekt, das lebende Subjekt als möglicher Gegenstand des Wissens konstituiert?5 Das ist das Forschungsfeld, das ich eine gewisse Zeitlang zu bearbeiten versuchte. Und dann habe ich dieselbe Frage nach den Beziehungen zwischen Subjekt und Wahrheit auch in einer anderen Form zu betrachten versucht: nicht in der Form des Diskurses, in dem man die Wahrheit über das Subjekt sagen könnte, sondern des wahren Diskurses, den das Subjekt über sich selbst zu halten vermag, und zwar [in] einer Reihe von kulturell anerkannten und typisierten Formen, z. B. im Geständnis, im Bekenntnis, in der Gewissenserforschung. Das war also die Untersuchung der wahren Diskurse, die das Subjekt über sich selbst hält und deren Bedeutung für die Strafpraktiken oder auch für den Bereich der Erfahrung der Sexualität, den ich erforscht habe, leicht zu erkennen war. 6 Dieses Thema, dieses Problem hat mich in den Vorlesungen der vorangegangenen Jahre dazu geführt, eine historische Untersuchung der Praktiken des Wahrsprechens über sich selbst [in Angriff zu nehmen]. Während dieser Untersuchung fiel mir etwas auf, worauf ich eigentlich nicht gefaßt war. Um genauer zu sein, möchte ich sagen, daß es ein leichtes ist festzustellen, wie groß die Bedeutung des folgenden Prinzips in der gesamten antiken Moral, in der gesamten griechischen und römischen Kultur war. »Man soll die Wahrheit über sich selbst sagen«. Zur Stützung und Veranschaulichung dieser Bedeutung in der antiken Kultur kann man Praktiken anführen, die so häufig, beständig und stetig empfohlen werden, [wie] die Gewissensprüfung, die die Pythagoräer und die Stoiker vorschrieben, für die Seneca so ausführliche Beispiele gegeben hat und die man auch bei Marc
.4..urel wiederfindet. 7 Man kann auch eine Reihe von Praktiken y;:ie z. B. die Korrespondenzen, den Austausch moralischer, spiritueller Briefe aufzählen, wofür man bei Seneca, Plinius dem Jüngeren, Fronto und Marc Aurel Beispiele findet. 8 Au:~erdem kann man [zur] Illustration des Prinzips »Man soll die Wahrheit über sich selbst sagen« weitere Praktiken angeben, die vielleicht weniger bekannt sind und die weniger Spuren hinterlassen haben, wie z. B. jene Notizbücher, jene Arten von Tagebüchern, die man den Leuten über sich selbst anzulegen empfahl, etwa zur Erinnerung und zum Nachdenken über gemachte Erfahrungen oder über etwas, das man gelesen hatte, etwa auch, um sich beim Erwachen an [die eigenen] Träume zu erinnern. 9 Es gibt hier also in der antiken Kultur sehr offensichtlich, sehr massiv und sehr leicht erkennbar eine ganze Menge von Praktiken' die das Wahrsprechen über sich selbst zum Gegenstand haben. Diese Praktiken sind gewiß nicht unbekannt, und [ich] maße mir keineswegs an zu behaupten, daß ich sie entdeckt hätte. Das liegt nicht in meiner Absicht. Ich glaube aber, daß es eine gewisse Tendenz gibt, diese praktischen Formen des Wahrsprechens über sich selbst zu analysieren, indem man sie gewissermaßen auf eine zentrale Achse bezieht, die natürlich das ist durchaus legitim - das sokratische Prinzip des »Erkenne dich selbst« ist: Man erkennt in ihnen also die Illustration, die Verwirklichung, die konkrete Exemplifizierung dieses Prinzips des gnothi seauton. Ich meine jedoch, daß es interessant wäre, diese Praktiken, diese Verpflichtung, diesen Ansporn, die Wahrheit über sich selbst zu sagen, in einen größeren Zusammenhang zu stellen, der durch ein Prinzip bestimmt wird, ,·on dem das gnothi seauton selbst nur eine Folge ist. Dieses Prinzip - ich glaube, daß ich versucht habe, es in der Vorlesung vor zwei Jahren herauszuarbeiten - ist das Prinzip der epiIneleia heautou (der Sorge um sich, des Kümmerns um sich selbst).10 Dieses Gebot, das in der griechischen und römischen Kultur so archaisch und alt ist und das man in den Platonischen Texten, genauer in den sokratischen Dialogen, ganz regelmäßig
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mit dem gnothi seauton verbunden findet, dieses Prinzip (epimele seauto: kümmere dich um dich selbst) hat, so scheint mir, die Entwicklung dessen veranlaßt, was man eine "Kultur des Selbst«ll nennen könnte, eine Kultur des Selbst, bei der man erkennt, wie sich ein ganzer Satz von Selbstpraktiken herausbildet und entwickelt und wie er weitergegeben und ausgearbeitet wird. Durch die Untersuchung dieser Selbstpraktiken, die als historischer Rahmen dienten, in dem sich die Mahnung des ,>Man soll die Wahrheit über sich selbst sagen« entwickelte, sah ich, wie sich gewissermaßen eine Persönlichkeit abzeichnete, die ganz beständig als unabdingbarer Partner, zumindest aber als nahezu notwendige Stütze für diese Verpflichtung dargestellt wird, die Wahrheit über sich selbst zu sagen. Klarer und konkreter möchte ich folgendes sagen: Man braucht nicht auf das Christentum zu warten, auf die Institutionalisierung der Beichte 12 zu Beginn des 13. Jahrhunderts, auf die Planung und Einrichtung einer pastoralen Macht,13 damit die Praxis des Wahrsprechens über sich selbst sich auf die Gegenwart des anderen stütze und diese erfordere, auf den anderen, der zuhört, der zum Sprechen ermahnt und selbst spricht. Das Wahrsprechen über sich selbst, und zwar in der antiken Kultur (also weit vor dem Christentum) war eine Tätigkeit zu mehreren, eine Tätigkeit mit den anderen, und genauer noch eine Tätigkeit mit einem anderen, eine Praxis zu zweit. Dieser andere, der bei der Praxis des Wahrsprechens über sich selbst gegenwärtig ist, und zwar notwendig gegenwärtig, hat mich gefesselt und gefangengenommen. Der Status und die Gegenwart dieses anderen, der so unverzichtbar dafür ist, daß ich die Wahrheit über mich selbst zu sagen vermag, werfen natürlich eine ganze Reihe von Problemen auf. Die Analyse ist hier nicht gerade leicht, denn auch wenn es richtig ist, daß wir diesen anderen, der für das Wahrsprechen über sich selbst so unverzichtbar ist, in der christlichen Kultur relativ gut kennen, wo er die institutionelle Form des Beichtvaters oder des Leiters des Gewissens annimmt, auch wenn sich in der modernen Kultur dieser andere, dessen Status und
Funktionen man zweifellos genauer analysieren müßte, relativ :cicht bestimmen läßt - dieser andere, der unverzichtbar dafür :5::, daß ich die Wahrheit über mich selbst sagen kann, sei es nun Arzt, der Psychiater, der Psychologe oder der Psychoana::niker -, so muß man doch in der antiken Kultur, für die seine Gegenwart gleichwohl eindeutig bezeugt ist, die Tatsache anerkennen, daß sein Status viel variabler, viel unbestimmter, viel ?o"eniger deutlich konturiert und institutionalisiert ist. Dieser .:.ndere, der so unverzichtbar dafür ist, daß ich die Wahrheit ::ioer mich selbst sagen kann, dieser andere kann in der anti:,;:en Kultur ein Berufsphilosoph sein, aber auch sonst irgend°emand. Erinnern Sie sich beispielsweise [an] jenen Text Galens ::ioer die Behandlung der Irrtümer und Leidenschaften, wo er 5agt, daß man, um die Wahrheit über sich selbst zu sagen und sich selbst zu erkennen, einen anderen braucht, den man sich :rgendwoher nehmen soll, vorausgesetzt, es handelt sich um ;:inen bejahrten und ernsthaften Mann. 14 Er kann ein Berufs;:hilosoph sein, aber auch ein quidam (irgendwer). Er kann ein Lehrer sein, der mehr oder weniger einer institutionalisierten ?ädagogischen Körperschaft angehört (Epiktet z. B.leitete eine Schule 15 ), er kann aber auch ein persönlicher Freund oder ein ::"iebhaber sein. Er kann ein zeitweiliger Führer für einen jungen Mann sein, der seine Reife noch nicht völlig erreicht hat, Jer seine grundlegenden Entscheidungen in seinem Leben ::loch nicht getroffen hat, der noch nicht ganz Herr über sich selbst ist, aber auch ein ständiger Berater, der jemanden sein sanzes Leben lang begleiten und ihn bis zu seinem Tod führen Erinnern Sie sich beispielsweise an Demetrius, den Kyniker, der Berater von Thrasea Paetus war, einem bedeutenden ?\lann im politischen Leben Roms in der Mitte des 1. JahrhunJerts, und der ihm bis zum Tag seines Todes, bis zu seinem Selbstmord als Berater gedient hat - da Demetrius ja beim Selbstmord von Thrasea Paetus zugegen war und ihn durch ei::len sokratischen Dialog über die Unsterblichkeit der Seele bis zu seinem letzten Atemzug unterhielt. 16 Der Status dieses anderen ist also variabel. Und seine Rolle, sei-
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ne Tätigkeit selbst ist nicht so leicht herauszuschälen bzw. zu bestimmen, da diese Rolle ja in gewissem Sinne mit der Pädagogik zu tun hat und sich auf sie gründet, aber auch die Leitung der Seele beinhaltet. Es kann sich auch um eine Art von politischer Beratung handeln. Aber zugleich stellt sich diese Rolle metaphorisch dar, manifestiert sich und nimmt Gestalt an in einer Art von medizinischer Praxis, da es doch um die Pflege der Seele 17 und die Bestimmung einer Lebensordnung geht, die selbstverständlich die Ordnung der Leidenschaften, aber auch die Ernährungsweise,18 die Lebensführung in all ihren Aspekten umfaßt. Was aber auch die Ungewißheit oder, wenn Sie so wollen, die Vielgestaltigkeit, die verschiedenen Aspekte und Blickwinkel sein mögen, unter denen dieser andere erscheint, der so unverzichtbar dafür ist, die Wahrheit über sich selbst zu sagen, wenn diese Blickwinkel auch zahlreich sind, wenn er vielgestaltig ist oder wenn seine Rolle selbst - zwischen Medizin, Politik, Pädagogik - nicht immer leicht zu fassen ist, was also auch immer diese Rolle und dieser Status, seine Funktion und seine Blickwinkel sein mögen, so hat doch dieser andere, der für das Wahrsprechen über sich selbst unverzichtbar ist, eine bestimmte Qualifikation, um ein wahrhafter und wirkungsvoller Partner für das Wahrsprechen über sich selbst zu sein, oder vielmehr sollte er eine solche haben. Diese Qualifikation wird nicht wie in der christlichen Kultur beim Beichtvater oder beim Leiter des Gewissens durch die Institution verliehen und bezieht sich auch nicht auf den Besitz und die Ausübung bestimmter spiritueller Vermögen. Sie ist auch nicht wie in der modernen Kultur eine institutionelle Qualifikation, die ein bestimmtes psychologisches, psychiatrisches oder psychoanalytisches Wissen garantiert. Die Qualifikation, die diese ungewisse, etwas nebelhafte und schwankende Persönlichkeit braucht, ist eine bestimmte Praxis, eine bestimmte Weise des Redens, die gerade parrhesia (das freimütige Reden) genannt wird. Dieser Begriff der parrhesia, des Freimuts, der für die Persön20
:ichkeit dieses anderen wesentlich ist, den ich unbedingt braudamit ich die Wahrheit über mich selbst sagen kann, ist für '2rrs jetzt natürlich ziemlich schwer wiederzugewinnen. Aber schließlich hat er doch viele Spuren in den lateinischen und i=riechischen Texten hinterlassen. Zunächst hat er natürlich e:lfch das ziemlich häufige Vorkommen des Wortes Spuren ~c:nterlassen, aber auch durch Bezüge, die zu diesem Begriff :lergestellt werden, selbst wenn das Wort keine Verwendung ::ndet. Wir werden viele Beispiele dafür bei Seneca finden, wo eie Praxis der parrhesia durch eine Menge von Beschreibungen :.:rrd Bestimmungen ganz gut umrissen wird, praktisch ohne das Wort genannt wird, und sei es nur aufgrund der Schwierigkeiten, denen die Römer [begegneten], um das Wort ?"rrhesia selbst zu übersetzen. 19 Unabhängig vom Vorkom:-nen des Wortes oder von Bezugnahmen auf den Begriff findet :-nan auch eine Reihe von Texten, die mehr oder weniger volls':ändig dem Begriff der parrhesia gewidmet sind. Da gibt es een Text des Epikuräers Philodem aus dem 1. Jahrhundert ehr., der leider zum großen Teil verlorenging. Philodem hat:e einen Text mit dem Titel Peri parrhesias geschrieben. 20 Aber es gibt [auch] die Abhandlung Plutarchs Über die Schmeichelei, eie insgesamt der Analyse der parrhesia gewidmet ist oder viel:-nehr der Analyse jener beiden entgegengesetzten, miteinander konfligierenden Praktiken, nämlich einerseits der Schmeichelei :lrrd andererseits der parrhesia (des Freimuts).21 Es gibt den Text Galens, den ich gerade erwähnt habe und der sich auf die Behandlung der Irrtümer und Leidenschaften bezieht, wo eine i=aTIze Reihe von Ausführungen der parrhesia und der Wahl desjenigen gewidmet sind, der wirklich qualifiziert ist, von diesem Freimut Gebrauch machen zu können und zu müssen, da:-nit das Individuum seinerseits die Wahrheit über sich selbst sagen und sich als Subjekt konstituieren kann, das die Wahrheit über sich selbst sagt. 22 Auf diese Weise gelangte ich also dazu, bei diesem Begriff der parrhesia als konstitutivem Element des \'rahrsprechens über sich selbst innezuhalten. Genauer handelt es sich dabei um ein Element, das den anderen auszeichnet, der 2I
im Spiel und der Verpflichtung, die Wahrheit über sich selbst zu sagen, notwendig ist. Sie erinnern sich vielleicht, daß ich letztes Jahr die Analyse dieses Freimuts, der Praxis der parrhesia und der Persönlichkeit in Angriff genommen habe, die in der Lage ist, von der parrhesia Gebrauch zu machen, und die sich - das Wort erscheint erst später - der Parrhesiast (parrhesiastes) nennt. Die Untersuchung der parrhesia und des parrhesiastes in der Selbstkultur der Antike ist offensichtlich eine Art von Vorgeschichte dieser Praktiken, die sich in der Folge um einige berühmte Paare herum angeordnet und entwickelt haben: der Büßer und sein Beichtvater, der Geleitete und der Leiter des Gewissens, der Kranke und der Psychiater, der Patient und der Psychoanalytiker. Genau diese Vorgeschichte habe ich in einem gewissen Sinne zu [schreiben] versucht. Als ich nun in dieser Perspektive die parrhesiastische Praxis als Vorgeschichte dieser berühmten Paare untersuchte, fiel mir erneut etwas auf, das mich ein bißchen überrascht hat und das ich nicht vorhergesehen hatte. So wichtig der Begriff der parrhesia, vor allem in der hellenistischen und römischen Literatur, im Bereich der Gewissensleitung, der spirituellen Führung und der Seelenberatung auch sein mag, muß man doch anerkennen, daß sein Ursprung anderswo liegt und daß er nicht wesentlich, grundsätzlich, ursprünglich in dieser Praxis der spirituellen Leitung auftaucht. Der Begriff der parrhesia - das habe ich Ihnen letztes Jahr zu zeigen versucht - ist zuerst und im Grunde ein politischer Begriff. Und die Analyse der parrhesia als eines politischen Begriffs führte mich natürlich etwas von meinem unmittelbaren Projekt ab: der Frühgeschichte der Praktiken des Wahrsprechens über sich selbst. Andererseits wurde jedoch dieser Nachteil durch die Tatsache aufgewogen, daß ich mich durch die Wiederaufnahme oder die Durchführung der Analyse der parrhesia im Bereich der politischen Praktiken einem Thema wieder annäherte, das schließlich in meiner Analyse der Beziehungen zwischen Subjekt und Wahrheit ständig gegenwärtig war: 22
das Thema der Beziehungen der Macht und ihrer Rolle im . 'zwischen dem Subjekt und der Wahrheit, Mit dem Begriff ier parrhesia, der ursprünglich in der politischen Praxis und Jer Problematisierung der Demokratie verwurzelt ist und dann auf den Bereich der persönlichen Ethik und der Konsti::-Jrion des moralischen Subjekts 23 abgeleitet wurde, mit diesem :m Politischen verwurzelten und auf das Moralische abgeleite:en Begriff haben wir die Möglichkeit, um es sehr schematisch Z:J sagen, die Frage nach dem Subjekt und der Wahrheit vom S:andpunkt der Praxis dessen zu stellen, was man die Regie:-:Jng des Selbst und der anderen nennen könnte. Aus diesem Grund interessierte ich mich für ihn, hielt ich bei ihm inne und :iahe ich mich immer noch bei ihm auf. So treffen wir auf das Thema der Regierung, das ich vor mehreren Jahren untersucht iatte. 24 Mir scheint, daß man durch die Untersuchung des Begriffs der parrhesia sehen kann, wie sich die Analyse der VeriJiktionsmodi, die Untersuchung der Techniken der Gouvernementalität und die Bestimmung der Formen der Selbstpraxis wsammenfügen, Die Gliederung zwischen den Veridiktionsmodi, den Techniken der Gouvernementalität und der Selbstpraktiken ist im Grunde das, was ich immer zu beschreiben "'ersucht habe. 25 Insofern es darum geht, die Beziehungen zwischen Veridikti;)nsmodi, Techniken der Gouvernementalität und Formen der Selbstpraxis zu analysieren, sehen Sie auch, daß die Präsentacion solcher Untersuchungen als Versuch, das Wissen auf die :'v1acht zu reduzieren, um innerhalb von Strukturen, in denen das Subjekt keinen Platz hat, aus dem Wissen die Maske der :'v1acht zu machen, nur eine reine und schlichte Karikatur sein kann. Im Gegensatz dazu geht es um die Analyse komplexer Beziehungen zwischen drei unterschiedlichen Elementen, die nicht aufeinander reduzieren lassen, die sich nicht ineinander auflösen, sondern deren Beziehungen füreinander konstirutiv sind. Diese drei Elemente sind: die Gestalten des Wissens, insofern sie in der Besonderheit ihrer Veridiktion untersucht werden; die Beziehungen der Macht, insofern sie nicht als Aus23
fluß einer substantiellen und zudringlichen Macht, sondern anhand der Verfahren erforscht werden, durch die das Verhalten der Menschen regiert wird; und schließlich die Modi der Konstitution des Subjekts aufgrund der Selbstpraktiken. Durch diese dreifache theoretische Verschiebung - vom Thema der Erkenntnis zu dem der Veridiktion, vom Thema der Herrschaft zu dem der Gouvernementalität, vom Thema des Individuums zu dem der Selbstpraktiken - kann man, so scheint mir, die Beziehungen zwischen Wahrheit, Macht und Subjekt untersuchen, ohne sie jemals aufeinander zu reduzieren. 26 Nachdem ich diese allgemeine Entwicklungslinie in Erinnerung gerufen habe, möchte ich nun kurz einige der wesentlichen Elemente [ansprechen], die die parrhesia und die Rolle des Parrhesiasten auszeichnen. Ich werde ganz kurz und noch einmal [im Interesse] derjenigen, die nicht da waren, auf Dinge zurückkommen, die ich schon vor einigen Minuten gesagt habe (ich entschuldige mich bei denen, die dies nochmals hören werden), und dann möchte ich so schnell wie möglich zu einer anderen Art und Weise übergehen, wie man denselben Begriff der parrhesia ins Auge fassen könnte. Sie erinnern sich, daß die parrhesia etymologisch die Tätigkeit bedeutet, die darin besteht, alles zu sagen: pan rema. Parrhesiazesthai bedeutet »alles sagen«. Der parrhesiastes ist derjenige, der alles sagtP So sagt Demosthenes in seiner Rede Über die Botschaft: Es ist notwendig, mit parrhesia zu sprechen, ohne vor irgend etwas zurückzuweichen, ohne irgend etwas zu verbergen. 28 Ebenso nimmt er in der Ersten Philippika denselben Ausdruck wieder auf und sagt: Ich werde euch meine Gedanken darlegen, ohne irgend etwas zu verheimlichen. 29 Der Parrhesiast ist derjenige, der alles sagt. Man muß jedoch sofort klarstellen, daß das Wort parrhesia mit zwei Wertungen gebraucht werden kann. Die pejorative Wertung findet man zum ersten Mal, glaube ich, bei Aristophanes und anschließend sehr häufig bis zur christlichen Literatur. Mit einer pejorativen Wertung gebraucht, besteht die parrhesia darin, alles zu sagen, nämlich in dem Sinne, daß man Beliebiges
52_g, (Beliebiges von dem, was einem in den Sinn kommt, Belie2:ges, was der Sache, die man vertritt, nützlich sein kann, Belie2:ges, was der Leidenschaft oder dem Interesse des Sprechers :':enen kann). Der Parrhesiast erscheint so als der unverbesser':2he Schwätzer, als einer, der sich nicht zurückhalten kann, :dcr jedenfalls als einer, der nicht in der Lage ist, seine Rede an ~inem Prinzip der Rationalität und einem Prinzip der Wahrheit 2.ilszurichten. Für diesen pejorativen Gebrauch der parrhesia zu sagen, Beliebiges zu sagen, zu sagen, was einem in den ):nn kommt, ohne sich auf irgendein Prinzip der Vernunft cder der Wahrheit zu beziehen) gibt es ein Beispiel bei Isokra:es in der Rede mit dem Titel Busiris, wo Isokrates sagt, daß ::T;an über die Götter nicht alles sagen darf, so wie es sich die 'Jichter erlauben, die ihnen völlig Beliebiges, beliebige Eigen5<:haften oder Mängel unterstellt haben. 30 Ebenso [findet] man :::T; Staat im VIII. Buch (ich werde Ihnen die Stelle gleich geZLluer angeben, da ich [auf] diesen Text zurückkommen werde) Beschreibung des schlechten demokratischen Stadt staats, zier ganz kunterbunt, ganz aufgelöst, zwischen verschiedenen Interessen, verschiedenen Leidenschaften und Individuen aufgesplittert ist, die sich nicht verstehen. Dieser schlechte demoSIatische Stadtstaat praktiziert die parrhesia: Jeder kann Beliebiges sagen. 3! 'Jas Wort parrhesia wird aber auch mit einer positiven Werc:.mg gebraucht, und dann besteht die parrhesia darin, ohne 'erheimlichung oder Zurückhaltung, ohne stilvolle Klausel cder rhetorische Ausschmückung, die sie verschlüsseln oder ::T;askieren könnte, die Wahrheit zu sagen. »Alles zu sagen« beieutet dann: die Wahrheit zu sagen, ohne etwas davon zu verbergen, ohne sie durch was auch immer zu verschleiern. In der Zs'eiten Philippika sagt Demosthenes daher, daß er im Unterschied zu den schlechten Parrhesiasten, die Beliebiges sagen :md ihre Reden nicht an der Vernunft ausrichten, nicht ohne 'emunft sprechen will. Er will sich nicht »zu Beschimpfungen ierablassen« und »Schlag mit Gegenschlag vergelten«.32 (Sie 'J,'issen, jene berüchtigten Streitgespräche, wo man alles mögli-
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,;. Wiederherstellung des Sinns. M. F. sagte: ... nicht nur, daß er zufällig die Wahrheit sagt oder daß er sie als Lippenbekenntnis sagt, sondern er muß sie als das sagen, was er denkt.
~sagtJ, die es als seine Meinung, seine Gedanken, seine Überzeugung kennzeichnet, ein gewisses Risiko eingehen, ein Risi~~o, das gerade die Beziehung zu demjenigen betrifft, an den es oich wendet. Damit es sich um parrhesia handelt, muß man, iniern man die Wahrheit sagt, das Risiko eingehen, begründen ·..md ihm die Stirn bieten, das Risiko nämlich, einen anderen zu -,"erletzen, ihn zu reizen, ihn zu erzürnen und eine Reihe von \'erhaltensweisen bei ihm hervorzurufen, die bis zur äußeriten Gewalttätigkeit reichen können. Es handelt sich also um iie Wahrheit mit dem Risiko der Gewalterfahrung. Nachdem er gesagt hat, daß er meta parrhesias (mit Offenheit) spricht, ~~gt] Demosthenes beispielsweise in der Ersten Philippika =hinzu]: Ich weiß wohl, daß ich die Folgen nicht kenne, die sich mich aus dem Gesagten ergeben, wenn ich von dieser Of:enheit Gebrauch mache. 34 Damit es parrhesia geben kann, ist alles in allem für den Akt der '\\"ahrheit folgendes notwendig: erstens das Bestehen einer grundsätzlichen Verknüpfung zwischen der ausgesprochenen ';fahrheit und dem Denken dessen, der sie ausgesprochen hat; ~zweitens] die Infragestellung der Beziehung zwischen den Seiden Gesprächspartnern (demjenigen, der die Wahrheit sagt, '..md demjenigen, an den diese Wahrheit gerichtet ist). Daher riihrt jener neue Zug der parrhesia: Sie beinhaltet eine bestimmte Form des Mutes, einen Mut, dessen Minimalform darin besteht, daß der Parrhesiast immer Gefahr läuft, diese Beziehung zu untergraben, die die Bedingung der Möglichkeit seiner Rede ist. Das läßt sich beispielsweise ganz deutlich an ier parrhesia als Gewissensleitung erkennen, wo nur dann eine solche Leitung möglich ist, wenn eine Freundschaft besteht, wo der Einsatz der Wahrheit in dieser Gewissensleitung gerade das Risiko beinhaltet, die Beziehung der Freundschaft, iie die wahre Rede doch ermöglicht hat, in Frage zu stellen '..md zu zerstören. Dieser Mut kann jedoch in einer Reihe von Fällen auch eine :,laximalform annehmen, wenn man für das Aussprechen der ';I;'ahrheit nicht nur akzeptieren muß, daß dadurch die persön-
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che sagt, vorausgesetzt, daß es dem Gegner schaden und dem eigenen Anliegen nützlich sein kann.) Das will er nicht tun, sondern im Gegenteil mit der parrhesia (meta parrhesias) das Wahre sagen (ta alethe: die wahren Dinge). Allerdings fügt er hinzu: Ich werde nichts verheimlichen (ouch apochrypsomai).33 Nichts verbergen, die wahren Dinge sagen, darin besteht die Praxis der parrhesia. Die parrhesia bedeutet also »alles sagen«, aber ausgerichtet an der Wahrheit: alles von der Wahrheit sagen, nichts von der Wahrheit verheimlichen, die Wahrheit sagen, ohne sie durch irgend etwas zu maskieren. Ich meine jedoch, daß das nicht ausreicht, um diesen Begriff der parrhesia zu charakterisieren und zu bestimmen. Um von der parrhesia im positiven Sinne des Begriffs sprechen zu können -lassen wir nun die negativen Wertungen beiseite -, sind zwei zusätzliche Bedingungen nötig, die über die Regel des AIles-Sagens und die der Wahrheit hinausgehen. Es ist nicht nur notwendig, daß diese Wahrheit die persönliche Meinung des Sprechers darstellt, sondern er muß sie auch als das sagen, was er denkt, [und nicht] nur als Lippenbekenntnis':' - darin besteht seine Eigenschaft als Parrhesiast. Der Parrhesiast gibt seine Meinung kund, er sagt, was er denkt, er unterzeichnet gewissermaßen selbst die Wahrheit, die er ausspricht, er bindet sich an diese Wahrheit und verpflichtet sich folglich auf sie und durch sie. Aber das reicht nicht aus. Denn schließlich können ein Lehrer, ein Grammatiker, ein Geometer eine Wahrheit über das, was sie unterrichten, über die Grammatik oder die Geometrie sagen, eine Wahrheit, an die sie glauben, eine Wahrheit, die sie denken. Dennoch wird man nicht sagen, daß es sich dabei um parrhesia handelt. Man wird nicht sagen, daß der Geometer oder der Grammatiker Parrhesiasten sind, wenn sie die Wahrheiten lehren, an die sie glauben. Sie erinnern sich, damit parrhesia vorliegt - ich habe diesen Punkt letztes Jahr besonders betont -, muß das Subjekt, [indem es] diese Wahrheit
liehe, freundschaftliche Beziehung in Frage gestellt wird, die man zu der Person unterhält, [mit der] man spricht, sondern wenn es dazu führt, sein eigenes Leben zu riskieren. Als Platon Dionysios den Älteren besucht - so wird es von Plutarch erzählt-, sagt er ihm verschiedene Wahrheiten, die den Tyrannen dermaßen verletzen, daß er den Entschluß faßt, Platon zu töten, den er jedoch nicht ausführt. Aber Platon wußte das im Grunde und akzeptierte dieses Risiko. 35 Die parrhesia setzt also nicht nur die etablierte Beziehung zwischen dem Sprechenden und dem, an den sich die Wahrheit richtet, aufs Spiel, sondern sie riskiert sogar die Existenz des Sprechenden, zumindest wenn sein Gesprächspartner Macht über ihn hat und er die Wahrheit, die man ihm sagt, nicht ertragen kann. Diese Beziehung zwischen der parrhesia und dem Mut wird sehr schön von Aristoteles verdeutlicht, wenn er in der Nikomaehisehen Ethik das, was er die megalopsyehia (die Seelengröße) nennt, mit der Praxis der parrhesia verbindet. 36 Die parrhesia kann sich nur - das ist das letzte Merkmal, an das ich kurz erinnern möchte - in so etwas wie einem parrhesiastischen Spiel ausbilden, entwickeln und stabilisieren. Denn wenn der Parrhesiast wirklich derjenige ist, der das Risiko eingeht, seine Beziehung zum anderen und sogar seine eigene Existenz in Frage zu stellen, indem er die Wahrheit sagt, die ganze Wahrheit gegenüber allem, dann [muß] derjenige, dem diese Wahrheit gesagt wird - ob es sich nun um das versammelte Volk handelt, das über die besten Entscheidungen nachdenkt, die in Zukunft getroffen werden müssen, ob es sich um den Fürsten, den Tyrannen oder den König handelt, dem man Ratschläge erteilen soll, oder ob es der Freund ist, den man berät-, (Volk, König oder Freund), wenn er die Rolle spielen will, die ihm der Parrhesiast vorschlägt, indem er ihm die Wahrheit sagt, sie akzeptieren, wie verletzend sie für die anerkannten Meinungen in der Volksversammlung, für die Leidenschaften und Interessen des Fürsten und für die Unwissenheit oder Verblendung des Individuums auch sein mag. Das Volk, der Fürst, das Individuum müssen das Spiel der parrhesia akzeptieren. Sie
::::.ussen es selbst spielen und anerkennen, daß man dem, der das eingeht, ihnen die Wahrheit zu sagen, Gehör schenken soll. Auf diese Weise wird das wahre Spiel der parrhesia be:"Jndet, im Ausgang von dieser Art von Pakt. Wenn der Par:-:'lesiast seinen Mut beweist, indem er die Wahrheit über und segen alles sagt, dann hat das zur Folge, daß derjenige, an den slch diese parrhesia richtet, seine Seelengröße zeigen muß, :::dem er akzeptiert, daß man ihm die Wahrheit sagt. Diese ."'-rt von Pakt zwischen dem, der das Risiko eingeht, die Wahrrreit zu sagen, und dem, der bereit ist, sie zu hören, steht im Zentrum dessen, was man das parrhesiastische Spiel nennen Könnte. Die parrhesia ist also, kurz gesagt, der Mut zur Wahrheit seirens desjenigen, der spricht und das Risiko eingeht, trotz allem die ganze Wahrheit zu sagen, die er denkt, sie ist aber auch der :\lur des Gesprächspartners, der die verletzende Wahrheit, die er hört, als wahr akzeptiert. Sie sehen also, wie die Praxis der parrhesia Stück für Stück der Kunst der Rhetorik entgegengesetzt ist. Sehr schematisch kann man sagen, daß die Rhetorik, wie sie in der Antike bestimmt und praktiziert wurde, im Grunde eine Technik ist, die die Art und Weise betrifft, die Dinge zu sagen, die aber keinesfalls die Beziehungen zwischen dem Sprechenden und dem, was er sagt, festlegt. Die Rhetorik ist eine Kunst, eine Technik, eine Menge ,'on Verfahrensweisen, die dem Sprechenden erlauben, etwas zu sagen, das vielleicht überhaupt nicht das ist, was er denkt, das aber in jenem, [an] den [er sich wendet],':' eine Reihe von Überzeugungen hervorbringt. Mit anderen Worten, die Rhetobeinhaltet keinerlei Beziehung eines Glaubens zwischen dem Sprechenden und dem, was er [aussagt]. Der gute RhetoriKer, der gute Rhetor ist der Mann, der in der Lage ist, etwas ganz anderes als das zu sagen, was er weiß, etwas ganz anderes als das, was er glaubt, etwas ganz anderes als das, was er denkt, es aber so zu sagen, daß am Ende das, was er gesagt haben wird
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M. F. sagte: dem, der spricht
und was er weder glaubt noch denkt noch weiß, zu dem wird, was die, an die er sich wendet, denken, glauben und zu wissen meinen. In der Rhetorik wird die Verbindung zwischen dem Sprechenden und dem, was er sagt, aufgelöst, aber die Rhetorik stellt eine zwingende Verbindung zwischen dem Gesagten und dem oder denen her, an die sich das Gesagte richtet. Sie sehen, daß die Rhetorik von diesem Gesichtspunkt aus der parrhesia genau entgegengesetzt ist, [die im Gegensatz dazu eine] starke, offenkundige Bindung zwischen dem Sprechenden und dem, was er sagt, [beinhaltet], da er ja seine Gedanken offenbaren soll und da es bei der parrhesia außer Frage steht, daß man etwas anderes sagt als das, was man denkt. Die parrhesia stellt also zwischen dem Sprechenden und dem, was er sagt, eine feste, notwendige, konstitutive Verbindung her, lockert jedoch in Form des Risikos die Verknüpfung zwischen dem Sprechenden und dem Angesprochenen. Denn schließlich ist es immer möglich, daß der, an den man sich wendet, nicht annimmt, was man sagt. Er mag dadurch verletzt werden, er mag es ablehnen und er mag schließlich denjenigen bestrafen, der ihm die Wahrheit gesagt hat, und sich an ihm rächen. Die Rhetorik enthält also keine Verknüpfung zwischen dem Sprechenden und dem, was gesagt wird, sondern zielt darauf ab, eine zwingende Verbindung, eine Verbindung der Macht zwischen dem Gesagten und der Person herzustellen, an die man das Gesagte richtet; im Gegensatz dazu besitzt die parrhesia eine feste und konstitutive Verbindung zwischen dem Sprechenden und dem Gesagten und eröffnet durch die Wirkung der Wahrheit selbst, durch die Wirkung der Wunden, die die Wahrheit schlägt, die Möglichkeit eines Bruchs der Verbindung zwischen dem Sprechenden und dem, an den er sich gewendet hat. Wir können also sehr schematisch sagen, daß der Rhetor ein wirkungsvoller Lügner ist, der die anderen zwingt, oder zumindest ohne weiteres ein solcher sein kann. Der Parrhesiast ist im Gegensatz dazu derjenige, der mutig die Wahrheit ausspricht, wobei er sein eigenes Leben und seine Beziehung zum anderen riskiert. All das hatte ich Ihnen schon letztes Jahr gesagt. Ich möchte
Dun etwas weiter gehen und gleich bemerken, daß man nicht giauben sollte, die parrhesia sei eine wohldefinierte Technik, die mit der Rhetorik auf gleichem Fuß steht und symmetrisch zu ihr ist. Man sollte nicht glauben, daß es in der Antike gegenüber dem Rhetor, der ein Fachmann, ein Techniker war, gegenüber der Rhetorik, die eine Technik war und eine Lehre erforderte, einen Parrhesiasten und eine parrhesia gegeben hätte, die ebenfalls [... ':-] gewesen wären. Der Parrhesiast ist kein Fachmann. Und die parrhesia ist auch etwas anderes als eine Technik oder ein Beruf, wenngleich es bei der parrhesia technische Aspekte gibt. Die parrhesia ist kein Beruf, sondern etwas, das schwieriger zu umreißen ist. Sie ist eine Einstellung, eine Seinsweise, die mit der Tugend verwandt ist, eine Art und Weise zu handeln. Dabei gibt es zwar Verfahrensweisen und Mittel, die ziel gerichtet eingesetzt werden, und das hat mit einer Technik zu tun, aber sie stellt auch eine Rolle, eine nützliche, wertvolle, unverzichtbare Rolle für den Staat und die einzelnen dar. Anstatt [als eine] Technik [ähnlich der] Rhetorik muß die parrhesia vielmehr als eine Modalität des Wahrsprechens charakterisiert werden. Um sie genauer zu bestimmen, kann man sie mit anderen grundlegenden Modalitäten des Wahrsprechens kontrastieren, die man in der Antike findet, denen man aber auch zweifellos mehr oder weniger verschoben, verkleidet, in verschiedenen Ausgestaltungen in anderen Gesellschaften und auch in unserer eigenen wiederbegegnet. Im Ausgang von der Antike lassen sich vier grundlegende Modalitäten des Wahrsprechens bestimmen, wenn wir die Dinge in derjenigen Deutlichkeit betrachten, in der sie uns von der Antike überliefert wurden. Erstens, das Wahrsprechen der Prophezeiung. Hier werde ich nicht den Versuch einer Analyse dessen vornehmen, was die Propheten sagten (bzw. der Strukturen dessen, was von den
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,;- Michel Foucault wird hier unterbrochen von Popmusik aus einem Kassettenrecorder. Man hört, wie ein Assistent zu seinem Gerät stürzt. M. E: »Ich glaube, Sie haben sich getäuscht. Das ist doch immerhin Michael Jackson? Schade.«
Propheten gesagt wird), sondern der Art und Weise, wie sich die Figur des Propheten konstituiert und von den anderen als Subjekt anerkannt wird, das die Wahrheit sagt. Offensichtlich ist der Prophet, wie übrigens auch der Parrhesiast, jemand, der die Wahrheit sagt. Ich glaube jedoch, daß das, was das Wahrsprechen des Propheten, seine Veridiktion, grundlegend auszeichnet, darin besteht, daß er eine Vermittlerrolle einnimmt. Der Prophet spricht per definitionem nicht in seinem eigenen N amen. Er spricht für eine andere Stimme, sein Mund dient als Sprachrohr für eine Stimme, die von anderswoher spricht. Der Prophet gibt ein Wort weiter, das im allgemeinen das Wort Gottes ist. Er bringt eine gegliederte Rede hervor, die nicht seine eigene ist. Er richtet eine Wahrheit an die Menschen, die von anderswoher kommt. Der Prophet ist außerdem in der Position eines Vermittlers in dem weiteren Sinne, daß er sich zwischen Gegenwart und Zukunft befindet. Er ist derjenige, der das enthüllt, was die Zeit den Menschen entzieht und was kein menschlicher Blick je sehen und kein menschliches Ohr je ohne ihn hören könnte; das ist das zweite Merkmal der Vermittlerrolle des Propheten. Das prophetische Wahrsprechen vermittelt auch insofern, als der Prophet auf eine bestimmte Weise das enthüllt, zeigt und erhellt, was für die Menschen verborgen ist. Andererseits oder vielmehr zugleich ist seine Enthüllung jedoch nicht ohne eine gewisse Dunkelheit, und er offenbart nicht, ohne das, was er sagt, in eine bestimmte Form zu hüllen, nämlich die Form des Rätsels. Das hat zur Folge, daß die Prophezeiung im Grunde nie eine eindeutige und klare Handlungsanweisung gibt. Sie sagt nicht einfach ganz kraß die Wahrheit in ihrer reinen und schlichten Durchsichtigkeit. Selbst wenn der Prophet sagt, was zu tun ist, muß man sich immer noch fragen, bleibt immer noch zu wissen übrig, ob man auch richtig verstanden hat. Es bleibt zu fragen übrig, ob man nicht immer noch blind ist. Man muß noch immer fragen, zögern, interpretieren. Die parrhesia steht nun Stück für Stück im Kontrast zu diesen verschiedenen Merkmalen des prophetischen Wahrsprechens.
Der Parrhesiast steht, wie man leicht sieht, insofern im Kontrast zum Propheten, als der Prophet nicht für sich selbst, sondern im Namen eines anderen spricht und eine Stimme artikuliert, die nicht seine eigene ist. Im Gegensatz dazu spricht der Parrhesiast per definitionem in seinem eigenen Namen. Es ist wesentlich, daß es sich um seine eigene Meinung handelt, daß es sein Denken und seine Überzeugung ist, die er ausdrückt. Er muß seine Äußerung unterzeichnen, seine Offenheit unterliegt dieser Bedingung. Der Prophet muß nicht offenherzig sein, auch wenn er die Wahrheit sagt. Zweitens sagt der Parrhesiast nicht die Zukunft vorher. Gewiß offenbart und enthüllt er, was die Blindheit der Menschen nicht wahrnehmen kann, aber er lüftet den Schleier nicht, der über der Zukunft liegt. Er lüftet den Schleier der Gegenwart. Der Parrhesiast hilft den Menschen nicht entsprechend der ontologischen Struktur des menschlichen Wesens und der Zeit, den Abstand zu ihrer Zukunft auf eine bestimmte Weise zu überwinden. Er hilft ihnen in ihrer Blindheit, aber in ihrer Blindheit über sich selbst, und daher nicht aufgrund einer ontologischen Struktur, sondern aufgrund eines bestimmten Fehlers, einer moralischen Unachtsamkeit oder Ablenkung, die das Ergebnis einer Unaufmerksamkeit, einer Selbstgefälligkeit, einer Feigheit ist. Hier, in diesem Spiel zwischen dem Menschen und seiner Blindheit, die in einer Unaufmerksamkeit, einer Selbstgefälligkeit, einer Feigheit, einer moralischen Unachtsamkeit wurzelt, spielt der Parrhesiast seine Rolle, die Rolle eines Enthüllers, die sich daher deutlich [von der] des Propheten unterscheidet, der für seinen Teil eine Stelle einnimmt, an der sich die Endlichkeit des Menschen mit der Struktur der Zeit verbindet. Drittens spricht der Parrhesiast, was ebenfalls per definitionem gilt, im U nterschied zum Propheten nicht in Rätseln. Im Gegenteil sagt er die Dinge so deutlich und so direkt wie möglich, ohne Verkleidung, ohne rhetorischen Schmuck, so daß seine Worte unmittelbar den Wert einer Vorschrift annehmen können. Der Parrhesiast läßt nichts zu deuten übrig. Gewiß läßt er bestimmte Handlungen offen: Er überläßt dem, an den er sich wendet, die
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harte Aufgabe, den Mut zum Akzeptieren der Wahrheit aufzubringen, sie Zu erkennen und aus ihr ein Prinzip für das Verhalten zu machen. Er läßt diese moralische Aufgabe übrig, aber im Unterschied zum Propheten läßt er die schwierige Pflicht der Interpretation nicht offen. Zweitens glaube ich, daß man das parrhesiastische Wahrsprechen auch mit einem anderen Modus des Wahrsprechens kontrastieren kann, der in der Antike sehr wichtig war, wichtiger wohl noch für die antike Philosophie als das prophetische Wahrsprechen: dem Modus der Weisheit. Sie wissen, daß der Weise in seinem eigenen Namen spricht, und in dieser Hinsicht unterscheidet er sich zusätzlich vom Propheten, über den wir gerade gesprochen haben. Wenn es richtig ist, daß diese Weisheit ihm von einem Gott eingegeben wird oder von einer Überlieferung, einer mehr oder weniger esoterischen Lehre, auf ihn übergehen konnte, ist es doch ebenso wahr, daß der Weise in dem, was er sagt, in seinem Wahrsprechen gegenwärtig ist. Die Weisheit, die er ausspricht, ist in Wirklichkeit seine eigene Weisheit. Der Weise offenbart in dem, was er sagt, seine eigene Seinsweise und insofern ist er nicht einfach ein Sprachrohr, wie es der Prophet sein kann, wenn er tatsächlich eine bestimmte Funktion des Vermittlers zwischen der zeitlosen und überlieferten Weisheit und der Person hat, an die er sich wendet. Er ist selbst ein Weiser, und es ist seine persönliche Wirklichkeit, die ihn als Weisen auszeichnet und ihn ermächtigt, den Diskurs der Weisheit zu sprechen. Insofern er in seiner weisen Rede gegenwärtig ist und seine eigene Seinsweise in seiner weisen Rede offenbart, steht er dem Parrhesiasten viel näher als dem Propheten. Aber der Weise - dadurch zeichnet er sich aus, zumindest hinsichtlich einer Reihe von Merkmalen, die man in der antiken Literatur feststellen kann - konzentriert seine Weisheit in sich, er ist in seinem Wesen zurückgezogen oder zumindest zurückhaltend. Im Grunde ist der Weise ein Weiser an und für sich selbst und braucht nicht zu sprechen. Er ist nicht gezwungen zu sprechen, nichts verpflichtet ihn, seine Weisheit weiterzugeben, sie zu lehren oder zu offenbaren. Das
erklärt, warum der Weise strukturell schweigsam ist, wenn Sie so wollen. Wenn er spricht, dann nicht, weil er durch die Fragen von jemandem dazu aufgefordert wurde oder etwa durch eine Situation, die für den Staat dringlich ist. Das erklärt auch, warum seine Antworten - und in diesem Punkt kann er völlig dem Propheten gleichen und ihn häufig auch imitieren und sprechen wie er - vollkommen rätselhaft sein können und die, an die er sich wendet, in der Unwissenheit oder Ungewißheit über das lassen, was er wirklich gemeint hat. Ein weiteres Merkmal des Wahrsprechens der Weisheit besteht darin, daß die Weisheit sagt, was der Fall ist, im Unterschied zur Prophezeiung, bei der sich das Gesagte auf die Zukunft bezieht. Der Weise sagt, was der Fall ist, d. h., was das Sein der Welt und der Dinge ist. Und wenn dieses Wahrsprechen über das Sein der Welt und der Dinge den Wert einer Vorschrift annehmen kann, dann jedenfalls nicht [in] Gestalt eines Ratschlags, der sich auf eine bestimmte Gelegenheit bezieht, sondern in Gestalt eines allgemeinen Verhaltensprinzips. Diese Merkmale des Weisen lassen sich sämtlich in einem Text von Diogenes Laertius - der zwar ein später Text ist, aber hinsichtlich der Charakterisierung auch einer der reichhaltigstenfinden und wiederentdecken, in dem er eine Darstellung von Heraklit gibt. Erstens lebt Heraklit wesentlich zurückgezogen. Er hüllt sich in Schweigen. Diogenes Laertius erinnert daran, ab welchem Zeitpunkt und warum sich der Bruch zwischen Heraklit und den Ephesern vollzog. Die Epheser hatten Hermodoros, einen Freund von Heraklit, verbannt, und zwar gerade weil Hermodoros weiser und besser als sie selbst war. Dabei hätten sie gesagt: »Von uns soll keiner der wackerste sein«.37 Und wenn es unter uns einen gibt, der besser ist als wir, dann soll er anderswo leben. Die Epheser ertragen gerade die Überlegenheit dessen nicht, der die Wahrheit sagt. Sie verjagen den Parrhesiasten. Sie haben Hermodoros verjagt, der weggehen mußte, der in diese Verbannung gezwungen wurde, mit der sie den belegten, der fähig ist, die Wahrheit zu sagen. Heraklit hat seinerseits mit freiwilliger Zurückgezogenheit reagiert.
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Da die Epheser den Besten unter ihnen mit Verbannung bestraft haben, sagt er, daß alle anderen, die weniger wert sind als Hermodoros, getötet werden sollten. Und da man sie nicht tötet, werde ich selbst weggehen. Künftig verweigert er sich, wenn man ihn darum bittet, dem Staat Gesetze zu geben. Denn, sagt er, der Staat wird bereits von einer ponera politeia (einer schlechten politischen Lebensweise) beherrscht. Also zieht er sich zurück und wird - ein berühmtes Bild - mit den Kindern das Knöchelspiel spielen. Denen, die sich darüber empören, diesen Mann beim Knöchelspiel mit den Kindern zu sehen, antwortet er: »Was wundert ihr euch, ihr heilloses Gesindel? Ist dies nicht eine anständigere Beschäftigung, als mit euch Staatsgeschäfte zu führen? [met' hymon politeuesthai: das politische Leben mit euch zu führenJ.«38 Er zieht sich ins Gebirge zurück und gibt sich der Verachtung der Menschen hin (misanthropon).39 Und wenn man ihn fragt, warum er schweigt, antwortete er: ,>Ich schweige, damit ihr plappern könnt. «40 Diogenes Laertius berichtet, daß er in dieser Zurückgezogenheit sein Gedicht schrieb, und zwar in Begriffen, die absichtlich dunkel sind, damit nur die fähigen Leute es lesen können und man Heraklit nicht dafür schmähen kann, daß er von jedem beliebigen gelesen wird. 41 Diese Rolle, diese Charakterisierung des Weisen, der grundsätzlich schweigt und nur spricht, wenn er [es] will, und auch dann [nur] in Rätseln, steht im Gegensatz zur Persönlichkeit und den Merkmalen des Parrhesiasten. Der Parrhesiast ist nicht jemand, der sich grundsätzlich in Zurückhaltung übt. Im Gegenteil, seine Aufgabe, seine Pflicht, seine Mission besteht im Sprechen, und er hat nicht das Recht, sich dieser Aufgabe zu entziehen. Das sieht man gerade an Sokrates, der in der Apologie recht häufig daran erinnert: Gott hat ihm die Funktion zugewiesen, die Menschen zu befragen, sie am Ärmel zu packen, ihnen Fragen zu stellen. Und dieser Aufgabe wird er sich nicht entziehen. Selbst wenn er vom Tod bedroht ist, wird er seine Aufgabe zu Ende führen, bis zu seinem letzten Atemzug. 42 Während der Weise sich in Schweigen hüllt und auf die Fragen,
c.ie man ihm stellen mag, nur sehr sparsam, so wenig wie mög~:ch antwortet, stellt der Parrhesiast unablässig, ständig und ::nerträglich Fragen. Zweitens, während der Weise, gerade vor :'em Hintergrund seines schweigsamen Wesens, in Rätseln spricht, muß der Parrhesiast so klar wie möglich sprechen. L~nd während schließlich der Weise sagt, was der Fall ist, indem er das Sein der Dinge und der Welt beschreibt, ergreift der Par:-hesiast das Wort und sagt zwar auch, was der Fall ist, aber er jezieht sich auf die Einzigartigkeit der Individuen, Situationen ::nd Gelegenheiten. Seine besondere Rolle besteht nicht darin, das Sein der Natur und der Dinge auszusagen. Ständig begeg"eil wir bei der Untersuchung der parrhesia diesem Gegensatz zwischen dem nutzlosen Wissen, das das Sein der Dinge und jer Welt aussagt, und dem Wahrsprechen des Parrhesiasten, der sich immer bemüht, in Frage stellt, sich an die Individuen ::nd Situationen hält, um zu sagen, was sie in Wirklichkeit sind, ·..lm den Individuen die Wahrheit über sie selbst zu sagen, die sich ihren eigenen Augen entzieht, um ihnen ihre gegenwärtige Situation, ihren Charakter, ihre Fehler, den Wert ihres Verhal:ens und die möglichen Folgen ihrer Entscheidungen zu offenbaren. Der Parrhesiast offenbart seinem Gesprächspartner nicht, was der Fall ist. Er enthüllt ihm oder hilft ihm zu erkennen, was er selbst ist. Die dritte Modalität des Wahrsprechens, die man mit dem \\;'ahrsprechen des Parrhesiasten kontrastieren kann, ist das Wahrsprechen des Lehrers, des Fachmanns, des [DozentenJ. Der Prophet, der Weise und der Lehrende.::'
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:vI. E: Nun, wenn Sie wollen, machen wir eine Pause von fünf oder zehn :vlinuten, weil die einen von Ihnen vielleicht müde vom Hören sind, während die anderen vom Nichthören müde sind, die einen vom Sitzen, die anderen vom Stehen, während ich es jedenfalls vom Sprechen bin. D nd dann treffen wir uns gleich wieder, einverstanden? Ich werde versuchen, gegen Viertel nach elf aufzuhören. Danke.
Seit Januar 198 I widmet Foucault seine Vorlesungen am College de France dem antiken Denken (»Sujectivite et Verite«, vgl. die Zusammenfassung in: Dits et Ecrits, 1954-1988, hg. V. D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit vonJ. Lagrange, Paris 1994, Bd. IV, S. 213-21 8; dt. »Subjektivität und Wahrheit«, in: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 4, Frankfurt/M. 2001, S. 258-264). 2 Im Jahr davor hatte Foucault angesichts derselben Schwierigkeiten schon zur Bildung einer kleinen Arbeitsgruppe parallel zur Hauptvorlesung aufgerufen, die sich ausschließlich aus Forschern zusammensetzen sollte, deren Arbeitsthemen benachbart wären; vgl. Le Gouvernement de soi et des autres. Cours au College de France, 1982-1983, hg. V. F. Gros, Paris 2008, S. 3 (Vorlesung vom 5. Januar 1983) und S. 68 (Vorlesung vom 12. Januar); dt.: Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am College de France, 1982/83, übers. V. J. Schröder, Frankfurt/M. 2009, S. 13 (Vorlesung vom 5.Januar 1983) und S.99 (Vorlesung vom 12.Januar). 3 Zum Begriff der Alethurgie vgl. die Vorlesungen am College de France vom 23. und 30. Januar 1980 (»wenn man im Ausgang von alethourges das fiktive Wort alethourgia bildet, könnte man die Gesamtheit der möglichen Verfahren, gleichgültig, ob sie verbal sind oder nicht, durch die man das zutage fördert, was im Gegensatz zum Falschen, zum Verborgenen, zum Unsagbaren, zum Unvorhersehbaren, zum Vergessen als wahr behauptet wird, mit ,Alethurgie< [Offenbarung der Wahrheit)] bezeichnen. Man könnte diese Gesamtheit von Verfahren mit >Alethurgie< bezeichnen und sagen, daß es ohne so etwas wie eine Alethurgie keine Ausübung von Macht gibt«; Vorlesung vom 23. Januar). 4 M. Foucault, Histoire de la folie Ci l'age classique, Paris, 1961 (1972 bei Gallimard); dt.: Wahnsinn und Gesellschaft: eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, übers. V. U. Köppen, Frankfurt/M., 1973; Surveiller et Punir, Paris, 1975; dt.: Überwachen und Strafen, übers. V. W. Seitter, Frankfurt/M., 1977. 5 M. Foucault, Les Mots et les Choses, Paris, 1966; dt.: Die Ordnung der Dinge, übers. V. U. Köppen, Frankfurt/M., 1971. Als ähnliche Präsentation der Analyse des »sprechenden, arbeitenden, lebenden Subjekts« vgl. den Eintrag »Foucault« in: Dits et Ecrits, a. a. 0., Bd. IV, S. 633, dt.: S·77 8. 6 Dieselbe systematische Vorstellung seines Werks in Form eines Tryptichon findet man in der ersten Vorlesung von 1983 wieder (Le Gouvernement de soi ... , a. a. 0., S.4-7; dt.: S. 14-18). 7 Zur Gewissensprüfung als spiritueller Übung vgl. die Vorlesung vom 24März 1982, in M. Foucault, L'Hermeneutique du sujet. Cours au College de France, 1981-1982, hg. V. F. Gros, Paris 2001, S. 460-464; dt.: Hermeneutik des Subjekts: Vorlesung am College de France (198I!82), übers.
". U. Bokelmann, Frankfurt/M. 20°4, S. 584-590 (sowie die Vorlesung vom 27. Januar, ebd., S. 157- 158; dt.: S. 2°9-2 Ir). S Zur Korrespondenz als spiritueller Übung vgl. die Vorlesungen vom 20. und 27. Januar 1982 (ebd., S.86-87, 146-149 und 151-157; dt.: 121122,195-199 und 202-209). 9 Zu den hypomnemata und anderen Schreib übungen vgl. die Vorlesung vom 3. März 1982 (ebd., S. 341-345, dt.: S. 437-442) sowie »L'ecriture de soi« in Dits et Ecrits, Bd.IV, S.415-430; dt.: »Über sich selbst schreiben« in: Dits et Ecrits, Bd. 4, S. 503-521. :: Vgl. in L'Hermeneutique du sujet die gesamten im Januar 1982 gehaltenen Vorlesungen. : I Vgl. zu diesem Begriff die Vorlesung vom 3. Februar 1982 (ebd.> S. 172173; dt.: S. 227-229). Man kann auch den Aufsatz von P. Hadot heranziehen, in: Michel Foucault philosophe [Internationale Begegnung, Paris, 9.-1 1. Januar, 1988], hg. v.l' Association pour le Centre Michel Foucault, Paris 1989. 12 Zu dieser Geschichte vgl. die Vorlesung vom 19. Februar 1975, in: M. Foucault, Les Anormaux, Cours au College de France, 1974-1975, hg. v. V. Marchetti und A. Salomoni, Paris 1999, S. 161-171; dt.: Die Anormalen: Vorlesungen am College de France (1974-1975), übers. v.M. Ott, Frankfurt/M. 2003, S. 226-238; sowie La Volonte de savoir, Paris 1976 (Kap. »L'incitation aux discours«); dt.: Sexualität und Wahrheit, 1. Der Wille zum Wissen, übers. v. U. Raulf und W. Seitter, Frankfurt/M. 1977 (Kap. »Die Anreizung zu Diskursen«). : 3 Zu diesem Begriff vgl. die Vorlesung vom 22. Februar 1978, in: M. Foucault, Securite, Territoire, Population. Cours au College de France, 1977-1978, hg. v. M. Senellart, Paris 2004; dt.: Sicherheit, Territorium, Be·välkerung, übers. v. C. Brede-Konersmann und J. Schröder, Frankfurt/Mo 2004; sowie >,Omnes et singulatim«, in: Dits et Ecrits, Bd. IV, S. 136-147; dt.: S. 165-198. :4 Galen, Traite des passions de l'ame et de ses erreurs, übers. V. R. van der Eist, Paris, 1914. Zu Foucaults Analyse dieses Textes vgl. L'Hermeneutique du sujet, S. 378-382; dt.: S.482-487; sowie die Vorlesung vom 12. Januar 1983, in: Le Gouvernement de soi ... , S.43-45; dt.: S.66-68. 15 Zur Organisation von Epiktets Schule vgl. die Vorlesung vom 27. Januar 1982, in: L'Hermeneutique du sujet, S. 133-137; dt.: S. 179-185. :6 Zu dieser Person vgl. ebd., S. 137-138; dt.: S. 179-186. :7 Zu dieser »medizinischen« Dimension der Seelenpflege vgl. Foucaults Präzisierungen in der Vorlesung vom 20. Januar 1982 (ebd., S.93-96; dt.: S. 129-134). :3 Vgl. das Kapitel »Du regime en general«, in: M. Foucault, L'Usage des plaisirs, Paris 1984; dt.: Sexualität und Wahrheit, 2. Der Gebrauch der Lüste, übers. v. U. Raulf und W. Seitter, Frankfurt/M. 1986 (Von der Lebensordnung im allgemeinen). : 9 Zur libertas (lateinische Übersetzung von parrhesia) bei Seneca vgl. die
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Anmerkungen I
Vorlesung vom 10. März 1982, in: L'Hermeneutique du sujet, S.382388; dt.: S.487-495. 20 Zu einer ersten Analyse der Abhandlung Philoderns vgl. ebd., im Original S. 370-374; dt. S. 472-477; und die Vorlesung vom I2.Januar 1983, in: Le Gouvernement de soi ... , S. 45-46; dt. S.69-70. 21 Zu diesem Text vgl. schon L'Hermeneutique du sujet, S. 357-358; dt.: S.456-459; und die Vorlesung vom 2. März 1983, in: Le Gouvernement de soi ... 22 Vgl. oben, Anm. 14. 23 Zur Geschichte dieser »Ableitung« vgl. die Vorlesung vom 2. März 1983, in: Le Gouvernement de soi ... , S.277-282; dt.: S.377-385. 24 Securite, Territoire, Population, a. a. 0.; dt.: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, a. a. o. 25 Zu einer ähnlichen Darstellung der parrhesia als Knotenpunkt der drei großen Untersuchungsachsen vgl. Le Gouvernement de soi ... , S.42; dt.: S. 64. 26 Für eine »ausführliche Version« der Darstellung seiner Methode vgl. den Beginn der Vorlesung vom 5.Januar 1983 (ebd., S.3-8; dt.: S. 1320). 27 Vgl. die ersten Bestimmungen im März 1982 (L'Hermeneutique du sujet, S.348, dt.: S.446) und Januar 1983 (Le Gouvernement de soi ... , S.42-43, dt.: S. 64-66). 28 »Es ist notwendig, Athener, freimütig zu sprechen (meta parrhesias), ohne vor etwas zurückzuweichen« (Demosthenes, Plaidoyers politiques, Bd. 3, übers. v. G. Mathieu, Paris 1972, S. 96). 29 »Ich habe euch alle meine Gedanken dargelegt, ohne irgend etwas zu verheimlichen (panth' haplos ouden hyposteilamenos, peparrhesiasmai)« (Demosthenes, Premiere Philippique, § 50, in: Harangues, Bd. I, übers. v. M. Croiset, Paris 1965, S.49). 30 »Wir werden also [... ] ihren unverschämten Aussagen [denen der Dichter] über die Götter keine Beachtung schenken, sondern werden uns vorsehen (tes d 'eis tous theous parrhesias oligoresomen )« (Isokrates, Busiris, §40, in: lsokrates: Sämtliche Werke, übers. v. Ch. Ley-Hutton, Stuttgart 1993, S. 42). 3 I Als eine erste Analyse dieser Passage (Der Staat, VIII. Buch, 557a-b ff.) vgl. die Vorlesung vom 9. Februar 1983, in: Le Gouvernement de soi ... , S. 181-185; dt.: S.252-257. 32 Demosthenes, Seconde Philippique, in: Harangues, Bd. II, übers. v. M. Croiset, Paris 1965, § 32, S. 34· 33 »Oh! Ich werde zu euch mit offenem Herzen sprechen, denn, bei den Göttern, ich will nichts verheimlichen (ego ne tous theous talethe meta parrhesias ero pros hymas kai ouk apokrypsomai)« (Premiere Philippique, § 3 I, a. a. 0., S. 34). 34 »In der Tat weiß ich nicht, welche Folgen aus meinem Vorschlag für mich erwachsen werden« (ebd., § 51, S.49).
.'; Zu dieser Geschichte und ihrer Analyse durch Foucault im Sinne der parrhesia vgl. die Vorlesung vom 12. Januar 1983, in: Le Gouvernement de soi ... , S. 47-52; dt.: S.7I-78. ;6 »Er muß auch ein offener Hasser sein und ein offener Freund. Denn nur die Furcht versteckt sich. Ihm steht die Wahrheit unvermeidlich höher als Menschenmeinung, und er kann nicht anders als offen handeln und reden. Denn er ist voller Freimut, weil er auf die Personen nicht achtet« (Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch IV, I I24b 26-29, übers. v. E. Rolfes, hg. v. G. Bien, Hamburg 1972, S. 87). ~- "Heraklit«, in: Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, übers. v. o. Apelt, unter Mitarbeit von H. G. Zekl, neu herausgegeben sowie mit Einleitung und Anmerkungen versehen v. K. Reich, Bd. II, Hamburg 2008, S. 149. ,S Ebd. :9 Ebd. .:;:: Ebd., S. 154. .!.= Ebd., S. 151. .!.2 Platon, Des Sokrates Verteidigung, 30b, übers. v. Friedrich Schleiermacher, in: Platon: Sämtliche Werke, 1. Bd., Heidelberg 1982, S. 22.
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". M. E: [Anfang unverständlich] ... und Mehrdeutigkeit der parrhesia wird immer von den Institutionen begrenzt. Im Hörsaal 6 gab es keinen Ton, gibt es keinen Ton und wird es keinen Ton geben. Man hat Ihnen die Wahrheit gesagt, als man Ihnen sagte, daß es im Hörsaal 6 keinen Ton gäbe. Man hat Ihnen aber nicht gesagt, und mir übrigens auch nicht, daß es im Hörsaal 5 einen gibt. Jedenfalls gibt es jetzt dort einen. Diejenigen unter Ihnen, die es satt haben zu stehen oder auf dem Boden zu sitzen, mögen in Hörsaal 5 einen Ort finden, wo sie sich hinsetzen, die Zeitung lesen und sich leise miteinander unterhalten können. Einverstanden? Nun gut. Also danke und Entschuldigung. Wenn ich richtig verstehe, wird also in Zukunft der Hörsaal 5 jeden Mittwoch mit diesem hier gekoppelt sein. Wir werden also nicht mehr in Hörsaal 8 und 6 sein, sondern in 8 und 5. Entschuldigen Sie bitte, was geschehen ist.
Erkenntnisse, die in einer Praxis verkörpert sind und für ihren E:v,-erb nicht nur eine theoretische Erkenntnis, sondern eine 7.,-irkliche Ausübung (eine wirkliche askesis oder melete l ) ver:.;,ngen. Sie besitzen dieses Wissen, tun es kund und sind in der Lage, es andere zu lehren. Der Fachmann, der eine techne besitzt, hat sie gelernt und kann sie lehren. Er ist jemand - und . unterscheidet er sich natürlich vom Weisen -, der gehal:cn ist, die Wahrheit zu sagen oder zumindest sein Wissen zu :ormulieren und es an andere weiterzugeben. Schließlich hat Jieser Fachmann eine bestimmte Pflicht zu reden. Er ist auf ge',visse Weise gehalten, das Wissen, das er besitzt, und die Wahrdie er erkennt, zu sagen, denn dieses Wissen und diese \'';-ahrheit haben eine lange Überlieferung. Er selbst, dieser ~\lann der techne, hätte natürlich nichts lernen können und \"viißte heute überhaupt nichts oder sehr wenig, wenn es vor nicht einen ähnlichen Fachmann (technites) gegeben hätte, Jessen Schüler er war und der sein Lehrer war. Ebenso wie er nichts gelernt hätte, wenn ihm nicht jemand gesagt hätte, was ;,;r vor ihm wußte, ist es nun notwendig, daß er sein Wissen weitergibt, damit es nicht mit ihm stirbt. In dieser Vorstellung einer Person, die ein Wissen der techne besitzt, es empfangen hat und weitergeben wird, findet man also durchaus dieses Prinzip einer Pflicht zum Sprechen, die es beim Weisen nicht gibt, aber beim Parrhesiasten. Man sieht jedoch, daß dieser Lehrer, dieser Mann der techne, des Könnens und der Lehre, in der Weitergabe des Wissens, im Wahrspreehen, das er selbst empfangen hat und weitergeben wird, keinerlei Risiko eingeht. Darin besteht sein Unterschied zum Parrhesiasten. Jedermann weiß, und ich am besten, daß niemand mutig zu sein braucht, um zu lehren. Im Gegenteil knüpft der Lehrende, bzw. er hofft oder wünscht manchmal zumindest, zwischen ihm und seinen Zuhörern ein Band zu knüpfen, ein Band des gemeinsamen Wissens, der Erbschaft, der Tradition, ein Band, das auch in der persönlichen Anerkennung oder der Freundschaft bestehen kann. Jedenfalls wird in diesem Wahrsprechen ein Abstammungsverhältnis in der Ordnung des Wis-
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(Sitzung vom
1.
Vorlesung I Februar 1984, zweite Stunde)
Das Wahrsprechen des Fachmanns. - Gegenstand des parrhesiastischen Wahrsprechens: das ethos. - Die Zusammensetzung der vier Arten des Wahrsprechens bei Sokrates. - Das philosophische Wahrsprechen als Verbindung der Funktionen der Weisheit und der parrhesia. - Die Predigt und die Universität im Mittelalter. - Eine neue Kombinatorik der Arten des Wahrsprechens. - Die Neuordnung der vier Weisen der Veridiktion in der Moderne.
[... ':-J Ich hatte also versucht, zunächst die Beziehungen und Unterschiede zwischen dem parrhesiastischen und dem prophetischen Modus des Wahrsprechens und anschließend zwischen dem parrhesiastischen und dem Modus des Wahrsprechens der Weisheit zu verdeutlichen. Jetzt möchte ich ganz schematisch und nur andeutungsweise einige der Beziehungen angeben, die man zwischen der parrhesiastischen Veridiktion und der Veridiktion des Lehrenden - im Grunde würde ich lieber sagen: des Fachmanns - entdecken kann. Diese Figuren (der Arzt, der Musiker, der Schuhmacher, der Schreiner, der Waffenmeister, der Gymnasiarch, die von Platon häufig in seinen sokratischen oder anderen Dialogen erwähnt werden, besitzen ein Wissen, das als techne charakterisiert wird, als Können, d. h. als etwas, das zwar Erkenntnisse beinhaltet, aber
sens begründet. Nun haben wir aber gesehen, daß der Parrhesiast im Gegensatz dazu ein Risiko eingeht. Er riskiert die Beziehung, die er mit dem unterhält, an den er sich wendet. Weit davon entfernt, diese positive Verbindung des gemeinsamen Wissens, des Erbes, der Abstammung, der Anerkennung, der Freundschaft herzustellen, kann er durch das Aussprechen der Wahrheit seinen Zorn hervorrufen, sich mit dem Feind überwerfen, die Feindseligkeit des Staats wecken, die Rache und Bestrafung durch den König heraufbeschwören, wenn dieser ein schlechter Souverän und ein Tyrann ist. Und dieses Risiko kann so weit reichen, daß er sein Leben aufs Spiel setzt, weil er möglicherweise die Wahrheit, die er gesagt hat, mit seinem Leben bezahlt. Im Falle des Wahrsprechens der Technik dagegen garantiert der Unterricht, daß das Wissen weiterlebt, während andererseits die parrhesia das Leben dessen aufs Spiel setzt, der sie ausübt. Das Wahrsprechen des Fachmanns und des Lehrers vereint und bindet. Das Wahrsprechen des Parrhesiasten geht die Risiken der Feindseligkeit, des Kriegs, des Hasses und des Todes ein. Wenn es auch richtig ist, daß die Wahrheit des Parrhesiasten - [bei] ihrer Aufnahme, [wenn] die gegenüberstehende Person den Pakt akzeptiert und das Spiel der parrhesia mitspielt - unter diesen Umständen vereinen und versöhnen kann, so ist das doch nur möglich, nachdem ein wesentliches, grundlegendes und strukturell notwendiges Moment eröffnet wurde: die Möglichkeit des Hasses und des Zwistes. Wir können also sehr schematisch sagen, daß der Parrhesiast kein Prophet ist, der die Wahrheit sagt, indem er im Namen eines anderen und auf rätselhafte Weise das Schicksal enthüllt. Der Parrhesiast ist kein Weiser, der im Namen der Weisheit das Sein und die Natur (die physis) zur Sprache bringt, wenn es ihm vor dem Hintergrund seines wesenhaften Schweigens beliebt. Der Parrhesiast ist kein Lehrer, kein Mann des Könnens, der im Namen einer Tradition der techne sprachlichen Ausdruck verleiht. Er sagt also weder etwas über das Schicksal noch das Sein, noch die techne aus. Im Gegenteil, wenn er das Risiko eingeht, mit den anderen in einen Konflikt zu treten, anstatt 44
wie der Lehrer das traditionelle Band zu festigen, indem er in seinem eignen Namen und in aller Klarheit [spricht], und [im Gegensatz zum] Propheten, der im Namen eines anderen spricht, [wenn er] schließlich die Wahrheit über das Seiende [sagt] - die Wahrheit über die Einzigartigkeit der Individuen und Situationen und nicht die Wahrheit des Seins und des Wesens der Dinge -, bringt der Parrhesiast den wahren Diskurs über das ins Spiel, was die Griechen ethos nennen. Zum Schicksal gehört eine Modalität der Veridiktion, die man in der Prophezeiung findet. Zum Sein gehört eine Modalität der Veridiktion, die man beim Weisen findet. Zur techne gehört eine Modalität der Veridiktion, die man beim Fachmann, Professor, Lehrer, Mann des Könnens findet. Und schließlich gehört zum ethos seine eigene Weise der Veridiktion in der Rede des Parrhesiasten und im Spiel der parrhesia. Prophezeiung, Weisheit, Lehre, parrhesia, das sind, glaube ich, vier Weisen der Veridiktion, die [erstens] verschiedene Persönlichkeiten bedingen, zweitens verschiedene Weisen des Sprechens erfordern und sich drittens auf verschiedene Gegenstände beziehen (Schicksal, Sein, techne, ethos). Mit dieser Kennzeichnung bestimme ich nicht eigentlich gesellschaftliche Typen, die historisch vollkommen verschieden wären. Ich meine nicht, daß es in der antiken Kultur vier Berufe oder vier gesellschaftliche Typen gegeben hätte: den Propheten, den Weisen, den Lehrer, den Parrhesiasten. Es kann natürlich geschehen, daß diese vier großen Modalitäten des Wahrsprechens (das prophetische, weise, fachmännische und ethische oder parrhesiastische Wahrsprechen) entweder bestimmten Institutionen, bestimmten Praktiken oder bestimmten Persönlichkeiten entsprechen, die sich recht gut voneinander unterscheiden lassen. Einer der Gründe, warum das Beispiel der Antike ein Vorrecht hat, besteht in der Möglichkeit, in einem bestimmten Sinne Klarheit in diese verschiedenen [Modalitäten] des Wahrsprechens, diese verschiedenen Weisen der Veridiktion zu bringen. Denn in der Antike sind sie recht gut unterschieden und nehmen in verschiedenen Formen 45
:..:::2 rast schon Institutionen Gestalt an. Es gibt die Funktion ::-e:: P::ophezeiung, die ziemlich deutlich bestimmt und institu::o::alisiert war. Die Figur des Weisen war ebenfalls recht gut ::o::mriert (siehe die Darstellung Heraklits). Der Lehrer, der der Mann der techne erscheint ganz deutlich in den ;:.::'I2.zischen Dialogen (die Sophisten waren gerade jene Art '<::, Fachmännern und Lehrern, die für sich eine universelle F'''::lk:ion in Anspruch nahmen). Was den Parrhesiasten an,=e:::, so erscheint er mit Sokrates und später mit Diogenes und ~:::,e:: Reihe weiterer Philosophen ganz deutlich [in] seiner eii::c::lec: Ausformung - darauf kommen wir nächstes Mal zu:-'''':0::', So verschieden diese Rollen auch sein mögen und selbst '7,'e::r: zu bestimmten Zeiten in bestimmten Gesellschaften co~c:r :>::stimmten Kulturen diese vier Funktionen gewisserma~:e:: ,'im Institutionen oder ganz deutlich verschiedenen Pererfüllt werden, muß man doch bemerken, daß es :::::, Grunde keine Typen oder gesellschaftliche Rollen sind. Das is: :::i:: wichtig, und darauf möchte ich bestehen: Es handelt sie:::::r: ""esentlichen um verschiedene Ausprägungen der Veriiik:iQn. Es kann geschehen - und es geschieht sehr häufig, häuals der umgekehrte Fall-, daß diese Varianten der \'e::idikrion miteinander kombiniert werden und daß man sie ::: Diskursformen, in Typen von Institutionen, in gesellschaft:i.:I,e:: Persönlichkeiten wiederfindet, die die verschiedenen Aasprägungen der Veridiktion miteinander vermischen. Se::c:: bei Sokrates sieht man, wie er Elemente miteinander die zur Prophezeiung, zur Weisheit, zur Lehre und 2 T.lr p:2rrhesia gehören. Sokrates ist der Parrhesiast. Aber erin::ern Sie sich: Von wem hat er seine Funktion als Parrhesiast e::r:pfa::gen, seine Aufgabe, die Leute anzusprechen, sie am Är:::d zu packen und ihnen zu sagen: Kümmere dich um dich sdbst? Vom delphischen Gott und von der prophetischen Inst2.nz, die folgenden Urteilsspruch verkündete: Wenn man das Orakel fragte, wer der weiseste Mensch in Griechenland sei, anru'ortete es: Sokrates. Um diese Prophezeiung zu würdigen und wch um den Gott von Delphi zu ehren, der das Prinzip
aufstellte »Erkenne dich selbst«, hat Sokrates seine Aufgabe in Angriff genommen. 3 Seine Funktion eines Parrhesiasten ist also nicht ohne Beziehung zu jener prophetischen Funktion, yon der sie sich aber auch unterscheidet. Ebenso weist Sokrates eine Beziehung zur Weisheit auf, auch wenn er ganz Parrhesiast ist. Diese Beziehung ist durch mehrere Merkmale gekennzeichnet, die seine persönliche Tugend betreffen, seine Selbstbeherrschung, seine Zurückhaltung gegenüber allen Arten von Vergnügungen, seine Ausdauer angesichts aller Leiden, seine Fähigkeit, sich von der Welt zu lösen. Erinnern Sie sich [an] die berühmte Szene, als Sokrates Soldat im Krieg war und fühllos wurde, unbewegt dasaß und die Kälte nicht wahrnahm. 4 Man darf nicht vergessen, daß es in einem bedeutenderen Sinne bei Sokrates auch dieses Merkmal der Weisheit gibt, die doch in einem gewissen Schweigen besteht. Denn Sokrates spricht nicht. Er hält keine Rede, er sagt nicht spontan, was er weiß. Im Gegenteil behauptet er von sich, daß er nichts weiß, und da er nichts wisse und nur weiß, daß er nichts wisse, hält er sich zurück, schweigt und begnügt sich damit, Fragen zu stellen. Nun ist das Fragenstellen eine bestimmte Art und Weise, wenn Sie so wollen, mit der Pflicht der parrhesia (d. h. der Pflicht, Fragen zu stellen und zu sprechen) die wesenhafte Zurückhaltung des Weisen zu verbinden, der selbst schweigt. Allerdings schweigt der Weise, weil er ein Wissender ist und weil er das Recht hat, sein Wissen nicht kundzutun, wohingegen Sokrates schweigt, indem er sagt, daß er nichts weiß, und indem er allen und jedem beliebigen in der Weise des Parrhesiasten Fragen stellt. Sie sehen also, daß sich auch hier das parrhesiastische Merkmal mit den Merkmalen der Weisheit verbindet. Schließlich gibt es natürlich noch die Beziehung zum Fachmann, zum Lehrer. Das sokratische Problem ist nämlich folgendes: Wie läßt sich die Tugend lehren und wie lassen sich der Jugend die Qualitäten und Kenntnisse beibringen, die entweder für ein gutes Leben oder für die ordentliche Regierung des Staats notwendig sind? Denken Sie an Alkibiades. 5 Denken Sie auch darauf werden wir nächstes Mal eingehen - an das Ende des
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Laches, als Sokrates einwilligt, die Söhne von Lysimachos und [Melesias] aufzunehmen, um sie zu lehren, sich um sich selbst zu kümmern. 6 Sokrates ist zwar ein Parrhesiast, steht aber auch, wie gesagt, in einer ständigen und wesentlichen Beziehung zu der Veridiktion des Propheten, der Veridiktion der Weisheit und der fachmännischen Veridiktion der Lehre. Viel mehr noch als Figuren sind die Prophezeiung, die Weisheit, die Lehre, die Technik und die parrhesia also als grundlegende Formen des Wahrsprechens aufzufassen. Es gibt die Modalität, die auf rätselhafte Weise kundtut, wie es um dasjenige steht, was sich jedem Menschen entzieht. Es gibt die Modalität des Wahrsprechens, die apodiktisch aussagt, wie es um das Sein, die physis und die Ordnung der Dinge steht. Es gibt die Veridiktion, die in Form eines Beweises sagt, wie es um das Wissen und Können steht. Schließlich gibt es die Veridiktion, die auf polemische Weise zum Ausdruck bringt, wie es um die einzelnen und ihre Situationen bestellt ist. Diese vier Varianten des Wahrsprechens sind, wie mir scheint, für die Analyse des Diskurses absolut grundlegend, insofern sich im Diskurs das wahrsprechende Subjekt für sich selbst und die anderen konstituiert. Ich glaube, daß seit der griechischen Kultur das wahrsprechende Subjekt diese vier möglichen Formen annimmt: Entweder ist es Prophet, Weiser, Fachmann oder Parrhesiast. Ich glaube auch, daß es interessant sein könnte zu untersuchen, wie diese vier Modalitäten, die, wie gesagt, nicht miteinander identisch sind, sich in verschiedenen Kulturen, Gesellschaften oder Zivilisationen, in verschiedenen Diskursivitätsmodi, in dem, was man die verschiedenen »Ordnungen der Wahrheit« nennen könnte, denen man in verschiedenen Gesellschaften begegnet, in Form von Rollen oder in Form von bestimmten Figuren schließlich miteinander verbinden. Mir scheint - jedenfalls habe ich Ihnen das, wenn auch nur schematisch, zu zeigen versucht -, daß man in der griechischen Kultur am Ende des 5. und zu Beginn des 4· Jahrhunderts diese vier großen Ausprägungen der Veridiktion, die sich in einer Art von Rechteck anordnen lassen, ausmachen kann: die des
Propheten und des Schicksals, die der Weisheit und des Seins, die der Lehre und der techne und die der parrhesia und des erhos. Aber auch wenn sich diese vier Modalitäten auf diese \\Teise gut entziffern lassen, wenn sie in dieser Epoche vonein::mder unterschieden und tatsächlich getrennt sind, besteht doch eines der Merkmale der Geschichte der antiken Philosophie (und wohl auch der antiken Kultur im allgemeinen) darin, daß es zwischen dem Modus des Wahrsprechens, der für die Weisheit charakteristisch ist, und dem Modus des Wahrsprechens, der die parrhesia auszeichnet, eine Tendenz zur gegenseitigen Verbindung in einer Art von philosophischer Modalität des Wahrsprechens gibt, ein Wahrsprechen, das sich deutlich vom prophetischen Wahrsprechen und auch von der Lehre der technai unterscheidet, für die die Rhetorik ein Beispiel darstellt. Wir werden sehen, wie ein philosophisches Wahrsprechen hervortritt oder sich zumindest ausbildet, das mit immer größerem Nachdruck Anspruch darauf erhebt, das Sein oder die Natur der Dinge auszusagen, und zwar nur insofern, als dieses Wahrsprechen ein Wahrsprechen über das ethos in Form der parrhesia anstreben, artikulieren und begründen könnte. In diesem Sinne kann man sagen, daß Weisheit und parrhesia, natürlich nur bis zu einem bestimmten Punkt, miteinander verschmelzen. Jedenfalls werden sie voneinander gleichsam angezogen. Es wird gleichsam ein Phänomen der Gravitation von Weisheit und parrhesia geben, eine Gravitation, die sich in jenen berühmten Persönlichkeiten der Philosophen äußert, die die Wahrheit über die Dinge sagen, aber vor allem ihre Wahrheit den Menschen anvertrauen, und zwar die ganze hellenistische und römische oder griechisch-römische Kultur hindurch. Hier haben wir, wenn Sie so wollen, eine Möglichkeit für die Untersuchung einer Geschichte der Ordnung der Wahrheit im Hinblick auf die Beziehungen zwischen parrhesia und Weisheit. Wenn man diese vier großen, grundlegenden Modi betrachtet, über die ich gerade gesprochen habe, könnte man sagen, daß das mittelalterliche Christentum andere Annäherungen voll-
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zogen hat. Die griechisch-römische Philosophie hatte die parrhesiastische Modalität und die Modalität der Weisheit einander angenähert. Mir scheint, daß man im mittelalterlichen Christentum eine andere Art von Zusammenstellung findet: die Zusammenstellung der prophetischen und der parrhesiastisehen Modalität. Die Wahrheit über die Zukunft zu sagen (über das, was den Menschen aufgrund ihrer Endlichkeit und der Struktur der Zeit verborgen ist, über das, was die Menschen erwartet, und über das Bevorstehen des noch verborgenen Ereignisses) und dann den Menschen die Wahrheit über sich selbst zu sagen, diese beiden [Modalitäten] wurden in einer Reihe von Diskurs[typen] und außerdem auch von Institutionen auf ganz einzigartige Weise aufeinander bezogen. Ich denke an die Predigt und an die Prediger, vor allem an jene Prediger, die im Ausgang von der franziskanischen und dominikanischen Bewegung die ganze abendländische Welt und das ganze Mittelalter durchqueren und die eine enorme historische Rolle für den Fortbestand - aber auch für die Erneuerung und den Wandel- [der] Drohung in der mittelalterlichen Welt spielen. Diese großen Prediger spielten in jener Gesellschaft zugleich die Rolle des Propheten und die Rolle des Parrhesiasten. Wer das drohende Bevorstehen des Morgen, des Reichs der letzten Tage, des Jüngsten Gerichts oder des heranrückenden Todes kundtut, sagt zugleich den Menschen, was sie selbst sind, und sagt ihnen offen, in voller parrhesia, was ihre Fehler, ihre Verbrechen sind und in welchen Punkten und wie sie ihre Lebensweise ändern müssen. Angesichts dessen scheint mir, daß dieselbe mittelalterliche Gesellschaft, dieselbe mittelalterliche Kultur auch die Tendenz hatte, die beiden anderen Ausprägungen der Veridiktion einander anzunähern: die Modalität der Weisheit, die das Sein der Dinge und ihr Wesen offenbart, und die Modalität der Lehre. Die Wahrheit über das Sein und die Wahrheit über das Wissen zu sagen war die Aufgabe einer Institution, die für das Mittelalter genauso charakteristisch wie die Predigt war: die Universität. Die Predigt und die Universität scheinen mir für das
:\1ittelalter eigentümliche Institutionen zu sein, in denen man :eweils die Verknüpfung von zwei der Funktionen erkennen kann, über die ich gesprochen habe, und die eine Ordnung der \-eridiktion, eine Ordnung des Wahrsprechens definieren, die sich stark von derjenigen unterscheidet, die man in der hellenistischen und griechisch-römischen Welt antrifft, wo vielmehr Darrhesia und Weisheit miteinander kombiniert wurden. Cnd die Moderne, werden Sie mich fragen? Das weiß ich nicht so genau. Das wäre zweifellos zu untersuchen. Man könnte sich vielleicht vorstellen - aber das sind Vermutungen, ja nicht einmal Vermutungen, sondern beinahe inkohärente Äußerungen -, daß man die Modalität des prophetischen Wahrsprechens in einer Reihe von politischen Diskursen, von revolutionären Diskursen wiederfindet. In der modernen Gesellschaft spricht der revolutionäre Diskurs wie jeder prophetische Diskurs im Namen eines anderen. Er spricht, um eine Zukunft zu offenbaren, die bis zu einem gewissen Grad schon die Gestalt des Schicksals hat. Was die ontologische Modalität des Wahrsprechens betrifft, das das Sein der Dinge aussagt, so würde diese sich wohl in einer bestimmten Modalität des philosophischen Diskurses wiederfinden. Die fachmännische Modalität des Wahrsprechens ordnet sich viel stärker um die Wissenschaft als um die Lehre herum an oder jedenfalls um einen Komplex, der aus den Institutionen der Wissenschaft und Forschung und den Institutionen der Lehre besteht. Mir scheint, daß die parrhesiastische Modalität gerade als solche verschwunden ist und man sie nur noch gestützt auf eine dieser drei Modalitäten findet. Wenn der revolutionäre Diskurs die Form einer Kritik der bestehenden Gesellschaft annimmt, spielt er die Rolle eines parrhesiastischen Diskurses. Der philosophische Diskurs als Analyse, als Reflexion auf die Endlichkeit des Menschen und als Kritik von allem, sei es im Bereich des Wissens oder dem der Moral, was die Grenzen der Endlichkeit des Menschen überschreiten kann, spielt wohl in gewisser Weise die Rolle der parrhesia. Was den wissenschaftlichen Diskurs betrifft, so spielt er ebenfalls diese parrhesiasti-
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sche Rolle, wenn er - und in seiner Entwicklung muß er das tun - sich als Kritik der Vorurteile, des bestehenden Wissens, der herrschenden Institutionen, der gegenwärtigen Handlungsweisen entfaltet. Das ist es, was ich Ihnen sagen wollte.':· ':. M. F. fährt fort: Ich hatte beabsichtigt, zu Beginn über die Art und Weise zu sprechen, wie ich die parrhesia dieses Jahr untersuchen will. Aber wozu würde das nützen? Ich hätte fünf Minuten und dann müßten wir nächstes Mal wieder von vorne anfangen. Also, wenn Sie wollen, gehen wir einen Kaffee trinken. Ich könnte Ihnen auch sagen, daß ich Ihre Fragen gerne beantworten würde. Aber ich fürchte, daß das keine große Bedeutung bei Hörerschaften ... haben würde. [Antwort auf eine Frage aus dem Publikum wegen des geschlossenen Seminars:} Es gibt zwei Dinge, die ich Ihnen sagen möchte, einmal zu dieser Frage und dann noch zu einem weniger wichtigen Thema. Was das Seminar angeht, gibt es hier, wie gesagt, ein institutionelles und juristisches Problem. Im Prinzip haben wir nicht das Recht, ein geschlossenes Seminar zu veranstalten. Und als ich doch einmal ein solches durchführte - z. B. jenes [über] Pierre Riviere, vielleicht erinnern sich einige daran -, gab es Beschwerden. Und in der Tat haben wir juristisch nicht das Recht, ein geschlossenes Seminar zu veranstalten. Nur gibt es eben, wie mir scheint, bei bestimmten Arten von Arbeiten einen Widerspruch, wenn man [einerseits] von den Professoren verlangt, öffentlich Rechenschaft über ihre Forschungen abzulegen, und sie [andererseits] daran hindert, ein geschlossenes Seminar durchzuführen, in dem sie diese Forschungen gemeinsam mit Studenten verfolgen können. Mit anderen Worten, man kann von einem Professor verlangen, in der öffentlichen Lehre Rechenschaft über seine Forschungen abzulegen und sonst nichts, wenn es sich um Forschungen handelt, die er ganz alleine durchführen kann. Das ist, wenn Sie so wollen, einer der rein technischen Gründe, warum ich seit Jahren Vorlesungen über die antike Philosophie halte, weil es letztendlich genügt, daß man die zweihundert Bände von Bude zur Verfügung hat. Damit hat es dann sein Bewenden. Man braucht keine Arbeitsgruppe. Aber wenn - und genau das möchte ich tun - ich die Regierungspraktiken, -formen, -rationalitäten in der modernen Gesellschaft untersuchen will, kann ich das wirklich nur in einer Gruppe tun. Nun verstehen Sie doch wohl- dadurch sollte sich hier niemand verletzt fühlen -, daß dieses Auditorium keine Gruppe bilden kann. Daher möchte ich das Recht erhalten, die Lehre in zwei Teile aufzuspalten: eine öffentliche Lehre, die den Statuten entspricht; aber auch eine Lehre oder eine Untersuchung in einer geschlossenen Gruppe, was mir die Bedingung dafür zu sein scheint, die öffentliche Lehre halten oder zumindest auf dem neu esten Stand halten zu können. Es ist, glaube ich, ein Widerspruch, von den Leuten zu verlangen, Forschung und öffentliche Lehre
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Anmerkungen ; V gl. zu diesen bei den Begriffen und ihrer unterschiedlichen Bedeutung L'Hermeneutique du sujet, a. a. 0., (z. B. S. 301-306 und 436-437; dt.: S·3 87-394 und 553-555)· 2 Vgl. zu dieser Dimension der sokratischen Rede schon die Vorlesung vom 2. März 1983, in: Le Gouvernement de soi et des autres, a.a.O., S. 286-296; dt.: S. 391-4°5. 3 Platon, Des Sokrates Verteidigung, 21a-e, S. lI-I2. -+ Eine Szene, die von Alkibiades im Gastmahl (20a-220d) geschildert wird; vgl. den Hinweis auf dieselbe Szene in der Vorlesung von 1982, L'Hermeneutique du sujet, S.49; dt.: S.74. 5 Vgl. die Analyse dieses Dialogs in den Vorlesungen vom 6. und 13. Januar 1982, in: L'Hermeneutique du sujet, S. 3-77; dt.: S. 15-110. 6 Platon, Laches, 200e, übers. v. L. Georgii, in: Platon: Sämtliche Werke, I. Bd., Heidelberg 1982, S. 203.
zu betreiben, wenn man der Forschung, die sie durchführen sollen, nicht die institutionelle Unterstützung zuteil werden läßt, die dafür notwendig ist. Zweitens dann noch eine ganz kleine Sache. Ich werde Ihnen wahrscheinlich - Sie wissen, daß ich von einer Woche zur anderen nie genau weiß, was ich tun werde - entweder nächste Woche oder vielleicht die Woche darauf eine Vorlesung oder eine halbe Vorlesung über eines der letzten Bücher von Dumezil halten. Sie wissen schon, das über den schwarzen Mönch in Varennes, das sich mit Nostradamus befaßt und einen zweiten Teil über Sokrates enthält (über den Phaidon und den Kriton). Da es sich um einen schwierigen Text handelt, würde ich, wenn einige unter Ihnen ihn vorher lesen wollen oder dazu Gelegenheit haben - natürlich ist das keine Pflicht, wir sind hier nicht in einem geschlossenen Seminar und Sie können tun, was Ihnen beliebt -, wahrscheinlich in zwei Wochen oder vielleicht auch schon nächste Woche gern darüber sprechen. [Frage aus dem Publikum:} - Im Rahmen eines Seminars oder im Rahmen der Vorlesung? - Im Rahmen der Vorlesung. Nur bin ich mir dessen wohl bewußt, daß, wenn ich darüber eine Vorlesung halten will, die Leute in etwa eine Vorstellung davon haben sollten, was in dem Buch steht. Das war's, vielen Dank.
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Vorlesung 2 (Sitzung vom 8. Februar 1984, erste Stunde)
Die euripideische parrhesia: ein Privileg des hochgeborenen Bürgers. -Kritil? der demokratischen parrhesia: schädlich für den Staat, gefährlich für den, der sie ausübt. - Sokrates' politische Zurückhaltung. - Demosthenes' Erp)OessungIHerausforderung_ - Die Unmöglichkeit einer ethischen Differenzierung in der Demokratie: das Beispiel des Staats der Arhener. - Vier Prinzipien des griechischen politischen Denkens. - Die platonische Wende. - Das aristotelische Zögern. - Das Problem des Scherbengerichts.
[Ich möchte gern das Problem der] parrhesia an der Stelle wieder aufnehmen, an der ich es letztes Jahr verlassen hatte, und versuchen, einen bestimmten Wandel schematisch darzustellen, den ich in dieser Geschichte der parrhesia für wichtig halte. Es geht dabei um den Übergang von einer Praxis, einem Recht, einer Pflicht der Veridiktion, die gegenüber dem Staat und seinen Institutionen und gegenüber dem Status des Bürgers bestimmt werden, zu einem anderen Typ von Veridiktion, einem anderen Typ von parrhesia, der seinerseits nicht durch die Beziehung auf den Staat (die polis), sondern auf die Art und Weise des Handelns, des Seins und des Verhaltens der Individuen (das ethos) und auch im Hinblick auf ihre Konstitution als moralisches Subjekt charakterisiert ist. Anhand dieses Wandels einer parrhesia, die sich an der polis ausrichtet, in eine parrhesia, die sich am ethos orientiert, möchte ich Ihnen heute auch zeigen, wie sich die abendländische Philosophie zumindest in ihren Grundzügen als Form der Praxis des wahren Diskurses ausbilden konnte. Zunächst jedoch [eine] kurze Erinnerung. Entschuldigen Sie, daß diese Ausführungen schematisch und wiederholend [für] diejenigen sind, die letztes Jahr da waren, aber vielleicht sind sie unverzichtbar, um die Dinge zu klären und das Problem erneut zu vergegenwärtigen. Sie erinnern sich, daß es letztes Jahr um die parrhesia im politischen Bereich und im Rahmen der demokratischen Institutionen ging. Das Wort parrhesia ist 54
erstmals in den Texten von Euripides verbürgt. Und hier erschien der Begriff der parrhesia als Bezeichnung des Rechts zu sprechen, des Rechts, öffentlich das Wort zu ergreifen, gewissermaßen zu sprechen, um seine Meinung über einen Bereich von Dingen auszudrücken, die den Staat angehen. Sein Wort in den Angelegenheiten des Staats zu sagen, dieses Recht wird von dem Ausdruck parrhesia bezeichnet. Anhand einiger Texte ,;on Euripides konnten wir erstens sehen, daß diese parrhesia, dieses Recht, sein Wort zu sagen, ein Recht ist, das man nicht besitzt, wenn man nicht Bürger durch Geburt ist. Sie erinnern sich an Ion, der nicht als Sohn eines Vaters, der nicht Bürger von Athen war, und einer unbekannten Mutter nach Athen zurückkehren wollte. 1 Um seine parrhesia auszuüben, wollte er ein Geburtsrecht haben. Zweitens konnten wir auch sehen, daß man dieses Recht der parrhesia nicht besitzt, wenn man in einen fremden Staat verbannt wurde. Sie erinnern sich an den Dialog zwischen J okaste und Polyneikes in den Phoinikerinnen. Jokaste trifft Polyneikes, der aus dem Exil zurückkehrt, und fragt ihn: Aber was ist denn die Verbannung, ist sie so schlimm? Und Polyneikes antwortet ihr: Gewiß, sie ist das Schlimmste, was man ertragen kann, denn im Exil besitzt man die parrhesia nicht, man hat nicht das Recht zu sprechen, man ist also der Sklave (der doulos) der Herren und kann sich ihrem Wahnsinn nicht einmal widersetzen. 2 Drittens hatten wir schließlich gesehen, daß man diese parrhesia, selbst wenn man Bürger ist, selbst wenn man in seiner eigenen Stadt ist, selbst wenn man sie durch das Geburtsrecht besitzt, verlieren kann, wenn die Familie auf die eine oder andere Weise von einem :\Irakel, einer Entehrung, irgendeiner Schande betroffen wird. Das war der Text des [Hippolytos]", als Phädra ihre Liebe gesteht und befürchtet, daß ihr eingestandener Fehler ihre eigenen Kinder, ihre eigenen Söhne der parrhesia beraubt. 3 Die parrhesia erschien also in allen diesen Texten als ein Recht und ein Privileg, die zum Leben eines hochgeborenen, ehrenhaften "- M. F. sagte: »Phädra« und verwechselte den Titel von Euripides' Tragödie mit dem von Racine.
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Bürgers gehören und ihm Zugang zum politischen Leben gewähren - politisches Leben verstanden als Möglichkeit, seine Zustimmung zu äußern und dadurch einen Beitrag zu den kollektiven Entscheidungen zu leisten. Die parrhesia war ein Recht, das es um jeden Preis zu bewahren galt, sie war ein Recht, das es im größtmöglichen Umfang auszuüben galt, sie war eine der Formen, in denen sich die freie Existenz eines freien Bürgers verwirklichte - wenn wir das Wort »frei« [in] seinem vollen und positiven Sinn interpretieren, d.h. eine Freiheit, die das Recht verleiht, die eigenen Privilegien inmitten der anderen, im Verhältnis zu den anderen und gegenüber den anderen auszuüben. Nun war die parrhesia aber - und in dieser Richtung waren wir letztes Jahr stehengeblieben - in den späteren Texten unter einem etwas anderen Licht erschienen. In den Texten um das Ende des 5. Jahrhunderts und vor allem in denen des 4. Jahrhunderts (zum größten Teil handelt es sich um philosophische und politische Texte) war die parrhesia viel weniger als ein Recht erschienen, das es in der Fülle der Freiheit auszuüben galt, sondern als gefährliche Praxis mit zweideutigen Wirkungen, die nicht ohne Vorsichts maßnahmen und Grenzen ausgeübt werden darf. Von Platon über Isokrates bis Demosthenes konnten wir sehen, wie sich dieses Mißtrauen gegenüber der parrhesia entwickelte. 4 Diese Krise der parrhesia, wie sie sich in der philosophischen und politischen Literatur des 4. Jahrhunderts darstellt - an dieser Stelle möchte ich mit der diesjährigen Vorlesung einsetzen -, läßt sich durch zwei große Erscheinungen charakterisieren. Erstens: die Kritik der demokratischen parrhesia. Hier möchte ich Ihnen zu zeigen versuchen, wie sich diese Kritik vollzieht, wie und warum man im philosophischen und politischen Denken der Griechen von Platon bis Aristoteles dazu gelangt ist, für die demokratischen Institutionen die Möglichkeit in Frage zu stellen, dem Wahrsprechen einen Platz einzuräumen. Wenn die demokratischen Institutionen nicht in der Lage sind, dem Wahrsprechen einen Platz einzuräumen und der parrhesia die
Rolle zuzugestehen, die sie spielen sollte, dann deshalb, weil es diesen demokratischen Institutionen an etwas fehlt. Ich werde nun versuchen, Ihnen zu zeigen, daß dieses etwas dasjenige ist, was man die »ethische Differenzierung« nennen könnte. Fassen wir die Sache etwas bestimmter und genauer. Bei dieser Kritik der demokratischen parrhesia, die sich in den philosophischen und politischen Texten des 4. Jahrhunderts entwikkelt, handelt es sich in Wirklichkeit um die Kritik der Demokratie, der demokratischen Institutionen, der Praktiken der Demokratie mit ihrem herkömmlichen Anspruch - wie er z. B., zumindest andeutungsweise, bei Euripides in Erscheinung trat -, der privilegierte Ort für das Auftreten des Wahrsprechens zu sein. Athen beanspruchte als demokratischer Staat, der stolz auf seine Institutionen war, der Staat zu sein, in dem das Recht zu sprechen, das Wort zu ergreifen, die Wahrheit zu sagen und die Möglichkeit, den Mut dieses Wahrsprechens zu akzeptieren, in der Tat besser verwirklicht war als anderswo. Es ist dieser Anspruch der Demokratie im allgemeinen und der athenischen Demokratie [im besonderen], der in Frage gestellt wird. Die Werte scheinen sich umzukehren, und die Demokratie erscheint nun im Gegenteil als der Ort, wo die parrhesia (das Wahrsprechen, das Recht, seine Meinung abzugeben und der Mut, sich der Meinung der anderen zu widersetzen) immer unmöglicher oder zumindest gefährlich wird. Diese Kritik gegenüber dem Anspruch der demokratischen Institutionen, der Ort der parrhesia zu sein, nimmt zwei Erscheinungsformen an. Erstens ist die parrhesia in der Demokratie für den Staat gefährlich. Sie ist gefährlich für den Staat, weil sie bedeutet, daß jedermann die Freiheit hat, das Wort zu ergreifen. Tatsächlich wird in der Demokratie die Freiheit, das Wort zu ergreifen, nicht mehr als das satzungsgemäße Vorrecht derjenigen ausgeübt, die durch ihre Geburt, ihren Status, ihre Stellung in der Lage sind, die Wahrheit zu sagen und für den Staat nutzbringend zu sprechen. In der Demokratie ist die parrhesia ein jedermann zugestandener Freiheitsspielraum, das zu sagen, was sei-
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ne Meinung ist, was seinem besonderen Willen entspricht, was ihm gestattet, seine Interessen und Leidenschaften zu befriedigen. Folglich ist die Demokratie nicht der Ort, an dem die parrhesia als Vorrecht und Pflicht ausgeübt wird. Die Demokratie ist der Ort, an dem die parrhesia von allen und jedem als Freiheitsspielraum genutzt wird, um Beliebiges zu sagen, d. h. das, was ihnen gefällt. Sie erinnern sich, daß Platon im Staat (im VIII. Buch bei 5 57b5) auf diese Weise den vor Freiheit und Freimut (eleutheria und parrhesia) strotzenden Staat darstellt, den kunterbunten und buntgefiederten Staat, den Staat ohne Einheit, in dem jeder seine Meinung kundtut, seinen eigenen Entscheidungen folgt und sich nach Belieben verhält. In diesem Staat gibt es so viele politeiai (Verfassungen, Regierungen) wie Individuen. Auf die gleiche Weise stellt Isokrates am Anfang der Rede über den Frieden (Absatz 13) die Redner dar, denen die Athener selbstgefällig zuhören. Wer sind denn die Leute, die sich erheben, das Wort ergreifen, ihre Meinung kundtun und gehört werden? Nun, es sind Trunkenbolde, Leute, die nicht bei Sinnen sind (tous noun ouk echontas: diejenigen, die keinen Verstand haben), außerdem sind es solche, die unter sich das öffentliche Vermögen und die Gelder des Staats aufteilen. 6 In dieser parrhesiastischen Freiheit, verstanden als Freiheitsspielraum für alle und jeden, das Wort zu ergreifen (gute und schlechte Redner, eigensüchtige Männer oder solche, die sich für den Staat aufopfern), stehen wahre und falsche Rede, nützliche und verhängnisvolle oder schädliche Meinungen nebeneinander und vermischen sich im Spiel der Demokratie. Wir sehen also, daß die parrhesia in der Demokratie eine Gefahr für den Staat ist. Das war die erste Erscheinungsform. Sie erinnern sich, wir hatten uns schon mehrere dieser Texte angesehen. Die zweite beunruhigende Erscheinung hinsichtlich der demokratischen parrhesia oder der Demokratie als Ort, der für die parrhesia angeblich privilegiert ist, besteht darin, daß die parrhesia in der Demokratie nicht nur für den Staat selbst gefährlich ist, sondern auch für die Person, die sie auszuüben
,"ersucht. Und nun wird die parrhesia unter einem anderen Blickwinkel betrachtet. Im Sinne der ersten Gefahr erwies sich die parrhesia als Freiheitsspielraum für jeden, Beliebiges zu sagen. Jetzt erscheint die parrhesia insofern als gefährlich, als sie von dem, der von ihr Gebrauch machen will, einen gewissen Mut erfordert, der in einer Demokratie das Risiko birgt, nicht honoriert zu werden. Wer sind denn eigentlich diejenigen unter allen miteinander rivalisierenden Rednern in dem Tohuwabohu, von dem Platon spricht ([es handelt sich] um das Bild des Schiffes im VI. Buch des Staats 7 ), in diesem Durcheinander aller miteinander streitenden Redner, die das Volk zu verführen versuchen und sich des Ruders bemächtigen wollen, wer sind die, denen man zuhört, die, denen man zustimmt, denen man folgt und die man liebt? Es sind jene, die gefallen, jene, die sagen, was das Volk wünscht, jene, die ihm schmeicheln. Den anderen dagegen, denjenigen, die sagen, was wahr und gut ist, oder es zumindest versuchen, hört man nicht zu. Schlimmer noch, sie rufen negative Reaktionen hervor, sie verärgern und erzürnen. Und ihre wahre Rede setzt sie der Rache oder der Strafe aus. Auf diese Gefahr für die Person, die die Wahrheit in einem demokratischen Raum sagt, bezieht sich Sokrates, Sie erinnern sich, in einer ganz pointierten Passage der Apologie. Nachdem er erklärt hat, welche Mission ihm der Gott anvertraut hatte - eine Mission, die darin besteht, die verschiedenen Bürger nacheinander zu befragen, entweder indem man sie auf der Straße anhält oder indem man sie in ihren Werkstätten und ihren Häusern besucht -, erhebt Sokrates gegenüber sich selbst den Einwand: Aber warum habe ich selbst nie öffentlich gehandelt, wo ich doch vorgebe, für den Staat so nützlich zu sein? Warum bin ich nie auf die Rednerbühne gestiegen, um meine Meinung zu sagen und um dem Staat allgemeine Ratschläge zu geben? Und er antwortet selbst: »Denn wißt nur, Ihr Athener, wenn ich schon vor langer Zeit unternommen hätte, Staatsgeschäfte zu betreiben, so wäre ich schon längst umgekommen [.. .]. Werdet mir nur nicht böse [sagt er zu seinen Richtern; M. E], wenn ich die Wahrheit rede! Denn kein
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Mensch kann sich erhalten, der sich - sei es nun euch oder einer anderen Volksmenge - tapfer [gnesios: aus edlen Motiven; M. F.] widersetzt und viel Ungerechtes und Gesetzwidriges im Staate zu verhindern sucht.«8 Ein Mann, der aus edlen Motiven spricht und der sich wegen dieser edlen Motive dem Willen aller entgegenstellt, setzt sich daher, so Sokrates, dem Tod aus. Es stellt sich folgendes Problem (wir werden entweder heute oder nächstes Mal darauf eingehen): Warum war Sokrates, der keine Furcht hatte, sich dem Tod im Namen einer bestimmten Praxis der parrhesia auszusetzen, die er nicht aufgeben wollte, dennoch nicht gewillt, jene politische und demokratische parrhesia vor der Volksversammlung auszuüben? Aber das ist eine andere Frage. 9 Jedenfalls wird hier diese Gefahr der parrhesia als Wahrsprechen in der demokratischen Praxis deutlich bezeichnet, eine Gefahr, die nicht den Staat im allgemeinen betrifft, sondern das Individuum, das edle Motive hat, und das sich wegen dieser edlen Motive dem Willen der anderen widersetzen will. Dieselbe Art von Gefahren bringt Isokrates am Anfang der Rede über den Frieden zum Ausdruck, von der ich vorhin gesprochen habe, wenn er beispielsweise sagt: »Ich mache allerdings die Beobachtung, daß ihr nicht allen Rednern die gleiche Aufmerksamkeit schenkt, sondern daß ihr den einen aufmerksam zuhört, bei den anderen nicht einmal ihre Stimme ertragen könnt. Doch euer Verhalten ist keineswegs verwunderlich. Denn auch sonst seid ihr es ja gewöhnt, alle Redner von der Rednerbühne zu weisen, außer solche, die euch nach dem Mund reden.«lo Ich weiß, so schließt Isokrates, daß es gefährlich ist, sich euren Ansichten zu widersetzen, denn, obwohl wir uns in einer Demokratie befinden, gibt es keine parrhesia. 11 Wir sehen also, wie der Begriff der parrhesia sich aufspaltet. Einerseits erscheint sie als gefährlicher Freiheitsspielraum für alle und jeden, alles und Beliebiges zu sagen. Außerdem gibt es die gute parrhesia, die mutige parrhesia, und diese mutige parrhesia (die des Mannes, der großherzig die Wahrheit sagt, selbst
wenn sie mißfällt) ist für die Person, die von ihr Gebrauch macht, gefährlich. Für sie gibt es in der Demokratie keinen Platz. Entweder räumt die Demokratie der parrhesia einen Platz ein, dann kann diese Freiheit für den Staat nur gefährlich sein. Oder die parrhesia ist tatsächlich eine mutige Einstellung, die in dem Unternehmen besteht, die Wahrheit zu sagen, dann hat sie aber keinen Platz in der Demokratie. Auch bei Demosthenes findet man in vielen seiner Reden zahlreiche Hinweise auf diese Krise, diese Kritik, diese Anprangerung der Demokratie, weil sie nicht in der Lage ist, der guten parrhesia einen Platz einzuräumen. Diejenigen, die es interessiert, verweise ich auf die Dritte Olynthie, in der er z. B. damit beginnt, eine schwere Anschuldigung gegen seine Mitbürger zu erheben: Ihr seid gegenwärtig soweit gekommen, daß ihr Sklaven seid, und ihr haltet euch für glücklich, weil man euch Geld für die Schauspiele gibtY Und nachdem er so eine Wahrheit ausgesprochen hatte, die natürlich diejenigen verletzte, an die er sich wendet, nachdem er diese mutige Wahrheit gesagt hat, fügt er sogleich hinzu: Aber ich weiß wohl, nachdem ich mich dieser Sprache bedient und euch gesagt habe, daß ihr Leute seid, die sich mit dem Geld zufriedengeben, das man euch für die Schauspiele gibt, daß »ich nicht überrascht wäre, wenn diese Sprache [deren ich mich euch gegenüber bedient habe; ?vi. F.] mich teurer zu stehen kommen würde als sie [die schlechten Redner; M. F.] das Übel zu stehen kommt, das sie euch zugefügt haben. Die Offenheit [der Freimut, die parrhesia, sagt der Text; N. F.] mögt ihr nicht hinsichtlich aller Themen leiden, und es erstaunt mich, daß ihr mich heute sprechen ließet.«13 Hier entwickelt sich eine Art von parrhesiastischem Spiel, das bei den Rednern dieser Zeit und bei Demosthenes recht geläufig war und bei dem man versucht, den Hörer dazu zu zwingen, eine Wahrheit zu akzeptieren, die ihn verletzt, bei dem man das Volk von Athen dazu zwingt, sich sagen zu lassen: Ihr seid ein Volk, das mit dem Geld zufrieden ist, das man ihm für die Schauspiele gibt. Man zwingt es, diese verletzende Wahrheit zu akzeptieren, indem man es ein zweites Mal durch
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einen neuen Vorwurf verletzt. Und dieser Vorwurf besteht darin, daß man sagt: Auf jeden Fall seid ihr nicht in der Lage, die Wahrheit zu akzeptieren. Erstens nehmt ihr Geld für die Schauspiele an und seid damit zufrieden. Zweitens kenne ich das Risiko, daß ich dadurch eingehe, daß ich euch dies sage, und ihr werdet mich wahrscheinlich dafür bestrafen, daß ich es euch gesagt habe. Das ist eine Art von Herausforderung und Erpressung, damit die wahre Rede ihren Platz einnehmen kann. In der Demokratie erscheint die wahre Rede ein Jahrhundert nach Euripides nicht mehr als ein Privileg, das derjenige besitzt, der eine Reihe von Bedingungen erfüllt. Der wahre Diskurs kann sich nur aufgrund einer Operation des Herausforderns und der Erpressung durchsetzen: Ich werde euch die Wahrheit sagen, ihr werdet mich wahrscheinlich bestrafen; aber wenn ich euch vorher sage, daß ihr mich wahrscheinlich bestrafen werdet, hindert euch das vermutlich daran, mich zu bestrafen, und gestattet mir, die Wahrheit zu sagen. Das ist derselbe Mechanismus, den man am Anfang der Dritten Philippika findet, wenn Demosthenes die unkontrollierte Zuteilung des Rederechts und seine grenzenlose Vergabe in den athenischen Institutionen anspricht. Er unterstreicht das Vergnügen, mit dem das Volk jenen zuhört, die ihm schmeicheln, er erinnert an das Verschwinden der parrhesia als Wahrsprechen aufgrund dieser Institutionen und des Gefallens an der Schmeichelei, und er hebt die Risiken hervor, die er selbst eingeht, indem er so spricht, wie er es tat. Dann beginnt er erneut mit jener Herausforderung und Erpressung, indem er sagt: Entweder ihr verzichtet darauf, nur noch den Schmeichlern zuzuhören, und willigt ein, die wahre parrhesia anzuhören; oder ich werde schweigen. Es gibt also diesen Text (Dritte Philippika): »Wenn ich euch freimütig manche Wahrheiten sage, Athener, glaube ich nicht, daß ihr euch darüber zu ärgern habt. Denkt doch einmal nach. Ihr wollt, daß die Freimütigkeit (parrhesia) bezüglich jedes anderen Gegenstands ein Recht für jedermann in unserer Stadt sei; ihr gesteht es sogar den Fremden zu, und mehr noch den Sklaven; und tatsächlich könnte man
bei euch viele Diener sehen, die alles, was sie wollen, freimütiger sagen, als es die Bürger in anderen Städten tun.«14 Das ist also die parrhesia in der athenischen Demokratie: Jedermann sogar die Diener und die Sklaven - kann freimütig reden. Aber die parrhesia (den Freimut) in ihrem positiven Sinn, als Mut, die Wahrheit zu sagen, habt ihr von der Rednerbühne verjagt. Von dem Augenblick an, da die parrhesia zum Freiheitsspielraum für jedermann wird, kann es keine parrhesia als Mut, die \V'ahrheit zu sagen, geben. Was ergibt sich nun hieraus? Nun, sagt Demosthenes, es ergibt sich, daß ihr euch in den Versammlungen daran ergötzt, daß man euch durch Reden schmeichelt, die zum alleinigen Ziel haben, euch zu gefallen. Aber dann, wenn sich die Ereignisse einstellen, ist euer Heil selbst in Gefahr. Wenn ihr jetzt in dieser Verfassung seid - darin besteht die Herausforderung und Erpressung -, habe ich euch nichts mehr zu sagen, und es bleibt mir nur noch übrig zu schweigen. Wenn ihr dagegen wirklich zuhören und mich für die Wahrheit, die ich euch sagen werde, nicht bestrafen wollt, wenn ihr wirklich zuhören wollt, ohne zu verlangen, daß man euch schmeichelt, was euer Interesse gebietet, dann bin ich bereit zu sprechen. _\uf diese Weise also vollzieht sich die Kritik an der demokratischen parrhesia oder vielmehr der Hinweis auf eine gewisse Unmöglichkeit, die parrhesia in den demokratischen Institutionen im vollen und positiven Sinne des Begriffs zum Einsatz zu bringen. Nur kann man sich dann die Frage stellen: Welcher Grund wird dafür angegeben, daß im Spiel der Demokratie die wahre Rede nicht über die falsche siegt? Wie kommt es denn, daß ein mutiger Redner, ein Redner, der die Wahrheit sagt, nicht in der Lage sein soll, sich Anerkennung zu verschaffen? Oder wie kommt es auch, daß Leute, die dem Redner zuhören, der die Wahrheit sagt, nicht in der Lage und imstande sind, ihm Gehör zu schenken und ihn anzuerkennen? Wieso und weshalb, aus welchem Grund ist die Aufteilung zwischen wahrer und falscher Rede in der Demokratie nicht möglich? Ich glaube, daß wir hier ein grundsätzliches Problem haben, das wir zu erfassen versuchen müssen. Woran liegt es, daß die wahre Rede
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in der Demokratie ohnmächtig ist? Liegt es an der Ohnmacht der wahren Rede an sich? Gewiß nicht. Es handelt sich vielmehr um eine Art von kontextabhängiger Ohnmacht. Diese Ohnmacht rührt von dem institutionellen Rahmen her, in dem die wahre Rede auftritt und ihre Wahrheit geltend zu machen versucht. Die Ohnmacht der wahren Rede in der Demokratie rührt wohlgemerkt nicht von der wahren Rede her, von der Tatsache, daß die Rede wahr ist. Sie beruht auf der Struktur der Demokratie selbst. Warum erlaubt die Demokratie die Aufteilung in eine wahre und falsche Rede nicht? Weil man in der Demokratie den guten und den schlechten Redner, die Rede, die die Wahrheit sagt und dem Staat nützt, und die Rede, die lügt, schmeichelt und schadet, nicht voneinander unterscheiden kann. Daß die Demokratie nicht der Ort der wahren Rede sein kann, ist ein Thema, das sich durch die Kritik hindurchzieht, der man während des gesamten 4. Jahrhunderts [begegnet]. Umnun zu versuchen, das zentrale Argument, aus dem sich alle diese Kritiken entwickeln werden, einigermaßen zu erfassen, glaube ich, daß man sich auf die gewissermaßen ungeschliffenste, einfachste, schematischste, roheste und gröbste, aber auch aufschlußreichste Formulierung beziehen kann. Dieses Prinzip, daß es in der Demokratie keine Aufteilung zwischen der wahren und der falschen Rede geben kann, findet man in einem Text ausgesprochen, der lange Xenophon zugeschrieben wurde, der [aber] in Wirklichkeit einen anderen Ursprung hat [und] vermutlich um die Wende vom 5. zum 4. Jahrhundert geschrieben wurde. Dieser Text ist der Staat der Athener (PoliteiaAthenaion). Tatsächlich handelt es sich um ein Pamphlet, ein Pamphlet, das offenbar aristokratischen Ursprungs ist und das in Form einer leicht verdrehten, paradoxen Lobrede vorliegt, einer falschen Lobrede auf die athenische Demokratie, eines ironischen Gesangs zu ihren Ehren, der sich natürlich in eine heftige Kritik umkehrt. Unter dem Vorwand, alle Verdienste der athenischen Demokratie glänzen zu lassen, bringt der Autor zu ihrer Stützung Gründe vor, die so lächerlich sind, Motive, die so verabscheu-
ungswürdig sind, daß die Lobrede sogleich als grundlegende und radikale Kritik an den athenischen Institutionen erkannt wird. Alle diese Abwandlungen der Form der Lobrede kamen in der griechischen Literatur des 4. Jahrhunderts häufig vor. In dieser paradoxen, kritischen, possenhaften Lobrede auf die athenische Demokratie gibt es eine Reihe von Zeilen, die genau dem Problem der parrhesia gewidmet sind. Sie stehen in Kapitel 1. An dieser Stelle erwähnt der Autor einige Staaten, in denen, wie er sagt, die Geschicktesten (die Fähigsten, würden wir sagen), die Gesetze verabschieden. In diesen Staaten, sagt er, züchtigen und zügeln auch die guten Staatsbürger die schlechten und erlegen ihnen die notwendigen Strafen auf. Schließlich beratschlagen und entscheiden in diesen Staaten die rechtschaffenen Männer (chrestoi), wohingegen man die Verrückten, die Wahnsinnigen (hoi mainomenoi: jene, die nicht bei Verstand sind) am bouleuein (an der Teilhabe an den beratenden und entscheidungstragenden Instanzen, die die Politik des Staats festlegen) hindert, anstatt ihnen das Rederecht einzuräumen. Diese Leute, die nicht bei Verstand sind (die Wahnsinnigen, die Verrückten), läßt man nicht an den Beratungen der Entscheidungsinstanzen teilhaben, man läßt sie nicht ihre Meinung abgeben, man billigt ihnen keine beratende Stimme in den Rats,"ersammlungen zu. Das ist aber nicht alles. Diesen Leuten, die nicht bei Verstand sind, gibt man in diesen Staaten nicht nur keinen Zugang zur Boule (zur Ratsversammlung), sondern man läßt sie nicht einmal sprechen (legein). Und nicht nur das, man läßt sie nicht einmal ekklesiazein (zur Ekklesia, zur Volks,"ersammlung kommen). Sie haben keinen Platz in der Volksyersammlung, sie haben kein Recht zu sprechen und a fortiori haben sie kein Recht, ihre Meinung in den Ratsversammlungen kundzutun. In diesen Staaten, so der Autor des Textes, herrscht aufgrund all dieser Vorsichtsmaßnahmen die eunomia (die gute Verfassung, die gute Staatsform).15 )Jachdem er auf diese Weise die gute Staatsform bestimmt hat, d. h., nachdem er immerhin eine Reihe von Trümpfen ins Spiel gebracht hat, sagt der Autor der vorgetäuschten, ironischen,
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paradoxen und possenhaften Lobrede auf die Institutionen Athens: Das große Verdienst Athens besteht gerade darin, auf diesen Luxus der eunomia verzichtet und diese Vorsichtsmaßnahmen nicht getroffen zu haben, die die Wahnsinnigen daran hindern, an der Ratsversammlung teilzunehmen, zu sprechen oder gar zur Volksversammlung zu kommen. Das große Verdienst Athens, sagt er, ist es, diese eunomia zu vermeiden und solche Beschränkungen abgelehnt zu haben. Warum nimmt Athen diese Ordnung der eingeschränkten Rede und der guten Staatsform, der guten Verfassung nicht an? Dafür nennt er die folgenden Gründe, und, wie gesagt, trotz ihres ungeschliffenen, sophistischen, verdrehten Charakters ist die Argumentation interessant, wie Sie sehen werden. Was geschieht in einem Staat, in dem nur die Besten allein das Rederecht besitzen, in dem die Besten ihre Meinung abgeben und entscheiden? Die Besten versuchen - eben weil sie die Besten sind - Entscheidungen zu treffen, die mit dem Wohl, dem Interesse und dem Nutzen des Staats übereinstimmen. Nun ist aber das Gute, dasjenige, was dem Staat nützt, per definitionem das, was für die Besten des Staats gut, nützlich und vorteilhaft ist. Folglich dienen sie, indem sie den Staat dazu bewegen, Entscheidungen zu treffen, die für ihn von Nutzen sind, nur ihrem eigenen, egoistischen Interesse der Besten. 16 Was geschieht nun aber in einer Demokratie, in einer wahrhaften Demokratie wie der athenischen ? Es gibt eine Staatsform, in der nicht die Besten, sondern die vielen (hai palloi) die Entscheidungen treffen. Und wonach streben sie? Danach, sich nicht irgendeiner Instanz unterzuordnen. In einer Demokratie wollen die vielen (hoi pallai)17 vor allem frei sein, keine Sklaven sein (douleuein) und nicht dienen. 18 Wem wollen sie nicht dienen? Sie wollen weder den Interessen des Staats noch denen der Besten dienen. Sie wollen selbst archein (gebieten).19 Also werden sie danach streben, was für sie selbst nützlich und gut ist, denn worin besteht das Gebieten? Es besteht darin, daß man fähig ist, zu entscheiden und das durchzusetzen, was für einen selbst am besten ist. Aber weil sie die vielen (hai pollai) sind, können sie auch nicht
die Besten sein, da ja die Besten per definitionem die Seltensten sind. Folglich sind sie nicht die Besten, da sie die vielen sind, und da sie nicht die Besten sind, sind sie die Schlechtesten. Für wen ist also das, nach dem diese Schlechtesten streben, ein Gut? Für die Schlechtesten im Staat. Nun ist aber das, was für die Schlechten im Staat schlecht ist, zugleich auch schlecht für den Staat. [Der Autor] kommt zu dem Schluß, daß in einem solchen Staat jedermann, den vielen, also den Schlechtesten das Recht zu sprechen zugestanden werden muß.20 Denn, so meint er, wenn die Rede und die Beratung das ausschließliche Privider rechtschaffenen Leute wäre, wenn man die parrhesia nur den Besten einräumte, was würde dann wohl geschehen? \'Cenn die parrhesia den Besten vorbehalten wird, würden die Besten das Wohl des Staats durchsetzen wollen, d. h. ihr eigenes Wohl. Und wenn sie ihr eigenes Wohl, ihren eigenen Nutzen durchsetzten, dann könnte das nur zu ihrem eigenen Vordem der rechtschaffenen Leute, und zum Nachteil des Yolkes sein. 21 In einer echten Demokratie wie der athenischen darf das Rederecht daher nicht den Besten vorbehalten sein, ,,:enn man will, daß das, was gesagt wird, zum Vorteil des Volkes und der vielen gesagt wird. Der Bösewicht, so der Autor, :nuß sich daher erheben und das Wort ergreifen können. Dann v,"ird er aussprechen, was für ihn, den Bösewicht, und für seinesgleichen, die Bösewichter, gut ist. 22 möchte nicht weiter auf diesen etwas sophistischen (wie Sie erkennen können) Argumenten beharren. Ich glaube jedoch, daß diese Spielereien interessant und wichtig sind. Denn auch wenn ihre Logik offensichtlich völlig anfechtbar ist, glaube ich doch, daß sie eine Reihe von Prinzipien zur Anwendung bringen, von denen man feststellen muß, daß sie im 4. Jahrhundert in dieser Form der Kritik der Demokratie als Ort der parrhesia ;;.llgemein anerkannt wurden. Jedenfalls begegnet man diesen ':erschiedenen Prinzipien in Formen des Denkens, die ansonsten ernstzunehmender sind als dieses etwas karikaturhafte Pamphlet. Diese Prinzipien, die diesem und vielen anderen Texten zu-
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grunde liegen, kann man folgendermaßen zusammenfassen und mir scheint, daß sie in einem gewissen Sinne eine Matrix und eine ständige Herausforderung für das politische Denken in der abendländischen Welt darstellten. Erstens haben wir ein Prinzip, das man das quantitative Prinzip oder, wenn Sie so wollen, das Prinzip des Gegensatzes nennen könnte und das sich auf eine quantitative Unterscheidung gründet. Die Überlegung des Autors der Politeia Athenaion gesteht als selbstverständlich zu - und hunderte anderer Texte würden zeigen, daß Leute, die unendlich viel ernsthafter sind als er, auf dieselbe Weise urteilen und denselben Gegensatz ins Spiel bringen -, daß sich die Individuen in einem Staat in zwei große Gruppen einteilen lassen, die sich einzig und allein, aber grundsätzlich durch die Tatsache unterscheiden, daß die einen am zahlreichsten und die anderen am wenigsten zahlreich sind. Auf der einen Seite die »Menge«, auf der anderen »einige wenige«. Diese Absetzung zwischen »hoi polloi« und den »einigen wenigen« bestimmt grundlegend den Gegensatz in der Gesellschaft und die Konflikte, die sich dort abspielen können. Zugleich wirft sie die Frage auf, wer regieren soll. Das erste Prinzip ist also ein quantitativer Gegensatz. Das Prinzip der Skandierung der Einheit des Staates. Zweitens fällt dieser Gegensatz, dieses Absetzen der meisten gegen die anderen mit dem Gegensatz zwischen den Besten und den Schlechtesten zusammen. Die quantitative Aufteilung zwischen den Besten und den anderen hat denselben Grundriß wie die ethische Abgrenzung zwischen den Guten und den Schlechten. Man könnte das das Prinzip der ethisch-quantitativen Isomorphie nennen (verzeihen sie den barbarischen Ausdruck). Das dritte Prinzip, das diesem paradoxen Text zugrunde liegt, den ich Ihnen gerade zitiert habe, besteht darin, daß diese ethische Abgrenzung zwischen den Besten und den weniger Guten einer politischen Unterscheidung entspricht. Einerseits ist das, was für die Besten im Staat gut ist, auch für den Staat gut: Das Wohl der Besten ist das Wohl des Staates. Umgekehrt ist das,
was für die Schlechtesten gut ist, schlecht für den Staat: das Wohl der Schlechten ist das Übel für die Gesellschaft. Das könnte man das Prinzip der politischen Transitivität nennen. Der Wille der Besten, die nach dem Guten streben, ist für den Staat nützlich. Der Wille der Schlechtesten, die nach ihrem Wohl streben, ist schlecht für den Staat. Das hat zur Folge - und das ist das vierte Prinzip -, daß die Wahrheit im Bereich des politischen Diskurses - d. h., was für den Staat gut, nützlich und wohltuend ist - offenbar nicht innerhalb der Demokratie, verstanden als Rederecht aller, gesagt werden kann. In einem Staat und einer politischen Struktur kann die Wahrheit nur aufgrund der Kennzeichnung, der Aufrechterhaltung und der Institutionalisierung einer wesentlichen Absetzung der Guten von den Schlechten zur Sprache Kommen. Nur insoweit diese wesentliche ethische Unterscheidung wirklich Gestalt angenommen, ihren Ort gefunden und sich innerhalb des politischen Bereichs manifestiert hat, kann die Wahrheit gesagt werden. Und wenn die Wahrheit gesagt werden kann, dann kann das Wohl des Staates (das, was nützlich und wohltuend für ihn ist) verwirklicht werden. lviit anderen Worten, damit der Staat existieren kann, damit er gerettet werden kann, ist die Wahrheit notwendig. Aber die \'i7ahrheit kann nicht in einem politischen Umfeld gesagt werden, das durch die Unterschiedslosigkeit zwischen den sprechenden Subjekten charakterisiert ist. Die Wahrheit kann nur in einem politischen Umfeld gesagt werden, das durch eine -'I...bsetzung gekennzeichnet und um sie herum organisiert ist, nämlich die Absetzung der meisten von den wenigen, die zugleich die ethische Spaltung zwischen den Guten und den Schlechten ist, zwischen den Besten und den Schlechtesten. Deshalb kann das Wahrsprechen keinen Ort im Spiel der DeE10kratie haben, weil die Demokratie die ethische Aufteilung, mfgrund deren allein das Wahrsprechen möglich ist, nicht anerkennen und nicht einräumen kann. Es würde also nicht genügen zu sagen - wie es die ersten Texte andeuten mochten, die :ch zitiert habe und die an jene aus dem vorigen Jahr anknüpf-
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ten -, daß die allen zugestandene Freiheit der Rede das Risiko birgt, das Wahre und das Falsche zu vermischen, die Schmeichler zu begünstigen und diejenigen, die das Wort ergreifen, persönlichen Gefahren auszusetzen. All das ist zwar richtig, aber es ist nur die Folge einer ansonsten grundsätzlicheren, strukturelleren Unmöglichkeit. Es gilt zu verstehen, daß nach [dieser Art] von Analyse, die wir anhand dieses paradoxen Textes zur Sprache brachten, die Form der Demokratie selbst dem Wahrsprechen keinen Platz einräumen kann, wenn der Beste dem Schlechtesten unterworfen, die Wertordnung umgekehrt, statt dessen eine Unordnung eingeführt und der Widersinn aufrechterhalten wird. Sie kann es nur auslöschen, indem sie nicht auf es hört, wenn es sich ausspricht oder indem sie es physisch durch den Tod beseitigt [... ':1 Von hier aus läßt sich verstehen, was man sehr schematisch - entschuldigen Sie, ich werde nur einen sehr groben Überblick geben - die platonische Wende und das aristotelische Zögern nennen könnte. Erstens die platonische Wende. Wenn es tatsächlich stimmt, daß die parrhesia in der Demokratie nicht anzutreffen ist, weil in ihr die notwendige ethische Spaltung fehlt, kann der wahre Diskurs, wird Platon sagen, von dem Augenblick an, wo man ihn durch die Philosophie und in Form der Philosophie als Grundlage der politeia geltend macht, die Demokratie nur beseitigen und ausmerzen. Man könnte auch hier sehr schematisch sagen, daß zwischen der Demokratie und dem Wahrsprechen ein großer Kampf tobt: Wenn man die demokratischen Institutionen betrachtet, sieht man einerseits, daß sie das Wahrsprechen nicht dulden können und daß sie es ausschalten müssen; wenn man das Wahrsprechen im Ausgang von der ethischen Entscheidung geltend macht, die den Philosophen und die Philosophie kennzeichnet, dann muß [andererseits] die Demokratie beseitigt werden. Entweder Demokratie oder Wahrsprechen. Im Anschluß an die Kritik der Demokratie, ". Nach einer Leerstelle ist nur das Ende des folgenden Satzes zu hören: ... demokratischen [...], der Wahrheit einen Platz einzuräumen, auf sie zu hören und sie zu unterstützen.
daß sie unfähig sei, dem Wahrsprechen einen Platz einzuräumen, besteht die platonische Wende in der Bestätigung des Wahrsprechens als definierendes Prinzip einer politeia (einer politischen Struktur, einer Verfassung, einer Regierungsform), wodurch die Demokratie gerade sorgfältig ausgeschlossen wird. Ich verweise Sie darauf - ich vergaß, Ihnen den Text mitzubringen, aber sie können ihn selbst [lesen] -, was im VI. Buch des Staats (Abschnitt 488a-b) [dargelegt] wird. Das ist die Stelle, die ich vorhin erwähnt habe, wo Platon sagt: Hör' mal, damit wir uns richtig verstehen, werde ich ein Gleichnis bemühen müssen (ein ganz klassisches, ganz grundlegendes Gleichnis, das im gesamten politischen Denken der Griechen die Rolle einer Matrix spielt). Man muß sich vorstellen, daß der Staat wie ein Schiff ist, mit einem Schiffsherrn, der zwar ein tapferer :\1ann guten Willens ist, aber ein bißchen kurzsichtig, und der nicht weiter als bis zu seiner Nasenspitze sieht - dieser Schiffsherr ist selbstverständlich das Volk. Um ihn herum gibt es nun eine Besatzung, die nur eines im Sinn hat, nämlich sich des Ruders zu bemächtigen und es in ihrem Interesse zu steuern - das sind die Demagogen. Um das Ruder in ihre Gewalt zu bekommen, schmeichelt die Besatzung dem Schiffsherrn, übernimmt das Ruder und regiert, aber weder aufgrund irgendeiner Wissenschaft der Navigation noch des Meeres oder des Himmels, sondern aufgrund ihres Eigeninteresses. Die Demokratie kann sich nicht auf den wahren Diskurs berufen. Dagegen richtet sich im VII. Buch23 der berühmte Abstieg der Philosophen in die Höhle, als man ihnen folgendes sagt, nachdem sie tatsächdie Wahrheit betrachtet haben: Was auch immer das Vergnügen sei, das ihr beim Betrachten dieser Wahrheit verspürt habt, auch wenn ihr darin eure eigentliche Heimat erkannt habt, so wißt ihr doch genau, daß ihr in den Staat hinabsteigen und ihn regieren müßt. Ihr werdet eure wahre Rede gegen alle durchsetzen, die den Staat nach den Prinzipien der Schmeichelei regieren wollen. Nach der Kritik der demokratischen part·hesia, die zeigte, daß es in der Demokratie keine parrhesia im Sinne des mutigen Wahrsprechens geben kann, zeigt die plato-
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nische Wende also, daß eine Regierung und eine politeia, die gut sein wollen, sich auf einen wahren Diskurs gründen müssen, der Demokraten und Demagogen verbannen wird. All das ist bekannt, ich möchte jedoch den Nachdruck etwas mehr auf das legen, was man das aristotelische Zögern nennen könnte, das - was auch immer die viel »demokratischeren« (in tausend Anführungszeichen) Empfindungen Aristoteles' sein mögen - auf derselben Problematik beruht, auf derselben Schwierigkeit, die Existenz einer parrhesia, eines Wahrsprechens innerhalb demokratischer Institutionen zuzugestehen, wenn die Demokratie der ethischen Differenzierung zwischen den sprechenden, überlegenden und entscheidenden Subjekten keinen Platz einräumen kann. Natürlich hat Aristoteles die schematischen und ungeschliffenen Prinzipien, die ich vorhin erwähnte, beträchtlich ausgearbeitet, modifiziert, umgewandelt und bis zu einem gewissen Grad auch aufgehoben. Beispielsweise hebt Aristoteles die Geltung des Prinzips, daß der Staat sich in zwei gegensätzliche Gruppen aufspaltet (die meisten und die wenigsten), einerseits zwar hervor, er ergänzt und modifiziert es aber auch und stellt es schließlich in Frage, indem er eine weitere Form des Gegensatzes ins Spiel bringt: den Gegensatz zwischen den Reichsten und den Ärmsten. In einem sehr interessanten Kapitel des III. Buchs der Politik stellt Aristoteles die Frage: Entspricht der Gegensatz zwischen den meisten und den wenigsten genau dem Gegensatz zwischen den Ärmsten und den Reichsten ?24 Kann man sich denn z. B. keinen Staat vorstellen, in dem die Reichsten am zahlreichsten und die Ärmsten in der geringsten Anzahl vertreten wären? Könnte man in diesem Fall noch von einer Demokratie sprechen, wenn man annimmt, daß die Macht den Ärmsten (d. h. den wenigsten) gegeben werde? Mit anderen Worten, wenn man die Demokratie als eine Verfassung definiert, in der die Macht in den Händen der meisten liegt, hat man es dann noch mit einer Demokratie zu tun, wenn die Reichsten am zahlreichsten sind ? Und wenn die Ärmsten eine kleine Minderheit darstellen, kann sich dann ihre Macht
:-loch demokratisch nennen oder muß sie als aristokratisch bezeichnet werden? Darauf erwidert Aristoteles - eine Antwort, die äußerst interessant und grundlegend ist und vielleicht bis zu einem gewissen Grad das Risiko beinhaltete, das ganze poli:ische Denken der Griechen umzustürzen: Die Demokratie zeichnet sich durch die Macht der Ärmsten aus. 25 Obwohl sie '::lei weitem in der Minderheit wären, genügt es, daß sie die :'vIacht ausüben, damit es sich um eine Demokratie handelt. ~\Ian sieht, daß er hier zögert und gewissermaßen den Gegensatz zwischen den Reicheren und den Ärmeren gegenüber dem Gegensatz zwischen den Zahlreicheren und den weniger Zahl::-eichen ausspielt, der den grundlegenden, allgemeinen und re:ativ schwach entwickelten Rahmen bildete, welchem wir in anderen Texten begegneten. Zweitens stellt Aristoteles auch das andere Prinzip in Frage, das ich gerade erwähnt habe, demzufolge die meisten die Schlechtesten und die wenigsten zwangsläufig die Besten sind. Dieses Zusammenfallen des Gegensatzes zwischen den Besseren und den Schlechteren mit dem Gegensatz zwischen den weniger Zahlreichen und den Zahlreicheren, diese ethischquantitative Isomorphie stellt Aristoteles ebenfalls in Frage und bezweifelt sie. Das tut er [im] selben III. Buch der Politik Kapitel 4, Abschnitte 12 76b- I 2 77b), wo er sagt: Aber was sind schließlich »die Besten«? Sollte man nicht die Tugend des Staatsbürgers von der Tugend des Ehrenmannes unterscheiden? Gibt es nicht eine eigentlich politische Tugend, die darin '::lesteht, daß das Individuum durchaus ein guter Staatsbürger sein kann, der seine Pflichten als Staatsbürger erfüllt, der auch wirklich nach dem Interesse des Staats strebt, der für den Staat nützliche Entscheidungen trifft ?26 Er wird also ein guter StaatsDürger sein, und dennoch ist er vielleicht nicht zwangsläufig ein tugendhafter Mann in dem Sinne, in dem man sagt, daß ein Ehrenmann im allgemeinen in allen Aspekten seines Lebens '.md Verhaltens tugendhaft ist. Kann man nicht ein guter StaatsJürger sein, ohne wirklich ein Ehrenmann zu sein? Aristoteles' _-"-ntwort darauf ist komplex und nicht einfach. Er unterscheidet
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diese Beziehung zwischen den beiden Tugenden für den Fall einer Person, die einfach regiert wird, und für den Fall eines Regierenden. 27 Ich möchte nicht auf alle Details eingehen, aber Sie sehen, wie Aristoteles auch hier nicht schlichtweg naiv und grob diese Überlagerung zwischen den meisten und den wenigsten einerseits und den Schlechtesten und den Besten andererseits akzeptieren kann, die so lange grundlegend und anerkannt war. Er stellt die ethisch-quantitative Isomorphie in Frage. Drittens schließlich stellt Aristoteles auch das in Frage, was ich das Prinzip der politischen Umkehrbarkeit genannt habe: Indem sie ihr eigenes Interesse verfolgen, streben die Besten nach dem Wohl des Staats und verwirklichen dieses auch, während die Schlimmsten (die Schlechtesten) bei der Verfolgung ihres Eigeninteresses auf das abzielen und nur das erreichen, was dem Staat schadet. Aristoteles stellt dieses Prinzip im selben III. Buch der Politik in Frage, indem er geltend macht, daß es für jede Art von Regierung, ob es sich nun um die Monarchie, die Aristokratie oder die Regierung aller handelt, im Grunde durchaus zwei Ausrichtungen geben kann. 28 Es kann sein, daß es eine Monarchie gibt, in der natürlich ein einziger gebietet. Diese Monarchie kann zwei Formen annehmen. Der Monarch kann durchaus allein regieren, indem er nur auf sein Interesse und nicht auf das des Staats absieht. Oder aber, er kann all eine regieren, indem er jedoch grundsätzlich, zunächst und vor allem das Interesse des Staats im Auge hat. Dasselbe gilt für eine Aristokratie, die eine Aristokratie sein kann, deren Regierung entweder ihr eigenes Wohl oder das des Staats zum Ziel hat. Ebenso ist es bei der Regierung aller oder der meisten. Das bedeutet, daß Aristoteles das Prinzip nicht anerkennt, daß die Regierung weniger nur die Regierung der Besten sein kann und daß diese Regierung der Besten im Interesse der Besten das Wohl des Staats [befördern wird]. Dagegen behauptet er im Prinzip, daß die Regierenden unabhängig von der Regierungsform entweder in ihrem eigenen Interesse oder in dem des Staats regieren können. Sie sehen also, daß jene drei Prinzipien, die mit stillschweigen-
der Anerkennung und nur grob entwickelt im Text von Pseudo-Xenophon wirksam waren, von Aristoteles in Frage gestellt, geprüft und bearbeitet werden. Auch wenn Aristoteles, ganz anders als Platon, aufgrund all dieser Dinge nicht zu dem Schluß gelangt, daß allein die wahre Rede einen Staat begründen können soll und daß dieser Staat, insofern er durch die wahre Rede begründet ist, keine Demokratie sein kann, muß man doch wohl aus dieser Perspektive sagen, daß seine Position im Hinblick auf die Beziehungen zwischen wahrem Diskurs und Demokratie dennoch weder sehr klar und vor allem nicht ganz endgültig ist. Erstens, denken Sie bitte zunächst an jene TextsteIle, die sich ~ebenfalls] im III. Buch der Politik befindet (Kapitel 7, Abschnitt I279a-b), eine berühmte Stelle, mit der sich die Kommentatoren lange abgemüht haben, ohne jedoch zu einer endgültigen Lösung zu kommen, zumal der Text vielleicht nicht absolut zuverlässig ist. Jedenfalls geht es in dieser Textstelle darum, die verschiedenen Regierungsformen zu benennen, und [Aristoteles] unterscheidet die »Monarchie« von dem, was man mit »Königtum« übersetzt bzw. stellt sie in einen Gegensatz dazu: Das Königtum ist eine Regierung vom Typ der :Vlonarchie, »die gerade das Gemeininteresse berücksichtigt«.29 \,?ir haben also diese Regierungsform, die Königtum genannt wird, bei der der Regierende nicht sein eigenes Wohlergehen zum Ziel hat, sondern das Wohl des Staats. Zweitens, so Aristoteles, wollen wir eine Regierung» Aristokratie« nennen, die eine Regierung weniger ist, bei der aber diese wenigen das \x70hl des Staats und aller seiner Mitglieder im Auge haben. \"\/as die dritte Form der Regierung angeht, bei der die größte Zahl regiert, nun, sagt Aristoles, es ist sehr schwer, ihr einen ~amen zu geben, und ich kann sie nur mit dem allgemeinen ~amen der politeia bezeichnen. Und warum gibt es für diese Form der Regierung, bei der die meisten regieren und bei der die meisten nicht auf ihr eigenes Wohl, sondern auf das Wohl des Staates abzielen, keinen besonderen Namen? Aristoteles erläutert das folgendermaßen: Wenn es möglich ist, daß ein ein-
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zelnes Individuum oder selbst eine kleine Zahl die anderen an Tugend übertrifft, so ist es doch sehr schwer, daß eine größere Zahl von Menschen »die Vollkommenheit in jeder Art von Tugend erreicht«.30 Das ist ein rätselhafter Text, den man aber, glaube ich, nur auf folgende Weise verstehen kann: Wenn es nämlich zwei formale Möglichkeiten für die drei Arten von Regierung gibt - wenn es richtig ist, daß der Monarch im Falle der Monarchie entweder an seinem eigenen Vorteil oder an dem des Staats interessiert sein kann; wenn es im Falle der Aristokratie eine Form der Aristokratie geben kann, die auf das Wohl der Aristokraten selbst und der wenigen abzielt oder aber auf das Wohl des Staats -, kann man dann beim Modell der Demokratie, in der die Menge regiert, wirklich erwarten, daß die Menge auf etwas anderes als ihr eigenes Wohlergehen abzielt? Der Text, so scheint es, sagt folgendes: In den ersten beiden Fällen kann man durchaus zugestehen, daß ein König oder einige wenige es nicht auf ihr eigenes Wohl, sondern auf das des Staates abgesehen haben. Warum kann man sich das vorstellen? Nun, so der Text, weil es möglich ist, daß ein einzelnes Individuum oder eine kleine Anzahl von Individuen die anderen an Tugend übertreffen. Es ist also ihre ethische Entscheidung, ihre ethische Differenzierung gegenüber den anderen, die es ermöglicht und garantiert, daß die Regierung im Interesse aller anderen handeln wird. Dagegen sei es sehr schwierig, daß eine größere Zahl von Menschen »die Vollkommenheit in jeglicher Art von Tugend erreicht«. Wenn man sich also an eine Masse von Menschen wendet, selbst wenn diese Menschen den Staat regieren, ist es nicht möglich oder sehr schwierig, bei diesen jene ethische Differenzierung, jene ethische Aufteilung, jene ethische Eigenart zu finden, auf deren Grundlage das Wahrsprechen möglich und in diesem Wahrsprechen das Interesse des Staates anerkannt wird. Daher kann es keinen besonderen Namen für den Typ von demokratischer Regierungsform geben, die sich nicht am Interesse der meisten, sondern am Interesse des Staates selbst orientiert. Keinen Namen, weil eine solche Regierungsform vermutlich nicht existiert. Ein rätselhafter
Text, der darauf hinzudeuten scheint, daß eine Demokratie, in der das Interesse aller verfolgt werden würde, zwar eine formale Möglichkeit darstellt, wenn man dem allgemeinen Begriffsschema von Aristoteles folgt, daß sie aber nicht wirklich existiert und nicht existieren kann, weil in einer Demokratie die ethische Differenzierung keine Rolle spielt. Sie sehen, daß es sich hier zwar nicht eigentlich um die strukturelle Unmöglichkeit handelt, die vorhin anhand des Textes des Pseudo-Xenophon bestimmt wurde, aber es ist doch eine unausweichliche Unmöglichkeit. .\Ihn findet auch (im selben III. Buch der Politik, in den Kapiteln 10, II, 12, 13) eine ausgedehnte Diskussion des Problems der ethischen Vortrefflichkeit, der ethischen Differenzierung, der ethischen Aufteilung, kurz, des Problems des Besten in der Demokratie zusammen mit der sich daraus ergebenden Frage, ob es für diesen Besten, für diese ethische Differenzierung innerhalb der demokratischen Institutionen einen Platz und StatuS geben kann. Die Art und Weise, wie Aristoteles das Problem stellt, die Schwierigkeiten betrachtet und sie sorgfältig analysiert, all das erfolgt mit dem Blick auf eine Demokratie, die nicht so sehr als die Macht der größten Zahl über die anderen definiert wird, sondern durch das Prinzip des Wechsels. Eine demokratische politeia ist eine Verfassung, in der die Regierten immer die Möglichkeit haben, zu Regierenden zu werden. Das Problem, das Aristoteles stellt, ist folgendes: Wenn man dieses Prinzip der Rotation und des Wechsels zwischen Regierten und Regierenden unterstellt, wie kann sich dann die ethische Differenzierung [vollziehen] ? Hier möchte ich Sie nur auf die sehr interessante Passage [über] das Scherbengericht3 ! (ein ganz bemerkenswertes Kapitel) hinweisen - die nur eines der Beispiele für die Schwierigkeiten ist, die Aristoteles auf seinem eigenen Denkweg aufwirft. Das Scherbengericht ist jene Maßnahme, über die der athenische Staat verfügte, die dem Volk ermöglichte, eine Person zu verbannen, und zwar nicht so sehr wegen eines Fehlers, eines Verbrechens, das sie begangen haben könnte, sondern einzig und
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allein weil ihr Ansehen, ihre Vortrefflichkeit, die besonderen Eigenschaften, die sie unter Beweis stellte, sie zu sehr über die anderen Bürger erhoben. Diese Maßnahme des Scherbengerichts, der eine gewisse Anzahl von berühmten und hoch verdienten Athenern zum Opfer fiel- sie waren zwar ehrenhafte Opfer, aber eben doch Opfer -, warf natürlich eine ganze Menge von Problemen auf. Es war sehr schwierig, das Scherbengericht zu rechtfertigen und Aristoteles [stellt] die Frage: Ist das Scherbengericht, d. h. die Entscheidung, die dem Volk gestattet, sich einer bestimmten Person einfach deshalb zu entledigen, weil sie die anderen etwas zu sehr übertrifft, eine Maßnahme, die sich rechtfertigen läßt? Seine Antwort lautet: Natürlich gibt es viele Einwände gegen das Scherbengericht, und dennoch läßt es sich rechtfertigen. Es läßt sich nicht nur gegen die ehrgeizigen Bürger rechtfertigen, denen ihre Überlegenheit die Möglichkeit, die Versuchung und die Absicht verschafft, eine alleinige, absolute, tyrannische Macht auszuüben, sondern auch gegen die Bürger, die die anderen durch bestimmte Eigenschaften übertreffen würden. Warum rechtfertigt Aristoteles das Scherbengericht auf diese Weise gegen Bürger, die die anderen durch bestimmte Eigenschaften übertreffen? Weil man den Staat im Grunde mit einem Gemälde oder mit einer Statue vergleichen muß.32 Wir wissen durchaus, daß es in einem Gemälde ein ganz vollkommenes Detail geben kann. Dem Maler ist es vollkommen gelungen, eine Hand, einen Finger, eine Zehe, ein Ohr zu gestalten, welche kleine Meisterwerke der Malerei oder der Bildhauerei sind. 33 Aber dennoch kann dieses Detail in dem Gemälde etwas zuviel sein, und der Maler kann sich um der Schönheit, der Vollkommenheit, der Ausgeglichenheit des Gemäldes willen veranlaßt fühlen, dieses Detail zu beseitigen, das dennoch an sich vortrefflich ist. Dasselbe gilt für den Staat. Aus Gründen, die zugleich mit der Vollkommenheit der Form, der Ästhetik und des politischen Gleichgewichts zu tun haben, kann es geschehen, daß man sich von einem Staatsbürger trennen muß, der die anderen durch bestimmte [seiner] Eigenschaften auf zu offensichtliche Weise übertrifft.
Aber gleich nach [diesen Überlegungen] am Ende des Kapitels über das Scherbengericht fügt er hinzu: Wenn jemand durch seine Tugend im Staat besonders außergewöhnlich ist, ist es dann gerecht, ihn zu verbannen, ist es überhaupt gerecht, ihn »der üblichen Regel« unterwerfen zu wollen ?34 Nein. Ein außergewöhnlicher Mann, der wegen seiner Tugend völlig außergewöhnlich ist, darf nicht verbannt werden. Man darf nicht einmal versuchen, ihn »der üblichen Regel« zu unterwerfen. Ihm gegenüber bleibt nur, so Aristoteles, die Lösung [anzunehmen], die »in der Natur der Dinge« liegt. 35 Welche Lösung liegt in der Natur der Dinge? Diejenige, die darin besteht, daß »alle einem solchen willig gehorchen, so daß diese gewissermaßen in ihren Staaten Könige auf Lebenszeit werden«.36 Sie sehen, wie nach dieser ganzen Diskussion, bei der es darum ging, die Demokratie auf das Prinzip der Rotation und des Wechsels zwischen Regierten und Regierenden zu gründen, wo Aristoteles sich mit diesem immerhin sehr schwierigen, sehr paradoxen Problem auseinandergesetzt hat, mit dieser wahrhaft politischen Herausforderung, die die Maßnahmen des Scherbengerichts darstellten, nachdem er gesagt hat, daß sich das Scherbengericht schließlich doch rechtfertigen läßt, [Aristoteles] sich nun im Fall eines bestimmten, besonders her,"orstechenden ethischen Unterschieds, wonach es Personen gäbe, die durch ihren ethischen Wert alle anderen wirklich überträfen, [fragt], welchen Platz man diesen in einem demokratischen Staat einräumen könne. [Und er antwortet]: Man kann das Scherbengericht nicht auf sie anwenden, man kann nicht einmal die Gesetze, die [für] jedermann gelten, auf sie anwenden. Mehr noch, man ist verpflichtet, sich ihnen willig unterzuordnen, ihnen zu gehorchen und ihnen einen Platz einzuräumen - einen Platz, der in seiner Formulierung immerhin gewisse platonische Anklänge aufweist, da es ja darum ginge, diesen Männern, die weiser sind als die anderen, den Platz des Königs im Staat zuzuweisen. Die Königswürde der Tugend, die Monarchie der Tugend findet so ihren Platz und drängt sich auf, sobald die Demokratie versucht, die Frage nach der mora-
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lischen Vortrefflichkeit zu stellen. Kurz, wenn man mit Aristoteles so gut wie möglich versucht, die Gesetze und Regeln der Demokratie zu rechtfertigen, dann kann die Demokratie der moralischen Vortrefflichkeit nur einen einzigen Platz zuweisen, einen Platz, der gleichbedeutend mit der Ablehnung der Demokratie selbst ist. Wenn es wirklich einen Tugendhaften gibt, dann mag die Demokratie verschwinden und die Menschen mögen diesem tugendhaften und ethisch vortrefflichen Mann wie einem König gehorchen. Das waren bloß einige Anhaltspunkte in der Geschichte dessen, was man etwas hochgestochen die Krise der demokratischen parrhesia im Denken der Griechen des 4· Jahrhunderts nennen könnte. An dieser Stelle werde ich, wenn Sie einverstanden sind, die Vorlesung für fünf Minuten unterbrechen. Wir machen nachher weiter. Ich werde dann versuchen, Ihnen den anderen Aspekt der Entwicklung dieses Problems der parrhesia im Denken des 4. Jahrhunderts zu zeigen.
Anmerkungen I Zur Analyse von Euripides' Tragödie Ion vg!. die Vorlesungen vom I9. und 26. Januar I983, in: Le Gouvernement de soi et des autres, a.a.O., S. 71-136; dt.: S. 104-193. 2 Euripides, Die Phoinikerinnen, Verse 388-394, in: Euripides, Tragödien, 5. Bd., übers. v.D. Ebener, Berlin 1979, S. 128. 3 Euripides, Hippolytos, in: Euripides: Tragödien, 2. Bd., übers. v. D. Ebener, Berlin 1975, Verse 421-423, S. 133. 4 Zur Entwicklung dieses Mißtrauens mit Bezug auf diese drei Autoren vg!. die Vorlesungen vom 2. und 9. Februar 1983, in Le Gouvernement de soi ... , S. I37-204; dt.: S. 194-282; auch wenn Demosthenes nur beiläufig zitiert wird (Premiere Philippique), werden doch die Texte von 1sokrates (Über den Frieden) und von Platon reichlich ausgewertet. 5 »Fürs erste sind die Menschen frei, der Staat quillt über in der Freiheit der Tat (eleutheria) und der Freiheit des Worts (parrhesia), und jedem ist erlaubt zu tun, was er will!« (Platon, Der Staat, VIII. Buch., einge!. und übers. v. Karl Vretska, Stuttgart 1980, S. 366). 6 »... andererseits verehrt ihr die schlechtesten unter den öffentlichen Rednern und glaubt, Trunkene seien volksfreundlicher als Nüchterne, Unvernünftige volksfreundlicher als Vernünftige und ebenso hätten 80
Leute, die das Vermögen der Polis austeilen, das Interesse des Volkes mehr im Auge als diejenigen, die euch aus ihrem eigenen Vermögen Abgaben zahlen.« (Isokrates, Rede über den Frieden, § I 3, in: Sämtliche Werke, Bd. I, übers. v. Christine Ley-Hutton, einge!. und er!. v. Kai Brodersen, Stuttgart I993, S. I53). Vg!. die Analyse dieser Rede von Isokrates in der Vorlesung vom 9. Februar I983, in Le Gouvernement de soi ... , S. I74-I75; dt.: S. 242-243. 7 Platon, Der Staat, VI. Buch, 488a-489a, a. a. 0., S. 28 I-282. 8 Platon, Des Sokrates Verteidigung, 3 Id-e, übers. v. Friedrich Schleiermacher, in: Platon: Sämtliche Werke, 1. Bd., Heidelberg I982, S. 24. 9 V g!. eine erste Behandlung dieser Frage in der Vorlesung vom 2. März I9 83, in: Le Gouvernement de soi ... , S. 290-295; dt.: S. 395-402 . IO Isokrates, Rede über den Frieden, § 3, a. a. 0., S. I 5I (vg!. eine erste Analyse derselben Rede am 9. Februar I983 in: Le Gouvernement de soi ... , S. I74-I75; dt.: S. 242-243). I I »Freilich weiß ich, daß es schwierig ist, euren Ansichten entgegenzutreten, und daß trotz der demokratischen Verfassung Redefreiheit (parrhesia) hier in der Volksversammlung nur den Unvernünftigsten gewährt wird ... « (ebd., § 14, S. I 53). I2 Demosthenes, Troisieme Olynthie, §3I, in: Harangues, Bd.I, übers. v. M. Croiset, a.a. 0., S. I34. ! 3 Ebd., § 32, S. I34· 14 Demosthenes, Troisieme Philippique, § 3, in: Harangues, Bd. II, übers. v. M. Croiset, S.93. I5 »Wenn du aber deinen Idealstaat (eunomian) suchst, so sieh dich nur um, und du wirst finden, daß dort allerdings die tüchtigsten Männer für sich selbst die Gesetze geben, und die Rechtschaffenen (chrestoi) werden dann bald die Schufte (ponerous) unter der Fuchtel haben, und die Rechtschaffenen werden über das Wohl des Staates beraten und werden die tollen Schreier weder zu Rat sitzen noch reden noch die Versammlungen besuchen lassen (mainomenous anthropus bouleuein oude legein oude ekklesiazein)« ([Pseudo-]Xenophon, Der Staat der Athener, § 9, übers. v. H. Müller-Strübing, in: Philologus: Zeitschrift für das klassische Altertum, Supp!. Bd. IV, Göttingen I880, S. I57). r6 »Denn wenn die Rechtschaffenen (chrestoi) allein redeten und ratschlagten, so wäre das freilich für ihresgleichen und für sie selbst ein guter Zustand, für die niedern Stände aber kein guter Zustand« (ebd., §6, S. I57). ! 7 Um die Volksrnasse zu charakterisieren spricht der Text eher von poneroi (Bösewichtern), von penentes (Armen) und demotikoi (Leuten des Volkes). Vg!. z. B.: »Wenn manche (und besonders unsere anwesenden Gäste) es verwunderlich finden, daß die Athener überall, zu Hause und in den Bundesstädten, den Schuften (poneroi) und Armen (penesi) und den gemeinen Leuten (demotikois) das Übergewicht geben über die Rechtschaffenen, so wird es sich wohl herausstellen, daß sie gerade da-
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durch die Demokratie (demokratian) aufrechterhalten« (ebd., §4, S. 156). 18 »Denn das Volk will nicht in einem realisierten Idealstaat (eunomoimenes tes poleos) selbst Sklave (autos douleuein) sein, sondern frei sein und das Regiment führen (all' eleutheros einai kai archein) ... « (ebd., §8, S. 157)' 19 Vgl. vorangehende Anmerkung. 20 »Aber sie sind auch darin aufs beste beraten, daß sie auch die Schufte zu Worte kommen lassen« (ebd., § 6, S. 157)· 21 Vgl. oben, Anm. 16. 22 »Nun aber meldet sich jeder beliebige schuftige Kerl zu Wort, steht auf und findet es wohl heraus, was für ihn selbst und seinesgleichen gut ist« ([Pseudo-]Xenophon, Der Staat der Athener, § 6, a. a. 0., S. 157)· 23 Platon, Der Staat, VII. Buch, 51 9C- 52 1b, S. 320 - 322. 24 Aristoteles, Politik, 1279b-I280a, III. Buch, 8, übers. v. O. Gigon, Zürich 1955, S. 138-139' 25 »... die Demokratie [besteht] umgekehrt, wenn nicht die Besitzenden, sondern die Armen (aporoi) regieren« (ebd., 1279b, III. Buch, 8, S. 13 8). 26 Ebd., I276b, III. Buch, 4, S. 130. 27 Ebd., I2 77a, III. Buch, 4, S. 13 I. 28 Ebd., 1279a, III. Buch, S. 137· 29 Ebd. 30 Ebd., 1279a-1279b, III. Buch, 7, S. 137· 3 I Ebd., I284b, III. Buch, 13, S. 153- 154. 32 Ebd., I284b, III. Buch, 13, S. 153 (AristoteIes gebraucht hier den Vergleich mit dem Maler, dem Schiffsbaumeister und dem Chorleiter). 33 Aristoteies verwendet tatsächlich nur das Beispiel des Fußes. 34 Aristoteies, Politik, I284b, III. Buch, 13, S. 153· 35 Ebd., I284b, III. Buch, 13, S. 153· 36 Ebd.
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Vorlesung 2 (Sitzung vom 8. Februar 1984, zweite Stunde)
Die Wahrheit und der Tyrann. - Das Beispiel Hierons. - Das Beispiel Peisistratos'. - Die psyche als Ort der ethischen Differenzierung. - Rückkehr zu Platons VII. Brief - Isokrates ·wendet sich an Nikokles. - Die Wandlung einer demokratischen parrhesia zu einer autokratischen parrhesia. - Die Eigentümlichkeit des philosophischen Diskurses.
Ich hatte Ihnen vorhin zu Beginn gesagt, daß die Problematisierung der parrhesia im 4. Jahrhundert zwei Aspekte aufwies. [Der erste Aspekt bestand in] einer Kritik der Demokratie mit dem Anspruch, den politischen Rahmen zu bestimmen, in dem die parrhesia zugleich möglich und wirksam [wäre]: Die Demokratie ist nicht der privilegierte Ort der parrhesia, sondern im Gegenteil der Ort, an dem [die Ausübung] der parrhesia am schwersten ist. Jetzt möchte ich zu einem anderen Aspekt dieser Problematisierung der parrhesia übergehen, der das Gegenstück oder die positive Seite dazu darstellt. Wenn die Demokratie sich immer stärker als möglicher, privilegierter Ort der parrhesia disqualifiziert, erscheint nun umgekehrt ein anderer Typ von politischer Struktur oder vielmehr ein anderer Typ von Beziehung zwischen dem wahren Diskurs und der Regierung immer mehr als dieser privilegierte Ort oder zumindest als förderlich für die parrhesia und das Wahrsprechen. Diese andere Beziehung - ich hatte sie letztes Jahr schon erwähnt, und dabei waren wir stehengeblieben - ist diejenige zwischen dem Fürsten und seinem Berater. Es ist nicht mehr die Volks"ersammlung, sondern der Hof, der Hof des Fürsten, die Gruppe jener, die er anzuhören bereit ist. In diesem Rahmen, in dieser Form kann und muß die parrhesia ihren Platz finden. Doch hier muß man vorsichtig sein und nicht etwa glauben, daß die Beziehung zum Fürsten ganz plötzlich die aufgewertece, sichere und garantierte Form einer politischen Struktur ist, in der die parrhesia ihre Rechte ausüben und ihre günstigen 83
Wirkungen finden kann. Man muß sich immer vor Augen halten, daß die Person des Fürsten, seine persönliche und monarchische Macht eine oder mehrere Gefahren beinhalten. Und diese Gefahren werden weder jemals vergessen noch ausgelöscht. Hinter alledem steht immer und immer auf aktive Weise - selbst wenn es gedämpft, selbst wenn es ein wenig verblaßt ist - das Bild des Tyrannen als desjenigen, der aufgrund seiner persönlichen Macht die Wahrheit nicht akzeptiert und sie nicht akzeptieren kann, denn er tut nur das und will nur das tun, was ihm gefällt. Er ist in seinem Willen, bloß das zu tun, was ihm gefällt, nur dazu bereit, den Schmeichlern zuzuhören, die ihm gerade das sagen, was ihm gefällt. Auch wenn er wirklich die Wahrheit hören wollte, würde es doch niemand wagen, sie ihm zu sagen. Dieses Schema, diese Figur, diese negative Bewertung der persönlichen, monarchischen, tyrannischen Macht ist eine Konstante im griechischen Denken. Eine der bezeichnendsten Formulierungen dieser Tatsache findet man etwa bei Xenophon, aber zugunsten einer nicht-demokratischen (aristokratischen oder monarchischen) Macht. Ich verweise Sie auf den Text mit dem Titel Hieran, in dem ebenfalls eine Art von paradoxem Spiel beschrieben wird. Simonides hält hier eine Lobrede auf das Leben des Tyrannen und richtet diese Lobrede an Hieran. Und Hieran antwortet auf jeden Grund, den Simonides vorbringt, um das Glück und die Glückseligkeit des Tyrannen zu besingen, mit einer Klage. Er beklagt sich über das harte Leben des Tyrannen. Und erst im letzten Kapitel stellt Simonides dem Tyrannen die Formel vor, nach der seine persönliche und monarchische Regierung für ihn und den Staat nützliche Wirkungen [haben] können wird. Jedenfalls sind die ersten Kapitel derjenigen Art von Spiel gewidmet, bei dem Simonides sich den Anschein gibt, das Lob des Tyrannen zu singen und bei dem Hieran mit Klagen antwortet. So ist beispielsweise ein Absatz ganz gezielt der Schmeichelei und der parrhesia gewidmet. Simonides beglückwünscht den Tyrannen und sagt zu ihm: Ach, ihr Tyrannen, wie glücklich ihr doch seid! »Alle in eurer Umgebung loben al-
les, was ihr sagt und tut. Was den unerträglichsten Lärm betrifft, der zu hören ist, die Beleidigung, so erreicht dieser Lärm niemals eure Ohren; denn niemand wagt es, einen Tyrannen in seiner Anwesenheit zu tadeln.«! Worauf Hieron antwortet, indem er sich über seine Lage als Tyrann beklagt und erklärt, wie schwer es ist, Tyrann zu sein: »Wie kannst du nur denken, daß ein Tyrann sich darüber freut, nichts Böses über sich zu hören, wenn man doch zutreffend weiß, daß diese schweigsamen Leute gegen ihn nur üble Absichten im Schilde führen; und was glaubst du wohl, welches Vergnügen der Tyrann daran hat, sich loben zu hören, wenn er den Verdacht hegt, daß diese Lobreden immer nur von der Schmeichelei diktiert werden ?«2 Diese Darstellung der Tyrannis als Regierungsform, die mit dem Wahrsprechen unverträglich ist, der Tyrannis als Wahlheimat für das Schweigen und die Schmeichelei, ist ein Gemeinplatz, den man sehr häufig und auf verschiedene Weise abgewandelt in der gesamten griechischen Literatur antrifft. Ich verweise Sie auf die interessante Passage in der Politik, wo Aristoteles sagt, daß der Tyrann Spione in die Stadt schickt, die ihm sagen sollen, was dort wirklich geschieht und was die Bürger wirklich denken.} Und Aristoteles' Kommentar dazu lautet, daß dieser Versuch der Tyrannen, die Wahrheit über die Stadt herauszufinden, nur zu einem Ergebnis führen kann, das dem, wonach sie streben, genau entgegengesetzt ist. Denn wenn die Bürger wissen, daß sie von Leuten ausspioniert werden, die dem Tyrannen die Wahrheit über das berichten werden, was sie sagen oder denken, dann werden sie natürlich das, was sie sagen und denken, verbergen, und der Tyrann wird die \\'ahrheit nicht herausfinden können. Außerdem findet man die Vorstellung (ebenfalls bei Aristoteles, Politik, V, I I, 13 I 3b), daß es für das Wahrsprechen genauso schwer ist, einen Platz in der Tyrannis zu finden wie in der Demokratie oder der Demagogie (eine negative, abwertende Formel für die Demokratie). Die Schmeichelei wird dagegen, so Aristoteles, in diesen beiden Regierungsformen hoch geschätzt. In den Demokratien spielt der Volksführer die Rolle des Schmeichlers, denn er ist
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eine Art von »Höfling des Volkes«. In den Tyranneien »[sind es] die Höflinge«, die die Rolle der Schmeichler spielen. Diese Vertrautheit mit dem Tyrannen ist nichts anderes als aktivste Schmeichelei. »Denn sie [die Tyrannis] liebt, daß man ihr schmeichelt, und das wird keiner von freier Gesinnung tun.«4 Aber was auch immer die beständigen Gefahren sein mögen, die im griechischen Denken den tyrannischen Regierungen zugeschrieben werden, was auch immer die Gefahr sei, der das Wahrsprechen in dieser Regierungsform begegnen kann, so erkennt man doch der parrhesiastischen Praxis in der Beziehung zwischen dem Fürsten und dem, der die Wahrheit sagt, zwischen dem Fürsten und seinen Beratern, einen Platz zu. Und das Verhältnis zwischen dem Fürsten und seinem Berater ist für die parrhesia schließlich ein günstigerer Ort als das Verhältnis zwischen dem Volk und den Rednern. Die Tatsache, daß der Souverän der Wahrheit zugänglich sein soll, daß es in der Beziehung zum Souverän einen Ort, einen Platz, eine Stelle für das Wahrsprechen geben soll, wird von einer Reihe von Autoren anerkannt. Aristoteles [liefert] dafür im Staat der Athener eine sehr genaue [Illustration] am Beispiel von Peisistratos, der zwar ein Tyrann ist, von dem er aber ein positives Bild zeichnet, indem er von ihm sagt, daß er Athen metrios (maßvoll) regierte kai mallon politikos he tyrannikos (und eher republikanisch oder demokratisch als tyrannisch).5 Für diese eher republikanische oder demokratische als tyrannische Regierung gibt er ein Beispiel von parrhesia an. Als Peisistratos auf dem Lande spazieren geht, begegnet er einem arbeitenden Bauern. Er fragt ihn, woran er arbeitet und was er über seine Lage denkt. Der andere antwortet ihm: Ich würde mit Vergnügen arbeiten, wenn ich nicht ein Zehntel meines Einkommens an Peisistratos abgeben müßte. 6 Der Bauer hatte ihn natürlich nicht erkannt, aber aus dieser Art von unabsichtlicher parrhesia zieht Peisistratos eine Lehre und befreit den Bauern von seinen Steuern. Auf dieselbe Weise bezieht sich Platon auf Kyros, den Herrscher von Persien. In den Gesetzen
,im III. Buch, 694cff.) stellt er beispielsweise Kyros [als] einen parrhesia zugänglichen Herrscher dar. Vom Hofe des Ky:-os gibt er folgende Darstellung: Die Untergebenen hatten Anteil an der Freiheit, was zur Kühnheit der Soldaten und zur F:-eundschaft mit den Heerführern beitrug. Und wie der König ihren Freimut (parrhesia) ohne Neid zuließ und diejenigen ehrte, die eine Meinung zu irgendeiner Sache beisteuern konnten, so stellte auch jeder, der klug war und guten Rat wußte, seine Kompetenz und Fähigkeiten in den Dienst aller. Daher konnte dank der Freiheit, der Freundschaft und der Gemeinschaft in kurzer Zeit bei den Persern alles gedeihen. 7 Folglich ist ein Hof, an dem Redefreiheit [herrscht] und wo die Berater ""on der parrhesia Gebrauch machen können, ein einheitsstiftender Faktor für den Staat und für den Erfolg seiner Unternehmungen. \~Tir haben hier also eine ganze Reihe von Texten, die das Verhältnis zum Fürsten als Ort der parrhesia wertschätzen. Aberund hier liegt nun das Problem, auf das ich jetzt eingehen möchte - man muß eine Antwort auf eine Frage finden, die sich spiegelbildlich zu jener verhält, welche sich vorhin mit Bezug auf die Demokratie stellte. Die Frage war folgende: Warum ist die Demokratie ein so schwieriger, so unwahrscheinlicher, so gefährlicher Ort für das Auftreten des Wahrsprechens ? Den wesentlichen und gewissermaßen strukturellen Grund dafür haben wir gesehen: Er bestand in der Unmöglichkeit des politischen Umfeldes der Demokratie, der ethischen Differenzierung einen Platz und Ort einzuräumen. Gmgekehrt stellt sich nun die Frage, warum das Verhältnis zum Fürsten ein solcher Ort sein könnte, wo doch die Macht, die der Fürst ausübt, per definitionem grenzenlos und oft auch gesetzlos und deshalb zu allen Gewalttaten imstande ist? Der Grund dafür - der spiegelbildlich und im umgekehrten Ver!1ältnis zu dem steht, was wir im Hinblick auf die Demokratie gefunden haben - ist, daß die Seele des Oberhaupts als solche :llld insofern sie eine individuelle Seele ist (die psyche eines Individuums) sich einer ethischen Differenzierung unterzie-
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hen kann, die zugleich vollzogen, wertgeschätzt, gestaltet und dazu auserkoren wird, Wirkungen zu erzielen dank der moralischen Bildung und Entwicklung, einer Entwicklung, die ihn einerseits in die Lage versetzt, die Wahrheit zu hören, und ihn andererseits und als Folge davon lehrt, seine Macht zu begrenzen. Das Wahrsprechen kann seinen Ort im Verhältnis zum Oberhaupt, zum Fürsten, zum König, zum Monarchen ganz einfach deshalb haben - um es ganz roh und grob zu sagen -, weil er eine Seele hat, weil diese Seele überzeugt und gebildet werden kann und weil man ihr durch den wahren Diskurs das ethos beibringen kann, das sie in die Lage versetzt, die Wahrheit zu hören und sich entsprechend dieser Wahrheit zu verhalten. Genau auf diese Weise hat Platon, Sie erinnern sich, später die Reisen, die er nach Sizilien unternommen hatte, aufgefaßt oder zumindest gerechtfertigt, und gerade auch sein Unterfangen bei Dionysios dem Jüngeren. In dem berühmten VII. Brief, den ich letztes Jahr kommentiert hatte,8 entwickelt Platon seine Rechtfertigung in drei Schritten. Erstens ist er nach Sizilien [gefahren], um sich um die Erziehung Dionysios' zu kümmern, weil er eine erste positive Erfahrung mit einer bestimmten Person, nämlich Dion (dem Onkel von Dionysios), gemacht hatte, der durch seine Fähigkeit, die Philosophie zu lernen und sie in angemessenes Verhalten umzusetzen, gezeigt hatte, daß die Erziehung Platons Wirkungen auf eine Seele ausüben konnte, und zwar auf jemanden, der zum Regieren ausersehen ist. »Denn Dion, welcher bekanntlich sehr große Lernfähigkeit hatte, war überhaupt, insbesondere aber bei dem Vortrage meiner Ideen über die moralisch-politische Verbesserung der Menschheit, ein so aufmerksamer und fleißiger Zuhörer wie keiner der jungen Leute, welche ich unterrichtete; auch die Praxis seines übrigen Lebens beschloß er [nachdem er die Vorlesungen Platons gehört hatte; M. E] ganz anders einzurichten als das der meisten Italer und Sizilier, indem er das Leben eines tugendhaften Mannes weit lieber gewann als das des sinnlichen Vergnügens und der übrigen vornehmen Üppig-
keit.«9 Der erste Grund ist also der Erfolg in diesem besonderen Fall. Der zweite Grund, nach Sizilien zu fahren, verbindet sich mit dem ersten und schließt an ihn an: Nach dem Tod von Dionysios dem Älteren empfängt Dionysios der Jüngere die YIacht. Die »Jugend des Dionysios und die Wärme seines Veriangens nach philosophia (Philosophie) und paideia (Bildung, Kultur, Erziehung)«,lo seine Umgebung, die immer bereit war, die Lehre (logos) und das Leben (bios) anzunehmen, die von Platon empfohlen wurden, all das stellte einen zweiten günstigen Faktor darY Drittens schließlich spielte die Tatsache eine Rolle, daß Dionysios, der von seinem Onkel beraten wurde und alle guten Voraussetzungen für die philosophia und die paideia mitbrachte, von seinem Vater gerade eine persönliche, absolute Macht empfangen hatte. Dank dieser persönlichen :'11acht würde es möglich sein, sobald man Zugang zu seiner Seele hätte, auch Zugang zur Stadt, zum Staat, zur politeia zu haben, die er regierte. Platon sagt folgendes: »Als ich daher so die Sache überlegte und hin und her schwankte, ob ich gehen oder wie ich es machen sollte, so gab doch zum Gehenmüssen den Ausschlag [und führte mich schließlich zur Entscheidung, nach Sizilien zu fahren; M. E] folgender Gedanke: jetzt oder nie müsse man den Versuch machen, wenn man seine Ideen über Staatsgesetze und Staatsverfassung verwirklichen wollte [der griechische Text sagt ganz ausdrücklich: wenn man die Dinge verwirklichen wollte, die ich über die Gesetze und über den Staat gedacht hatte; M. E]; hätte ich nur einen (hena movon der Wahrheit meiner moralischen Reformidee des Staates vollkommen überzeugt, so würde ich alles Heil derseloen in der Welt realisiert haben.«12 :'Ihn kann wohl sagen, und der VII. Brief bestätigt das, daß diese große Hoffnung enttäuscht wurde und daß das ganze U nter~:L.'1gen in einem Mißerfolg endete. Aber man sollte verstehen, der Mißerfolg, den Platon auf Sizilien erleidet und dessen ·::inzelne Episoden er beschreibt, von ihm nicht als eine Art von mukturellem Mißerfolg aufgefaßt wird. Einerseits ist die De::':1okratie strukturell unfähig, der parrhesia einen Platz einzu-
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räumen, doch wenn das Wahrsprechen Platons, wenn seine philosophische Veridiktion bei Dionysios dem Jüngeren nicht verfangen hat und auf Sizilien gescheitert ist, dann eigentlich nur aus historischen und die besondere Gelegenheit betreffenden Gründen: Dionysios' üble Natur, seine üble Umgebung, alle Intrigen, denen Platon begegnet ist und denen er am Hofe Dionysios' entgegenzutreten hatte, [und] schließlich später die Ermordung Dions. Hier handelt es sich - das macht diesen VII. Brief so besonders, weil es im Grunde um einen historischen Bericht geht (von allen Texten Platons ist er zusammen mit dem VIII. Brief die einzige detaillierte Erzählung eines historischen Ablaufs) - um historische, einzigartige, auf eine bestimmte Gelegenheit bezogene Gründe, die bemüht werden, um den Mißerfolg der platonischen parrhesia auf Sizilien zu erklären. Das Prinzip an sich steht nicht in Frage. Den Gebietenden eine philosophische Bildung zuteil werden zu lassen stellt weiterhin ein Ziel dar. [Im Falle des Dionysios'] handelt es sich also um einen auf bestimmte Umstände zurückgehenden Mißerfolg. Bei einer demokratischen Verfassung haben wir dagegen einen strukturellen Mißerfolg, eine strukturelle Unmöglichkeit der parrhesia. Ich glaube, daß Platon die Vorstellung hatte, daß die parrhesia gegenüber dem Fürsten immer riskant ist, immer scheitern kann, immer auf ungünstige Umstände treffen kann, aber nicht an sich unmöglich ist und immer die Mühe lohnt, unternommen zu werden. Man findet sie auf dieselbe Weise in einem Text von Isokrates, am Beginn der Rede, die an Nikokles gerichtet ist. Die Person des Nikokles stand Dionysios dem Jüngeren nicht sehr fern, zumindest was seine politische Lage betraf. Er war der Sohn eines Tyrannen, nämlich Evagoras. Evagoras ist gerade gestorben. Nikokles empfängt die Macht bzw. die Autorität in seinem Stadtstaat, und genau zu dieser Zeit wendet sich Isokrates an ihn. Er beginnt damit, alle Leute aufzuzählen, die als Höflinge den Regierenden, den Königen (tois basileusin) verschiedenste Geschenke, Kleider und Gold bringen. 13 Was mich betrifft, sagt Isokrates, so möchte ich kein derartiges Ge-
schenk darbringen. Ich meine, daß das Geschenk, das ich bringe, »das schönste« ist: »[ ... ] wenn ich dir Richtlinien (epitedeumata) geben könnte, womit du dich beschäftigen sollst und was du unterlassen mußt, um deine Polis und dein Königreich am besten zu regieren. Für Privatleute nun gibt es viele Voraussetzungen, die zu ihrer Erziehung beitragen [.. .]. Alleinherrscher aber haben diese Möglichkeiten nicht, im Gegenteil«, 14 ":eil ihnen niemand zur Verfügung steht, der ihnen Ratschläge erteilen könnte: »Sie [d. h. die Könige und Herrscher; M. F.], die mehr als alle anderen Erziehung nötig hätten, bleiben, \\~enn sie an die Macht gekommen sind, ihr Leben lang ohne Kritik.«15 Genau eine solche Warnung möchte nun Isokrates dem Fürsten zuteil werden lassen. Dabei unterscheidet er diese Rolle des moralischen Beraters, des moralischen Erziehers des Fürsten von der Funktion, die darin besteht, dem Fürsten genaue und auf die Umstände bezogene Ansichten über diese und jene Situation zu geben. Er unterscheidet die Rolle der Berater, die das Wort ergreifen und ihre Meinung über »jede seiner Handlungen (kath hekasten men oun ten praxin)« 16 abgeben, von seiner eigenen Aufgabe als Erzieher der Seele des Fürsten, insofern er durch das Aussprechen der Wahrheit in der Lage ist, die ethische Bildung des Fürsten und seine ethische Differenzierung zu gewährleisten. [Seine Aufgabe besteht darin], Nikokles die Gesamtheit der epitedeumata (der Gewohnheiten, der Lebensarten) vorzuschreiben, denen sich letzterer widmen und mit denen er seine Zeit verbringen (dia:ribein) soll.17 Es gibt also eine Gegenüberstellung zwischen auf die Umstände bezogenen Meinung zu einer politischen Handlung und dem moralischen Ratschlag, der den Fürsten zu Lebensgewohnheiten erzieht, die er sein ganzes Leben lang in seiner Tätigkeit als Mann und als Regierender aufrechterhalten soll. Ich lasse eine Menge anderer Texte beiseite, die man ebenfalls zitieren könnte und die in dieselbe Richtung gehen. Man sieht, das, was das Wahrsprechen gegenüber dem Fürsten mögwünschenswert und sogar notwendig macht, die Tatsache
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ist, daß die Art und Weise, wie er den Staat regiert, von seinem ethos abhängt (von der Art und Weise, wie er als einzelner zu einem moralischen Subjekt wird), und die Tatsache, daß dieses ethos sich durch die Wirkung der wahren Rede bildet, die man an ihn richtet. Sie sehen, daß das ethos des Fürsten, insofern es einerseits Gegenstand der wahren Rede ist, die man an ihn richtet und sich durch sie bildet, und insofern es andererseits, gewissermaßen als Folge davon, das Prinzip und die Matrix seiner Regierungsweise sein wird, dasjenige Element ist, das der Veridiktion, der parrhesia gestattet, ihre Wirkungen im Bereich der Politik, im Bereich der Regierung der Menschen, in der Weise, wie die Menschen regiert werden, hervorzubringen. Wenn die parrhesia im Falle eines Tyrannen, eines Monarchen, eines persönlichen Herrschers ihre politische Wirkung und ihre Wohltaten in der Kunst der Regierung der Menschen haben kann, dann durch die Vermittlung dieses Elements, das das individuelle ethos des Fürsten ist. Im Falle der Demokratie [dagegen] war der Grund dafür, daß die parrhesia nicht angenommen wurde, daß man nicht auf sie hörte und daß, selbst wenn sich jemand fand, der den Mut hatte, von der parrhesia Gebrauch zu machen, er eher beseitigt als geehrt wurde, eben die Tatsache, daß die Struktur der Demokratie nicht gestattete, die ethische Differenzierung anzuerkennen und ihr einen Platz einzuräumen. Die Abwesenheit eines Ortes für das ethos in der Demokratie ist dafür verantwortlich, daß die Wahrheit dort keinen Platz findet und nicht gehört werden kann. Weil umgekehrt das ethos des Fürsten das Prinzip und die Matrix für seine Regierung ist, erscheint die parrhesia im Fall der [autokratischenY Regierung als möglich, wertvoll und nützlich. Sie sehen, daß es gerade die Frage nach dem ethos ist, die sowohl im einen als auch im anderen Fall auftaucht. Im einen Fall stellt sie sich, weil die Demokratie nicht in der Lage ist, ihr einen Platz einzuräumen. Im anderen Fall- aus diesem Grund ist die parrhesia gegenüber dem Fürsten möglich und notwendig - ist das ':- M. F. sagte: demokratisch
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erhos das Band, der Verbindungspunkt zwischen dem Wahrsprechen und der guten Regierung. Wenn ich vielleicht etwas zu ausführlich einen Weg nochmals beschritten habe, den ich schon letztes Jahr teilweise und unzureichend erkundet hatte, dann um besser sichtbar zu machen, worum es in dieser AnalySe der parrhesia geht, auch um hervorzuheben, inwiefern dieses Problem der parrhesia die Geschichte des Denkens selbst, :licht nur das politische Denken, sondern auch das philosophische Denken im Abendland ziemlich weitgehend in Dienst :lehmen wird. \\;'ir sollten folgendes betonen: Erstens sieht man, daß die par,hesia durch diese Entwicklung - einerseits die Kritik an der Demokratie als Ort der parrhesia und andererseits die Wertschätzung der Monarchie oder der persönlichen Macht als Ort der parrhesia - nicht mehr bloß wie bei Euripides 18 ein auszu-ibendes Privileg ist, ein Privileg, dessen Ausübung identisch ist mit der Freiheit des ehrenhaften Bürgers. Die parrhesia erscheint jetzt nicht als ein Recht, das von einem Subjekt besessen wird, sondern als eine Praxis, eine Praxis, die als bevorzugtes Korrelat, als ersten Anwendungsfall nicht den Staat oder die Körperschaft der Bürger hat, die zu überzeugen und zu :Uhren wären, sondern etwas, das sowohl ein Partner ist, an den sie sich wendet, als auch ein Bereich, in dem sie ihre Wirkungen entfaltet. Dieser Partner, an den sich die parrhesia wendet, und dieser Bereich, in dem sie ihre Wirkungen entfaltet, ~st die psyche (die Seele) des Individuums. Das erste ist also: Es gibt einen Übergang von der polis zur psyche als wesentliches 'Eorrelat der parrhesia. Zweitens, da das Ziel dieses Wahrsprechens, das Ziel der parrhesiastischen Praxis, sich künftig auf die psyche richtet, ist es :licht mehr so sehr die nützliche Meinung bei diesem oder je:lem besonderen Umstand, wenn die Bürger in Verlegenheit sind und nach einem Führer suchen, der ihnen gestatten wird, aus der Gefahr zu entrinnen und sich zu retten, sondern die Bildung einer bestimmten Seinsweise, einer bestimmten Hand::rngsweise, einer bestimmten Weise des Verhaltens der Indivi93
duen oder eines Individuums. Das Ziel des Wahrsprechens ist also weniger das Heil des Staats als vielmehr das ethos des Individuums. Drittens impliziert diese zweifache Bestimmung der psyche als Korrelat des parrhesiastischen Wahrsprechens und des ethos als Ziel der parrhesiastischen Praxis, daß die parrhesia, obwohl sie am Prinzip des Wahrsprechens ausgerichtet ist, sich in einer Gesamtheit von Operationen verwirklicht, die der Veridiktion gestatten, in der Seele Wirkungen des Wandels hervorzubringen. Wenn wir diesen Wandel einer parrhesia, [verstanden in] ihrem demokratischen und politischen Horizont mit ihren heilsamen Wirkungen im Staat, zu einer parrhesia nachvollziehen, die sich an die psyche der Individuen wendet und auf die Bildung ihres ethos abzielt, können wir zwei Reihen von Konsequenzen ausmachen. Erstens (diese Konsequenz, die gewissermaßen etwas rückwärts gewandt ist, werde ich nur ganz kurz behandeln) scheint mir, daß die Analyse dieser parrhesia auf gewisse Weise und in einem bestimmten Aspekt die berühmte Frage - die in der Geschichte der griechischen Philosophie zumindest seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, sagen wir seit Rohde,19 etwa in den Werken von SnelFo und Patocka21 traditionellerweise behandelt wird - nach der Bildung des griechischen Begriffs der psyche, der schrittweisen Abgrenzung und Definition dieser Wirklichkeit der psyche erhellen kann. Wenn es richtig ist, daß es viele verschiedene Wege und Pfade, viele verschiedene Praktiken gab, die in der griechischen Kultur des 5. Jahrhunderts zum Erscheinen der Seele als zentralem Problem für die Philosophie, die Politik und die Moral führten, wenn es richtig ist, daß viele Wege zum Erscheinen und zur Bestimmung der psyche geführt haben, dann, so scheint mir, muß man unter all diesen Praktiken auch der Ausübung der parrhesia, der Krise und Kritik der parrhesia und jeder Ablenkung, die deren Ausübung von der politischen Bühne auf das Spiel der Beziehung zwischen Individuen umgeleitet hat, einen Platz einräumen. Aber vor allem scheint mir, daß, wenn man versucht, diesen
'IJ;"andel der parrhesia und ihre Verlagerung vom institutionel:cn Horizont der Demokratie zum Horizont der individuellen Praxis der Bildung des ethos zu erfassen, man etwas zu Gesicht ~ekommen kann, das für das Verständnis bestimmter grund:cgender Züge der griechischen Philosophie und folglich auch der abendländischen Philosophie ziemlich wichtig ist. Wir ste~en jetzt mit diesen Ablenkungen und Veränderungen der parThesia im Grunde vor drei Wirklichkeiten oder zumindest vor drei Polen: dem Pol der aletheia und des Wahrsprechens; dem Pol der politeia und der Regierung; und schließlich dem Pol dessen, was in den späteren griechischen Texten die ethopoie22 o-i5 genannt wird (die Bildung des ethos oder die Bildung des Subjekts)" Einerseits Bedingungen und Formen des Wahrsprechens; andererseits Strukturen und Regeln der politeia (d. h. der Organisation der Machtbeziehungen); schließlich Modaliräten der Bildung des ethos, in denen das Individuum sich als .moralisches Subjekt seines Verhaltens konstituiert: Das sind drei Pole, die sowohl irreduzibel als auch unauflöslich mitein:mder verbunden sind. Aletheia, politeia, ethos: Die wesentliche "\Tichtreduzierbarkeit dieser drei Pole und ihre notwendige und wechselseitige Beziehung, die Struktur des wechselseitigen Aufeinanderangewiesenseins ist, so scheint mir, die Stütze der Existenz des ganzen philosophischen Diskurses von den Griechen bis heute. Denn wenn der philosophische Diskurs nicht bloß ein wissenschaftlicher Diskurs ist, der [sich darauf beschränken würde], die Bedingungen des Wahrsprechens zu bestimmen und zu \"erwirklichen, wenn er von den Griechen bis heute nicht bloß ein politischer oder institutioneller Diskurs ist, der sich darauf beschränkt, das bestmögliche System von Institutionen zu bestimmen, wenn er schließlich nicht bloß ein moralischer Diskurs ist, der Prinzipien und Verhaltens normen vorschreibt, so liegt das daran, daß er im Hinblick auf jede dieser drei Fragen zugleich die beiden anderen stellt. Der wissenschaftliche Diskurs ist ein Diskurs, dessen Regeln und Ziele man in Abhängigkeit von der Frage festlegen kann: Was ist das Wahrspre-
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chen, was sind seine Formen, seine Regeln, seine Bedingungen und Strukturen? Was einen politischen Diskurs zu einem ausschließlich politischen macht, ist die Tatsache, daß er sich damit begnügt, die Frage nach der politeia, nach den Formen und Strukturen der Regierung zu stellen. Was einen moralischen Diskurs zu einem ausschließlich moralischen macht, ist die Tatsache, daß er sich darauf beschränkt, Prinzipien und Normen des Verhaltens vorzuschreiben. Wenn ein philosophischer Diskurs sich von jedem dieser drei Diskurse unterscheidet, so liegt das daran, daß er niemals die Frage nach der Wahrheit stellt, ohne zugleich nach den Bedingungen dieses Wahrsprechens zu fragen, und zwar entweder [im Hinblick auf] die ethische Differenzierung, die dem Individuum den Zugang zu dieser Wahrheit eröffnet, [oder im Hinblick auf] die politischen Strukturen, innerhalb deren dieses Wahrsprechen das Recht, die Freiheit und die Pflicht haben wird, sich geltend zu machen. Was einen philosophischen Diskurs zu einem philosophischen, und nicht bloß zu einem politischen, macht, ist die Tatsache, daß in diesem Diskurs, wenn die Frage nach der politeia (nach der politischen Institution, nach der Verteilung und Organisation der Machtverhältnisse) gestellt wird, zugleich auch die Frage nach der Wahrheit und nach der wahren Rede gestellt wird, auf deren Grundlage diese Machtverhältnisse und ihre Organisation bestimmt werden können. Es stellt sich darin auch die Frage nach dem ethos, d. h. nach der ethischen Differenzierung, der die politischen Strukturen einen Platz einräumen können und sollen. Und wenn der philosophische Diskurs nicht einfach nur ein moralischer Diskurs ist, dann deshalb, weil er sich nicht darauf beschränkt, ein ethos bilden zu wollen, die Pädagogik für eine Moral oder der Vermittler eines Verhaltenskodex zu sein. Er stellt niemals die Frage nach dem ethos, ohne zugleich nach der Wahrheit und der Zugangsweise zur Wahrheit zu fragen, durch die dieses ethos gebildet werden könnte, und [nach] den politischen Strukturen, innerhalb deren dieses ethos seine Einzigartigkeit und Verschiedenheit behaupten könnte. Die Existenz des phi-
losophischen Diskurses besteht seit den Griechen bis heute ge::ade in der Möglichkeit oder vielmehr in der Notwendigkeit iolgender Regelung: niemals die Frage nach der aletheia zu stellen, ohne im Hinblick auf diese Wahrheit zugleich die Frage nach der politeia und dem ethos aufzuwerfen. Dasselbe gilt für politeia und für das ethos. \t:'enn Sie sich nun an die vier Modalitäten des Wahrsprechens e::innern möchten, die ich letztes Mal bei dem Versuch angesprochen habe, die vier großen Formen des Wahrsprechens in o.er griechischen Kultur schematisch darzustellen (das prophetische Wahrsprechen, das Wahrsprechen der Weisheit, das \X'ahrsprechen der techne und das Wahrsprechen der parrhedann lassen sich anhand dieser vier Modalitäten des Wahrsprechens durchaus vier grundlegende philosophische Einstellungen definieren, die entweder miteinander kombiniert sind oder sich gegenseitig ausschließen oder miteinander im Streit :iegen. Es lassen sich vier Weisen auffinden, die Frage nach der detheia, die Frage nach der politeia und die Frage nach dem miteinander zu verknüpfen. ':t;'enn wir die Philosophie als Diskurs bestimmen, der die Frase nach der Wahrheit niemals stellt, ohne zugleich die Frage nach der politeia und die Frage nach dem ethos zu stellen, der ::-,ie die Frage nach der politeia stellt, ohne die Frage nach der '0/ahrheit und nach der ethischen Differenzierung zu stellen, ier nie die Frage nach dem ethos stellt, ohne nach der Wahrheit '.md der Politik zu fragen, können wir auch sagen, daß es vier ':,'eisen gibt, diese drei Fragen miteinander zu verbinden, um sie aufeinander verweisen zu lassen oder sie miteinander zusammenzuschließen. ~\fan könnte diejenige Einstellung eine prophetische nennen, .:ie innerhalb der Philosophie über die Grenze der Gegenwart :-.inaus den Augenblick und die Form verheißt und vorhersagt, :n denen sich schließlich, pünktlich und endgültig das Hervorxingen der Wahrheit (aletheia), die Ausübung der Macht (po::reia) und die moralische Bildung (ethos) zugleich ereignen ";erden. Die prophetische Einstellung in der Philosophie hält
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Philosophie: ein Diskurs der Nichtreduzierbarkeit der Wahrder Macht und des ethos und zugleich ein Diskurs ihrer notwendigen Beziehung zueinander, der Unmöglichkeit, die \\"ahrheit (aletheia), die Macht (die politeia) und das ethos ohne v:esentliche, grundlegende Beziehung untereinander zu den-
den Diskurs der verheißenen Versöhnung zwischen aletheia, politeia und ethos. Zweitens ist die Einstellung der Weisheit in der Philosophie jene, die den Anspruch erhebt, in einem grundlegenden, einzigartigen und einzigen Diskurstyp zugleich zu sagen, wie es um die Wahrheit, um die politeia und um das ethos steht. Die Einstellung der Weisheit in der Philosophie ist der Diskurs, der die grundlegende Einheit der Wahrheit, der politeia und des ethos zu denken und zu sagen versucht. Die technische Einstellung oder die Einstellung der Lehre in der Philosophie ist dagegen jene, die nicht versucht, den Punkt des Zusammenfallens von aletheia, politeia und ethos in einer Zukunft zu verheißen oder ihn in einer grundlegenden Einheit zu finden, sondern die formalen Bedingungen des Wahrsprechens (darum kümmert sich die Logik), die besten Formen der Ausübung der Macht (darum kümmert sich die politische Analyse) und die Prinzipien des moralischen Verhaltens (darum kümmert sich ganz einfach die Moral) in ihrer irreduziblen Besonderheit, ihrer Getrenntheit und Unvergleichlichkeit zu bestimmen. Wir können sagen, daß diese Einstellung in der Philosophie der Diskurs der Heterogenität und der Trennung zwischen aletheia, politeia und ethos ist. Es gibt, wie mir scheint, in der Philosophie noch eine vierte Einstellung. Das ist die parrhesiastische Einstellung, jene, die eben hartnäckig und immer wieder von neuem beginnend versucht, die Frage nach der Wahrheit mit der Frage nach ihren politischen Bedingungen und nach der ethischen Differenzierung, die den Zugang zu ihr eröffnet, zu verknüpfen; die stets und immer die Frage nach der Macht mit der Frage nach ihrem Verhältnis zur Wahrheit und zum Wissen einerseits und mit der ethischen Differenzierung andererseits verknüpft; die schließlich unablässig das moralische Subjekt mit der Frage nach dem wahren Diskurs, durch den sich dieses moralische Subjekt konstituiert, und mit den Machtverhältnissen, in denen sich dieses Subjekt bildet, verknüpft. Das ist der parrhesiastische Diskurs und die entsprechende Einstellung in der
: Xenophon, Hieran, § I, in: CEuvres completes, I, übers. v. P. Chambry, Paris 1967, 5.399. ~ Ebd. ·50 bemüht sich der Tyrann, stets zu wissen, was die Untertanen sagen oder tun; er unterhält Beobachter, wie in Syrakus die Potagogides, und ,,"ie Hieron die Otakusten aussandte, wo immer eine Zusammenkunft s:attfand, denn dann reden die Menschen weniger offen, da sie diese Horcher fürchten, und wenn sie offen reden, wird es leichter bekannt« Aristoteles, Politik, 13 I3b, V, 1I, übers. v. O. Gigon, a. a. 0., S. 237). Co Ebd., I313b-1314a, 5.238. , .\ristoteles, Staat der Athener, XVI, 2, übers. v.O. Gigon, Zürich 1955, S. )41. , Ebd., XVI, 6, S. 341. - ·50 laßt uns hören: Zuerst von den Persern. Als diese noch mehr den ~ichtigen Mittelweg zwischen Knechtschaft und Freiheit einhielten, zu Kvros' Zeiten, da wurden sie zunächst selber frei, sodann wurden sie ~~ch die Gebieter über viele andere Völker. Denn weil die Höherstehenien ihren Untergebenen auch ein Stück Freiheit gönnten und sie mehr in "i:1 Verhältnis der Gleichheit einführten, so waren die Soldaten voll Liebe zu ihren Heerführern und zeigten in allen Gefahren die mutigste Be~,,,itwilligkeit. Und wenn ferner ein verständiger Mensch sich unter ih:1en befand, der auch einen Rat zu erteilen verstand, so war der König
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:Cen.
)o\"iel für heute. Nächstes Mal werde ich versuchen, drei Texte zu erklären oder zumindest mich auf sie zu stützen. Jene unter Ihnen, die sie lesen wollen, möchte ich darauf hinweisen, daß es sich in erster Linie um die Apologie des Sokrates handeln wird; zweitens um den Laches; und drittens um den Schluß des PhaiIn diesem Zusammenhang werde ich versuchen, etwas auf :iie Interpretation und Analyse dieses Textes einzugehen, die Dumezil in seinem Buch Der schwarze Mönch in Varennes gegeben hat.
Anmerkungen
darüber nicht eifersüchtig, sondern gewährte ihm das freie Wort (didontos de parrhesian) und hielt alle in Ehren, welche für irgendeinen Zweck Ratschläge geben konnten. Der König gestattete also allgemeine Vollmacht, für das Ganze kluge Gedanken zu haben. Und so stand denn damals alles bei ihnen in fröhlichem Gedeihen - durch Freiheit (eleutherian), Eintracht und gemeinschaftliche Geistesarbeit (philian kai nou koinonian)« (Platon, Die Gesetze, III. Buch, 694a-b, in: Platon: Sämtliche Werke, 3. Bd., übers. v. E. Eyth, Heidelberg 1982, S. 309-3 10; Foucault zieht es vor, »Freundschaft« anstelle von »Zusammenarbeit« zu lesen). V gl. die erste Erwähnung dieses Textes in der Vorlesung vom 9. Februar 1983 in Le Gouvernement de soi ... , a. a. 0., S. 186; dt.: S. 258 f. 8 V gl. die umfangreichen Analysen dieses Briefs in den Vorlesungen vom 9.,16. und 23. Februar 1983, in Le Gouvernement de soi ... 9 Platon, VII. Brief, 327a-b, in: Platon: Sämtliche Werke, 3. Bd., übers. v. W. Wiegand, Heidelberg 1982, S. 722. 10 Ebd., 328a, S.723 (W. Wiegand übersetzt paideia mit »wissenschaftliche Bildung«). I I »Er sprach von seinen Vettern und Verwandten, wie geneigt sie seien zu der von mir immer gepredigten theoretischen (logon) und praktischen Lebensweise (bion), und wie wichtig eine solche Gesellschaft für den Dionysios sei« (ebd.). 12 Ebd., 328b-c, S.723. 13 Isokrates, Rede an Nikokles, in: Sämtliche Werke, übers. v. eh. LeyHutton, Stuttgart 1993, S.20. 14 Ebd., § 2, S. 20. 15 Ebd., § 4, S. 20. 16 Ebd., §6, S.2I. 17 »Was die Lebensführung eines Königs insgesamt angeht, so will ich versuchen darzulegen, welche Lebensweise er sich zum Ziel setzen soll und wie er seine Zeit verbringen muß (peri ha dei diatribein)« (ebd.). 18 Vgl. zu diesem Punkt die Vorlesungen vom 12., 19. Januar und 2. Februar 1983, in: Le Gouvernement de soi ... 19 E. Rohde, Psyche, Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, Tübingen 1925. 20 B. Snell, Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Hamburg 1955. 21 J. Patocka, Platon et Europe, Paris 1983. 22 Zu diesem Begriff vgl. die Vorlesung vom 10. Februar 1982 in: L'Hermeneutique du sujet, a. a. 0., S. 227-228; dt.: S.297-299.
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Vorlesung 3 (Sitzung vom 15. Februar 1984, erste Stunde)
Die Gefahr der Selbstvergessenheit. - Sokrates' Ablehnung des politischen Engagements. - Solon bei Peisistratos. - Sokrates' Dämon. - Die Lebensge:';/)7: Geschichte der Generäle der Schlacht bei den Arginusen und Leons :'on Salamis. - Das Delphische Orakel. - Sokrates' Antwort auf das OraRe!: die Prüfung und die Untersuchung. - Ziel der Mission: die Sorge der Jfenschen um sich selbst. - Nichtreduzierbarkeit der sokratischen Veridik:ion. - Auftauchen einer ethischen parrhesia im eigentlichen Sinne. - Der Zyklus von Sokrates' Tod als ethische Begründung der Sorge um sich selbst.
-:\achdem wir letztes Mal auf die Krise der politischen parrhe_,:'a eingegangen sind, zumindest auf die Krise der politischen Institutionen als möglichen Ort für die parrhesia, möchte ich heute mit der Untersuchung der parrhesia, der Praxis des \\7ahrsprechens auf dem Gebiet der Ethik beginnen und zu diesem Zweck natürlich wieder von Sokrates ausgehen, da er offensichtlich derjenige war, der es vorzog, dem Tod ins Auge zu sehen, anstatt darauf zu verzichten, die Wahrheit zu sagen. Er übt dieses Wahrsprechen aber nicht auf der Rednerbühne, in der Volksversammlung, vor dem Volk aus, indem er, ohne etwas zu verheimlichen, das sagt, was er denkt. Sokrates hat den die Wahrheit zu sagen, und akzeptiert das Risiko des Todes, um die Wahrheit zu sagen, aber er tut dies, indem er :,TI Spiel der ironischen Befragung eine Seelenprüfung vor"immt. Cm diese Begründung der parrhesia auf dem Gebiet der Ethik :=n Unterschied [zur] politischen parrhesia oder [aus dem Blickwinkel] einer grundlegenden Trennung von der politischen parrhesia zu untersuchen, möchte ich zwei Texte kom:::::.entieren. Den ersten Text finden wir in der Apologie: Es ist je:1er berühmte Text, in dem Sokrates sagt, warum er im Staat ~,-eine politische Rolle spielen wollte, nämlich deshalb, weil er ,ich in dieser Rolle der Todesgefahr ausgesetzt hätte. ~\-as den] zweiten Text [betrifft], den wir in der nächsten Stunce untersuchen werden, [so handelt es sich] um die berühmten 101
letzten Worte von Sokrates im Phaidon, als Sokrates seme Schüler bittet, im Sinne einer Schuldbegleichung Äskulap einen Hahn zu opfern, und [in dem Augenblick], als er dieses Opfer empfiehlt, hinzufügt: Denkt daran, vergeßt nicht, seid nicht nachlässig. Diesen Text hat keiner der Philosophiehistoriker oder Kommentatoren, die sich seit zweitausend Jahren [damit] beschäftigen, je erklärt oder interpretiert. Das ist der Text, den Dumezil analysierte und für den er, wie mir scheint, die Lösung in jenem Buch gefunden hat, das ich Ihnen letztes Mal zu lesen empfahl. Jedenfalls findet zwischen diesen beiden Texten (dem der Apologie, in welchem Sokrates sagt: Ich habe »keine Politik gemacht«, wie wir es ausdrücken würden, ich habe mich nicht zur Rednerbühne vorgedrängt, weil ich sonst tot wäre; und dem letzten Text von Sokrates, der wohlgemut seinen Tod annimmt und darum bittet, daß man den Göttern eine bestimmte Schuld in Form eines Hahns bezahlt) der ganze Zyklus von Sokrates' Tod in seiner Beziehung zum Wahrsprechen und zu den tödlichen Risiken statt, die man mit dem Wahrsprechen eingeht. Zuerst also die Apologie. Ich werde mit einer Bemerkung beginnen, die wir jedoch einstweilen auf sich beruhen lassen, weil wir später noch auf sie zurückkommen werden. Sie [bezieht sich auf] die allerersten Zeilen der Apologie. Da es um einen juristischen Diskurs geht, beginnt Sokrates' Rede, so berichtet es zumindest Platon, wie jede gute juristische Rede bzw. wie viele Plädoyers [mit dem Satz]: Meine Gegner lügen, aber ich sage die Wahrheit.! Das ist das mindeste, was man in der Tat sagen kann, wenn man sich vor einem Gericht gegen seine Ankläger wendet. Meine Gegner lügen, ich sage die Wahrheit. Zweitens sagt Sokrates: Meine Gegner können geschickt reden (deinoi legein);2 im Gegensatz dazu spreche ich ganz einfach, ganz direkt und ohne Geschick und Zurichtung. Auch hier haben wir ein traditionelles Thema. Und auch hier fügt er hinzu (was für diese Art von Diskurs nicht ungewöhnlich ist): Sie können geschickt reden, während ich ganz einfach und ganz direkt spreche. Übrigens sind sie so geschickt im Reden, daß sie den EinI02
lruck erzeugen wollen, daß ich es bin, der geschickt reden kann. Aber gerade darin lügen sie: Ich kann nicht geschickt relen. 3 Diese Stelle würde vielleicht keine eingehenderen Kom:nentare mehr verdienen, wenn in dieser rhetorischen Form, in lieser völlig herkömmlichen Form der Präsentation der juristischen Rede nicht eine bestimmte Notiz aufträte, derzufolge Sokrates sagt: Meine Gegner lügen, meine Gegner, die geschickt reden können, aber sie sind so geschickt im Reden, daß sie es sogar schaffen, mich beinahe »vergessen zu machen, was bin«. Durch sie (hyp' auton) habe ich beinahe die Erinnerung an mich selbst (emautou epelathomen) verloren. 4 Ich :nöchte nun, daß wir diese Bemerkung etwa so wie den Vorrat eines Eichhörnchens bewahren, und zwar in Anbetracht dessen, worüber wir später sprechen, einen kleinen Vorrat, von dem wir anschließend Gebrauch machen werden. Ich möchte "ur, daß sie im Gedächtnis behalten, daß die Geschicklichkeit der Gegner, der anderen im Reden so weit gehen kann, daß dadurch ein Vergessen seiner selbst hervorgerufen wird. Folglich können wir gewissermaßen in Entsprechung dazu und auf negative Weise spüren, daß wir uns auf die umgekehrte Behaupcung [einstellen] sollen. Wenn die Geschicklichkeit des Redens lie Selbstvergessenheit hervorruft, dann führt die Schlichtheit ~des] Redens, das Reden ohne Zurichtung oder ohne Schmuck, das unmittelbar wahre Reden, das Reden der parrhesia also, seinerseits zur Wahrheit unserer selbst. Zweitens möchte ich Sie auch darauf hinweisen, daß das, was :nan den Zyklus von Sokrates' Tod nennen könnte - jene Gruppe von Texten, die die Apologie des Sokrates (den Prozeß), den Kriton (Unterredung zwischen Sokrates und Kriton ::n Gefängnis über eine mögliche Flucht) und schließlich den Phaidon (Erzählung von Sokrates' letzten Augenblicken) umfaßt - mit der Erwähnung von etwas beginnt, das während des sanzen Zyklus von Bedeutung sein wird: die Gefahr, sich selbst zu vergessen. Von diesem Beginn (sie hätten es fast geschafft, ich mich selbst vergessen hätte) bis zum »vergeßt nicht«, v;as Sokrates' allerletzte Worte (me amelesete: vernachlässigt I03
nicht, vergeßt nicht) sind,5 die wir auf jeden Fall kommentieren müssen, geht es während dieses ganzen Zyklus um das Verhältnis zwischen der Wahrheit über sich selbst und das Vergessen seiner selbst. Unter diesem Zeichen wird sich Sokrates' Prozeß abspielen, Sokrates' Diskussion über sein mögliches Exil und seine mögliche Rettung und schließlich Sokrates' Tod. Bleiben wir vorerst an dieser Stelle stehen und behalten wir uns diese Bemerkung für später vor. Ich möchte nun auf den Text eingehen, von dem ich gesprochen habe, der sich bei 3 I C der Apologie befindet und in dem es um die Frage geht: Soll man Politik betreiben? Oder vielmehr: Warum hat Sokrates keine Politik gemacht? Unmittelbar vor dieser Passage hat Sokrates gerade erklärt, wie er die Bürger Athens aufgesucht hat, wie sehr er sich darum gekümmert hatdarauf werden wir zurückkommen -, wie sehr er Sorge für sie getragen hat (»wie ein Vater oder älterer Bruder«).6 Er hat sich also um die Athener wie ein Vater oder älterer Bruder gekümmert. Aber sobald er dies gesagt hat, wendet er schon selbst folgendes ein: Aber »vielleicht könnte auch dies jemanden ungereimt dünken, daß ich, um einzelnen zu raten, umhergehe und mir viel zu schaffen mache«, öffentlich (demosia) es aber nicht wage, dem Staat Ratschläge zu erteilen (symboulein te polei), indem ich mich dem Volke präsentiere und mich an es wende (anabainon eis to plethos, strenggenommen: auf die Rednerbühne steigen, um sich ans Volk zu wenden).! Auch hier kommt ein technisches Wort vor. Symboulein bedeutet, an der Ratsversammlung teilzunehmen, an den beratenden Instanzen des Staats. Warum wage ich also nicht öffentlich, indem ich die Rednerbühne besteige, an den Entscheidungen der Stadt, des Stadtstaats teilzunehmen? In dieser Beschreibung einer politischen Rolle, wo jemand aufsteht, sich erhebt, zum Volk spricht und an den Beratungen des Staats teilnimmt, haben wir offensichtlich die Beschreibung der Bühne demokratischer Institutionen, die der parrhesia einen Platz hätten einräumen sollen. Was Sokrates anspricht, ist ebendiese mögliche Figur des politischen Parrhesiasten, der es
trotz der Gefahren, trotz der Drohungen akzeptiert, sich zu erheben, weil es im Interesse des Staats liegt. Indem er möglicherweise sein Leben riskiert, sagt er die Wahrheit. Hier könnte man an die Anekdote, die Geste, die berühmte Haltung Solons erinnern, die in der griechischen Literatur sehr oft erwähnt wird. Sie finden diese Episode im Staat der Athener "'on Aristoteles im Kapitel 14,8 bei Plutarch (Das Leben Solons)9 und auch bei Diogenes Laertius. 10 In dem Augenblick, da Athen im Begriff ist, seine Freiheit zu verlieren, weil Peisistratos seine persönliche Autorität durchsetzt, d. h. die Tyrannis sich anschickt, in seinem eigenen Namen die Herrschaft über Athen auszuüben, in diesem Augenblick entschließt sich der alte Solon, der diesem Aufstieg des jungen Peisistratos beiwohnt, zur Volksversammlung zu kommen. Peisistratos hatte seinen Willen offenbart, die Tyrannis auszuüben, indem er sich eine Leibgarde bewilligen ließ - darin bestand in den griechischen Stadtstaaten das herkömmliche Mittel für einen Bürger, die Macht zu ergreifen: sich mit einer Leibgarde zu umgeben. Cnd angesichts dieses Ereignisses kommt Solon zur Volksyersammlung. Er kommt als einfacher Bürger Athens zur Versammlung, aber bewaffnet mit einem Brustpanzer und einem Schutzschild, wodurch er offenbar macht, was sich gerade ereignet, nämlich daß Peisistratos, indem er sich eine Leibgarde geben ließ, die Bürger als Feinde betrachtet, gegen die er möglicherweise wird kämpfen müssen. Wenn sich der Herrscher so zeigt, daß er eine Militärmacht ausübt und durch die bewaffneze Streitmacht die anderen Bürger bedroht, ist es verständlich, daiS die Bürger [ihrerseits] bewaffnet kommen. Sol on kommt zJso zur Volksversammlung mit einem Brustpanzer und einem S<:hutzschild. Um die Volksversammlung dafür zu tadeln, daß sie Peisistratos ermächtigt hat, sich mit einer Leibgarde zu umgeben, sagt er zu seinen Mitbürgern: »Athener, die einen von euch übertreffe ich an Klugheit, die andern an Tapferkeit; an Klugheit die, welche den Trug des Peisistratos nicht merkten, an Tapferkeit die, welche es zwar merkten, aber aus Furcht schwiegen.«l1 Sie sehen hier Solons doppelte parrhesia: die
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parrhesia im Hinblick auf Peisistratos, da er durch die Handlung, die er [vollzieht], indem er im Brustpanzer und vollständig bewaffnet zur Volksversammlung kommt, zeigt, was Peisistratos im Begriff zu tun ist. Er enthüllt die Wahrheit des Geschehens und richtet zugleich eine wahre Rede an die Volksversammlung, indem er jene kritisiert, die nicht verstehen, aber auch [jene], die schweigen, obwohl sie verstehen. Er dagegen wird sprechen. Nach dieser Rede Solons, der anprangert, was gerade geschieht, und seine Mitbürger kritisiert, antwortet die Ratsversammlung, daß Solon in Wirklichkeit im Begriff ist, verrückt zu werden (mainesthai). Worauf Solon erwidert: »Kurze Zeit, und es wird mein Wahn sich allen enthüllen, wenn sich die Wahrheit den Weg freimacht für jedermanns Blick.«12 Hier haben wir gerade ein typisches Beispiel für die Praxis der parrhesia, das natürlich aposteriori konstruiert wurde. Genau diese Praxis der parrhesia will Sokrates nicht übernehmen, diese Rolle will er nicht spielen. Er wagt nicht öffentlich, dem Staat Ratschläge zu erteilen, indem er sich an das Volk wendet. Sokrates wird nicht Solon sein. Dann stellt sich aber die Frage, wie Sokrates die Tatsache rechtfertigt, daß er nicht Solon sein wird, daß er die Rednerbühne nicht besteigen wird und daß er die Wahrheit nicht demosia (öffentlich) sagen wird. Der Grund, den er dafür angibt, daß er diese Rolle nicht zu spielen braucht, ist wohlbekannt. Er hat nämlich eine bestimmte, ihm vertraute Stimme gehört, die Stimme eines Gottes oder Dämons, die sich von Zeit zu Zeit in ihm und für ihn bemerkbar macht, eine Stimme, die ihm zwar nie etwas Positives vorschreibt, die ihm nie sagt, was er tun soll, [aber] von Zeit zu Zeit ertönt, um ihn davon abzuhalten, etwas auszuführen, was er gerade tun wollte oder hätte tun können. 13 Augenscheinlich geht es genau darum. Warum macht sich ihm die Stimme bemerkbar? Um ihn davon abzubringen, Politik zu betreiben. Die Stimme bringt ihn, der sich doch um die Bürger wie ein Vater oder ein älterer Bruder kümmert, davon ab, sich politisch handelnd um sie zu kümmern. Was bedeutet dieses 106
Yerbot? Warum dieses Zeichen? Warum diese Stimme, die ihn in dem Augenblick von der politischen parrhesia abhält, in dem er seiner wahren Rede diese Form, diesen Schauplatz und dieses Ziel hätte geben können? An dieser Stelle bringt Sokrates eine Reihe von Überlegungen ';or, die auf den ersten Blick als alleinige Erklärung dieses Verbots oder jedenfalls dieses negativen Zeichens gelten könnten, das die Stimme des Dämons an ihn gerichtet hat. Diese scheinbare Erklärung ist die schlechte Funktionsweise der demokratischen parrhesia oder allgemeiner der politischen parrhesia. Es ist das Unvermögen, das einen befällt, wenn man es mit den politischen Institutionen zu tun hat, die parrhesiastische Rolle ordentlich, völlig und bis zum Schluß zu spielen. Und warum? Ganz einfach wegen der Gefahr, in die man sich begibt. Bei diesem Text möchte ich verweilen: »[W]enn ich schon vor langer Zeit unternommen hätte, Staatsgeschäfte zu betreiben, so wäre auch schon längst umgekommen«.14 Sie erinnern sich, ich hatte Ihnen diesen Text das letzte Mal vorgelesen. Und Sokrates fügt hinzu: »Werdet mir nur nicht böse, wenn ich die Wahrheit rede! [Die Wahrheit, d. h., wenn ich Politik betrieben hätce, wäre ich umgekommen; M. E] Denn kein Mensch kann sich ::rhalten, der sich - sei es nun euch oder einer anderen Volksmenge - tapfer widersetzt und viel Ungerechtes und Gesetz'\\'idriges im Staate zu verhindern sucht.«15 Auch wenn wir rasch über diesen Text hinweggehen, so ist die Sache doch klar: \Varum habe ich keine Politik betrieben? Weil, wenn ich Polibetrieben hätte, wenn ich mich hervorgetan hätte, um zu weh zu sprechen, um euch die Wahrheit zu sagen, ihr mich hättet umkommen lassen, wie alle diejenigen umkommen, die in ihrem Staat auf großherzige Weise Ungerechtigkeiten und Gesetzwidrigkeiten verhindern wollen. Nur muß man etwas "äher zusehen, vor allem muß man sich die Beispiele und Rechtfertigungen ansehen, die Sokrates anführt. Denn die Beispiele, die er zur Stützung der Behauptung gibt, daß man sein Leben riskiert, wenn man sich an die Volksversammlung wenum ihr die Wahrheit zu sagen, sind eigenartig und zugleich 1°7
ganz paradox, weil es sich sowohl um Beispiele als auch um Widerlegungen handelt. 16 Um Beispiele handelt es sich, insofern es um solche Fälle geht, in denen die politischen Institutionen, seien sie nun demokratisch, tyrannisch oder oligarchisch, diejenigen behindern oder behindern wollen, die auf der Seite der Gerechtigkeit und der Rechtmäßigkeit des Wahrsprechens stehen. Aber diese Beispiele sind zugleich Widerlegungen, weil man in ihnen gerade sieht, daß Sokrates in zwei konkreten Fällen, die er erwähnt, diese Erpressung und Bedrohung nicht hingenommen hat. Er hat sich ihnen gestellt und in beiden Fällen das Risiko zu sterben auf sich genommen. Darum geht es. Dafür, daß man sich wirklich dem Tod aussetzen kann, wenn man die Wahrheit im Rahmen einer demokratischen Regierungsform sagen will, gibt Sokrates ein ganz konkretes Beispiel, das er seiner eigenen Erfahrung und seinem eigenen Leben entnimmt. Der Schauplatz des Geschehens liegt im Jahre 406, als Sokrates durch die Rotation der politischen Verantwortung - hier handelt es sich nicht um eine gewissermaßen persönliche Tätigkeit, für deren Übernahme er selbst die Entscheidung getroffen hätte, sondern seinem eigenen Stamm oblag es, die Prytanie auszuüben - zum Prytanen bestimmt wurde. Zu dieser Zeit wurde aber gerade ein Verfahren gegen athenische Generäle eingeleitet, die in der Schlacht bei den Arginusen siegten und die aus einer Reihe von Gründen nach der Schlacht und ihrem Sieg die Leichen nicht begraben hatten - was sowohl eine Ruchlosigkeit als auch eine etwas zweifelhafte politische Geste war. Aber lassen wir das beiseite. In der Volksversammlung gibt es also Leute, die eine Klage gegen die Generäle, die bei den Arginusen kämpften, erhoben. Und was tut Sokrates nun? »Da war ich unter den Prytanen der einzige, der sich euch widersetzte, damit ihr nichts gegen die Gesetze tun möchtet, und euch entgegenstimmte.«17 Die Volksversammlung hat aber die Generäle tatsächlich verurteilt, und sie wurden schlichtweg hingerichtet. Nun, trotz der Tatsache, daß die ganze Volksversammlung für diese Verurteilung stimmte, habe ich, sagt Sokrates, »euch entgegenge-
stimmt«. »Und obgleich die Redner [Verfechter der Verurteider Generäle; M. F.] bereit waren, mich anzugeben und gdangenzusetzen, und ihr es fordertet [sagt Sokrates zum Volk ".'on Athen; M. F.] und schrieet, so glaubte ich doch, ich müßte ::eber mit dem Recht und dem Gesetz die Gefahr bestehen, als :mch zu euch gesellen in einem so ungerechten Vorhaben aus Furcht des Gefängnisses oder des Todes.«18 Hier haben wir ein Beispiel dafür, das hinreichend beweist, daß man in der Demoilatie sein Leben riskiert, wenn man die Wahrheit zugunsten ier Gerechtigkeit und des Gesetzes sagen will. Aber zur glei:hen Zeit, da Sokrates zeigt, daß man tatsächlich dieses Risiko e:ngeht, zeigt er auch, daß er dieser Gefahr wirklich entgegengetreten ist und die typische Rolle des politischen Parrhesiaseen gespielt hat. Es ist wahr, daß die parrhesia gefährlich ist, .:oer es ist ebenso wahr, daß Sokrates den Mut hatte, die Risi:"en dieser parrhesia einzugehen. Er hatte den Mut, das Wort zu ergreifen, er hatte den Mut, eine gegenteilige Meinung vor einer Volksversammlung abzugeben, die versuchte, ihn zum Schweigen zu bringen, ihn zu verfolgen und ihn schließlich zu bestrafen. );ach diesem paradoxen Beispiel (dem Beweis, daß die parrhe5:4 in der Demokratie gefährlich ist, zugleich aber auch einem Beispiel dafür, daß Sokrates dieses Risiko eingeht) führt Sokra:eS ein anderes an, das er einer anderen Episode der athenischen Geschichte und einer anderen Form des politischen Systems mtlehnt. Er bezieht sich auf jene kurze Zeit, in der Athen am Ende des 5. Jahrhunderts unter der oligarchischen Regierung der Dreißig stand, einer autoritären und blutigen Regierung. Hier zeigt er nun, daß es in einer autoritären und oligarchischen Regierungsform genauso gefährlich wie in einer Demokratie ist, die Wahrheit zu sagen. Zugleich zeigt er aber auch, '0:ie gleichgültig das für ihn war und wie er das Risiko eingegangen ist. Er erinnert an den Augenblick, als die Dreißig Tyrannen einen Bürger verhaften lassen wollten, dessen Name Leon von Salamis war und der zu Unrecht angeklagt wurde. Gm ihn zu verhaften, hatten die Dreißig Tyrannen vier Bürger
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aufgefordert, diese Verhaftung vorzunehmen. Unter diesen vier Bürgern hatten sie Sokrates ausgewählt. Als nun die drei anderen fortgegangen waren, um Leon von Salamis gefangenzunehmen, »zeigte ich auch da nun [erinnert Sokrates seine Ankläger; M.F.] wiederum nicht durch Worte, sondern durch die Tat (ou logo all' ergo), daß der Tod, wenn euch das nicht zu bäurisch klingt, mich auch nicht das mindeste kümmerte [emoi thanatou melei oud' hotioun; ich weise Sie auf [den Ausdruck] »melei« hin, dem wir noch oft begegnen werden; M. F.], nichts Ruchloses aber und nichts Ungerechtes zu begehen mich mehr als alles kümmerte [und wieder: toutou de to pan melei; M.F.].«19 Ein spiegelbildliches und umgekehrtes Beispiel. Umgekehrt, weil wir uns in einer aristokratischen, oligarchischen Regierungsform befinden. Spiegelbildlich, weil die parrhesia in dieser Regierungsform zwar nicht möglich ist, Sokrates aber doch gleichfalls das Risiko auf sich genommen hat. Sie sehen, worin das Problem besteht. Sokrates hat gerade gesagt: Warum habe ich mich nie demosia (öffentlich durch Besteigen der Rednerbühne) um die Bürger gekümmert und will mich auch auf diese Weise nicht um sie kümmern, obwohl ich mich doch mit ihnen befasse? Weil ich in diesem Fall sterben würde. Wie kann er so etwas sagen und als Rechtfertigung seiner Haltung Beispiele anführen, durch die er zwar zeigt, daß es gefährlich ist, in denen er aber die Gefahr und den Tod auf sich nimmt? Kann man sagen, daß die Todesgefahren, die die schlechte politische Funktionsweise dem Parrhesiasten auferlegt, daß der Tod, dessen Risiko man auf sich nimmt, wenn man die Wahrheit sagt, die wahren Gründe waren, aus denen Sokrates sich nicht auf der politischen Bühne hervorgetan und niemals das Wort gegenüber dem Volk ergriffen hat? Er, der doch zweimal (in der Demokratie und in der Oligarchie) das Risiko des Todes auf sich genommen hat, um der Wahrheit und der Gerechtigkeit Geltung zu verschaffen, er, der doch gerade in der Apologie, die er vorträgt, den ganzen Text über erklärt und erklären wird, daß er keine Angst vor dem Tod hat, wie kann er da sagen: Ich habe keine Politik gemacht, weil ich umgekommen wäre, wenn IIO
i~h es getan hätte. Die Frage ist folgende: Können diese Gefah:-en der wirkliche Grund für seine Enthaltung sein? Die Ant';I'ort, die man geben muß, ist zugleich nein und ja. Offensicht:i~h nein, ich möchte betonen, daß Sokrates nicht aus Angst -;0:- dem Tod und um diesem zu entrinnen auf die politische Tätigkeit verzichtet hat. Aber dennoch kann man sagen: Ja, er :~at sich genau wegen dieser Gefahren enthalten, nicht aus ."-ngst vor dem Tod, sondern weil er umgekommen wäre, wenn t[ sich in die Politik eingemischt hätte, und er als Toter - das S9.gt er in dem Text - weder sich selbst noch den Athenern von ::\"utzen hätte sein können. 2o Die Furcht vor dem Tod, die persönliche Beziehung des Sokrates zu seinem eigenen Tod ist also :-:2cht der Grund, weshalb er die Wahrheit in Form der politis~hen Veridiktion nicht sagen wollte. Es ist nicht diese persön:iche Beziehung, sondern eine gewisse Beziehung der Nütz:ichkeit, eine gewisse Beziehung zu sich selbst und zu den .-\thenern, diese nützliche, positive und günstige Beziehung ist der Grund, weshalb die Bedrohung, die die politischen Syste::1e für die Wahrheit darstellen, ihn daran gehindert hat, diese '1;rahrheit in politischer Form auszusprechen. Daß er sich vor dem Tode hüten solle, wurde ihm ja durch jenes negative Zei::hen, durch jenen Ruf der dämonischen Stimme empfohlen. .-\ber nicht deshalb, weil der Tod ein Übel ist, das es zu vermeiden gilt, sondern weil Sokrates nichts Positives hätte bewirken ;;:önnen, wenn er gestorben wäre. Zu den anderen und zu sich selbst hätte er keine wertvolle, nützliche und günstige Beziei-mng aufbauen können. Das dämonische Zeichen, das Sokrates in dem Augenblick, als er vor die Volksversammlung hätte tre:eD können, von der tod bringenden Politik abgebracht hat, dieses Zeichen hat also bewirkt - und das ist wohl auch seine Funktion gewesen -, gerade diese positive Aufgabe und den Auftrag, den er erhalten hatte, zu schützen. Das weist also auf die Mission hin, mit der der Gott Sokrates :,etraut hat und die es gegen die fruchtlosen Gefahren der Poli::k zu verteidigen gilt. Man darf nicht vergessen - darauf soll:eD wir zurückkommen -, daß dieser ganze Zyklus von SokraI I I
tes' Tod die Interpunktion einer Reihe göttlicher Eingriffe heraufbeschwört. Hier haben wir nun eine solche. Welche positive Aufgabe, welche nützliche Aufgabe ermöglicht und schützt diese göttliche Intervention, die in dem Augenblick, in dem die politische parrhesia für Sokrates eine ernsthafte Möglichkeit dargestellt hätte, einen Bruch einführt? Die ganze Apologie, oder zumindest der erste Teil, ist der Bestimmung und Charakterisierung dieser Aufgabe gewidmet, die nützlich ist und die vor dem Tod geschützt werden muß. Diese Aufgabe ist eine bestimmte Ausübung, eine bestimmte Praxis des Wahrsprechens, die Verwirklichung eines bestimmten Modus der Veridiktion, der sich völlig von jenen unterscheidet, die auf der politischen Bühne stattfinden können. Die Stimme, die Sokrates gegenüber diese Empfehlung ausspricht oder ihn vielmehr von der Möglichkeit des politischen Redens abbringt, diese Stimme bezeichnet die Einsetzung eines anderen Wahrsprechens gegenüber dem politischen Wahrsprechen, nämlich die Veridiktion der Philosophie: Du wirst nicht Solon sein, du sollst Sokrates sein. Was ist diese andere Praxis des Wahrsprechens, deren wesentlichen, grundsätzlichen, grundlegenden Unterschied gegenüber dem politischen Wahrsprechen die göttliche Stimme bezeichnet? Das wird im gesamten ersten Teil der Apologie erzählt, und ich glaube, daß man dieses andere Wahrsprechen, das durch die Vorsicht des Sokrates, dem Tod aus dem Wege zu gehen, herbeigeführt wird, schematisch durch drei Momente beschreiben kann. Das erste Moment dieser Veridiktion findet man im Verhältnis zu den Göttern, im Verhältnis zu ApolIon, im Verhältnis zur Prophezeiung. Wie wir sehen werden, ist auch das nicht gleichgültig. Chairephon, Sokrates' Freund, ging zum delphischen Gott, um ihn zu fragen: Welcher Grieche ist weiser als Sokrates? Sie wissen, daß die Antwort des Gottes auf diese Frage, die nicht von Sokrates, sondern von einem seiner Freunde gestellt wurde, lautete: Niemand ist weiser als Sokrates. 21 Natürlich ist diese Antwort wie alle Antworten des Gottes rätselhaft, und derjenige, der sie empfängt, ist niemals ganz sicher, ob er sie
:-:chtig versteht. Sokrates versteht sie in der Tat nicht. Und er :C2.gt sich wie alle oder fast alle, die solche rätselhaften Antwor:::n von dem Gott empfangen haben: Ti pote legei ho theos ?22 '\)7as sagt der Gott mit verschlüsseltem Wort: ainittetai ?23) 'X"enn Sokrates sich diese herkömmliche Frage im Anschluß an 2::: herkömmlich rätselhafte Antwort des Gottes stellt, muß n:an aber gleich darauf hinweisen, daß er keine Interpreta,ionsmethode vorschlägt, um den Sinn der Worte des Gottes ::::rauszufinden. Er versucht nicht, den zugrundeliegenden Sillll zu entziffern, er versucht nicht zu erraten, was der Gott "esagt hat. Sokrates' Erklärung dessen, was er in jenem AugencEck getan hat, ist überaus interessant. Er sagt: Die Antwort Chairephons Frage wurde mir überbracht, und da ich mich :r2.gte, weil ich sie nicht verstand: Was könnte der Gott gemeint ::aben?, habe ich eine Untersuchung vorgenommen. Das ver,,"endete Verb ist zetein (man begegnet dem Wort zetesis).24 Er naI eine Untersuchung vorgenommen, und die Untersuchung c,esteht, wie gesagt, nicht darin, etwas zu interpretieren oder zu :::1tziffern. Es geht nicht um eine Exegese dessen, was der Gott "emeint haben könnte und was er hinter einer allegorischen ?orm oder hinter einem zur Hälfte wahren und zur Hälfte trü;erischen Diskurs verborgen hätte. Die Untersuchung, die Soi.rates vornimmt, ist eine Untersuchung, [die darauf abzielt] ::erauszufinden, ob das Orakel die Wahrheit gesprochen hat. Sokrates will das, was das Orakel gesagt hat, auf die Probe stel.e:1 rJaire l'epreuveJ.'c Er besteht darauf, dieses Orakel der Prü-
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Foucault eröffnet hier im Umfeld der Ausdrücke zetein und exetazein "in Wortfeld der Untersuchung und Prüfung, das im Französischen neben recherche und enquete vor allem die Ausdrücke epreuve/eprouver, :'erification/verifier, examen/examiner und test/tester umfaßt. Es wurde ca rauf verzichtet, den entsprechenden Wörtern und Wendungen quasi :erminologisch deutsche Begriffe zuzuordnen, da Foucault sie nicht meng terminologisch gebraucht und in wichtigen Fällen auch Mißverständnisse provoziert würden. So trägt das französische verifier einen starken Akzent auf dem Moment der Kontrolle, wird von Foucault aber ::atürlich im unmittelbaren Bezug zur veridiction gebraucht. Um zumindest stellenweise zu verdeutlichen, welche Vielfalt von französischen Ausdrücken sich hinter dem deutschen »prüfen/Prüfung« verber-
fung auf seine Wahrheit hin zu unterziehen [soumettre Cl La verification]. Und um die Art und Weise dieser Untersuchung (zetesis) zu bezeichnen, verwendet er ein bestimmtes Wort, das von Bedeutung ist, nämlich das Wort elenchein,25 welches bedeutet, Vorwürfe, Einwände machen, Fragen stellen, jemanden einem Verhör unterziehen, dem, was jemand gesagt hat, widersprechen, um herauszufinden, ob das Gesagte wirklich zutrifft oder nicht. Gewissermaßen handelt es sich also um eine Diskussion. Er wird also das Orakel nicht interpretieren, sondern es diskutieren, es einer Diskussion unterziehen, es einer Gegenrede aussetzen, um herauszufinden, ob es wahr ist. Um das Orakel dieser Überprüfung [verification] und nicht einer Interpretation zu unterziehen, unternimmt nun Sokrates eine regelrechte Rundreise, eine richtige Kreuzfahrt (was er plane nennt),26 um schließlich herauszufinden, ob die Prophezeiung sich tatsächlich als unbestreitbar (anelenktos)Z7 herausstellen und ob sie sich in Wahrheit als begründet erweisen kann. Es ist wichtig, das Einzigartige an dieser Haltung des Sokrates genau zu erfassen. Zwar besitzt er wie Chairephon selbst gegenüber dem Orakel jene Ehrfurcht, die bewirkt, daß er das, was das Orakel ihm sagt, aufnimmt und sich darüber Fragen stellt. Man sieht jedoch, wie weit wir von der gewöhnlichen Haltung gegenüber der Prophezeiung und den Worten des Orakels entfernt sind. Worin besteht nun diese gewöhnliche Haltung, die man ständig antrifft, der man lange Zeit begegnen wird, die wir letztes Jahr, wie Sie sich erinnern, feststellen konnten, als wir Euripides' Ion und jene Konsultationen des Orakels untersuchten, bei denen der Vater und die Mutter herauszufinden versuchten, was aus ihrem Sohn geworden ist oder ob sie eventuell einen Sohn haben würden ?28 Erstens in dem Versuch der Interpretation, um so genau wie möglich zu verstehen, was das Orakel gesagt hat, und dann abzuwarten, um zu sehen, ob sich das Orakel wirklich erfüllt, oder auch in dem Versuch, die Verwirklichung des Orakels zu verhindern, gen kann, werden an einigen wichtigen Stellen der Vorlesung vermehrt die Ausdrücke des Originals angegeben.
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';',"enn das, was man verstanden hat, eine Gefahr oder ein Un;:ück ist. Mit anderen Worten: Die Worte des Orakels zu inter?:-etieren und seine Folgen in der Wirklichkeit abzuwarten -=-der zu verhindern. Die herkömmliche, gewöhnliche Haltung ;egenüber den Worten des Orakels ist durch dieses Spiel zwis,::nen Interpretation und Abwarten in der Wirklichkeit ge::ennzeichnet. Die sokratische Haltung ist nun aber eine völlig ::.ndere. Es geht nicht darum, eine Interpretation vorzunehmen, sondern eine Untersuchung, um die Wahrheit des Orakels zu ?=-üfen [tester] und auf die Probe zu stellen [eprouver]. Es geht ::zrum, das Orakel zu diskutieren. Und diese Untersuchung :immt die Gestalt einer Diskussion, einer möglichen Widerle;ung an, einer Probe [preuve], die die Rede des Orakels nicht ::n Bereich einer Wirklichkeit zur Geltung bringt, in dem es . . tatsächlich vollzieht, sondern im Bereich einer Wahrheit, :n dem man es als einen wahren oder falschen logos annehmen ::a.nn. Interpretation und Erwartung im Bereich des Wirkli:nen, das ist die gewöhnliche Haltung. Untersuchung und Prü~.mg [epreuve] im Spielraum der Wahrheit, das ist die Haltung ::es Sokrates gegenüber der Prophezeiung. Hier haben wir das erste Moment der sokratischen Haltung, der sokratischen Ve:-:idiktion und des Auftrags, den Sokrates empfing, die Wahr::.eir zu sagen. Das zweite Moment: In welcher Form wird Sokrates diese ?=-üfende Untersuchung [recherche verificatrice] durchführen? :~\"ie wird er konkret versuchen herauszufinden, ob das Orakel die Wahrheit gesagt hat? Wie wird er, an statt abzuwarten oder zu verhindern, daß es sich verwirklicht, diese Diskussion mit dem und gegenüber dem Orakel führen? Er hat gesagt, daß es ,ich um einen Rundgang handle, um eine Untersuchung, die er :=:ihrt (eine plane: er wird herumwandern und dabei versuchen, das Orakel zu prüfen [tester]). Und auf diesem Rundgang .:urch die Stadt und zu ihren Bürgern unternimmt er seine Un:c:rsuchung bei verschiedenen Kategorien von Individuen und 3ürgern vor. Zunächst bei einem Staatsmann, dann bei anderen; auf der zweiten Etappe folgt der Dichter; auf der dritten II5
Etappe sind schließlich die Handwerker an der Reihe. Dieser Rundgang ist, wie Sie sehen, ein Rundgang durch die Stadt, durch die Körperschaft der Bürger von oben nach unten. Vom Staatsmann, der von solcher Bedeutung ist, daß er seinen Namen nicht nennt,29 bis zum letzten Handwerker durchwandert Sokrates die gesamte Stadt. 30 Und in dem Maße, in dem er auf diese Weise unter den Bürgern, die den Staat bilden, hinabsteigt, stößt er auf immer solidere Kenntnisse. Während der erste Staatsmann, den er besuchte, vielen, und vor allem sich selbst, gelehrt zu sein schien, es aber in Wirklichkeit keineswegs war, stellt er dagegen fest, daß die Handwerker vieles [wissen], und zwar viel mehr als Sokrates selbst weiß. Aber alle, gleichgültig ob unwissende Staatsmänner oder wissende Handwerker, haben die Eigenschaft gemein, daß sie Dinge zu wissen glauben, die sie in Wirklichkeit nicht wissen, während Sokrates weiß, daß er sie nicht weiß. Er besitzt zwar nicht das Wissen bestimmter anderer Bürger (der Handwerker), aber er besitzt auch nicht ihre Unwissenheit. Dies (diese Untersuchung, dieses Infragestellen, diese Befragung, diese Prüfung [examen] der anderen im Vergleich mit ihm selbst) nennt Sokrates in diesem Text exetasis. 31 Exetazein bedeutet, etwas einer Prüfung unterziehen [soumettre a l'examen].32 Und diese Prüfung [examen] ist in erster Linie eine bestimmte Weise zu prüfen [verifier], ob das Orakel die Wahrheit gesagt hat. [Zweitens] besteht diese Weise der Prüfung, ob das Orakel die Wahrheit gesagt hat, darin die Seelen zu prüfen [eprouver], zu prüfen, was sie über die Dinge, ihre Arbeit, ihre Tätigkeit wissen und was nicht (ob es sich nun um einen Staatsmann, einen Dichter oder einen Handwerker handelt), aber auch, was sie über sich selbst wissen (was sie darüber wissen, daß sie etwas wissen und daß sie nicht wissen). Schließlich geht es bei dieser exetasis nicht nur darum, die Seelen im Hinblick darauf zu prüfen, was sie über die Dinge und sich selbst wissen und was nicht, sondern auch darum, diese Seelen der Seele des Sokrates gegenüberzustellen. Sokrates, der bescheidenerweise prüfen [verifier] wollte, ob das Orakel wirklich die Wahrheit sprach, rr6
:;Js es behauptete, daß er der weiseste Mensch sei, und der seine eigene Unwissenheit vor dem vermeintlichen Wissen der anderen zu zeigen bzw. geltend zu machen versuchte, erscheint sc:hließlich als derjenige, der in der Tat mehr als die anderen ,:,.·eiß, zumindest insofern er seine eigene Unwissenheit kennt. So wird Sokrates' Seele zum Prüfstein (basanos)33 der Seele der 2.:lderen . ."cuf diese Weise vollzieht sich also die exetasis. Der erste Schritt erfolgt aufgrund der Aussage des Gottes: sich fragen, untersu:hen (das ist die zetesis), indem man die Prüfung [verification] :lurch die Diskussion (elenchos) praktiziert. Diese Prüfung cimmt die konkrete Form der Nachforschung an (plane). Man durchwandert die Stadt, unterzieht jeden dieser exetasis, die ~ierauszufinden gestattet, was er weiß, was er nicht weiß, was er iber die Dinge weiß, was er von sich selbst weiß, und prüft dessen Wissen und dessen Unwissenheit, indem man [seine Seele] mit dem Prüfstein vergleicht und an diesem reibt, der die Seele von Sokrates ist. Das dritte Moment dieses Zyklus: Diese Prüfungen, diese exetasis, diese Untersuchungen, die Sokrates so durch den ganzen Staat, von oben nach unten, vornimmt, haben ihm natürlich viele Feindseligkeiten eingebracht - insbesondere die Anklagen von Meletos und Anytos, gegen die er sich ja gerade in der Apologie verteidigt. 34 Und dennoch ließ sich Sokrates trotz dieser Feindseligkeiten - die nicht von den ."cnklagen des Meletos und Anytos herstammen, sondern viel weiter zurückgehen, wobei die Anklagen des Meletos und ."cnytos gewissermaßen nur die letzte Auswirkung und die alierletzte Episode darstellen - nicht von den Gefahren zurückhalten, die sie möglicherweise mit sich brachten. Das sagt er ::ibrigens an dieser Stelle ganz klar: Ein Mann, der auch nur ein ,,;eniges nütze ist, müsse nicht »Gefahr um Leben und Tod [...] :n Anschlag bringen«.35 Sie sehen, daß jetzt, da wir uns im Zy;Jus, in der Entfaltung dieser besonderen Form der parrhesia ..md der Veridiktion befinden, das Risiko der Lebensgefahr, das 1"orhin noch ein Grund dafür war, keine Politik zu betreiben, :iier im Gegensatz dazu im Zentrum seines Unternehmens 117
selbst steht. Was auch immer die Gefahren sein mögen, die ihn die parrhesia in dieser Form eingehen läßt, so weiß er doch als Mann, »der auch nur ein weniges nutz ist«, daß er die Bedeutung dieser parrhesia und seiner eigenen Chancen auf Leben oder Tod nicht auf die Waagschale werfen darf. »[Ein Mann, der] auch nur ein weniges nutz ist, [...] müsse [... ] vielmehr allein darauf sehen, wenn er etwas tut, ob es recht getan ist oder unrecht, ob es eines rechtschaffenen Mannes Tat oder eines schlechten.«36 Folglich darf er der Tatsache, daß er dadurch sterben könnte, keine Beachtung schenken. Mit dieser Form des Wahrsprechens oder der Veridiktion haben wir eine bestimmte Form der parrhesia vor uns, wenn man unter parrhesia den Mut zur Wahrheit versteht, den Mut, die Wahrheit zu sagen. Wir haben hier eine parrhesia, die offensichtlich in ihrem Fundament und in ihrem Ablauf ganz verschieden von der politischen parrhesia ist. Diese neue parrhesia, diese andere parrhesia wird [Sokrates] auf ganz besondere Weise ausüben. Was ihre Form angeht, so bestimmt er sie als einen Auftrag, einen Auftrag, der ihm am Herzen liegt, von dem er niemals abrücken wird, den er beständig bis zum Ende erfüllen wird. Sie sehen auch, daß er von diesem Gesichtspunkt aus nicht dem Weisen ähnlich sein wird. Er wird beispielsweise nicht Solon ähnlich sein, der zwar auf eigene Gefahr hin im Staat das Wort ergreift, um die Wahrheit zu sagen, aber nur von Zeit zu Zeit. Die übrige Zeit bleibt er in seiner Weisheit schweigsam. Der Weise ergreift das Wort, wenn die Dringlichkeit es verlangt. Darüber hinaus zieht er sich in das Schweigen seiner eigenen Weisheit zurück. Sokrates dagegen hat eine Mission, fast möchte man sagen, einen Beruf, jedenfalls hat er einen Auftrag. Es ist von großer Bedeutung, daß er sich nicht mit jenem Weisen vergleicht, der nur von Zeit zu Zeit das Wort ergreift, sondern mit einem Soldaten, der seine Stellung hält. 37 [Betrachten wir etwa Solon], den man in früherer Zeit gebeten hat, dem Staat Gesetze zu geben, und der, als er sah, daß diese Gesetze pervertiert wurden und Peisistratos die Tyrannis [ausübte], zu dieser Gelegenheit die Kleidung eines Soldaten anrr8
legt, seinen Schild ergreift, seinen Brustpanzer überstreift und genau in diesem Moment bei der Volksversammlung erscheint, um die Wahrheit erstrahlen zu lassen. Stellen wir ihm Sokrates gegenüber, der sich sein ganzes Leben lang als eine Art von Soldat unter den Bürgern verstanden hat, der jeden Augenblick bereit sein muß zu kämpfen, sich und die Bürger zu verteidigen. Was ist nun das Ziel dieses Auftrags? Was soll er im Sinne dieses Auftrags tun, den der Gott ihm gegeben und den er beschützt hat, indem er ihm sagte: Betreibe vor allem keine Politik, denn du würdest umkommen? Das Ziel dieses Auftrags besteht natürlich darin, ständig über die anderen zu wachen, sich wie ein Vater oder älterer Bruder um sie zu kümmern. Aber wozu? Um sie anzustacheln, sich nicht um ihr Vermögen, ihren Ruf, ihre Ehren und ihre Ämter zu kümmern, sondern um sich selbst, d. h. um ihre Vernunft, um die Wahrheit und um ihre Seele (phronesis, aletheia, psyche). 38 Sie sollen sich um sich selbst kümmern. Diese Bestimmung ist entscheidend. Das Selbst im Verhältnis von sich zu sich selbst, das Selbst in diesem Verhältnis des Wachens über sich wird [erstens] durch die phronesis bestimmt, d. h. durch die gewissermaßen praktische Vernunft, die handelnde Vernunft, die das Treffen guter Entscheidungen und die Vertreibung falscher Meinungen ermöglicht. Zweitens wird das Selbst auch durch die aletheia bestimmt, insofern sie tatsächlich das Maß sein wird, woran sich die phronesis hält, wonach sie sucht und was sie schließlich erlangt. Aber zugleich ist sie das Sein, insofern wir gerade in Form der psyche (der Seele) mit ihm verwandt sind. Wenn wir eine phronesis haben und gute Entscheidungen treffen können, dann deshalb, weil wir ein bestimmtes Verhältnis zur Wahrheit haben, das ontologisch in der Natur der Seele fundiert ist. Von dieser Art ist nun die Mission des Sokrates, eine Mission, die, wie man sieht, in ihrem Ablauf, ihrer Form und ihrem Ziel von der politischen parrhesia, von der politischen Veridiktion, von der wir bislang gesprochen haben, ganz verschieden ist. Sie hat eine andere Form und ein anderes Ziel. Dieses andere Ziel beII9
steht tatsächlich darin zu erreichen, daß die Menschen sich um sich selbst kümmern, daß jede Person sich um sich selbst [als] vernünftiges Wesen kümmert, das in einem Verhältnis zur Wahrheit steht, welches sich auf das Sein seiner eigenen Seele gründet. In diesem Sinne haben wir jetzt eine parrhesia auf der Achse der Ethik. Bei dieser neuen Form der parrhesia geht es eben um die Begründung des ethos als desjenigen Prinzips, anhand dessen sich das Verhalten in Abhängigkeit vom Sein der Seele als vernünftiges Verhalten bestimmen läßt. Zetesis, exetasis, epimeleia. Zetesis ist das erste Merkmal der sokratischen Veridiktion (die Untersuchung). Exetasis ist die Prüfung [examen] der Seele, der Vergleich und die Prüfung [epreuve] der Seelen. Epimeleia ist die Sorge um sich selbst. Sokrates' Untersuchung des Sinnes, den man den Worten des Orakels geben sollte, hat ihn zu diesem Unternehmen der gegenseitigen Seelenprüfung geführt mit dem Ziel, jeden dazu anzustacheln, sich um sich selbst zu kümmern. Untersuchung, Prüfung, Sorge. Untersuchung dessen, was der Gott sagt, Prüfung der Seelen durch gegenseitigen Vergleich, Sorge um sich als eigentliches Ziel dieser Untersuchung: Sie sehen, daß wir es hier mit einer Gesamtheit zu tun haben, die die sokratische parrhesia, die mutige Veridiktion des Sokrates im Gegensatz zur politischen Veridiktion bestimmt, die ihrerseits nicht [in Form einer] Untersuchung durchgeführt wird, sondern sich als die Behauptung einer Person manifestiert, daß sie in der Lage sei, die Wahrheit zu sagen; die nicht die Prüfung und den Vergleich der Seelen praktiziert, sondern sich in ihrer Einsamkeit mutig an eine Volksversammlung oder an einen Tyrannen wendet, der sie nicht hören will; die nicht auf die epimeleia abzielt (die Menschen anzustacheln, sich um sich selbst zu kümmern), sondern den Leuten sagt, was sie tun sollen, und dann, nachdem dies gesagt wurde, sich von ihnen abwendet und sie ihren Kräften entsprechend mit sich selbst und mit der Wahrheit zurechtkommen läßt. Das berühmte Verbot des Dämons, das Sokrates gehärt hat, als er hervortreten [und] öffentlich auf der Rednerbühne hätte I20
s?rechen können, dieses berühmte Verbot des Dämons, das ihn zurückgehalten und ihn daran gehindert hat, sich auf den öf:entlichen Platz zu begeben, hat in der Tat eine Teilungslinie ;ezogen und, wie mir scheint, im griechischen und somit im 2bendländischen Denken die Trennung zwischen [einer] Praxis des politischen Wahrsprechens, die ihre Gefahren besitzt, und ::ner anderen Praxis des Wahrsprechens markiert, die sich ;anz anders gebildet hat, die ganz anderen Regeln gehorcht ',.:nd mit ganz anderen Zielen verbunden ist, die jedoch - das Beispiel und die Geschichte Sokrates' beweisen es zur Genü;e - genauso gefährlich ist. Folglich haben wir zwei Arten des :'lutes, die Wahrheit zu sagen, die sich um diese rätselhafte Li:eie herum abzeichnen und aufteilen, eine Linie, die von der Stimme des Dämons, die Sokrates zurückgehalten hatte, gezo;en bzw. markiert wurde. end nun möchte ich folgende Bemerkungen hinzufügen. In der Darstellung der anderen Form mutiger Veridiktion, jener 2.nderen Form der Veridiktion, die der Seins grund des ganzen ::rsten Teils der Apologie ist, diesem zugrunde liegt und ihn durchzieht, findet man leicht Hinweise auf andere Typen der "eridiktion, über die ich letztes Mal und vorletztes Mal gesprochen habe (die Veridiktion der Prophezeiung, die Veridik:ion der Weisheit, die Veridiktion der Lehre). Ich hatte Ihnen schematische und gewissermaßen synchronische Weise zu sagen versucht, daß man in der griechischen Kultur vier große Formen des Wahrsprechens finden könne: das Wahrsprechen des Propheten, das Wahrsprechen des Lehrers, des Technikers .des Mannes der techne) und dann die Veridiktion des Parrhesiasten. Ich glaube, daß die anderen drei Formen der Veridiktion (Prophezeiung, Weisheit und Lehre) in der Apologie des 50ierates explizit vorkommen. Sokrates hat bei seinem Versuch der Bestimmung, worin seine Mission besteht, ganz ausdrückdie unterscheidenden Punkte zu den anderen Formen der Veridiktion gekennzeichnet, und er hat gezeigt, wie er seinen eigenen Weg zwischen [diesen] verfolgte. Erstens - das haben wir vorhin gesehen, das war sogar unser I2I
Ausgangspunkt -, im Vergleich mit der prophetischen Veridiktion hat Sokrates in der Tat die Mission seiner parrhesia mit dem prophetischen Wort des Gottes begonnen, den man dort befragt hatte, wo er eben seinen prophetischen Diskurs hält, nämlich in Delphi. In diesem Sinne stützt sich also Sokrates' gesamte neue parrhesia - worauf er aus einer Reihe von Gründen großen Wert legt - auf die Prophezeiung des Gottes, was ihm erlaubt, den Vorwurf der Gottlosigkeit abzuweisen. Wir hatten aber auch gesehen, und das ist wichtig, daß Sokrates dieser Prophezeiung des Gottes oder, wenn Sie so wollen, der prophetischen Haltung und der Anhörung der wahren Rede des Propheten eine Reihe von Wendungen verleiht, indem er die Worte des Gottes einer Untersuchung unterzieht, die in einer Befragung umgesetzt wird und auf die Wahrheit gerichtet ist. Er hat das prophetische Wort und seine Wirkungen aus dem Bereich der Wirklichkeit, in dem seine Verwirklichung erwartet wird, in den Spielraum der Wahrheit transponiert, in dem man prüfen will, ob dieses Wort wirklich wahr ist. Es handelt sich also um die Transposition der prophetischen Veridiktion in den Bereich der Wahrheit. Zweitens gibt es in dem Text auch einen sehr offensichtlichen Bezug auf das Wahrsprechen der Weisheit, auf das Wahrsprechen des Weisen. Sie finden sie an der Stelle, wo SOkrates an die Anklage erinnert, deren Opfer er ist, eine sehr alte Anklage, die viel weiter zurückgeht als die des Anytos und des Meletos. Diese Anklage bestand in der Behauptung, daß Sokrates gottlos sei, daß er schuldig sei, daß er eine Ungerechtigkeit begangen habe (adikein), weil er versuchte zu erkennen, was sich im Himmel und unter der Erde zuträgt, und dadurch die schwächere Rede zur stärkeren machte (eine herkömmliche Formel, um auszudrücken, daß er zur Verwechslung des Falschen mit dem Wahren anreizte).39 Das Wort, das hier verwendet wird, ist zetein (suchen), dasselbe Wort, das Sokrates verwendete. Denn Sokrates will gerade zeigen, daß das, was er tut, im Gegensatz zu den gegen ihn erhobenen Anklagen, sich völlig von der zetesis unterscheidet, von jener Tätigkeit, die darin besteht, 122
2as zu suchen (zetein), was im Himmel oder unter der Erde vor sich gehen könnte. Bei r8d fordert er seine Zuhörer heraus, je::landen zu finden, der ihn von diesen Dingen so hätte reden hören. Er hat nie darüber gesprochen, was im Himmel und un,tr der Erde vorgeht, und außerdem zeigt er in der gesamten Apologie, daß das, womit er sich beschäftigt, überhaupt nicht 2as Sein der Dinge und die Ordnung der Welt ist, was hingegen 2er Diskurs der Weisheit zum Gegenstand hat. Er spricht nicht "'om Sein der Dinge und von der Ordnung der Welt, sondern '."on der Prüfung [epreuve] der Seele. Die sokratische zetesis sttht insofern im Gegensatz zu der des Weisen, der danach strebt, das Sein der Dinge und die Ordnung der Welt zu beschreiben, als es bei der zetesis (der Erforschung) der Seele um Seele und die Wahrheit der Seele geht. Es gibt also nicht nur eine Unterscheidung im Hinblick auf das prophetische Wahrsprechen, sondern auch eine Unterscheidung bzw. einen Gegensatz im Hinblick auf das Wahrsprechen der Weisheit. Schließlich kennzeichnet Sokrates drittens auch den Unterschied zwischen seiner Veridiktion und dem Wahrsprechen jener, die bestimmte Techniken kennen und besitzen und in der Lage sind, diese zu lehren. Auch hier sagt er es ganz ausdrücklich mit Bezug auf die gegen ihn erhobene Anklage, als man bthauptete, daß er versucht habe, die Untersuchungen, die er durchgeführt hatte, zu lehren (didaskein).40 Worauf er auch hier auf zweierlei Weisen antwortet. Auf die Sache bezogen und unmittelbar, indem er recht energisch verkündet, daß er sich nicht wie jene Sophisten, nämlich Gorgias, Prodikos oder Hippias, verhält, die ihr Wissen gegen Geld verkaufen und gewöhnliche Lehrer sind. 41 Aber dann antwortet er auch durch die ganze Apologie hindurch, indem er seine beständige Unwissenheit hervorkehrt und zeigt, daß er nicht wie ein Lehrer :-uhig und ohne Risiko denen, die wissen, sein eigenes Wissen beibringt bzw. das, was er zu wissen vorgibt oder zu wissen glaubt. Im Gegensatz dazu zeigt er den anderen mutig, daß sie nicht wissen und daß sie sich um sich selbst kümmern müssen. I23
Insgesamt begründet Sokrates also gegenüber den rätselhaften Worten des Gottes eine Untersuchung, eine Befragung, die nicht zum Ziel hat, die Verwirklichung dieser Worte abzuwarten oder sie zu verhindern. Er verschiebt die Wirkungen, indem er sie in einer Untersuchung der Wahrheit verankert. Zweitens macht er im Vergleich zu den Worten, der Veridiktion, dem Wahrsprechen des Weisen den Unterschied durch eine radikale Unterscheidung des Gegenstands fest. Er spricht nicht von derselben Sache, und ihre Untersuchung bezieht sich nicht auf denselben Gegenstandsbereich. Schließlich begründet Sokrates gegenüber der Rede des Unterrichts einen Unterschied durch eine Umkehrung, wenn Sie so wollen. Dort, wo der Lehrer sagt: Ich weiß, und: Hört mir zu, sagt Sokrates: Ich weiß nichts, und wenn ich mich um euch kümmere, dann nicht, um euch das Wissen beizubringen, das euch fehlt, sondern damit ihr lernt, euch um euch selbst zu kümmern, da mir klar ist, daß ihr nichts wißt. Sie sehen also, daß Sokrates in diesem Text der ApoLogie im Grunde zwei Dinge tut, die ich folgendermaßen zusammenfassen werde: Erstens, sein eigenes Wahrsprechen von den anderen drei großen [Modalitäten] des Wahrsprechens, denen er um sich herum begegnet (Prophezeiung, Weisheit, Lehre) radikal zu unterscheiden; zweitens, wie ich Ihnen erklärt habe, zu zeigen, inwiefern für diese Form der Veridiktion, die parrhesia, Mut notwendig ist. Aber dieser Mut soll nicht auf einer politischen Bühne zum Einsatz kommen, auf der sein Auftrag in der Tat nicht erfüllt werden könnte. Diesen Mut zur Wahrheit muß er in Form einer nicht-politischen parrhesia ausüben, einer parrhesia, die sich durch die Prüfung der Seele vollzieht. Dies wird nun eine ethische parrhesia sein. Als Schlußfolgerung möchte ich folgendes sagen. Man sieht hier, wie sich eine andere parrhesia abzeichnet, die man nicht der Gefahr der Politik aussetzen darf, zum einen, weil sie eine ganze andere Form aufweist, weil sie mit der Rednerbühne und den Formen der Rhetorik, die dem politischen Diskurs eigentümlich sind, unverträglich ist, und weil sie andererseits Gefahr I24
zum Schweigen gezwungen zu sein, gleichgültig, ob sie ---ersuchen würde, sich in einer Demokratie oder in einer Olig:rchie zu manifestieren. [Dennoch] ist diese parrhesia, die man --ar dem politischen Risiko bewahren muß, für den Staat nicht ",-eniger nützlich. Das wiederholt Sokrates unablässig durch :eie gesamte ApoLogie hindurch: Wenn ich euch dazu anstache:e, euch um euch selbst zu kümmern, dann bin ich für den ganzen Staat von Nutzen. Und wenn ich mein Leben schütze, iann gerade im Interesse des Staates. Im Interesse des Staates :iegt es, den wahren Diskurs, die mutige Veridiktion zu schützen, die die Bürger anhält, sich um sich selbst zu kümmern. Schließlich wird sich die Philosophie - als mutige Veridiktion, als nicht-politische parrhesia, die jedoch in einer wesentlichen Beziehung zum Nutzen für den Staat steht - entlang der gesamten Kette dessen entfalten, was man die große Kette der Sorge und der Fürsorge nennen könnte. Weil der Gott sich um :iie Menschen sorgte, hat er Sokrates als den weisesten Menschen angerufen. Der Gott hat sich um Sokrates gesorgt und sorgt sich unablässig um ihn, indem er ihm ein Zeichen gibt, er dieses oder jenes nicht tun soll. Und als Antwort auf dieSe Sorge der Götter und des Gottes wird Sokrates sich darum sorgen, herauszufinden, was der Gott gemeint hat. Mit einem Eifer, der charakteristisch für seine Sorge ist, wird er versuchen zu prüfen, was der Gott gesagt hat. Das führt ihn, indem er sich '-,rn sich selbst sorgt, zur Sorge um die anderen, aber auf eine solche Weise, daß er ihnen zeigt, daß sie sich ihrerseits um sich selbst, um ihre phronesis, die aLetheia und ihre psyche (die Ver:lunft, die Wahrheit und die Seele) sorgen müssen. Daher scheint es - und das wird die letzte Schlußfolgerung für iiese erste Stunde sein -, daß man hier in diesem gesamten erSIell Teil der Apologie ein Zusammenfallen zwischen der Begründung eines Diskurses der Wahrheit, der sich von der Pro?hezeiung, von der Weisheit, von der Lehre unterscheidet, und :ier Bestimmung einer philosophischen parrhesia erkennen ~ann, die sich von der politischen parrhesia unterscheidet, aber ier Todesgefahr genauso ausgesetzt ist und sich um das InterI25
esse von jedem und allen kümmert. Schließlich erscheint die Sorge um sich selbst im Anschluß an das Verhältnis zu den Göttern, das Verhältnis zur Wahrheit und das Verhältnis zu den anderen als grundlegendes Thema dieses mutigen und philosophischen Diskurses und als Hauptziel dieser parrhesia. Daher ist, wie mir scheint, der ganze Zyklus von Sokrates' Tod von der Festsetzung, der Begründung einer Diskursform in ihrer nicht-politischen Besonderheit durchzogen, deren Anliegen, deren Sorge die Sorge um sich selbst ist. Lautete denn nicht - hier komme ich auf mein Eichhörnchenversteck zurück - der erste Satz der Apologie wie folgt: Meine Feinde sind Lügner, meine Feinde können geschickt reden, und sie sind sogar so geschickt im Reden, daß sie mich beinahe dazu bringen, mich selbst zu vergessen ?42 Das Thema der Sorge um sich selbst ist durchaus gegenwärtig und kündigt gewissermaßen schon wie eine Art von negativer Ouvertüre alles an, was sich anschließend in der Apologie und den anderen Texten abspielen wird, die sich auf Sokrates' Tod [beziehen], d. h. das Thema der Sorge um sich. Erinnern wir uns auch an Sokrates' letzte Worte, jene letzten Worte, die die kleine Notiz (notation), die kleine Bitte an seine Freunde beschließen: Denkt daran, Asklepios einen Hahn zu opfern. Tut es, vergeßt es, vernachlässigt es nicht: Me amelesete. 43 Dasselbe Wort »Sorge«, diesen Ausdruck, der das Vergessen oder das Erinnern, die Nachlässigkeit und die Sorgfalt bezeichnet, alle diese Ausdrükke finden wir die ganze Apologie, den Kriton und den Phaidon hindurch wieder. Aber auch wenn uns von einem Ende zum anderen dieses selbe Thema wiederbegegnet (nicht vergessen, nicht vernachlässigen, sich erinnern), muß man wohl doch feststellen, daß es bei diesen letzten Worten von Sokrates: seid nicht nachlässig (me amelesete), offensichtlich oder jedenfalls augenscheinlich nicht um die Sorge um sich geht, da es sich einfach um eine rituelle und religiöse Vorschrift handelt. Man muß Äskulap einen Hahn opfern. Darum soll man sich kümmern, das soll man nicht vernachlässigen. Warum begegnen wir also - das war mein Problem, nachdem uns im Laufe dieses lan126
gen Todeszyklus des Sokrates das Thema der Sorge und all die \17örter wie epimeleia, epimeleisthai, amelein, melei moi begegnet sind - noch ein letztes Mal einem Wort, das aus derselben \Vurzel gebildet ist und bei dem es auch um diese Sorge geht, aber dieses Mal nicht mehr auf jene große Wirklichkeit der Seeder Wahrheit und der phronesis angewandt, sondern einfach auf einen Hahn, einen Hahn, der Äskulap geopfert wird? Diese Skurrilität, diese Ironie, diese Merkwürdigkeit konnte ich selbst nicht auflösen. Dann las ich den Text von Dumezil. Nun möchte ich Ihnen in der kommenden Stunde erklären, wie Dumezil das Problem dieses letzten Satzes von Sokrates löst, welchen Sinn er ihm [zuweist] und wie man, glaube ich, ganz leicht die Interpretation dieser Themen, die ich angesprochen habe, zusammenfügen kann.
Anmerkungen Platon, Des Sokrates Verteidigung, übers. v. F. Schleiermacher, a. a. 0., S.7: »Wahres, daß ich das Wort heraussage, haben sie gar nichts gesagt« (17a), »ihr aber sollt von mir die ganze Wahrheit hören« (17b). 2 Ebd., I 7a -b, S.7 (der Ausdruck deinos legein wird zweimal verwendet, aber in der böswilligen Darstellung, die seine Ankläger von Sokrates gegeben haben). 3 »Am meisten aber habe ich eins von ihnen bewundert unter dem vielen, was sie gelogen, dieses, wo sie sagten, ihr müßtet euch wohl hüten, daß ihr nicht von mir getäuscht würdet, weil ich gewaltig wäre im Reden (deinos legein )« (ebd.). 4 »Ich meinesteils aber hätte ja selbst beinahe über sie meiner selbst vergessen;« (ebd.). 5 ,,0 Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig: entrichtet ihm den und versäumt es ja nicht (me amelesete)!«(Platon, Phaidon, II8a, übers. v.F. Schleiermacher, in: Platon: Sämtliche Werke, 1. Bd., Heidelberg 1982, S. 8II). 6 Platon, Des Sokrates Verteidigung, 31b, S.23-24. - "Vielleicht könnte auch dies jemandem ungereimt dünken, daß ich, um Einzelnen zu raten, umhergehe und mir viel zu schaffen mache, öffentlich (demosia) aber mich nicht erdreiste, in eurer Versammlung auftretend (anaibainon eis to plethos) dem Staate zu raten (symbouleuein te polei)« (ebd., 3IC, S.24). 5 Aristoteies, Staat der Athener, § 14, übers. v. o. Gigon, Zürich 1955, S·33 8-339· I
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9 Plutarch, »SoIon und Poplicola«, § 30, in: Große Griechen und Römer, Bd. I, ein gel. u. übers. v. K. Ziegler, Zürich, 1954, S. 247-248. 10 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, a. a. 0., Bd. I, § 49, Hamburg 2008, S. 25. 11 Ebd. 12 Ebd. 13 Platon, Des Sokrates Verteidigung, 3 Ia-b, S. 23-24. 14 Ebd., 3 Id, S. 24· 15 Ebd., 3 Id-e, S. 24· 16 Vgl. eine erste Analyse dieser Beispiele in der Vorlesung vom 2. März 1983, in Le Gouvernement de soi et des autres, a. a. 0., S. 291-295; dt.: S·397-4 02 . 17 Platon, Des Sokrates Verteidigung, 32b, S. 25. 18 Ebd., Fb-c, S. 25. 19 Ebd., Fc-d, S.25· 20 Ebd., 3 le, S. 24. 21 Ebd., 2Ia, S. 1 I. 22 Ebd., 2Ib, S. II. 23 »Was meint doch wohl der Gott (tipote legei ho theos)? Und was will er etwa andeuten? (kai te pote ainittetai)« (ebd., 2Ia, S. II). 24 »Endlich wendete ich mich gar ungern zur Untersuchung der Sache auf folgende Art (epi zetesin autou toiauten tina etrapomen)« (ebd., 21b, S. 11). 25 »Ich ging zu einem von den für weise Gehaltenen, um dort, wenn irgendwo, das Orakel zu überführen (elenxon to manteion)« (ebd., 21C, S. II-12). 26 »Ich muß euch wohl mein ganzes Abenteuer (ten emen planen) berichten« (ebd., 22a, S. 12). 27 »... mit was für Arbeiten gleichsam ich mich gequält habe, damit das Orakel mir ja ungetadelt bliebe (hina moi kai anelenktos he manteia genoito )« (ebd.). 28 V gl. die Vorlesung vom 19. Januar 1983, in: Le Gouvernement de soi ... 29 Platon, Des Sokrates Verteidigung, 2IC, S. 12. 30 Ebd., 2IC-2Ie, S. 12-13. 31 »Aus dieser Nachforschung (exetaseos) also, ihr Athener, sind mir viele Feindschaften entstanden« (ebd., 2Ie, S. 13). F »[ ... ] und freuen sich zu hören, wie die Menschen untersucht werden (exetazomenoz)« (ebd., 23C, S. 14). 33 Vgl. Le Gouvernement de soi ... , S. 71-104; dt.: S. 1°4-149. 34 Platon, Des Sokrates Verteidigung, 23e, S.14-15. 35 Ebd., 28b, S. 20. 36 Ebd. 37 »Wohin jemand sich selbst stellt, in der Meinung, er sei da am besten, oder wohin einer von seinen Obern gestellt wird, da muß er, wie mich dünkt, jede Gefahr aushalten und weder den Tod noch sonst irgend etwas in Anschlag bringen gegen die Schande« (ebd., 28d, S. 20).
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3S " ... für Einsicht aber und Wahrheit und für deine Seele, daß sie sich aufs beste befinde, sorgst du nicht ... « (ebd., 2ge, S. 22). 39 »Sokrates frevelt (adikei) und treibt Torheit, indem er unterirdische und himmlische Dinge untersucht (zeton) und Unrecht zu Recht macht (ton hetto logon kreitto poion) und dies auch andere lehrt (kai allous ta auta tauta didaskon)« (ebd., 19b, S. 9; Anklagepunkte, die Sokrates schon in 18b, S. 8, erwähnt hat). -,-c Zur phronesis (ins Lateinische mit prudentia übersetzt) vgl. das klassische Werk von P. Aubenque, La Prudence chez Aristote, Paris 1963; dt.: Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles, Hamburg 2007. -'-I Platon, Des Sokrates Verteidigung, Ige, S. 10. -'-2 Ebd., 17a, S.7. -'-} Vgl. oben, Anm. 5.
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Vorlesung 3 (Sitzung vom 15. Februar 1984, zweite Stunde)
Sokrates' letzte Worte. - Die großen klassischen Interpretationen. - Dumezils Unbehagen. - Das Leben ist keine Krankheit. - Die Lösungen von Wilamowitz und Cumont. - Kriton, geheilt von der vorherrschenden Meinung. - Die falsche Meinung als Krankheit der Seele. - Die Einwände von Kebes und Simmias gegen die Unsterblichkeit der Seele. - Die Solidarität der Seelen im Diskurs. - Rückkehr zur Sorge tim sich selbst. - Sokrates' Vermächtnis.
_ Einige von Ihnen haben das Buch von Dumezil gelesen. Oder? [die Zuhörer} - Noch nicht. - Noch nicht? Es gibt etwas, das ich amüsant finde, nämlich wie die Zeitungen darüber berichten. Immerhin haben Sie wohl bemerkt, daß das Buch aus zwei Teilen besteht. Der eine ist N ostradamus gewidmet, der andere Platon. Ich möchte diese Aneinanderreihung und Gegenüberstellung der beiden Texte nun gern kommentieren, aber ich werde das nicht sofort tun, weil es einen zu großen Bruch gegenüber dem darstellen würde, worüber ich im Augenblick spreche. Ich glaube, daß es besser ist, wenn man die Fäden in der Hand behält. Ich werde jetzt also über den zweiten der Texte sprechen, die Dumezil in diesem Buch über den schwarzen Mönch vereint hat, über den Text, der Platon gewidmet ist. Wenn ich dann noch Zeit habe, heute oder vielleicht nächstes Mal, werde ich versuchen, Ihnen von meinem persönlichen Standpunkt aus, der in keiner Weise die Ansicht Dumezils selbst wiedergibt, zu sagen, was man aus der Tatsache, daß diese beiden Texte in der Tat nebeneinandergestellt wurden, herauslesen, entziffern, erraten oder erkennen kann. Halten wir uns nun an den Text über Platon. Wenn Sie die Zeitungen lesen (das ist keine Pflicht), konnten Sie feststellen, daß die renommiertesten Zeitungen von einem anderen Buch Dumezils sprechen, das zur selben Zeit erschienen ist (eine Studie 13°
zur Mythologie),l und sich darauf beschränken, in den Fußnoten eines gelehrten Aufsatzes, der dem anderen Buch gewidmet ist, darauf hinzuweisen, daß es ein Buch mit dem Titel Der schwarze Mönch gibt, das intime Gedanken enthält, und damit basta. Daneben gibt es jene, die zwar von diesem Buch sprechen und darüber berichten, aber nicht über den Text, der sich auf Platon bezieht, so als ob das ganze Buch )Jostradamus gewidmet wäre. Wenn es tatsächlich seitens eines bestimmten wissenschaftlichen establishments eine gewisse Schwierigkeit geben sollte zuzugeben, daß Dumezil über Nostradamus spricht, so hat das paradoxerweise zur Folge, daß der Anschein erweckt wird, daß es noch schwieriger ist zuzugeben, daß Dumezil über Platon spricht, oder [vielmehr] das zuzugestehen, was er tatsächlich über Platon gesagt hat. In der Tat-wie gesagt, werde ich versuchen, diesen Umstand zu kommentieren, wenn wir über Nostradamus sprechen - ist es sehr eigenartig zu sehen, daß dieser Text (die letzten Zeilen des Phaidon und ganz konkret Sokrates' letzte Worte, die von Platon berichtet werden) von jeher in der Geschichte der Philosophie eine Art von blindem Fleck, von rätselhaftem Punkt oder zumindest eine Art von kleiner Lücke war. Alle Texte Platons [wurden] weiß Gott in allen Richtungen kommentiert; [dennoch] stellt sich heraus, daß diese letzten Worte des Sokrates, der doch immerhin die abendländische Philosophie begründet hat, in ihrer seltsamen Banalität ohne Erklärung geblieben sind. Sie kennen den Text. Ich lese ihn aber trotzdem vor: »Als ihm nun schon der Unterleib fast ganz kalt war, da enthüllte er sich, denn er lag verhüllt, und sagte, und das waren seine letzten Worte [ho de teleutaion ephthenxato: das sind Sokrates' letzte Worte; M. E] >0 Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig: entrichtet ihm den und versäumt es ja nicht!< [alla äpodote kai me amelesete: bezahlt die Schuld; die französische, Übersetzung sagt »meine Schuld« ... , womit Dumezil nicht einyerstanden wäre, M. E].«2 Bezahlt die Schuld/vergeßt es nicht: die positive/negative Wiederholung (tut dies und nicht das Gegenteil) ist im Griechischen eine traditionelle rhetorische 13 1
Form. Dennoch kann der Gebrauch einer geläufigen rhetorischen Form, wie so oft bei den Griechen und sehr häufig auch bei Platon, von zusätzlichen und manchmal wesentlichen Bedeutungen überlagert werden. Jedenfalls ist genau dieser Text Gegenstand von Dumezils Analyse. Im Augenblick von Sokrates' Tod haben wir also diese Ermahnung seiner Schüler, Äskulap einen Hahn zu opfern, was für jeden Kenner der griechischen Kultur, der griechischen Riten und der Bedeutung Äskulaps nur auf eine ganz bestimmte Weise gedeutet werden kann. Asklepios ist der Gott, der nur eines für die Menschen tut, nämlich sie von Zeit zu Zeit zu heilen. Asklepios das Opfer eines Hahns darzubringen ist die herkömmliche Handlung, mit der man ihm dankt, wenn er, so betont Dumezil, jemanden tatsächlich geheilt hat, d. h. nach vollbrachter Heilung. 3 Das ist also der Ausgangspunkt. Soviel wissen wir. Nun wurde dieser so formulierte Text, der sich auf diese Art von Praxis bezieht, aber auf eine ziemlich geläufige Weise interpretiert, über die sich Dumezil lustig macht, indem er sie durch Verse von Lamartine paraphrasiert. Sokrates hätte demnach eine Schuld gegenüber Asklepios, dem heilenden Gott, gehabt. Wovon wäre Sokrates also geheilt worden, daß er Asklepios auf diese Weise danken mußte und ihm gegenüber in der Schuld stand? Worin besteht diese Schuld, worum handelt es sich? Nun, Sokrates wäre durch seinen Tod von der Krankheit des Lebens geheilt worden. Lamartines Vers lautet folgendermaßen: »Aux dieux liberateurs, dit-il, qu' on sacrifie! Ils m' ont gueri! - De quoi? dit Cebes. - De la vie.« (Man bringe den freiheitsspendenden Göttern ein Opfer dar!, sagte er. Sie heilten mich! Wovon? fragte Kebes. - Vom Leben.)« Über diese Interpretation empört sich nun Dumezil und sagt: Sokrates hat mit seinem sophistischen Kollegen Shakyamuni nichts zu tun. 4 Sokrates war kein Buddhist, und es ist mitnichten eine griechische, platonische oder sokratische Vorstellung, daß das Leben eine Krankheit sei und daß der Tod uns vom Leben hei-· le. Anhand der Verse von Lamartine hat Dumezil eine vollständige Interpretation versinnbildlicht. 5
Tatsächlich ist diese Interpretation jedoch weder lamartinisch :lOch buddhistisch, sondern in der Geschichte der Philosophie ~anz traditionell. Ich werde bloß ein paar Beispiele nennen. In der vorletzten Bude-Ausgabe des Phaidon findet man an dieser Stelle eine kleine Anmerkung, in der Robin schreibt: Indem Sokrates dem Asklepios einen Hahn opferte, wollte er ihm daiür Dank sagen, daß seine Seele schließlich von dem Übel ge~1eilt war, mit dem Körper verbunden zu sein. Sokrates' Dank:,arkeit, erklärt Robin, »richtet sich also an den Gott, der die Gesundheit wieder herstellt«.6 Leben heißt krank zu sein, Sterben bedeutet dann die Wiederherstellung der Gesundheit. Das ist [also] Robins Interpretation, die eigentlich nicht budihistisch ist. In seinem Kommentar zum Phaidon 7 sagt Burnet, iaß Sokrates auf ein geheiltes Erwachen hofft wie jene, die die Gesundheit durch den Schlaf im Tempel des Asklepios erlangJen. Die Idee ist dieselbe, aber ein wenig modifiziert, ein wenig ':erschieden. Hier stellt der Tod gewissermaßen ein Einschla:en dar, das [jenem] gleicht, dem sich die Menschen unterzo~en, die Asklepios in seinem Tempel um Heilung baten. Sie schliefen ein, sie hatten einen Traum, und dieser Traum zeigte :~'1llen, wie sie gesund werden konnten. Nun wünscht also der sterbende Sokrates, daß sein Tod eine Art von Schlaf sei, aus iem er genesen erwachen könnte. Auch Burnet war kein Bud:::hist. Man findet diese Interpretation auch bei Nietzsche. Im Aphorismus 340 des IV. Buches der Fröhlichen Wissenschaft, _:est man folgendes: »>0 Kriton, ich bin dem Asklepios einen Hahn schuldig.< Dieses lächerliche und furchtbare >letzte '\fort< heißt für den, der Ohren hat: >0 Kriton, das Leben ist :::ne Krankeit !«<8 Wir haben also nicht nur Lamartine, sondern "'.lch Nietzsche. Vielleicht werden sie nun um so überzeugter S,:hwerwiegender und wichtiger jedoch ist der Umstand, daß :::lan in der Spätantike einen Kommentar findet, den Olympio:::oros, einer der Großen des Neoplatonismus, dem Phaidon Absatz I03) gewidmet hat. 9 Wozu das Hahnopfer an AsklepiJS? Damit, so Olympiodoros, das geheilt wird, was die Seele
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5e:n.
en te genesi (im Werden, in der Zeit) erlitten hat. Die Seele wird also durch den Tod in die Ewigkeit eingehen und der genesis (dem Werden, seinen Veränderungen und seinem Verfall) entrinnen, und indem der Körper stirbt, wird sie folglich von allen Übeln geheilt werden, die mit der genesis verbunden sind. Das ist zwar nicht ganz die Vorstellung, daß das Leben selbst eine Krankheit ist, aber alle diese Vorstellungen sind miteinander verwandt, und man kann sagen, daß es diese Interpretation der letzten Worte des Sokrates tatsächlich seit fast zweitausend Jahren gibt, der zufolge ein Opfer angemahnt wird, um dem gegenwärtigen und über diesen Tod wachenden Gott dafür zu danken, daß er Sokrates von der Krankheit des Lebens befreit hat. Dennoch waren mehrere Leute mit dieser Interpretation nicht sonderlich zufrieden. Insbesondere machten zwei davon den vorrangigen, grundsätzlichen und wesentlichen Grund geltend, daß die Vorstellung, das Leben sei eine Krankheit, deren Heilung der Tod darstellt, keinesfalls mit der ganzen sokratischen Lehre übereinstimmt und zusammenpaßt. Gerade Nietzsche hat das gesehen (Aphorismus 340 der Fröhlichen Wissenschaft, der den Titel trägt Der sterbende Sokrates). Denn auch wenn er sagte, daß der Sinn, den man der Formel »Kriton, ich bin dem Äskulap einen Hahn schuldig« zuweisen sollte, durch »0 Kriton, das Leben ist eine Krankheit« auszudrücken sei, so hat er doch innerhalb derselben Passage diese traditionelle Interpretation reformuliert: »Ich bewundere die Tapferkeit und Weisheit des Sokrates in allem, was er tat, sagte - und nicht sagte. Dieser spöttische und verliebte Unhold und Rattenfänger Athens, der die übermütigsten Jünglinge zittern und schluchzen machte, war nicht nur der weiseste Schwätzer, den es gegeben hat: er war ebenso groß im Schweigen. Ich wollte, er wäre auch im letzten Augenblicke des Lebens schweigsam gewesen - vielleicht gehörte er dann in eine noch höhere Ordnung der Geister. War es nun der Tod oder das Gift oder die Frömmigkeit oder die Bosheit - irgend etwas löste ihm in jenem Augenblicke die Zunge, und er sagte: >0 Kriton, ich bin
iem Asklepios einen Hahn schuldig.< Dieses lächerliche und :'urchtbare >letzte Wort< heißt für den, der Ohren hat: >0 Kri:on, das Leben ist eine Krankheit!< Ist es möglich! Ein Mann ?-ie er, der heiter und vor aller Augen wie ein Soldat gelebt hat - war Pessimist! Er hatte eben nur eine gute Miene zum Leben gemacht und zeitlebens sein letztes Urteil, sein innerstes Gefühl versteckt! Sokrates, Sokrates hat am Leben gelitten! - - 'er hat noch seine Rache dafür genommen - mit jenem ver~:üllten, schauerlichen, frommen und blasphemischen Worte! ~\iußte ein Sokrates sich auch noch rächen? War ein Gran Großmut zu wenig in seiner überreichen Tugend? - Ach Freunde! Wir müssen auch die Griechen überwinden !«1O':~ietzsche hat also völlig klar gesehen, daß zwischen diesen '~\'orten, die Sokrates im letzen Augenblick seines Lebens aussprach, und dem ganzen Rest dessen, was er gesagt und getan hatte und was er während seines ganzen Lebens gewesen war, zwischen diesen Worten und seinem Leben ein Widerspruch bestand. Und er löst diesen Widerspruch auf, indem er sagt, daß Sokrates schwach wurde und nun dieses Geheimnis ::nthüllt hat, dieses dunkle Geheimnis, das er nie ausgespro:hen hatte, wodurch er im letzten Augenblick alles, was er gesagt und getan hatte, entkräftet. Dasselbe Gefühl des Unbehagens führt Dumezil zu völlig an:leren Schlußfolgerungen über den Sinn, den man diesem Text zuweisen sollte. Jedenfalls kann man die Behauptung, daß die interpretation »Das Leben ist eine Krankheit« nicht funktio:cieren kann, daß man sie nicht einfach akzeptieren und gerade,,;egs und im selben Atemzug alles, was Sokrates zuvor gesagt :,at und was er jetzt sagt, sehen und denken kann, durch eine Reihe von Texten begründen - darunter natürlich viele Texte ::n ganzen Werk Platons, aber auch manche Texte, die sich ganz ~n der Nähe von diesem hier befinden und im Phaidon selbst stehen. Daß das Leben keine Krankheit ist, daß das Leben an sich kein
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. Die Lesung des Zitatendes ruft einen Schwall von Gelächter in der Zu2örerschaft hervor.
Übel ist, wird deutlich ausgesprochen, und zwar, wie gesagt, nicht nur im Rest des platonischen Werkes, sondern eben gerade im Phaidon, ganz in der Nähe unserer Stelle. Ein Beispiel dafür haben wir im Abschnitt 62b: Das ist der berühmte Textder übrigens Gegenstand vieler Diskussionen war, vielleicht werden wir bei Gelegenheit darauf zurückkommen -, in dem Sokrates ein pythagoreisches Apophtegma zitiert, demzufolge »wir uns in der phroura befinden«l1- was manchmal mit »Gefängnis« übersetzt wird, manche durch »Gehege« oder »Verwahranstalt« wiedergeben und andere auch mit »militärischer Wachposten« übersetzen (wir sind »auf dem Wachposten«, je nachdem> ob man phroura einen passiven oder aktiven Sinn zuweist).12 Wie dem auch sei, woran man jedoch festhalten sollte und was manche Kommentatoren völlig zu vergessen scheinen, ist, daß Platon, nachdem er diesen pythagoreischen »Spruch« zitiert hat, hinzufügt: Ach wißt ihr, das ist doch ein dunkler und schwer zu entziffernder Begriff (ou radios diidein).13 Es ist ziemlich schwierig zu entscheiden, was er bedeuten soll; ich verstehe ihn jedenfalls folgendermaßen: Die Götter kümmern sich um uns (epimelesthai - tragen Sorge für uns, zeigen Fürsorge für uns) und wir sind ihre ktemata (ihr Besitz oder wahrscheinlicher ihre Herde ).14 Auf jeden Fall-lassen wir das Problem der phroura beiseite wird hier deutlich darauf hingewiesen, daß wir in dieser Welt Gegenstand der Sorge und Fürsorge der Götter sind. Deshalb, glaube ich, kann man dieser Passage keinesfalls den Sinn und die Bedeutung zuweisen: Wir befinden uns in einem Gefängnis, das von den Göttern bewacht wird, weil die epimeleia und das epimelesthai immer positive Tätigkeiten bezeichnen. Die epimeleia ist nicht die Überwachung der Sklaven durch einen Zuchthauswächter, sie ist nicht die Überwachung von Gefangenen durch einen Gefängniswärter. Vielmehr ist sie die positive Fürsorge eines Familienvaters für seine Kinder, eines Hirten für seine Herde, eines guten Herrschers für die Bürger seines Landes. Sie ist die Fürsorge der Götter gegenüber den Menschen. Wir befinden uns hier im Bereich der Fürsorge der Göt-
:cr und deshalb, so Platon, darf man sich nicht umbringen. Wir :;:önnen diesem Wohlwollen und dieser Fürsorge der Götter ::nd nicht diesem Gefängnis - nicht entrinnen. Daher ist es nicht möglich, die Vorstellung eines Lebens als Krankheit, von iem man durch den Tod befreit werden würde, mit dieser Vors:ellung in Einklang zu bringen, daß wir hienieden unter der Aufsicht und der Fürsorge der Götter stehen. I:n Abschnitt 69d-e finden wir jene kurze Bemerkung, die :eicht überlesen wird, wo Sokrates sagt: »[Ich halte dafür], auch iort [dort, d. h. in der anderen Welt und nicht hier, d. h. auf Erien; M. F.] nicht minder vortreffliche Geister (despotaz) und Freunde anzutreffen als hier.«15 Die vortrefflichen Geister sind iie Götter - die Götter, die schon da sind und von denen wir ~erade erfahren haben, daß sie sich um die Menschen küm:nern. Daneben gibt es vortreffliche Freunde, auch wenn Sogates in dem Text wiederholt die Unannehmlichkeiten anspricht, die man im Staat mit lästigen Bürgern haben mag, die einen verfolgen. Man findet dort also - folglich ist das ein Grund, den Tod nicht zu fürchten - vortreffliche Geister und ~te Freunde, wie man sie auch hier findet. Das beweist zwar, daB es zwischen hier und dort wohl einen Unterschied gibt, :md dieser Unterschied wird natürlich darin bestehen, daß dort besser ist als hier. Aber das bedeutet keineswegs, daß wir :-:ier wie Kranke wären, die danach strebten, sich von ihrer Krankheit zu befreien oder davon zu genesen. ~\lan sollte sich übrigens daran erinnern, daß Sokrates durch ien ganzen Text des Phaidon hindurch, während des ganzen Todeszyklus und im gesamten Werk Platons als derjenige er5~heint, der per definitionem ein philosophisches Leben führt, =1n reines Leben, ein Leben, das von keiner Leidenschaft, von ~.;.einem Begehren, von keinem unbändigen Verlangen, von keiner falschen Meinung getrübt wird. Genau dieses Leben ist es iieses völlig ruhige, reine, selbstbeherrschte Erdenleben - das Sokrates im Absatz 67a anspricht, wenn er sagt, daß das philosophische Leben darin besteht, »so viel wie möglich nichts mit iem Leib zu schaffen noch gemein [zu] haben, was nicht
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~"~i:te?
höchst nötig ist, und wenn wir mit seiner Natur uns nicht anfüllen, sondern uns von ihm reinzuhalten, bis der Gott selbst uns befreit«.16 So stellt Sokrates sein eigenes Leben dar. Er löst sich nicht vom Leben ab, sondern innerhalb des Lebens löst er sich von seinem Körper, was offenbar etwas ganz anderes ist. Aber bis zu dem Augenblick, da die Götter uns ein Zeichen geben (d. h. bis zu dem Augenblick unseres Todes), faßt er die Möglichkeit ins Auge, auf diese Weise, unbefleckt und rein zu leben. Wie könnte man dieses unbefleckte und reine Leben des Sokrates als eine Krankheit auffassen? Ich beschränke mich darauf, diesen Texten einen weiteren hinzuzufügen, den man in der Apologie findet und der gewissermaßen noch klarer ist und die Vorstellung, daß das Leben eine Krankheit sein könnte, aufs entschiedenste, wie mir scheint, zurückweist. Sokrates empfiehlt seinen Richtern (im dritten und letzten Teil der Apologie), sich jener Wahrheit bewußt zu werden, »daß es für den guten Mann [d.h. natürlich für Sokrates, M.F.] kein Übel gibt weder im Leben noch im Tode, noch daß je von den Göttern seine Angelegenheiten [die des guten Mannes; M. F.] vernachlässigt werden«.17 Sie sehen also, wie hier die verschiedenen Themen, die ich angesprochen habe, deutlich miteinander verknüpft sind. Der Satz »noch daß je von den Göttern seine Angelegenheiten vernachlässigt werden« ist die Übersetzung des Griechischen oude ameletai hypo theon ta toutou pragmata. Das heißt: Die Angelegenheiten dieses Mannes (ta toutou pragmata) werden von den Göttern nicht vernachlässigt. Wir haben es hier mit dem Thema der epimeleia, des epimelesthai (für etwas Sorge tragen) und des ameleisthai (vernachlässigen) zu tun. Die Götter kümmern sich also um die Angelegenheiten des weisen Mannes, und daher gibt es für ihn kein mögliches Übel, weder in diesem Leben noch im anderen. Wie will man also angesichts dieser Reihe von Texten (und anderen aus der Apologie und dem Phaidon) annehmen, daß es sich bei dem Opfer an Äskulap um den Dank gegenüber dem Gott handelt, der einen von der Krankheit des Lebens erlöst
Sokrates hat ein so weises, so vom Körper abgelöstes =-cben geführt, für das es hienieden gar kein Übel geben kann. =:-: dem Augenblick, da er sterben wird, da er den Tod akzep::trt, da er glücklich ist zu sterben, sagt Sokrates weder noch :::tnkt er noch hat er jemals gesagt oder gedacht, daß das Leben ::ine Krankheit sei. Die letzten Worte des Sokrates sind also s,:nderbar rätselhaft, weshalb wir einerseits annehmen müssen, J"l~ die Opfergabe für Asklepios uns eigentlich in den Innen:-wm eines Rituals führt, das sich auf die Krankheit bezieht, :.:nd daß andererseits der Tod für Sokrates nicht an sich als Hei~::ng betrachtet werden kann, weil das Leben an sich keine :;::ankheit sein kann. Worin besteht also diese Krankheit, von .::t: die Menschen wirklich befreit wurden und für die ein Op:te nötig ist? ::)iese Schwierigkeit - die obzwar selten dunkel gefühlt, doch :-:iemals vor Dumezil formuliert wurde - hat übrigens eine Rei:-~t \~on Kommentatoren dazu geführt, andere Lösungen vornschlagen. Nietzsche, der die Diskrepanz zwischen der Lehre :::,,5 Sokrates und der Interpretation »das Leben ist eine Krank.-:cir« genau gespürt hat, hatte folgende Vorstellung: Sokrates -:qlrde schwach und hat sein Geheimnis im letzten Augenblick ::cisgegeben. Es gibt jemanden, der offenbar gewisse Gründe ::atte, dem Vorschlag von Nietzsche nicht zu folgen, nämlich ·:X~ilamowitz.18 Wilamowitz hat sich aus der Affäre gezogen, ::-:dem er sagte: Wenn man nicht umhin kann anzunehmen, daß ::5 sich um eine Krankheit handelt, wenn es aber offensichtlich nicht um das Leben als Krankheit geht, dann muß Sokrates ::;)en früher eine Krankheit gehabt haben (die wir nicht genau :o:ennen), und im Augenblick seines Todes erinnert er sich an ,:c. 19 Wilamowitz ist immerhin jemand, den man beachten sollte. Es gibt die Lösung von Frantz Cumont, der im Compte ~2ndu de I'Academie des InsC"fiptions et Beiles Lettres von 1943 Slgt: Ja natürlich ist dieses Äskulap darzubringende Hahnein Heilungsritus, [die] Antwort auf eine Heilung. Man s.::llre aber nicht vergessen, daß der Hahn ein Tier persischen ~ rsprungs ist und daß in der persischen Mythologie der Hahn
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jenes Tier ist, das die Seelen leitet und sie auf ihrem Weg zur Hölle beschützt. Es handelt sich im Augenblick von Sokrates' Tod hier wohl um ein Echo oder die Erinnerung an die Einführung dieses persischen Hahns. 20 Auf diese Weise wird die persische Mythologie bemüht, ein Problem zu lösen, das für Cumont zumindest in den Begriffen des griechischen Denkens nicht ganz lösbar zu sein schien. Was tut nun Dumezil angesichts dieser Sachlage? Erstens räumt er ein - weil er um dieses Zugeständnis nicht herumkommt -, daß es wohl um eine Krankheit geht. Äskulap :::: Hahn:::: Krankheit. 2l Zweitens kann es sich nicht nur um eine vorübergehende, entfernte und vergessene Krankheit handeln, wie Wilamowitz meinte. Da es Sokrates' letzte Worte sind, die in dem Dialog so feierlich eingeführt werden, geht es wohl um eine ernste Krankheit. Schließlich sollte man nicht wie Nietzsche annehmen, daß Sokrates schwach wurde. Er ist nicht schwach geworden, sondern hat im letzten Augenblick gesagt, was für ihn in seiner Lehrtätigkeit am wichtigsten und offensichtlichsten war. Diesen wichtigsten und offensichtlichsten Punkt seiner Lehrtätigkeit hat er nur wiederholt. Sie werden sehen, daß er ihn in der Tat wiederholt. Wofür soll man also Äskulap danken, worin besteht diese Krankheit, deren Heilung diese allerletzte Geste der Dankbarkeit fordert? Nun, Dumezil bezieht sich hier auf den Dialog Kriton, und zwar auf die Episode, die diesem Dialog als Stütze dient und in der Kriton Sokrates vorschlägt zu fliehen. 22 Warum bringt Dumezil diesen Dialog ins Spiel? Er geht ganz einfach von einer belanglosen Bemerkung aus, die Frantz Cumont beiläufig gemacht hatte, aber ohne Nachdruck und ohne eine Folgerung daraus abzuleiten. Dumezil stellt fest, daß diese Aufforderung, dem Asklepios ein Hahnopfer darzubringen, an Kriton gerichtet ist (»Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig.«). Dumezil bemerkt, daß sich die Aufforderung zwar an Kriton richtet, daß aber unmittelbar danach die Schuld nicht als die des Kriton bezeichnet wird, sondern als eine Schuld, die wir zu entrichten hätten - zumindest Kriton 14°
Sokrates und vielleicht sogar Kriton, Sokrates und die an,2,;;ren, jedenfalls bestimmt und wenigstens Sokrates und Kri:on. 23 Worauf könnte sich nun aber diese Schuld, die sie beide tingegangen wären und deren Kriton sich völlig bewußt wäre, :)cziehen, da er ja der Aufgeforderte ist? Die Lösung dieses ?:-oblems ist von dem einzigen Dialog zu erwarten, in dem ~,~:-iton und Platon in einer vertraulichen Unterredung erschei::tn. .'\.us dem genannten Grund wendet sich Dumezil also diesem
Dialog zu, aber was wird er in ihm suchen? Sie wissen, daß Kri:on in diesem Dialog Sokrates den Vorschlag macht, ihn ent:i:ommen zu lassen. Ein ganzes Komplott von Freunden wurde :::azu auf die Beine gestellt, und es würde genügen, daß Sokrates :::tsserr Grundidee annimmt, damit es sogleich verwirklicht ?:-trden kann. Kriton macht nun eine Reihe von Punkten gel:tnd, um seinen Vorschlag zu unterstützen und um Sokrates Ar;umente für seine Annahme zu liefern. Er sagt Sokrates, daß er erstens selbst verraten würde, wenn er nicht fliehen würzweitens würde er seine eigenen Kinder verraten, wenn er ,2trl Tod annähme und sie einem Leben aussetzte, in dem er ::;chts für sie tun könnte;25 schließlich wäre es eine Schande für 5okrates' Freunde gegenüber den anderen Bürgern und der öf:tndichen Meinung, wenn man ihnen den Vorwurf machen :,bnnte, nicht alles getan zu haben, nicht alles versucht zu haotrl, nicht alle Möglichkeiten genutzt zu haben, um Sokrates retten. 26 So würden Sokrates und seine Freunde gewisser.-::aßen vor und durch die öffentliche Meinung entehrt. genau diesen Punkt wird Sokrates antworten. Auf dieses ?:-oblem der vorherrschenden Meinung, der landläufigen Mei-:ung, der unentwickelten Meinung wird Sokrates seine Ant"':Ort an Kriton aufbauen, indem er die Frage stellt: Muß man auf das Urteil von jedermann Rücksicht nehmen? Muß man 3.ücksicht nehmen auf die Meinung, die die Menschen teilen? gibt es Menschen, auf deren Meinung man Rücksicht :-.enmen muß, und andere, auf deren Meinung man keine :Uicksicht zu nehmen braucht? Um auf diese Frage zu antwor14 1
ten, bemüht Sokrates ein Beispiel, das die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen den Meinungen der Menschen beweisen soll. Dieses Beispiel bezieht sich gemäß eines in den platonischen Dialogen äußerst verbreiteten Verfahrens auf den Körper, auf die Pflege, die man dem Körper zuteil werden lassen soll, und auf die Gymnastik. Er sagt zu Kriton: Aber du verstehst doch wohl, daß man nicht einfach so blind der Meinung der Leute folgen darf? Du sagst mir, daß die Meinung der Leute mich und euch verurteilen wird, wenn ich nicht fliehe. Aber wenn es um die Gymnastik geht, wenn es um die Pflege geht, die man dem Körper zuteil werden lassen soll, folgt man dann der Meinung von jedermann oder der Meinung derer, die sich damit auskennen? Wenn man der Meinung von allen und jedem folgt, was geschieht dann? Man befolgt eine schlechte Diät, und der Körper wird das Opfer von tausend Übeln. Er verdirbt, wird ruiniert, zerstört (Sokrates verwendet das Wort diephtarmenon: zerstört, dem Verfall ausgesetzt, beschädigt).27 Wenn es stimmt, so Sokrates, daß man im Hinblick auf den Körper die Meinung der Wissenden befolgen soll, der Gymnastiklehrer, die fähig sind, einem einen guten Diätplan zu geben, ohne den man tausend Tode leidet, meinst du dann nicht, daß man nicht nur im Hinblick auf den Körper, auf das, was ihm nützlich oder schädlich ist, sondern auch im Hinblick auf das Gute und das Böse, auf das Gerechte und das Ungerechte dasselbe tun soll? Wenn man den Meinungen derer folgt, die den Unterschied zwischen dem Gerechten und dem Ungerechten, dem Guten und dem Bösen nicht kennen, würde dann nicht »das [... ], was es auch sei von dem unsrigen, worauf Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sich beziehen«28 Gefahr laufen, beschädigt, verdorben, zerstört (diephtarmenon) zu werden? »Das, was es auch sei von dem unsrigen, worauf Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sich beziehen«, ist selbstverständlich die Seele. Es ist interessant zu sehen, daß sie hier nicht benannt wird. Ihr Platz wird gewissermaßen leer gelassen. Der Beweis, daß die Seele als unsterbliche Substanz existiert, wird im Phaidon entwickelt werden. Vorerst existiert sie und ist ein Teil von 14 2
"..::lS selbst. Lange bevor die Seele metaphysisch begründet wird hier die Beziehung zu sich selbst in Frage gestellt. "~(,:ler Teil von uns selbst, der sich auf die Gerechtigkeit und die ~"ngerechtigkeit bezieht, läuft Gefahr, diephtarmenon (zer5~Ort, verdorben: genau dasselbe Wort wie für den Körper)Z9 zu 7>."crden, wenn man der Meinung von allen und jedem folgt und -;c,"enn man sich statt dessen nicht an die Meinung der Wisseni::11 hält. ~i:: Schlußfolgerung aus all diesen Dingen ist also: Man soll 5::h um die Meinung der Menge »nicht sorgen« (Sokrates ver-;C,"endet das Verb phrontizen),30 sondern allein um das, was z10.·ischen dem Gerechten und dem Ungerechten zu entscheii::n gestattet. Und hier nennt er die Wahrheit. Die Wahrheit, so Sokrates, entscheidet darüber, was gerecht und was ungerecht .SI. :\1an soll also nicht der Meinung der Menge folgen, soniern, wenn man sich um sich selbst kümmern will, wenn man s::h um »das, was es auch sei von dem unsrigen« kümmern und 'ermeiden will, daß es zerstört und verdorben wird, wem soll :::an dann folgen? Man soll der Wahrheit folgen. Sie sehen, daß ~';:r hier diejenigen Elemente wiederfinden, über die ich vorhin rr.it Bezug auf die sokratische Veridiktion gesprochen habe. Je2"nfalls vermeidet man dadurch, daß man der Wahrheit folgt, iie Beschädigung/Zerstörung der Seele, welche die Meinung i"r Menge hervorruft. Hier haben wir anhand des Vergleichs zit dem Körper jene Vorstellung, daß die Seele durch Meinun;en, die nicht auf ihre Wahrheit hin geprüft, getestet und er:::robt wurden, verdorben, zerstört, beschädigt wird. Und na:-'jrlich ist diese Krankheit nicht mit medizinischen Mitteln zu :;.::handeln. Aber wenn es stimmt, daß sie von der falschen Mei':'J.mg hervorgerufen wird, von der Meinung aller und eines jei::n, dann ist es die mit der aletheia bewaffnete Meinung, der 'ernünftige logos (der ja gerade die phronesis auszeichnet), was .e: der Lage sein wird, jene Zerrüttung zu verhindern oder die aus ihrem Zustand der Zerrüttung zu einem Zustand der Gesundheit zurückkehren zu lassen. ir können also wohl annehmen, daß diese Krankheit, für de143
ren Heilung man dem Asklepios einen Hahn schuldet, genau diejenige ist, von der Kriton geheilt wurde, als man im Gespräch mit Sokrates sich [von] der Meinung der Menge befreien und lösen konnte, von jener Meinung, die in der Lage ist, die Seelen zu verderben, um statt dessen durch eine wahre Meinung, die auf der Beziehung zu sich selbst gründet, die Wahrheit zu wählen, sich ihr zu verschreiben und sich für sie zu entscheiden. Die von Sokrates verwendete Unterscheidung zwischen der Zerrüttung des Körpers und der Schädigung der Seele durch geläufige Meinungen scheint jedenfalls darauf hinzuweisen, daß hier eine gewisse Krankheit vorliegt. Und es könnte wohl die Heilung von dieser Krankheit sein, für die man Asklepios danken soll. Nur, an dieser Stelle muß man, glaube ich, einen Einwand machen. Dieser Einwand wurde von jemandem erhoben, dessen Meinung ich schätze. Er sagte mir: Ist es denn nicht etwas voreilig, aufgrund des Vergleichs zwischen Körper und Seele zu behaupten, daß die Schädigung des Körpers und die Schädigung der Seele eine bestimmte Krankheit bedeuten, die nun gerade Gegenstand einer Heilung wäre und daher auch der Grund des zukünftigen Opfers? Wenn Dumezil sagt, daß nach Sokrates' Logik ein gut gewählter Vergleich durchaus einen Grund abgibt, so kann man sich fragen, ob man dadurch nicht etwas Bedeutendes auf dürftige Beweise stützt. Nun meine ich zwar nicht, daß diese Beweise dürftig seien, denn Dumezil stützt und sichert die Analogie zwischen der Schädigung des Körpers und der Schädigung der Seele [durch den Verweis] auf andere Texte. Den einen entnimmt er Sophokles' Antigone und den anderen Euripides' Agamemnon. 31 Dort stellt man fest, daß eine bestimmte Meinung, die nicht richtig ist, d. h. eine falsche Meinung, tatsächlich mit dem Nomen nosos (Krankheit) bezeichnet wird. Wenn sich auch in Platons Text die Bezeichnung dieser Schädigung der Seele als Krankheit nicht wirklich finden läßt, so ist doch in Texten, die ungefähr dieselbe Struktur haben und sich auf dieselbe Art von Situation beziehen, von nosos die Rede.
Ich glaube jedoch, daß man Dumezils Argumente und die Zitate, die er Sophokles und Euripides entlehnt, stärken kann, indem man eine Reihe von Textstellen hervorhebt, die im Phaidon selbst stehen. Einerseits würde uns das ermöglichen, auf zwei Einwände zu antworten: Handelt es sich denn wirklich um eine Krankheit, wenn eine richtige Meinung durch falsche Meinungen ersetzt wird? Zweitens: Ist diese Krankheit - deren Gefahr und Erscheinen wir im Kriton gesehen haben - wirklich Gegenstand des Schluß opfers im Phaidon? Ich glaube, daß es gelingen kann, den ersten und auch den zweiten Einwand zu umgehen, indem man zwei Texte heranzieht. Diese beiden Texte, die Sokrates' Tod und dem Schlußopfer vorangehen, verdeutlichen einerseits, daß eine falsche, schlecht begründete und schlecht geprüfte Meinung wirklich ein Übel ist, von dem man genesen muß; und andererseits, daß Sokrates in seinem letzten Augenblick eine ganze Debatte mit Kriton, aber auch mit anderen Gesprächspartnern des Phaidon wieder wachruft. Ich meine folgendes. Der Phaidon ist ein Gespräch über die Unsterblichkeit der Se~le und über Argumente, die zugunsten dieser Unsterblichkeit geltend gemacht werden können. Sie wissen, daß es gegen die Argumente, die Sokrates vorbringt, zwei Einwände gibt, die von Sokrates' Schülern (geliebten, teuren, nahestehenden Schülern) gemacht wurden: Einer von Kebes und der andere von Simmias. Simmias sagt: Aber ist die Seele nicht einfach eine Harmonie wie die Harmonie der Leier? Daher könnte die Seele doch wohl mit dem Körper sterben, wenn dieser sich auflöst und stirbt, wie die Harmonie stirbt, wenn das Musikinstrument zerbrochen ist, z. B. wie die Harmonie sich auflöst und nicht mehr existiert, wenn die Leier zerbrochen ist. 32 Kebes argumentiert folgendermaßen: Es ist zwar wohl möglich, daß die Seele nach dem Tod des Körpers wirklich fortexistiert. Aber kann man daraus schließen, daß die Seele unsterblich ist? Kann man nicht einfach annehmen, daß sie länger lebt als der Körper und daß sie sich nacheinander verschiedener Körper bedient, daß sie sich aber abnutzt, indem sie sich mehrerer Körper bedient? Man müsse die Seele mit ei-
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nem Lebewesen vergleichen, das eine Reihe von Anzügen, von Kleidern abnutzt. Aber die Abnutzung der Kleider hindert nicht daran, daß es sich selbst abnutzt und eines Tages stirbt. 33 Im Abschnitt 89a nach diesen beiden Einwänden, die gerade ein Beispiel für die falschen Meinungen sind, die Sokrates widerlegen muß, hält Phaidon, der diese letzte Szene erzählt und bis zu diesem Moment in der ersten Person die Ereignisse direkt berichtet hat, etwas inne und sagt zu seinem Gesprächspartner, dem er die letzten Augenblicke des Sokrates mitteilt: Ach, wenn du wüßtest, wie bewundernswert Sokrates in dem Augenblick war, als er auf diese beiden Einwände antwortete. Ich bewunderte die Art und Weise, wie [er sie] aufnahm, wie er die Wirkung, die sie auf die Zuhörer haben würden, vollkommen verstanden hatte und welchen Eindruck sie auf ihre Seelen machten, wie geeignet sie waren, diese zu überzeugen, so daß wir uns alle fragten, wie Sokrates aus diesen beiden furchtbaren Einwänden wohl herauskommen würde. Ich bewunderte [... ], wie gut er verstanden hatte, daß wir ganz nahe daran waren, von ihnen überzeugt zu sein, und wie es ihm gelang, uns alle zu heilen (iasato: er hat uns geheilt 34). Es gibt im Phaidon also wirklich eine Heilung, die Heilung von jener Krankheit, die Sokrates erreicht hat, indem er eine Meinung als falsch erwies. Wir finden hier auch dasselbe Schema, dasselbe Problem, denselben Akt der Heilung wie im Kriton, als Kriton Sokrates die Flucht vorschlug, indem er sich auf die landläufige Meinung stützte. Das ist der erste Text, den ich zitieren wollte. Der zweite ist ebenfalls aus dem Phaidon. Er befindet sich im Abschnitt 9oe. Hier geht es um ein Gespräch über den logos und seine eigentümlichen Gefahren. Sokrates will seine Schüler vor dem Haß gegenüber dem schlußfolgernden Denken warnen, vor jener Vorstellung, daß alle Schlußfolgerungen potentiell gefährlich und falsch sind. Er warnt vor dem Misologismus und sagt: Man sollte nicht meinen, daß es nichts »Tüchtiges« (der deutsche Text übersetzt hier das griechische Wort hygies, d. h. organisch gesund, auf die Gesundheit bezogen) am
5chlußfolgernden Denken gibt; statt dessen sollte man glauben, wir noch nicht recht gesund sind (oupo hygios echomen: :ms geht es nicht gut, wir sind nicht bei Gesundheit), und man sollte wünschen, daß es uns gutgehe, euch wegen des künftigen ,-ebens und mir wegen des Todes. 35 Es ist also klar, daß Sokra:es hier sagt: Seht euch vor; das schlußfolgernde Denken mag -,'ielleicht zu Irrtümern führen, aber es wäre völlig falsch zu ;lauben, daß es nichts Gesundes oder Gesundheitsförderndes ::'11 schlußfolgernden Denken gäbe. Im Gegenteil, wenn das schlußfolgernde Denken den Anschein hat, uns zu einem schlechten Ergebnis zu führen, dann sind wir es, die bei schlech:ef Gesundheit sind, denn wir lassen uns von falschen Schluß:olgerungen überwältigen. Wir müssen aber gesund sein und mgemessen schlußfolgern, ihr für euer künftiges Leben und weil ich sterben werde. Diese beiden Texte nehmen [einerseits] wieder das Thema des S:77ton auf, daß eine schlecht gebildete Meinung wie ein Übel :5[, das die Seele heimsucht, sie verdirbt, sie krank macht, ein ~~'bel, von dem man geheilt werden muß, und [andererseits] ene Vorstellung, die im Kriton [gleichfalls gegenwärtig ist], es der logos ist, das richtige Schlußfolgern, das zu dieser :-ieilung führt. Man sieht hier auch, daß diese Idee der durch ien logos bewirkten Heilung von der falschen Meinung, die als =:ne Krankheit der Seele erscheint, im Phaidon widerhallt. Und iie Texte des Phaidon, die ich zitiert habe, stellen die Verbiniung her zwischen dem beträchtlichen Risiko der Krankheit ~:mJ Kriton, einer Krankheit, die durch Kriton selbst dargewird (als er sich von der allgemeinen Meinung so beein:~ussen ließ, daß er schließlich Sokrates die Flucht vorschlägt), ':2d den anderen Irrtümern im Phaidon, nämlich insbesondere cer Irrtümer von Simmias und Kebes. Kriton war von einer ';~rankheit befallen, die ihn glauben machte, daß es für Sokrates cesser sei zu leben als zu sterben. Kebes und Simmias waren einer Krankheit befallen, die sie glauben machte, daß man f.:cht die Gewißheit haben kann, eine unsterbliche Seele zu be:reien, wenn man stirbt. Mir scheint, daß wir hier die Bestäti-
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gung dafür haben, daß man für die Heilung dieser Art von Krankheit dem Asklepios einen Hahn schuldig ist. Dumezils Interpretation läßt sich durch die Lektüre des Phaidon selbst bestätigen, in dem man die Verbindung findet zwischen dem, was im Kriton geschieht, und dem, was Sokrates im letzten Augenblick sagt.':Es bleibt noch eine letzte Schwierigkeit, die Dumezil in seinem Text auflöst. Ich beschränke mich darauf, sie zusammenzufassen. 36 Wenn es stimmt, daß Kriton von einer Krankheit befallen war oder daß in Ergänzung dazu, wie ich gerade nahelegte, auch Kebes und Simmias aufgrund ihrer falschen Meinung krank waren, warum sagt dann Sokrates: Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig? Er sollte sagen: Kriton, du schuldest dem Asklepios einen Hahn, weil du geheilt wurdest. Oder, wenn man annimmt, daß die anderen auch geheilt wurden, sollte er [sagen]: Kriton, du als bester meiner Schüler, [sie und du] ihr alle schuldet dem Asklepios einen Hahn. Er sagt aber: wir sind schuldig. Also wurde auch er geheilt. Dumezil antwortet auf diese Frage, indem er einerseits geltend macht, und zwar, wie mir scheint, auf völlig legitime Weise, daß zwischen Sokrates und seinen Schülern natürlich ein Band der Sympathie und der Freundschaft besteht, so daß, wenn einer von ihnen an einer Krankheit leidet, die anderen aufgrund der Krankheit des einen ebenfalls leiden, und Sokrates gehört eben dazu. Dumezil macht auch geltend, was von großer Bedeutung ist, daß Sokrates - ohne natürlich Opfer der Versuchung gewesen zu sein, darum geht es nicht - selbst auch von Kriton hätte überzeugt werden und sich zur Flucht entschließen können (schließlich wird [das Gegenteil] außer durch die persönliche Tapferkeit des Sokrates und seine Ausdauer, an der Wahrheit festzuhalten, durch nichts garantiert). Und solange er nicht wirklich tot ist, solange er den letzten Augenblick seines Lebens noch nicht erreicht hat, besteht dieses Risiko, von einer falschen Meinung befallen zu sein und eine Schädigung der ,,- M. E: - Kann ich noch fünf oder zehn Minuten weitermachen oder ... ? [Antworten aus dem Publikum:} - Ja, ja!
Seele zu erleiden. Daher muß dieses Opfer, das in einem gewissen Sinne in dem Augenblick hätte dargebracht werden können, als Kriton von seiner Krankheit geheilt wurde, nicht nur :m Namen Kritons, sondern auch von Sokrates vollzogen werlen und kann erst im letzten Augenblick von Sokrates' Leben, :m Augenblick des Todes, entrichtet werden. Es kann nur So:o::rates' letzte Handlung und seine letzte Empfehlung sein, weil schließlich gerade sein Mut allein, allein Sokrates' Beziehung zu sich selbst und zur Wahrheit ihn daran gehindert hat, auf diese falsche Meinung zu hören und sich von ihr verführen zu _"ssen. jedenfalls glaube ich, daß man diesen Erklärungen Dumezils ~olgendes hinzufügen könnte: Es ist ein Zug, der die ganze Dramaturgie der platonischen Dialoge kennzeichnet, welche tS auch sein mögen, daß alle Gesprächsteilnehmer im Hinblick mf das Unterfangen des Gesprächs solidarisch sind. Sokrates ::,ringt dies bei vielen Gelegenheiten in anderen Dialogen zum .\usdruck: Wenn die falsche Rede siegt, dann handelt es sich um eine Niederlage für alle, aber wenn die richtige Rede siegt, dann sind alle Sieger. Das Prinzip, das von Sokrates in den Dia:ogen so oft formuliert wird (das Prinzip der homologia: denselben logos zu haben wie jene, mit denen man diskutiert, d. h. tinzugestehen, daß dieselbe Wahrheit für die einen wie für die md eren gilt, und jene Art von Pakt unterzeichnen, demgemäß :edermann eine Wahrheit anerkennen wird, sobald sie einmal tmdeckt wurde ),37 finden wir hier zu einem gewissen Grad wieder. Es gab also jenes große Unterfangen der Diskussion ler Meinungen, die große Schlacht des logos, es gab jenen elender zu prüfen gestattete, was die richtige Meinung war :.md was die falsche. Aufgrund des Prinzips der homologia be:o::annte sich jedermann zu dieser Operation. Die heilende Ope,,,tion ist wie eine allgemeine Form, in der Sokrates gefangen :st, auch wenn er selbst diese Operation durchführt. Es ist also ~anz normal, daß er sich an Kriton wendet, indem er ihn dar"n erinnert, daß es eine Krankheit gab, und zwar eine Krankheit Kritons. Aber wenn Kriton gewonnen hätte, wäre diese
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Krankheit auch Sokrates' Krankheit gewesen. Und da alle solidarisch sind, muß das Opfer als Dank für diese Heilung und im N amen aller entrichtet werden. Jetzt möchte ich noch ein wenig zu meinen Schäfchen zurückkehren und versuchen, auf die Frage zu antworten, die Sie sich stellen: Warum habe ich mich bei diesem Text und der Interpretation Dumezils aufgehalten, die anscheinend nicht auf derselben Linie liegt wie das, was ich Ihnen vorhin und letztes Mal gesagt habe? Man muß die Frage stellen: Worin besteht diese Heilung, worin besteht die Tätigkeit, durch die Sokrates und seine Schüler mit der Hilfe des Gottes, dem man danken soll, geheilt wurden? Es hat keinen Sinn, sich zu fragen, wie es manche vielleicht zu tun versucht sein mögen, ob dieses Verfahren der Heilung zur Medizin gehört oder schon zu so etwas wie der Psychiatrie, ob die Griechen bzw. Sokrates wirklich dachten, daß diese Art von Irrtum als Geisteskrankheit betrachtet werden könne, oder nicht. In diesem anachronistischen Aposteriori läßt sich das, worum es geht, nicht entdecken. Man tut besser daran, wenn man versucht, dieses Verfahren der Heilung, auf das Sokrates mehrmals anspielt, in den Bereich der Praktiken zu stellen, in dem sie sich für die Griechen im allgemeinen und für Sokrates im besonderen darstellt. Dieser allgemeine Bereich von Praktiken umfaßt nun gerade alles, was »epimeleia« genannt wird. Sich um jemanden kümmern, sich um eine Herde kümmern, sich um seine Familie kümmern oder, was man oft im Zusammenhang mit den Ärzten findet, sich um einen Kranken kümmern, das ist es, was »epimeleisthai« genannt wird. Die Heilung, von der Sokrates hier spricht, gehört zu all jenen Tätigkeiten, durch die man sich um jemanden kümmert, ihn pflegt, wenn er krank ist, über seinen Diätplan wacht, damit er wieder gesund wird, ihm Nahrungsmittel vorschreibt, die er einnehmen soll, oder Übungen, die er ausführen soll, durch die man ihn auch darauf hinweist, welche Handlungen er unternehmen und welche er unterlassen soll, durch die man ihm hilft, die wahren Meinungen zu entdecken, die er befolgen soll, und die falschen Meinungen [vor denen er
i:'.lrsen speist. All das gehört zum epimelesthai. Wir können sagen, daß diese umfangreiche, vielgestaltige Tätigkeit der ::;imeleia (der Sorge für sich und die anderen, der Sorge für die Seelen) in einer Reihe von Fällen die dringlichste, intensivste notwendigste Form annehmen kann. Dabei handelt es sich '.l'11 diejenigen Fälle, in denen gerade eine falsche Meinung das ::tisiko birgt, eine Seele zu schädigen und krank zu machen. ~.lan sollte sich daran erinnern, daß der ganze Todeszyklus des Sokrates, den ich in der letzten Stunde darzustellen versucht dieser große Zyklus, der mit der Apologie beginnt, sich ::n Kriton fortsetzt und mit dem Phaidon endet, gerade von iiesem Thema der epimeleia durchsetzt ist. =n der Apologie des Sokrates habe ich Ihnen vorhin zu zeigen "'ersucht, wie Sokrates seine parrhesia, sein mutiges Wahrspreehen als ein Wahrsprechen bestimmte, dessen endgültiges Ziel :. Hld dessen ständige Beschäftigung darin bestand, die Men5ehen zu lehren, sich um sich selbst zu kümmern. Sokrates ~:ümmert sich zwar um die Menschen, aber nicht im Rahmen ':cr Politik: Er will sich um sie kümmern, damit sie lernen, sich :':'11 sich selbst zu kümmern. Der ganzen Apologie liegt also dieses Thema der epimeleia und der Sorge zugrunde. ~:n Kriton stellt man ebenfalls fest, daß dieses Thema der Sorge, ':er epimeleia gegenwärtig ist. Es kommt in einem kleinen De:,ail vor, das deshalb von B,edeutung ist, weil wir ihm wiederbe?egnen werden. Es bezieht sich auf Sokrates' Kinder. Als Kri:on zu ihm sagt: Aber schließlich wirst du dich nicht um deine ~~inder kümmern können. Wie willst du dich um sie kümmern, ,;?,"enn du stirbst ?38 Das ist ein Problem der epimeleia, auf das Sohates etwas später, nämlich im Phaidon, antworten wird. Abgesehen von diesem kleinen Detail ist die epimeleia, die Sor?e, die Besorgnis ganz allgemein das zentrale Thema des Kri~)n. Man [begegnetJ ihm ganz einfach in der Prosopopoiie der Gesetze wieder. 39 Diese Gesetze, die Sokrates ins Spiel bringt, er fragt]: Wenn ich fliehen würde, glaubst du nicht, daß die Gesetze sich vor mir erheben würden?, sagen ihm: Aber wer
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s:;:h hüten sollJ, also [dasJ, wodurch man ihn mit wahren Dis-
hat sich um deine Geburt gekümmert? Bist du nicht damit zufrieden, wie die Ehen in deinem Staat geschlossen werden? Wer hat sich um dich gekümmert, als du ein Kind warst, und wer hat dich großgezogen? Wer kümmert sich um das, was im Staat vor sich geht [... ,:.]? Die Gesetze sind gerade die Boten der epimeleia. Genauso wie es im Phaidon heißen wird, daß man der Welt nicht entfliehen soll, weil wir von den Göttern behütet werden (epimelesthai: die Götter kümmern sich um uns),40 ist im Kriton der Grund, warum man nicht aus dem Gefängnis fliehen soll (d. h., die Stadt verlassen und ins Exil gehen), daß die Gesetze des Staats wie die Götter über die ganze Welt wachen, sich um die Bürger kümmern und wachsam sind. Sie sind fürsorglich. Man findet hier dasselbe Thema der epimeleia wieder. Was sagt Sokrates seinen Schülern schließlich und vor allem im Phaidon, als der Augenblick des Todes näherrückt, mit seinen vorletzten Worten? Hier ist der Text absolut eindeutig. Im Abschnitt r r 5b (ob Sokrates den Schierling noch trinken wird oder ihn schon getrunken hat, weiß ich nicht mehr, jedenfalls ist der Tod in diesem Augenblick schon nahe,41 fragt Kriton, der doch der beste von Sokrates' Schülern ist: Welche Weisungen gibst du uns für deine Kinder (da kommen sie schon) oder für alle anderen Dinge? Was verlangst du von uns zu tun, daß es dir genehm sei? Kriton, derselbe, den man am Ende darum bittet, etwas Bestimmtes zu tun (einen Hahn zu opfern) [fragt]: Was sollen wir für deine Kinder tun? Er dachte an den Letzten Willen, an das Testament. Und Sokrates antwortet: »Was ich immer sage [... ], nichts Besonderes weiter.«42 Was sagt Sokrates immer, das nichts Besonderes ist und seinen Letzten Willen darstellt, den er seinen Kindern, seiner Umgebung, seinen Freunden übermitteln will? »Tragt Sorge für euch selbst (hymon auton epimeloumenoi).«43 Das ist Sokrates' Vermächtnis, sein Letzter Wille. Übrigens erinnert dieser Letzte Wille des Sokrates, der im Phaidon so klar ". Ende des Satzes unverständlich.
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~'Jfmuliert
wird, an das, was die Apologie in einem spiegelbild:ichen Moment sagt. In der Apologie gibt es drei Momente bzw. drei Reden: die erste Rede, in der Sokrates sich verteidigt; die zweite Rede, in der er vorschlägt, was seine Strafe sein soll; und die dritte Rede, in der er die Tatsache zur Kenntnis nimmt und akzeptiert, daß er zum Tode verurteilt wurde. In diesem letzten der Apologie, wo er sein Todesurteil zur Kenntnis nimmt '.md akzeptiert, [in seiner] letzten Rede, als er schon todgev:eiht ist, sagt Sokrates im Abschnitt 4re folgendes: »An mei:len Söhnen, wenn sie erwachsen sind [eine weitere Erwähnung der Kinder; die Kinder werden insgesamt dreimal erwähnt: in der Apologie nach der Verurteilung; im Kriton in Form eines Einwands von Kriton; und schließlich im Phaidon in der Passage, die ich Ihnen gerade vorgelesen habe; M. E], nehmt eure Rache ihr Männer, und quält sie ebenso, wie ich euch gequält habe, wenn euch dünkt, daß sie sich um Reichtum oder um sonst irgend etwas eher bemühen (epimelesthai) als um die Tugend.«44 Epimelesthai aretes: Sie sollen sich um ihre Tugend kümmern. Das sind Sokrates' letzte Worte in der Apologie, der Rede, mit der er sich an seine Richter wendet. Das sind die letz:en Worte, die Sokrates zu seinen Freunden spricht, als sie ihn iragen: Was sollen wir tun? Sein Letzter Wille, der vor den Bürgern und im Kreis seiner Freunde ausgesprochen wird. ::.\' ach eine Kleinigkeit zu diesem Problem der Sorge um sich selbst: In den letzten Zeilen des Phaidon gibt es eine Stelle, wo Sokrates' Schüler ebenfalls fragen: Was sollen wir für deine Beerdigung tun? Er antwortet, indem er selbst ein Bad nimmt, damit nach seinem Tod die Frauen seinen Körper nicht zu waschen brauchen. Er trägt Sorge für sich selbst und sogar für seinen Körper. 45 Jedenfalls, wenn man ihn fragt: Was sollen wir für deine Kinder mn und welche Empfehlungen gibst du deinen Freunden?, lauten Sokrates' letzte Worte und sein Letzter Wille: Was ich :mmer gesagt habe, »Kümmert euch um euch selbst«, das ist mein Letzter Wille. Es gibt aber noch einen kleinen Zusatz. Dieser kleine Zusatz besteht gerade in der Erwähnung dessen, I53
was man dem Asklepios schuldig ist, die Erwähnung jenes Opfers, das man entrichten soll, das Versprechen gegenüber Äskulap. Als Dank wofür? Nun, als Dank für die Hilfe, die der Gott als Gott der Heilung allen zuteil werden ließ, d. h. Sokrates und seinen Schülern, die sich darum bemüht haben, sich um sich selbst zu kümmern (epimelesthai), für sich selbst zu sorgen, für sich selbst Sorge zu tragen, zu »therapeuein« (im Sinne von sich kümmern und heilen), wie Sokrates oft sagt. Und die letzten Worte (nach: »Gebt dem Asklepios einen Hahn«), die allerletzten Worte, nach denen Sokrates nie wieder sprechen wird, habe ich schon mehrmals zitiert, nämlich: me amelesete (vernachlässigt nicht, keine Vernachlässigung). Ich habe mich lange bei der Tatsache aufgehalten, daß dieses Nicht-Vernachlässigen, das Sokrates seinen Schülern anempfiehlt, sich auf das Opfer eines Hahns bezog. Es bezieht sich tatsächlich ausdrücklich und direkt auf das Opfer eines Hahns, also auf eine bestimmte Krankheit. Aber diese Krankheit ist eine solche, von der man geheilt werden kann, wenn man sich um sich selbst kümmert und gegenüber der man jene Fürsorge für sich selbst walten lassen kann, die einen die eigene Seele erkennen läßt und wie diese mit der Wahrheit verbunden ist. Etymologisch gesehen, gehört das Wort »amelesete« zu jener Familie, der wir schon so oft begegnet sind, zu einer Familie von Wörtern, die die verschiedenen Weisen des sich Sorgens, des Sorgetragens, der Fürsorge bezeichnen. An dem Äskulap darzubringenden Opfer erkennt man deutlich, daß die letzten Worte (»vernachlässigt nicht«) bedeuten, daß man das Opfer nicht vernachlässigen darf, sich aber indirekt über das Opfer auf die Sorge um sich selbst bezieht. Vergeßt nicht, dem Gott dieses Opfer darzubringen, dem Gott, der uns hilft, uns selbst zu heilen, wenn wir Sorge für uns tragen. Denn man darf nicht vergessen - hier müßte man sich auf die verschiedenen Texte über die Götter, die sich um die Menschen kümmern, beziehen -, daß, wenn wir uns um uns selbst kümmern, dann auch insofern, als die Götter sich um uns kümmern. Gerade weil sie sich um uns kümmern, haben sie Sokrates geschickt, um uns zu lehren, daß wir Sorge für uns selbst tragen.
Sie sehen also, daß Sokrates' Tod, die Ausübung seiner parrhesia, die ihn dem Tod aussetzte - und zwar unzweifelhaft aussetzte, da er ja tatsächlich dadurch gestorben ist -, die Ausübung seines Wahrsprechens und schließlich dieser Eifer, mit dem er die anderen dazu angeregt hat, sich um sich selbst zu kümmern, ebenso wie er Sorge dafür trug, sich um sich selbst zu kümmern, daß all dies ein sehr dichtgedrängtes Gewebe darstellt, dessen Fäden sich durch den ganzen Todeszyklus des Sokrates hindurch miteinander verflechten (Apologie, Kriton, Phaidon). Alle diese Fäden durchziehen ständig die drei Texte, ".md sie verknüpfen sich ein letztes Mal in Sokrates' letzten oeiden Anordnungen. Zuerst ganz offenkundig, wenn er sagt: :\Iein Letzter Wille ist, daß ihr euch um euch selbst kümmert. Und dann ein zweites Mal auf symbolische Weise, als er nicht :nehr auf die Sorge verweist, die die Menschen für sich selbst :ragen sollen, sondern auf die Sorge, die die Götter für die ~\lenschen tragen, damit diese sich um sich selbst kümmern, in Gestalt des Opfers an Asklepios. Alle diese Fäden verbinden sich ein letztes Mal im Hahnopfer. Diese Mission, die die Sorge ".Im sich selbst betrifft, hat Sokrates in den Tod geführt. Dieses Prinzip des »Kümmerns um sich selbst« vermacht er den anderen über seinen Tod hinaus. Und an die Götter, die heilbrin~end für diese Sorge um sich sind, richtet er seinen letzten Gedanken. Sokrates' Tod, so scheint mir, begründet in der "X!irklichkeit des griechischen Denkens, und somit auch in der :'.oendländischen Geschichte, die Philosophie als eine Form der eridiktion, die weder die der Prophezeiung noch die der \\"eisheit noch die der techne ist; eine Form der Veridiktion, die sende dem philosophischen Diskurs eigentümlich ist und die ien Mut erfordert, sie bis zum Tod als eine Prüfung der Seele :;.uszuüben, die ihren Ort nicht auf der politischen Rednerbüh:c.e haben kann. Das war's. Entschuldigung, daß ich Sie so lange :;.ufgehalten habe, danke.
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Anmerkungen 1 G. Dumezil, La Courtisane et les seigneurs colores, et autres essays. Esquisses de mythologie, Paris 1984. 2 Platon, Phaidon, rr 8a, übers. v. F. 5chleiermacher, a. a. 0., 5.81 I. 3 G. Dumezil, »Le Moyne noir en gris dedans Varennes«, Paris 1984, 5.143; dt.: Der schwarze Mönch in Varennes, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt 1989,5.125 f. 4 Ebd., S. 145 (5hakyamuni ist einer der Eigennamen Buddhas). 5 Ebd., S. 13 6. 6 Platon, Phaidon, übers. v. L. Robin, Paris 1926, 5. 102, Anm. 3. 7 »50krates hofft, daß er geheilt erwachen wird wie jene, die durch die enkoimesis (incubatio) im Asklepion von Epidaurus geheilt werden« (J. Burnet, Plato's Phaedo, Oxford 1911,5. rr8). 8 F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: Werke, hg. v. G. Colli und M. Montinari, Berlin u. New York 1973, S.249-250. 9 The Greek Commentaries on Plato's Phaedo, Bd. 1: Olympiodorus, hg. v. L. G. Weste rink, Amsterdam u. a. 1976. 10 F. Nietzsche, a.a.O. 11 "Denn was darüber in den Geheimlehren gesagt wird, daß wir Menschen wie in einer Feste sind (en tini phroura) ... « (Phaidon, 62b, übers. v. F. Schleiermacher, a. a. 0., 5.73 6 f.). 12 L. Robin übersetztphroura mit »Verwahranstalt« (garderie), E. Chambry mit »Wachposten« (poste). P. Vicaire übersetzt es mit "Ort, an dem man uns bewacht«, nennt aber auch »Gefängnis« (prison) und den »Wachposten« (poste de garde) (Anmerkung, 5. 113). Phroura stammt vom Verb orao (sehen) ab und stellt einen Raum vor, der unter Aufsicht steht. 13 Phaidon, a.a.O. (s. oben, Anm. rr). 14 »[ ...] daß die Götter unsere Hüter (to tous theous einai epiloumenous) und wir Menschen eine von den Herden der Götter sind (ton sauton ktematon)« (ebd.). Zu ktemata im 5inne von "Herde« vgl. die Anmerkung des Übersetzers P. Vicaire (Phedon, Paris 1983),5. rr3. 15 Ebd., 69d-e, S·746f. 16 Ebd., 67a, 5.743. "7 Platon, Des Sokrates Verteidigung, 41d, übers. v.F. Schleiermacher, a. a. 0., S. 36. 18 Als Professor für klassische Philologie hatte Ulrich von WilamowitzMoellendorf eine heftige Kontroverse gegen die Thesen Nietzsches ausgelöst, die dieser in Die Geburt der Tragödie vertrat. 19 U. von Wilamowitz-Moellendorf, Platon, Berlin 1920, Bd.I: Leben und Werke, S. 178; Bd. II: Beilagen und Textkritik, 5. 58. 20 F. Cumont, »A propos des dernieres paroles de 50crate«, Compte rendu de l'Academie des Inscriptions et Belles Lettres, 1943,5.112-126. 21 G. Dumezil, Le Moyne noir en gris ... , a. a. 0.,5.143; dt.: 5. 125. 15 6
22 Ebd., 5. 146 ff.:, dt.: 5. 128. 23 Ebd., S. 140; dt.: 5.123. 24 Platon, Kriton, 45C, übers. v. F. 5chleiermacher, a.a. 0.,5.42. 25 Ebd., 45b, 5.42. 26 Ebd., 44b-c, 5.40, und 45e-46a, 5.42-43. 27 Wenn wir nun das, was durch das Ungesunde zerrüttet (diaphteiromenon), durch das Gesunde (hypo tou hygieinou) aber gebessert wird [...] Lohnt es nun wohl, zu leben mit einem abgeschwächten und zerrütteten (diephtarmenou) Leibe? (ebd., 47d-e, 5.45). 23 Ebd., 48a-d, 5.45-46. 29 Ebd., 47e, 5.45. :;::: ,>Also keineswegs, 0 Bester, haben wir das so sehr zu bedenken (phrontisteon), was die Leute sagen werden von uns, sondern was der eine, der sich auf Gerechtes und Ungerechtes versteht, und die Wahrheit selbst« (ebd., 48a, 5.45). :;! G. Dumezil, Le Moyne noir en gris ... ,5.155-157; dt.: 5. 136-138. 32 Platon, Phaidon, 85 b-86e, übers. v. F. 5chleiermacher, S. 768-769. 33 Ebd., 86e-88b, S. 770-772. 34 »Aber ich bewunderte ihn zuerst vorzüglich deswegen, wie freundlich und sanft und beifällig er die Reden der jungen Männer aufnahm, dann wie scharf er bemerkte, was sie auf uns gewirkt hatten, und wie gut er uns heilte (eu hemas iasato) [... }< (ebd., 89a, 5. 59). 35 »50 laß uns denn, sprach er, zuerst davor hüten und dem in unserer 5eele keinen Eingang verstatten, als ob an allen Reden am Ende wohl gar nichts Tüchtiges wäre; sondern vielmehr bedenken, daß wir nur noch nicht recht tüchtig (oupo hygios echomen) sind, aber tapfer sein und trachten müssen, tüchtig zu werden, du und die übrigen des ganzen künftigen Lebens wegen, ich aber des Todes wegen« (ebd., 90e, 5. 775). 3 6 G. Dumezil, Le Moyne noir en gris ... , S. 159ff.; dt.: S. 14off. }7 Zu diesem Begriff vgl. die letzte Vorlesung des Jahres 1983 über den Gorgias, in: Le Gouvernement de soi et des autres, a. a. 0., 5.341 -34 3; dt.: 5.465-468. -,3 Platon, Kriton, 45 c-d, a. a. 0., 5.42. 39 Ebd., 50a-53d, 5.48-53. ·F Platon, Phaidon, 62b, übers. v. F. 5chleiermacher, 5.736. .:.! Er wird ihn erst später trinken (bei 117C). -'-2 Platon, Phaidon, 115 b, übers. v. F. Schleiermacher, 5. 8°7. .:.3 Ebd. H Platon, Des Sokrates Verteidigung, 41e, 5.36. .:.5 Im Text finden die Dinge jedoch in umgekehrter Reihenfolge statt: 50krates nimmt zuerst ein Bad (»[...] und nicht hernach den Weibern :\1ühe zu machen mit dem Waschen des Leichnams«, Platon, Phaidon, ! 15a, übers. v. F. 5chleiermacher, S. 807).
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Vorlesung 4 (Sitzung vom 22. Februar 1984, erste Stunde)
Etymologische Untersuchungen rund um die epimeleia. - Dumezils Methode und ihre Ausweitung. - Platons Laches: die Gründe der Wahl. - Der Pakt des Freimuts. - Das Problem der Kindererziehung. - Die gegensätzlichen Urteile von Nikias und Laches über die Vorführung von Waffen. Die Frage nach der technischen Kompetenz im sokratischen Sinne. - Sokrates' Umkehrung des dialektischen Spiels.
Aus einer Reihe von Gründen (auch weil mich einige darum gebeten haben), werde ich nicht heute, sondern erst nächstes Mal über die Kyniker sprechen. Ich möchte lieber eine Verbindung herstellen zwischen dem, was ich Ihnen letztes Mal über Sokrates und die Apologie erzählt habe, und was ich Ihnen nächstes Mal über die Kyniker sagen werde. Das heißt, ich werde über den Laches sprechen. Zuvor jedoch eine kurze Bemerkung [erstens über] das, was ich Ihnen über Dumezils Buch gesagt hatte, und zweitens über die Aufgabe der epimeleia und die Wurzel dieses Begriffs. Die beiden Dinge sind übrigens direkt miteinander verbunden, da es ja um Dumezil gehen wird. Folgende Frage hatte ich [im Sinn]: Was ist die Wurzel jener Reihe von Begriffen, über die ich mehrmals gesprochen habe? Es gibt den Ausdruck melo, dem man vor allem in der unpersönlichen Form melei moi begegnet (ich kümmere mich um; ganz genau: es bekümmert mich, weil es sich ja um eine unpersönliche Form handelt), und dann eine ganze Reihe von anderen Wörtern: das Substantiv epimeleia, das Verb epimelein oder epimeleisthai, das Adjektiv ameles (nachlässig), das Adverb amelos (vernachlässigend) und das Substantiv epimeletes (der, der sich um etwas kümmert, der über etwas wacht und der in den griechischen Institutionen oft einen ganz konkreten Zweck erfüllt: der Wächter von etwas zu sein, ist eine gleichsam offizielle Aufgabe; [der Ausdruck] kann sich jedenfalls auf eine ganz konkrete Aufgabe beziehen). Woher kommt diese Wortreihe ? Ihre eigentliche Wurzel ist offen15 8
sichtlich, aber worauf bezieht sich diese Wurzel? Für solche fragen geht mir die Kompetenz völlig ab. Also habe ich mich 2.D Dumezil gewandt. Ich habe ihn gefragt, wie es um diese -;;;ahrscheinlich indoeuropäische Wurzel (mel) bestellt sei? Seine erste Antwort war: Man weiß es nicht, es gibt keinerlei Hin-;;:eis, der dieser Wurzel eine Bedeutung oder einen Wert zuschreiben ließe. Zugleich sagte er mir aber auch, daß man natürlich an melos denken könne, d. h. an jenes Wort, das in ''Zelodia steckt und das bedeutet: Gesang, rhythmischer Ge,oang, Musik. Aber es ist klar, daß es keine Beziehung zwischen iiesem melos und jener Wurzel mel geben kann, die man in epi·-.:eleia, melei moi etc. findet. Bis hierher war ich also gekom::nen, als er mir gestern eine kleine Nachricht geschickt hat, um ::nir mitzuteilen: Die Nachprüfung im Chantraine (dem Wör:erbuch für griechische Wurzeln) ergab keine plausible Etymo.ogie für epimeleia, melei moi etc. 1 Dann kam mir ein Gedanke, 30 Dumezil, den ich zuerst für verrückt hielt, zu dem ich aber 211mählich Zutrauen gewinne: Sollte man wirklich die Bezie~ung zu melos abtun, wie ich es neulich tat? Es könnte so etwas sein wie »Es paßt mir«':- mit einer anderen Ausrichtung auf die Sorge und die Pflicht: die Berufung auf die Pflicht anstatt auf iie Freiheit und das Vergnügen. Das heißt, daß unser Ausiruck »es paßt mir« sich auf etwas bezieht, das gar nicht zum 3creich der Pflicht gehört, sondern zum Vergnügen und zur freiheit: »Ich tue das, weil >es mir paßt<<<. Aber man kann sich .iurchaus auch ein »es paßt mir« vorstellen, das sich im Gegen52:Z dazu auf etwas beziehen würde, das einem im Sinn ist, das "inem in den Sinn kommt, das einem im Sinn bleibt, das einem ::cis zu einem gewissen Grad nicht mehr aus dem Sinn geht und ias einem paßt, aber in Form einer Weisung, einer Mahnung, ::iner zu erfüllenden Pflicht. Und er fügt folgendes hinzu: Im l...2teinischen ließe sich ein vergleichbarer Fall finden. Im Lateirischen gibt es das Verb camere, was »heiß sein« bedeutet. Nun Der französische Ausdruck »~a me chante« enthält den gesuchten Bezug zu melos im Sinne von Melodie und Gesang, der in der deutschen Entsprechung »es paßt mir« fehlt (A. d. Ü.)_ 159
ist es genau dieses Wort, so Dumezil, das uns im altfranzösischen »chaloir« wiederbegegnet, über den der Hatzfeld und Darmesteter2 sagt, daß es ein etwas veralteter Ausdruck sei, der »an etwas Interesse haben« bedeute und nur in verneinenden und Fragesätzen verwendet werde. Beispielsweise finden wir ihn in: »il ne m'en chaut« (das kümmert mich nicht). So wie »etre chaud« (heiß sein) schließlich den Wert von »sich kümmern um« angenommen hat, könnte sich also auch hier »chanter« (eigentlich »singen«, hier aber »passen«), eine bestimmte Melodie im Sinn haben, auf die gleiche Weise bis zur Bedeutung der Sorge entwickelt haben. Nachdem ich diesen Brief erhalten hatte, habe ich darüber gestern abend mit Paul Veyne gesprochen, der zu mir sagte: Aber natürlich kann man sich das vorstellen. Vielleicht könnte man sogar geltend machen, daß das melos der Gesang ist, der Gesang der Aufforderung, ohne daß das ausgeschlossen wäre, d. h. zumindest als Möglichkeit auf der Grundlage derselben Idee. Es ist beispielsweise der Gesang des Hirten, der seine Herde zurückruft oder andere Hirten anruft, der Gesang als Signal. Daher würde das melei mai nicht genau so etwas bedeuten wie »eine Melodie geht mir im Kopf herum«, sondern: es paßt mir, insofern es mich anruft oder mich einberuft. Mit unserem schrecklichen zeitgenössischen Vokabular würden wir sagen: Das macht mich an! (<;;:a m'interpelle).':' Das wäre ungefähr das, was wir in melei mai hätten. Ich sage Ihnen das im Sinne eines Hinweises, wenn Sie sich für das Problem der epimeleia interessieren. Wie ein musikalisches Geheimnis gäbe es im Begriff der Sorge also ein Geheimnis des musikalischen Appells. Die zweite Sache bezieht sich ebenfalls auf das, was ich Ihnen letztes Mal im Zusammenhang mit Dumezils Buch gesagt habe. Unvorsichtigerweise hatte ich Ihnen gesagt, [daß] unter allen interessanten Dingen in diesem Buch das zentrale Thema natürlich das Nebeneinanderstehen dieser beiden Kommen". Gelächter in der Zuhörerschaft. r60
:zre Dumezils ist: einerseits der Kommentar zu Nostradamus ;~nd andererseits der zu Platon. Ich habe versucht, die Analysen, Kommentare, Reaktionen, die man in der Presse zu diesem Buch findet, aufmerksam zu lesen, und ich war darüber ver::flüfft, daß manche Zeitungen es überhaupt nicht erwähnen. .\n.dere sprechen zwar darüber, beziehen sich aber [ausschließ~ich] auf den Text über Nostradamus. Niemand spricht von 2.em Text über Platon und a fortiori auch nicht von der Tatsadaß es diese beiden Texte gibt, den über Platon und den :;ber Nostradamus. Was ich Ihnen hier sagen werde, ist also nicht das, was Dumezil selbst sagt. Ich schlage eine bestimmte Interpretation vor, die sich wohl nicht völlig von seinen eigenen Gedanken unterscheidet, obwohl es nicht seine ausdrück~che Absicht war, die sich in dieser Nebeneinanderstellung der :ceiden Texte bekundet. Der erste Text über Nostradamus trägt Jen Titel einer Posse: Nostradamische Posse. Der andere wird ein Divertissement genannt.} Es handelt sich also um zwei Tex:e zur Unterhaltung, die jedoch nicht genau denselben Status :::aben. ~'.lan muß auch feststellen, daß diese beiden [Studien] eine bestimmte Form der Textanalyse ins Spiel bringen, eine bestimm:e Form der Wortanalyse, eine Methode der Überschneidung c,-erschiedener Hinweise, die man im Text finden kann, eine Art ::ier Methode des Kreuzworträtsels, die mit der von Dumezil in seinen verschiedenen Werken zur Analyse indoeuropäischer .\lythologien selbst verwendeten Methode völlig übereinstimmt. In einem bestimmten Sinn handelt es sich um eine Art 2.es Auf-die-Probe-Stellens seiner eigenen Methoden, eine Erprobung, die aufgrund der asymmetrischen Symmetrie zwischen den beiden Texten und den beiden Analysen offensicht:ich ironischen Charakter hat: Der eine ist eine Posse und der mdere ein Divertissement. Wenn wir diese beiden Texte be:rachten (den über Nostradamus und den über Platon), so 3:ellte Dumezil seine Methode, ihre Gültigkeit, ihre Rationaliden demonstrativen Charakter seiner Analysen unter Be"J.'eis. Er stellt all dies unter Beweis durch zwei Texte, die man r6r
für die heterogensten überhaupt halten mag. [Der Text] über Nostradamus stellt natürlich etwas dar, was man die für jeden Rationalismus allerzweifelhafteste [Schrift] nennen könnte. Ein prophetischer, dunkler Text, der mit einer Reihe von Interpretationen überladen ist, die seit dem 16. Jahrhundert seinen Sinn und Wert ständig verschleiert haben. Dumezil hat sich also denjenigen Text vorgenommen, der dem System der modernen und europäischen Rationalität am meisten fremd ist, einem System, dem er sich selbst verbunden fühlt. Er nimmt diesen Text und analysiert ihn mit den Methoden seiner Rationalität. Er erzielt eine Reihe von Ergebnissen. Dann betrachtet er einen Text von Platon, und zwar wählt er von den platonischen Texten den Phaidon und im Phaidon dann die letzte und wohlgemerkt zentrale Passage: Sokrates' Tod. In einem gewissen Sinne kann man wohl sagen, daß die Bedeutung oder der Wert von Sokrates' Tod im Zentrum der abendländischen Rationalität selbst steht. Schließlich handelt es sich doch um den Tod von Sokrates, wobei die Bedeutung dieses Todes für den philosophischen Diskurs, die philosophische Praxis und die philosophische Rationalität grundlegend ist. Seit zweitausend Jahren gelang es keinem Kommentator dieses Textes über das Hauptereignis, das die abendländische Rationalität begründete (Sokrates und sein Tod), Rechenschaft darüber abzulegen, was darin ausgesagt wurde und was Sokrates' letzte Worte eigentlich bedeuteten. Diese Rede von Sokrates, die unsere Rationalität begründet hat, endete mit einem Satz, den niemand bislang erklären konnte. Dumezil führt also seine Methode fort, die Methode, die er sein ganzes Leben lang bei seinen Analysen der indoeuropäischen Mythologie verwendete, die er auf Nostradamus angewendet hat, der selbst ein Beispiel für all das ist, was der Irrationalismus im abendländischen Diskurs hervorbringen konnte, und er führt sie fort, um das Problem eines Gründungsdiskurses, -textes oder -ereignisses [... ,:.] zu lösen zu versuchen. Er zeigt, daß alle Kommentatoren, alle Philo-
iophiehistoriker sich als völlig unfähig erwiesen, dieses kleine Rätsel des Hahnopfers zu lösen: Ich, Sokrates, sterbe und bitte 2m das Hahnopfer. Y(Cenn man nun die beiden Analysen nebeneinanderstellt, sieht man, glaube ich, wie Dumezil gewissermaßen die größtmögli:he Strecke zurückgelegt hat, wie er die größtmögliche Aus0.-eitung bei der Anwendung einer Methode vorgenommen :12.t, nämlich der philosophischen und strukturalen Analysemethode, die er verwendete. Folgendes ist, wie mir scheint, an 2iesem Text interessant und fast schon verwirrend: Er setzt sei::0: Methode auf zwei Registern ein. [Bei] der Analyse von ~ostradamus bringt er auf vollendete Weise das ironische Re~ster zum Einsatz. Er zeigt, wie weit man mit einer solchen ~,iethode gehen kann und wo ihre Grenze liegt. Am Ende sagt :::- sogar, daß Nostradamus ebenfalls - wie Dumezil- die drei:2.che indoeuropäische Funktionalität gesehen habe. Und da:1Cf schreibt er seine eigene Methode in den Schmelztiegel des I:-rationalismus dieses N ostradamus ein. Dann wendet er [in e:nem zweiten Register] dieselbe Methode, indem er sie wie3eraufnimmt und steigert, auf den Schmelztiegel der abendlän3ischen Rationalität an: Sokrates' Tod. Er führt dazu eine völ::g überzeugende Analyse durch, die eine Lücke füllt, was das ::chilosophische Nachdenken über Sokrates und seinen Tod ::,iemals erreichen konnte [... ':J Im Spiel zwischen diesen bei3en Texten zeigt sich die Bedeutung oder eine der Bedeutun~en dieses Buchs. Diese beiden kurzen Bemerkungen wollte :.::h als Nachtrag zur Vorlesung vom letzten Mal machen. Tenn Sie einverstanden sind, gehen wir nun zu dem Text :":oer, den ich analysieren wollte, nämlich den Laches. Im Hin.::Jick auf die Apologie und dann in der Fortsetzung mit Bezug den Kriton und den Phaidon habe ich versucht, Ihnen zu zeigen, wie Sokrates einen bestimmten Modus der Veridik::on einführte, der sich von anderen Modi unterschied und ih:-:::n sogar ausdrücklich entgegengesetzt war (dem Modus der
". Einige Worte sind hier nur schwer verständlich (man hört: »und dieser vorrationalen Web<).
. Das Ende des Satzes ist unverständlich.
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Prophezeiung, dem der Weisheit und schließlich dem der Lehre, der techne und ihrer Weitergabe). Von dieser sokratischen Veridiktion, deren Prinzipien, Regeln und unterscheidende Merkmale, wie mir scheint, deutlich in der Trilogie der sokratischen parrhesia hervortreten, möchte ich Ihnen ein Anwendungsbeispiel aus dem Dialog Laches geben. Natürlich fände man in vielen anderen Dialogen Platons und insbesondere in allen sokratischen Dialogen Beispiele für diese parrhesia, der Inszenierung des Spiels dieser Veridiktion, die für Sokrates eigentümlich ist und sich so sehr von der prophetischen Veridiktion, von der Veridiktion der Weisheit und von der Veridiktion der Lehre unterscheidet. Dennoch habe ich mich aus einer Reihe von Gründen an den Laches gehalten. Zunächst findet man im Laches die drei grundlegenden Wahlmöglichkeiten, die uns in der Apologie begegnet sind und die durch ihren Gegensatz zu den anderen Modi der Veridiktion das sokratische Wahrsprechen charakterisieren, sehr klar formuliert und ganz ausdrücklich miteinander verknüpft. Man begegnet erstens ganz ausdrücklich und relativ oft dem Begriff der parrhesia. Ich glaube, daß dies derjenige Dialog Platons ist, in dem das Substantiv parrhesia oder das Verb parrhesiazesthai am häufigsten verwendet werden. Jedenfalls erscheinen das Substantiv bzw. das Verb am Anfang des Dialogs. Sie charakterisieren die verschiedenen Gesprächspartner. Sie bezeichnen auch die Verpflichtung, die die verschiedenen Gesprächspartner gegenüber den anderen eingehen. Es gibt eine Art von parrhesiastischem Pakt, der ausdrücklich am Anfang des Dialogs formuliert wird. Außerdem erscheint Sokrates im Zentrum des Dialogs selbst als derjenige, der die parrhesia besitzt, der das Recht hat, von der parrhesia Gebrauch zu machen, und dem die Gesprächspartner das wesentliche Recht zuerkennen, davon Gebrauch zu machen, wie er es für richtig hält. Das Thema der parrhesia ist also ganz präsent. Zweitens begegnen wir auch jenem zweiten Begriff, von dem ich Ihnen zu zeigen versuchte, daß er in der Apologie präsent und wichtig war und daß er die sokratische Veridiktion auszeichnete, [indem er außer der par-
y};esiaJ ein bestimmtes Verfahren der Prüfung, der Probe, der :; ntersuchung und der Musterung [beinhaltete]: die exetasis als _·ht und Weise des Testens und Prüfens. Dieser Begriff kommt ::n Zentrum des Dialogs Laches selbst vor. Und wenn Sokrates' Gesprächspartner vor dem Beginn des richtigen und großen Gesprächs auf das Spiel eingehen, das Sokrates ihnen vor,chlägt, dann stellen sie selbst, wie Sie sehen werden, die exeta;:5 (das Prinzip der Prüfung) als Grundregel des Spiels auf, das Sokrates spielen wird und das sie selbst mit Sokrates zu spielen :'ereit sind. [Drittens] zieht sich der Begriff der epimeleia (der Begriff der Sorge) beständig durch den Dialog hindurch. Je:enfalls erscheint er ganz ausdrücklich am Anfang. Denn es ist eie Sorge um die jungen Leute (um ihre Erziehung, ihre Bilcung, um das Erlernen der Qualitäten und Tugenden, die man ~r die Politik braucht), die den Dialog auslöst. Wenn dieser et,:as später beendet wird, wird Sokrates als der einzig mögliche I:-äger dieser Sorge erscheinen. Er ist es, der die Pflicht haben sich um die jungen Leute zu kümmern, und an ihn wer:en sich die Eltern wenden, damit er sich auf dieselbe Weise um ::e Kinder kümmert, wie die Kinder sich ihrerseits um sich dbst kümmern sollen. Über den ganzen Dialog hinweg finden . also die Anschlußstelle, die Verbindung oder gleichsam die "-erflechtung dieser drei Begriffe: die parrhesia als unerschrok.c:ener Freimut des Wahrsprechens; die exetasis als Praxis der \fusterung und Prüfung der Seele; und schließlich die Sorge als ::gentliches Ziel und Zweck dieser parrhesia, dieses prüfenden ?:-eimuts. Das ist der erste Grund, warum ich den Laches als ::-klärenden Dialog in Betracht gezogen habe. Z'0:eitens ist dieser Dialog wichtig und charakteristisch, weil er ö:ne bestimmte Beziehung zur Bühne der Politik unterhält. I,,:sächlich ist an ihm in gewisser Hinsicht nichts Außerge7.-ohnliches. Man sieht darin, wie Sokrates über die Bildung der -'elgen Leute diskutiert, die, da sie alle zur Aristokratie, zu den ;-:-ogen Familien Athens gehören, dazu bestimmt sind, eines Izges eine Rolle im Staat zu spielen und Positionen einzuneh::::en, die ihnen zivile oder militärische Verantwortlichkeiten
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auferlegen werden. Das ist nicht außergewöhnlich. Ziemlich sonderbar ist an diesem Dialog dagegen die Tatsache, daß die Leute, mit denen Sokrates über die Bildung der jungen Menschen diskutieren wird, nicht jung sind. Es sind Erwachsene. Und diese Erwachsenen sind gerade Männer, die zu der Zeit, zu der der Dialog eigentlich stattfindet, politische Funktionen ausüben. Gewiß sieht man auch in anderen sokratischen Dialogen Leute, Erwachsene im Gespräch miteinander. Und diese Erwachsenen sind meistens Leute, die politische Funktionen ausübten oder dazu in der Lage waren oder zu Familien gehörten, die im Staat eine wichtige Rolle spielen. Aber hier im Laches sind es Politiker, die zu der Zeit des Gesprächs ganz konkrete Funktionen ausüben, es sind Persönlichkeiten, die einen ganz bestimmten historischen Ort einnehmen. Da ist etwa Nikias, der die wichtigste politische Person Athens nach PerikIes, also am Ende des 5. Jahrhunderts, war. Er kommandierte die Expedition nach Sizilien, und auf Sizilien starb er. Laches ist ein wichtiger Kriegsherr, ein Mann, der vor allem militärische Funktionen ausübte und in der Schlacht von Potideia getötet wurde, der jedoch eine wichtige Rolle spielte. In diesem Dialog sehen wir also etwas, das wir praktisch in keinem anderen finden: Sokrates befragt außerordentliche Staatsmänner, und zwar genau zu der Zeit, da sie ihre Funktionen ausüben. Wie Sie sich erinnern, war genau von dieser Situation in der Apologie die Rede, als Sokrates sagte, daß er auf das Geheiß des Gottes, der ihn mit verschiedenen Aufgaben betraut hatte, die verschiedenen Bürger Athens besuchte, angefangen bei den hervorragendsten und wichtigsten Staatsmännern, und dann bis zu den Handwerkern ging. 4 Hier haben wir nun genau diese Situation: Sokrates kommt in direkten Kontakt mit der politischen Szene, und das ganze Spiel des Dialogs läuft darauf hinaus zu zeigen, auf welche Weise er etwas vorschlagen wird, das eben nicht die Form des politischen Spiels hat, obwohl er sich direkt an die Politiker wendet und daher in direktem Kontakt zur politischen Tätigkeit steht. Er wird eine Art von Reden und Veridiktion vorschlagen, die nicht die Reden der politi-
,chen Veridiktion sind, und die Politiker in dieses andere ein:,eten lassen. Das ist der zweite Grund, warum der Laches mir ~::teressant und wichtig erscheint. ::)er dritte Grund besteht darin, daß dieser Dialog wohlge::rerkt gänzlich vom Thema der Tapferkeit durchzogen ist, da oein Thema ja der Versuch sein wird zu bestimmen, was die Tapferkeit ihrem Wesen nach ist, um gewissermaßen die Wahr~-:eit der Tapferkeit zur Sprache zu bringen. Aber dieses Thema ier Tapferkeit ist nicht einfach nur Gegenstand des Dialogs, 5 Jndern kennzeichnet auch seine verschiedenen Personen. Vor lilem Laches, der ein Kriegsherr ist, und Nikias, der sowohl =:ne politische als auch eine militärische Führungsrolle spielt, s:nd tapfere Männer. Außerdem war Sokrates - das wird an ::rindestens zwei Stellen wiederholt und in Erinnerung geru:en - selbst Soldat und hat in der Schlacht, im Krieg seine kör?erliche Tapferkeit wirklich unter Beweis gestellt. Aber es geht iarüber hinaus: Jeder dieser Männer, die auf dem Schlachtfeld, :::r zivilen und militärischen Leben Tapferkeit beweisen, um ien Staat zu verteidigen, beweist seine Tapferkeit auch im Dia_')g. Tapferkeit, wie wir sehen werden, um peinliche Dinge einzugestehen, Tapferkeit der bei den Generäle, der beiden Politi,;:er Laches und Nikias, um auf Sokrates' Fragen zu antworten, Tapferkeit auch seitens Sokrates', [um] diesen Männern, die im Staat eine so große Bedeutung haben, die Stirn zu bieten. Die Tapferkeit ist also als Thema des Dialogs gegenwärtig; sie ist als ;;leichsam staatsbürgerliches Kennzeichen des Wertes der verschiedenen Personen gegenwärtig; sie ist außerdem die moralische Spielregel innerhalb des Dialogs, wo sich aLes um diese Frage nach der Tapferkeit dreht: Worin besteht für diese wirk:ich tapferen Männer die Wahrheit der Tapferkeit? Aber um liese Frage zu stellen, um sie ordentlich zu behandeln, muß ::ran zudem die Tapferkeit der Dialektik besitzen. Es ist also iie Verflechtung des Themas der Tapferkeit mit dem Thema ier Wahrheit - dem Problem des Mutes zur Wahrheit, das von 7-:ahrhaft mutigen Männern gestellt wird, die den Mut haben, sich mit der Frage nach der Wahrheit, und zwar der Wahrheit
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der Tapferkeit auseinanderzusetzen -, was das Zentrum des Dialogs bildet. Seit ich die Absicht hatte, dieses Jahr über das Thema des Mutes zur Wahrheit zu sprechen, war es offensichtlich doch etwas schwierig, auf diesen Text, der als einer der ganz seltenen in der gesamten abendländischen Philosophie an erster Stelle die Frage nach dem Mut und vor allem nach dem Mut zur Wahrheit stellt, nicht einzugehen. Welche ethische Beziehung besteht zwischen Tapferkeit und Wahrheit? Oder anders gesagt, inwiefern impliziert die Ethik der Wahrheit die Tapferkeit? Das Thema der Ethik der Wahrheit [... ':-], die Frage nach den moralischen Bedingungen, die einem Subjekt den Zugang zur Wahrheit und das Aussprechen der Wahrheit gestatten, diese Frage finden Sie selbstverständlich auch häufig anderswo. Man kann jedoch sagen, daß sie für die Konstruktion dieses Dialogs zentral ist. Was man gewöhnlich findet und was den größten Teil des abendländischen Denkens an der Oberfläche beschäftigt hat, ist die Frage nach der Ethik der Wahrheit in Gestalt der Frage nach der Reinheit oder der Reinigung des Subjekts. Vom Pythagoreismus bis zur modernen abendländischen Philosophie gibt es eine ganze Kathartik der Wahrheit. 5 Das ist die Vorstellung, daß das Subjekt, um Zugang zur Wahrheit zu haben, sich durch einen gewissen Bruch mit der Welt der Sinne, der Welt des Makels, der Welt der Selbstsucht und des Vergnügens konstituiert, mit dieser ganzen Welt also, die gegenüber der Ewigkeit der Wahrheit und ihrer Reinheit das Reich des Unreinen darstellt. Der Übergang vom Unreinen zum Reinen, der Übergang vom Dunklen zum Durchsichtigen, der Übergang vom Vergänglichen und Flüchtigen zum Ewigen kennzeichnet jedenfalls die moralische Bahn, auf der das Subjekt sich als ein solches konstituieren kann, das zur Wahrheit fähig ist (fähig, die Wahrheit zu sehen und sie zu sagen). Diese ganze Kathartik findet man seit dem Pythagoreismus, und man begegnet ihr auch noch in der Philosophie der Moderne. Denn ,,- Anfang des Satzes unverständlich. r68
schließlich ist natürlich auch der kartesische Ansatz ein kathar:ischer: Unter welchen Bedingungen kann sich das Subjekt als :-einer Blick konstituieren, und zwar unabhängig von jeglichem besonderen Interesse und offen für die Universalität im Erfassen der kathartischen Wahrheit?6 Aber die Kathartik (die i3edingung der Läuterung des Subjekts, damit es zum Subjekt Jer Wahrheit werden kann) ist nur ein Aspekt [der Ethik der ·~'7ahrheit]. Es gibt noch einen anderen Aspekt, nämlich den des :\lutes zur Wahrheit: Welche Art von Entschluß, welche Art -;on Willen, welche Art des Kampfes und nicht nur des Opfers "ann man aufbringen, um zur Wahrheit zu gelangen? Dieser i-\.ampf für die Wahrheit ist etwas anderes als die Läuterung, iurch die man zur Wahrheit gelangt. Es wäre interessant, hier Jen Unterschied zu bestimmen. Es würde sich nicht mehr um iie Analyse der Läuterung für die Wahrheit handeln, sondern ·lm die Analyse des Willens zur Wahrheit in seinen verschiede:-~en Formen, nämlich der Neugier, des Kampfes, des Mutes, J.es Entschlusses, der Ausdauer. Jedenfalls scheint mir, daß sich :.:-, diesem Text Platons, dem Laches, eines der Elemente, einer :ler Ausgangspunkte für die Analyse dieses Aspekts der Ethik :ler Wahrheit finden läßt. :Jer letzte Grund, aus dem ich etwas auf den Laches eingehen ::nächte, liegt darin, daß man hier den Ausgangspunkt einer der Entwicklungslinien der abendländischen Philosophie bezeich::cer findet. Sie erinnern sich, letztes Jahr oder vor zwei Jahren :"latten wir uns zusammen den Text des Alkibiades angesehen. 7 :Jieser Text steht in vielen Punkten, zumindest aber in einigen seiner Themen, dem ziemlich nahe, was wir im Laches finden. =::n Alkibiades geht es ja ebenfalls um die Bildung eines jungen ~\1annes. Es geht, wie Sie im Laches sehen werden, um eine BilJung, die um so notwendiger geworden ist, als die Eltern oder iie Lehrmeister des jungen Mannes nicht in der Lage waren, ::im [diese] Bildung zu vermitteln. Diese Beziehung zwischen Erziehung und Vernachlässigung wird im Alkibiades wie im :"aches das Prinzip der Sorge begründen. Man muß sich um die Erziehung der jungen Leute kümmern: All das findet man im r69
Alkibiades und im Laches wieder. Nur hier, im Alkibiades, führt diese Thematik der Erziehung, der Vernachlässigung und der Sorge ziemlich schnell zu einem klassischen Problem, nämlich der Frage: Worum soll man sich kümmern? Sie erinnern sich, die Antwort, die Alkibiades gibt, ist: Man soll sich um die Seele kümmern. 8 An dieser Stelle erhebt sich die Frage: Was ist die Seele? Worin besteht ihre Eigenart? Worin besteht das Sich-Kümmern um die Seele? Hier fanden wir das Prinzip, daß sich um die Seele zu kümmern für die Seele bedeutet, sich selbst aufmerksam zu betrachten und dadurch das göttliche Element zu erkennen, welches ihr gerade ermöglicht, die Wahrheit zu sehen. Von da an mündete das Thema der epimeleia gewissermaßen rasch und direkt in das Prinzip der Existenz der Seele, der Möglichkeit, der Notwendigkeit für die Seele, sich selbst aufmerksam zu betrachten, und endete schließlich beim Thema der Göttlichkeit der Seele oder zumindest des göttlichen Elements in der Seele. In diesem Sinne verbindet der Alkibiades - Sie wissen, [daß] sich die Frage nach der Datierung des Dialogs stellte 9 - auf sehr knappe Weise die Themen von Platons Frühdialogen (wie die Bildung [... ,:.]) mit denen seiner Spätdialoge und am Ende sogar mit den Themen des Neoplatonismus. Im Laches haben wir dagegen im Ausgang von einer recht ähnlichen Grundlage, einer [ähnlichenY<' Frage zur Bildung der jungen Leute, zur Vernachlässigung ihrer Erziehung, zur Notwendigkeit, sich um sie zu kümmern, eine ganz andere Entwicklungs linie des Dialogs. In einem gewissen Sinn wird er den Punkt nie erreichen, zu dem der Alkibiades so rasch führte. Das heißt, daß man sich im Laches nie danach fragt, worum man sich eigentlich kümmern solL Das Thema ist: Man soll sich um die jungen Leute kümmern und sie lehren, sich um sich selbst zu kümmern. Aber was sind sie selbst, worum genau sollen sie sich kümmern? Das wird nicht gesagt. Oder vielmehr: es wird nicht gesagt, aber eigentlich doch. Aber es wird nicht ". Hier gibt es einige unverständliche Wörter. ".". M. E: von benachbarter Form
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eigentlich gesagt, daß es die Seele als die unsterbliche Wirklichist, der man seine Aufmerksamkeit schenken und die das c:rste und letzte Ziel der Sorge um sich selbst sein solL Hier ist der Gegenstand, der im Laufe des Dialoges als dasjenige bezeichnet wird, um das man sich kümmern soll, nicht die Seele, sondern das Leben (der bias), d. h. die Art und Weise, wie man lebt. Diese Modalität, diese Praxis der Existenz stellt den grundlegenden Gegenstand der epimeleia dar. \\'enn wir den Laches und den Alkibiades miteinander vergleichen, erkennen wir den Ausgangspunkt von zwei großen Entn-icklungslinien der Reflexion und der Praxis der Philosophie: die Philosophie als dasjenige, was die Menschen, indem es sie anreizt und anhält, sich um sich selbst zu kümmern, zur meta?hysischen Wirklichkeit der Seele führt, und die Philosophie ais Prüfung des Lebens, eine Prüfung der Existenz und der Entfaltung einer bestimmten Form und Modalität des Lebens. ::\atürlich gibt es zwischen diesen beiden Thematiken keine C nverträglichkeit (die Philosophie als Prüfung des Lebens und Philosophie als Erkenntnis der Seele). Obwohl keinerlei Cnverträglichkeit besteht, obwohl die beiden Dinge insbesondere bei Platon aufs engste miteinander verbunden sind, glaube :ch dennoch, daß hier der Ausgangspunkt für zwei Aspekte, gleichsam für zwei Profile der philosophischen Tätigkeit, der ?hilosophischen Praxis im Abendland liegt. Einerseits eine Philosophie, die sich unter das Zeichen der Erkenntnis der See:e zu stellen hat und die aus dieser Erkenntnis der Seele eine Ontologie des Selbst macht. Und andererseits eine Philosophie Prüfung des Lebens, des bias, der das Thema der Ethik und Gegenstand einer Kunst des Selbst ist. Diese beiden großen Profile der platonischen Philosophie, der griechischen Philosophie, der abendländischen Philosophie sind relativ leicht zu entziffern, wenn man die beiden Dialoge des Laches und des Alkibiades miteinander vergleicht. Auch hier noch eine kurze Bemerkung, und dann werden wir den Dialog einsteigen. Ich hatte letztes Jahr 10 über ein Buch ;'on Patocka gesprochen, das gerade ins Französische übersetzt 17 1
':. Das Ende des Satzes ist schwer verständlich. Man hört nur: »allgemein husserlianisch«.
zweite Passage, die ich zu erklären versuchen werde, steht am Ende des ersten Drittels des Textes: Es geht darin um die Definition und die Annahme der sokratischen Prüfung (exetasis). Das dritte Moment steht schließlich ganz am Ende des Textes, am Schluß, wo man das Spiel des Problems der Notwendigkeit, der Suche nach dem Lehrmeister und das Gebot der Sorge um sich selbst erkennt. Erstens also der Anfang des Textes, die erste Zeile der Seite: der Pakt der Offenherzigkeit. Ganz am Anfang, bevor Sokrates :iberhaupt zur Teilnahme eingeladen wurde, sieht man vier Personen. Die erste heißt Lysimachos und die andere Melesias. :'vielesias redet kaum, er macht sich ganz klein. Die beiden ersten Personen, Lysimachos und Melesias, sind gewissermaßen die Verbindungs glieder des Dialogs, sie provozieren den Dia,ag und lösen ihn aus, sie veranstalten ihn, denn sie haben eine Frage zu stellen und möchten darauf eine Antwort erhalten: Um nun eine Antwort auf diese Frage zu erhalten, versuchen sie, einen Dialog zu veranstalten. Sie sind es auch, die von Zeit zu Zeit im Laufe des Dialogs die Debatte neu entfachen. Schließlich sind sie es, die nach Beendigung der Debatte und :rotz der Tatsache, daß sie zumindest scheinbar ihr Ziel nicht erreicht hat, den gebotenen Entschluß fassen. Wir können also sagen, daß diese beiden Personen (Lysimachos und Melesias) die Auftraggeber des Dialogs sind. uie wirklichen Dialogpartner sind zwei andere Personen, Ni.:(ias und Laches. Nikias ist jener politische Beauftragte, der im L.eben Athens am Ende des 5. Jahrhunderts von so großer Beieutung ist, und Laches [ist ein] General. Sie werden nach ihrer ],leinung gefragt, sie werden von Lysimachos und Melesias be2.·..lftragt, eine bestimmte Frage zu erörtern, die von großer Beieutung ist. In dieser Vorstellung der vier ersten Personen sieht ::lan sofort sehr klar, wie sich der Begriff der parrhesia, des Freimuts, mit dem der Sorge verknüpft. Ich lese Ihnen die al:trersten Zeilen vor: »Lysimachas. - Ihr habt nun, mein Nikias "..lnd Laches, dem Waffenkampfe des Mannes zugesehen; weswir aber, ich und Melesias hier, euch gebeten haben, ihn
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wurde. Patocka ist ein tschechischer Philosoph, der vor fünf Jahren starb 11 und von dem ein Seminar mit dem Titel Platan und Eurapa auf Französisch veröffentlicht wurde. 12 Der Text ist sehr interessant, denn er ist jedenfalls unter den modernen Büchern zur Philosophiegeschichte der einzige, glaube ich, der dem Begriff der epimeleia, der Sorge bei Platon einen sehr wichtigen Platz einräumt. In diesem Begriff der Sorge erkennt er die Verwurzelung der abendländischen Metaphysik, und daher auch des Schicksals der europäischen Rationalität [... ::"]. Ich empfehle Ihnen dieses Buch. Der Punkt, an dem ich von ihm abweichen werde, obwohl ich anerkenne, wie interessant es als Analyse der epimeleia und der Sorge ist, besteht darin, daß es die epimeleia im wesentlichen nicht als Sorge um sich selbst, sondern um die Seele auffaßt. Das heißt, es faßt diese Thematik, wie mir scheint, nur in der Form, der Richtung und unter dem Gesichtspunkt der Erkenntnis und der Ontologie der Seele auf. Alles, was den Begriff und das Thema der Sorge um sich als Prüfung, Infragestellung, Musterung, Untersuchung des Lebens (des bias) betrifft, verschwindet in seiner Analyse. Und genau diese Seite möchte ich ausgehend vom Laches [hervorheben], einem Text, in dem man den bias ganz klar als Gegenstand der Sorge, und zwar viel stärker als die Seele in Erscheinung treten sieht. Dieses Thema des bias als Gegenstand der Sorge [scheint] mir der Ausgangspunkt für eine ganze philosophische Praxis und Tätigkeit zu sein, dessen erstes Beispiel natürlich der Kynismus ist. Der Laches also als Ausgangspunkt der Frage nach der Sorge um sich selbst, als Prüfung des Lebens und nicht als Erkenntnis der Seele. In diesem Dialog werde ich drei Momente auswählen, drei besondere TextsteIlen, die es gerade ermöglichen, die Beziehung zu bestimmen, die zwischen der Offenheit (der parrhesia, dem Freimut), der Prüfung und der Sorge bestehen. Die erste Passage befindet sich ganz am Anfang und leitet den Dialog ein. Man könnte es den Pakt der Offenheit nennen. Die
mit uns anzusehen, das haben wir euch noch nicht gesagt, wollen es aber jetzt erklären. Denn wir sind überzeugt, daß wir uns gegen euch ganz freimütig aussprechen dürfen (ge hymas parrhesiazesthai). Es fehlt nämlich nicht an solchen, welche über diese Übungen lachen und, wenn sie jemand um ihre Ansicht fragt, nicht sagen, was sie denken, sondern, der Ansicht des Fragenden sich anbequemend, ihrer eigenen Meinung zuwider sich ganz anders aussprechen. Von euch aber, sind wir überzeugt, daß ihr nicht nur Sachverständige seid, sondern auch als solche eure Meinung unumwunden aussprechen werdet [haplos eipein: ihr werdet in der Lage sein, ganz direkt, ganz offen, ganz einfach zu sprechen, um sie uns mitzuteilen; M. E], und darum haben wir euch zu der Beratung beigezogen, deren Gegenstand wir euch mitzuteilen im Begriffe sind. Die Sache nun, über welche ich zuvörderst so viele Worte mache, ist folgende.«!3 Lysimachos und Melesias haben also ihre beiden Freunde, Laches und Nikias zu einem Schauspiel mitgenommen. Um was für ein Schauspiel handelt es sich? Es ist die Vorführung eines Waffenmeisters - dessen Name man später erfährt: Stesilaos -, der den Zuschauern zeigt, was er kann. Das ist das erste. Die Tatsache, daß es sich um ein Schauspiel handelt, ist für die ganze Angelegenheit nicht ganz belanglos. Der Waffenmeister, um den es hier geht (Stesilaos), begnügt sich in der Tat nicht damit, in Worten zu erklären, was er alles kann. Seine verbalen Prahlereien findet man bei gewissen Sophisten, die in anderen Dialogen vorkommen. Beispielsweise erklärt Hippias in Worten, was er kann, wohl aufgrund der Gefahr, nicht all das ausführen zu können, dessen er sich rühmt. 14 Jedenfalls haben wir hier jemanden, der sich als Lehrer vorstellt, als eine Art von Sophist, der genauer auf den Umgang mit Waffen spezialisiert ist, und er zeigt tatsächlich, was er kann. Er stellt sich selbst auf die Probe. Dieser Probe sehen nun Lysimachos und Melesias, Laches und Nikias zu. Diesem Schauspiel wohnen sie bei. Auf diese Weise laufen sie nicht Gefahr, sich von den Schmeicheleien einer überredenden Rhetorik einwickeln zu lassen. Sie wer-
den mit ihren eigenen Augen einschätzen und beurteilen können. Der Dialog erinnert mehrmals daran, was Stesilaos alles kann. Davon haben wir Zeugen, Augenzeugen. Sie sehen, daß wir uns hier schon in einer Dimension befinden, die nicht mehr die der verbalen Präsentation ist, der Fähigkeit, durch Worte das vorzustellen, was man nach dem allgemeinen Dafürhalten tun kann. Wir befinden uns im Bereich der Prüfung, und zwar der direkten visuellen Prüfung. Zweitens [gibt es] auch jenen Punkt, an den Lysimachos erinnert. Sie sind nicht nur gekommen, um dieses Schauspiel, in dem der Waffenmeister sich selbst beweist, mit eigenen Augen zu sehen und zu erleben, sondern Lysimachos und Melesias haSen außerdem dafür Sorge getragen, Laches und Nikias nicht zu sagen, warum sie die beiden mitgenommen haben, damit die Prüfung klar und rein sei. Sie haben Nikias und Laches zu dem Schauspiel, zu der Sache selbst einbestellt. Und sie haben ihnen "icht gesagt, warum sie sie dorthin eingeladen hatten, so daß ~ikias und Laches wirklich und gleichsam ohne Vorurteile die Taten des Stesilaos beurteilen konnten. Drittens zeigt der Text, daß noch eine andere Vorsichtsmaß"ahme getroffen wurde. Wenn Lysimachos und Melesias beschlossen haben, diese beiden Männer, Laches und Nikias, zu diesem Schauspiel mitzunehmen, ohne ihnen den Grund dafür zu nennen, dann deshalb, weil sie sich einerseits in der Sache J.uskennen (sie sind ja Kriegsherren, Leute, die militärische Funktionen ausgeübt haben), und andererseits, weil [sie] nicht die Eigenschaft haben, ihre Gedanken zu verschleiern.!5 Wenn es auch stimmt, so der Text, daß manche so geartet sind, daß sie :::ich über die Dinge, die sie sehen, lustig machen, aber anschlie;end nicht den Mut haben, all das Schlimme, das sie darüber lenken, auch zu sagen, so werden doch Nikias und Laches ih~erseits, nachdem sie die Vorführung selbst gesehen haben, Jhne irgendein Vorurteil, ohne jegliche vorgefaßte Meinung, c:a sie ja nicht einmal wissen, warum man sie mitgenommen ::at, genügend Charakterstärke besitzen, um zu sagen, was sie :a\'on halten, ohne es zu verschleiern.
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Sie sehen also, wie eine ganze Reihe von Vorsichtsmaßnahmen getroffen wird, um die Bedingungen bzw. die Bühne für das Wahrsprechen zu bereiten. Es soll ein gut geschützter und gesicherter Ort für das Erscheinen der Wahrheit eingerichtet werden. Und um diesen Ort der Wahrheit herum soll das Hervortreten der Wahrheit von allem Täuschenden in der Rede abgeschirmt werden. Wir werden also die Sache selbst zu sehen bekommen. Die Zuschauer sind stumm, und an Nikias und Laches wird von Lysimachos offen eine Frage gestellt, auf die man von ihnen eine offene Antwort erwartet. Die parrhesia ist also gerade das Zeichen, unter dem sich der ganze Dialog dank all dieser Vorsichtsmaßnahmen abspielen wird. Was ist der Gegenstand, das Motiv für all diese Maßnahmen? Warum ist es so wichtig, daß die parrhesia bei dieser [neuen] Frage, die man stellen wird, eine Rolle spielt? [Weil] diese Frage, die so wichtig ist, daß man die Bühne der parrhesia sorgfältig einrichten muß, sich auf die Sorge bezieht, die man den Kindern angedeihen lassen soll, und auf die Art und Weise, wie man sich um sie kümmern soll. Denn, so erklärt Lysimachos dem Laches und dem Nikias, ihr habt doch Söhne, und ihr habt euch bestimmt um sie gekümmert. Entweder habt ihr euch um sie gekümmert [und] habt also darüber nachgedacht, was das Beste für sie ist; oder ihr habt euch nicht um eure Söhne gekümmert, und in diesem Fall wäre es höchste Zeit, daß ihr es tätet. 16 Jedenfalls habt ihr gewiß etwas über die Art und Weise zu sagen, wie man sich um die Kinder kümmern soll. [Es geht also darum], auf folgende Frage zu antworten: Sollen wir wirklich, Lysimachos und Melesias - und möglicherweise auch ihr, Nikias und Laches - unsere Söhne diesem Waffenmeister anvertrauen, dessen Proben und Übungen wir unmittelbar gesehen haben? Ist der Unterricht, den sie von ihm empfangen würden und den er ihnen erteilen könnte, wirklich der Mühe wert? Diese Frage stellen Lysimachos und Melesias. Aber gleich nachdem sie sie gestellt haben, fügen sie einen besonderen Grund hinzu, weshalb sie sie stellten. Sie geben den Grund an, warum sie sich einerseits selbst so intensiv um die Erziehung 17 6
ihrer Kinder kümmern und weshalb sie sich dabei an Nikias und Laches wenden, die wohl kompetenter als sie selbst sind. ,«"ras ist dieser Grund? Nun, sagt Lysimachos in seinem eigenen und im Namen des Melesias, der Grund, weshalb wir uns um unsere Kinder kümmern und euch wegen ihrer Erziehung um Rat fragen, ist folgender: Wenn wir unser eigenes Leben beerachten, d. h. das Leben von Melesias und Lysimachos, stellen ,,:ir fest, daß wir weder etwas Gutes noch etwas Glänzendes in unserem Leben getan haben. Wir gehören zwar großen Familien an, und unsere Vorfahren genossen großes Ansehen, unsere \ Täter hatten gewiß eine sehr hohe Stellung in der Stadt. 17 Aber '\vas uns angeht, so muß man doch zugeben, daß wir ein letzt.. unscheinbares und mittelmäßiges Leben geführt haben chne eine jener glänzenden Handlungen, die uns gerade dazu ermächtigen könnten, unseren eigenen Kindern Ratschläge :iber die Art ihres Benehmens zu geben. Wir sind jedenfalls [licht jene Art von Vorbild, das Söhne vor Augen haben könn:en und sollten, um ihren eigenen Charakter zu bilden und ihre eigene Existenz zu begründen. Unsere Eltern, sagen sie, waren ·:ergeblich wichtige Personen und haben vergeblich eine große Rolle im Staat gespielt, wir dagegen haben es nicht. Und sogleich fügt Lysimachos hinzu: Aber wenn wir selbst ein so unscheinbares Leben geführt haben, liegt der Grund dafür dann nicht gerade darin, daß unsere Eltern, unsere Väter sich um die Angelegenheiten anderer gekümmert haben? So sehr, wie sie ,'on den Angelegenheiten des Staates aufgesogen waren, so beschäftigt sie damit waren, ta ton allon pragmata (die Angelegenheiten der anderen)18 zu behandeln, konnten sie nicht umhin, uns zu vernachlässigen. Und weil wir in unserer Kindheit yernachlässigt wurden, weil man sich nicht um uns gekümmert hat, haben wir ein unscheinbares Leben geführt. Diese Vernachlässigung, der Melesias und Lysimachos anheimfielen, als sie Kinder waren, und zwar gerade aufgrund des hohen politischen Vermögens ihrer Eltern, erklärt zugleich, warum Lysi:nachos und Melesias darum besorgt sind, daß ihre eigenen hinder nicht vernachlässigt werden, und auch, warum sie, die 177
so unscheinbar sind und die ihren Kindern so glanzlose Vorbilder zu bieten haben, sich an Nikias und Laches wandten, an glänzende Männer, die ihrerseits gewiß etwas über die Erziehung der Kinder zu sagen haben. ':. In dem Augenblick aber, da sie diese Erklärung bezüglich der epimeleia (das Wort kommt in diesen Passagen ein halbes Dutzend mal vor) geben, nachdem sie erklärt haben, warum sie sich so um die Betreuung sorgen, die sie ihren Kindern zuteil werden lassen sollen, geben sie zu verstehen, daß sie dies wohl nicht ohne ein gewisses Gefühl der Scham sagen. 19 Denn es ist nicht angenehm, gegenüber Nikias und Laches einzugestehen, daß ihnen der geringe Glanz ihres eigenen Lebens peinlich ist und sie zu einer ganz besonderen Sorge um die Betreuung ihrer Kinder veranlaßt. Sie müssen also diese Erklärung ihrer eigenen Sorge geben. Sie müssen den beiden diese Erklärung geben, indem sie ihre eigene Scham, ihre eigene Verlegenheit überwinden. Und worauf müssen sie sich zu diesem Zweck berufen? Nun, auf die parrhesia (auf die Offenheit, auf den Freimut). Lysimachos sagt folgendes: »Weshalb wir aber das beschlossen haben [uns an euch zu wenden, um euch über die Erziehung unserer Kinder um Rat zu fragen; M. E], lieber Nikias und Laches, das sollt ihr vernehmen, wenn ich auch ein wenig umständlich sein muß [.. .]. Nun, wie ich gleich anfangs sagte, wir >'-
Im Manuskript schreibt Foucault, daß er in der antiken Moral einerseits eine Spannung sieht »zwischen der Sorge um die anderen im Rahmen der Politik, die die ethische Sorge um sich und die anderen so schwierig zu machen scheint, und andererseits der ethischen Sorge um sich und die anderen, von der man so häufig verlangt, daß sie zur politischen Sorge wie zu ihrem Seins grund und zu ihrer Erfüllung oder wie zu einer ihrer wesentlichen Pflichten führe«, und andererseits eine Beziehung des gegenseitigen Ausschlusses zwischen ,>mn, was einem gefällt« und »sich um sich selbst kümmern«: "Dieses Spiel zwischen der Notwendigkeit einer Leitung, durch die der Lehrer oder der Vater die Seele und das Verhalten der anderen steuert, und dem Prinzip einer Autonomie und Souveränität bezüglich sich selbst, die die Krönung dieser Anstrengung und Arbeit, dieser askesis ist, durch die man sich um sich selbst kümmert, ist ein wichtiger Punkt in der Geschichte der antiken Moral.«
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wollen uns ganz offen gegen euch aussprechen. Jeder von uns weiß den Jünglingen zwar von seinem Vater viele rühmliche Taten zu erzählen, wie sie solche im Krieg und wie sie sie im Frieden vollbracht haben, als Lenker der Angelegenheiten der Bundesgenossen wie der unserer Stadt; eigene Taten weiß aber keiner von uns namhaft zu machen. Darüber schämen wir uns ebenso vor ihnen, als wir es unseren Vätern zum Vorwurf ma:::hen, daß sie uns, nachdem wir Jünglinge geworden waren, in yornehmem Müßiggang hinleben ließen, während sie ihre Tä:igkeit fremden Angelegenheiten widmeten.«2o Sie sehen, daß das Thema der epimeleia, der Sorge, die man den Kindern gegenüber aufbringen soll, und das Thema der parrhesia direkt miteinander verknüpft sind. Sie können nicht anders, als sich die parrhesia zu berufen, auf ihren Mut, die Wahrheit zu sagen, um die Frage nach der Betreuung der Kinder zu stellen, \\'eil sie selbst vernachlässigt wurden und nicht in der Lage sind, Vorbilder abzugeben [... ':1 Das wollte ich Ihnen zu den allerersten Zeilen des Dialogs sagen. Jetzt möchte ich zum wichtigsten Teil des Dialogs übergenen, d. h. zur Bestimmung der sokratischen Prüfung. Nachdem .\lelesias und Lysimachos Nikias und Laches aufgefordert ha:,en, sieht man, wie Nikias und Laches der an sie gerichteten Bitte entgegenkommen. Sie werden ihre Meinung über das Schauspiel, dem sie beiwohnten, abgeben, nämlich der Vorfühmng des Stesilaos, der diese Art von Vorstellung, dieses Schauspiel seiner eigenen Fähigkeiten als Waffenmeister gibt. Zuerst :~ören wir die Meinung von Nikias, dann die von Laches. Man sollte betonen, daß diese Konfrontation der beiden Meinungen ':on Nikias und Laches über den Waffenmeister sehr genau die Form einer politischen Diskussion annimmt. Wir haben hier eine Art von analogon zur politischen Bühne, ein analogon zu einer Versammlung, bei der die beiden Partner Schritt für Schritt ihre eigenen Meinungen in einer zusammenhängenden Rede entwickeln werden. Auf der einen Seite findet Nikias die -- Das Ende des Satzes ist unverständlich.
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Lektionen des Waffenmeisters nützlich. Sie sind nützlich, weil sie eine gute Vorbereitung auf Kämpfe darstellen. Sie stellen auch insofern eine gute Vorbereitung dar, als [er] in der Lage [ist], die jungen Leute in die Kunst der Schlacht und schließlich in die Gesamtheit der Strategie einzuführen. [Außerdem] sind sie eine gute Vorbereitung, weil er in der Lage ist, den jungen Leuten, die künftig ihr Vaterland verteidigen sollen, moralische Qualitäten des Mutes und der Kühnheit beizubringen. Diese Übungen sind sogar dazu angetan, körperliche Qualitäten hervorzubringen, und zwar nicht nur Qualitäten der Kraft und Ausdauer, sondern auch eine gewisse Schönheit der Haltung, eine Schönheit des Gestus, von der Nikias sagt, daß sie außerdem sehr wichtig sei. 21 Dagegen steht nun die Rede von Laches, der die Übungen kritisiert [... ':.]. Sie zeigen die Fähigkeiten von Waffenmeistern nur in den Staaten, wo es eben kaum gut trainierte Soldaten gibt. 22 Und dann - das ist der zweite Grund, und wie wir gleich noch sehen werden, ist dieser Punkt wegen seines Gegensatzes zu Sokrates' Ansicht sehr wichtig - hat Laches als General gesehen, wie sich dieser Waffenmeister in einer Schlacht verhielt. Er erwies sich nämlich zum einen als nicht besonders mutig, vor allem aber als sehr ungeschickt, und zwar so sehr, daß seine Mitkämpfer sich vor Lachen bogen, als sie sahen, wie unfähig er war, seine eigenen Lektionen in die Praxis umzusetzen. 23 Zuerst die Rede von Nikias, dann die von Laches: Sie fahren fort und stehen im Gegensatz zueinander, genau wie bei einem politischen Schlagabtausch oder bei einer körperlichen Auseinandersetzung. Hier nun, nach diesen beiden Reden, [angesichts] der Ausweglosigkeit, in der sich der Dialog aufgrund der Konfrontation zwischen ihnen befindet, wird man an Sokrates appellieren, der zwar schon da war, bisher aber stumm blieb. Sokrates' Eingreifen markiert wie bei jedem Dialog dieser Art nicht nur die Wiederaufnahme des Themas in anderer Form, sondern im Grunde auch ein ganz anderes Vorgehen in der Diskussion. Welche ". Eine völlig unverständliche Passage. Man hört nur ein Satz ende: » ... ihre Qualitäten«. 180
andlungen bewirkt Sokrates' Eingreifen an dieser Stelle? Dreierlei. Die einfachste Wandlung vollzieht sich zunächst -Jhne die geringste Schwierigkeit. Es handelt sich gewisserma:;en um den Übergang vom politischen Modell des Gesprächs zu einem Modell, das man ein technisches nennen könnte. Das ?olitische Modell des Gesprächs besteht, wie wir gesehen ha~en, darin, daß zwei Personen nacheinander vortreten, als ob sie die Rednerbühne besteigen würden, und Zug um Zug ihre Behauptung verteidigen. Der eine ist dafür, der andere dagegen. Daß dieses politisch-juristische Modell bislang präsent ist emd war, wird sehr deutlich von Lysimachos in dem Augen-JEck angezeigt, wo man in eine Sackgasse gerät. Nachdem er ::;ikias und Laches angehört hat, sagt nämlich Lysimachos: Es :st ganz offensichtlich, daß es in eurer boule (in eurem Rat: eine Bezugnahme auf die Institutionen der Stadt)24 eine Meinungs·;erschiedenheit, eine Unstimmigkeit gibt. Nikias und Laches, 50 Lysimachos, hätten gegensätzliche Meinungen abgegeben. ~,lan muß also Sokrates fragen - der zwar da ist, bislang aber geschwiegen hat -, wem er seine Stimme geben wird (sympse~:hos; psephos ist der Kieselstein, der Stimmzettel). Also: Wem gibst du deine Stimme? fragt Lysimachos Sokrates. Sie sehen, :laß sich all das auf das politische Modell bezieht. Genau dieses ~·,Iodell wird nun aber Sokrates sofort ausdrücklich - in seiner .-\ntwort auf die Frage von Lysimachos: Wem gibst du deine Stimme? - zurückweisen, indem er folgendes geltend macht: Kann man hier wirklich das Gesetz der Mehrheit, der größten Zahl, anwenden? Worum geht es denn eigentlich, sagt Sokra:es? Es geht um eine Frage - er benutzt das Wort - der techne. 25 .Es handelt sich um eine Frage der rechne, und folglich muß im ::-linblick auf eine Frage der rechne auch die Technik, und nicht die größte Zahl, den Ausschlag geben. Worauf bezieht sich diese Technik? Nun, wonach wir suchen - diesen Ausdruck müssen wir uns unbedingt merken -, ist gerade ein technikos peri Dsyches therapeian 26 (ein Techniker der Pflege, [anstatt] der -Therapie«, der Seele). ")7ie läßt sich nun aber herausfinden, ob jemand im Bereich der 181
techne im allgemeinen sachkundig ist, und insbesondere im Bereich dieser »techne«? Wenn es um eine einfache Stimmabgabe geht, dann ist es klar, daß jemand [genügt], der in der Lage ist, einen Stimmzettel für oder gegen eine bestimmte Meinung abzugeben. Wenn es jedoch nicht um die politische Bühne oder um deren Themen geht, müssen zwei Kriterien erfüllt sein, damit es nützlich und wirkungsvoll ist, sich an eine bestimmte Person zu wenden. Man wird zugeben, daß jemand im Bereich der techne sachkundig ist, erstens, wenn man weiß, wer die Lehrer sind und ob diese Lehrer gute Lehrer waren, d. h., ob sie imstande waren, gute Schüler auszubilden. Die Frage nach dem Lehrer, darin besteht das erste Kriterium. Das zweite Kriterium ist sozusagen das Kriterium des Werkes. Hatte der, der sich für sachkundig erklärt und seine Meinung abgeben will oder an den man sich als an einen Sachkundigen wendet, ausschließlich gute Lehrer und vor allem, war er imstande, etwas, und zwar etwas Tüchtiges, zu leisten? (Man kann sogar annehmen, daß er auch ohne Lehrmeister etwas Tüchtiges zu leisten imstande war).27 Jedenfalls braucht man diese beiden Kriterien. Entweder zusammen oder einzeln sind diese beiden Kriterien unverzichtbar, um die Meinung von jemandem berücksichtigen zu können, sobald wir uns im Bereich der techne befinden. Nehmen wir also Abschied von der Bühne der Politik und deren Verfahrensweisen, wo die bei den Meinungen Stück für Stück einander entgegengesetzt sind und wo die Stimmen durch das Gesetz der großen Zahl den Ausschlag für eine dieser Meinungen geben. Berufen wir uns auf etwas anderes, nämlich das Kriterium der Sachkundigkeit, das auf den beiden Pfeilern der Qualität des Lehrmeisters einerseits und der Qualität des Werkes andererseits beruht. Genau das tritt in Erscheinung, als Sokrates sagt: »Und da nun Lysimachos und Melesias uns, mein Laches und Nikias, zur Mitberatung über ihre beiden Söhne aufgerufen haben, getrieben von dem Wunsche, ihren Seelen möglichst beste Bildung zu geben, so kommt es auch uns zu, wenn wir Lehrer gehabt zu haben behaupten, ihnen zu zeigen, wer sie gewesen sind, daß sie wirklich nicht nur vorerst
selbst tüchtige Männer waren, sondern sodann auch dafür be~annt sind, vieler Jünglinge Seelen gebildet und so auch uns ge:ehrt zu haben. Oder aber würde einer von uns versichern, selbst keinen Lehrer gehabt zu haben [eine völlig legitime :'Ylöglichkeit; M. F.], so müßte er wenigstens selbst seine eige:len Leistungen namhaft machen und zeigen können, welche _\thener oder Fremde, Sklaven oder Freie durch ihn anerkann:ermaßen zu tüchtigen Leuten gebildet worden sind. Ist aber weder das eine noch das andere bei uns der Fall, so müssen wir sie anweisen, andere aufzusuchen, und uns nicht der Gefahr .:ussetzen, die Söhne befreundeter Männer zu verderben und :;llS dadurch von ihren nächsten Angehörigen die schwerste _\nklage zuzuziehen.«28 Sie sehen, daß wir hier von der Veriiiktion politischen Typs (die Bühne, eine Volksversammlung, eine Ratsversammlung, eine boule, gegensätzliche Meinungen, "ine Abstimmung) zu etwas anderem übergegangen sind. Diese andere Szene ist die technische Veridiktion, von der ich gesprochen habe und die hier ersichtlich so charakterisiert ist, -;;;ie wir es letztes Mal gesehen hatten: Sie stützt sich wesentlich die Überlieferung eines Wissens, das vom Lehrer auf den Schüler übergeht und sich [durch Werke] manifestiert. Die Ve:-idiktion der Technik, die Veridiktion der Lehre kann ihre -allmacht aus dieser doppelten Beziehung zur Lehre und zum \;\/erk schöpfen. _\ber - und hier vollzieht sich ein zweiter Wandel - Sokrates -;;;eicht aus. Während er doch eben die Bühne der Technik in '=:ntgegensetzung zur Politik errichtet hat, in dem Augenblick, ::l dem man den Eindruck bekommt, daß man [die Frage] »Wer -;;;aren die Lehrer von Sokrates und was waren seine Werke?« :.nschneiden wird, da es ja um die Technik der Seele geht, -;;:eicht Sokrates aus und sagt: Ich persönlich hatte jedoch nie .:::nen Lehrer, weil ich nie die Mittel hatte, einen solchen zu bezahlen [... ':J Ich war nicht reich genug. 29 Und was die Lehre ~er anderen betrifft, so bin ich dazu nicht in der Lage. Deshalb
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Das Ende des Satzes ist unverständlich.
sollt ihr euch nicht an mich wenden, wenn ihr wirklich einen sachkundigen Mann sucht, der euch sagen kann, wie ihr eure Kinder erziehen sollt. Sogleich schlägt er vor, die Frage nach der Sachkundigkeit wieder an Nikias und Laches zu richten. Denn, so Sokrates, das sind Leute, die reich genug waren, um sich Lehrer beschaffen zu können. Jedenfalls haben sie lange genug gelebt und haben genügend Erfahrung, um selbst gelernt zu haben, was sie die jungen Leute lehren könnten. 3o Wir befinden uns nun also auf einer ganz anderen Bühne als der, mit der wir es vorhin zu tun hatten. Es handelt sich nicht mehr um die politische, sondern um die technische Bühne mit denselben Personen, die nun wieder dank jener List des Sokrates auftauchen, der zwar die Bühne verschoben, sich aber als Gesprächspartner von dieser Bühne zurückgezogen hat. Wir begegnen wieder Nikias und Laches, man wendet sich an sie und bittet sie zu sprechen. Nur hat Sokrates eben ein Sandkorn auf diese neue Bühne, die er gerade errichtet hat, gestreut. In diese technische [Frage], bei der wir Nikias und Laches wiederbegegnen, die gewissermaßen wieder auf die Bühne zurückgebracht wurden, hat er ein Sandkorn eingeführt. Dieses Sandkorn ist folgendes. Sokrates sagt: Da es jetzt um die Sachkundigkeit geht, da Nikias und Laches als Sachverständige sprechen werden, müssen sie, bevor wir sie nach ihrer Meinung fragen, ihre Sachkundigkeit zeigen und unter Beweis stellen. Worin besteht ihr Anrecht darauf, über die Frage zu sprechen, die wir ihnen stellen? Wir müssen sie also danach fragen, wer ihr Lehrer war. Wie haben sie gelernt, was sie wissen, und was waren ihre Werke in diesem Bereich ?31 Sokrates schlägt also nicht nur eine Verschiebung der Bühne von der Politik zur Technik vor, sondern auch eine Verschiebung, eine Änderung der Verfahrensweise. Laches und Nikias werden nicht einfach ersucht, ihre Meinung abzugeben, weil sie sachkundig sind. Man wird sie nötigen, und man wird Druck auf sie ausüben, damit sie zu einem Spiel bereit sind, in dem sie auf Fragen antworten werden. Man wird ihnen Fragen darüber stellen, was ihrer Sachkundigkeit zugrunde liegt, über
::eie technische Frage der Kunst der psyches therapeia (die Pflege ':er Seele) zu sprechen. Lysimachos akzeptiert als Auftraggeber ies Dialogs diese Form der Befragung. Er akzeptiert nämlich iiesen auf Sokrates zurückgehenden Vorschlag der Verfahrens:i.nderung. Gegenüber Nikias und Laches schlägt er folgendes """ar: »Sokrates scheint mir in der Tat gut zu sprechen, ihr Männer. üb ihr nun geneigt seid, über diese Gegenstände euch frazu lassen und Rede zu stehen, müßt ihr, Nikias und Laches, "elbst wissen. Denn mir und dem Melesias da kann es offenbar ::m erwünscht sein, wenn ihr das, was Sokrates fragt, alles iurchsprechen wolltet. Denn gleich anfangs habe ich ja gesagt, iaß wir deswegen euch zu gemeinschaftlicher Beratung einge'aden hätten, weil wir überzeugt sind, daß diese Fragen eure _,,-ufmerksamkeit wahrscheinlich schon aus anderen Gründen in Anspruch genommen haben, zumal aber, weil ihr Söhne n.abt, welche wie die unsrigen nun bald in einem Alter stehen, :n welchem sie der Erziehung bedürfen. Daher, wenn es euch nicht zuwider ist, so sagt es und stellt mit Sokrates eine ger::einschaftliche Untersuchung an, der Art, daß ihr einander ;egenseitig Rede und Antwort gebt! Denn auch das ist von diesem gut bemerkt, daß unsere Beratung das Wichtigste unserer Interessen betrifft. Wohlan, so sehet zu, ob ihr es für zweckmä:;ig haltet, so zu verfahren! «32 Sie sehen also: eine Verschiebung der Bühne der Politik zur Bühne der Technik; und auf der Bühne der Technik die Rückkehr von Nikias und Laches, aber in der Position von zu Befragenden. Hier findet nun die dritte Änderung statt, eine Änderung, die das Auftreten des eigentlich sokratischen Spiels und der sokra:ischen parrhesia einleitet und kennzeichnet, und zwar in einer Form, die ich Ihnen gleich zu zeigen versuchen werde. Sokra,es hatte also das politische Modell in Anlehnung an die Tech::ik und Sachkundigkeit umgewandelt. Zweitens schlug er zur Frage der Sachkundigkeit die Regel vor und setzte deren An::ahme durch, daß die beiden Gesprächspartner ihre Sachkundigkeit nicht sofort unter Beweis stellen, sondern zunächst :mfgefordert würden, über sie Rechenschaft abzulegen, und
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zwar dadurch, daß sie die Fragen beantworten, die Sokrates ihnen stellt. Erst an dieser Stelle gelangen wir zu einer dritten Wandlung, die am wichtigsten ist. Denn indem Sokrates diesen Bezug auf die Technik und das entsprechende Verfahren vorschlägt, gibt er sich bloß den Anschein, seine beiden Gesprächspartner in den Bereich der Technik hineinzuziehen und sie aufzufordern anzugeben, worin sozusagen ihr Platz, ihre Rolle, ihr Spiel in dieser Weitergabe des Wissens durch den Lehrer besteht. In dem Augenblick, da er den Anschein verbreitet, sie einfach nur nach ihrer Berechtigung in der Verkettung von Lehre und Wissen zu fragen, ist er im Grunde dabei, etwas ganz anderes einzufädeln. Unter dem Vorwand, sie nach den Lehrern zu befragen, die ihre Sachkundigkeit und ihre Meinung beglaubigen können, wird er ihnen ein ganz anderes Spiel aufzwingen, das wohlgemerkt weder ein politisches noch ein technisches Spiel ist, [sondern] das Spiel der parrhesia und der Ethik sein wird, das auf das Problem des ethos ausgerichtete Spiel der parrhesia. Wie vollzieht er diesen Wandel? Ich glaube, daß man eine andere Frage beantworten muß. Erstens: Wie wird dieses sokratische Spiel im Dialog vorgestellt, d. h., wie wird es von den Gesprächspartnern aufgedeckt und angenommen? Zweitens: Wie wird dieses Spiel beschrieben und definiert, worin besteht es? Und drittens: Was ermächtigt Sokrates, diese Rolle der ethischen parrhesia zu spielen? Anmerkungen I P. Chantraine, Dictionnaire itymologique de la langue grecque, Paris 1983, S. 683 (Chantraine spricht im Hinblick auf diese Ableitungshypothese von einer »sehr zweifelhaften« Annäherung). 2 A. Hatzfeld und A. Darmesteter, Dictionnaire general de la langue fran~aise du commencement du XVII e siecle jusqu'a nos jours, Paris 1964. 3 Der vollständige Titel lautet nämlich: »Le moyne noir en gris dedans Varennes«. Sotie Nostradamique suivie d'un Divertissement sur les dernieres paroIes de Socrate. 4 Platon, Des Sokrates Verteidigung, 21C-21e und 30a-b, übers. v. F. Schleiermacher, a.a.O., S.12. 5 Vgl. zu diesem Punkt die Vorlesung vom 6. Januar 1982, in: L'Hermeneutique du sujet, a. a. 0., S. 15-20 und 29-31; dt.: S. 30-37. 186
6 1982 hatte Foucault vom »kartesianischen Moment« gesprochen (das von Descartes selbst verschieden sei), das der kathartischen Logik der Spiritualität entflieht (der Zugang zur Wahrheit erfordert eine Wandlung des Subjekts; vgl. ebd., S. 19; dt.: S. 36). .., Vgl. die Vorlesungen vom 6. und 13. Januar 1982, in: L'Hermeneutique du sujet. S Vgl. zu diesem Punkt ebd., S. 50-57; dt.: S.7 6- 84. 9 Vgl. zu diesem Punkt, ebd., S. 71-72; dt.: 97-99. :~ Foucault nennt dieses Buch in seiner Vorlesung von 1983 nicht (Le Gouvernement de soi et des autres, a. a. 0.). Er erwähnt es erstmals in der Vorlesung vom 8. Februar 1984 (oben). :: Gestorben im Jahre 1977. :2 J. Patocka, Platon et l'Europe, übers. v.A. Abrams, Paris 19 83. :;; Platon, Laches, I78a-b, übers. v. L. Georgii, in: Platon: Sämtliche Werke, 1. Bd., Heidelberg 1982, S. In :.! Vgl. den gesamten Anfang des platonischen Dialogs Hippias der kleinere. : S Platon, Laches, I78b, S. 173. Ebd., I79b, S.ln -- Lysimachos ist der Sohn des »großen Aristides« und Melesias der Sohn \·on Thukydides, »des hervorragenden Historikers, eines der wichtigsten Führer der aristokratischen Partei in der Mitte des 5. Jahrhunderts« (Einleitung zum Laches, Paris, 1972, S. 85). :' »Darüber schämen wir uns nun ebenso vor ihnen, als wir es unseren Vätern zum Vorwurf machen, daß sie uns, nachdem wir Jünglinge geworden waren, in vornehmem Müßiggang hinleben ließen, während sie ihre Tätigkeiten fremden Angelegenheiten widmeten (ta de ton alfon pragmata)« (Laches, I79d, S. 174)Ebd_, I79c, S. 174. ~: Ebd. 2: Ebd., I8Ie-182d, S. 177-178. ~2 Ebd., I83b, S.17Sf. 2~. Ebd., 183d, S. 1792.! "Überdies bedarf, wie mir scheint, unsere Beratung (boule) noch eines Schiedsrichters. [. _.] da wird es gut sein, auch dich zu hören, welchem der beiden Männer du deine Stimme (sympsephos) gibst« (ebd., 184C-d, S.I80). :: Ebd., r85a, S. 181. :6 Ebd_, 185e, S.182. :- Ebd., 185e-I86a, S. r83_ :; Ebd., 186a-b, S. r83_ ::' Ebd., 186c, S. 183. .: Ebd., I86c-d, S. 183_ :: Ebd., 186e-187d, S.184-185. Ebd., 187c-d, S. 185.
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(Sitzung vom
22.
Vorlesung 4 Februar 1984, zweite Stunde')
Sokrates und die vollständige und kontinuierliche Selbstprüfung. - Der bios als Gegenstand der sokratischen parrhesia. - Der Einklang von Reden und Handlungen. - Die Schlußfolgerungen des Dialogs: die schließliche Unterwerfung unter den logos.
Erste Frage: Wie wird dieses Spiel aufgedeckt und angenommen? Sie wissen, daß es in einer Reihe von Platons Dialogen als beinahe allgemeine Regel gilt, daß Sokrates' Methode zu einem bestimmten Zeitpunkt in gewissen Hinsichten vorgestellt, skizziert und definiert wird, so daß das Spiel für den Leser nie unsichtbar ist noch auch für die Teilnehmer und die, die es spielen sollen, unbekannt bleibt. Man sagt ihnen immer ein wenig über dieses Spiel, aber [einerseits] wird diese Beschreibung des sokratischen Spiels sehr häufig von Sokrates selbst gegeben und nicht von denen, die gewissermaßen die Partner und Opfer des sokratischen Spiels sind; und andererseits leisten die Gesprächsteilnehmer, wenn sie sich des Spiels bewußt werden, in das sie hineingezogen wurden, zumindest oft, wenn auch nicht immer, Widerstand. Jedenfalls geschieht das, wie Sie wohl wissen, bei Personen wie Protagoras, Gorgias, Kallikles und Thrasymachos. 1 Hier haben wir nun aber trotzdem etwas sehr Interessantes. Erstens sind sich die Gesprächspartner, zumindest der eine von ihnen, völlig im klaren darüber, wie es um Sokrates steht, was er tut und welche Besonderheiten er hat. Zweitens ist sich der eine nicht nur im klaren darüber und nimmt sein Spiel an, [sondern] der andere, Laches, der sich dessen nicht bewußt war, nimmt es ebenfalls an und bindet sich gerne und freiwillig in dieses parrhesiastische Spiel ein, das sich nun abspielen wird. Dieses Annehmen des parrhesiastischen Spiels durch diejenigen, die darin die Rolle von Partnern, von Zielscheiben und bis ". Wir setzen an dieser Stelle einen künstlichen Einschnitt. Es scheint, daß an diesem Tag die Sitzung ausnahmsweise nicht unterbrochen wurde. 188
zu einem gewissen Grad auch von zufriedenen und willigen Opfern spielen werden, wird ganz deutlich in dem Augenblick kenntlich gemacht, als Sokrates das Wort ergreift. Denn Sokrares hat gerade gesagt und durchgesetzt, daß er Fragen stellen wird und daß die anderen zu antworten haben. Man hat immer noch den Eindruck, daß man sich im Bereich der Sachkundigkeit befindet [und] daß Sokrates sagen wird: Wer sind eure Lehrer, oder jedenfalls, wie habt ihr euren Mut ausgebildet und "ras sind die Werke militärischer Tüchtigkeit, die euer Eingreiren und die Meinung, die ihr abgebt, beglaubigen können? _\ber gerade als Sokrates dies vorgeschlagen hat [... ,:.] , ergreift :\Jikias das Wort und sagt: Glaubt nur nicht, daß sich die Sache auf diese Weise abspielen wird. Ich kenne Sokrates und weiß genau, was er tun wird. Ich bin mir darüber im klaren, was geschieht, wenn »[man] einmal mit dem Sokrates auch nur sozusagen gesprächlich verwandt geworden und auf eine Unterredung mit ihm eingegangen ist [... }<.2 Sogleich fügt er hinzu, daß er das Spiel akzeptiert, daß er daran gewöhnt ist und daß es ihm in der Familie von Sokrates' Gesprächspartnern gefällt.3 .:'Ileinesteils, so Nikias, »[habe ich] nichts dagegen, uns mit Sokrates, wie er es wünscht, zu unterhalten«.4 Dieser Verpflichmng des Nikias, die sich auf das gründet, was er von Sokrates vfeiß, und auf das Wohlwollen, die Freundschaft, die er für ihn ;empfindet, auf seine Vertrautheit mit ihm, dieser vorangehenden Annahme wird Laches sein eigenes Einverständnis hinzu~igen. Er kennt Sokrates nicht gut, er ist seine Art der Gesprächsführung nicht gewohnt, aber schließlich akzeptiert er 2.US einer Reihe von Gründen, die wir gleich kennenlernen werden, alles, was Sokrates de facto an Fragen stellen wird ~',"md] alle möglichen Änderungen, die er dem Dialog auferlegen wird. Auch wenn er im Unterschied zu Nikias nicht genau ';n;iß, wie die Sache [sich entwickeln] wird, akzeptiert er doch entschlossen diese Erfahrung: »[... ] so gehe ich gern Hand in Hand mit dem Manne«, »und es soll mir Vergnügen machen 1..: nverständliche Stelle. r89
(touto gar moi synchoreito )«,5 [und] wenig später: »Dich also, Sokrates, fordere ich auf, mich zu lehren und zurechtzuweisen [.. .].«6 Er beendet diese Stellungnahme, die dem Gespräch vorangeht, mit den Worten: »Rede also, was dir lieb ist [leg' oun ho ti soi philon: sprich, sag', was dir beliebt; M. F.], ohne irgend dabei unser Alter in Rechnung zu nehmen! ,,7 Hier haben wir den parrhesiastischen Pakt schlechthin. Der eine spricht offen, frei und sagt alles, was er zu sagen hat, in derjenigen Form, die ihm gefällt. Die anderen dagegen werden nicht so [reagieren], wie es so häufig auf der Bühne der Politik oder gegenüber jemandem [geschieht], der offen spricht: Man ärgert sich, man regt sich auf, man gerät in Zorn, eventuell bestraft man sogar den, der einen solchen Gebrauch von der parrhesia gemacht hat, den man für überzogen hält. Keineswegs. Hier haben wir ein gutes, völlig positives Spiel der parrhesia, wo der Mut derjenigen, die Sokrates' parrhesia akzeptieren, auf den Mut des Sokrates antwortet. Der Pakt ist vollständig, der Pakt ist vollkommen, und ich würde sagen, daß er an keiner Stelle entkräftet wird. Wir haben es mit einer Form der gelungenen parrhesia zu tun. Zweite Frage: Jetzt, da wir wissen, daß die beiden Gesprächspartner einverstanden sind, was wird nun geschehen? Und welches Spiel - das Nikias annimmt, weil er mit ihm vertraut ist, und das Laches ebenfalls mutig annimmt - wird Sokrates spielen? Natürlich wird Nikias, weil er mit Sokrates vertraut ist, dieses parrhesiastische Spiel darlegen. Folgendes sagt er zu Lysimachos: »Du scheinst mir ja gar nicht zu wissen, daß, wer einmal mit dem Sokrates auch nur sozusagen gesprächlich verwandt geworden und auf eine Unterredung mit ihm eingegangen ist, unvermeidlich, wenn er auch beim Beginn der Unterredung von etwas ganz anderem ausgegangen ist, von ihm so lange im Gespräch herumgeführt und nicht eher in Ruhe gelassen wird, bis er in die Falle gegangen ist, wo er dann über sich selbst Rede stehen muß, wie er jetzt lebe und wie er sein vergangenes Leben zugebracht habe, und daß ihn, wenn er einmal hineingegangen ist, Sokrates nicht eher losläßt, bis er das alles
:-echt gründlich auf die Probe gestellt hat. Ich nun bin mit ihm näher bekannt und weiß, daß man sich das von ihm unumgäng:ich gefallen lassen muß; auch weiß ich ganz gut, daß ich selbst eS mir werde gefallen lassen. Denn es macht mir Freude, Lysi:-nachos, mich mit dem Manne einzulassen, und ich halte es für gar nicht so schlimm, sich so an die Fehler, welche man ge:-nacht hat oder noch macht, erinnern zu lassen, glaube viel:-nehr, daß derjenige für sein künftiges Leben notwendig klüger werden muß, der sich dem nicht entzieht, sondern nach dem _\usspruche Solons Neigung und Willen hat zu lernen, solange ::r lebt, und sich nicht einbildet, daß der Verstand mit dem _\lter schon von selbst komme. Mir also ist es weder ungeübt r:och aber auch unbeliebt, mich von Sokrates auf die Probe stellen zu lassen (basanizesthai); vielmehr habe ich es eigentlich schon längst gewußt, daß, wenn Sokrates dabei ist, nicht von ::nseren jungen Leuten die Rede sein würde, sondern von uns selbst. Also, wie gesagt, ich meinesteils habe nichts dagegen, :.:ns mit Sokrates, wie er es wünscht, zu unterhalten.«8 ';;("ir haben also den parrhesiastischen Pakt, auf den Nikias :-nehrere Male zurückkommt, und zugleich eine Beschreibung iessen, was geschehen wird. Was wird geschehen? Nun - unter diesem Zeichen steht die gesamte sokratische parrhesia und seine Veridiktion - welches Thema man auch immer angeht, :Teit Sokrates verlaufen die Dinge notwendigerweise (ananke)9 :olgendermaßen: Sokrates wird nicht lockerlassen, bevor sein Gesprächspartner nicht bis zu dem Punkt geführt worden ist ?eriagesthai: 10 er wird gleichsam an der Hand geführt, man ihn spazieren), an dem er Rechenschaft über sich selbst lblegen kann (didonai peri hautou logon: Rechenschaft über selbst geben).l1 Dieses Zitat ist offensichtlich von großer Bedeutung [... ':1 Im Grunde ist man - anscheinend, wenn man dieser Sache keine besondere Aufmerksamkeit schenken würde - noch ganz nahe bei dem, was kurz zuvor verlangt wurde, .Js Sokrates beim Übergang von der Bühne der Politik zur
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Ende des Satzes unverständlich.
Bühne der Technik sagte: Es ist zwar gut und recht zu sagen, daß man sachkundig ist und als Sachkundiger auch um Rat gefragt wird, aber man muß auch Rechenschaft über seine Sachkundigkeit ablegen und sagen können, wer die eigenen Lehrer waren und was man tatsächlich geleistet hat. Es scheint also, daß man vor Gericht steht: Es geht zwar auch darum, Rechenschaft über sich selbst abzulegen. Aber in Wirklichkeit geht es um etwas ganz anderes, und die folgende Entwicklung zeigt uns das deutlich. Denn wenn man Rechenschaft über sich selbst ablegt, geht es nicht darum zu sagen, wer der eigene Lehrer ist und was man [geleistet hat]. Bei dieser sokratischen parrhesia geht es nicht darum, jemanden gewissermaßen über die vorangegangenen Glieder in der Kette der Überlieferung zu befragen, welche die Weitergabe des Wissens ermöglicht, noch auch darum, ihn gleichsam in nach geordneter Weise über das zu befragen, was er aufgrund seiner Kompetenzen geleistet hat. Man verlangt von ihm, von sich selbst Rechenschaft abzulegen, d. h. zu zeigen, welche Beziehung zwischen ihm und dem logos (der Vernunft) besteht. Wie steht es um dich und den logos? Kannst du Rechenschaft ablegen, kannst du den logos über dich selbst vorbringen? Es geht nicht um Sachkundigkeit und nicht um Technik, es geht weder um den Lehrer noch um das Werk. Um was geht es dann? Es geht darum - der Text sagt es wenig später -, wie man lebt (hontina tropon nyn te ze). Vergleichen Sie das einerseits mit dem, was zuvor geschieht, und andererseits mit dem Alkibiades. Im Alkibiades hatten wir das Problem: Was ist dieses "Selbst«, [auf das man] achten soll? Hier soll man Rechenschaft über sich selbst ablegen, aber wer ist dieses Selbst, welcher Bereich soll von diesem »Rechenschaft über sich selbst ablegen« abgedeckt werden? Nicht die Seele, sondern die Art und Weise, wie man lebt (hontina tropon nyn te ze: auf welche Weise du jetzt lebst, auf welche Weise du auch dein vergangenes Leben gelebt hast). Dieser Bereich der Existenz, dieser Bereich der Lebensführung, des tropos des Lebens ist es, der das Gebiet sein wird, auf dem Sokrates' Rede und seine parrhesia ausgeübt werden wird. Es ist also weder die 19 2
Kette der Rationalität wie bei der technischen Lehre, noch ist es die ontologische Seinsweise der Seele, sondern der Lebensstil, die Lebensweise, die eigentliche Form, die man dem Leben gibt. Zweitens sehen Sie auch, daß es bei diesem ,>Rechenschaft über sich selbst ablegen« nicht wie zuvor bei der Technik darum geht, eine Kompetenz zu beglaubigen, die Autorität verleiht, sondern sein Leben dem zu unterziehen, was Sokrates einen Prüfstein nennt, eine Prüfung, die die Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Schlechten gestattet, das man in seinem Leben getan hat. Wir haben das Verb basanizesthai, das \'on dem Wort basanos (der Prüfstein) abgeleitet ist. Diese Vorstellung eines Aussortierens - der Operation, durch die der Prüfstein die Dinge aufteilt und zu unterscheiden gestattet, was Gold ist und was nicht, was gut ist und was nicht - ist eine ganz wichtige Vorstellung in der gesamten sokratischen Praxis, wie sie von Platon charakterisiert wird. Im Gorgias schlägt Sokrates dem Kallikles an einer bestimmten, bedeutsamen Stelle in dem langen Dialog zwischen den beiden eine Art von möglichem parrhesiastischen Pakt vorY In diesem Pakt stellt Sokrares die Dinge so dar, daß man glauben soll, Kallikles werde ein Prüfstein für ihn sein, während doch das Gegenteil der Fall ist. Hier ist es genau umgekehrt, da Sokrates der basanos (der Prüfstein) ist, durch den, wenn man sich an ihm reibt und sich mit ihm auseinandersetzt, man imstande sein wird zu unterscheiden, was im eigenen Leben gut und was nicht gut ist. Dieser Vorstellung des basanos begegnen wir auch im Staat, im VII. Buch (537b),13 oder im Staatsmann (308d),14 wo sie in einem politischen Sinne verwendet wird, wenn Sokrates sagt, daß es für die Verfassung des Staats wichtig ist, die Angehörigen des Staats dem Prüfstein auszusetzen und die Guten von den Schlechten unterscheiden zu können, d. h. diejenigen, die man in das Gewebe des Schußfadens einbinden kann, von denjenigen, die zurückgewiesen werden sollen. Hier taucht nun also - das war das bedeutsame Element, das ich heute vor allem festhalten wollte - das Leben, die Lebens193
weise als Gegenstand der sokratischen parrhesia und des sokratischen Diskurses auf, ein Leben, das man einer Operation unterziehen soll, die eine Operation der Prüfung, des Auf-dieProbe-Stellens, des Aussortierens ist. Man soll das Leben einem Prüfstein aussetzen, um genau aufzuteilen, was gut und was nicht gut in den eigenen Handlungen, in der eigenen Existenz, in der eigenen Lebensweise ist. Ich habe noch etwas vergessen, nämlich daß es nicht einfach darum geht, diese Lebensweise ein für allemal in der eigenen Jugend zu erproben oder auszubilden, sondern - das hebt Nikias hervor und ist von großer Bedeutung - dieses Prinzip der Prüfung des Lebens soll während des ganzen Lebens befolgt werden. Es ist die Erinnerung an den Satz Solons, daß man sein ganzes Leben lang lernen müsse: Man soll sich, auch wenn man alt ist, dieser sokratischen Prüfung unterziehen. Nikias, der zur Zeit des Dialogs [ein gewisses] Alter hat, willigt ein, sich der sokratischen Prüfung zu unterziehen. Denn im Unterschied zu dem, was bei der technischen Kompetenz geschieht, die man in seinem Leben ein für allemal erwirbt und von der man anschließend Gebrauch machen kann, muß die sokratische Prüfung immer erneuert werden. Man muß sie sein ganzes Leben lang als Gestaltungsprinzip und Formgebung seiner Lebensweise zur Geltung bringen. Es geht hier also, wie Sie sehen, um die Herausbildung und die Charakterisierung einer bestimmten parrhesiastischen Praxis, eines bestimmten Modus der Veridiktion, der nun äußerst weit von der Weitergabe des technischen Wissens eines Lehrers an seine Schüler entfernt ist. Es geht bei dieser Veridiktion darum, eine bestimmte Beziehung zu Sokrates herzustellen, eine Beziehung, die das Auf-die-Probe-Stellen, die Prüfung des Lebens unterstützt, und zwar während des gesamten Lebens. Die erste Frage war: Wie wird diese parrhesia angenommen? Die zweite: Worin besteht sie, worauf bezieht sie sich, was ist ihr Anwendungsgebiet ? [Antwort]: die Lebensweise. Die dritte Frage ist nun: Was berechtigt Sokrates, eine Methode gegenüber allen möglichen Leuten zu verwenden, was berechtigt ihn 194
dazu, sie schon so häufig bei Nikias angewendet zu haben und heute bei Nikias und Laches anzuwenden? Auf diese Frage wird Laches antworten. Nikias beschrieb, worin die parrhesia des Sokrates besteht, aber Laches, der doch Sokrates weder als Dialektiker noch als im Reden erfahrenen Mann kennt, wird den Grund dafür nennen, warum man Sokrates die Möglichkeit zugestehen soll, von seiner Rede in dieser Weise Gebrauch zu machen. »Mein Verhalten«, so Laches, »Nikias, zu solchen Reden ist einfach, oder, wenn du willst, nicht einfach, sondern zweifach. Denn gar wohl könnte mich einer bald für einen Redenfreund, bald wieder für einen Redenfeind halten. Denn wenn ich einen Mann über die Tugend oder irgendeine Weisheit sprechen höre, der in Wahrheit ein Mann und dessen wert ist, was er spricht, dann freue ich mich über die Maßen, wenn ich den Redenden und seine Reden zusammen betrachte, daß beide so zusammenpassen und stimmen. Und ein solcher scheint mir erst recht ein Liebling der Musen zu sein, der nicht die Lyra oder sonst Werkzeuge heiteren Spiels zur schönsten Tonart gestimmt hat, sondern in Wahrheit das Leben, indem er selbst in seinem Wandel die Reden zusammenlautend mit den Werken gestimmt hat, recht eigentlich in dorischer Tonart, nicht in ionischer, ich denke auch nicht in phrygischer oder lydischer, sondern in jener, welche allein der echte hellenische Wohllaut ;st. Ein solcher nun macht, daß ich mich freue, wenn er sich -,-ernehmen läßt, und daß ich jedem ein Redenfreund zu sein scheine. So begierig nehme ich das von ihm Gesprochene an! \'Ver aber das Gegenteil hiervon tut, der verdrießt mich, und nur um so mehr, je besser er zu sprechen scheint, und er macht, ,iaß ich umgekehrt als ein Redenfeind erscheine. Von des So_.;:rates Reden indessen habe ich keine Kenntnis; sondern zu':örderst mußte ich, wie es scheint, seine Taten erproben, und ia habe ich ihn als einen Mann erfunden, welchem edle Reden und jeglicher Freimut (pas es parrhesias) wohl anstehen sollten. Besitzt er nun auch dieses, so gehe ich gern Hand in Hand mit iern Manne und es soll mir Vergnügen machen, von einem sol195
chen geprüft zu werden (exetazesthai), nicht aber Verdruß, von ihm zu lernen. Vielmehr auch ich stimme dem Solon bei, indem ich nur eines noch beifüge, nämlich alternd wünsche ich vieles gelehrt zu werden, nur aber von wacke rn Männern 15 [hier wieder der Hinweis auf Solon, den Nikias schon zuvor gegeben hatte; M. E]. Denn darin muß er mir beistimmen, daß auch der Lehrer ein guter sein muß, damit ich nicht, wenn ich mit Unlust lerne, ungelehrig erscheine. üb aber der Lernende jünger sei oder noch keinen Namen habe, oder ihm sonst etwas der Art anhafte, darum kümmere ich mich nicht. Dich also, Sokrates, fordere ich auf, mich zu lehren und zurechtzuweisen (elenehein ), wie du willst, und auch zu erlernen, was ich meinerseits weiß. So bist du bei mir angeschrieben seit jenem Tage, an welchem du die Gefahr mit mir geteilt und eine Probe deiner Tüchtigkeit gegeben hast, wie sie der geben muß, der sie in rechter Weise geben will. Rede also, was dir lieb ist (leg' oun ho ti soi philon), ohne irgend dabei unser Alter in Rechnung zu nehmen!«16 Diese Antwort ist mit einer gewissen Sorgfalt zu lesen. Wir haben die Neigung, diese Passage etwas voreilig zu interpretieren, indem wir Laches den folgenden Sinn zuschreiben: Laches habe gesagt: Ich akzeptiere es, daß Sokrates mich befragt, Sokrates ist befugt, mir die Fragen zu stellen, die er will, und zwar insbesondere mit Bezug auf die Tapferkeit. Warum? Weil ich feststellen konnte, daß Sokrates in der Schlacht von Delion selbst tapfer war. Auf diese berühmte Schlacht hatte er schon weiter oben angespielt, als er sagte: »So bist du bei mir angeschrieben seit jenem Tage, an welchem du die Gefahr mit mir geteilt [.. .].«17 In dieser Schlacht wurden die Athener besiegt, und Sokrates bewies darin eine besonders tapfere Haltung. Gewöhnlich interpretiert man diese Stelle folgendermaßen: Laches akzeptiert dieses Gespräch über die Tapferkeit, weil er weiß, daß Sokrates in jener Schlacht von Delion tapfer war. Wenn man den Text aber [soJ deutet, dann beachtet man seine Bewegung nicht. Erstens geht es in diesem Stadium des Gesprächs noch nicht um die Tapferkeit. Wir sind immer noch bei 19 6
der ersten Frage, nämlich: Lysimachos und Melesias haben Kinder und fragen sich, ob man sie den Umgang mit Waffen lehren und sie Stesilaos anvertrauen soll. Wer könnte ihnen wohl dabei helfen? Wir sind immer noch bei dieser Frage, nämlich der Frage nach der Pflege, die man den Kindern zuteil werden lassen soll. Wir sind nicht bei der Frage nach der Natur der Tapferkeit. Diese wird erst später eingeführt. Wenn man sich den Text ansieht, fällt einem zweitens auf, daß es nicht nur noch nicht um die Frage nach der Tapferkeit im allgemeinen geht, sondern daß sich Laches noch nicht einmal genau auf Sokrates' Tapferkeit bezieht. Er bezieht sich zwar auf die Ereignisse der Schlacht bei Delion, aber er verwendet nicht das 'Wort, das Tapferkeit im strengen Sinne bedeutet (andreia) und erst später bei I90d auftaucht. 18 Er spricht viel allgemeiner von der Tugend, vom Wert, von der arete des Sokrates. Die Tapferkeit ist natürlich ein Teil der Tugend, aber Laches bezieht sich eben auf diese Tugend, diesen Wert im allgemeinen. '(Xlas sagt er nun aber wirklich? Ich glaube nicht, daß er sagt: Ich akzeptiere, daß Sokrates mir Fragen über die Tapferkeit stellt, weil er selbst tapfer war. Ganz [amJ Anfang des Textes, dls er auf eine Frage antwortet (bin ich nun ein Freund oder ein Feind der Reden ?), sagt er: Ich bin sowohl ihr Freund als auch ihr Feind, ich kenne mich mit den Reden eigentlich nicht gut 2US. Im Grunde versuche ich nicht, die Reden in gute und schlechte aufzuteilen. Um jene, die ich annehmen werde, von denen zu unterscheiden, die ich ablehne, halte ich mich nicht so sehr an den Inhalt der Reden, sondern vor allem daran, ob ein Einklang besteht zwischen dem, was der Redner sagt (der Rede selbst), und was er ist. Wenn das Leben (der bios) des Redners s:immt, wenn es einen Einklang zwischen der Rede und dem Sein von jemandem gibt, dann nehme ich die Rede an. Wenn die Beziehung zwischen der Lebensweise und der Weise zu reden harmonisch ist, akzeptiere ich die Rede und bin philologos Freund der Reden). Genau das geschieht nun im Hinblick auf 50krates. Laches sagt nicht: Sokrates mag von der Tapferkeit 5?rechen, weil er selbst tapfer ist. Viel allgemeiner wird er viel197
mehr alles, was Sokrates freimütig sagen wird, akzeptieren. Er akzeptiert sogar, von diesem noch relativ jungen Mann, nämlich Sokrates, getestet und geprüft zu werden, er, der ein alter heimgekehrter General ist. Warum akzeptiert er das alles? Eben weil es diesen Einklang, diese Harmonie zwischen dem gibt, was Sokrates sagt, zwischen der Art und Weise, wie er die Dinge sagt, und seiner Lebensweise. Die sokratische parrhesia als Freiheit, zu sagen, was er will, wird gekennzeichnet und beglaubigt durch den Ton von Sokrates' Leben. Die Bewegung ist also nicht: Von der Tapferkeit des Sokrates (in der Schlacht von Delion) zu seiner Qualifikation, seiner Sachkundigkeit in Sachen Tapferkeit. Die Bewegung ist vielmehr: von der Harmonie zwischen Leben und Reden des Sokrates zur Praxis eines wahren, freien und freimütigen Diskurses. Das freimütige Sprechen schließt an den Lebensstil an. Nicht die Tapferkeit in der Schlacht beglaubigt die Möglichkeit, über die Tapferkeit zu sprechen. Wir haben hier eine recht bedeutende und bezeichnende Stelle in bezug auf zwei Dinge, die mich gerade dieses Jahr interessieren. Erstens, die Verknüpfung zwischen der epimeleia (der Sorge) und einer bestimmten Modalität der sokratischen Rede. Die sokratische Rede ist genau das, was in der Lage ist, die Sorge, die die Menschen sich selbst gegenüber tragen, zu übernehmen, insofern die sokratische parrhesia eben eine Rede ist, die an das Prinzip »Kümmert euch um euch selbst« anschließt und sich ihm unterstellt. Dort, wo die Menschen sich um sich selbst und ihre Kinder sorgen, ist Sokrates im Grunde der wahre Sachkundige. Weder die politische noch die technische Form können diesem Bedürfnis und dieser grundsätzlichen Sorge entsprechen. Allein die Sorgfalt, die Bemühung, der Eifer, die sokratische epimeleia ist in der Lage, der Sorge der Menschen zu entsprechen. [Zweitens], worüber wird die sokratische parrhesia sprechen? Sie wird nicht über die Sachkundigkeit sprechen, nicht über die techne. Sie wird über etwas anderes sprechen, nämlich über die Existenz-, über die Lebensweise. Die Lebensweise erscheint 19 8
nun als das wesentliche, grundlegende Korrelat der Praxis des Wahrsprechens. Im Bereich der Sorge um die Menschen die Wahrheit zu sagen bedeutet, ihre Lebensweise in Frage zu stellen, diese Lebensweise einer Prüfung zu unterziehen und zu bestimmen, was als gut anerkannt und bestätigt werden kann und was dagegen an dieser Lebensweise abgelehnt und verurteilt werden muß. In dieser Hinsicht wird jenes grundsätzliche Band der Sorge, der parrhesia (des Freimuts) und der ethischen Scheidung zwischen dem Guten und dem Bösen im Bereich des bios (der Existenz) geknüpft. Mir scheint, daß wir hier eine Skizze, aber dennoch schon eine handfeste Zeichnung der sokratischen parrhesia haben, die überhaupt nicht mehr die politische parrhesia ist, über die ich letztes Mal gesprochen habe. Es handelt sich schlichtweg um eine ethische parrhesia. Ihr privilegierter und wesentlicher Gegenstand [ist] das Leben und die Lebensweise. "\Joch eine Bemerkung zum Schluß des Textes. Das ist die dritte Stelle, bei der ich mich einen Augenblick aufhalten möchte. Hier werde ich mich jedoch kürzer fassen. Als Sokrates Laches und Nikias, die das parrhesiastische Spiel akzeptiert haben, befragt, um herauszufinden, ob sie imstande sind, über ihre Lebensweise Rechenschaft abzulegen (didonai logon), stellt er natürlich die Frage: Was ist Tapferkeit? Ihr seid doch tapfer, könnt ihr Rechenschaft über euer Verhalten, über eure Lebensweise ablegen (den logos angeben)? Darum bemüht sich zuerst Laches und dann Nikias. Beide scheitern: Laches ist trotz seiner Tapferkeit nicht in der Lage, Rechenschaft über sein eigenes Handeln abzulegen (den logos anzugeben). Seine Bestimmung der Tapferkeit scheitert, weil sie einerseits zu eng und andererseits zu weit ist. 19 Auch Nikias wird auf die Probe gestellt. Man verlangt von ihm, Rechenschaft über seine Tapferkeit abzulegen, aber auch er kann es nicht, weil er versucht, diese Rechenschaft bloß in Begriffen des Wissens, der Fähigkeit, der Sachkundigkeit, der episteme zu geben. 20 Ein Mißerfolg also. Alle diese Leute, die tatsächlich tapfer sind, die den Mut hatten, das Spiel der Wahrheit zu akzeptieren, das Sokra199
tes ihnen vorschlug, waren nicht in der Lage, die Wahrheit über die Tapferkeit zu sagen. In diesem Sinne handelt es sich eben um ein Scheitern, und der Dialog wird durch eine Feststellung unterbrochen: »Also haben wir nicht gefunden, was die Tapferkeit ist«,21 sagt Sokrates. Offenbar nicht, antworten die Gesprächspartner. Aber in dem Augenblick, da sie feststellen, daß sie die gestellte Frage (nämlich: Was ist die Tapferkeit in Wahrheit, was ist die Wahrheit der Tapferkeit?) nicht beantworten konnten, beschränkt sich doch der Dialog nicht auf diesen Mißerfolg und dessen Feststellung. In dem Dialog ist etwas geschehen, das eigentlich erst am Ende des Textes erscheint und es verbietet, in allen Hindernissen, denen man im Laufe des Gesprächs begegnet ist, und in der Anstrengung, um das Wesen der Tapferkeit zu bestimmen, eine endgültige Sackgasse zu sehen. Was wirklich geschehen ist und wohin der Dialog führt, ist nicht in der Schlußfolgerung, sondern in den drei Folgerungen zu suchen, die man in diesem Dialog findet, in der Überlagerung dieser drei Folgerungen. Die erste ist die ironische Folgerung, durch die die beiden Gesprächspartner von Sokrates (Nikias und Laches, diese beiden hervorragenden und tapferen Staatsmänner) sich gewissermaßen ins Aus manövrieren und sich selbst aus dem Wege gehen. Nikias, der gelehrter als Laches ist, ist gerade gescheitert. Laches macht sich über ihn lustig und verweist ihn auf die Person, die gewöhnlich Nikias' Lehrer war und immer noch ist, auf einen gewissen Damon, einen Musiklehrer, der eine wichtige Person zur Zeit des Perikles war. Er war sowohl Musiklehrer als auch politischer Ratgeber. Laches lacht und sagt zu Nikias: Du solltest noch Lektionen bei Damon nehmen. 22 Hier haben wir also einen Hinweis auf die Welt der techne, die Welt der traditionellen Lehre, wo Wissen von einem Lehrer an einen Schüler weitergegeben wird. Nikias, der auf seinen Lehrer verwiesen wurde, weil er nicht einmal in der Lage war, eine Definition der Tapferkeit zu geben, nimmt diesen Hinweis und die Herausforderung von Laches an und erklärt, daß er tatsächlich zu Damon gehen wird, um seine Un200
zulänglichkeit auszugleichen, da er ja gerade entdeckt hat, daß er keine Definition der Tapferkeit geben kann. 23 So manövriert er sich selbst ins Aus. Das ist die erste Folgerung. Die zweite Folgerung besteht darin, daß Nikias und Laches im Augenblick ihres Abgangs dem Lysimachos doch einen Rat geben. Eigentlich gibt ihn Laches selbst. Er sagt zu Lysimachos: Da weder ich noch Nikias in der Lage waren, die Tapferkeit zu definieren, ist der einzige Rat, den ich dir, Lysimachos, geben kann, der wissen will, was er mit seinen Kindern tun soll, sie Sokrates anzuvertrauen. Warum? Damit er sich um sie kümmert (ton meirakion epimelesthai),24 und zwar, damit er sie bessert. Hier haben wir haargenau die Formel aus der Apologie, als Sokrates daran erinnert, daß der Auftrag, der ihm von den Göttern verliehen wurde, darin besteht, sich um die Staatsbürger zu kümmern und auch um jeden Menschen auf der Straße und es so einzurichten, daß sie besser werden. 25 Gerade wegen dieses göttlichen Auftrags, den er empfangen hat und auf den er in der Apologie anspielt, würde Sokrates sich hier nur ungern entziehen. In der Tat akzeptiert er ihn oder zumindest lehnt er es ab, sich dieser Aufgabe, die Lysimachos nun von ihm verlangt, zu entziehen. Er sagt: Es wäre schlimm, »wenn ich nicht dazu beitragen wollte, daß jemand so tugendhaft als möglich werde«.26 Sokrates ist also im Begriff, die Verantwortung für die Erziehung der Kinder von Lysimachos zu übernehmen. Man vertraut ihm diese epimeleia an, diese Sorge, die Lysimachos und :\Tikias zu Beginn des Dialogs so sehr beschäftigte. Aber kaum hat Sokrates die Tatsache erwähnt, daß er nicht ablehnen kann, als er auch schon sich selbst und den anderen gegenüber einwendet, daß er im Grunde nicht wirklich fähig ist, sich um die anderen zu kümmern, weil er ja ebensowenig wie Nikias und Laches imstande war, eine Definition der Tapferkeit zu geben. Und da es sich um ein allgemeines Scheitern handelte (niemand konnte schließlich eine Definition vorlegen), müssen wir nun einen Lehrer suchen, und zwar, so fügt er hinzu, ohne auf die Kosten zu schauen und ohne Scham, wieder zur Schule zu ge20r
henY In diesem Moment hat man den Eindruck, daß Sokrates nichts anderes tut, als was Nikias zuvor getan hat, wenn er sagt: Was mich betrifft, so ist die Sache ganz einfach, es ist mir nicht gelungen, eine Definition der Tapferkeit zu finden, und so kehre ich zu meinem Lehrer zurück. In meinem Alter werde ich noch einmal anfangen zu lernen, ich werde die Bühne jener technischen Lehre und der Überlieferung wieder betreten. Sokrates hat ganz den Anschein, daß er das tun will, aber ein bestimmter Satz sollte uns zumindest hellhörig machen, wenn er nämlich sagt: Schauen wir nicht auf die Kosten, und suchen wir nach neuen Lehrern. Unter Voraussetzung dessen, was Sokrates, wie Sie wissen, im Hinblick auf jene Lehrer ständig sagt, die sich ihre Lektionen bezahlen lassen, kann dies klarerweise nur eine ironische Schlußfolgerung sein. In Wirklichkeit ist es nämlich offensichtlich, daß der Lehrer, in dessen Schule man gehen muß, weil die Definition der Tapferkeit schließlich nicht gelang, kein Lehrer ist, den man bezahlen muß wie Damon und Stesilaos. Dieser Lehrer, in dessen Schule alle gehen müssen, weil keinem die Definition der Tapferkeit gelang, ist natürlich der logos selbst, es ist die Rede, die den Zugang zur Wahrheit vermitteln wird. Und diesem Lehrer sollen sich nun alle unterwerfen, ganz gewiß die jungen Leute, aber auch ihre Eltern und Sokrates. Deshalb beendet Sokrates einen seiner letzten Einwürfe - [obwohl er doch] gerade die Notwendigkeit erwähnt hat, nicht auf die Kosten zu schauen und zur Schule zurückzukehren -, indem er sagt: Ihr werdet bestimmt über mich lachen, wenn ihr mich in die Schule gehen seht, aber lassen wir den, [der etwas Schlechtes darüber sagt], beiseite, »indem wir unsere Sorge gemeinschaftlich nur uns selbst und unseren jungen Leuten widmen (koine hemon auton kai ton meirakion epimeleian poiesometha)«.28 Tragen wir Sorge, und zwar sowohl für uns selbst als auch für [die jungen Leute]. Sorge zu tragen für sich selbst und die Kinder, das steht im Zentrum des sokratischen Projekts, das ist das Ziel seiner parrhesiastischen Praxis. Es ist klar, daß Sokrates sich in der gleichen Lage befindet wie die anderen. Da der wah-
re Lehrer nicht der Schullehrer ist, sondern der logos, muß er zuhören wie die anderen, und er muß sich um sich selbst und um die anderen kümmern. Sie sehen jedoch, daß er zwangsläufig eine privilegierte Stellung hat. In diesem notwendigen Hören auf den Lehrer, wer ist da der Führer, wer erinnert ständig dar an, daß man sich um sich selbst kümmern und deshalb auf den logos hören muß, wenn nicht Sokrates? Folglich lehnt Sokrates die Rolle des Lehrers im Sinne des Lehrers der techne ab, der sein Wissen an seine Schüler weitergeben kann. Er will die Stelle dieses Lehrers nicht einnehmen und ist in dieser Hinsicht genau in derselben Lage wie die anderen. Er wird sich um sich selbst kümmern müssen, indem er auf die Sprache der Lehre des logos selbst hört. In dieser Art von Gleichheit - die nicht nur eine scheinbare, [sondern] eine tatsächliche ist -, die zur Konsequenz hat, daß sich in der sokratischen Gemeinschaft jeder um sich selbst und, wenn er kann, auch um die anderen kümmern soll, besitzt Sokrates doch eine Stellung, die sich von der der anderen unterscheidet. Er führt die anderen zu dieser Sorge um sich selbst hin und eventuell auch zur Möglichkeit, sich um die anderen zu kümmern. Sokrates wird in die Schule des ausstehenden Lehrers gehen, soviel ist gewiß. Zugleich führt er aber die anderen auf dem Weg des logos, indem er in die Schule des ausstehenden Lehrers (des logos) geht. Während Sokrates ironischerweise sagt: Gehen wir also wieder zur Schule und lassen wir die Leute lachen, die sich über uns lustig machen, versteht jedermann übrigens ganz gut - das scheint ja gerade die Moral des Dialogs zu sein -, daß Lysimachos, der den ganzen Dialog veranstaltet hat, der angefragt hat, der jemanden gesucht hat und immer noch sucht, welcher sich um seine Kinder kümmert, sagt: »Meinen Beifall, Sokrates, hat das ganz, was du sagst, und ich bin gewillt> je älter ich bin, um so eifriger mit unseren Jungen zu lernen. Aber tue mir das und besuche mich morgen früh zu Hause, und gewiß, damit wir eben hierüber uns weiter beratschlagen! Für heute müssen wir auseinandergehen. «29 In dem Augenblick, als Sokrates gerade gesagt hat: Ich bin ge-
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nauso unwissend wie ihr, und wir brauchen alle einen Lehrer, versteht Lysimachos, obwohl er es gehört hat, etwas anderes: Er hat nämlich verstanden, daß Sokrates, und nur er alleine, der Lehrer dieses Weges ist, der zum wirklichen Lehrer führt. Anstatt nach jenem teuren Lehrer zu suchen, von dem Sokrates ihm gegenüber ironisch gesprochen hatte, sagt deshalb Lysimachos zu Sokrates einfach: Komm' also zu mir. Nun erscheint der Pakt der epimeleia: Du bist derjenige, der sich um meine Kinder kümmern wird, und nicht nur um meine Kinder, sondern auch um mich - gemäß dem Prinzip, das zu Beginn des Dialogs genannt wurde, als die Rede davon war, daß man selbst dann, wenn man älter ist und sein ganzes Leben lang, die eigene Lebensweise in Frage stellen solpo Man soll seine Existenz, die Form des eigenen Lebensstils, dem basanos (dem Prüfstein) aussetzen. Sokrates wird als basanos berufen, als einer, der jeden Rechenschaft über sein Leben, über sein ganzes Leben und während seines ganzen Lebens ablegen läßt. Er wird für die Söhne Lysimachos' und für diesen selbst berufen. Übrigens nimmt Sokrates diesen Auftrag an. Seine letzten Worte sind folgende: Ich werde es tun, Lysimachos, »ich werde morgen bei dir sein«, um euch, dich und deine Kinder, auf dem Weg der Sorge um sich selbst und des Hörens auf den logos zu führen. Ich werde morgen bei dir sein, »so es den Göttern gefällt«.31 Das ist zwar eine ganz gewöhnliche und rituelle Formel, aber man muß sie doch auch auf zwei Ebenen verstehen, wie so oft bei den rituellen Formeln Platons. Man muß sich daran erinnern, daß der Gott es ja ausdrücklich wollte. Mehr als um eine Formel handelt es sich hier um eine Erinnerung an das, was der Gott wollte, denken Sie an die Apologie, als er Sokrates bedeutet hat, daß er zu den Leuten gehen und sie auffordern müsse, Rechenschaft über ihre Lebensweise abzulegen, und sie auf diese Weise lehren müsse, sich um sich selbst zu kümmern. Das war's. Dieses Mal verspreche ich, daß ich nun mit Sokrates abgeschlossen habe. Als Philosophieprofessor sollte man mindestens einmal in seinem Leben eine Vorlesung über Sokrates 2°4
und seinen Tod gehalten haben. Das ist nun getan. Salvate animam meam. Nächstes Mal werden wir über die Kyniker reden, yersprochen.
Anmerkungen Pro ta go ras und Gorgias erscheinen in den platonischen Dialogen desselben Namens. Thrasymachos ist Sokrates' Gesprächspartner im I. Buch des Staats (vgl. was Foucault in seiner Vorlesung vom 9. März 19 83 dazu sagt, in: Le Gouvernement de soi et des autres, a. a. 0., S. 33 8; dt.: S. 46 I). 2 Platon, Laches, I 87e, übers. v. L. Georgii, a. a. 0., S. 185. 3 »Denn es macht mir Freude, Lysimachos, mich mit dem Manne einzulassen [... }< (ebd., 188a, S. 185). -t Ebd., 188c, S. 186. 5 Ebd., 189a, S. 186. 6 Ebd., I89b, S. 187. 7 Ebd. 3 Ebd., I 87e- I 88c, S. 185-186. 9 Ebd., 188a, S. 185. ,:) Ebd., I87e, S. 185. ,I Ebd. ,2 Vgl. eine erste Analyse des basanos und der Auseinandersetzung zwischen Sokrates und Kallikles (Gorgias, 486d-e) in der Vorlesung vom 9. März 1983 (Le Gouvernement de soi ... , S. 335-343; dt.: S.457-468). ,} »Zugleich ist dies [die Leibesübungen] eine eigene Prüfung (ton basanon) und nicht die schlechteste, wie sich ein jeder in den Leibesübungen bewährt« (Der Staat, VII. Buch, 537b, übers. v.K. Vretska, a.a.O., S.I80). :+ »Also wird auch ihrer Natur nach die wahre Staatskunst [...] durch Erziehung prüfen (basanon)« (Platon, Der Staatsmann, 308d, übers. v. F. Schleiermacher, in: Platon: Sämtliche Werke, 2. Bd., Heidelberg 19 82 , S. I6 7)· :5 Platon, Laches, 188c-I89a, S. 186-187. :6 Ebd., I89a-b, S. 187. ::-- Ebd., 189b, S. 187. :3 Ebd., 190d, S. 189. :9 Ebd., I9oe-194c, S. 189-194. 2:) Ebd., I96d-19ge, S. 197-202. .:: Ebd., 19ge, S. 202. 22 Ebd., 200a, S. 202. 2} Ebd . .:+ Ebd., 200C, S.203. Der Ausdruck »ton meirakion epimeleisthai« erI
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scheint erst, als Nikias an Laches' Aussage anknüpft, der seinerseits von der »paideia ton neaniskon« (Erziehung der Söhne) spricht. 25 Platon, Des Sokrates Verteidigung, 29b-30d, übers. v. F. Schleiermacher, a.a.O., S.2I-22. 26 Platon, Laches, 200e, S. 203· 27 Ebd., 20Ia, S. 204· 28 Ebd., 20I b, S. 204. 29 Ebd. 30 Ebd., I 88b, S. I86. 3 I Ebd., 20IC, S. 203. Das ist der letzte Satz des Dialogs: »Ich will es tun, Lysimachos; morgen werde ich zu dir kommen, so Gott will (ean theos ethele).«
Vorlesung 5 (Sitzung vom 29. Februar 1984, erste Stunde)
Der Zirkel der Wahrheit und der Tapferkeit. - Vergleich zwischen dem Al;:ibiades und dem Laches. - Metaphysik der Seele und Ästhetik der Exi;~enz. - Das wahre und das schöne Leben. - Der Zusammenhang zwischen 'Xahrsprechen und Lebensweise im Kynismus. - Die parrhesia als Haupt"nerkmal des Kynikers: Texte von Epiktet, Diogenes Laertius und Lu~ian. - Bestimmung der Beziehung zwischen Wahrsprechen und Lebens:::eise: instrumentelle Funktion, Reduktionsfunktion, Beweisfunktion. Das Leben als Theater der Wahrheit. ~ ... ,:.] Ich hatte Ihnen zu zeigen versucht, wie sehr sich diese Praxis der Veridiktion, der ethischen parrhesia in ihrer Form, :hren Zielen, ihrem Anwendungsbereich, aber auch in ihren erfahrensweisen von der politischen parrhesia unterschied, auch wenn natürlich diese moralische oder ethische parrhesia sich zumindest teilweise durch ihre Nützlichkeit für den Staat und durch die Tatsache, daß sie für die gute Regierung und das Heil des Staates notwendig ist, charakterisieren und rechtfertigen läßt. Die Apologie hatte die Begründung dieser ethischen ;;arrhesia, die in der und durch die sokratische Praxis begründet wird, erzählt und gerechtfertigt. Der Laches - das hatte ich Ihnen letztes Mal zu zeigen versucht - hatte ein bemerkenswertes Beispiel für die ethische parrhesia vorgestellt, und zwar aus zwei Gründen. Der erste besteht darin, daß das Thema des Freimuts, des Wahrsprechens (parrhesia), des Mutes, die Wahrheit zu sagen, mit dem Thema der Wahrheit des Mutes verknüpft war, zumindest aber mit der Frage, was der Mut in Wahrheit ist. Die ';)7ahrheit des Mutes und der Mut, die Wahrheit zu sagen. Diese Dinge wurden im Laches miteinander verknüpft und verbunJen. Zweitens hatten wir in demselben Dialog, wie Sie sich er-
Die Vorlesung beginnt mit einem Satz, von dem nur die letzten Wörter hörbar sind: " ... hatte sich das vollzogen, was man etwas feierlich und barbarisch die Begründung der ethischen parrhesia, der ethischen Veridiktion, des ethischen Wahrsprechens nennen könnte.« 206
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innern, eine weitere Verbindung, eine weitere Beziehung - die gleichfalls stark und wesentlich ist - zwischen dem Gebrauch des Freimuts (der parrhesia) und dem Prinzip gefunden, daß man sich um sich selbst bemühen, um sich selbst kümmern soll (epimeleia heautou). Einerseits also die Verbindung, der Zirkel Wahrheit des Mutes/Mut zur Wahrheit; und andererseits die Verbindung, die Zugehörigkeit der Praxis der parrhesia zum großen Thema der Sorge um sich selbst. Als letzten Punkt hatten wir letztes Mal ganz kurz folgendes angesprochen. Mir schien, daß man einen bestimmten Vergleich zwischen dem Dialog des Laches und dem Dialog des Alkibiades vornehmen könne, über den ich, glaube ich, letztes Jahr gesprochen habe.! Natürlich gibt es zwischen dem Laches und dem Alkibiades einen großen, sichtbaren und deutlichen Unterschied [in bezug auf] zwei wesentliche Aspekte der Dramaturgie dieser Dialoge. [Zunächst der gesellschaftliche Aspekt]: Im Laches macht Sokrates Gebrauch von seinem Freimut und der Tapferkeit, die man braucht, um ihn gegenüber Erwachsenen, fast schon Greisen, achtbaren, ehrenwerten, wichtigen Männern im Staat einzusetzen, die tatsächlich selbst ihren Wert, ihre Mannhaftigkeit, ihre Tapferkeit bewiesen haben, aber nicht in der Lage sind, Rechenschaft darüber abzulegen; im Alkibiades richtet Sokrates seine parrhesia, seinen Freimut dagegen an einen jungen Mann, der all jene Qualitäten, die erforderlich sind, wenn er seinen Ehrgeiz, Athen zu regieren, befriedigen will, gerade noch nicht unter Beweis gestellt hat. Die Dramaturgie der beiden Dialoge unterscheidet sich außerdem noch im Hinblick auf sein Ziel, sein Ende, sein philosophisches Ergebnis, und nicht nur in seiner Ausgangssituation und seinem gesellschaftlichen Rahmen. Im Laches gelangt man nämlich zu der Feststellung, daß man nicht weiß, was die Tapferkeit eigentlich ist, und daß niemand es sagen kann. Dagegen schließt der Alkibiades mit der Entdeckung und der Stellung der Seele als Wirklichkeit, der wir unsere Aufmerksamkeit zuwenden sollen. Trotz dieser Unterschiede gibt es auch eine Reihe von Gemein208
samkeiten, und der [Vergleich] dieser Dialoge ermöglicht die Entdeckung von etwas sehr Wichtigem, und zwar nicht nur für Sokrates' Thematik, sondern auch für die gesamte abendländische Philosophie. Diese beiden Dialoge weisen zumindest folgende Gemeinsamkeit auf. Sowohl im Hinblick auf die achtbaren und ehrenwerten Männer, nämlich Laches und Nikias, als auch im Hinblick auf den begehrenswerten jungen Alkibiades dient Sokrates' parrhesia dazu, den Gesprächspartnern (Nikias ;.md Laches einerseits und Alkibiades andererseits) die Frage zu stellen, ob sie Rechenschaft über sich selbst ablegen, sich selbst rechtfertigen (didonai logon) können. [Zweitens] soll diese parrhesia, die dazu dient, von den Gesprächspartnern zu ;;erlangen, daß sie Rechenschaft über sich selbst ablegen, sie zu der Erkenntnis führen, und führt sie tatsächlich auch dazu, daß sie die Pflicht haben, sich selbst zu erkennen, daß sie sich um sich selbst kümmern sollen. Die dritte Gemeinsamkeit der beiden Dialoge besteht schließlich darin, daß Sokrates bei dieser Führung zur Sorge um sich selbst oder bei dieser Erkenntnis, ::aß man sich um sich selbst kümmern muß, und bei den Fol;en, die sich daraus ergeben, als jemand erscheint, der in der Lage ist, die anderen zu lehren, sich um sich selbst zu küm::lern, indem er sich um sie kümmert. Diese Nähe der beiden Dialoge gestattet trotz des dramaturgischen Unterschieds, der sich zwischen ihnen finden läßt, den gemeinsamen Verwurze:ungspunkt für zwei verschiedene Entwicklungen in der Ge5chichte der abendländischen Philosophie zu identifizieren. Ganz schematisch können wir folgendes sagen: Einerseits gelangt der Alkibiades, wie Sie sich erinnern, im _-\usgang von diesem Prinzip, daß man Rechenschaft über sich selbst ablegen soll, dank der sokratischen parrhesia zur Entieckung und Begründung des Selbst als ontologisch vom Kör::cer verschiedene Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit, die sich :mtologisch vom Körper unterscheidet, ist das, was ganz ausirücklich als Seele (psyche) bezeichnet wird. Im Alkibiades Sokrates seinem Gesprächspartner folgende Frage: Du :-:ast gerade zugegeben, daß du dich um dich selbst kümmern 2°9
sollst, aber was bedeutet es, »sich um sich selbst zu kümmern« und was ist das, worum man sich kümmern soll? Hier zeigte Sokrates dem Alkibiades anhand einer Reihe von Beispielen, daß er sich um diese psyche kümmern müsse. Und diese Begründung der psyche als Wirklichkeit, die sich ontologisch vom Körper unterscheidet und um die man sich kümmern muß, entsprach einem bestimmten Modus der Selbsterkenntnis, nämlich der Selbstbetrachtung der Seele und der Erkenntnis ihrer Seinsweise. Erinnern Sie sich an all die Passagen, wo Sokrates erklärte, daß die Seele sich selbst betrachten soll, daß sie wie ein Auge ist, das bei dem Versuch, sich selbst zu sehen, in die Pupille eines anderen Auges blicken müsse, um seiner selbst gewahr zu werden. Auf dieselbe Weise, so Sokrates, können wir das Göttliche in unserer eigenen Seele erfassen, wenn wir die göttliche Wirklichkeit betrachten. 2 So gibt die Begründung des Selbst als Wirklichkeit, die sich ontologisch vom Körper unterscheidet, in Form einer psyche, die die Möglichkeit und die ethische Pflicht der Selbstbetrachtung hat, Anlaß zu einem Modus des Wahrsprechens, der Veridiktion, die zum Ziel hat, diese Seele zu ihrer eigentlichen Seinsweise und ihrer eigentlichen Welt hinzuführen. Diese sokratische Veridiktion, deren Entwicklung man im Alk ibia des auf der Basis des grundlegenden, wiederkehrenden und gemeinsamen Themas der Sorge um sich selbst verfolgen kann, bezeichnet und umreißt bis zu einem gewissen Grad den Ort des Diskurses der Metaphysik, wenn dieser Diskurs dem Menschen sagen soll, wie es um sein Sein steht und was aus diesem ontologischen Fundament des Seins des Menschen für die Ethik und die Verhaltensregeln folgt. Dagegen vollzieht sich im Laches die Begründung des Selbst ausgehend von derselben Gemeinsamkeit (Rechenschaft über sich selbst ablegen und sich um sich selbst kümmern) überhaupt nicht mehr nach dem Modus der Entdeckung einer psyche als Wirklichkeit, die vom Körper ontologisch verschieden ist, [sondern] als Seins- und Handlungsweise - das wird im Laches ausdrücklich gesagt -, über die man sich sein ganzes Leben
lang Rechenschaft ablegen soll. Man soll Rechenschaft darüber ablegen, wie man lebt und wie man gelebt hat. Das ist das Ziel dieses Unternehmens der Bestandsaufnahme. Die Bestandsaufnahme bezüglich des Selbst, die uns im Alkibiades zu jener ontologisch ausgezeichneten Wirklichkeit der psyche führte, führt uns im Laches zu etwas ganz anderem. Sie führt uns zum bias, zum Leben, zur Existenz und zu der Art und Weise, wie man diese Existenz führt. Diese Einsetzung des Selbst als bias, und nicht mehr als psyche, als Leben und Lebensweise und nicht mehr als Seele, entspricht einem bestimmten Modus der Selbsterkenntnis, der auf gewisse Weise und grundsätzlich natürlich auf das Prinzip des »Erkenne dich selbst« zurückgeht, das gerade im Alkibiades so häufig genannt wird. Aber dieses gnathi seautan, das im Laches dieselbe Geltung besitzt wie im Alkibiades, das einerseits für die Entdeckung der Seele und andererseits für die Aktualisierung des Problems des bias Geltung besitzt, diese Selbsterkenntnis ist offensichtlich von ganz anderer Form, wenn die Bestandsaufnahme bezüglich des Selbst am Problem des bias (des Lebens), und nicht an der Entdeckung der Seele als einer ontologisch verschiedenen Wirklichkeit ausgerichtet ist. Diese Selbsterkenntnis, die im Laches eher erwähnt [als] vollzogen wird, weist nicht die Form der Selbstbetrachtung der Seele im Spiegel ihrer eigenen Göttlichkeit auf. Dieser Modus der Selbsterkenntnis nimmt vielmehr [die Form] der Probe, der Prüfung, aber auch der Übung - diese Worte stehen im Laches, wir hatten sie dort gefunden - hinsichtlich des eigenen Verhaltens an. Und er veranlaßt einen Modus des Wahrsprechens, der nicht den Ort eines möglichen metaphysischen Diskurses beschreibt, einen Modus des Wahrsprechens, dessen Aufgabe und Funktion es ist, dem bias (dem Leben, der Existenz) eine bestimmte Form zu geben. Im einen Fall haben wir also eine Weise der Bestandsaufnahme des Selbst, die auf die psyche gerichtet ist und die als solche den Ort eines möglichen metaphysischen Diskurses bezeichnet. Im anderen Fall haben wir eine Bestandsaufnahme des Selbst, ein »Rechenschaftsablegen über sich selbst«, das sich auf den bias
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als Existenz richtet, [eine] Existenzweise, die es während dieser gesamten Existenz prüfen und auf die Probe stellen soll. Warum? Um ihr durch einen bestimmten wahren Diskurs eine bestimmte Form geben zu können. Dieser Diskurs der Bestandsaufnahme des Selbst soll die sichtbare Gestalt bestimmen, die die Menschen ihrem Leben geben sollen. Dieses Wahrsprechen ist nun nicht mit dem metaphysischen Risiko konfrontiert, die Wirklichkeit der Seele jenseits oder über den Körper hinaus zu setzen; das Wahrsprechen ist vielmehr dem Risiko und der Gefahr ausgesetzt, den Menschen zu sagen, was sie an Mut brauchen und was es sie kosten wird, um ihrem Leben einen gewissen Stil zu verleihen. Mut zum Wahrsprechen, wenn es darum geht, die Seele zu entdecken. Ebenfalls Mut zum Wahrsprechen, wenn es darum geht, dem Leben Form und Stil zu verleihen. Wenn wir uns mit dem Alkibiades und dem Laches auseinandersetzen, finden wir den Ausgangspunkt für die beiden großen Entwicklungslinien der sokratischen Veridiktion in der gesamten abendländischen Philosophie. Ausgehend von diesem ersten, grundlegenden, gemeinsamen Thema des didanai lagan (Rechenschaft über sich selbst ablegen), erstreckt sich eine [erste] Linie zum Sein der Seele (der Alkibiades), während die andere sich auf die Formen der Existenz richtet (der Laches). Dieses berühmte »Rechenschaft über sich selbst ablegen «, das die sokratische parrhesia so hartnäckig verfolgt - darin besteht seine grundsätzliche Mehrdeutigkeit, die sich in der gesamten Geschichte unseres Denkens abzeichnen wird -, kann als die Aufgabe verstanden werden und wurde auch so verstanden, das Sein der Seele finden und aussagen zu müssen, oder aber als die Aufgabe und die Arbeit, die darin besteht, der Existenz einen bestimmten Stil zu verleihen. In dieser Dualität zwischen dem »Sein der Seele« und dem »Stil der Existenz« zeichnet sich, glaube ich, für die abendländische Philosophie etwas Wichtiges ab. Wenn ich diese grundlegende Nähe, aber auch wesentliche Verschiedenheit hervorgehoben habe, die man in diesen beiden Dialogen des Laches und des Alkibiades erkennen kann, dann
aus folgendem Grund. Auf diese Weise versuche ich zumindest in gewissen ihrer ältesten und archaischsten Grundzüge die Geschichte dessen wiederzufinden, was man mit einem Wort die Ästhetik der Existenz nennen könnte. Damit meine ich nicht nur bzw. im Moment nicht so sehr die verschiedenen Formen, die die Künste des Lebens annahmen, [was] natürlich eine ganze Reihe von besonderen Untersuchungen erfordern würde. Ich wollte jedoch versuchen, Ihnen und mir selbst zu zeigen, wie durch das Erscheinen und die Begründung der sokratischen parrhesia im griechischen Denken die Existenz (der bias) als ästhetischer Gegenstand, als Gegenstand der ästhetischen Bearbeitung und Wahrnehmung konstituiert wurde: der bias als schönes Werk. Wir sehen hier die Eröffnung eines sehr reichhaltigen historischen Gebiets. Natürlich kann man die Geschichte der Metaphysik der Seele schreiben. Man kann aber auch - was bis zu einem gewissen Grad ihre Kehrseite und Alternative [darstellt] - eine Geschichte der Stilistik der Existenz, eine Geschichte des Lebens als möglicher Schönheit schreiben. Dieser ganze Aspekt der Geschichte der Subjektivität, insofern sie das Leben als Gegenstand einer ästhetischen Form konstituiert, wurde natürlich lange von der Geschichte der Metaphysik, von der Geschichte der psyche, der Geschichte der Art und Weise, durch die die Ontologie der Seele begründet und eingerichtet wurde, verdeckt und beherrscht. Diese mögliche Untersuchung der Existenz als schöne Form wurde auch durch die bevorzugte Untersuchung jener ästhetischen Formen verdeckt, die mit dem Ziel entworfen wurden, den Dingen, den Substanzen, den Farben, dem Raum, dem Licht, den Tönen und den Wörtern Form zu verleihen. Aber schließlich muß man sich [daran erinnern], daß für den Menschen seine Seinsweise und sein Verhalten, die Ansicht, die seine Existenz den Augen der anderen und seinen eigenen zur Erscheinung bringt, auch die Spur, die diese Existenz hinterlassen kann und in der Erinnerung der anderen nach seinem Tod hinterlassen wird, diese Seinsweise, diese Ansicht, diese Spur ein Gegenstand ästhetischer Bemühung war. Sie haben in ihm eine
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Sorge um die Schönheit, den Glanz und die Vollkommenheit wachgerufen, eine ständige und ständig erneuerte Formgebung, zumindest ebensosehr wie die Form, die dieselben Menschen den Göttern, den Tempeln oder dem Wortgesang zu verleihen versuchten. Wenn wir die Grundzüge dieser Geschichte an die sokratischen Dialoge anschließen, wenn wir versuchen, in diesen Dialogen den Ausgangspunkt dessen zu finden, was ich Ästhetik der Existenz nenne - und hier muß Klarheit herrschen -, dann behaupte ich keinesfalls, daß diese Sorge um das schöne Leben eine sokratische Erfindung oder eine Erfindung des griechischen Denkens an der Wende vom 5. zum 4· Jahrhundert gewesen sei. Es wäre völlig abwegig, diese Erfindung so spät anzusetzen, wenn man daran denkt, daß diese Sorge um eine schöne Existenz schon als völlig beherrschendes Thema bei Homer oder bei Pindar erschien. Was ich jedoch durch die Betrachtung dieses sokratischen Augenblicks am Ende des 5. Jahrhunderts erfassen wollte, ist der Moment, in dem sich eine bestimmte Beziehung zwischen dieser zweifellos archaischen, alten, herkömmlichen Sorge in der griechischen Kultur um eine schöne, glänzende, denkwürdige Existenz und der Bemühung um das Wahrsprechen bildet. Genauer, was ich erfassen möchte, ist die Art und Weise, wie das Wahrsprechen in dieser ethischen Modalität, die mit Sokrates ganz am Beginn der abendländischen Philosophie erscheint, sich mit dem Prinzip der Existenz als Werk gekreuzt hat, das in seiner ganzen möglichen Vollkommenheit zu gestalten ist, wie die Sorge um sich, die lange vor Sokrates und der griechischen Tradition vom Prinzip einer glänzenden und denkwürdigen Existenz beherrscht wurde, wie dieses Prinzip [...] durch das Prinzip des Wahrsprechens, dem man tapfer gegenübertreten muß, nicht ersetzt, sondern wiederaufgenommen, abgewandelt, modifiziert, neu bearbeitet wurde, wie das Ziel einer Schönheit der Existenz und die Aufgabe des Rechenschaftablegens über sich selbst im Spiel der Wahrheit miteinander kombiniert wurden. Die Kunst der Existenz und der wahre Diskurs, die Beziehung
zwischen der schönen Existenz und dem wahren Leben, dem Leben in der Wahrheit und für die Wahrheit, das sind die Dinge, die ich erfassen wollte. Das Erscheinen des wahren Lebens im Prinzip und in der Form des Wahrsprechens (den anderen und sich selbst die Wahrheit über sich selbst und die anderen zu sagen), das wahre Leben und das Spiel des Wahrsprechens, das ist das Thema bzw. das Problem, das ich untersuchen wollte. Dieses Problem, dieses Thema der Beziehungen zwischen dem Wahrsprechen und der schönen Existenz oder auch, mit einem Wort, das Problem des »wahren Lebens« würde offensichtlich eine ganze Reihe von Untersuchungen erfordern. Aber - verzeihen Sie bitte, daß ich mich noch einmal beklage es ist klar, daß ich diese Dinge selbst noch nicht analysiert habe, daß es interessant wäre, sie in einer Arbeitsgruppe, in einem Seminar zu untersuchen und darüber diskutieren zu können. )J ein, ich bin im Augenblick nicht in der Lage - vielleicht werde ich es eines Tages sein, vielleicht nie -, eine ordentliche Vorlesung über dieses Thema des wahren Lebens zu halten. Ich möchte Ihnen bloß ein paar Skizzen und einige Gründzüge angeben. Wenn es unter ihnen Leute gibt, die sich für dieses Problem interessieren, nun, dann mögen sie es genauer studieren. Die zweite Bemerkung, die ich zum Erscheinen der Frage wahres Leben/Ästhetik der Existenz machen möchte, besteht darin, daß ich bei Sokrates den Moment gesucht habe, in dem das Erfordernis des Wahrsprechens und das Prinzip der Schönheit der Existenz in der Sorge um sich selbst verknüpft wurden. Ich habe auch versucht zu zeigen, wie sich von da an zwei mögliche Entwicklungen abzeichnen konnten: die einer Metaphysik der Seele und die einer Ästhetik des Lebens. Ich behaupte keinesfalls - und das ist die zweite Bemerkung, die ich machen wollte -, daß es so etwas wie eine Unverträglichkeit oder einen unüberwindbaren Widerspruch zwischen dem Thema einer Ontologie der Seele und dem einer Ästhetik der Existenz gäbe. l1an kann sogar sagen, daß diese beiden Themen im Gegenteil tatsächlich sehr kontinuierlich miteinander verbunden waren.
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Praktisch gibt es kaum eine Ontologie der Seele, die de facto nicht mit der Bestimmung oder dem Erfordernis eines bestimmten Lebensstils verbunden war. Und es gibt auch kaum einen Lebensstil bzw. eine Lebensform, die entwickelt oder ausgearbeitet worden wäre, ohne daß man sich mehr oder weniger ausdrücklich auf so etwas wie die Metaphysik der Seele bezogen hätte. Ich möchte jedoch betonen, daß diese Beziehung zwischen Seelenmetaphysik und Lebensstilistik niemals eine notwendige oder einzigartige Beziehung ist. Mit anderen Worten, die Stilistik des [Lebens':' kann niemals] die Projektion, Anwendung, Folge oder Umsetzung von so etwas wie einer Metaphysik der Seele sein. Die Beziehungen zwischen den beiden sind geschmeidig und veränderlich. Es gibt zwar eine Beziehung, aber sie ist geschmeidig genug, um eine ganze Reihe völlig verschiedener Existenzstile zu finden, die mit ein und derselben Metaphysik der Seele verbunden sind. Wenn wir auf der Grundlage einer schematischen Ansicht und völlig skizzenhaft annehmen, daß es eine gewisse Beständigkeit in der Metaphysik der Seele gibt, die dem Christentum eigentümlich ist, so wissen Sie doch auch, daß das Christentum im Rahmen dieser Metaphysik der Seele sehr verschiedene Lebensstile entworfen hat, und zwar sowohl gleichzeitig als auch nacheinander. Im Christentum wurden mehrere gleichzeitige Existenzweisen bestimmt. Das Leben des Asketen ist nicht das Leben dessen, der ein Leben wie jedermann führt. Das Leben des Laien wie das des Geistlichen, das Leben des Mönches oder der normalen Priesterschaft ist nicht dasselbe wie das des weltlichen Klerus usw. Eine ganze Reihe von Unterschieden, von Abwandlungen in der Stilistik der Existenz oder gar von verschiedenen Lebensstilen wurde innerhalb eines und desselben metaphysischen Rahmens gleichzeitig ermöglicht. Im Christentum lassen sich trotz des Bezugs auf jene Metaphysik, die in etwa gleichbleibt, auch Lebensstile finden, die nacheinander sehr verschieden waren. Der Stil der christlichen Askese im ". M. F. sagt: Seele. 216
oder 5. Jahrhundert n. Chr. unterscheidet sich beispielsweise stark [vom Stil] der Askese des 17. Jahrhunderts. Also: Die :\Ietaphysik ist relativ konstant, und dennoch ändert sich die Stilistik der Existenz. :\1an kann aber auch den umgekehrten Fall antreffen, d. h. ganz ·,·erschiedene Metaphysiken der Seele, die als Stütze, als Bezugspunkt oder, sagen wir, als theoretischer Rahmen für Exisrenzstile dienen, die ihrerseits relativ stabil bleiben. Man könnte zum Beispiel die Geschichte des Stoizismus auf diese Weise betrachten und sehen, wie sehr der Stoizismus seit der !:1ellenistischen Zeit oder zumindest seit der römischen Zeit bis spät ins europäische I7. Jahrhundert einen gewissen Lebensstil oestimmt hat, der letztlich trotz einer Reihe von Änderungen in den Einzelheiten recht konstant war. Nun sieht man jedoch, ';!.. ie dieser Stoizismus sich innerhalb eines rationalistischen :\lonotheismus wie etwa der Stoizismus der Kaiserzeit entwik:.;:elt. Man findet ihn mit Formen des Pantheismus verbunden oder mit dem, was man das humanistische und universalistische Christentum des I7. Jahrhunderts nennen kann. Zwischen den Metaphysiken oder den Philosophien der Seele und den Stilistiken der Existenz gibt es also eine Beziehung, die =nan zwar immer analysieren kann, die jedoch niemals gleicholeibt und die in der Tat mögliche Variationen beinhaltet, und zwar sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite. In diesem allgemeinen Rahmen, rings um das Thema des wahren Lebens, der Stilistik der Existenz, der Suche nach einer schönen Existenz in Form der Wahrheit und Praxis des Wahrsprechens möchte ich - ohne noch überhaupt zu wissen, wohin ich diese Dinge führen werde, ob es bis zum Ende des Jahres dauern wird oder ob ich vorher damit aufhören werde - das Beispiel des Kynismus betrachten, aus folgendem wesentlichen Grund. Mir scheint, daß im Kynismus, in der Praxis des K ynis=nus das Erfordernis einer äußerst typisierten Lebensform =nit sehr charakteristischen, sehr wohlbestimmten Regeln, Bedingungen oder Modi - sehr stark auf das Prinzip des Wahrsprechens aufgebaut ist, des Wahrsprechens ohne Scham und -1,.
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Furcht, des unbeschränkten und mutigen Wahrsprechens, des Wahrsprechens, das seinen Mut und seine Kühnheit so weit dehnt, daß daraus umgekehrt eine unerträgliche Unverfrorenheit wird. Dieser Anschluß des Wahrsprechens an die Lebensweise, diese grundlegende, wesentliche Verbindung innerhalb des Kynismus zwischen einer bestimmten Lebensweise und der Hingabe an das Wahrsprechen sind um so bemerkenswerter, als sie gewissermaßen unmittelbar sind, d. h. sich ohne die Vermittlung durch eine Lehre, auf jeden Fall aber innerhalb eines recht elementaren theoretischen Rahmens vollziehen. Auch hier werden wir Präzisierungen vornehmen müssen. Im Augenblick gebe ich Ihnen einfach eine Übersicht, bloße Hinweise auf Probleme. Tatsächlich gibt es natürlich einen bestimmten theoretischen Rahmen, aber dieser Rahmen ist für die kynische Praxis offensichtlich viel weniger wichtig, weniger entwickelt und weniger grundlegend, als er es für den Platonismus oder auch für den Stoizismus oder den Epikuräismus sein konnte. Wir werden auf alle diese Dinge zurückkommen. Um mein Interesse am Kynismus zu rechtfertigen, möchte ich jetzt einfach einige Züge hervorheben, die den Kynismus kennzeichnen und ihn sowohl von der sokratischen Praxis, auf die er sich jedoch sehr oft berufen hat, als auch von den philosophischen Bewegungen, für die die Lebensweise sehr wichtig war, radikal unterscheiden. Der Kynismus scheint mir also eine Form der Philosophie zu sein, in der die Lebensweise und das Wahrsprechen direkt und unmittelbar miteinander verbunden sind. Wie zeigt sich das? Vorerst spreche ich nur vom Kynismus in seiner früheren Form, wie sie in den Texten der hellenistischen und römischen Epoche bezeugt ist, d. h. [bei] Diogenes Laertius, [bei] Dion Chrysostomos, bis zu einem gewissen Grad auch [bei] Epiktet, außerdem in jenen satirischen oder kritischen Texten, die von Lukian am Ende des 2. Jahrhunderts oder von Kaiser Julian in seiner Kampfschrift gegen die Kyniker geschrieben wurden. Anhand dieser Texte kann man sehen, daß der Kyniker stets als Mann der parrhesia, als Mann des Wahrsprechens charakteri218
s:en wird. Natürlich ist der Begriff der parrhesia nicht den Ky:-ikern vorbehalten. Er bezeichnet nicht ausschließlich und :::nmer nur sie. Man findet ihn sehr oft auch zur Bezeichnung -,-ieler anderer Formen des philosophischen Wahrsprechens, ::er freien und wahrheitsgetreuen Rede. Erinnern Sie sich beispielsweise daran, wie Arian im Vorwort zu den Gesprächen Epiktets sagt, daß man beim Lesen dieser Gespräche verstehen ?:ird, was das Denken und die parrhesia Epiktets sind, d. h. was ;:[ dachte und die Art und Weise, wie er seine Gedanken frei :iußerte. 3 Der Begriff der parrhesia ist also offensichtlich nicht -::en Kynikern vorbehalten. Dennoch ist es richtig, daß dieser Begriff mit seiner vielseitigen Bedeutung, mit seiner Doppel::ieutigkeit (Freimut, aber auch Unverfrorenheit) stets auf die :hyniker angewendet wird. Das Bild des Kynikers enthält ei;entlich immer diesen Bestandteil. Die parrhesia, der Freimut _,-ennzeichnen in erster Linie das Wappen des Kynikers und des :hynismus. Bei Diogenes Laertius findet man beispielsweise unter vielen mderen, die Diogenes [dem Kyniker] zugeschrieben werden, folgende Anekdote. Eines Tages fragte man ihn, was bei den :\lenschen das Schönste sei (to kalliston en tois anthropois). _-".ntwort: die parrhesia (der Freimut).4 Hier erkennt man, daß das Thema der Schönheit der Existenz, der schönstmöglichen Form, die man seinem Leben verleihen kann und die Ausübung der parrhesia, des Freimuts, direkt miteinander verbunden sind. Ein weiteres Beispiel für die Gegenwart der parrhesia im Wappen des Kynismus finden wir im III. Buch der Gespräche, in jenem berühmten Gespräch 22 (dem Bild des Kynikers). Epiktet, der selbst kein Kyniker ist, malt ein äußerst günstiges Bild des Kynismus, das bis zu einem gewissen Grad ihm selbst nahesteht. Es handelt sich gewissermaßen darum, seine eigene Philosophie bis zur Grenze zu treiben (um einen Übergang zur radikalen Askese). Natürlich brauchen wir dieses Bild Epiktets nicht für ein Bild dessen zu halten, was der Kyniker in seiner Zeit wirklich war, sondern für eine Art von idealer Definition 21 9
dessen, was [er] sein könnte, was gewissermaßen das kynische Wesen einer bestimmten Form der philosophischen Askese sein könnte, für die Epiktet anderswo, nämlich in seinem Leben und in seiner Philosophie, eine Reihe von Beispielen angab. In diesem Kapitel erklärt Epiktet, daß die Rolle des Kynikers darin besteht, die Funktion eines Kundschafters, eines Spähers auszuüben. Er verwendet den Begriff kataskopos, der im Sprachgebrauch des Militärs eine präzise Bedeutung hat: Es handelt sich dabei um jene Leute, die man der Armee ein Stück vorausschickt, damit sie so unauffällig wie möglich das Treiben des Feindes erkunden. Diese Metapher gebraucht Epiktet hier, da er sagt, daß der Kyniker als Späher vor die Front der Menschheit geschickt wurde, um festzustellen, was dem Menschen in weltlichen Dingen zu- oder abträglich sein mag. Die Funktion des Kynikers wird darin bestehen zu bestimmen, wo die feindlichen Armeen stehen und wo die Ansatzpunkte oder die Hilfen sind, die man vielleicht finden und die man in unserem Kampf zu unserem Vorteil gebrauchen könnte. Daher kann der Kyniker, weil er als Kundschafter geschickt wird, weder Heim noch Obdach und nicht einmal ein Vaterland haben. Er ist der Mann der Heimatlosigkeit, der Mann der der Menschheit vorauseilt. Und nach dieser Heimatlosigkeit, nach diesem Vorstoß vor die Linie der Menschheit, nachdem er seine Aufgabe des kataskopos befolgt und erfüllt hat, soll der Kyniker zurückkehren. Er kehrt zurück, um die Wahrheit zu verkünden (appageilein talethe), das Wahre zu verkünden ohne, wie Epiktet hinzufügt, sich von der Furcht lähmen zu lassen. 5 Hier haben wir die eigentliche Definition der parrhesia als Ausübung des Wahrsprechens, das Verkünden der Wahrheit an die Menschen, ohne sich je von der Furcht beeinträchtigen zu lassen. Ich werde jetzt bei Lukian eine weitere Reihe von Zeugnissen betrachten, die ganz gut zeigen, in welchem Grad der K ynismus und die Praxis der parrhesia miteinander verbunden waren, so daß es schließlich unmöglich war, einen Kyniker zu beschreiben, ohne auf seine Praxis der parrhesia Bezug zu
nehmen. Lukian hat sehr heftig gegen die Kyniker polemisiert und zeichnete wiederholt äußerst strenge Porträts von ihnen, z. B. jenes von Peregrinus (darauf werden wir später zurückkommen). Er hat die Kyniker auch in vielen anderen Texten, die er der Kritik der Philosophie gewidmet hat, zum Gegenstand von Satiren gemacht. Einer davon ist jener berühmte :'vIarkt der Existenzen (bion prasis),6 in dem Lukian auf scherzhafte Weise erzählt, wie die verschiedenen Philosophen auf den 11arkt kommen, um bestimmte LebensformeIn zu verkaufen. Als erster erscheint Diogenes, der das kynische Leben verkauft und es zu einem geringen Preis anbietet (zwei Oboli). Er stellt sich vor als aletheias kai parrhesias prophetes (der Prophet der Wahrheit und der parrhesia, der Wahrheit und der Offenheit).? Lukian hatte, wie ich schon sagte, mehrere Angriffe auf die Kyniker unternommen. Aber zumindest einer seiner Texte ist den Kynikern wohlgesonnen oder zumindest einer bestimmren Person, die den Kynismus im 2. Jahrhundert in Athen ver,reten hat: Demonax. Bei Lukian finden wir eine Lobrede auf Demonax, und hier erscheint dieser Kyniker (dieser gute Kyniker, der eine wertvolle und annehmbare Form des Kynismus yertritt) ebenfalls als Mann, der die Wahrheit sagt, als Mann der parrhesia. Das wird ausdrücklich zu Beginn des Porträts von Demonax gesagt, als Lukian erzählt, daß Demonax sich seit seiner Kindheit von einer natürlichen Bewegung zur Philosophie getrieben fühlte s - wir werden darauf zurückkommen, das ist das Problem der Natürlichkeit des philosophischen Lebens [... ':"]. Von diesem Punkt ausgehend, erinnert Lukian daran, daß diese parrhesia (dieser Freimut) und diese Freiheit Demonax einen ebensogroßen Haß zugezogen haben, wie er Sokrates begegnete, als [dieser] im Athen des 5· Jahrhunderts seine parrhesia praktizierte. Auch Demonax hatte seinen Mele,os und Anytos und wurde wegen Gottlosigkeit angeprangert :md angeklagt. 9 Lukian vergleicht den Prozeß, den man Sokra-
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,. Unverständliche Stelle.
tes wegen Gottlosigkeit gemacht hat, mit dem Prozeß, den man vor kurzem gegen Demonax wegen Gottlosigkeit angestrengt hat. Worauf bezog sich dieser Prozeß genau? Das ist interessant, denn die parrhesia spielt dabei eine sehr präzise Rolle: Wenn man Lukian Glauben schenken möchte, habe man Demonax erstens vorgeworfen, Athene keine Opfer dargebracht und es abgelehnt zu haben, in die Mysterien von Eleusis eingeweiht zu werden. Unter dieser doppelten Anklage vor Gericht gestellt, antwortet Demonax (der mehr Glück als Sokrates hatte, da er freikommen konnte). Die Antwort, die seine Ablehnung erklärt, in die Mysterien von Eleusis eingeweiht zu werden, zumindest wie Lukian sie uns berichtet, ist jedoch sehr interessant. Er sagt: Natürlich habe er die Einweihung in die Mysterien von Eleusis abgelehnt. Denn, so soll Demonax Lukian zufolge gesagt haben, entweder trifft die eine oder die andere der beiden folgenden Möglichkeiten zu: Entweder sind die Mysterien schlecht und das, was dort geschieht, ist böse, dann muß man das sagen, und zwar öffentlich, um alle davon abzubringen, die noch nicht eingeweiht sind und die mißliche Idee oder den verhängnisvollen Wunsch hätten, sich einweihen zu lassen; oder die Mysterien sind gut, was dort geschieht ist gut, dann muß man soweit wie möglich alle Leute, die man überzeugen kann, dorthin locken. Im einen wie im anderen Fall ist es unbedingter Bestandteil der Funktion und Rolle des Philosophen, allen die Wahrheit über die Mysterien von Eleusis zu sagen, ob diese nun gut seien oder nicht. Seine Aufgabe war also, das zu sagen, es zu verkünden, von den Mysterien von Eleusis abzubringen oder zu ihnen hinzulocken. Er sollte das, so der Text, ypo philanthropias (»aus Liebe zur Menschheit«)lO tun. Seine Bindung an die Menschheit, seine Funktion eines Wohltäters der Menschheit [erforderte] eine parrhesia (eine Redefreiheit), die impliziert, daß er jede mögliche Wahrheit über die Mysterien von Eleusis offenbart. Er wollte sich also deshalb nicht selbst einweihen lassen, weil er sich dann hätte zum Schweigen verpflichten müssen. Als Kyniker, d. h. als Mann der parrhesia, kann er sich aber nicht zum Schweigen
verpflichten. Aufgrund dieser ganzen Reihe von Texten - man könnte noch Dutzende von anderen zitieren - erscheint also der Kyniker gerade als der prophetes parrhesias (der Prophet des Freimuts). 0Jur ist diese parrhesia - und das ist ein weiteres wichtiges ?v1erkmal, das man ständig im Zusammenhang mit den Kynikern und ihrer parrhesia findet - direkt mit einer bestimmten Lebensweise verbunden, und zwar auf eine ganz besondere Art, die es, wie mir scheint, verdient, etwas näher betrachtet zu werden. Im Laches war Sokrates zur parrhesia, zur Kühnheit, das Wahre zu sagen, zu dieser Tapferkeit, die [ihm gestattete], selbst zu so ehrenwerten, alten, achtbaren, mutigen und ge ehr:en Leuten wie Nikias und Laches ganz frei zu sprechen, im Grunde nur insofern bevollmächtigt, als er durch sein Leben eine Reihe von Bürgschaften und Garantien gegeben hatte. Sie erinnern sich, als Laches aufgefordert wurde, sich der Prüfung des Sokrates zu unterziehen, sagt er: Mir gefallen bestimmte logoi und andere nicht, das kommt darauf an. Worauf kommt es an? Auf eine gewisse Harmonie, einen bestimmten Einklang zwischen dem, was die Person sagt, und ihrer Lebensweise. Hier erscheint das Problem des Wahrsprechens in seinem Verhältnis zum Leben dessen, der spricht. Die Beziehung zwischen dem Wahrsprechen und der Lebensweise bei den Kynii:ern gehört zwar auf gewisse Weise zum allgemeinen Rahmen dieses Einklangs zwischen dem Sprechen und dem Leben, auf den im Laches hingewiesen wurde. Aber ansonsten ist die Beziehung zwischen dem Wahrsprechen und der Lebensweise in"erhalb dieses Rahmens bei den Kynikern, wie mir scheint, i:omplizierter und genauer. Zunächst aus dem Grund, daß die Lebensweise im Kynismus nicht bloß dasjenige Leben ist, das ::ine Reihe von Tugenden aufweist, was Sokrates übrigens für selbst bezeugt hat, wie z. B. die Mäßigkeit, die Tapferkeit, die Weisheit. Die Lebensweise, um die es geht, die für die par?oesia vorausgesetzt wird, die als ihr Rahmen und ihre Stütze, auch als ihre Rechtfertigung dient, ist durch äußerst präzi,:: und kodierte Verhaltensformen gekennzeichnet, die äußerst
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auffällig sind. Als Kaiser Julian später die Kyniker im allgemeinen und einen bestimmten Kyniker namens Herakleios beschuldigen wird, der seine Rolle und seine Berufung mißbraucht hatte, richtet er folgende Anfrage an ihn: Aber was nützt dir nun der Stock des Diogenes und seine parrhesia ?11 Parrhesia und Stock werden hier miteinander verbunden. Der Kyniker macht von der parrhesia Gebrauch und trägt einen Stock. Tatsächlich ist dieser Stock in der Rede Gegen den Kyniker Herakleios nur ein Bestandteil eines wohlbekannten Ganzen, von dem wir Zeugnisse aus der Antike besitzen. Der Kyniker ist der Mann mit dem Stock, der Mann mit dem Ranzen, der Mann mit dem Mantel, der Mann mit den Sandalen oder der Barfüßige, der Mann mit dem struppigen Bart, der Schmutzige. Er ist auch der heimatlose Mann, der Mann, dem jede Einbindung fehlt. Er hat weder Haus noch Familie, noch Heim, noch Vaterland - denken Sie an den Text, den ich Ihnen zitiert habe 12 -, er ist auch der Bettler. Wir haben viele Zeugnisse dafür, daß diese Art von Lebenswandel mit der kynischen Philosophie völlig im Einklang steht, daß es sich also nicht bloß um eine Verzierung handelt. Bei Diogenes Laertius hat die Heirat, die paradoxe und unverschämte Hochzeit von Krates und Hipparchia damit zu tun. Hipparchia wollte unbedingt Krates heiraten, einen kynischen Philosophen, der als solcher keine Ehe wollte. Krates, der sich vom dauernden Bemühen Hipparchias, die gesagt hatte, daß sie sich töten werde, wenn er sie nicht heiratete, belästigt fühlt, pflanzt sich vor ihr auf, zieht sich nackt aus und sagt zu ihr: Hier ist dein Ehemann, das ist sein Besitz, entscheide dich, denn du wirst nicht meine Frau sein, wenn du meine Lebensweise nicht teilst. 13 Die Lebensweise, ausgestattet mit allen Bestandteilen, die ich gerade erwähnt habe, gehört also völlig zur philosophischen Praxis des Kynikers. Nun hat aber diese Lebensweise nicht bloß den Zweck, gewissermaßen harmonisch der Rede und der Veridiktion der Kyniker zu entsprechen. Sie hat nicht bloß die Funktion des Einklangs wie jene, die wir im Laches beobachten konn224
ten zwischen dem Leben von Sokrates und dem Gebrauch seiner parrhesia. Die Lebensweise (der Stock, der Ranzen, die Armut, die Heimatlosigkeit, das Betteln) hat im Verhältnis zur parrhesia, zum Wahrsprechen ganz präzise Funktionen. Erstens hat sie instrumentelle Funktionen. Sie spielt die Rolle der Bedingung der Möglichkeit des Wahrsprechens. Ich habe Ihnen vorhin den Text Epiktets zitiert, wo man den Kyniker die Rolle des kataskopos (des Spähers, des Kundschafters) spielen sah. Wenn man nämlich der Kundschafter der Menschheit sein und zurückkehren will, um ihr die Wahrheit zu sagen, ihr offen und mutig alle Gefahren zu sagen, denen sie wahrscheinlich begegnen wird und wo sich die wahren Feinde aufhalten, dann darf man durch nichts gebunden sein. Um die Rolle dessen zu spielen, der die Wahrheit sagt und wachrüttelt, muß man frei von jeder Bindung sein. Epiktet sagt im Gespräch 22 des III. Buchs, daß der Kyniker keine Familie haben kann, denn im Grunde ist die menschliche Gattung seine Familie: "Menschenskind, alle Menschen hat er in sein Herz geschlossen, die Männer als seine Söhne, die Frauen als seine Töchrer.«14 Und in den Absätzen 69-70 sagt er: »[... ] muß da nicht der Kyniker ganz dem Dienst der Gottheit geweiht sein, durch nichts abgelenkt, um an seinen Mitmenschen arbeiten zu können, nicht durch Pflichten des Spießbürgers gefesselt [.. .].«15 Wie könnte er all diesen Verpflichtungen nachkommen, »ohne den Sendboten, und Kundschafter, den Herold der Götter zunichte [zu machen} Um angelos zu sein, um Engel zu sein, um diese engelhafte Funktion 16 auszuüben, um diese kataskopische Funktion des Kundschafters und Spähers auszuüben, muß er frei von jeglicher Bindung sein. Die Lebensweise gilt als die Bedingung der Möglichkeit für die Ausübung dieser parrhesia. Zweitens spielt diese Lebensweise noch eine andere Rolle für die parrhesia. Sie ist nicht nur Bedingung der Möglichkeit, sondern hat auch eine Reduktionsfunktion: alle nutzlosen Verpflichtungen sollen reduziert werden, alle diejenigen, die gewöhnlich von jedermann angenommen und akzeptiert werden 225
und die weder durch die Natur noch durch die Vernunft begründet sind. Diese Lebensweise als Reduktion aller nutzlosen Konventionen und aller überflüssigen Meinungen ist offensichtlich eine allgemeine Reinigung der Existenz und der Meinungen, um die Wahrheit erscheinen zu lassen. Beispielsweise die berühmte Geste des Diogenes, über die in der Antike unzählige Anekdoten erzählt wurden, als er auf dem öffentlichen Platz onanierte und sagte: »Aber warum entrüstet ihr euch darüber, da es sich bei der Masturbation doch um die Befriedigung eines Bedürfnisses von derselben Art wie das Bedürfnis nach Nahrung handelt ?«17 Nun esse ich doch in der Öffentlichkeit. Warum soll ich nicht auch dieses Bedürfnis in der Öffentlichkeit befriedigen? Eine Lebensweise also, die diese reduzierende Funktion gegenüber Konventionen und Überzeugungen hat. Schließlich und vor allem spielt diese den Kynikern eigentümliche Lebensweise gegenüber der Wahrheit die Rolle einer Prüfung [epreuve]. Sie erlaubt, diejenigen Dinge, die allein für das menschliche Leben unbedingt notwendig sind, in ihrer Nacktheit erscheinen zu lassen bzw. das elementarste, ursprünglichste Wesen des Lebens aufzudecken. In diesem Sinne bringt diese Lebensweise in ihrer Unabhängigkeit, in ihrer ursprünglichen Freiheit das ganz schlichte Wesen des Lebens zur Erscheinung und sagt damit zugleich, was dieses Leben sein soll. Während die gesamte sokratische Vorgehensweise, die wir im Alkibiades fanden, im Ausgang von der Sorge um sich selbst darin bestand, das eigentliche Wesen der Seele in ihrer radikalen Verschiedenheit [vom Körper] bestimmen zu können, haben wir hier eine umgekehrte Operation der Reduktion des Lebens auf sich selbst, eine Reduktion des Lebens auf das, was es in Wahrheit ist und was man im Gestus des kynischen Lebens selbst zur Erscheinung bringt. Im Gespräch 22 des III. Buches sagt der Kyniker: »Ich habe weder Weib noch Kind noch eine Leibwache, sondern nur die Erde unter und den Himmel über mir und einen alten Rock. Und was bleibt mir? Habe ich etwa Kummer oder Angst? Bin ich nicht wahrhaft frei ?«18 226
Der Kynismus begnügt sich also nicht damit, eine bestimmte Art von Diskurs und ein Leben, das mit den in diesem Diskurs ausgesagten Prinzipien übereinstimmt, in einer Harmonie oder einem Einklang miteinander zu verkoppeln oder eine Entsprechung zwischen beidem herzustellen. Der Kynismus bindet die Lebensweise und die Wahrheit an einen viel strengeren und ,"iel präziseren Modus. Er macht aus der Lebensform die reduzierende Praxis, die dem Wahrsprechen einen Platz einräumen wird. Schließlich macht er aus der Lebensform eine bestimmte .-\rt und Weise, in den Handlungen, in den Körpern, in der Art der Kleidung, in der Art des Benehmens und des Lebens die Wahrheit selbst sichtbar werden zu lassen. Kurz, der Kynismus macht aus dem Leben, aus der Existenz, aus dem bias das, was man eine Alethurgie, eine Manifestation der Wahrheit nennen könnte. Zu diesem Thema des kynischen Lebens als Manifestation, als Geste der Wahrheit selbst, möchte ich einen Text zitieren, der zwar ein später, aber interessanter Text ist. Er ist interessant, weil er einerseits die lange Fortdauer des Kynismus in der An:ike und sogar bis zum Ende der Antike zeigt. Und weil er auberdem die Verbindungen sichtbar macht, die zwischen dem Kynismus und dem Christentum von so großer Bedeutung waren. Schließlich, weil er sich auf einen Begriff beruft, der besonders wichtig ist. Diesen Text finden wir [bei] Gregor von ::\azianz (4. Jahrhundert) in der Predigt 25. In dieser Predigt ;-,ält Gregor von Nazianz, der sich zu diesem Zeitpunkt in Konstantinopel aufhält, eine Lobrede auf einen gewissen Maximus, welcher ein Christ ägyptischer Herkunft war, in einer christlichen Familie geboren wurde und sich für eine gewisse Zeit in die Wüste zurückgezogen hatte. Seinem großen Ruf der Heiligkeit und Askese gelang es, vom Bischof von Alexandria oemerkt zu werden, der ihn nach Konstantinopel geschickt hatte. Gregor, der zu jener Zeit Diözesan von Konstantinopel "'"ar, empfängt ihn - am Ende geht die Geschichte jedoch böse lUS, da Maximus, der zum Häretiker geworden war, verurteilt v;ird und heftige Kämpfe zwischen Gregor und Maximus aus227
brechen werden. Das spielt für uns aber keine Rolle ... Er empfängt [also] diesen Mann, der aus Ägypten in das Land des Mönchtums und der Askese kommt, er empfängt diesen Maximus, der dieses Leben der Askese persönlich gekannt und praktiziert hat, und hält darauf eine Lobrede. Er stellt ihn als philosophischen Helden dar, als einen wahren Kyniker. Und als er über Maximus spricht, sagt er ganz konkret folgendes: Er verabscheut zwar die Gottlosigkeit der Kyniker (darauf werden wir später zurückkommen, wenn wir den Kynismus näher untersuchen: Es gab nämlich eine sehr dominante Strömung der Gottlosigkeit im Kynismus oder zumindest der Ungläubigkeit und des Zweifels gegenüber den Göttern und einer Reihe religiöser Praktiken) und ihre Verachtung der Gottheit, aber er hat von den Kynikern die Einfachheit übernommen wie ein Hund, der die anderen Hunde anbellt. Nachdem er so diesen christlichen Asketen als philosophischen Helden bestimmt hat, der ein wahrer Kyniker ist, der den wichtigen und wertvollen Kern des Kynismus aufgenommen hat, nämlich die Einfachheit und die Lebensweise, und zwar unabhängig von allen falschen Überzeugungen oder falscher Ungläubigkeit, fährt Gregor von N azianz fort, indem er sich nun direkt an Maximus wendet: Ich vergleiche dich mit einem Hund (der Vergleich mit dem Hund bezieht sich natürlich auf die Zuschreibung des wahren Kynismus, den Gregor Maximus gegenüber lobt), nicht weil du unverschämt bist, sondern wegen deiner Offenheit (parrhesia). Nicht weil du ein Schlemmer bist, sondern von der Hand in den Mund lebst, nicht weil du bellst, sondern weil du auf dem Wachtposten bist zum Heil der Seelen. 19 Und wenig später fügt er hinzu: Du bist der beste und der vollkommenste Philosoph, weil du der Märtyrer, der Zeuge der Wahrheit bist (martyron tes aletheias).20 Natürlich bezeichnet martyron ([vom Verb] martyrein) nicht ausschließlich den Märtyrer in dem Sinne, den wir gewöhnlich mit diesem Begriff verbinden. Hier ist das Zeugnis für die Wahrheit gemeint. Aber Sie sehen wohl, daß es sich im Munde Gregors nicht bloß um ein verbales Zeugnis von jemandem handelt, der 228
die Wahrheit sagt. Es handelt sich vielmehr um jemanden, der in seinem eigenen Leben, in seinem Leben als Hund, seitdem er sich für die Askese entschieden hat bis zum jetzigen Zeitpunkt, stets in seinem Körper, in seinem Leben, in seinen Handlungen, in seiner Schlichtheit, in seinem Verzicht, in seiner Askese der lebendige Zeuge der Wahrheit war. Er hat gelitten, er hat ertragen, er hat verzichtet, damit die Wahrheit gewissermaßen ~'1 seinem eigenen Leben, in seiner eigenen Existenz, in seinem eigenen Körper Gestalt annähme. Dieser Ausdruck »martyron tes aletheias« (der Zeuge der \17ahrheit sein) tritt Zwar spät auf, aber ich glaube, daß wir ihn yerwenden können, um im Grunde das Wesen des Kynismus während der gesamten Antike zu bestimmen und wohl auch ;ene Art von Kynismus, die man während der ganzen Geschichte des Abendlands in verschiedenen Aspekten finden kann. Märtyrer der Wahrheit, verstanden im Sinne von »Zeuge der Wahrheit«: ein Zeugnis, das durch eine Existenz, eine Le3ensform im konkretesten und materiellsten Sinne dieses Ausdrucks gegeben, offenbart und beglaubigt wird, ein Zeugnis ier Wahrheit, das durch den und im Körper, durch die Kleidung, das Benehmen, die Handlungsweise, die Art zu reagie:-en und sich zu verhalten gegeben wird. Der Körper der Wahrheit selbst wird durch einen bestimmten Lebensstil sichtbar, "ber auch lächerlich gemacht. Das Leben als unmittelbare, glänzende und wilde Gegenwart der Wahrheit, das kommt im Kynismus zur Manifestation. Aber auch: die Wahrheit als Disziplin, als Askese und Nüchternheit des Lebens. Das wahre Leben als Leben der Wahrheit. Die Ausübung des Skandals der Wahrheit im eigenen und durch das eigene Leben, das wurde '·om Kynismus seit seinem Erscheinen, das man auf das 4. Jahrhundert in die hellenistische Periode datieren kann, praktiziert. Danach setzt es sich zumindest bis zum Ende des Römischen Reiches und - wie ich zeigen möchte - weit darüber hinaus fort. Im und durch sein Leben den Skandal der Wahrheit auszuüben, darin besteht der Kern des Kynismus. Darum haben wir, so scheint mir, mit dem Kynismus einen sehr bemerkens229
I 1982 hatte Foucault in den ersten beiden Sitzungen des Vorlesungsjahrs diesen Dialog ausführlich analysiert (L'Hermeneutique du sujet, a.a.O.). 2 Vgl. zu diesem Punkt die Ausführungen in der Vorlesung vom 13. Januar 1982 (ebd., S.68-70; dt.: S.98-IOI). 3 »Was ich ihn [Epiktet] aber habe sagen hören, eben das habe ich versucht, möglichst mit seinen eigenen Worten aufzuschreiben, um es mir für später zur Erinnerung an seine Gesinnung und den Freimut seiner
Rede aufzubewahren« (»Arian an Lucius Gellius«, in: Epiktet, Teles und Musonius, übers. v. W. Capelle, Zürich 1948, S. 77). Zu einer ersten Analyse dieses Textes vgl. die Vorlesung vom 3. März 1982 (L'Hermeneutique du sujet, S. 349-3 50; dt.: S. 448-449). -' Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, übers. v. O. Apelt, a. a. 0., VI. Buch, § 69, S. 312. 5 "Denn Kundschafter (kataskopos) ist der Kyniker, dessen nämlich, was den Menschen gut und was ihnen schädlich ist. Und wenn er im Gelände scharf zugesehen hat, muß er zurückkommen und die Wahrheit berichten (apangeilai talethe), ohne von Furcht benommen oder auf andere Weise von falschen Vorstellungen betört und verwirrt zu sein« (Epiktet, in: Epiktet, Teles und Musonius, a.a.O., III. Buch, 24-25, S.I3 I). 6 Lukian, "Der Verkauf der philosophischen Sekten«, in: Lucians von Samosata sämtliche Werke,!. Teil, übers. v. C. M. Wieland, Wien und Prag, 1797, S. 365-399. - »[ ...] überhaupt aber mache ich Profession, ein Prophet der Wahrheit und Freymüthigkeit (aletheias kai parresias prophetes) zu sein« (ebd., §8, S.375). S "[ ..•] aber, wie gesagt, seinen Beruf erhielt er von keinem von ihnen, sondern von der Natur selbst, die ihm [... ] diese Liebe zur Philosophie eingepflanzt hatte [... }< (Lukian, Demonax, in: Lucians von Samosata sämtliche Werke, 3. Teil, a.a.O., S.229)· 9 "Und doch war er anfangs dem größeren Theil der Vornehmen und Gemeinen, wegen der allzugroßen Freiheit, die er sich in seinem Reden und Betragen herauszunehmen schien, verhaßt und anstößig« (ebd., S.233)· :J Ebd. _: Julian, »Gegen den Kyniker Herakleios«, 225 b-c, in: KaiserJulians philosophische Werke, übers. v. R. Asmus, Leipzig 19°8, S. 109. :2 "Sieh auf mich; ich habe kein Heim und kein Vaterland, weder Besitz noch Gesinde. Ich schlafe auf der bloßen Erde, habe weder Weib noch Kind noch Leibwache, sondern nur die Erde unter und den Himmel über mir und einen einzigen alten Rock« (Epiktet, in: Epiktet, Teles und Musonius, a.a.O., III, 22, S. 134). :3 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen ... , übers. v.O. Apelt, VI. Buch, § 96, a. a. 0., S. 326. :.., Epiktet, Gespräche, in: Epiktet, Teles und Musonius, a. a. 0., III, XXII, 8I,S.I39· :5 Ebd., III, XXII, 69-70, S. 137. :6 "Der [wahre Kyniker] muß wissen, daß er als Bote (angelos) von Zeus zu den Menschen gesandt ist« (ebd., III, 22, 23, S. 131). :7 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen ... , übers. v. o. Apelt, VI. Buch, § 46, S. 300. :S Epiktet, Gespräche, III, XXII, 48, S. 134-135.
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werten Punkt erreicht, der ein wenig Aufmerksamkeit verdient, wenn man die Geschichte der Wahrheit und die Geschichte der Beziehungen zwischen der Wahrheit und dem Subjekt schreiben will. Das ist also die Rechtfertigung dafür, daß ich jetzt ein wenig auf den Kynismus eingehen möchte. Die Logik, die Pädagogik, die Regeln aller Lehre sollten mich nun dazu führen, über den Kynismus so zu sprechen, wie man ihn in den alten Texten bestimmen und aus ihnen herauslösen kann, um anschließend zu versuchen, wenn schon nicht seine Geschichte, dann doch wenigstens einige seiner Episoden zu erzählen. Tatsächlich werde ich das Gegenteil tun, um zu rechtfertigen, warum ich Sie ohne Unterlaß in der antiken Philosophie einsperre. Ich werde einen Umweg nehmen und versuchen, Ihnen zu zeigen, warum und wie der Kynismus nicht bloß, wie man ihn sich oft vorstellt, eine etwas eigenartige, einzigartige und schließlich vergessene Figur der antiken Philosophie war, sondern eine historische Kategorie, die in verschiedenen Formen mit verschiedenen Zielen die ganze abendländische Geschichte durchzieht. Es gibt einen Kynismus, der eine Einheit bildet mit der Geschichte des abendländischen Denkens, der abendländischen Existenz und der abendländischen Subjektivität. Diesen transhistorischen Kynismus möchte ich in der nächsten Stunde etwas genauer behandeln. Nächstes Mal werden wir auf das zurückkommen, was man als den historischen Kern des Kynismus in der Antike betrachten kann.
Anmerkungen
19 Gregor von Nazianz, Discours, 24-26, übers. v.J. Mossay, Paris 1981; vgl. Rede 25: »Du, Philosoph und Weiser [... ] du, Hund, nicht wegen der Unverschämtheit, sondern wegen der Freimütigkeit (parrhesian), weder wegen der Völlerei, sondern wegen der Sorglosigkeit, noch wegen des Gebells, sondern wegen des Schutzes des Guten, wegen der geistigen Wachsamkeit (120oB, 25, I, 2, S. 159). 20 »Du bist der beste und vollkommenste der Philosophen - und ich füge hinzu: der Märtyrer für die Wahrheit (martyron tes aletheias)« (ebd., l2ooA, 25, I, I, S. 159).
Vorlesung 5 (Sitzung vom 29. Februar 1984, zweite Stunde)
. 'e/mutungen zur Nachkommenschaft des Kynismus. - Die religiöse Nach'c0mmenschaft: die christliche Askese. - Die politische Nachkommenschaft: ':ie Revolution als Lebensstil. - Die ästhetische Nachkommenschaft: die ":oderne Kunst. - Der Antiplatonismus und Antiaristotelismus der moder·:en Kunst.
Ich werde Sie um Nachsicht bitten. Was ich Ihnen jetzt vorschlagen werde, ist nichts weiter als ein Spaziergang, ein Exs.urs, eine Irrfahrt. Stellen Sie sich vor, daß wir in einer Gruppe lrbeiten könnten oder ein Buch über den Kynismus als moralische Kategorie in der abendländischen Kultur schreiben woll:en: Was würden wir tun? Angenommen, ich sollte eine solche Untersuchung im voraus planen, dann würde ich ungefähr fol:;endes sagen ... Nächstes Mal werden wir zum historischen K.ynismus (dem der Antike) zurückkehren, aber an dieser Stelle, da ich mich im Laufe der letzten Wochen durch den Kynismus angeregt fühlte, hatte ich das Verlangen, Ihnen folgendes zu unterbreiten. Gewiß erscheint der Kynismus in der antiken Philosophie :;anz gerne als eine etwas anekdotenhafte, marginale Figur. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Erstens natürlich die sehr starke Unterlegenheit, auf die wir zurückkommen werden, die bereits in der Antike auf dem Kynismus gelastet hat, oder jedenfalls die Einstellung, die bewirkte, daß die etablierte, institutionelle und anerkannte Philosophie gegenüber dem Kynismus immer eine zweideutige Haltung einnahm. Sie versuchte, im Kynismus eine ganze Reihe von verächtlichen, sträflichen und heftig kritisierten Praktiken von einem Kern zu unterscheiden, der das Wesen des Kynismus beinhalten soll und der es verdient hätte, bewahrt zu werden. Diese Haltung gegenüber dem Kynismus war in der Antike verbreitet und hat gewiß viel zu seiner späteren Unterlegenheit beigetragen. Der andere Grund besteht darin, daß einige Strömungen in der 23 2
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antiken Philosophie dem abendländischen Denken äußerst mächtige und wohlbestimmte Kernlehren vermittelt haben, wie z. B. Platon und Aristoteles - bis zu einem gewissen Grad auch der Stoizismus, aber hier läßt die Deutlichkeit schon sehr nach. Offensichtlich ist das beim Kynismus nicht der Fall, aus dem einfachen Grund, daß wir die kynischen Texte nur sehr wenig kennen, die jedoch in hinreichend großer Zahl existierten, [aber] auch deshalb, weil, so scheint es, das theoretische Gerüst des Kynismus sogar in der Antike extrem rudimentär war. Die kynische Lehre ist also gewissermaßen verschwunden. Aber bedeutet das nicht schon, daß der Kynismus, etwa ähnlich wie der Stoizismus oder der Epikuräismus, vor allem aber der Skeptizismus - wir müssen darauf mehr im einzelnen zurückkommen -, im wesentlichen viel mehr wie eine Haltung, eine Art und Weise, anstatt nur eine Lehre zu sein, weitergegeben, fortgesetzt und verfolgt wurde? Wir könnten uns also die Geschichte des Kynismus, wie gesagt, nicht als Lehre, sondern viel eher als Haltung und Seinsweise vorstellen, während es jedoch auch Begründungen für ihn gibt und er seinen eigenen begründenden und erklärenden Diskurs über sich hält. Von diesem Gesichtspunkt aus scheint es mir also möglich zu sein, eine Geschichte des Kynismus zu schreiben, die sich durch die Jahrhunderte hindurch von der Antike bis zur Gegenwart erstreckt. Was nun die Arbeiten angeht, die diese lange Geschichte des Kynismus [erfordern würden], so muß ich sagen, daß wir ein wenig mittellos dastehen. Soviel ich weiß, gibt es kaum woanders als in den deutschen Texten Bezüge zum Problem des K ynismus in seiner langen historischen Erstreckung, und zwar vor allem Schriften, die der Beziehung zwischen dem, sagen wir, modernen Kynismus (dem Kynismus im modernen europäischen Denken und der modernen Kultur) und dem antiken Kynismus gewidmet sind. Hier müßte man genauere Untersuchungen anstellen. Im Augenblick sehe ich folgendes. In den deutschen Texten, in erster Linie in einem Text von Tillich aus dem Jahr 1953 mit dem Titel Der Mut zum Sein,! ein Text, des-
sen Bezug zu Nietzsche (Wille zur Macht, Mut zum Sein) wie :latürlich auch zum Existentialismus offensichtlich ist. In diesem Text finden wir eine Unterscheidung - ich weiß nicht, ob sie zum ersten Mal erscheint, jedenfalls wird sie ausdrücklich ;emacht - zwischen dem Kynismus und dem Zynismus. Tillich :"erwendet den Begriff Kynismus zur Bezeichnung des antiken h.ynismus, den er als Kritik der zeitgenössischen Kultur durch Kyniker auf der Grundlage der Natur und der Vernunft bes:immt. Von diesem Kynismus leitet er dann den zeitgenössischen Zynismus ab, allerdings mit auffälligen, beträchtlichen ;:"-nterschieden. Diesen Zynismus stellt er als den Mut dar, selbst sein eigener Schöpfer zu sein. In Parmenides und fona 2 :ibernimmt Heinrich 1966 ebenfalls diese Unterscheidung zwischen Kynismus und Zynismus und widmet der langen Geschichte des Kynismus ein überaus interessantes Kapitel ganz 2m Anfang des Buches, wenn ich mich recht erinnere, wobei, v."ie gesagt, der Gegensatz zwischen dem antiken Kynismus :.lDd dem zeitgenössischen Zynismus eine Rolle spielt. Der anti.,:e Kynismus wäre ihm zufolge - als Reaktion auf die Zerstörclng des Staates und der politischen Gemeinschaft der klassischen Antike - eine Form der Selbstbehauptung, die sich der Tiernatur orientiert und in ihr ihren Anhaltspunkt :2Dd ihre Begründung findet, da sie sich weder auf die politischen und gemeinschaftlichen Strukturen der antiken Welt beziehen noch auf sie stützen kann. Der zeitgenössische Zy':ismus des modernen Europa wäre ebenfalls wie der antike Kynismus eine Selbstbehauptung - er bezeichnet deutlich die Herkunft oder zumindest die Kontinuität der Erfahrung der kynischen Form -, aber diese Selbstbehauptung vollzöge sich :licht durch eine Orientierung an der Tiernatur, sondern angesichts und im Hinblick auf die Absurdität und die universelle A.bwesenheit von Sinn. Der dritte Text, auf den wir uns bezie;"en können, ist das Buch von Gehlen mit dem Titel Moral und Hypermoraf.3 Im ersten Kapitel bestimmt er den Kynismus als einen Individualismus, eine Behauptung des Ich (Ichbetommg). Das vierte Buch schließlich, das ich jedoch nicht gelesen
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.-:-:cn gäbe, die wohl zwar mehr oder weniger miteinander ver-
habe, auf das man mich erst kürzlich hingewiesen hat und das letztes Jahr in Deutschland bei Suhrkamp erschien, ist von jemandem namens Sloterdijk und trägt den feierlichen Titel Kritik der zynischen Vernunft. 4 Keine Vernunftkritik wird uns erspart bleiben, weder die der reinen noch die der dialektischen noch die der politischen. Und nun haben wir eine »Kritik der zynischen Vernunft«. Es ist ein zweibändiges Werk, über das ich nichts weiß. Man hat mir sozusagen auseinanderstrebende Meinungen über die Bedeutung dieses Buches mitgeteilt. J edenfalls steht fest, daß man in der zeitgenössischen deutschen Philosophie seit dem Krieg eine richtige Problematisierung des Kynismus in seinen antiken und modernen Formen findet. Das wäre zweifelsohne etwas, was man genauer untersuchen könnte: warum und in welchen Begriffen die deutschen Philosophen dieses Problem gestellt haben. Wenn ich mich an die ersten drei Texte halte, die ich Ihnen zitiert habe, da ich ja den vierten nicht kenne, scheint mir, daß diese Interpretationen, die zumindest insofern von großer Bedeutung sind, als sie das Problem des Kynismus als transhistorische Kategorie auffassen, doch zu einer Reihe von Bemerkungen auffordern. Zunächst scheint mir, daß diese Autoren sehr systematisch einen eher positiv bewerteten Kynismus, nämlich den antiken Kynismus, einem negativ bewerteten Kynismus, nämlich dem modernen Kynismus, entgegensetzen. Natürlich muß man angesichts dessen geltend machen, daß der Kynismus, sogar in seiner antiken Form, in der antiken Kultur mit einer sehr starken Ambivalenz betrachtet und wahrgenommen wurde. Daran habe ich Sie vorhin erinnert. Wenn man dem Kynismus als Lebensform im christlichen Europa und im modernen Europa seine wahren Dimensionen geben will, kann man ihn nicht bloß einem einheitlich negativen Urteil unterwerfen. Ich glaube, daß diese drei ersten Analysen - ich spreche nicht von der vierten - auf der Hypothese einer recht einschneidenden und deutlichen Diskontinuität zwischen dem antiken und dem modernen Kynismus aufbauen, als ob es keine Zwischenformen gegeben hätte und als ob es hier zwei For-
"'"lndt sind, aber dennoch in einem heftigen Gegensatz stehen. ";;;enn es eine lange, kontinuierliche Geschichte des Kynismus ;egeben hat, die natürlich verschiedene Formen, verschiedene ?:-aktiken und Lebensstile einschließt, die nach verschiedenen 5~hemata abgewandelt wurden, dann fällt es leicht, die durch;:Llgige Existenz von etwas nachzuweisen, das als der Ky::':smus durch die gesamte europäische Kultur hindurch er5·"::D_elnt. 5.~hJießlich und vor allem wird der Kynismus in diesen Interrrctationen, der von Gehlen, Heinrich und Tillich, immer als :~,e Art von Individualismus, von Selbstbehauptung, von Ent:'isrung über die besondere Existenz, über die natürliche und =::rhafte Existenz, jedenfalls über die äußerste Vereinzelung C::f Existenz dargestellt, sei es nun im Sinne einer Opposition l15 Reaktion auf die Auflösung der sozialen Strukturen der .-\ntike oder angesichts der Absurdität der modernen Welt. J e':::dalls ständen das Individuum und der Individualismus im l::ntrum des Kynismus. Wenn man die Analyse des Kynismus 2:lf dieses Thema des Individualismus zentriert, läuft man [jeGefahr, das aus dem Blick zu verlieren, was aus meiner ?erspektive eine [seiner] grundlegenden Dimensionen ist, :::zmlich das für den Kynismus zentrale Problem des In-Bezie::ang-Setzens von Lebensformen und der Manifestation der cX·ahrheit. Die von der Wahrheit lebende Existenzform des Skandals scheint meiner Meinung nach den Kern des Kynis::::as auszumachen, zumindest ebensosehr wie jener berüchtig:c Individualismus, den man gewöhnlich so oft bei allem und :edem findet. Nun, wenn man darin übereinkäme - es handelt sich hier um Vermutungen, um mögliche Arbeitsrichtungen -, :ire lange Geschichte des Kynismus im Ausgang von diesem Thema des Lebens als Skandal der Wahrheit oder des Lebensder Lebensform als Ort des Hervortretens der Wahrheit der bias als Alethurgie) zu betrachten, könnte man wohl eine Reihe von Dingen klären und mehrere Spuren verfolgen. Min,:iestens drei Faktoren, drei Elemente ließen sich ausmachen,
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die das Schema des Kynismus, die kynische Existenzweise durch Europas lange Geschichte hindurch in jeweils unterschiedlichen Formen zunächst in die christliche Antike und dann in die moderne Welt weitertragen konnten. Die erste Stütze für die Überführung und das Eindringen der kynischen Existenzform in das christliche Europa bestand natürlich in der christlichen Kultur selbst, in den Praktiken und Institutionen der Askese. In der christlichen Askese begegnet man etwas, das wohl jahrhundertelang der große Träger der kynischen Existenzweise in ganz Europa war. Dafür, daß die [asketischen Praktiken] des alten Christentums als Zeugnisse der Wahrheit selbst erlebt und vollzogen wurden, daß der christliche Asket durch ebendiese Praktiken die Wahrheit nach dem Vorbild des Kynikers verkörpern wollte, gibt es eine lange Reihe von übereinstimmenden Belegen. Für diese äußerste Nähe zwischen der Praxis der kynischen Entsagung als Zeugnis, Martyrium der Wahrheit und der christlichen Askese, die gleichfalls ein Zeugnis der Wahrheit ist (auch wenn es sich um eine andere Wahrheit handelt), haben wir tausende [von Beispielen]. Eines der ältesten finden wir gerade bei Lukian, der über Peregrinus schreibt. Peregrinus war ein Philosoph, ein Kyniker, über dessen effektvollen Tod Lukian berichtet. Er hat sich, glaube ich, bei den Olympischen Spielen bei lebendigem Leibe verbrannt. 5 Über diesen Tod schreibt Lukian einen äußerst gewaltvollen Text, in dem er das Leben von Peregrinus erzählt, wie dieser an einem bestimmten Punkt seines Lebens Christ wurde und alle Entsagungen, die für das christliche Leben charakteristisch sind, auf sich genommen und praktiziert hat. Warum? Aus Treue und Gehorsam gegenüber dem, den Lukian den Sophisten nennt und der in Palästina gekreuzigt wurde. 6 Peregrinus ist also ein Kyniker, der über das Christentum zum Kynismus kam, oder ein Christ, der zum Kyniker wurde. Jedenfalls ist die Wechselwirkung zwischen den beiden Lebensformen eng genug, daß jemand wie Lukian, der von diesen Problemen offensichtlich ziemlich weit entfernt und der allen diesen Arten von Praktiken feindlich gesonnen ist, sie ohne
;eoße Schwierigkeiten miteinander verbinden kann. Auf dieWeise wird Julian später in seiner Kritik der Kyniker die ,,(ähe zwischen dem kynischen und dem christlichen Leben ,::crvorheben. Es ist bemerkenswert, daß z. B. der heilige Augu5:inus in einem Text, den ich Ihnen zitieren möchte, auf dieses ?roblem der Kyniker eingeht. In einer Passage des Gottesstaats Buch XIX) stellt er die Frage: Kann man in der christlichen Gemeinschaft wirklich jemanden zulassen und als Christen an:-:-kennen, der eine kynische Lebensweise führt (was beweist, die kynische Lebensweise in den christlichen Gemein,ohaften immer noch praktiziert wurde oder zumindest, daß ::;ejenigen, die dieser Lebensweise anhingen, sich in die christ_:chen Gemeinschaften integrieren wollten)? Und der heilige _"cugustinus antwortet: »Mit welcher Haltung oder Lebenswei~,,; freilich einer dem Glauben nachgeht, zu dem man zu Gott ;c!angt, berührt diesen Staat mitnichten [.. .]. Daher zwingt er ,,-;Jeh die Philosophen, wenn sie zu Christen werden, nicht, ihr Außeres und ihre Lebensgewohnheiten, die der Religion nicht _-:inderlich sind, abzulegen, nur ihre falschen Lehrmeinungen ~~ssen sie ändern.«7 Die Lektion des heiligen Augustinus ist 'iLSO klar: Sofern seine Lehrmeinungen die richtigen sind, kann ~an in der christlichen Gemeinschaft ohne weiteres jemanden ~:':zeptieren, der ein kynisches Leben führt, der sich wie ein K;:niker kleidet und wie ein Kyniker lebt. Beim heiligen Hie:-onymus findet man beispielsweise (Contra Jovinianum, Buch Absatz IV, Kapitel 14) einen Text über den Tod von Dioge:ces, ergänzt durch eine Lobrede. Darin stachelt er die Christen :iIl, einem Philosophen wie Diogenes nicht nachzustehen. "(atürlich ist es nicht sehr erstaunlich, daß es zu Beginn des Christentums eine sehr spürbare Wechselwirkung zwischen icr kynischen Praxis und der christlichen Askese gegeben hat. :'\lan muß jedoch auch feststellen, daß die kynische Lebenswei,e gerade durch die Vermittlung der christlichen Askese und des Mönchstums lange Zeit weitergetragen wurde. Selbst wenn die ausdrücklichen Bezüge zum Kynismus, zu seiner Lehre '_md zum kynischen Leben verschwänden, selbst wenn sich der
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Begriff des »Hundes« im Hinblick auf den Kynismus allgemein und den Kynismus von Diogenes auflöste, finden sich doch viele der Themen, Einstellungen, Verhaltensformen, die man bei den Kynikern beobachten konnte, in zahlreichen geistigen Bewegungen des Mittelalters wieder. Schließlich nehmen die Bettelorden - jene Leute, die auf alles verzichten, die einfachsten und grobschlächtigsten Kleider tragen und barfuß umherziehen, um die Menschen aufzurufen, sich um ihr Heil zu kümmern, und die sie in ihren Schmähreden anfahren, deren Heftigkeit bekannt ist8 - de facta ein Verhalten wieder auf, das das Verhalten des Kynikers ist. Die Franziskaner mit ihrer Entsagung, ihrem Umherziehen, ihrer Armut, ihrer Bettelei sind wohl bis zu einem gewissen Grad die Kyniker des mittelalterlichen Christentums. Was die Dominikaner betrifft, nun, Sie wissen, daß sie sich selbst die Domini canes (die Hunde des Herrn) nannten. Selbst wenn man die Annäherung an den antiken Kynismus wahrscheinlich erst aposteriori vollzogen hat, wurde doch de facto genau dieses Vorbild reaktiviert, das durch das Christentum weitergetragen wurde. Man könnte noch viele weitere Beispiele [für diese Reaktivierung] in den mehr oder weniger häretischen Bewegungen finden, die während des ganzen Mittelalters aufblühten und sich weiterentwickelten. Die Beschreibung Robert Arbrissels, dieses geistigen Erneuerers, der im Westen Frankreichs, im Anjou und in der Tourraine am Ende des Ir. Jahrhunderts große Bedeutung hatte, sieht folgendermaßen aus: Mit Lumpen bekleidet, ging er barfuß von einem Ort zum anderen, kämpfte gegen die Demoralisierung des Klerus und rief alle Christen auf, Buße zu tun. In der Waldenserbewegung findet man außerdem folgende Beschreibung: Sie haben keinen festen Wohnort, sie gehen jeweils in Zweiergruppen wie die Apostel (tanquam Apostolicum) umher und folgen nackt der Nacktheit Christi (nudi nudum Christum sequentes). Dieses Thema (nackt der Nacktheit Christi folgen, nackt der Nacktheit des Kreuzes folgen) wurde für die ganze christliche Spiritualität äußerst wichtig, und auch hier bezieht es sich zumindest implizit auf jene berüchtigte ky-
-,esche Nacktheit in ihrem Doppelsinn, eine Lebensweise völli::::, Entsagung und zugleich in aller Nacktheit die Manifestati:::1 der Wahrheit der Welt und des Lebens zu sein. Die Wahl ,:::1es Lebens als Skandal der Wahrheit, die Einfachheit des Le_::ns als eine Art und Weise, am Körper selbst das sichtbare -::-::eater der Wahrheit zu inszenieren, scheinen durch die ganze ~eschichte des Christentums hindurch nicht nur ein Thema, ';ndern auch eine besonders lebendige, intensive, kraftvolle ::;:-axis in allen Reformbemühungen gewesen zu sein, die im :::::gensatz zur Kirche, zu ihren Institutionen, ihrer Bereiche.-"::!lg, ihrem Sittenverfall standen. Es gab einen wirklich christ.. cnen Kynismus, einen Kynismus, der sich gegen die Institu::Jnen richtete, einen Kynismus, den ich anti-kirchlich nennen ',,-;lrde und dessen noch lebendige Formen und Spuren am VorLJ::nd der protestantischen Reformation, während und inner._:Jb der Reformation oder sogar noch innerhalb der katho_.schen Gegenreformation spürbar waren. Man könnte also ::ese lange Geschichte des christlichen Kynismus schreiben. ::=weitens, wenn wir uns mehr der Gegenwart annähern, wäre es auch interessant, eine weitere Stütze der kynischen Exi,:enzform zu analysieren, nämlich den Kynismus verstanden ~s Lebensform im Skandal der Wahrheit. Wir würden ihm :l::1n nicht mehr in den religiösen Institutionen und Praktiken ::-egegnen, sondern in den politischen Praktiken. Hier denke natürlich an die revolutionären Bewegungen, oder zumin.:est an manche dieser Bewegungen, die, wie Sie wissen, einen ,-,:-oßen Einfluß auf die verschiedenen Formen der christlichen S?iritualität ausgeübt haben, gleichgültig, ob es sich um or~odoxe handelte oder nicht. Der Kynismus, die Idee einer ':"ebensform, die die plötzlich hervorbrechende, gewaltsame, siCandalöse Manifestation der Wahrheit sein sollte, ist und war "i::1 Teil der revolutionären Praxis und der Formen, die die re.'olutionären Bewegungen während des 19. Jahrhunderts an::1ahmen. Die Revolution in der modernen europäischen Welt:::as ist eine bekannte Tatsache, über die wir, glaube ich, letztes .-"hr gesprochen haben - war nicht bloß ein politisches Projekt,
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sondern auch eine Lebensform. Oder genauer, sie wirkte als ein Prinzip, das eine gewisse Lebensweise bestimmte. Wenn man die Art und Weise, wie das Leben als revolutionäre Tätigkeit oder die revolutionäre Tätigkeit als Leben definiert, charakterisiert, organisiert und geregelt wurde, der Bequemlichkeit halber als »Aktivismus« bezeichnen will, läßt sich sagen, daß der Aktivismus als revolutionäres Leben, als Leben, das völlig oder teilweise der Revolution gewidmet wurde, im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts drei große Formen angenommen hat. Vor allem zwei davon sind bekannt (die älteste und die jüngste), ich werde mich jedoch auf die dritte konzentrieren. [Erstens haben wir] das revolutionäre Leben in Gestalt des Bundes und der Verborgenheit, das revolutionäre Leben in der Geheimgesellschaft (Vereinigungen, Verschwörungen gegen die vorhandene und sichtbare Gesellschaft, Einrichtung eines unsichtbaren gesellschaftlichen Zusammenlebens, das einem chiliastischen Prinzip oder Ziel verpflichtet ist). Diese Seite des revolutionären Lebens war zu Beginn des 19. Jahrhunderts offenbar von großer Bedeutung. Zweitens gibt es am anderen Ende den Aktivismus, und zwar nicht mehr in Gestalt des Geheimbundes, sondern der sichtbaren, anerkannten, institutionalisierten Organisation, die ihre Ziele und ihre Dynamik im gesellschaftlichen und politischen Bereich geltend zu machen versucht. Das ist der Aktivismus, der sich nicht mehr im Geheimbund versteckt, sondern in Erscheinung tritt und sich in den gewerkschaftlichen Organisationen oder politischen Parteien, die eine revolutionäre Funktion haben, Anerkennung verschafft. Schließlich ist die dritte bedeutende Form der aktivistischen Existenz der vom Leben bezeugte Aktivismus in Gestalt eines Lebensstils. Dieser Lebensstil, der dem revolutionären Aktivismus eigentümlich ist und für die Bezeugung durch das Leben sorgt, stellt notwendigerweise einen Bruch mit den Konventionen, Gewohnheiten und Werten der Gesellschaft dar. Durch seine sichtbare Form, durch seine beständige Praxis und seine unmittelbare Existenz muß er direkt die konkrete Mög24 2
.:hkeit und den offensichtlichen Wert einer anderen Lebens·~':'hrung aufzeigen, die das wahre Leben ist. Auch hier findet
-:':2:1 ganz im Zentrum der Erfahrung, des Lebens, des revolu::C:1ären Aktivismus jenes Thema des wahren Lebens wieder, :.:" so grundlegend und zugleich so rätselhaft und interessant .. jenes wahren Lebens, das schon von Sokrates als Problem '''~~geworfen wurde und dessen Thematik, wie mir scheint, das ::':1ze abendländische [Denken] immer durchzog. ::::':5 revolutionäre Leben, das Leben als revolutionäre Tätig=:t nahm die folgenden drei Aspekte an: der Geheimbund, die -s:itutionalisierte Organisation und schließlich das Zeugnis ...:::-ch das Leben (Zeugnis des wahren Lebens durch das Le"::1 selbst). Diese drei Aspekte des revolutionären Aktivismus :::'eheimbund, Organisation und Lebensstil) waren im ganzen Jahrhundert gegenwärtig. Offenbar hatten sie aber nicht ... =und immer dieselbe Bedeutung. Schematisch könnte man '2gen, daß sie ihren Einfluß abwechselnd ausübten: Der Asdes Geheimbunds hat die revolutionären Bewegungen zu ::'eginn des 19. Jahrhunderts ganz eindeutig dominiert; der As-:::':t der Organisation wurde im letzten Drittel des 19. J ahr'..:nderts mit der Institutionalisierung der politischen Parteien _::d der Gewerkschaften wesentlich; und das Merkmal des :::::ugnisses durch das Leben, des Skandals des revolutionären :"::bens als Skandal der Wahrheit, war viel eher in den Bewe':"::1gen der Mitte des 19. Jahrhunderts bestimmend. Natürlich :
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Wahrheit offenbar machen, die Wahrheit explodieren lassen, bis daß man dabei sein Leben verliert oder das Blut der anderen vergießt, das ist etwas, dessen tiefreichende Wurzeln man in der Geschichte des europäischen Denkens findet. Wenn ich jedoch sage, daß dieser Aspekt des Zeugnisses durch das Leben im 19. Jahrhundert vorherrschte, daß man es vor allem in jenen Bewegungen antrifft, die vom Nihilismus zum Anarchismus oder zum Terrorismus übergehen, meine ich doch nicht, daß dieser Aspekt völlig verschwunden wäre und bloß eine historische Gestalt in der Geschichte des europäischen Revolutionarismus darstellte. In der Tat sieht man, wie dieses Problem des Lebens als Skandal der Wahrheit unablässig wieder hervortritt. Man sieht [etwa], wie das Problem des revolutionären Lebensstils im Linksextremismus ziemlich beständig wieder zum Vorschein kommt. Das Wiedererscheinen des Linksextremismus als beständige Tendenz innerhalb des europäischen revolutionären Denkens und seines Projekts vollzog sich immer dadurch, daß es sich nicht auf die Dimension der Organisation, sondern auf jene Dimension des Aktivismus stützte, die im Geheimbund oder im Lebensstil besteht. Und manchmal offenbarte sich das Paradox eines Geheimbunds in skandalösen Lebensformen. Man braucht übrigens nicht zu glauben, daß dort, wo der Revolutionarismus die Gestalt der Organisation in politische Parteien annimmt, die Dimension des Geheimen und die des Lebensstils oder des Lebens als Skandal der Wahrheit völlig verschwunden sei. Hier müßte man natürlich eine genaue Analyse dessen vornehmen, was die revolutionären Parteien in Frankreich waren (sozialistische und kommunistische Partei). Es wäre interessant zu sehen, wie sich das Problem des Lebensstils in der kommunistischen Partei gestellt hat, wie es sich in den I 920er Jahren gestellt hat, wie es sich allmählich verwandelt hat, Gestalt annahm, modifiziert und schließlich in sein Gegenteil verkehrt wurde, da man zu jenem paradoxen Ergebnis gelangt, das jedoch in gewissem Sinn nur die Bedeutung des Lebensstils und der Offenbarung der Wahrheit im aktivistischen Leben 244
~:$:atIgt. In der gegenwärtigen Situation wurden zwar alle ~~aensformen und -stile, die die Funktion einer skandalösen
~\iicnbarung einer inakzeptablen Wahrheit haben könnten,
:::-aannt, aber das Thema des Lebensstils bleibt im Aktivismus .::r Kommunistischen Partei Frankreichs dennoch absolut von ::~deutung, und zwar in Gestalt der gewissermaßen umgekehr::::i Aufforderung, daß man in seinem Lebensstil beharrlich _:id sichtbar alle überkommenen Werte, die gewöhnlichsten ",rhaltensweisen und die traditionellsten Verhaltensschemata ,-:c.lchmen und zur Geltung bringen müsse. Auf diese Weise ,:"nn sich der Skandal des revolutionären Lebens - als Lebens:rm, die, indem sie mit jedem überkommenen Lebensstil :::ht, die Wahrheit zur Erscheinung bringt und für sie Zeug.:::; ablegt - innerhalb dieser institutionellen Strukturen der ;~Dmmunistischen Partei Frankreichs nun in Form der Ver~\·irklichung überkommener Werte, gewöhnlicher Verhaltens.,;;eisen und traditioneller Verhaltens schemata um und steht im .:::egensatz zur Dekadenz der Bourgeoisie oder des linksextre~:stischen Wahnsinns. Man kann sich recht gut vorstellen, wie ::ese Analyse des Lebensstils in den revolutionären Bewegun?en Europas aussehen könnte - jedenfalls wäre sie ein wichti::,,5 Projekt -, und soweit ich weiß, wurde so etwas noch nie .:.nternommen: wie die Vorstellung eines Kynismus des revolu::Dnären Lebens als Skandal einer unannehmbaren Wahrheit :::h der Bestimmung einer konformen Existenz entgegensetz:\0, die als Bedingung für den Aktivismus in den sich als revolu:.;Dnär verstehenden Parteien gelten sollte. Das wäre ein weite:er Untersuchungs gegenstand. ~'
gab, wie betont und heftig der Gegensatz des Kynismus zu den verschiedenen Verhaltens regeln und kulturellen und gesellschaftlichen Werten in der Antike auch gewesen sein mag. Die Satire und die Komödie waren oft von kynischen Themen durchzogen, ja mehr noch, sie stellten bis zu einem gewissen Grad einen privilegierten Ort für den Ausdruck kynischer Themen dar. Im mittelalterlichen und christlichen Europa gäbe es gewiß einen erheblichen Teil jener Literatur zu betrachten, die eine Art von kynischer Kunst war. Dazu würden wohl die Schwänke gehören sowie die ganze Literatur, die Bachtin untersucht hat 9 und die vor allem mit Festen und dem Karneval zu tun hatte, die aber, wie ich meine, gewiß auch die Darstellung des kynischen Lebens beinhaltet: die Frage nach den Beziehungen zwischen dem Fest und dem kynischen Leben (das Leben im Zustand der Nacktheit, das wilde Leben, das Leben, das auf skandalöse Weise die Wahrheit offenbart). Wir würden hier viele Themen abdecken, die mit dem Karneval und seiner Praxis zu tun haben. Ich glaube jedoch, daß die Frage des Kynismus vor allem in der modernen Kunst eine einzigartige Bedeutung annimmt. Die Tatsache, daß die moderne Kunst für uns der Träger der kynischen Lebensweise war und immer noch ist, der Träger jenes Prinzips der Korrespondenz zwischen Lebensstil und Offenbarung der Wahrheit, entstand auf zweierlei Weise. Erstens - am Ende des 18. Jahrhunderts, im Laufe des 19· Jahrhunderts, das wäre, wie gesagt, zu untersuchen - mit der Entstehung von etwas vollkommen Einzigartigem in der europäischen Kultur: dem Leben als Künstler. Die Vorstellung, daß nur der Künstler als solcher ein einzigartiges Leben haben sollte, das nicht völlig auf die gewöhnlichen Dimensionen und Normen reduziert werden konnte, war [zwar] schon völlig gesichert. Es genügt zum Beispiel, Vasaris Lebensläufe der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten 10 zu lesen oder die Autobiographie Benvenuto Cellinis. 11 Hier wird ganz deutlich und unproblematisch die Vorstellung zugestanden, daß der Künstler als solcher kein Leben führen kann, das dem
Jer anderen völlig gleicht. Aber am Ende des 18. und zu Beginn Jes 19. Jahrhunderts erscheint etwas Neues, etwas anderes im \'ergleich zu dem, was man bei Vasari während der Renaissance ~:nden konnte. Das ist die Vorstellung, die meiner Meinung ::uch zur Moderne gehört, daß das Leben des Künstlers in sei:"er wirklichen Gestalt ein gewisses Zeugnis dafür ablegen soll, v;as die Kunst in Wahrheit ist. Nicht nur muß das Leben des hünstlers einzigartig genug sein, damit er sein Werk schaffen ;~ann, sondern sein Leben soll gewissermaßen eine Offenba::-ung der Kunst selbst in ihrer Wahrheit sein. Dieses Thema eines künstlerischen Lebens, das während des gesamten 19. J ahr~underts von so großer Bedeutung ist, beruht im Grunde auf zwei Prinzipien. Erstens: Die Kunst besitzt die Fähigkeit, der Existenz eine Form zu geben, die mit jeder anderen bricht, die Form des wahren Lebens. Außerdem haben wir noch ein anJeres Prinzip: Wenn sie die Form des wahren Lebens aufweist, ist das Leben seinerseits die Garantie dafür, daß jedes Werk, das ihm wurzelt und aus ihm entsteht, der Dynastie und dem Reich der Kunst zugehört. Ich glaube also, daß diese Vorstel:ung vom Leben des Künstlers als Bedingung des Kunstwerks, ,,1s Beglaubigung des Kunstwerks, als Kunstwerk selbst eine ::;,estimmte Weise ist, unter einem anderen Blickwinkel, unter ,~iner anderen Perspektive und natürlich auch in anderer Form :enes kynische Prinzip des Lebens als Offenbarung des skan,ialösen Bruchs aufzufassen, wodurch die Wahrheit ans Licht ~ommt, sich offenbart und Gestalt annimmt. Das ist nicht alles, es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb Jie Kunst in der Moderne zum Träger des Kynismus wurde. Es ~andelt sich um die Vorstellung, daß die Kunst selbst, sei es die Literatur, die Malerei, die Musik, eine Beziehung in der \'('irklichkeit begründen soll, die nicht mehr dem Bereich der .\usschmückung, dem Bereich der Nachahmung angehört, sondern deren Wesen es ist, das Elementare der Existenz zu entblößen, zu entlarven, freizulegen, auszugraben und gewaltsam zu ihm zurückzuführen. Diese Praxis der Kunst als Ent~lößung und Rückführung auf das Elementare der Existenz ist
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etwas, das sich von der Mitte des 19. Jahrhunderts an zweifellos immer spürbarer akzentuiert. Die Kunst (Baudelaire, Flaubert, Manet) stellt sich als Ort des Einbrechens des Unteren, des Niederen dar, dessen, was in einer Kultur kein Recht oder zumindest keine Möglichkeit des Ausdrucks hat. Und in diesem Sinne ist die moderne Kunst anti-platonisch. Wenn Sie die ManetAusstellung diesen Winter gesehen haben,':- werden Sie den Bruch bemerkt haben: Es gibt einen Anti-Platonismus der modernen Kunst, der Manets großer Skandal gewesen ist und der, ohne gegenwärtig jede mögliche Kunst zu charakterisieren, meines Erachtens eine tiefe Tendenz bildete, die Sie von Manet bis zu Francis Bacon, von Baudelaire bis zu Samuel Beckett oder Burroughs finden. Anti-Platonismus: Die Kunst als Einbruchs ort des Elementaren, als Entblößung der Existenz. Gerade dadurch begründet die Kunst gegenüber der Kultur, den gesellschaftlichen Normen, den ästhetischen Werten und Kanons eine polemische Beziehung der Reduktion, der Verweigerung und Aggression. Das ist es, was seit dem 19· J ahrhundert aus der modernen Kunst jene Bewegung macht, durch die jede aufgestellte, deduktiv oder induktiv abgeleitete, aus jeder der vorangehenden Handlungen erschlossene Regel unablässig durch die nachfolgende Handlung abgelehnt und verworfen wird. In jeder Form der Kunst gibt es eine Art von ständigem Kynismus gegenüber jeder etablierten Kunst. Diesen Zug könnte man den anti-aristotelischen Charakter der modernen Kunst nennen. Die moderne anti-platonische und anti-aristotelische Kunst: Reduktion, Entblößung des Elementaren der Existenz; ständige Ablehnung, Verwerfung jeglicher schon gesicherten Form. Aufgrund dieser beiden Aspekte hat die moderne Kunst eine 'C·
Foucault, der sich hier gewiß nicht auf die große Manet-Retrospektive im Grand Palais (vom 22. April bis I. August 1983) bezieht, spricht vielmehr die Ausstellung im Centre Georges Pompidou an (»Bonjour Monsieur Manet«), die von Juni bis Oktober 1983 stattfand und, manchmal auf sehr provokante Weise, Visionen und Variationen zeitgenössischer Künstler zum Werke Manets präsentierte. 24 8
::=:mktion, die man wesentlich anti-kulturell nennen könnte. ::::Pem Konsens der Kultur gilt es, den Mut der Kunst in sei:.er barbarischen Wahrheit gegenüberzustellen. Die moderne ~unst ist der Kynismus in der Kultur, der Kynismus der Kul-=-o.:r, die sich gegen sich selbst wendet. Und wenn es auch nicht ~usschließlich in der Kunst geschieht, so konzentrieren sich in der modernen Welt, vor allem in unserer Welt, in der ~unst die intensivsten Formen eines Wahrsprechens, das den ~\iut hat, das Risiko der Verletzung einzugehen. Insofern glau:ce ich, daß man eine Geschichte des kynischen Modus, der ky:.ischen Praxis, des Kynismus als Lebensweise, die mit der Of:enbarung der Wahrheit verknüpft ist, schreiben könnte. So e:-was könnte man mit Bezug auf die moderne Kunst tun, wie :-:lan es mit Bezug auf die revolutionären Bewegungen tun .'\:ann und wie man es mit Bezug auf die christliche Spiritualität :-c:n konnte. Verzeihen Sie diese skizzenhaften Bemerkungen, es handelt sich um Notizen, um mögliche Arbeiten. Nächstes werden wir im Zusammenhang mit dem antiken Kynis:-:lUS auf handfestere Dinge zu sprechen kommen. Dankeichön.'c .. Foucault trägt hier eine wichtige Ausführung nicht vor, die man jedoch im Manuskript findet und die folgendermaßen lautet: " ... natürlich gäbe es rund um dieses Thema viele Fragen zu bearbeiten: die eigentliche Entstehung dieser Funktion der Kunst als Kynismus in der Kultur. Siehe in Rameaus Neffe die ersten Zeichen, die diesen Prozeß ankündigen, der im Laufe des 19.Jahrhunderts zum Ausbruch kommt. Der Skandal um Baudelaire, Manet (Flaubert ?); die Beziehung zwischen dem Kynismus der Kunst und dem revolutionären Leben: )Jachbarschaft, Faszination des einen durch das andere (der ständige Versuch, den Mut zum revolutionären Wahrsprechen mit der Gewaltsamkeit der Kunst als ungebändigtes Einbrechen des Wahren zu verbinden); aber auch eine wesentliche Unmöglichkeit der Überlagerung, die wohl darauf zurückgeht, daß, auch wenn diese kynische Funktion im Zentrum der modernen Kunst steht, sie doch für die revolutionäre Bewegung nur marginal ist, sobald diese von bestimmten Organisationsformen beherrscht wird: Wenn sich die revolutionären Bewegungen in Parteien organisieren und die Parteien das »wahre Leben« durch eine makellose Gleichförmigkeit im Hinblick auf gewisse Normen bestimmen, d. h. durch eine soziale und kulturelle Gleichförmigkeit. Es ist klar, 249
Anmerkungen daß der Kynismus weit davon entfernt ist, eine Verbindung zwischen dem ethos der modernen Kunst und dem ethos der politischen Praxis, auch wenn sie revolutionär sein mag, zu gewährleisten. Statt dessen bezeichnet er vielmehr einen Punkt der Unverträglichkeit zwischen beiden. Man könnte dieselbe Frage auch anhand einer anderen Formulierung stellen: Wie ist der Kynismus, der in der Antike eine recht verbreitete Volksbewegung war, im 19. und 20. Jahrhundert zu einer elitären und randständigen Haltung geworden, die für unsere Geschichte wichtig ist, obwohl der Begriff des Kynismus selbst kaum negativ besetzt ist? Eines sollte noch hinzugefügt werden: Der Kynismus kann mit einer anderen Form des griechischen Denkens verglichen werden: mit dem Skeptizismus. Auch dieser ist viel eher ein Stil als eine Lehre, eine Weise des Seins, HandeIns und Sprechens; auch er ist eine ethische Haltung im Hinblick auf die Wahrheit; eine Haltung gegenüber dem Sein, dem Handeln und dem Sprechen; eine Haltung des Erprobens, der Prüfung, der Infragestellung der Prinzipien. Allerdings besteht hier ein großer Unterschied: Der Skeptizismus ist eine Haltung der Prüfung, die man im Bereich des Wissens systematisch entfaltet und bei der man die meiste Zeit praktische Implikationen beiseite läßt; während der Kynismus vor allem auf eine praktische Haltung zentriert ist und sich auf eine fehlende Neugier oder theoretische Gleichgültigkeit gründet und auf die Annahme einiger grundlegender Prinzipien. Dennoch stand die Kombination des Kynismus und des Skeptizismus im 19· Jahrhundert am Ursprung des "Nihilismus«, verstanden als Lebensweise mit einer bestimmten Haltung gegenüber der Wahrheit. Man sollte die Gewohnheit aufgeben, sich den Nihilismus immer nur unter dem Aspekt vorzustellen, unter dem man ihn heute betrachtet: entweder in Form eines Schicksals, das der abendländischen Metaphysik eigentümlich ist, ein Schicksal, dem man nur entkommen könnte, wenn man auf das zurückkommt, dessen Vergessen diese Metaphysik selbst ermöglichte; oder in Form eines Schwindelgefühls der Dekadenz, das einer abendländischen Welt eigen ist, die künftig nicht mehr an ihre eigenen Werte glauben kann. Zunächst ist der Nihilismus als eine sehr konkrete historische Figur im 19. und 20. Jahrhundert zu betrachten, was nicht heißen soll, daß man ihn nicht in die lange Geschichte dessen einordnen darf, was ihm voranging und ihn vorbereitete: Skeptizismus; Kynismus. Daher sollte man ihn als eine Episode oder vielmehr eine historisch gut identifizierbare Form jenes Problems betrachten, das sich in der abendländischen Kultur seit langem stellte: das Problem der Beziehung zwischen dem Willen zur Wahrheit und dem Lebensstil. Kynismus und Skeptizismus waren zwei Weisen, das Problem einer Ethik der Wahrheit zu stellen. Ihre Kreuzung im Nihilismus offenbart in der Tat etwas Wesentliches und Zentrales für die abendländische Kultur. Dieses Wesentliche läßt sich knapp folgendermaßen ausdrücken:
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: P. Tillich, Der Mut zum Sein, Stuttgart 1953, Neuaufl. Berlin 1991. K.. Heinrich, Parmenides und Jona, Frankfurt/M. 1966. ,. A. Gehlen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Frankiurt/M. 1969. .;. P. Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt/M. 1983. , Y gl. Lucians von Samosata sämtliche Werke, Bd. III, übers. v. C. M. Wieland, Wien u. Prag 1797, S.83-85' Ebd., S. 51-53. - Augustinus, Der Gottesstaat, XIX, 19, übers. v. c.J. Perl, Paderborn '.1. a. 1979, S. 491. "'J. Cohn, Les Fanatiques de l'Apocalypse, übers. v. S. Clemendot, Paris 1962; Originalausgabe: The Pursuit of the Millenium: Revolutionary .i1illenarians and MysticalAnarchists of the Middle Ages, London 1957. :-1. Bachtin, Rabelais und seine Welt: Volkskultur als Gegenkultur, übers. v. G. Leupold, hg. und mit einem Nachwort versehen v. R. Lachmann, Frankfurt/M. zo03; russ. Originalausgabe 1965. .: [G.J Vasari, Lebensläufe der berühmtesten Maler, Bildhauer und Archi[ekten [1 546J, Zürich 2000. (Vgl. Foucaults Text von 196z, "Das ,Nein< des Vaters« über Hölderlin, der schon eine ganze Reihe von Ausfüh:-ungen über die Philosophie dieser Lebensläufe enthält, in: Dits et Ecrits, Bd. 1, Frankfurt/M. Z001, S. z67-z71. :: Leben des Benvenuto Cellini, Jlorentinischen Goldschmieds und Bildhauers: von ihm selbst geschrieben, Nachdruck, übers. und mit einem Anhang hg. von J. W. Goethe, Frankfurt Z004. 2
\Vo die Sorge um die Wahrheit diese ständig in Frage stellt, was ist da die Existenzform, die dieses Infragestellen ermöglicht; welche Art von Leben wird notwendig, sobald die Wahrheit nicht mehr notwendig ist? Das Problem des Nihilismus ist nicht: Wenn Gott nicht existiert, ist alles ,,:-laubt. Seine Formel besteht vielmehr in einer Frage: Wenn ich der :-löglichkeit »nichts ist wahr« ins Auge sehen muß, wie soll ich dann leben? Im Zentrum der abendländischen Kultur liegt die Schwierigkeit, die Verbindung zwischen der Sorge um die Wahrheit und der Ästhetik der Existenz zu bestimmen. Deshalb scheint mir der Kynismus eine inIeressante Frage zu sein, selbst wenn es natürlich viele Texte zu diesem Thema gibt, die es nicht gestatten, in ihm eine gut gesicherte Lehre zu erkennen. Was auch immer die Geschichte der Lehre sein mag, ist es doch 'Nichtig, eine Geschichte der Künste des Lebens zu begründen. In diesem Abendland, das so viele verschiedene Wahrheiten erfunden und so Yielfältige Künste zu leben entworfen hat, erinnert der Kynismus beständig daran, daß nur ein kleiner Teil der Wahrheit für denjenigen notwendig ist, der wahrhaft leben will, und daß nur wenig Leben notwendig ist, wenn man wirklich Wert auf die Wahrheit legt.« 251
Diese Woche erhielt ich einen Brief von einer Hörerin zum Thema der parrhesia und den verschiedenen und neuen Bedeutungen, die das Wort in der christlichen Literatur annimmt. Diese Hörerin hat mir eine Reihe von sehr interessanten Stellenangaben bei Cassian, bei Johannes Klimakos, bei den Apophtegmata, den Kirchenvätern usw. geschickt. Allerdings unter dem Siegel der Diskretion, denn sie hat weder ihren Namen noch ihre Adresse angegeben. Ich kann also nicht antworten. Jedenfalls sagte ich ihr, daß sie in der Tat vollkommen recht hat. Ihre Stellenangaben sind interessant. Das ist genau die Richtung, die ich dieses Jahr einschlagen möchte, wenn ich Zeit dazu habe: Ihnen zu zeigen, wie man im Laufe der Entwicklung des Begriffs der parrhesia in der griechisch-römischen Antike im Christentum zu einer Art von Verschiebung der Bedeutungen des Wortes parrhesia gelangt, die man in der christlichen Literatur findet. Als Gregor von Nazianz bei seiner Lobrede auf Maximus diesen als einen Kyniker darstellt, der sich durch parrhesia auszeichnet, wird das Wort zwar in seinem ganz traditionellen Sinn verwendet. 1 Aber dann werden dem Begriff der parrhesia eine ganze Reihe von anderen, positiven oder negativen Bedeutungen zugewiesen. Diese Entwicklung möchte ich gern etwas später untersuchen. Darin besteht nun die kurze Antwort auf diesen Brief, eine Antwort, die einfach die Form eines Versprechens hat, wobei ich mir nicht einmal sicher bin, ob ich es auch halten kann.
Zv,oeitens eine Bemerkung, die sich immer noch auf den Ky:-::5mus bezieht. Ich habe schließlich ein Buch gefunden, ich ::ccine nicht das Buch, sondern ein Buch über den Kynismus, ":25 sicher viel interessanter, jedenfalls besser dokumentiert ist Z:s die Bücher, die ich letztes Mal erwähnt hatte. Es ist nochein deutsches Buch, weil sowohl das historische als auch 225 philosophische Problem des Kynismus die Deutschen ;mz offensichtlich zumindest seit dem Ende des zweiten '~f°eltkriegs sehr beschäftigt hat. Dieses Buch befindet sich in ::Cf Nationalbibliothek, wurde von Heinrich Niehues-Pröb,:ing geschrieben und trägt den Titel Der Kynismus des Dio~Enes und der Begriff des Zynismus. 2 Beachten Sie die beiden Schreibweisen des Wortes Kynismus: Kynismus (der antike :-:'mismus) und Zynismus (der allgemeine Begriff des Kynis·":us). Das Buch ist 1979 erschienen, und ich empfehle es Ih:-:cu. Es gibt darin sowohl eine sehr interessante Analyse des 2miken Kynismus als auch eine Geschichte des Begriffs des ::\.ynismus, die sich übrigens in ihren Stellenangaben sehr von 2Cf ganz vagen Skizze unterscheidet, die ich Ihnen letztes Mal :;egeben habe, als ich versucht hatte, zumindest einige der Träger des Kynismus, des kynischen Lebens, der kynischen :ialtung in der abendländischen Kultur (innerhalb der christ~;chen Institutionen, im politischen Leben, in der Praxis der ::\.unst) zu bestimmen. In dem Buch von Pröbsting werden Sie im Gegensatz dazu eine ganze Reihe von Stellenangaben Clezüglich der theoretischen Reflexion auf den Kynismus :inden, sogar über die Art und Weise, wie der Kynismus in ier Philosophiegeschichte seit dem 16. Jahrhundert bis heute iargestellt wurde, und auch zu einer Reihe von Autoren, die sich mehr oder weniger direkt auf den Kynismus bezogen ha:,en, manchmal ganz ausdrücklich wie z. B. Wieland,3 Friedrich Schlegel,4 aber auch andere wie Nietzsche 5 - [der Autor gibt] wertvolle Hinweise auf die Art und Weise, wie der Kynismus Nietzsches in seiner eignen Zeit oder unmittelbar ianach wahrgenommen, reflektiert und kritisiert wurde, ins:,esondere von Ludwig Stein, der 1893 über die Weltanschau-
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Vorlesung 6 (Sitzung vom 7. März 1984, erste Stunde)
Bibliographische Hinweise. - Zwei gegensätzliche kynische Persönlichkeiten: Demetrius und Peregrinus. - Zwei gegensätzliche Darstellungen des Kynismus: als Schwindel oder als Universale der Philosophie. - Die Beschränktheit der Lehre und die gesellschaftliche Ausbreitung des Kynismus. - Die kynische Lehre als Rüstzeug für das Leben. - Das Thema der beiden Wege. - Überlieferung der Lehre und Überlieferung der Lebensweise. - Das philosophische Heldentum. - Goethes Faust.
ung':· Nietzsches und ihre Gefahren ein Buch schrieb, in dem er Nietzsches Kynismus verortet, bestimmt und anprangert. 6 All das finden Sie in diesem Buch. Ich habe es nicht vollständig gelesen und kann Ihnen nicht schwören, daß ich mich nicht irre, wenn ich Ihnen sage, daß [darin nichts] über Rameaus Neffe steht, was doch in der Geschichte der Reflexion über den Kynismus im Abendland immerhin ein wichtiger Moment, ein Wendepunkt war, und auch nichts über Sade. 7 Soviel nun für diejenigen unter Ihnen, die sich für den Kynismus interessieren mögen. Ich füge hinzu - und hier verzeihen Sie bitte meinen Fehler -, daß ich auch das Buch von Glucksmann (Cynisme et Passion)8 nicht erwähnt habe, in dem es gerade um eine Reflexion über die Möglichkeit, die Bedeutungen und Werte geht, die der Kynismus in der Gegenwart haben könnte. Kehren wir also ganz schlicht und bescheiden zur Geschichte des Kynismus in der Antike zurück, mit dem ich mich in dieser Sitzung befassen möchte. Wenn ich keine Zeit habe, meine Ausführungen abzuschließen, werden wir das nächste Mal weitermachen, aber ich möchte gerne versuchen, heute abzuschließen. Ich werde mit dem Hinweis auf einige Probleme im Zusammenhang mit dem Kynismus beginnen, die sowohl für seine Eigenart unter den anderen Formen der philosophischen Reflexion und Praxis in der Antike als auch für die Schwierigkeit verantwortlich sind, die seine Analyse aufwirft. Um die Dinge ganz elementar und schematisch zu sagen, besteht die erste Schwierigkeit und auch die erste Eigenart des Kynismus in der Vielfalt der Haltungen und Verhaltensweisen, die in der Antike selbst als charakteristisch für den Kynismus bestimmt und anerkannt wurden. Natürlich gibt es immer einen zentralen Kern oder zumindest eine Art von Stereotyp, das in den Augen aller mit dem Gütezeichen des Kynismus versehen ist. Das Wappen des Kynismus ist folgendes - wir haben schon darüber gesprochen: Der Mann mit dem kurzen Mantel, dem struppigen Bart, den nackten und schmutzigen Füßen, dem ':- Deutsch im Original, A. d. Ü.
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:;;.2nzen und dem Stock. Man trifft ihn an Straßenecken, auf öf:cCldichen Plätzen, am Eingang der Tempel, wo er die Leute anum ihnen ordentlich seine Meinung zu sagen. Aber über .::cses Stereotyp hinaus oder daneben gibt es zu beiden Seiten ::cser vertrauten Persönlichkeit, auf die schon seit dem 4. J ahr-.:_mdert [v. Chr.] hingewiesen wird und die man als Julians :;cgner im 3. Jahrhundert wiederfindet, viele andere Lebens=:rmen, die sich zu jener Zeit selbst als Formen des kynischen ::""bens dargestellt haben und auch als solche wahrgenommen, c::ckennzeichnet, wertgeschätzt oder abgewertet wurden. Ich zwei extreme oder zumindest extrem verschiedene Bei::,:ele betrachten. :'5 gibt eine Persönlichkeit, die sowohl in der Geschichte des :,·nismus, in den Beziehungen zwischen dem kynischen Den,:en und Leben und dem stoischen Denken - vor allem für Se:.cca - sehr wichtig war, nämlich der berühmte Demetrius. Se:;:::ca zitiert ihn oft, und zwar immer mit größtem Lob, wenn er »unseren Demetrius« nennt 9 und sagt, daß er wohl eine der :-"merkenswertesten Gestalten der Philosophie seiner Zeit ist, -::"nn nicht gar der Philosophie aller Zeiten. So, wie er in den -:-cxten Senecas erscheint, führte dieser Demetrius offenbar ein ;::wiß einfaches, armes Leben, da Seneca in einem seiner Briefe ~2,3) von ihm sagt, daß er den Umgang mit Demetrius gegenden mit Purpur gekleideten Leuten vorzieht. Den mit ?urpur gekleideten Leuten stellt er Demetrius als »seminudus« :-albnackt) entgegen. lO Von demselben Demetrius erzählt SeClCca in De beneficiis (VII. Buch), daß er entschieden und heftig c:ne große Geldsumme abgelehnt hatte, die der Kaiser, in diesem Fall war es Caligula, ihm angeboten hatte. Demetrius soll :icse Ablehnung mit einem Kommentar begleitet haben. Er gesagt haben, was vollkommen kynisch klingt: Wenn er in Versuchung führen wollte, dann hätte er das ganze ::\cich anbieten müssen. II Damit wollte er natürlich nicht sa;en, daß er es akzeptiert und der Versuchung nachgegeben hät:e, wenn man ihm das ganze Reich angeboten hätte, sondern die Versuchung eine Probe war, eine Probe des Durchhal255
tevermögens, durch die man sich selbst festigt und gegenüber der Welt seine eigene Souveränität behauptet. Wenn eine wirklich ernsthafte Prüfung nötig gewesen wäre, die ihm erlaubt hätte, sich zu vervollkommnen, sich zu festigen, sein Durchhaltevermögen zu steigern, dann hätte man ihm gewiß nicht eine Geldsumme geben müssen, sondern zumindest das ganze Reich. Diesem Angebot hätte er widerstehen sollen und gegenüber diesem Angebot hätte sein Sieg Sinn und Wert gehabt. Mit dieser seminudus Persönlichkeit, die alle Vorschläge, die man ihr machen könnte, ablehnt und seine Ablehnung mit entschiedenen und unverschämten Worten begleitet, die sich auf den Charakter der Prüfung beziehen, der er sein ganzes Leben unterzieht, haben wir eine Persönlichkeit, die tatsächlich vollkommen kynisch ist und zumindest einigen der Grundzüge der kynischen Lebensweise entspricht. Man darf jedoch nicht vergessen, daß Seneca denselben Demetrius auch als kultivierten Mann darstellt, der sicherlich ganz weit von jenen Straßenpredigern entfernt ist, auf die man das Bild des Kynikers häufig reduziert hat. In De beneficiis (VII. Buch) spricht Seneca auch von seiner Sprachgewalt. Er beschreibt die Art und Weise, wie Demetrius spricht, und stellt ihn folgendermaßen dar: Er ist ein Mann von vollendeter Weisheit, der die Sprachgewalt besitzt, die wichtigen Gegenständen angemessen ist, und der ungekünstelt spricht, ohne ausgesuchte Worte zu verwenden. Seine Sprachgewalt verfolgt ihren eigentlichen Gegenstand mit großer Geisteskraft und läßt sich von ihrer Bewegung (ihrem impetus) führen. 12 Eine Bestimmung der nüchternen, wirkungsvollen Sprachgewalt, einer Sprachgewalt, die bis zu einem gewissen Grad zynisch ist, insofern sie auf jegliche Ausschmückung verzichtet. Es ist jedoch klar, daß diese Form der Sprachgewalt, die Seneca hier beschreibt, nichts mit dem Gekeife, der Unverfrorenheit, den Beleidigungen zu tun hat, die die Straßenprediger der Menge entgegenschleuderten. Übrigens hatte das Leben des Demetrius selbst nichts mit diesem Leben eines Volks agitators zu tun. Er ist ein Mann, der der römischen Aristokratie verbunden ist, der Berater einer ganzen
.:;,uppe von Leuten war, in der wir Thrasea Paetus oder Helvi:::~·.2S Priscus finden. Und als Thrasea Paetus zum Tode verur:~:;: oder jedenfalls vom Kaiser zum Selbstmord gezwungen wird Demetrius zugleich mit mehreren Mitgliedern derGruppe, wie z. B. Helvidius Priscus, verbannt. Er wird :::-5t dann zurückkehren können, als Vespasian im Jahre 69 die \~acht übernimmt. Aber auch hier gehört er einer oppositioGruppe an, die sich vor allem um diejenigen herum gehat, die das Prinzip eines erblichen Kaiserreichs ableh::.=I1.. Er gehört erneut der Gruppe von Helvidius Priscus an :':'I1.d wird ein zweites Mal zusammen mit den anderen Philosoin den Jahren 71-75 vertriebenY Hier haben wir den ei::::mlichen Typus eines Philosophen, der kein Hofphilosoph, :.::I1.dern ein philosophischer Berater, ein Berater der Seele und ;:"' ..)Iitischer Berater aristokratischer Gruppen ist. Er hat nichts ::".2 nm mit den Straßenrednern. .'-,-,Ti anderen Ende läßt sich der Kynismus durch eine Per,5I1.lichkeit wie Peregrinus symbolisieren, über den wir letztes gesprochen haben. Er ist ganz im Gegenteil ein Vagabund, e:n großtuerischer Vagabund, der zweifellos mit den antirömiVolksbewegungen von Alexandria verbunden war, sich .n Rom mit seinem Unterricht an die idiotai richtete (an dieje:-:':'gen, die weder Kultur noch gesellschaftlichen oder politi,:..:nen Status besitzen). Er wird aus Rom vertrieben. Anschlie:,tnd ist er wahrscheinlich Christ geworden, wenn man Lukian ~:2uben darf. 14 Dieser Peregrinus sendet sein Vermächtnis, ::;c2tschläge und Gesetze an verschiedene Städte, bevor er unter 3 edingungen stirbt, die wir gleich noch betrachten werden. Er :at die Rolle des Propheten, des Oberhaupts eines Thiasos ge,?ielt oder wollte sie spielen, sagt Lukian in dem sehr kritiPorträt, das er von ihm zeichnet. 15 Von den Menschen c;~Jrde er wie ein Kirchenfürst, ein Gesetzgeber und sogar wie ",n Gott behandelt. 16 :'\;-ichts veranschaulicht wohl besser den Gegensatz zwischen :':':esen beiden Persönlichkeiten - Peregrinus, der die Welt des ".Ettelmeers durchstreift und sich mit den verschiedenen reli-
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giösen und Volks bewegungen abgibt, und Demetrius, der in der römischen Aristokratie so gut verankert war - als ihr Verhältnis zum Tod und Selbstmord. Wir wissen nicht, wie Demetrius starb, aber wir wissen, weil Tacitus darüber berichtet,17 daß Demetrius der Berater des Selbstmords von Thrasea Paetus war. Als Thrasea Paetus sich auf Geheiß des Kaisers umbringen sollte, ist Demetrius die einzige Person, die Zugang zu ihm hat. Thrasea Paetus hat sich mit ihm eingeschlossen, und sie haben in ganz sokratischer Weise ein Gespräch über die Unsterblichkeit der Seele geführt. Es war ein typisch griechisch-römischer Selbstmord, der in der großen Tradition der antiken Kultur stand, eindeutig philosophischen Charakter hatte und zugleich völlig mit einer Praxis im Einklang stand, der man zu jener Zeit in Rom und in der römischen Aristokratie begegnete. Demgegenüber haben wir den Selbstmord von Peregrinus. Denn Peregrinus hat sich getötet, aber auf ganz andere Art. Er hat sich getötet, indem er sich bei Olympia lebendig verbrennen ließ, nachdem er - wenn man Lukian Glauben schenkt, der, wie gesagt, ein sehr kritisches Bild entwirft - diesen Selbstmord geplant und die Menschen um sich herum versammelt hat und aus seinem Tod eine Art von großem Volksfest machte. 18 Es gibt also eine ganze Gruppe sehr verschiedener Haltungen, die sich stark voneinander unterscheiden, unter dieselbe Bezeichnung des Kynismus fallen und ein äußerst breites Spektrum abdecken, und zwar sowohl im Hinblick auf gesellschaftliche Regeln als auch im Hinblick auf das politische Leben oder religiöse Traditionen. Der Kynismus stellt im Grunde Schemata von ganz verschiedenen Haltungen bereit, die die Bestimmung der oder einer kynischen Haltung par excellence erschweren. Das ist also die erste Schwierigkeit, die erste Störung, auf die wir stoßen, wenn wir den Kynismus untersuchen wollen. Der zweite Grund, der diese Untersuchung erschwert, besteht in der Doppeldeutigkeit der Haltung, die ihm gegenüber eingenommen wurde - dieser Grund ist, wenn Sie so wollen, in-
:~ressanter im Hinblick auf einen möglichen Fortschritt in der ::sentlichen Untersuchung der Eigenart des Kynismus -, vor :':;em in der Zeit seiner stärksten Entwicklung, d. h. vom :~Jahrhundert v.Chr. bis zum 3.Jahrhundert, sagen wir [gar] -;s zu Julian. Während dieser langen Zeit von vier J ahrhunder:~::: finden wir nämlich zwei Dinge, durch die die Haltung ge;~nüber dem Kynismus gekennzeichnet war. Erstens natürlich '~S.r viele und sehr heftige Anschuldigungen. Mit welchem Ei:~,::r auch immer die antiken Philosophen miteinander gestritten ~:bcn mögen, wie groß auch immer die Strenge gewesen sein mag, mit der man bestimmte philosophische Schulen bekämpft '"-:t, wie z. B. die Epikuräer, so erreicht doch keines der PhiJsophenporträts die Heftigkeit jener, die vom Kynismus ;~zeichnet wurden. Dem Kyniker wird seine Grobheit, seine :...- nwissenheit, seine Unbildung vorgeworfen. Beispielsweise ~:ben wir folgendes [Porträt, das] Lukian - offensichtlich ein 2~oßer Gegner der Philosophie im allgemeinen und des Kynis,::us im besonderen - vom Kyniker gezeichnet hat. Es steht in t:nem Dialog mit dem Titel Die entlaufenen Sklaven, in dem :::e Philosophie spricht. ~ieser Text ist interessant, und wir werden ihm zweimal wie:::~rbegegnen (ich möchte ihn jetzt als eines von zahlreichen Porträts des Kynismus zitieren, die in der Antike im Umlauf :-,-aren, und wir werden ihm später aus einem ganz bestimmten Grund wiederbegegnen). In diesem Text spricht die Philoso. und schreibt gewissermaßen ihre eigene Geschichte und ':ie der Menschen, die mit ihr Umgang hatten oder die versucht laben, die Prinzipien und Regeln des philosophischen Lebens l-::fzunehmen. In Absatz 12 der entlaufenen Sklaven sagt sie ~olgendes: »Diejenigen, über die ich mich beklage, sind ein Pack schlechter, pöbelhafter Kerle, die anstatt auf eine liberale .\rt unter meinen Augen aufgezogen worden zu seyn, entwe':er gebohrne Sklaven gewesen sind, oder um Taglohn gearbei:ct, oder sonst niedrige Handwerke getrieben, geschustert, sezimmert, Kleider gereinigt oder Wolle gestrichen hatten. -on Kindheit an mit dergleichen Dingen beschäftigt, hatten sie
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nicht einmal Gelegenheit gehabt, meinen Nahmen kennen zu lernen. Wie sie aber das männliche Alter erreicht hatten, und gewahr wurden, mit welcher Ehrerbietung meinen Freunden [d. h. den wahren Philosophen; M. E] von dem großen Haufen begegnet wird, wie gut man ihre Freymüthigkeit im Reden aufnimmt, welchen Werth die Großen selbst auf ihren Umgang und ihre Dienste legen, wie man sich ihres Rates bedient und sogar ihren Tadel schweigend und mit niedergeschlagenen Augen duldet: so stach ihnen das alles gewaltig in die Augen [.. .]. Sich auf alles das zu legen, was erfordert wird, um eine solche Rolle spielen zu können, war zwar zu weitläufig, oder vielmehr Leuten ihres Gelichters platterdings unmöglich. Bey dem Handwerke, das sie gelernt hatten, war nicht viel zu verdienen; dabei brachten sie mit aller ihrer Mühe und Arbeit kaum das Leben davon. Einige von ihnen drückte sogar die Sklavenkette, und das schien ihnen vollends ganz unerträglich zu seyn. Sie überlegen die Sache hin und her, und da sie keinen andern Ausweg sahen, warfen sie endlich, in der Schiffersprache zu reden, den Nothanker aus, und gründeten den Erfolg ihres Unternehmens - auf ihre Dummheit. Mit dieser und ihren vielvermögenden Gehülfinnen, Verwegenheit, Unwissenheit und Unverschämtheit, rückten sie nun künftig ins Feld, nachdem sie sich mit einem kräftigen Vorrath von neuen Schmährubriken und Grobheiten versehen hatten, die sie immer bey der Hand und auf der Zunge haben [.. .]. Und nun glauben sie, fehle ihnen nichts, als sich im äußerlichen Costum mir und meinen Freunden so ähnlich zu machen, als sie könnten [.. .].«19 Dieser Text ist wegen der ganzen gesellschaftlichen Landschaft interessant- darauf werde ich gleich zurückkommen -, in der der Kynismus erscheint. Man findet hier auch die Vorstellung, daß eine bestimmte Form des Kynismus nur eine Nachahmung, eine Karikatur, eine Grimasse, ein Schwindel im Verhältnis zum echten Kynismus ist. Jedenfalls haben wir hier ein Porträt der Grobheit, der Unwissenheit und der Unbildung jener, die im allgemeinen den Kynismus praktizieren. Bei Kaiser Julian, dem Autor von zwei unmittelbar gegen den
~~ynismus gerichteten Texten, finden wir ein weiteres Porträt .:.es Kynismus, das äußerst aggressiv und negativ ist: die Rede ~egen den Kyniker Herakleios und die Rede mit dem Titel Gedie ungebildeten Hunde. In Absatz 5 von Gegen den KyniHerakleios schreibt Julian: »Jetzt aber sage mir doch, bei .::c:n Musen, so viel über den Kynismus: Besteht er denn in einer --: von verzweifelter Narrheit und in einem Leben, das nicht -:-:c:hr menschlich ist, sondern auf der tierischen Verfassung ei~..=r Seele beruht, die an keinen sittlichen Ernst und an nichts '~·.::tes mehr glaubt? [...] Steht es ferner mit der Sache so, daß _:lbei jegliche fromme Scheu vor den Göttern geschwunden, =;liche menschliche Besonnenheit der Verachtung anheimge':l~len ist und alle Gesetze mit Füßen getreten werden, und Oe/ar nicht bloß die Gesetze, die sich mit dem decken, was man ?~"cht und Gerechtigkeit nennt, sondern auch diejenigen, wel..,e uns von den Göttern gleichsam ins Herz geschrieben sind, .::" Gesetze, durch die wir alle ohne weitere Belehrung die "_"berzeugung gewinnen, daß es etwas Göttliches gibt und daß unsern Blick darauf richten [... ] sollen [.. .]. Soll nun zu.::c:m auch noch das zweite Gebot verdrängt werden, dasjenige r:eine ich, welches seiner Natur nach heilig und göttlichen Ur'::n-ungs ist, das Gesetz, welches uns gebietet, uns auf jede Weiund durchaus des fremden Eigentums zu enthalten, und ["cht gestattet, weder mit Worten noch mit Taten, noch selbst .:.:rch die verborgenen Regungen unserer Seele, diese Dinge '::lfcheinander zu wirren [.. .]. Verdiente eine solche Sache r~cht den Sturz in den Abgrund ?20 Sollte man nicht die Leute, derartige Ansichten gutheißen, wie die Giftmischer, etwa mit Thyrsusstäben 21 verfolgen und verjagen [... ], s.:mdern zu Tode steinigen? Wie unterscheiden sich denn, das :.z.ge mir doch, bei den Göttern, die Leute von den Wegelager"rll in einsamen Gegenden und von den Seeräubern, welche ~ie Küsten besetzt halten, um den Landenden Schaden zu tun? ::::>urch ihre Todesverachtung, werden sie wohl sagen. Wie wenn :::cht auch jene dieser verzweifelte Wahnsinn begleitete.«22 :-Eer haben wir ein Porträt der Kyniker, das ebenfalls sehr ag-
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gressiv ist, das sich dieses Mal jedoch nicht so sehr an der heuchlerischen Nachahmung der Philosophie [entzündet], sondern an der Tatsache, daß die Kyniker sich den göttlichen Gesetzen und allen Formen des Herkömmlichen oder der gesellschaftlichen Organisation widersetzen. Das sind die beiden großen Themen, an denen man gewöhnlich die Kritik der K yniker aufhängt, aber es gäbe noch viele andere. Dennoch machen selbst die eifrigsten Gegner zugleich und gegenüber diesem großtuerischen, lärmenden, aggressiven, die Gesetze, Traditionen und Regeln ablehnenden Kynismus den Wert und die Verdienste eines anderen Kynismus geltend, der seinerseits nun gemäßigt, überlegt, gebildet, taktvoll, ehrenhaft und wirklich sittenstreng sei. Es gibt praktisch keine Kritik an den Kynikern, die nicht von einem ausgesprochen günstigen Urteil über den wahren Kynismus begleitet wird, sei es nun der ursprüngliche Kynismus, den man bei Diogenes oder Krates zu erkennen glaubt und den man in Ehren hält, oder ein eigentlicher Kynismus, den die richtigen Kyniker praktizierten, oder auch ein prinzipieller Kynismus, den man selbst ausübte. Beispielsweise zeichnet derselbe Lukian, dessen Heftigkeit gegenüber den Kynikern wir gesehen haben, entweder indem er Peregrinus direkt und persönlich (in dem Text über seinen Tod) oder indem er die Kyniker wie in den entlaufenen Sklaven insgesamt angreift, von einem gewissen Demonax, von dem wir außer durch Lukian selbst nur wenig wissen, ein äußerst positives, ausführliches und schönes Bild, das Lukian zufolge ein Bild des echten kynischen Lebens sei. In diesem Text Lukians wird Demonax als ein Mann dargestellt, der ursprünglich durch ein ihm innewohnendes Streben auf natürliche Weise zur Philosophie getrieben wurde. 23 Das war nämlich eines der wichtigen Themen des Kynismus, daß man das Streben zur Philosophie hin weder von einer Bildung noch einer Erziehung oder einem Unterricht erwarten soll. Man ist und man wird im Grunde durch die Natur zu einem Philosophen geboren. In dem offensichtlich mythischen Dialog zwischen Diogenes und Alexander, über den Dion Chrysostomos berichtet, erklärt
:';ciogenes ausdrücklich, daß man »König« im philosophischen )::::n dieses Begriffs nicht wird. Man ist es von Natur aus, weil 24 :-::lll als Sohn des Zeus geboren wurde. Demonax ist in o:csem Sinne ebenfalls eine Art von Sohn des Zeus. Er wurde o:.:rch ein angeborenes Streben auf natürliche Weise zur Philogetrieben, was jedoch nicht daran hindert, wie Lukian :,:;gleich hinzufügt, daß er ein gebildeter Mann sei. Er hat sich :::50 nicht auf dieses natürliche Streben zur Philosophie beru; =:1, um ungebildet zu bleiben. Im Gegenteil, er hat viel gelesen ~:1d viel bei den Dichtern gelernt. Er hat sich mit den Prinzip i~2 der Philosophie vertraut gemacht und hat sich übrigens daor gehütet, sich in einer partikularen Philosophie einzuschlie::'cn, sondern legte Wert darauf, die besten Bestandteile der ~crschiedenen Philosophien miteinander zu verbinden. [Lukifügt hinzu, daß Demonax diese literarische und philosoo~ische Kultur durch Übungen zur körperlichen Ausdauer erginzt hat, zwar nicht durch Leibesübungen, wie sie in der :o.ristokratischen Erziehung gemacht wurden, sondern durch "="bungen zur körperlichen Ausdauer, die es gestatten, Entbeh:"'.mgen und Leiden zu widerstehen: körperliche Übungen, die c5 erlauben, Kälte und Hunger zu widerstehen. In seinem Por:rät betont Lukian einen weiteren Zug, der deutlich zeigt, daß ö einen wahren und guten Kynismus gibt, den selbst er anzu~rkennen bereit ist. Er stellt nämlich Demonax als eine Art von ?raktiker der Wahrheit dar, einen Praktiker der Wahrheit, der scin ganzes Leben der Freiheit (eleutheria) und der parrhesia geweiht hatte und der allen das Vorbild der Selbsterkenntnis ;ab. Aber diese Sorge um die Wahrheit nimmt bei ihm, Lukian zufolge, nicht wie bei so vielen Kynikern die Form der Gewaltsamkeit, der Aggression, der Beleidigung an. 25 Als guter Arzt jer Menschen, der sich darum kümmert, ihre Seele zu heilen, habe Demonax die Sanftmut praktiziert, und er habe, obwohl ef die Reichtümer und Ehren geringschätzte, Wert darauf gelegt, sich am Leben des Staates zu beteiligen. 26 Dieses Porträt ·.::ndet mit der Beschreibung des alternden Demonax: am Rande des Todes wird er von den verschiedenen Bürgern Athens
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empfangen, aufgenommen, unterstützt und unterhalten, er wird in den Häusern empfangen und gibt jedem die notwendigen oder nützlichen Ratschläge, um entweder den Frieden und das gute Einvernehmen in den Familien oder aber den Frieden und das gute Einvernehmen im ganzen Staat zu gewährleistenP Obwohl er ein Mann der Wahrheit ist, ein Mann, der sich niemals fürchtet, die Wahrheit zu sagen - das steht fest-, ist doch dieser Demonax zugleich auch jemand, für den die Praxis der Wahrheit eine sanfte Praxis, eine heilende und therapeutische Praxis, eine Praxis des Friedens, und nicht der Beleidigungen und der Angriffe ist. 28 Sie sehen, sogar Lukian kann vom Kynismus ein positives Porträt und Bild malen. In einem Geist, der der philosophischen Sorge viel näher steht, lobt Kaiser Julian in seiner Rede Gegen den Kyniker Herakleios die wahre kynische Philosophie, die er [bei] Diogenes und Krates zu finden vorgibt, welche die echten Begründer dieses wahren Kynismus gewesen seien, dessen Vorbild heute vernachlässigt worden sei. Unter den hervorstechenden Qualitäten, die er Diogenes und Krates zuerkennt und durch die sie sich beide von dem zeitgenössischen Kynismus unterscheiden, macht Julian geltend, daß es bei ihnen keinen Unterschied, keine Abweichung, keinen Widerspruch zwischen den Handlungen und den Worten gab. So schreibt Julian beispielsweise: »Wie gestaltete sich denn aber nun ihre U nterweisung [die von Diogenes und Krates; M. E]? Ihren Worten ließen sie ihre Taten vorausgehen, sie zeigten sich selbst [Diogenes und Krates; M. E] zuerst als Verehrer der Armut und als Verächter des ererbten Reichtums [Anspielung auf die Tatsache, daß Krates alle Güter aufgegeben haben soll, die er von seiner Familie geerbt hatte; M. E]; als Gegner alles Dünkels [immer noch Krates und Diogenes; M. E] übten sie sich selbst durchgehends in der wohlfeilen Lebensweise; als Bekämpfer aller Gespreiztheit und Eitelkeit in der Lebensführung anderer schlugen sie sich selbst zuerst auf den Marktplätzen oder in den heiligen Bezirken der Götter ihren Wohnsitz auf; gegen die Schwelgerei nahmen sie eher mit ihren Taten als mit ihren Worten den Kampf auf und
. .::erten, ohne sich auf bloßes Schreien zu beschränken, durch "-c Taten den Beweis für die Wahrheit des Satzes, daß man zum Mitregenten des Zeus erheben kann, wenn man .,:!:J.rs oder doch nur ganz wenig bedarf und nicht mit körper.,:"en Belästigungen zu kämpfen hat.«29 Es gibt also einen c.:;.r:ren Kynismus, nämlich den, der sich wie bei Krates und ··~0genes in Worten, aber vor allem in Taten offenbarte. nur gibt es diesen ursprünglichen Kynismus, auf den . Julian bezieht und den er würdigt, sondern Julian, und das . interessant, macht aus dem Kynismus auch eine Art von _::;yersaler Philosophie, die sowohl für jedermann gelten als für alle zugänglich sein solle. Diese Stelle finden wir in der :-;;."citen Rede (Gegen die ungebildeten Hunde). Er sagt folgen_eS: »Ich aber will mich über die Götter und die zu einem gött.:~en Leben eingegangenen Menschen lieber in andächtiges >:~weigen hüllen. Ich glaube jedoch allerdings, daß schon vor :-.::em [er bezieht sich auf Herakles, den er gerade gemäß der ;.,.-rrischen Tradition als eigentlichen Begründer der Philoso.:·-::e und vor allem der asketischen Philosophie bestimmt hat; manche Männer, und zwar nicht bloß bei den Hellenen, "::dern auch unter den Barbaren, diese Grundsätze praktisch ~~5tätigt haben [diese kynische Philosophie, deren Kern man ..:Ean zufolge bei Krates und Diogenes findet, vor diesen bei ~erakles, und vor ihm habe es überall, bei den Hellenen oder _::: Barbaren, Männer gegeben, die sich zu dieser Philosophie -",kannten; M. E]. Denn diese Philosophie scheint eine ganz ~::gemeine und eine ganz natürliche zu sein, und nicht die ge-:::gste fachmännische Behandlung zu erheischen. Es genügt '::r zufolge vielmehr, sich einfach durch das Streben nach der ~-..:gend und die Abkehr von dem Laster zur Wahl dessen be;::mmen zu lassen, worauf ein sittlich ernstes Wollen sich rich::::, ohne daß man eine Unzahl von Büchern aufschlagen müß:.:. Die Vielwisserei trägt ja, so sagt man, nicht zur Belehrung _:5 Geistes bei. Man braucht dabei aber auch nichts von all den :derlei Dingen über sich ergehen zu lassen, denen sich die An".inger der anderen Schulen unterziehen müssen.«30
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Sie sehen also diese Darstellung des Kynismus, die sehr interessant ist, eine späte, aber sehr aufschlußreiche Darstellung. Der Kynismus erscheint hier als eine vollkommen althergebrachte Philosophie, da sie sogar über die historisch oder pseudohistorisch bestimmten Philosophen wie Diogenes oder Krates hinaus bis auf Herakles zurückgeht. Vor Herakles geht sie auf die Menschen zurück, auf alle Menschen, seien sie nun Hellenen oder Barbaren. Wir haben hier, wenn Sie so wollen, sowohl eine kulturelle Universalität als auch zugleich ein hohes Alter. Zweitens muß man keine besonderen oder speziellen Studien betreiben, um sich diese so alte und so universelle Philosophie anzueignen. Nur sehr wenige Dinge im Bereich der Erkenntnisse: Die Einübung einer Reihe von letztlich elementaren Tugenden, die jedermann erkennen und einüben kann, das genügt zur Bildung des Kerns des Kynismus. Die dritte Vorstellung: Dieses hohe Alter, diese Universalität, diese leichte Zugänglichkeit sind zugleich auch eine Art von philosophischem Synkretismus, da es genügt, aus jeder der bestehenden Philosophien einen gewissen elementaren Kern herauszuschälen, der sich auf die Einübung der Tugenden bezieht, um schließlich die kynische Existenzweise zu erreichen. Der Kynismus erscheint an diesem Punkt als das Universale der Philosophie, als ihr Universale und wohl auch als ihre Banalität. Aber Sie sehen, daß wir hier ein ganz eigenartiges Paradox haben, da der Kynismus einerseits als eine ganz besondere Existenzform beschrieben wurde, die sich am Rande der Institutionen, der Gesetze, der am meisten anerkannten gesellschaftlichen Gruppen befindet: Der Kyniker steht wirklich am Rande der Gesellschaft und bewegt sich um die Gesellschaft selbst, ohne daß man es akzeptieren könnte, ihn aufzunehmen. Der Kyniker wird verjagt, er ist heimatlos. Zugleich aber erscheint der Kynismus als der universale Kern der Philosophie. Der Kynismus befindet sich im Zentrum der Philosophie, und der Kyniker dreht sich um die Gesellschaft, ohne zu ihr zugelassen zu werden. Ein interessantes Paradox. Man gewinnt den Eindruck, daß die Leute, die sich während der Kaiserzeit, auch noch in der späten, für die
::-':Josophie interessierten, eine doppelte Haltung einnahmen. -=-:::erseits versuchten sie, eine bestimmte Form der kynischen ~-:,xis zu diskriminieren und auszumerzen. Andererseits besie sich, aus dieser kynischen Praxis oder aus anderen '~ilosophischen Praktiken einen gewissen Kern herauszuschä~::. der als Wesen und zwar als eigenstes und reines Wesen des ',"nismus selbst anerkannt wurde. :::::ese ständig erneuerte Bemühung um eine Unterscheidung '"C,'ischen einem betrügerischen und einem wahren Kynismus, :::,'ischen einem Kynismus, der vom rechten Weg abgebracht und einem wesentlichen Kern des Kynismus scheint recht einzigartig zu sein. Dennoch bleiben viele Frage::chen. Denn es ließe sich eine ähnliche Haltung gegenüber ;.-::ieren Philosophien finden. Beispielsweise hatte man gebei den Epikuräern sorgfältig die Lehre des ersten ~cisters, Epikur, von der Art und Weise unterschieden, wie :C::::e Schüler, und zwar die auf Abwege geratenen Schüler, den - ::·~kuräismus in die Praxis umsetzten. Aber im Hinblick auf .:::n Kynismus haben wir es anscheinend doch mit etwas ande":::::1 zu tun, das mir in der Geschichte der antiken Philosophie :.:nz einzigartig zu sein scheint. Denn es handelt sich nicht darum, die ursprüngliche Lehre (die des Meisters) von der " und Weise zu unterscheiden, wie sie anschließend von den ~::'lülern fehlgeleitet und vergessen wurde. Was den Kynismus :,:'Crifft, so versucht man einerseits, den Kyniker und seine Le',,:::sweise aus dem Bereich der ehrenwerten und anerkannten :::ilosophie zu vertreiben, aber man kann diese Vertreibung . vollziehen, ohne gleichzeitig auf einen universell gültigen , :;nismus Bezug zu nehmen und ohne sich selbst als Kyniker _::d als Vertreter des wahren Kynismus zu behaupten. Die Kri,:;,;. des Kynismus findet immer im Namen eines eigentlichen ~~:;nismus statt. Sie wissen schließlich wohl, daß diese Art von '::rfahren oft wiederholt wurde, auch wenn es in der Antike ::emlich einzigartig war. Sie kennen oder kannten zumindest ::, Laufe der letzten Jahre dasselbe Phänomen, als die Kritik _::5 Sozialismus nur im Namen des Sozialismus, eines eigentli-
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Philosophie durch eine Art von politischem und gesell:::aftlichem Ehrgeiz: Als sie die Achtung sahen, die die wah"~::1 Schüler der wahren Philosophie umgab, als sie sahen, wie 3.::5e Philosophen empfangen wurden, wie man ihre Offenheit :::ldete, wie man ihre Freundschaft suchte, wie man ihren Rat.::Jägen zuhörte, entschlossen sich diese Leute, die in Wirk::,keit einfache Schuhmacher, Schreiner, Walker und Woll·:L'1lmer waren, Philosophen zu werden oder vielmehr diese :2ttung, den Stil des philosophischen Lebens nachzuahmen. =:;5 ist ein ziemlich klares Zeugnis für die Art und Weise, wie :,2n den volkstümlichen Charakter des Kynismus kritisch
chen Sozialismus geschehen konnte. Jedenfalls haben wir diese recht einzigartige Form der Bearbeitung einer Vorstellung. Der dritte Grund, der die Untersuchung des antiken Kynismus schwierig und einzigartig macht, besteht darin, daß die kynische Tradition überhaupt keine oder äußerst wenig Texte aufweist. Wir können jedenfalls sagen, daß das Lehrgerüst des Kynismus völlig rudimentär gewesen zu sein scheint. Dieser rudimentäre Charakter muß offenbar mit der volkstümlichen Form dieser Philosophie verbunden sein. Im Hinblick auf diese Verbindung zwischen dem rudimentären Charakter der Theorie und der volkstümlichen Form der Philosophie braucht man sich nicht die Frage zu stellen, ob diese Philosophie in ihrer Lehre deshalb so einfach war, weil sie volkstümlich war, oder ob umgekehrt die theoretische Derbheit des Kynismus aus ihr eine volkstümliche Philosophie gemacht und ihre recht breite gesellschaftliche Verankerung ermöglicht hat. Jedenfalls steht folgendes fest: Der Kynismus war eine Philosophie, die einerseits eine große gesellschaftliche Verbreitung und andererseits ein schmales, beschränktes und elementares theoretisches Gerüst hatte. Noch einige Worte zu diesen beiden Aspekten des Kynismus. Der erste, nämlich der volkstümliche Charakter dieser Philosophie, wird von zahlreichen Zeugnissen bestätigt. Wir wissen, daß sie sich durch ihre Reden und Einwürfe an eine breite Öffentlichkeit wandte, die folglich wenig gebildet war, und die Rekrutierung ihrer Vertreter fand außerhalb der kultivierten Eliten statt, die gewöhnlich die Philosophie praktizierten. Sie haben die [Erzählung] Lukians gehört, ein Auszug aus den Entlaufenen Sklaven, wo die Philosophie die Geburt des K ynismus erzählt: Darin wird gesagt, daß die Leute, die sich dem Kynismus verschrieben haben, von Kindheit an mit grobschlächtigen Arbeiten betraut waren, daß sie gezwungen waren, ihren Lohn zu verdienen und Berufe auszuüben, die ihrer Stellung entsprachen. Es handelte sich - und in diesem Punkt ist Lukian äußerst präzise - um Schuhmacher, Schreiner, Walker und Wollkämmer. Er erklärt das Interesse dieser Leute an
:,:en Charakter des Kynismus gibt es noch einen anderen in:::::essanten Text. Bei Dion Chrysostomos (Rede 32)31 finden eine Beschreibung, die historisch viel zuverlässiger ist als :::e Satire Lukians. Es handelt sich um eine Rede, die Dion :=hrysostomos an die Einwohner Alexandrias gerichtet hat, _:t1 ihnen den Vorwurf zu machen, daß sie nicht [auf die Wahr.":"ir hören] - ein Bezug auf das Unglück Athens, als die Athe:".::2" sich als unfähig erwiesen, auf die Wahrheiten zu hören, die -::2.n ihnen sagte. An die Einwohner von Alexandria hält Dion :=hrysostomos (2. Jahrhundert n. Chr.) eine Ansprache, in der :::: sagt: Auch ihr hört nicht auf die Wahrheit. Aber ihr hört be;:immt aus einem wichtigen Grund nicht auf die Wahrheit, der z2.rin besteht, daß man euch diese Wahrheit nicht sagt. Man .z:.g[ sie euch nicht, weil diejenigen, die sie sagen könnten oder sollten, ihre Aufgabe nicht ordentlich erfüllen. Dann unterscheidet er drei Kategorien von Philosophen - wir würden .-.elite wohl sagen, drei Kategorien von Intellektuellen. Es gibt :mellektuelle oder Philosophen, die schweigen, und zwar desweil sie denken, daß die Menge nicht überzeugt werden ,·::mn und daß man vor ihr und für sie vergeblich die zwingends:en Argumente verwendet. Sie wird niemals in der Lage sein zu verstehen. Daher ziehen sich diese in ihr Haus zurück und :,chweigen. Die zweite Kategorie von Philosophen besteht aus
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~:.·2hrnahm.
.~ Hinblick auf diese Rekrutierung und diesen volkstümli-
denjenigen, die ihre Äußerungen auf die Klassen- und Vorlesungsräume für ein ausgewähltes Publikum beschränken und die es ablehnen, der Öffentlichkeit im allgemeinen entgegenzutreten und sich an den Staat als solchen zu wenden. Dann gibt es eine dritte Kategorie von Philosophen, die er nun mit Namen nennt (er sagt nicht, wer die ersten beiden sind): nämlich die Kyniker. Er beschreibt diese Kyniker, wie sie an Straßenecken, in den Alleen, an den Toren des Tempels stehen und die Holzschale ausstrecken, betteln und dann die Gutgläubigkeit der Kinder, der Matrosen und derartiger Leute ausnutzen, indem sie ihre derben Possen aneinanderreihen und auf diese Weise, so Dion Chrysostomos weiter, das größte Unrecht an der wahren Philosophie begehen, denn sie machen die Philosophie lächerlich (genau wie man den ganzen Unterricht verderben kann, wenn man es so anstellt, daß die Kinder über ihren Lehrer lachen). Auch hier haben wir ein Porträt des Kynismus und der kynischen Praxis als volkstümlicher Praxis, deren Bühne ganz konkrete und besondere Orte sind: die Straßen, die Tore, der Tempel. Der Kyniker bettelt. Und an wen wendet er sich? Wen überzeugt er? Was ist sein Publikum? Wer sind die Leute, deren Zustimmung er gewinnt? Es sind Kinder, Matrosen, derartige Leute. Der Kynismus scheint also wirklich, zumindest in vielen seiner Aspekte, eine volkstümliche Philosophie gewesen zu sein. Und insofern ist seine theoretische Armut verständlich. Aber außerdem und im Zusammenhang damit gab es innerhalb der kynischen Lehre selbst eine gewisse Rechtfertigung für diese theoretische Armut und für die Dürftigkeit und Banalität dieser Lehre; die beiden Aspekte (Dürftigkeit der Lehre und volkstümliche Rekrutierung) verweisen aufeinander [durch] eine Art von zirkulärer Induktion. Daß die Philosophie ein beschränktes, dürftiges, schematisches Lehrgerüst haben soll, nicht nur haben kann, sondern haben soll, behaupteten die Kyniker aus einer Reihe von Gründen, Gründe, die die eigentliche Vorstellung davon berühren, die sie sich vom philosophischen Leben und von der Beziehung
die zwischen der philosophischen Lehre und dem : :cilosophischen Leben bestand. Denn für die Kyniker hatte ::::: philosophische Lehre nicht wesentlich den Zweck, Er,::::J:ltnisse weiterzugeben, sondern vor allem und in erster Li,::: den Personen, die man erzog, ein sowohl intellektuelles als 2_:h moralisches Training angedeihen zu lassen. Es ging dar_::1, sie für das Leben zu wappnen, damit sie so den Ereignissen :,-:::.§;egentreten konnten. Für diese Vorstellung der Lehre als . '~:mittlung eines Rüstzeugs fürs Leben, und nicht als Gesamtvon Erkenntnissen, gibt Diogenes Laertius ein Beispiel, :'::m er die Art und Weise erläutert, wie Diogenes, der Kyniden Unterricht aufgefaßt hat, den er den Kindern des Xe::.::..des erteilen sollte. Diogenes wurde also von Xeniades als 5,::aye gekauft. Er hatte Xeniades, der ihn fragte »Ich will dich kaufen, aber was kannst du denn ?« geantwortet: Ich ".3.::11 befehlen. 32 Und auf diese parrhesiastische Antwort hatte \:eniades erwidert: Nun gut, dann wirst du meine Kinder er::ehen. Diogenes Laertius erzählt die Legende der Erziehung ::.~: Kinder des Xeniades durch Diogenes. Worin besteht nun ::.;eser Unterricht? Der Text beginnt damit, daß Diogenes, der ::niker, den Kindern des Xeniades alle Wissenschaften ge:ehrt hatte. Wir würden annehmen, daß das auf eine Erziehung :::zyklopädischer Art hinweist, wie man sie auch bei anderen :: hilosophischen Schulen, insbesondere bei den Platonikern 3d den Stoikern finden konnte. Aber sogleich fügt Diogenes ::"3.enius hinzu: Alle diese Wissenschaften hatte Diogenes die ~~inder des Xeniades in Form von Zusammenfassungen und ,"cbrissen gelehrt, so daß sie sie leichter behalten konnten. 33 Die issenschaften werden also nicht in ihrem ganzen Umfang, ;.·:·ndern in ihren wesentlichen Prinzipien gelehrt, die notwen::g und hinreichend dafür sind, daß man anständig leben kann. :)ieser Unterricht wurde durch ein umfangreiches Ausdauer::aining vervollständigt. Die Kinder des Xeniades sollten in der ::".age sein, sich selbst zu bedienen, d. h. ohne [auf] Diener und S~aven zurückzugreifen. Es ging also um ein Erlernen von ::..-nabhängigkeit. Er hatte sie gelehrt, immer nur ganz einfache
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Kleidung zu tragen, ohne Tunika und ohne Schuhe. Er hatte sie auch jagen gelehrt - offenbar ein Hinweis auf den Unterricht der Spartaner -, was die Menschen gerade in die Lage versetzt, ganz alleine zurechtzukommen, unabhängig zu sein, die Autarkie zu praktizieren. Was man auf der Jagd erbeutet und tötet, davon ernährt man sich. Er hatte sie auch eine Körperhaltung gelehrt, eine äußerst strenge körperliche Haltung. Sie durften nicht auf der Straße spazierengehen, ohne die Augen niederzuschlagen, und sie durften niemanden ansprechen. Diese Art von Lernen, das Erlernen von Ausdauer, von Kampf, das Lernen in Form eines Rüstzeugs für das Leben kennzeichnet die kynische Lehre. Übrigens hatten die Kyniker, wenn man Diogenes Laertius Glauben schenkt, die Logik und die Physik aus dem Bereich der Philosophie verbannt. Nur die Ethik betrachteten sie als wahrhaft philosophische Disziplin. 34 Von den Dingen, die sie lehrten, hatten sie auch die Geometrie und die Musik ausgenommen. Diogenes Laertius zitiert eine Äußerung von Diogenes, dem Kyniker, der jemandem, der ihn Musik lehren wollte, mit folgenden beiden Versen antwortete: »Der Männer Einsicht schafft dem Staat das Wohlergehen und auch dem Haus, nicht Zither- oder Flötenspiel.«35 Für diese Auffassung des kynischen Unterrichts als Bildung und Rüstzeug für das Leben findet man die Theorie oder zumindest die theoretische Entwicklung in einem wichtigen Text Senecas. Am Anfang des VII. Buchs von Über die Wohltaten berichtet Seneca, auf welche Weise Demetrius den Unterricht in den Wissenschaften verstand. Verzeihen Sie, daß ich Ihnen das in einer schlechten Übersetzung vorlese, da die Bibliothek geschlossen war, aber das ist nicht weiter schlimm: »Hervorragend nämlich konnte das der Kyniker Demetrius sagen, ein meiner Meinung nach bedeutender Mann, auch wenn man ihn mit den bedeutendsten vergleicht: es pflegt mehr zu nutzen, wenn du wenige Vorschriften der Weisheit einhältst, sie dir aber gegenwärtig sind und zur Verfügung stehen, als wenn du zwar viel gelernt hast, du es aber nicht zur Hand hast. >Wie<, heißt es, >ein großer Ringer ist nicht, wer alle Gänge und Hal-
gelernt hat, deren Gebrauch im Wettkampf selten ist, ::ldern wer sich in den einen oder anderen gut und sorgfältig ·':::.iniert hat und aufmerksam auf Gelegenheiten für sie achtet ~":;:ht nämlich kommt es darauf an, wieviel er weiß, wenn er . :c,'iel weiß, wie für einen Sieg genügt, so erfreut bei dieser Be:::äftigung viel, wenig führt zur besseren Einsicht.«< Der Un::-:-icht ist also im wesentlichen ein Unterricht des Kampfes, '::.::" lehren soll, was für den Kampf notwendig und unverzicht: 2:" ist, um den Sieg zu erringen. Anschließend zeigt Demetrider von Seneca zitiert wird, wie das, was in der Natur <.:),wer zu erkennen ist, im Grunde nur darum verborgen ist, seine Kenntnis für das Leben nutzlos ist. Beispielsweise ist unnütz zu wissen, wie Stürme entstehen oder warum es Z"'illinge gibt. Diese Dinge wissen wir nicht, und sie würden schwer zu erkennen sein. Sie sind verborgen, weil sie zu ~:;:hts dienen. Dagegen steht all das, was für das Leben notc.'cndig ist, was für jenen Kampf notwendig ist, in dem das ky-:;;;:he Leben bestehen soll, jedermann zur Verfügung. Die Na:::.:r hat die vertrautesten und die offensichtlichsten Dinge so .:::::::. uns herum angeordnet, damit wir sie lernen und uns ihrer ::dienen können. Die kynische Lehre ist eine einfache Lehre, ~::1e praktische Lehre. Sie ist eine Lehre, von der die Kyniker sagen, daß sie in einer Abkürzung, in einem kurzen Weg =:"steht. Daß die kynische Lehre eine Abkürzung des Wegs zur ,:.2gend ist, ein kurzer Weg (syntomos odos), wird sehr oft wie.:::rholt. An dieser charakteristischen Stelle des Kynismus wird .::;eser in der Bestimmung, die die Souda von ihm gibt, als der ';'J.2rze Weg zur Tugend [dargestelltJ,36 :;;ese Vorstellung eines kurzen Wegs zur Tugend, der den lan;::1 und theoretischen Unterricht kurzschließt, ist interessant. :::.rstens weil sie sich in die lange Geschichte einreiht, die man über diese Figur schreiben könnte, welche im philoso~hischen Denken und der Spiritualität des Abendlands so häu"\: vorkommt: die Figur der zwei Wege. Man begegnet dieser ?:gur äußerst häufig; man kann sagen, daß sie eine Konstante Die Unterscheidung zwischen den beiden Wegen taucht
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beispielsweise im Lehrgedicht des Parmenides auf. Der erste Weg sagt, daß das Sein ist, und dieser Weg ist der Weg der Gewißheit, denn er begleitet die Wahrheit. Der andere Weg sagt, daß das Sein nicht ist. Dieser Weg, sagt Parmenides, ist der schmale Weg, auf dem man nichts lernen kann. 37 Sie finden auch ein Bild der zwei Wege mit einer anderen Bedeutung in der mythischen Erzählung von Prodikos im Ir. Buch der Erinnerungen Xenophons. Prodikos erzählte, daß Herakles sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an der Kreuzung zweier Wege befand: der mühsame und schwierige Weg der Strenge, der jedoch schließlich zum wahren und stabilen Glück führt; und dann der leichte Weg, der Weg der Ausschweifung, der endlosen Lüste, auf dem man niemals ein stabiles und endgültiges Glück erreicht, da die Lüste ständig verschwinden, mit Leiden vermischt sind und erneuert werden müssen. 38 Dieses Thema der beiden Wege findet man in der Antike sehr oft, aber auch ganz am Anfang des Christentums. Der Text, der für das Urchristentum so charakteristisch ist, nämlich die Didache, führt ebenfalls auf die Unterscheidung der beiden Wege, aber es handelt sich weder um die zwei Wege des Parmenides noch des Herakles oder des Prodikos, sondern um den Weg des Lebens und den Weg des Todes. Der Text beginnt folgendermaßen: »Zwei Wege gibt es, einen des Lebens und einen des Todes; der Unterschied zwischen den beiden Wegen aber ist groß.«39 Die Kyniker hatten ebenfalls eine Vorstellung von den beiden Wegen, aber sie gleicht weder der Vorstellung von Parmenides noch der von Prodikos, noch wohlgemerkt der zukünftigen Unterscheidung, die man im Urchristentum findet. Es gibt zwei Wege, einen langen, relativ leichten, der nicht viel Anstrengung erfordert. Das ist der Weg, auf dem man durch den logos zur Tugend gelangt, d. h. durch die Reden und ihre Einübung (Einü bung von Lehren in der Schule). Außerdem gibt es den kurzen Weg, der schwierig und steil ist und der geradewegs zum Gipfel führt um den Preis vieler Hindernisse. Er ist gewissermaßen stumm. Jedenfalls ist es der Weg der Übung, der askesis, der Praktiken der Entsagung und des Durchhaltevermö-
Auf diese Unterscheidung der beiden Wege beziehen sich ,iele kynische Texte. Man findet eine Anspielung darauf bei ::::Piogenes Laertius im Absatz I04 über das Leben von Dioge::::5, dem Kyniker. Man findet auch einen Bezug in Plutarchs :Jdog über die Liebe. 40 Außerdem gibt es eine ziemlich lange 3öchreibung in einem Pseudobrief von Krates, einem offensichtlich apokryphen Text. Krates war der erste Schüler von ::::Piogenes, und man hat offenbar im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung eine Reihe apokrypher Schriften von Diogenes :der Krates in Umlauf gebracht. Diese Texte sind natürlich ::icht charakteristisch für das, was Krates und Diogenes gesagt :
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sehr einer theoretischen, dogmatischen Lehre, sondern vor allem der Vorbilder, Erzählungen, Anekdoten, Beispiele. Diese Beispiele, Anekdoten und Erzählungen werden entweder ganz bestimmten historischen Figuren oder den Gründungsvätern zugeschrieben - wie Krates oder Diogenes, die ganz gewiß existiert haben, deren historische Realität jedoch anschließend von völlig fiktiven Erzählelementen verdeckt wurde, so daß es sehr schwierig ist, den eigentlichen Kern ihrer Lehre wiederzugewinnen - oder sogar völlig sagenhaften und mythischen Gestalten wie Herakles. Sie verstehen also, daß es sehr schwierig ist, aufgrund dieser Weitergabe von Lebensschemata durch Beispiele und Anekdoten sowohl das Wesen der kynischen Lehre zu erkennen als auch die eigentliche Geschichte des K ynismus und die Verkettung der historischen Gestalten, die ihn verkündet haben. Aber trotz dieser Ungewißheiten bezüglich der Geschichte des Kynismus und der Wirklichkeit seiner Lehre scheint mir, daß [in] dieser Art und Weise, wie die kynische Lehre durch Beispiele und Anekdoten weitergegeben wurde, diese Lehre einen Modus der Überlieferung gefunden und vorgegeben hat, der interessant ist und wichtig war. Diese Überlieferung der kynischen Lehre, die sich durch Verhaltensvorbilder und Grundformen von Haltungen vollzog, nahm also entweder die Gestalt kurzer Anekdoten an, die man chreiai nannte und die in wenigen Worten über eine Geste, eine Replik, eine Haltung eines Kynikers in einer bestimmten Situation berichteten, oder die Gestalt von apomnemoneumata (Erinnerungen),42 längere Erzählungen, in denen eine ganze Episode des kynischen Lebens erzählt wurde; es gab auch Scherze, Anekdoten, die paignia genannt wurden, Anekdoten, die zum Lachen anregten (paizein) und eine Art von chreiai, die aber ulkig und ironisch waren. 43 Diese Form der Weitergabe von Verhaltensschemata durch exemplarische Anekdoten hat eine Überlieferung begründet, die von der Überlieferung der Lehre sehr verschieden war. Worin besteht denn die Überlieferung der Lehre? Nun, in der Antike bestand sie darin, einen vergessenen und verkannten Kernge-
zu reaktualisieren, und zwar um ihn durch die Reakzum Ausgangspunkt und Prinzip der Autorität ei~.tS Gedankens zu machen, der sich in einem sowohl variablen 2~S auch komplexen Verhältnis der Identität und Verschiedene::;r zum ursprünglichen Gedanken befindet. Diese Überliefe-~ng des Unterrichts und der Lehre war offensichtlich für die eitergabe philosophischer Lehren wie beispielsweise des Pla:~·nismus und des Aristotelismus sehr wichtig - für den StoiJ.:s:nus bis zu einem gewissen Grad, viel weniger schon für den ::?ikuräismus und fast überhaupt nicht für den Kynismus. =).:meben hat der Kynismus - und man muß sagen, bis zu einem i:cwissen Grad auch der Epikuräismus - etwas praktiziert, was -:·.2n nicht eine Überlieferung der Lehre, sondern eine Überlie::::ung der Lebensweise nennen könnte. Die Überlieferung der ~,,::bensweise setzt sich zum Ziel, nicht einen ursprünglichen ~~=rngedanken zu re aktualisieren, sondern Elemente und Epi::den des Lebens verschiedener Personen in Erinnerung zu ru:~:1 - des Lebens von jemandem, der wirklich existiert hat oder _e:: in Form eines Mythos existiert hat, ohne daß dieser Unterim Grunde eine Rolle spielte - Elemente und Episoden, .:::e es dann nachzuahmen galt, denen man neues Leben einhau_::en sollte, nicht weil sie wie bei der Überlieferung der Lehre - Vergessenheit geraten wären, sondern weil wir jetzt und -.Eute nicht mehr auf der Höhe dieser Beispiele seien, weil :.::.::ch Verfall, Schwäche und Dekadenz diese Möglichkeit ver:renging. Schematisch können wir sagen, daß die Überliefe-~f!.g der Lehre gestattet, einen Sinn über das Vergessen hinaus l~irechtzuerhalten oder zu bewahren. Die Überlieferung der ~ebensweise ermöglicht dagegen, die Kraft eines Verhaltens _Jer eine moralische Schwäche hinaus wiederherzustellen. ~iese Überlieferung der Lebensweise, die sich so sehr von der ·~·:Jerlieferung der Lehre unterscheidet, war ohne Zweifel bei -::ehreren philosophischen Sekten von Bedeutung - und bis zu ,:::em gewissen Grad sogar bei allen philosophischen Sekten-, :2;:,r die Art und Weise, wie sie sich mit der Überlieferung der ~ehre verbindet, ist nicht dieselbe. Es ist klar, daß die Überlie-
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:,~alisierung
ferung der Lehre im Platonismus oder Aristotelismus der wesentliche Teil war und daß die Überlieferung der Lebensweise durch die Weitergabe von Lebensbeispielen nur eine sehr begrenzte Rolle gespielt hat. Im Stoizismus und im Epikuräismus war die Kombination von Überlieferung der Lehre und Überlieferung der Lebensweise ausgeglichener, entweder hatte die Überlieferung der Lehre oder die Überlieferung der Lebensweise ein etwas größeres Gewicht. Aber im Fall der kynischen Überlieferung überwog die Überlieferung der Lebensweise bei weitem und entwertete die Überlieferung der Lehre nahezu vollständig oder ließ sie nutzlos werden. Durch die Überlieferung der Lebensweise erscheint - das ist bei den Kynikern ganz klar, viel stärker als bei jeder anderen Form von Philosophie, viel stärker sogar als beim Epikuräismus oder beim Stoizismus - jene so bedeutende Gestalt des philosophischen Helden. Der philosophische Held unterscheidet sich vom Weisen, vom traditionellen Weisen, vom Weisen der Hochantike, vom Weisen, wie er bei Solon oder Heraklit in Erscheinung trat. Der philosophische Held ist nicht mehr der Weise, aber er ist auch noch nicht der Heilige oder der Asket des Christentums. Zwischen dem Weisen der Urtradition - dem göttlichen Menschen - und dem Asketen der letzten Jahrhunderte der Antike, repräsentiert der philosophische Held [eine gewisse] Lebensweise, die gerade zu jener Zeit, in der sie sich herausbildete und in der [dieses] Vorbild verbreitet wurde, von großer Bedeutung war, insofern diese Gestalt des philosophischen Helden eine Reihe von Lebensweisen geformt und eine Art von praktischer Matrix für die philosophische Haltung repräsentiert hat. Sie verstehen nun, warum der Kynismus diese Rolle gespielt hat, die man bei Julian so deutlich erkennt, nämlich zum Wesen und zum Gemeinplatz jeder möglichen Philosophie zu werden. Es war gerade die Form des philosophischen Heldentums in seinem zugleich allgemeinsten, elementarsten, aber auch anspruchsvollsten Aspekt. Der Kynismus als Wesen des philosophischen Heldentums hat die gesamte Antike durchzogen und
aus dem Kynismus, was auch immer seine theoretische sein mochte, ein bedeutendes Ereignis in der ::5chichte nicht nur der Lebensformen, sondern auch des _ ::::kens. Das philosophische Heldentum, das philosophische _.~:-cn als heldenhaftes Leben wurde durch diese kynische Tra_-::on verankert und weitergegeben. - gleichen Zeit, da der Kynismus nun dieses Bild des philoo:-nischen Helden gestaltet hatte, da er dessen Vorzüge gelmachte, hatte er gerade dadurch einen beträchtlichen Einauf das, was sich [in Form einer] christlichen Askese .'-:T,-ickeln sollte, die in diesem [Vorbild] des Heldentums zu :::;"rn nicht unbeträchtlichen Teil verwurzelt war. Dieses phisophische Heldentum stellte so etwas wie eine philosophi:::e Legendensammlung dar, die das philosophische Leben ._2St auf eine bestimmte Weise, die man sich im Abendland ; _dachte und praktizierte, und zwar bis heute, geformt hat. . -0:1 hier aus läßt sich die Vorstellung einer Geschichte der Phibegreifen, die etwas anders als diejenige sein könnte, _. _e man heutzutage traditionellerweise lehrt, eine Geschichte _cO: Philosophie, die keine Geschichte der philosophischen _o.:::ren wäre, sondern [der] Lebensformen, -weisen und -stile, Geschichte des philosophischen Lebens als philosophi::",C$ Problem, aber auch als Seinsweise und als Form der .:::':::ik und des Heldentums zugleich. -.- ::ürlich würde diese Geschichte der Philosophie als Ethik .:"_.:: Heldentum ab dem Zeitpunkt, der Ihnen wohlbekannt ist, .:m Ende kommen, da die Philosophie zum Beruf eines ~ -·ofcssors geworden ist, d. h. zu Beginn des 19· Jahrhunderts. ·cf schließlich muß man doch bemerken, daß der Zeitpunkt, .: dem die Philosophie zum Beruf eines Professors wird und . _ dem folglich das philosophische Leben, die philosophische das philosophische Heldentum, die philosophische :.. e;endensammlung keine Existenzberechtigung mehr haben .:".2 die Philosophie nur noch als eine historische Gesamtheit Lehren aufgenommen wird, auch derjenige Zeitpunkt ist, . _ dem die Legende vom philosophischen Leben seine höchste
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und letzte literarische Gestalt erhält. Es handelt sich selbstverständlich um Goethes Faust. 44 Goethes Faust scheint mir - zumindest kann man ihn so deuten - das letzte große Bild, aber auch die größte Formulierung der philosophischen Legendensammlung zu sein im Hinblick auf ihre Entstehung, ihre legendäre Entwicklung und ihre jahrhundertelange Sedimentierung in unserem Abendland. Goethes Faust ist jene letzte Formulierung der philosophischen Legendensammlung. Die Philosophie wird zu einem Beruf von Professoren, zu diesem Zeitpunkt verschwindet das philosophische Leben. Zumindest wenn man diese Geschichte des philosophischen Lebens, des philosophischen Heldentums gerade zur selben Zeit in anderer, verschobener Form nicht wieder anfangen lassen will. Das philosophische Heldentum, die philosophische Ethik werden keinen Platz mehr in der eigentlichen Praxis der Philosophie finden, die zu einem Lehrberuf geworden ist, sondern in jener anderen, verschobenen und gewandelten Form des philosophischen Lebens, [nämlich] im Bereich der Politik: im revolutionären Leben: Exit Faust, Auftritt des Revolutionärs. Das war's. Es hat etwas lange gedauert. Nachher kehren wir zum Problem des historischen Kynismus und zur Frage des wahren Lebens bei den Kynikern zurück.
Anmerkungen Gregor von Nazianz, Predigt 25, vgl. oben, Vorlesung vom 29. Februar, erste Stunde, S. 227-229. 2 H. Niehues-Pröbsting, Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus, München 1979. 3 Ebd., S.228-231. 4 Ebd., S. 245-25°. 5 Ebd., S. 25°-278. 6 L. Stein, Friedrich Nietzsches Weltanschauung und ihre Gefahren, Berlin 18 93. 7 Das Buch enthält nichts zu Sade, geht aber auf Rameaus Neffe ein (ebd., S·3 6-4 I ). 8 A. Glucksmann, Cynisme et Passion, Paris 1981, dt.: Vom Eros des Westens: eine Philosophie, Frankfurt/M. 1991. I
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;,·Unser Demetrius (Demetrius autem noster) aber lebt nicht, als ver.:chte er alles, sondern als habe er es anderen zum Besitze überlassen« Seneca, Briefe an Lucilius, in: Philosophische Schriften, UI. Bd., Brief 62,3, übers., mit Einleitungen und Anmerkungen versehen v. O. Apelt, ::"eipzig 1924, S. 222). :·Den trefflichen Demerrius habe ich gern an meiner Seite, die Unter:,altung mit ihm, dem Halbnackten (illo seminudo), ziehe ich jeder Gesellschaft von Herren, die von Purpur strotzen, vor, ich bewundere :hn« (ebd., S.22rf.). ·Als ihm daher Kaiser Gaius (Caligula) 200000 Sesterzen schenkte, '7iies er es lachend zurück, in der Meinung, diese Summe sei es nicht einmal wert, sich dessen zu rühmen, daß man sie nicht entgegen genomTEen habe« [.. .]. "Wenn er mich in Versuchung zu führen beschlossen hätte, hätte er mich mit seiner gesamten Herrschaft auf die Probe stel.en müssen« (Seneca, Über die Wohltaten, VII, XI, I, in: L. Annaeus Se::eca, Philosophische Schriften, Bd. 5, hg. v. M. Rosenbach, Darmstadt : 939, S. 55 I). einen Mann von vollkommener, mag er es selbst abstreiten, Weis::eit und unbeirrbarer Beständigkeit bei den Zielen, die er sich setzte, iabei von einer Beredsamkeit, die besonders kraftvollen Themen zuSIeht, nicht zurechtgemacht noch in der Wortwahl erregt, sondern mit ;ewaltigem Geist, wie es der Gedankenflug mit sich bringt (impetus tuihre Aussagen verfolgend« (ebd., VII, VIII, 2, S. 545). zu dieser Geschichte Dion Cassius, Römische Geschichte, Buch 65, v. O. Veh, Zürich u. München 1987, S. 153 und die Annalen von Tacitus (XIV. Buch), sowie ihre erste Erwähnung bei Foucault im Jahr :9 82 (L'Hermeneutique du sujet, a.a.O., S. 137-138 und 143, Anm.42; it.: S. 184-186 und 191-192) . .:. Das Lebensende des Peregrinus, § I I, in: Lukian, Sämtliche Werke, nach ier Übers. v. C. M. Wieland bearb. u. ergänzt v. H. Floerke, München :.;nd Leipzig 191 I, S. 366. : Der Thiasos ist eine Gruppe von Gläubigen, die lautstark ihre Gött,:chkeit ehren (der Begriff wird vor allem verwendet, um auf dionysische Kreise Bezug zu nehmen). Lukian bezeichnet Peregrinus als einen Thiasarchen« (ebd.). Ebd. - Tacitus, Annalen, XVI, 34-35, übers. und er!. v. E. Heller, Zürich und :\fünchen 1982, S.497-498. ::"ukian, Das Lebensende des Peregrinus, a. a. 0., § 20-39, S. 378-39I. Die entlaufenen Sklaven, in: Lucians von Samosata sämtliche Werke, 3. Teil, § 12-13, a. a. 0., S. 124-126. _: Ein tiefer Abgrund auf Attika, in den man gewöhnlich die Verbrecher ninabstürzte. _: Ein mit Weinreben und Efeu umrankter Stab, an dessen Ende sich ein Tannenzapfen befindet. Der Thyrsus ist das traditionelle Attribut von Dionysos und den Mänaden.
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22 Julian (der Kaiser), Gegen den Kyniker Herakleios, 209b-2loa, in: Kaiser Julians philosophische Werke, übers. und erklärt v. R. Asmus, Leipzig 1908, § 5, S. 92 f. 23 Demonax, in: Lucians von Samosata sämtliche Werke, 3. Teil, a.a.O., S.229· 24 Dion Chrysostomos, IV. Rede: Über die Herrschaft, in: Sämtliche Reden, übers. v. W. Eiliger, Zürich und Stuttgart 1967, § 2l-23, S. 69f. 25 Lukian, Demonax, a. a. 0., § 7, S. 23l. 26 Ebd., § 3 (>,diese Gleichgültigkeit gegen alles, was die gewöhnlichen Menschen am höchsten schätzen«) und § 7, S. 229-23l. 27 »Demonax brachte sein Leben nahe an hundert Jahre, ohne Krankheit, ohne Schmerz, ohne jemals einem Menschen überlästig zu sein, oder etwas von jemand zu begehren; seinen Freunden nützlich, und mit dem seltnen Glücke, in seinem ganzen Leben keinen Feind gehabt zu haben. Die Liebe, die er sich zu Athen und im ganzen Griechenlande erworben hatte, ging so weit, daß, wenn er öffentlich erschien, die vornehmsten vor ihm aufstanden, und eine allgemeine Stille erfolgte. In seinen letzten Jahren, und da er die höchste Stufe des gewöhnlichen Menschenalters schon überschritten hatte, aß und schlief er uneingeladen in welchem Hause es ihm beliebte, und die Bewohner betrachteten es wie die Erscheinung eines guten Genius, der ihnen Segen in ihr Haus brächte. Ging er bei den Brodthändlerinnen vorbey, so zogen sie ihn in die Wette zu sich, und bathen ihn, ein Brod von ihnen anzunehmen, und diejenige, der er den Vorrang gab, glaubte, daß es ihr Glück bedeute. Sogar die Kinder brachten ihm Früchte und nannten ihn Vater« (ebd., §63, S.253-254). 28 »Nie sah man ihn jemals in ein Geschrey ausbrechen oder mit Heftigkeit gestikulieren, oder in Zorn gerathen, auch dann nicht, wenn er genöthigt war, Verweise [zu] geben; sondern wenn er Fehler bestrafte, so geschah es immer mit Schonung des Fehlenden. Man müßte es, sagte er, in solchen Fällen machen wie die Aerzte und die Krankheit heilen, ohne sich über den Kranken zu ereifern [... ]« (ebd., § 7, S. 2 3l). 29 Julian (der Kaiser), Gegen den Kyniker Herakleios, 2qb-c, a. a. 0., § 9, S·9 8. 30 Julian (der Kaiser), Gegen die ungebildeten Hunde, l87C-d, in: Kaiser Julians philosophische Werke, a. a. 0., S. 59. 3 I Dion Chrysostomos, Sämtliche Reden, eingel., übers. u. erläutert v. W. Eiliger, Zürich und Stuttgart 1967, Rede 32: »An die Alexandriner«, §8-l2, S.422-423· 32 »Menippos erzählt in dem >Verkauf des Diogenes<, er sei bei seinem Verkauf als Gefangener gefragt worden, auf welches Geschäft er sich verstände, und seine Antwort habe gelautet: »Über Männer zu herrschen«; und dem Herold gab er die Weisung: »Rufe aus, ob einer gewillt sei, sich einen Herrn zu kaufen« (Diogenes Laertius, Leben und Meimtngen berühmter Philosophen, übers. v. o. Apelt, a. a. 0., VI. Buch, § 29, S. 292). 282
~ ?oucault folgt hier der alten Übersetzung von R. Grcnaille: »Ces en-
;ants apprirent aussi de nombreux passages de poetes, des prosateurs et ::'lerne des ecrits de Diogene, qui leur presentait pour chaque science eies resurnes et des abreges, pour leur faire retenir plus aisement«. Die :1cue Übersetzung von M.-O. Goulet-Caze lautet: »Ces enfants rete:1aient par cceur maints passages de poetes, de prosateurs et des ou',Tages de Diogene lui-meme; ils les faisait s' exercer atout procede per::'lettant de se souvenir vite et bien [Die Knaben prägten sich viele Stellen aus Dichtern und Schriftstellern, auch aus Diogenes' eigenen Schriften ein, und er ruhte und rastete nicht, ihnen den Lernstoff in 'TIöglichster Kürze für das Gedächtnis behaltbar zu machen.]« (Leben :md Meinungen ... , VI. Buch, §3l, S.293). _·\'on Logik also und Physik wollen sie [die Kyniker] nichts wissen, ihnlich wie der Chier Ariston, ihr Absehen ist allein auf die Ethik ge,ichtet« (ebd., VI. Buch, § l03, S. 329). , Leben und Meinungen ... , übers. v. o. Apelt, § l04, S. 330. Die Souda ist eine Enzyklopädie vom Ende des 9. Jahrhunderts, deren ,"-utor ein sehr gebildeter, griechischer Lexikograph namens Suidas sein soll. . -,Wohlan, so will ich denn sagen (nimm du dich aber des Wortes an, das iu hörest), welche Wege der Forschung allein zu denken sind: der eine 'X·eg, daß IST ist und daß Nichtsein nicht ist, das ist die Bahn der Überzeugung (denn diese folgt der Wahrheit), der andere aber, daß NICHT :ST ist und daß Nichtsein erforderlich ist, dieser pfad ist, so künde ich gänzlich unerkundbar«; Parmenides, 2. Fragment, in: H. Diels und 'X·. Kranz (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, l. Band, 1974, s. 23l. Xenophon, Erinnerungen an Solerates, hg. v. p, Jaerisch, München u. Zürich 1987, Il, l, 2l-34, S.9l-99. , Didache, übers. v. G. Schöllgen, Freiburg 2000, S.99. _: Davon angetrieben bewältigt er in kurzer Zeit einen weiten Weg. W·enn die Kyniker sagen, sie hätten >einen anstrengenden, aber kurzen YCeg zur Arete< gefunden, so ist das etwas Ähnliches [... ]. (Plutarch, Dialog über die Liebe, 759C, übers. v. H. Görgmanns, Tübingen 2006, S. 85.). ·Auch in den übrigen Dingen wirst du lernen, so zu tun, wenn du dich iaran gewöhnst, furchtlos zu handeln und nicht nur Theorie zu trei:'en. Lang ist nämlich der Weg der Theorie zur Glückseligkeit, kurz ,,:,er ist der Weg, wenn einer sich täglich mit Taten bemüht. Die meisten ·doch, die dasselbe Ziel anstreben wie die Kyniker, meiden die, die sie lnsprechen, sobald sie die Schwierigkeit des Weges sehen. Man darf ,l:,cr nicht auf diesem Wege erst zum Kyniker werden wollen, sondern ::'luß dazu geboren sein. In der Natur der Sache liegt es nämlich, daß die ::'raxis förderlicher ist als die Methode als solche« (Brief 2l von Krates :.n MetrokIes, in: Die Kynikerbriefe, übers. u. hg. v. E. Müseler, Pader28 3
born 1994, S.99; Foucault konnte damals den griechischen Text in der Ausgabe von R. Hercher, Epistolographi Graeci, Paris 1873, S. 208- 21 7 konsultieren). 42 Das apomnemoneuma bezieht sich auch auf eine denkwürdige Handlung (vgl. den Titel des Buchs von Xenophon über Sokrates: Die Memorabilia - Ta Apomnemoneumata). 43 Vgl. zu allen diesen Gattungen und insbesondere zur chreia: M. Alexandre, The Chreia in Ancient Rhetoric, Bd. I: The Progymnasmata, Atlanta 1986; R.F. Hock und E. N. O'Neil, The ChreiaandAncient Rhetoric, Leiden-Boston 2002. 44 V gl. zu dieser Figur, was Foucault schon 1982 über sie sagte (L'Hermeneutique du sujet, S. 296-297; dt.: S. 381-383).
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Vorlesung 6 (Sitzung vom 7. März 1984, zweite Stunde)
Problem des wahren Lebens. - Die vier Bedeutungen von Wahrheit: Verschleierung; ohne Vermischung; geradlinig; unwandelbar. - Die Bedeutungen der wahren Liebe bei Platon. - Die vier Bedeutungen :i;ahren Lebens bei Platon. - Diogenes' Motto: "Präge die gangbare ,t:'"e:y:ze um.«
:.:rzeihen Sie, diese allgemeine Darstellung des Kynismus hat c:"I':as lange gedauert. Ich möchte nun auf das Problem zurück.·:)mmen, das mich beschäftigt und interessiert, und für das der :::;nismus, wenn nicht allein, so doch in sehr hohem Maße von 3cdeutung ist. Das Problem ist folgendes. Wie ich letztes Mal 2::sagt hatte, stellt sich der Kynismus im wesentlichen als eine -::stimmte Form der parrhesia, des Wahrsprechens, dar, das jesein Mittel, seinen Ort, den Punkt seines Erscheinens im _::ben dessen findet, der auf solche Weise das Wahre manife:::eren oder die Wahrheit sagen soll, nämlich in Form der Ma~~:estation einer Lebensweise. Alles, was ich Ihnen vorhin 2::sagt habe, diente dazu, in den allgemeinen Merkmalen des :'~Yllismus diejenigen Elemente aufzufinden, die ein Verständ:-.:5 dafür ermöglichen, wie [und] warum das Wahrsprechen des :~ mikers auf privilegierte Weise die Form des Lebens als Zeug:-.:5 der Wahrheit annimmt. Von Diogenes, von dem Lukian be:::mptet, daß er der Prophet der Wahrheit sei (genaugenommen :::r parrhesia: prophetes parrhesias),l bis zu Gregor von Na::anz, der von Maximus, der sowohl ein christlicher Asket als .::xh ein wahrer Philosoph war, sagte, daß er martyron ale;';:eias sei (daß er Zeugnis für die Wahrheit ablege),2 von einem :::::1de zum anderen erscheint der Kynismus genau als diese Art .:.::d Weise, die Wahrheit zu manifestieren, als eine Praxis der _"dethurgie, des Hervorbringens der Wahrheit in der Form des _",bens selbst. Mir scheint, daß ich hier ein Thema gefunden .1be - das natürlich noch viele weitere Ausführungen verdie:-:ell würde als die, die in diesem Rahmen möglich sind -, das in 28 5
der antiken Philosophie und in der christlichen Spiritualität immerhin von großer Bedeutung war, wohl weniger in der zeitgenössischen Philosophie, aber mit Sicherheit in dem, was man seit dem 19.Jahrhundert die politische Ethik nennen könnte: das Thema des wahren Lebens. Was ist das wahre Leben? Wenn wir annehmen, daß wir innerhalb unseres geistigen Rahmens, unserer Art zu denken verstehen können (obwohl es dabei auch eine Reihe von Problemen gibt), wie eine Aussage wahr oder falsch sein kann, wie sie einen Wahrheitswert erhalten kann, welchen Sinn kann man dann diesem Ausdruck des »wahren Lebens« zuweisen? Wenn es um das Leben gehtdasselbe ließe sich im Hinblick auf ein Verhalten, ein Gefühl, eine Einstellung sagen -, wie kann man da die Bestimmung des Wahren verwenden? Was ist ein wahres Gefühl? Worin besteht die wahre Liebe? Was ist das wahre Leben? Dieses Problem des wahren Lebens war in der Geschichte unseres philosophischen oder spirituellen Denkens absolut zentral. Ich möchte dieses Thema des wahren Lebens auf allgemeine Weise besprechen, indem ich jedoch den Kynismus als Angriffspunkt verwende. Ganz zu Beginn stellt sich die Frage, was man denn in der griechischen Philosophie noch vor oder neben dem Kynismus unter dem »wahren Leben« verstand. Diesen Ausdruck finden wir manchmal und sogar in nicht unbeträchtlichem Ausmaß bei Platon. Bevor wir die Frage nach dem Wesen des wahren Lebens stellen (alethes bias, alethinas bias), möchte ich ein paar äußerst elementare Erinnerungen zum Begriff der Wahrheit vorausschicken. Aletheia: die Wahrheit. Alethes: wahr. Was versteht man im klassischen griechischen Denken im allgemeinen unter aletheia, was ist alethes (wahr)? Ich glaube, daß man abermals ganz schematisch, verzeihen Sie bitte - vier Bedeutungen unterscheiden oder vier Formen sehen kann, in denen, gemäß denen und aufgrund deren etwas wahr sein kann. Erstens ist natürlich dasjenige wahr, verzeihen Sie, daß ich Sie daran erinnere, was nicht verborgen, nicht verschleiert ist. Der Begriff hat die Struktur einer Negation - a-Ietheia, a-Iethes 286
:::: man im Griechischen so häufig findet. Das Wort a-trekes das »gerade« bedeutet, hat etymologisch den genauen ~:::n ,>nicht gekrümmt«. Ne-mertes, was »aufrichtig« bedeutet, etymologisch [die Bedeutung]: was nicht täuscht oder beDas a-Iethes ist das, was als Unverborgenes, Unver:e:hleiertes sich dem Blick in seiner Ganzheit öffnet, was völlig i::htbar ist, so daß kein Teil davon verborgen oder verdeckt ist. ::Jas ist die erste Bedeutung von alethes. Man sagt aber auch, J.".ß alethes (wahr) nicht nur das Unverborgene ist, sondern ,:.:ch das, was keinen Zusatz und keine Ergänzung enthält, was ,;::ine Vermischung mit etwas anderem als ihm selbst erleidet. =.:",ssen Wesen nicht nur unverborgen und unverschleiert ist, ;'):1dern dessen Wesen auch nicht von einem ihm fremden Ele"",cent verändert wird, das auf diese Weise sich selbst ändern -"'ide und am Ende sein wirkliches Wesen verheimlichen :I."'irde. ':. =h: dritte Bedeutung: Alethes ist das, was geradlinig ist (euthys: ;::rade, richtig). Diese Geradlinigkeit steht im Gegensatz zu J.::1 Umwegen und Windungen, die diese Geradlinigkeit eben erschleiern. Die Tatsache, euthys zu sein, steht beim Wahren ~..:!~erdem im Gegensatz zur Vielheit und zur Vermischung, die ::rändert. Von diesem Gesichtspunkt aus leitet sich die Tatsa: '::, daß alethes »gerade« bedeutet, daß die aletheia (die Wahrauch eine Geradlinigkeit ist, ganz unmittelbar von der ~,:tsache ab, daß die Wahrheit unverborgen ist und daß sie ~,n:: Vielheit und ohne Beimischung ist. Man kann daher ohne :;'eit::res sagen, daß ein Verhalten, eine Verhaltensweise inso'ern alethai sind, als sie geradlinig sind, mit der Geradlinigkeit .l:ccreinstimmen, dem entsprechen, was sich gehört. ~..::hließlich der vierte Sinn, die vierte Bedeutung des Begriffs .:.~ethes: Alethes ist dasjenige, was über jede Veränderung hin-
=":1 Manuskript konstruiert Foucault eine weitere Bedeutung von Wahr.:::it, auf die er dann verzichtet (durchgestrichene Passage): »Alethes 5teht ebenfalls im Gegensatz zu dem, was nur Widerspiegelung, Bild, S:hatten, Imitation, Schein ist; alethes ist das, was seinem Wesen ange::-,cssen ist, was identisch ist.«
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aus existiert und sich aufrechterhält, was sich in der Identität, der Unveränderlichkeit und der Unvergänglichkeit durchhält. Diese unverborgene Wahrheit, diese unvermischte Wahrheit, diese geradlinige Wahrheit kann sich durch die Tatsache, daß sie ohne Windung, ohne Schleier, ohne Beimischung, ohne Krümmung oder Störung ist (sie ist ganz gerade), in ihrer unveränderlichen und unvergänglichen Identität aufrechterhalten. Das sind ganz schematisch vier wesentliche Bedeutungen, die man [bei] diesen Begriffen, alethes und aletheia, findet. Sie verstehen nun, daß dieser Begriff der Wahrheit mit seinen verschiedenen Bedeutungen und seinem Bedeutungsfeld, das sich entsprechend diesen vier Achsen aufteilt, auf etwas ganz anderes als auf Propositionen oder Aussagen anwendbar ist. Dieser Begriff der Wahrheit - als etwas, das nicht-verborgen, nichtvermischt, geradlinig, unbeweglich und unvergänglich ist wird entweder im Hinblick auf alle vier Bedeutungen oder auf diese oder jene davon, auf Seinsweisen, auf Handlungsweisen, Verhaltensweisen oder Handlungsformen angewendet. Man wendet diesen Begriff von Wahrheit mit seinen vier Bedeutungen übrigens auch auf den logos selbst an, auf den logos, nicht als Proposition oder Aussage verstanden, sondern als Weise des Sprechens. Der logos alethes ist nicht einfach nur eine Gesamtheit von korrekten Propositionen, die den Wahrheitswert des Wahren erhalten können. Der logos alethes ist eine Weise zu sprechen, bei der erstens nichts verheimlicht wird; bei der sich zweitens weder das Falsche noch die Meinung noch der Schein mit dem Wahren vermischen; [drittens] ist er eine geradlinige Rede, eine Rede, die mit den Regeln und dem Gesetz übereinstimmt; und schließlich ist der alethes logos eine Rede, die dieselbe bleibt, die sich nicht ändert, die weder vergeht noch sich wandelt und die weder besiegt noch umgestoßen noch widerlegt werden kann. Sie verstehen aber auch, wie und warum dieselben Wörter, alethes und aletheia, auf etwas anderes als den logos angewendet werden können. Es gibt mindestens einen Bereich, in dem die
."-"1wendung dieser Bestimmung von alethes von großer Be:::utung war. Dabei sollten wir wohl etwas verweilen, zumin:::st im Sinne eines Winks, denn diese Bestimmung anhand der -:;r'1.hrheit ist in der abendländischen Kultur mit Sicherheit von :>t:rächtlicher Bedeutung. Es handelt sich ganz einfach um den 3tgriff des alethes eros (der wahren Liebe). 3 Die wahre Liebe ein sonderbarer, einzigartiger, zentraler Begriff in der :.1.tonischen Philosophie, aber auch allgemein in der griechic.:::en Ethik -, was ist das? Nun, in der wahren Liebe finden gerade diejenigen Werte wieder, über die ich vorhin sprach. ::J:e wahre Liebe ist erstens jene, die nicht verheimlicht, und ::7;1.r in zweierlei Hinsicht. Erstens weil sie nichts zu verheim~:hen hat. Sie hat nichts Schändliches, das verborgen werden .::::ißte. Sie sucht nicht den Schatten. Sie willigt ein, und sie ist :n solcher Art, daß sie sich immer bereitwillig vor Zeugen :::-:gt. Sie ist auch eine Liebe, die ihre Zwecke nicht verbirgt. :::e wahre Liebe versucht nicht, von der geliebten Person et7"2.5 zu erlangen, das sie vor den Augen des anderen verbergen c::,"':lrde, das aber ihr wahres Ziel wäre. Sie verwendet gegenüber .:~xem Partner weder List noch Umwege. Sie verbirgt sich nicht :r den Augen der Zeugen und auch nicht vor den Augen ihres . Lrmers. Die wahre Liebe ist eine Liebe ohne Verheimlichung. b.·eitens ist die wahre Liebe eine Liebe ohne Beimischung, ::Jl. ohne Beimischung von Lust und Unlust. Sie ist auch eine _:ebe, mit der sich weder sinnliche Lust noch Seelenfreund,·:haft mischen. Sie ist also insofern eine reine Liebe, als sie un';:rmischt ist. Drittens ist die wahre Liebe (alethes eros) eine ::":ebe, die mit dem Geradlinigen, dem Gerechten überein':::mmt. Sie ist eine geradlinige Liebe (euthys). An ihr ist nichts, ";;;;-a5 der Regel oder dem Brauch widerstreben würde. Und r.;:hließlich ist die wahre Liebe eine Liebe, die niemals der Veric"1derung oder dem Werden unterworfen ist. Sie ist eine unver.;mgliche Liebe, die immer dieselbe bleibt. ':\enn Sie die Definition, die Bestimmung, das Porträt der wah::-::n Liebe in den sokratischen und platonischen Texten be::achten, begegnen Sie ganz leicht diesen vier Bedeutungen der
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aletheia wieder. Ich glaube, daß diese Bestimmung der wahren Liebe einen Fortschritt in der Erforschung des Wesens des wahren Lebens Calethes bias) ermöglicht, das jetzt unser Problem ist. Es ist übrigens nicht ganz ohne Bedeutung, daß die wahre Liebe in der platonischen Philosophie die Form des wahren Lebens schlechthin war - aber sie wird diese Rolle auch, wie Sie wissen, in einem ganzen Bereich der christlichen Spiritualität und Mystik spielen. Die wahre Liebe, das wahre Leben sind zwei Dinge, die seit dem Platonismus traditionellerweise zueinander gehören, und der christliche Platonismus wird dieses Thema in seiner ganzen Breite wieder aufnehmen. Lassen wir dies nun, aber das wäre ein sehr interessantes und sehr weites Forschungsfeld. Kommen wir nun zum alethes bias, den ich zunächst außerhalb seiner Bedeutung für die Kyniker und seiner ganz paradoxen Form, die er im Kynismus angenommen hat, einordnen möchte. [Das wahre Leben alsoJ, wie es in den philosophischen Texten der klassischen Epoche erscheint, im wesentlichen bei Platon, für das man aber zumindest Grundzüge, die natürlich weniger interessant und weniger entwickelt sind, bei Xenophon findet. Betrachten wir folgende Bestimmung. Ich werde nicht versuchen, den Begriff des alethes bias in seiner letztendlichen philosophischen Ausarbeitung bei Platon zu betrachten, sondern in seinen offensichtlichen, geläufigen Bedeutungen, die man in den platonischen Texten außerhalb jeglicher besonderen philosophischen Ausarbeitung findet. Der alethes bias ist natürlich erstens ein nicht verheimlichtes Leben, d. h. ein Leben, das sich in keinem seiner Teile mit einem Schatten umgibt. Er ist ein Leben, das sich dem vollen Licht aussetzen und sich, ohne zu zögern, dem Blick aller offenbaren kann. Eine Seins- und Verhaltensweise ist also wahr und bringt das wahre Leben zum Ausdruck, wenn sie nichts von ihren Absichten und ihren Zwecken verbirgt. Einen Hinweis auf diese Vorstellung des wahren Lebens als eines Lebens, das nichts verbirgt, finden wir im Hippias dem Kleineren in den Absätzen 364e-365a, wo es um den berühmten Vergleich,
ien berühmten Gegensatz zwischen Odysseus und Achilles g:eht. Der Text, den Sokrates an dieser Stelle zitiert, ist ein Text ws dem IX. Gesang der !lias, wo Achilles, der sich an Odys5euS wendet und ihn »erfindungsreicher Odysseus« (palymeOdysseu) nennt, zu diesem sagt: »Siehe, ich muß mein 'cX'ort ganz unumwunden verkünden, wie ich vollstrecken es cwrde und wie 's zu erfüllen ich denke; denn verhaßt ist mir je:::er, der gleich wie des AYdes Pforten, welcher ein anderes birgt ~u Gemüt, ein anderes redet.«4 Sokrates, der diese Ansprache '~oon Achilles an Odysseus kommentiert, sagt: Odysseus ist der t:olytrapotatos5 Mann, der Mann der tausend Wendungen, d. h. ier, der seinen Partnern gegenüber verbirgt, was er im Schilde :=:ihrt und was er tun will. Im Gegensatz zu Odysseus erscheint .-\chilles - der gerade dem erfindungsreichen Odysseus gesagt ~,at: Ich werde dir meine Absichten ohne Umschweife sagen, O;t;ie ich sie verwirklichen werde, ja nicht nur so, wie ich sie ver7:irklichen will, sondern wie ich sie tatsächlich verwirklichen '7;erde, wie ich weiß, [daß ich sie verwirklichen werdeJ - als \[ann der Wahrheit, ohne Umschweife. Zwischen dem, was er .lenkt, und dem, was er sagt, zwischen dem, was er sagt, und .lern, was er tun will, zwischen dem, was er tun will und dem, 7:as er tatsächlich tut, gibt es keinen Schleier, keinen Umweg, ::ichts, was den Gedanken seiner Wirklichkeit berauben könn:e und zur Wirklichkeit des Handelns werden könnte. Wir steien also im vollen Licht, und im Hinblick auf diesen Achilies c5dgt Sokrates: Hier haben wir einen Mann, der haploustatos :~nd alethestatos (am einfachsten, direktesten und wahrsten; :;,;;plous ist derjenige, der keine Umwege kennt)6 ist. Wenn es ::larum geht, einen Menschen, einen Charakter, eine Lebens-;;-eise, eine Lebensform zu bezeichnen, kommt die Verbindung :,on haplaus und alethes ziemlich häufig vor. Sie finden übrig:ens diese Kopplung von haplous und alethes auch im Staat, im =1. Buch, wo die Existenzweise des Gottes als Wahrheit, wahres Leben, wahre Seinsweise charakterisiert wird. Von dieser Exis:enzweise heißt es im Staat, daß sie einfach und wahr ist (ha:::oun kai alethes: ohne Umschweife und wahrhaft): »Also ist
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Gott offensichtlich von einfach-einheitlichem und wahrhaftem Wesen in Wort und Werk, wandelt sich weder selbst noch täuscht er andere, nicht in Erscheinungen, Worten oder Zeichen, die er entsendet, nicht im Wachen noch im Traum.«7 Sie sehen also, wie diese Einfachheit, die eine Wahrheit der Lebensweise, die das wahre Leben ist, hier beschrieben wird: keine Veränderung und keine Täuschungen, die sich durch die Trennung, die Verschiebung zwischen einem Ereignis und den Worten, den Erscheinungen und den Zeichen ergeben könnten. Die zweite Bedeutung [des Ausdrucks] alethes bios entspricht dem, was ich Ihnen vorhin gesagt habe, [nämlich] daß alethes etwas Unvermischtes bezeichnet. Der alethes bios erscheint bei Platon als das Leben ohne Beimischung, ohne Beimischung des Guten und Schlechten, ohne Beimischung der Lust und des Leidens, ohne Beimischung des Lasters und der Tugend. Ein wahres Leben ist kein buntes Leben. All jene berüchtigte Buntheit (Buntheit des begehrlichen oder jähzornigen Teils der Seele, Buntheit der demokratischen oder tyrannischen Staaten, in denen die Begierden in ihrer Heftigkeit oder ihrer Eigenart ihren Ort haben) ist genau das, was einen daran hindert, das wahre Leben zu führen. Daß der buntgescheckte Mensch, der Mensch, der zum Opfer der Vielfalt seiner Begierden, seines Verlangens, der Bewegungen seiner Seele geworden ist, daß dieser Mensch zur Wahrheit nicht fähig ist, dies wird eben im Staat im VIII. Buch gesagt, wo es um die Beschreibung des demokratischen Menschen geht. Platon beschreibt ihn folgendermaßen: »[... ] dann lebt er im Gleichgewicht seiner Freuden, überläßt der Lust, die ihn eben befällt [... ], die Macht über ihn, bis sie gesättigt, und dann wieder einer anderen - und keine verschmäht er, denn sie alle verehrt er nach gleichem Teile. [...] So lebt er denn in den Tag hinein und schenkt sich dem Trieb, der ihn befällt, bald trunken, von Flöten bezaubert, bald nüchtern bei Wasser mager geworden, bald übt er Gymnastik, bald lungert er träge und sorgt sich um nichts, bald will er - so scheint es - gar philosophieren! Oft treibt er Politik, springt
,- Das Manuskript enthält hier eine Passage, die dem fünften Sinn von Wahrheit entspricht, auf den Foucault verzichtet hat (die Übereinstimmung mit dem Wesen): »Der alethes bios ist ein Leben, das sich nicht den Anschein gibt, etwas zu sein, was es nicht ist. Es ahmt keine Form nach, die nicht seine eigene wäre. Das wahre Leben läßt sein ethos leicht erkennen« (Er stützt sich dabei auf das V. Buch von Platons Gesetzen, Abschnitt 73 8d - e).
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auf, hält Reden, setzt Taten - wie es ihm gefällt!«8 Dieses LeJen des demokratischen Menschen, das manchmal untätig, :nanchmal geschäftig ist, sich manchmal den Lüsten hingibt, :nanchmal der Politik (wobei er, wenn er sich der Politik verschreibt, alles Beliebige sagt, was ihm durch den Kopf geht), dieses Leben ohne Einheit, dieses vermischte Leben, dieses der Vielfalt geweihte Leben ist ein Leben ohne Wahrheit. Es ist ::licht imstande, so Platon, dem logos alethes (der wahren Rede)9 einen Platz einzuräumen. Wir können einen weiteren Text zitieren, wo das wahre Leben dem vermischten Leben ebenso entgegengesetzt wird. Am Ende des Kritias erwähnt Platon kurz die Dekadenz von Atlantis - kurz vor dem Abbruch des Textes, dessen Ende verlorenging - und erklärt: ::\ach dem glücklichen Leben, das die Menschen in Atlantis :1ihrten, kam eine Zeit, in der das Los bzw. der Anteil, der den :\lenschen von Atlantis durch die Götter gegeben wurde, sich :nit vielen sterblichen Elementen vermischt hatte. lo Diese Mischung aus dem göttlichen Los, das das wahre Leben der Menschen von Atlantis auszeichnete, und den sterblichen Elemen:en war dafür verantwortlich, daß sie vom wahren Leben, von lem ihm eigentümlichen Glück und der es begleitenden Schönheit abgefallen waren. Sobald das Leben durchmischt wird, ist es nicht mehr das wahre Leben.':Drittens ist das wahre Leben bei Platon ein geradliniges Leben euthys). Gemäß der Bestimmung der Wahrheit als Geradlinigkeit, des Wahren als des Geradlinigen, ist das wahre Leben ein geradliniges Leben, d. h. ein Leben, das mit den Prinzipien, den Regeln und dem nomos übereinstimmt. Im berühmten VII. .Brief erzählt Platon, wie er dazu kam, sich auf das Gesuch Dions nach Sizilien zu begeben, und daß er gezögert hat, diese
Einladung anzunehmen. Er ließ sich jedoch überzeugen, als er gewahr wurde, daß Dion seine Prinzipien so mühelos angenommen und sein Leben nach Regeln geformt hatte, die [er] ihm gegeben hatteY Diese Bekehrung Dions zur Philosophie, zumindest jedoch die Bildung, die er empfing, erlaubte Platon zu hoffen, daß mit Hilfe Dions der Stadtstaat von Syrakus und vielleicht ganz Sizilien sich dieser Form von Gesetz unterordnen würden. Es gab also zu jener Zeit eine Hoffnung für alle, ein alethinas bias (ein wahrhaftes Leben)12 zu führen. Das wahrhafte Leben, das also das Versprechen Platons gegenüber den Siziliern ist oder vielmehr seine Hoffnung, als er nach Sizilien ging, ist das Leben nach den Regeln, die Platon oder die Philosophie den Menschen vorzuschlagen vermag, und zwar nicht nur in ihrem privaten Leben wie bei Dion, sondern auch in ihrem gesellschaftlichen, öffentlichen, politischen Leben. Es sind Gesetze und eine politische Ordnung, was Platon den Siziliern und Syrakusern vorschlagen will.':· Wir können diese Passage übrigens mit einem Text aus dem Gargias vergleichen, wo wir ebenfalls diesem Begriff des wahren Lebens begegnen. Ganz am Ende, als Platon über das Gericht der Seelen spricht. Im Mythos des Gargias stellen sich die Seelen nach ihrem Tod ihren Richtern vor, insbesondere Rhadamanthys. Sokrates sagt: Rhadamanthys, Richter der Seelen und der Hölle, hat gewiß viel zu tun. Er begegnet Seelen, die zu ihm kommen und die Seelen großer Könige sind. Er läßt sich von diesen Seelen der großen Könige nicht beeindrucken, denn er sieht sofort, daß es in diesen Seelen keinen einzigen gesunden Teil gibt, »alles ist verzerrt durch Lüge und Hoffart [und Betrug; M.F.], und nichts Gerades (euthys) ist an ihr.«13 Warum ist nichts Gerades an ihr? Weil diese Seele ohne Wahrheit (aneu aletheias) gelebt hat: 14 »Ja, infolge von Leichtsinn, Ü ppigkeit, Hochmut und Maßlosigkeit im Handeln erblickt er ':- Im Manuskript steht hier ein erstes Zitat aus dem X. Buch von Platons Staat, Abschnitt 604b-c, in dem es um den Vorwurf an die Dichter geht, daß sie nur Nachahmungen hervorbringen. Aber die Passage ist durchgestrichen.
an der Seele eine Fülle von Mißverhältnis und Häßlichkeit.«15 Vielgestaltige Seelen, buntgescheckte Seelen, Seelen, die von Begierden, Leichtsinn, Üppigkeit durchdrungen sind, Seelen ohne Wahrheit. Rhadamanthys wird deshalb diese Seelen fortschicken, damit sie die Strafe erleiden, die sie verdienen. 16 Aber es geschieht auch, so Sokrates weiter, daß Rhadamanthys Seelen von ganz anderer Art entdeckt; Seelen, die entweder die Seelen von Philosophen sind oder eventuell auch von gewöhnlichen Bürgern, von Bürgern wie die anderen. Aber ob es sich nun um die Seele eines Philosophen oder die von jemand ganz Gewöhnlichem handelt, diese Seelen haben fromm (hasios) und in der Wahrheit (met'aletheias)17 gelebt, ohne sich fruchtloser Rastlosigkeit hinzugeben. Da diese Seelen in der Wahrheit (met'aletheias) gelebt haben, »bewundert Rhadamanthys ihre Schönheit« und schickt sie auf die Inseln der Glückse:igen. 18 Nach dieser Beschwörung zweier entgegengesetzter Schicksale der Seelen (die einen werden bestraft, weil sie ohne Wahrheit waren; die anderen werden belohnt und in die ewige Glückseligkeit geschickt, weil sie mit der Wahrheit gelebt haben), erfolgt Sokrates' Entschluß: Ich will mich durch die Er~orschung der Wahrheit bemühen, mich so vollkommen wie :nöglich zu machen »im Leben und im Sterben«.19 Das Leben :nit der Wahrheit ist also der gerade Weg. Schließlich die vierte Bedeutung des Ausdrucks bias alethes, _zlethinas bias bei Platon: Dieses wahre Leben ist ein Leben, das sich den Störungen, den Veränderungen, dem Vergehen und dem Verfall entzieht und das sich unverändert in der Identität seines Wesens hält. Diese Identität des Lebens im Verhältnis zu sich selbst läßt es jedem Element der Veränderung entrinnen -.md sichert ihm einerseits eine Freiheit, verstanden als Unabhängigkeit, Nicht-Abhängigkeit, Nicht-Versklavung gegenüber allem, was es der Herrschaft und Beherrschung unterwerren könnte, und gewährt ihm andererseits die Glückseligkeit eudaimania), verstanden als Herrschaft des Selbst über sich und als Genuß des Selbst durch sich. Dieses wahre Leben als Leben der vollkommenen Beherrschung und des umfassenden
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Glücks wird, wie wir vorhin gesehen haben, im Kritias angesprochen: Es ist das Leben jener Bewohner von Atlantis, die, bevor die sterblichen Elemente sich mit ihnen vermischt haben, ein wahres und glückliches Leben führten. Die Wahrheit des Lebens ist sein Glück, seine vollkommene Glückseligkeit. Ebenso gibt es im Theaitetos im Hinblick auf ganz ähnliche Werte in den Abschnitten 174c-I76a eine wohlbekannte Stelle, wo Platon das geschäftige, lärmende und mußelose Leben all jener beschreibt, die, da sie mit allen Problemen der praktischen Existenz vertraut sind, die Fähigkeit haben, ohne weiteres mit diesen Problemen zurechtzukommen, die aber ihre gesamte Zeit damit verbringen. Demgegenüber beschwört er das Leben all jener, die, weil sie die wahre Wahrheit betrachten, in den alltäglichen Tätigkeiten ungeschickt und lächerlich sind und die thrakischen Mägde zum Lachen bringen. Aber diese Leute, die im alltäglichen Leben so ungeschickt sind, können »in Wohlklang der Rede eingreifend, würdig [... ] preisen das wahrhafte Leben (bion alethe) der seligen Götter und Menschen«.20 Das wahrhafte Leben ist demnach das göttliche und glückselige Leben. Das sind also, wenn Sie so wollen - ganz schematisch und, wie gesagt, ohne eine präzisere philosophische Ausarbeitung als background für die Analyse zu versuchen, die ich jetzt vornehmen möchte - die Bedeutungen, die man der Vorstellung des wahren Lebens (alethes bios) zuerkannte. Was wir jetzt festhalten müssen - ich werde damit jetzt nur beginnen und nächstes Mal weitere Ausführungen anschließen -, ist [die Rolle, die] der Kynismus für diese Vorstellung des alethes bios gespielt hat. Ganz zu Beginn des Lebens von Diogenes, so erzählt Diogenes Laertius, gibt es eine Reihe von wichtigen Episoden oder Andeutungen. Zuerst haben wir die Andeutung der Tatsache, daß Diogenes der Sohn eines Geldwechslers war, eines Bankiers, der mit Münzen umzugehen hatte und sie gegeneinander tauschen mußte. Dann findet man den Hinweis auf die Tatsache, daß Diogenes oder sein Vater wegen einer Unterschlagung - strenggenommen wegen 29 6
Falschmünzerei - aus Sinope verbannt wurden, wo sie ursprünglich herstammten und wohnten. Der dritte Hinweis auf dieses Thema der Münzen besteht schließlich darin, daß Diogenes, der aus Sinope verbannt war, sich nach Delphi begab und den Gott, Apollon, bat, ihm einen Rat und eine Meinung zu geben. Und der Rat Apollons sei gewesen, daß Diogenes -"lünzen fälschen oder ihren Wert ändern sollte. 2i Dieses Prinzip »Präge die gangbare Münze um« wurde in der kynischen Tradition regelmäßig für zwei Zwecke benutzt. Erstens, um das Verhältnis zwischen Sokrates und Diogenes auszugleichen und zwischen beiden eine Ausgewogenheit herzustellen. Genau wie Sokrates vom delphischen Gott jene Prophezeiung, jenen Hinweis, jene Zu schreibung der Rolle ::mpfangen hatte, daß er der weiseste aller Menschen sei, so erhält Diogenes, der sich nach Delphi begibt und den Gott fragt, ",'ie es um ihn selbst steht, folgende Antwort: »den Wert der 2vlünze ändern«. Sokrates und Diogenes haben also beide einen }l.Uftrag empfangen. Diese Spiegelbildlichkeit, diese Nähe zwischen Sokrates und Diogenes wird die ganze kynische Tradition hindurch aufrechterhalten werden. In den Texten, die er im .:..Jahrhundert gegen die Kyniker und zugunsten des wahren Kynismus schreibt, läßt es Julian, der mit sehr großem Respekt ",'on Diogenes spricht, nie daran fehlen, von Sokrates und Diogenes zugleich zu reden: Der eine, der die Worte des delphischen Gottes gehört hatte, wußte von sich, daß er der weiseste :\Iensch war, und versuchte, sich selbst zu erkennen; der andere hatte vom delphischen Gott einen anderen, ganz verschiede:len Auftrag erhalten, nämlich den Wert der Münzen zu ändern. Es gibt also eine Spiegelbildlichkeit zwischen diesen beiden Persönlichkeiten. Die zweite Bedeutung dieses Gebots ist offenbar viel schwieriger zu bestimmen. Was bedeutet denn eigentlich »den Wert der :\lünzen ändern« (paracharattein to nomisma)? Um dieses Thema herum werde ich nächstes Mal versuchen, das Problem des wahren kynischen Lebens zu entwickeln. Jetzt möchte ich Sie nur auf folgendes hinweisen: Im Zusammenhang mit dem 297
Thema »den Wert der Münzen ändern« muß man erstens die bestehende Nähe zwischen dem Geld und dem Brauch, der Regel, dem Gesetz - auf die das Wort selbst hinweist - geltend machen. Nomisma ist die Münze. Nomos ist das Gesetz. Den Wert der Münze zu ändern bedeutet auch, eine bestimmte Einstellung gegenüber der Konvention, der Regel, dem Gesetz einzunehmen. Der zweite Punkt steht ebenfalls im Zusammenhang mit der Vorstellung der paracharaxis. Paracharattein (ändern, verändern) bedeutet nicht, die Münze abzuwerten. Manchmal begegnet man der aufschlußreichen Bedeutung von eine Münze »verfälschen«, damit sie von ihrem Wert verliert, aber hier bedeutet das Verb im wesentlichen und vor allem: von einer bestimmten Münze, die ein bestimmtes Bildnis trägt, dieses Bildnis auszulöschen und es durch ein anderes zu ersetzen, das ebensoviel darstellt und dieser Münze ermöglicht, mit ihrem wahren Wert umzulaufen. Die Münze soll nicht über ihren wahren Wert hinwegtäuschen. Man soll den ihr eigenen Wert wiederherstellen, indem man ihr ein anderes, besseres und angemesseneres Bildnis aufprägt. Das ist es, was durch dieses so bedeutende kynische Prinzip bestimmt wird, den Wert der Münze zu ändern. Mir scheint - damit werde ich aufhören und nächstes Mal weitermachen - daß das, worum es im Kynismus im Hinblick auf das wahre Leben geht, vor allem darin besteht, die Münze des alethes bios zu nehmen und sie so ähnlich wie möglich im Hinblick auf die ursprüngliche Bedeutung, die sie empfangen hat, neu zu prägen. Von diesem Gesichtspunkt aus ändern die Kyniker sozusagen zwar nicht das Metall dieser Münze. Aber sie werden das Bildnis verändern, und anhand derselben Prinzipien des wahren Lebens - das unverborgen, unvermischt, gerade und stabil, unvergänglich, glücklich sein soll- werden sie, indem sie unablässig bis an die Grenze gehen und diese Themen einfach ins Extrem treiben, ein Leben erscheinen lassen, das gerade das Gegenteil dessen ist, was traditionellerweise [als] das wahre Leben anerkannt wurde. Die Münze neu zu prägen, das Bildnis zu ändern und das Thema des wahren Lebens gewisser-
: "Überhaupt aber mache ich Profession, ein Prophet der Wahrheit und Freymüthigkeit zu sein« (Der Verkauf der philosophischen Sekten, § 8, a.a. O. es. oben, S. 23 1, Anm. 6], S.375). z Gregor von Nazianz, Predigt 25; vgl. oben, Vorlesung vom 29. Februar, erste Stunde. 3 Vgl. in L'Usage des plaisirs, Kap. V (»Le veritable amour«, a. a. 0., S. 25 126 9; dt.: Der Gebrauch der Lüste, »Die wahrhafte Liebe«, S. 287-3 10). 4 Platon, Hippias der kleinere, 36P, in: Platon: Sämtliche Werke, 1. Bd., übers. v. L. Georgii, Heidelberg 1982, S. 153. :: Ebd., 364C, S. 1 F. Tatsächlich ist es Hippias, der Achilles auf diese Weise im Abschnitt 364e charakterisiert (»[Homer] beleuchtet [... ] den Charakter eines jeden der beiden Männer, so zwar, daß Achilles wahrhaftig sein solle und gerade (haploustatos kai alethestatos)« (ebd.).
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maßen eine Fratze schneiden zu lassen. Der Kynismus als Fratze des wahren Lebens. Die Kyniker haben versucht, das in der Philosophie traditionelle Thema des wahren Lebens eine Fratze schneiden zu lassen. Anstatt im Kynismus eine Philosophie zu erblicken, die aufgrund ihrer Popularität, oder weil sie im Konsens und der gebildeten philosophischen Gemeinschaft :liemals das Bürgerrecht empfangen hat, eine Philosophie des Bruchs sei, sollte man ihn vielmehr als eine Art von Grenzübergang, eine Art von Extrapolation anstatt von Exteriorität, als eine Extrapolation der Themen des wahren Lebens und eine Rückkehr dieser Themen in eine Art von Figur betrachten, die mit dem Vorbild des wahren Lebens übereinstimmt, ihm zugleich aber auch eine Fratze schneidet. Es handelt sich viel eher :Im eine Art von karnevalesker Kontinuität mit dem Thema des wahren Lebens als um einen Bruch mit den Werten, die in der klassischen Philosophie galten, wenn es sich um das wahre Leben handelte. Verzeihen Sie mir, ich habe mein Versprechen fast überhaupt :licht erfüllt, Ihnen zu sagen, was ich Ihnen heute sagen sollte. Ich werde versuchen, den Kynismus nächstes Mal abzuschlie{;en.
Anmerkungen
7 Platon, Der Staat, II. Buch, 382e, übers. v. K. Vretska, Stuttgart 1980, S. I 52. S Platon, Der Staat, VIII. Buch, 56Ib-56Id, a. a. 0., S. 371 f. 9 »Aber ein wahrhaftiges Wort (logon alethe) empfängt er nicht, noch läßt er es in seine Burg« (ebd., 56Ib, S·37 I ). 10 »Als aber ihr Anteil am Wesen des Gottes durch die vielfache und häufige Beimischung des Sterblichen in ihnen zu schwinden begann und die menschliche Art überwog, da waren sie dem vorhandenen Reichtum nicht mehr gewachsen und entarteten und erschienen dem, welcher es zu erkennen vermochte, niedrig, indem sie von allem, was in Ehren zu stehen verdient, gerade das Schönste zugrunde richteten; denen aber, die ein wahrhaft zur Glückseligkeit führendes Leben nicht zu erkennen imstande waren (tois adynatousin alethinon pros eudaimonian bion horan), schienen sie damals erst recht in aller Herrlichkeit und Seligkeit dazustehen [... }< (Platon, Kritias, I2Ia-b, in: Platon: Sämtliche Werke, 3. Bd., übers. v. F. Susemihl, Heidelberg 1982, S. 214)· I I Platon, VII. Brief, 327b, in: Platon: Sämtliche Werke, 3. Bd., übers. v. W. Wiegand [oben, S. 100, Anm.9], S·7 22 . 12 »Wenn meine Belehrung hoffentlich auch jetzt wieder bei Dionysios denselben Erfolg völlig zustande brächte, wie sie bereits dazu den Anfang gemacht hätte, so hätte er große Hoffnungen, ohne Mord, ohne Hinrichtung und ohne die jetzt üblich gewordenen Mißstände ein glückliches und auf den Geist der Wahrheit gegründetes Leben (bion eudaimona kai alethinon) im ganzen Lande herzustellen« (ebd., 327d , S·7 22f.). 13 Platon, Gorgias, 525a, in: Platon: Sämtliche Werke, 1. Bd., übers. v. J. Deuschle, S.406. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd., 526c, S·407· 18 Ebd. 19 Ebd., 527e, S. 409· 20 Theaitetos, I76a, in: Platon: Sämtliche Werke, 2. Bd., übers. v. F. Schleiermacher, a. a. 0., S. 610 (die frz. Übersetzung gibt bion alethe mit »die Wirklichkeit des Lebens« wieder, was Foucault gerade mit »wahres Leben« neu übersetzt hat). 21 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, übers. v. O. Apelt, a. a. 0., VI. Buch, § 20-21, S. 288 f.
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Vorlesung 7 (Sitzung vom I4. März I984, erste Stunde)
Das kynische Paradox oder der Kynismus als skandalöse Banalität der Phi_·osophie. - Der Eklektizismus mit umgekehrter Wirkung. - Die drei For'nen des Mutes zur Wahrheit. - Das Problem des philosophischen Lebens. Traditionelle Bestandteile des philosophischen Lebens: das Gerüst des Lebens; die Sorge um sich selbst; die nützlichen Erkenntnisse; das konforme Leben. - Interpretationen der kynischen Devise: Präge die Münze um. Die Bestimmung »Hund". - Die beiden Entwicklungslinien des wahren Lebens: Alkibiades oder Laches.
Heute werde ich über das kynische Leben, über den bias kyni€os als wahres Leben sprechen. Wie ich Ihnen letztes Mal zu zeigen versucht hatte, besteht das, was meines Erachtens im Kynismus im Grunde nicht nur schwierig ist, sondern auch wichtig zu verstehen, in folgendem Paradox, das an sich jedoch ganz einfach ist: Einerseits stellt sich der Kynismus in Form ei:ler Gesamtheit von Zügen dar, die er mit vielen Philosophien :ener Zeit teilt - es gibt eine gewisse Banalität in den vorgeschlagenen Thesen und den empfohlenen Prinzipien -; und andererseits zeichnet er sich durch einen Skandal aus, der ihn ständig begleitete, eine Mißbilligung, deren Gegenstand er ist, eine Mischung aus Spott, Abneigung, Furcht, mit der man auf seine Gegenwart und seine Manifestationen reagierte. Der Ky::llsmus war während seiner ganzen Dauer, von der hellenistischen Zeit an bis zum Beginn des Christentums, in der Landschaft der Philosophie, des Denkens, der griechisch-römischen Gesellschaft zugleich ganz vertraut und dennoch auch fremd. Er war gewöhnlich, banal, inakzeptabel. Insgesamt könnte :nan sagen, daß eine beträchtliche Zahl der angesehenen Philosophen sich im Kynismus ganz leicht wiedererkennt und ein ::,ositives Bild von ihm zeichnet. Davon haben wir in wichtigen Texten eine Reihe von Zeugnissen. Erinnern Sie sich an Seneca, der, gestützt auf Zitate und Hinweise das Porträt von Demetri:lS dem Kyniker zeichnet, den er als einen der wichtigsten Phiiosophen seiner Zeit betrachtet.! Erinnern Sie sich an Epiktet, 3°1
der im Gespräch 22 des III. Buchs jenes berühmte Bild des idealen Kynikers zeichnet. Selbst bei [seinen] erklärten Gegnern finden wir eine positive Charakterisierung einer bestimmten Form des Kynismus. Julian beansprucht den Kynismus im selben Moment, da er ihn kritisiert, als universelle Einstellung jedes Philosophen seit dem Ursprung der Philosophie selbst. Ebenso zeichnet Lukian trotz der sehr heftigen Kritik, die er nicht nur an einem Kyniker wie Peregrinus, sondern praktisch an allen Philosophen übt, ein positives Bild von Demonax. Während sich also die Philosophen so leicht im Kynismus wiedererkennen, setzen sie sich doch auch durch eine abstoßende Karikatur sehr stark von ihm ab. Sie stellen [ihn] als eine Art von unannehmbarer Verfälschung der Philosophie dar. Der Kynismus würde für die antike Philosophie gewissermaßen die Rolle eines zerbrochenen Spiegels spielen. Ein zerbrochener Spiegel, in dem jeder Philosoph sich wiedererkennen kann und soll, in dem er das Bild der Philosophie selbst wiedererkennen kann und soll, die Widerspiegelung dessen, was sie ist und sein sollte, die Widerspiegelung dessen, was er selbst ist und sein möchte. Zugleich nimmt er in diesem Spiegel eine gewaltsame, häßliche Verzerrung ohne Anmut, eine Fratze wahr, in der er weder sich selbst noch die Philosophie wiederzuerkennen vermag. Mit all diesem möchte ich ganz einfach sagen, daß der K ynismus, wie mir scheint, als die Banalität der Philosophie, aber als eine skandalöse Banalität wahrgenommen wurde. Aus der Philosophie, in ihrer Banalität betrachtet, praktiziert und in sie eingekleidet, hat er einen Skandal gemacht. Um dies abzuschließen, möchte ich sagen, daß mir der Kynismus in der Antike im Grunde wie eine Art von Eklektizismus mit umgekehrter Wirkung erscheint. Damit meine ich folgendes: Wenn man den Eklektizismus als diejenige Form des Denkens, des Diskurses, der philosophischen Entscheidung definiert, die die allgemeinsten und traditionellsten Züge der verschiedenen Philosophien einer Epoche vereint, dann geschieht dies im allgemeinen zu dem Zweck, sie für alle annehm-
bar zu machen und daraus die Leitprinzipien eines intellekmeIlen und moralischen Konsenses zu gewinnen. Das ist im allgemeinen die Definition des Eklektizismus. Ich meine, daß der Kynismus ein Eklektizismus mit umgekehrter Wirkung ist: Er ist ein Eklektizismus, denn er nimmt doch einige der grundlegendsten Züge wieder auf, die man in den zur selben Zeit existierenden Philosophien findet; mit umgekehrter Wirkung, weil er aus dieser Wiederaufnahme eine empörende Praxis macht, die überhaupt keinen philosophischen Konsens begründet, sondern im Gegenteil eine Fremdartigkeit in die philosophische Praxis eingeführt hat, eine Exteriorität und sogar :::ine Feindseligkeit und einen Streit. Der Kynismus hat, und das ist sein Paradox, die am weitesten yerbreiteten Bestandteile der Philosophie zu ebenso vielen Bruchstellen für die Philosophie gemacht. Das müssen wir zu -,-erstehen versuchen: Wie kann der Kynismus im Grunde das sagen, was alle sagen, und die Tatsache, daß man es sagt, für unzulässig erklären? Dieses Paradox des Kynismus, wenn man es als solches beschreiben kann, verdient aus zwei Gründen ein wenig Aufmerksamkeit. Der erste besteht darin, daß es gestattet, den Kynismus in jene Geschichte oder Vorgeschichte einzuordnen, die ich dieses Jahr skizzieren wollte, die Geschichte des Mutes zur Wahrheit. Der Kynismus, scheint mir, läßt jenes große, alte, sowohl politische als auch philosophische Problem des Mutes zur Wahrheit, das in der gesamten antiken Philoso?hie so wichtig war, in einem neuen Licht erscheinen und gibt ihm eine neue Form. Ganz schematisch könnte man folgende Skizze erstellen. Wir sind dem Problem des Mutes zur Wahrheit - das hatte ich letztes Jahr zu zeigen versucht - zunächst in der Form dessen begegnet, was man die politische Kühnheit nennen könnte, d. h. entweder der Mut des Demokraten oder auch der Schneid des Höflings, die entweder der Volksversammlung, im Falle des Demokraten, oder dem Fürsten, im Falle des Höflings, etwas anderes sagen als das, was die Volksversammlung oder der Fürst denken. Die politische Kühnheit, die des Demokraten
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ebenso wie die des Höflings, besteht also darin, etwas anderes zu sagen, etwas, das dem, was die Versammlung oder der Fürst denken, entgegengesetzt ist. Gegen die Meinung des Fürsten oder der Volksversammlung und für die Wahrheit riskiert der Politiker, wenn er mutig ist, sein Leben. Das ist ganz schematisch die Struktur dessen, was man den politischen Wagemut des Wahrsprechens nennen könnte. Wir sind einer zweiten Form des Mutes zur Wahrheit begegnet - ich hatte sie letztes Jahr etwas skizziert und dieses Jahr wiederaufgenommen. Diese andere Form ist nicht mehr der politische Wagemut, sondern das, was man die sokratische Ironie nennen könnte, eine Ironie, die darin besteht, daß man den Leuten sagt und ihnen schrittweise zu erkennen gibt, daß sie das, was sie zu wissen vorgeben, was sie zu wissen glauben, in Wirklichkeit nicht wissen. In diesem Fall besteht die sokratische Ironie darin, daß man seitens dieser Leute Wut, Ärger, Rache und sogar Gerichtsverhandlungen riskiert, um sie gegen ihren Willen dazu zu bringen, sich um sich selbst, um ihre Seele und die Wahrheit zu kümmern. Im einfachsten Fall, dem des politischen Wagemuts, ging es darum, den Mut zur Wahrheit einer Meinung, einem Irrtum entgegenzusetzen. Bei der sokratischen Ironie geht es darum, in ein Wissen, dessen sie sich nicht bewußt sind, eine gewisse Form der Wahrheit einzuschmuggeln, die die Menschen dazu führen wird, sich um sich selbst zu kümmern. Mit dem Kynismus haben wir eine dritte Form des Mutes zur Wahrheit, die sich vom politischen Wagemut und auch von der sokratischen Ironie unterscheidet. Der kynische Mut zur Wahrheit besteht darin, daß man die Leute dazu bringt, die Manifestation dessen, woran sie auf der Ebene der Prinzipien festhalten oder vorgeben festzuhalten, zu verurteilen, abzulehnen, geringzuschätzen, zu beleidigen. Es geht darum, sich mit ihrem Zorn auseinanderzusetzen, indem man ihnen ein Bild davon gibt, woran sie im Denken festhalten und was sie wertschätzen, und zugleich in ihrem eigenen Leben ablehnen und geringschätzen. Das ist der kynische Skandal. Nach dem politischen
'l~agemut, nach der sokratischen Ironie hätten wir sozusagen :'en kynischen Skandal. In den ersten beiden Fällen besteht der ~,Iut zur Wahrheit darin, daß man sein Leben riskiert, indem :::an die Wahrheit sagt, daß man sein Leben riskiert, um die "l'ahrheit zu sagen, daß man sein Leben riskiert, weil man sie ;esagt hat. Im Falle des kynischen Skandals - das scheint mir -;:;;2chtig zu sein und verdient festgehalten zu werden - riskiert \-::an sein Leben nicht einfach dadurch, daß man die Wahrheit >agt oder um sie zu sagen, sondern durch die Lebensweise sdbst. Man »exponiert« sozusagen sein Leben, d. h., man zeigt :5 und man riskiert es. Man riskiert es, indem man es zeigt und man es zeigt, riskiert man es. Man exponiert sein Leben :-icht durch seine Reden, sondern durch dieses Leben selbst. :Jas ist der erste Punkt, anhand dessen man diesen kynischen Si;.andal in seiner eigentlichen Struktur festhalten sollte, der 5:ch immer im Rahmen des bedeutenden Themas abspielt: Mut zur Wahrheit zu haben, der sich aber auf eine andere Weise als ,:'er politische Mut und die sokratische Ironie vollzieht. :Jer zweite Grund, auf den ich hinweisen wollte, um etwas bei :'iesem Problem des kynischen Lebens zu verweilen, besteht 3.arin, daß in dieser kynischen Praxis der kynische Skandal, die ?rage, die der Kynismus der Philosophie in der Antike und luch im Christentum oder in der Moderne im Grunde immer ;estellt hat, die ständige, schwierige, ewig peinliche Frage nach .:lem philosophischen Leben, dem bias philasaphikas ist. Wenn 7,'ir das Problem und Thema des Kynismus von der großen Geschichte der parrhesia und des Wahrsprechens aus betrach:en, können wir folgendes sagen: Während die gesamte Philosophie immer mehr danach strebt, die Frage des Wahrsprechens im Hinblick auf die Bedingungen zu stellen, unter denen :::an eine Aussage als wahr erkennen kann, ist der Kynismus Seinerseits diejenige Form der Philosophie, die unablässig die ?rage stellt: Welche Lebensform ist so, daß sie das Wahrspre:hen vollzieht? Seit dem Anfang der Philosophie und vielleicht im Grunde bis heute und trotz allem hat das Abendland immer angenommen,
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daß die Philosophie von einer philosophischen Existenz nicht zu trennen, daß die Praxis der Philosophie immer mehr oder weniger eine Art von Lebensübung sein soll. Darin unterscheidet sich die Philosophie von der Wissenschaft. Aber obwohl die abendländische Philosophie in ihrem Ursprung glanzvoll behauptet, daß Philosophieren nicht bloß eine Diskursform ist, sondern auch eine Lebensweise - so war jedenfalls ihre Geschichte und so wird vielleicht ihr Schicksal sein -, hat sie das Problem dieses philosophischen Lebens Schritt für Schritt eliminiert oder zumindest vernachlässigt und am Rande gehalten, das philosophische Leben, von dem sie zu Beginn behauptete, daß es von der philosophischen Praxis nicht getrennt werden könne. Sie hat das Problem des Lebens in seinem wesentlichen Zusammenhang mit der Praxis des Wahrsprechens immer mehr vernachlässigt und am Rande gehalten. Dieses Vergessen, diese Vernachlässigung, diese Ausschaltung, diese Veräußerung des Problems des wahren Lebens, des philosophischen Lebens im Zusammenhang mit der philosophischen Praxis und dem philosophischen Diskurs sind vermutlich die Auswirkung oder die Erscheinungsform einer Reihe von Phänomenen. Sicherlich war die Aufnahme und bis zu einem gewissen Grad die Beschlagnahme des Themas und der Praxis des wahren Lebens durch die Religion einer der Gründe für dieses Verschwinden. Als ob die Philosophie sich des Problems des wahren Lebens in dem Maße entledigen konnte, in dem die Religion, die religiösen Institutionen, die religiöse Askese, die religiöse Spiritualität diesem Problem seit dem Ende der Antike immer deutlicher erneut Rechnung getragen hatten. Man kann auch vermuten, daß die Institutionalisierung der Praktiken des Wahrsprechens in Form einer Wissenschaft (einer normierten Wissenschaft, einer regulierten Wissenschaft, einer institutionalisierten Wissenschaft, einer Wissenschaft, die in Institutionen Gestalt annimmt) zweifelsohne der andere bedeutende Grund war, durch den das Thema des wahren Lebens als philosophische Frage, als Problem der Bedingungen des Zugangs zur Wahrheit verschwand. Wenn die wissenschaftli-
Praxis, die Institution der Wissenschaft, die Integration in ':.:::1. wissenschaftlichen Konsens allein ausreichen, um den ZufI..::lg zur Wahrheit zu garantieren, ist es offensichtlich, daß das :::nblem des wahren Lebens als notwendige Grundlage für die ?::2.Yis des Wahrsprechens verschwindet. Beschlagnahme des ~'::Dblems des wahren Lebens in der Institution der Religion. ~:::cichung des Problems des wahren Lebens in der Institution :.'.:' Wissenschaft. Sie verstehen, warum die Frage nach dem ,,0.Ien Leben im abendländischen Denken unablässig aufgeabgeschwächt, ausgeschaltet wurde. ::-:::c.'11erhin wurde die Frage nach dem wahren Leben allmählich :...:.s der philosophischen Reflexion und Praxis ausgelöscht, aue.<:, natürlich in einigen bemerkenswerten Punkten und Hinr:hten. Vielleicht könnte man das Problem des philosophi;·;::::cn Lebens von Montaigne 2 bis zur Aufklärung verfolgen. :·.:I'ln wenn es richtig ist, daß die traditionelle Geschichte der ?:ilosophie und insbesondere der klassischen Philosophie sich ·,21..::tisch ausschließlich für das Problem der Systematik des ::,:iosophischen Denkens und seines Wahrsprechens in seinem ~::malen und systematischen Aufbau interessiert, so wurde das Problem des philosophischen Lebens zweifellos seit .:::m r6. bis zum r8.Jahrhundert mit einer gewissen Intensität ":::1.d Stärke gestellt. Schließlich stellt Spinoza - lesen Sie die 2.!}handlung über die Verbesserung des Verstandes - die Frage :.::h dem philosophischen Leben und nach dem wahren Leben :c::-ade an den eigentlichen Ursprung des Projekts des Philoso:Terens. 3 Und unter dem Vorbehalt viel genauerer Analysen :';3nnte man sagen, daß wir in Spinoza gewissermaßen die letzgroße Gestalt haben, der zufolge die philosophische Praxis .~..:.lspruch auf das grundlegende und wesentliche Projekt erein philosophisches Leben zu führen. Spinoza und der wie er gelebt hat, könnte man Leibniz gegenüberstellen, 2=r der erste moderne Philosoph wäre, insofern für ihn die phi::sophische Tätigkeit, weit davon entfernt wie bei Spinoza die '::::ltscheidung für ein philosophisches Leben zu beinhalten, :::h immer in einer Reihe von Tätigkeiten manifestierte und
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darin ausgeübt wurde, die man als modern bezeichnen könnte: Er war Bibliothekar, Diplomat, Politiker, Verwalter etc. Hier haben wir eine Form des modernen philosophischen Lebens, die man der philosophischen Praxis von Spinoza gegenüberstellen könnte, die ein wahres Leben von einem völlig anderen Typus als dem des Alltagslebens beinhaltete. Aber strenggenommen könnte man wohl selbst im Falle von Leibniz anderer Ansicht sein. Es wäre jedoch interessant, die Geschichte der klassischen Philosophie ausgehend vom Problem des philosophischen Lebens zu schreiben, einem Problem, das als Wahl hinsichtlich der Ereignisse und Entscheidungen einer Biographie betrachtet werden kann, aber auch im Hinblick auf den Ort, [der ihm] im System selbst zugewiesen wird. Jedenfalls möchte ich einfach zu bedenken geben, daß, wenn es stimmt, daß die abendländische Philosophie die Frage nach dem Sein vergessen hat und daß dieses Vergessen die Metaphysik ermöglichte, daß dann vielleicht auch die Frage nach dem philosophischen Leben, ich würde zwar nicht sagen, vergessen, aber doch beständig vernachlässigt wurde; sie erschien der Philosophie, der philosophischen Praxis, einem philosophischen Diskurs, der sich immer mehr am Modell der Wissenschaft orientierte, unablässig als Ballast. Die Frage nach dem philosophischen Leben erschien ständig als immer nutzloserer Schlagschatten der philosophischen Praxis. Diese Vernachlässigung des philosophischen Lebens ermöglichte es, daß das Verhältnis zur Wahrheit nun nur noch in Gestalt des wissenschaftlichen Wissens für gültig erklärt und realisiert werden kann. In dieser Perspektive stellt der Kynismus als besondere Gestalt der antiken Philosophie, aber auch als wiederkehrende Haltung vor dem Hintergrund der gesamten abendländischen Geschichte, unabweisbar [in] Form des Skandals die Frage nach dem philosophischen Leben. Die Tatsache, daß der Kynismus sich immer zugleich innerhalb und außerhalb der Philosophie befindet (Vertrautheit und Fremdheit des Kynismus gegenüber der Philosophie, die ihm als Kontext, als Umgebung, als Ge308
~cnüber, als Gegner, als Feind diente), die kynische Darstel;c:ng des philosophischen Lebens als Skandal, all das ist das hi3::orische Kennzeichen, die erste Offenbarung, der Ausgangs:unkt dessen, was, wie mir scheint, die große Veräußerung des ?:-oblems des philosophischen Lebens in der Philosophie, in .:cr philosophischen Praxis, in der Praxis des philosophischen :Jlskurses war. Deshalb interessiert mich der Kynismus, und :':csen Punkt möchte ich durch ihn zu bestimmen versuchen. Sie sehen, worin sich die Untersuchung des Kynismus für mich >=-,l, der Frage nach den Praktiken und Künsten des Lebens ver=~'1det: Der Kynismus war sowohl die elementarste als auch .,::c radikalste Form, in der man die Frage nach jener besonde~=n Lebensform gestellt hat - die offensichtlich nur eine besonaber sehr bedeutende und zentrale Form im Hinblick auf ..:ie Probleme ist, die sie stellt -, in der das philosophische Le.==ll besteht. Xun möchte ich untersuchen, wie der Kynismus die Frage dem philosophischen Leben gestellt und wie er dieses Le.:<,n praktiziert hat. Betrachten wir den Kynismus im Hinblick ':1Iauf, was er an Alltäglichem, Gewöhnlichem, Vertrautem, Sckanntem aufweist und inwiefern er allen Philosophien sei:er Zeit ähnlich war. Wie gesagt - ich komme auf das zurück, -;;;"2S ich letztes Mal gesagt habe -, wissen wir über den Kynis:-:us wohlgemerkt nur wenig, das meiste davon stammt aus ~?äten Quellen der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung. :]a,.~er ist es sehr schwierig herauszufinden, ob der Kynismus i..ne Entwicklung durchlaufen hat. Es ist sogar schwierig her2:2szufinden, was die geschichtliche Wirklichkeit der kyni,,:hen Überlieferung und Kontinuität seit jenen halblegendären ~"ersönlichkeiten wie Antisthenes, Diogenes und Krates war. =:::h betrachte den Kynismus, wie er sich in den Texten der er':en zwei oder drei Jahrhunderte unserer Zeitrechnung darund zwar unabhängig von jeder historischen Frage nach .:er Chronologie, Aufeinanderfolge, nach dem Einfluß oder ",'as auch immer. Am Ausgangspunkt der kynischen Praxis, c;;"":e sie in den Texten, von denen ich spreche, in Gestalt all ge-
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meiner Prinzipien, Grundprinzipien beschrieben wird, findet man eine Reihe von ganz gewöhnlichen, ganz geläufigen Elementen, die die kynische Praxis ganz deutlich einerseits mit der alten sokratischen Tradition und andererseits mit Themen verbinden, die in den anderen Philosophien üblich sind. Erstens ist die Philosophie für den Kynismus eine Vorbereitung auf das Leben - ein Thema, das natürlich ganz gewöhnlich ist und das man ganz leicht wiedererkennt. Diogenes wird beispielsweise der Aphorismus zugeschrieben, demzufolge man für das Leben entweder den logos oder den brochos bereithalten müsse, d. h. entweder die Vernunft (logos), die das Leben regelt, oder den Schnürriemen (brochos), mit dem man sich erhängt. 4 Entweder du erhängst dich oder du bereitest dein Leben gemäß dem logos. Die Philosophie ist die Vorbereitung auf das Leben. Zweitens beinhaltet diese Vorbereitung auf das Leben - auch hier haben wir ein ganz bekanntes Prinzip, das Sie leicht wiedererkennen werden -, daß man sich vor allem um sich selbst kümmert. Man findet bei den Kynikern viele Zeugnisse für die Bedeutung dieser Sorge um sich, dieser Regel »Kümmere dich um dich selbst«. Von Diogenes wird folgende Anekdote (chreia) berichtet. Eines Tages, als er gerade auf einem öffentlichen Platz oder an einer Straßenecke sprach, als er ernsthaft sprach und schwerwiegende, gewichtige Dinge sagte, hörte ihm niemand zu. Er unterbricht also seine Rede und beginnt, wie ein Vogel zu trillern. Und sogleich versammelt sich eine Menge von neugierigen Leuten um ihn herum. Er beschimpft dann die Gaffer, die ihn umringen, indem er ihnen sagt, daß sie es wirklich kaum erwarten können, »sich solchem Getändele mit vollem Eifer [zuzuwenden], während sie für ernste Dinge keine Zeit und keinen Antrieb hätten«.5 Zum selben Thema, daß man sich um sich selbst kümmern soll, worin die einzig sinnvolle Sache besteht, finden Sie eine ganze Menge von Zeugnissen. Beispielsweise tadelte Demonax - das ist ein Zeugnis, das bei Stobaeus zitiert wird - die Menschen, die viel Mühe auf ihren Körper verwenden, während sie jedoch sich selbst
7;::rnachlässigen. Das ist so, sagte er, als ob man für sein Haus 5Drgen wolle, ohne für die zu sorgen, die darin wohnen. 6 Und ~ :Ilian sagt in seinen Reden, in denen er versucht, das reine, we5-;::ntliche und gültige Bild des Kynismus zu zeichnen, folgen::;::5: Wer ein ernsthafter (spoudaios) Kyniker sein will, muß da:=it beginnen, sich zunächst um sich selbst zu kümmern - und ;::-: verwendet jenen berühmten Ausdruck, den ich so oft zitiert Gabe: hautou proteron epimeletheis -, indem er Diogenes und ::~rates nachahmt. 7 Diogenes und Krates sind also die Lehrer ~;::r Sorge um sich selbst, so wie wir gesehen haben, daß Sokra:::5 es war. Auch hier haben wir ein Thema, das in der Philoso. gänzlich banal und geläufig ist. :::hs dritte Prinzip, das man bei den Kynikern ständig wieder::olt findet und das ebenfalls ein völlig vertrautes Thema ist, be52.gt, daß man, um sich um sich selbst zu kümmern, nur das zu _:.:rnen braucht, was im und für das Leben wirklich nützlich ist. :::Jiogenes Laertius zitiert die folgenden Worte von Diogenes o;::m Kyniker. Letzterer »sprach [...] sein Befremden aus über ~;e Grammatiker, die des Odysseus Fehler aufspüren, die ihri~en aber unbeachtet ließen, und daß die Musiker zwar die Sai::-;n der Leier zum Einklang stimmten, ihre eigene Seelenverfas5:mg aber dem Mißklang preisgeben. So schauten auch die :,hthematiker nach Sonne und Mond, aber was ihnen vor den :::üßen läge, das übersähen sie, und die Redner würden nicht :=üde, von dem zu sprechen, was recht sei, es aber zu tun, un:;::rließen sie.«8 Ganz im selben Geist - auch hier in einem Text, Oer bei Stobaeus zitiert ist - habe Demonax jemandem geant,mrtet, der ihn fragte, ob seiner Meinung nach die Welt eine ::~ugel sei oder nicht: »Ihr sorgt euch wohl sehr um das Thema :er Ordnung im Kosmos, kümmert euch aber überhaupt nicht :Im eure eigene innere Unordnung.«9 Wenn man sich also um s:ch selbst kümmern will, dann soll man nicht die Ordnung des "Kosmos, nicht die weltlichen Dinge, nicht die Grammatik, die ~,lathematik oder die Musik studieren, sondern die Dinge, die .mmittelbar dem Leben nützlich sind, d. h. der Pflege seiner 5elbst.
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Viertens muß man schließlich sein Leben in Übereinstimmung mit den Regeln bringen, die man aufstellt. Diogenes Laertius zufolge tadelte Diogenes der Kyniker die Leute, die die Reichtümer geringschätzen, aber die Reichen beneiden, er tadelte diejenigen, die den Göttern Opfer darbringen, um Gesundheit zu erlangen, sich jedoch während dieser Opfer mit Essen vollstopfen. lo Eine wahre Sorge um sich selbst kann es nur unter der Bedingung geben, daß die Prinzipien, die man als wahre Prinzipien aufstellt, gleichzeitig von der eigenen Lebensweise garantiert und beglaubigt werden. In allen diesen Dingen erkennen Sie völlig geläufige und traditionelle Prinzipien. Aber diesen vier so sehr allgemeinen Prinzipien, die man bei Sokrates wie bei den Stoikern oder selbst bei den Epikuräern findet, fügten die Kyniker ein fünftes, ganz verschiedenes hinzu, das für sie allein typisch war. Dieses Prinzip hatte ich letztes Mal am Ende erwähnt. Ihm zufolge soll man »paracharattein to nomisma« (den Wert der Münze verfälschen bzw. ändern). Ein schwieriges, dunkles Prinzip, das zu vielen Interpretationen Anlaß gab. Wir können festhalten, daß der Ausdruck paracharattein to nomisma bedeutet »die Münze ändern«, aber in zwei Hinsichten, einer abwertenden und einer positiven oder zumindest neutralen Hinsicht. Es kann sich nämlich um eine betrügerische Änderung der Münze handeln. Es kann sich auch um eine Änderung des Bildnisses auf der Münze handeln, die den wahren Wert dieser Münze wiederherzustellen ermöglicht. Jedenfalls wird das Prinzip mit seiner Doppeldeutigkeit des Sinnes (mit positivem oder negativem Wert) in der gesamten Doxographie und den meisten Quellenangaben, die man zum Kynismus findet, mit Diogenes und den bedeutendsten Kynikern assoziiert. So gibt es beispielsweise bei Diogenes Laertius mehrere Versionen des Lebensbeginns, der Berufung und der philosophischen Entscheidung von Diogenes. Nach der ersten Version sei Diogenes' Vater in Sinope Geldwechsler gewesen, hätte aber - im abwertenden, negativen Sinne des Begriffs - die Münze gefälscht. Und daher sei sein Sohn
=)iogenes gezwungen gewesen, die Stadt zu verlassen, sei aus~::wandert und in Athen ins Exil gegangenY Diogenes Laer::~.ls erzählt noch weitere Versionen mit Bezug auf dasselbe -=-nema. [Einigen dieser Versionen] zufolge - er zitiert Eubu:ies - hat Diogenes selbst, und nicht sein Vater, Geld ge:ilschtY Nach anderen Quellen hätte Diogenes spontan das )rakel von Delphi befragt - in dieser Version scheinen weder ~, selbst noch sein Vater Geld gefälscht zu haben -, und das Jrakel soll ihm gesagt haben: »Fälsche die Münze« oder »än:ere den Wert der Münze«.13 Schließlich kombiniert derselbe ::Jiogenes in einer komplizierteren Version die von ihm zuvor ;::nannten Versionen und sagt: Manchen zufolge hätte Dioge::,_es in seiner Kindheit und Jugend Münzen gefälscht, die sein \-:ner ihm gegeben hätte - hier finden wir den Vater und sein "-erhältnis zum Geld wieder -, weshalb Diogenes' Vater als . 'erantwortlicher dieser Fälschung ins Gefängnis kam und dort ;;,arb. Diogenes wäre zur Strafe verbannt worden oder selbst :'lsgewandert. Er wäre nach Delphi gegangen und hätte dem idphischen Gott die Frage gestellt: Wie wird man berühmt? :..-nd das Orakel hätte ihm dann gesagt: Präge die Münze um. 14 S:e sehen, daß in dieser Erzählung alles miteinander kombi:::iert wurde: der Vater, die Fälschung des Geldes durch Dioger.es und dann das delphische Gebot »Präge die Münze um« ?'1racharaxon to nomisma). =mmerhin wird das Prinzip, die Münze umzuprägen, regelmä.;ig mit dem Kynismus assoziiert, und in den LebensbeschreiJungen, die Diogenes Laertius erzählt, finden wir eine ganze 3.eihe von Anekdoten, die die Kyniker regelmäßig mit dem Gdd, seiner Verwendung, seinem richtigen oder verfälschten Gebrauch assoziieren. So war beispielsweise Diogenes Laer:2US zufolge Monimos, der der erste Schüler von Diogenes dem Kyniker gewesen sein soll, Diener eines Bankiers. 15 Krates sei :"in überaus reicher Mann gewesen, der, nachdem er das Ver:nägen seines Vaters geerbt hatte, dieses Vermögen aufgegeben .md das Geld an die Armen verteilt hätte, wenn er nicht das ;anze geerbte Bargeld einer anderen Version zufolge ins Meer
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geworfen hat. 16 In der Lebensbeschreibung von Menippos, die Diogenes Laertius nach Hermippos zitiert, sei Menippos ein Wucherer gewesen, der Schätze angehäuft hätte, aber am Ende von seinen Gegnern ruiniert worden sei und sich aus Verzweiflung erhängt hätteY Was Bion von Borysthenes betrifft - der sich an der Grenze zwischen einer bestimmten Form des Platonismus und des Kynismus befindet -, so erzählte er Diogenes Laertius zufolge, daß sein Vater, nachdem er die Steuerbehörde betrogen hatte, mit seiner ganzen Familie verkauft worden sei. Und so sei Bion von Borysthenes zum Sklaven geworden. 18 Wie Sie sehen, wird sehr oft, wenn es um die Kyniker geht, eine Geschichte über das Geld, die Bank, den Geldwechsel erzählt. Wichtig ist jedoch und das möchte ich festhalten, daß das Prinzip »Präge die Münze um«, »Ändere den Wert deiner Münze« als ein Lebensprinzip und sogar als das grundlegendste und charakteristischste Prinzip der Kyniker gilt. Als Julian beispielsweise seine beiden großen Reden gegen die Kyniker schreibt, nimmt er sehr oft auf dieses Prinzip Bezug: die Münze umprägen, den Wert der Münze ändern. In der Rede Gegen die unwissenden Hunde - erinnern Sie sich, ich habe letztes Mal darüber gesprochen - stellt Julian den Kynismus als eine Art von universeller Philosophie dar, deren wesentliche Züge man in allen anderen Philosophien wiederfindet und deren Grundprinzipien nicht nur bis auf Herkules zurückgehen, sondern auf den Ursprung der Menschheit. In derselben Passage spricht Julian aus, was für ihn die beiden Prinzipien des Kynismus sind; er macht darauf aufmerksam, daß diese beiden Prinzipien genausoweit zurückgehen wie der pythische ApolIon. Die beiden Prinzipien sind nämlich erstens »Erkenne dich selbst« und zweitens »paracharaxon to nomisma« (bewerte dein Geld neu, präge deine Münze um, ändere ihren Wert). Und er fügt folgendes hinzu: Wenn das Prinzip, an das die Kyniker sich binden und auf das sie sich berufen, nicht an Diogenes allein gerichtet wurde, weil es ja auch insbesondere an Sokrates gerichtet wurde und allgemeiner noch an alle gerichtet
M'ar (es war in das Tor des Tempels selbst eingraviert), wurde .:agegen das Prinzip »paracharaxon to nomisma« nur an Dio;enes gerichtet. Julian zufolge hätte sich also von diesen beiden ~roßen grundlegenden Prinzipien, von diesen universalsten ?rinzipien der Philosophie das eine an alle und an Sokrates ~erichtet (»Erkenne dich selbst«), während das andere Dioge,:es allein vorbehalten geblieben sei (»Präge deine Münze :.:m«).19 =n der anderen Rede (Gegen den Kyniker Herakleios) stelltJu::an, der noch einmal an die beiden delphischen Prinzipien er:Ilnert (»Erkenne dich selbst«, »Ändere den Wert deiner Münze«), die wichtige und interessante Frage nach dem Verhältnis iieser Prinzipien. 20 Soll man seine Münze umprägen, um sich ;elbst zu erkennen oder kann man seine Münze umprägen, iniem man sich selbst erkennt? Julian entscheidet sich für die zweite Lösung, wenn er sagt, daß der, der sich selbst kennt, ge,:au weiß, was er ist und nicht bloß, was er zu sein scheint. Der Sinn, den Julian der Gegenüberstellung und Koordinierung iieser beiden Gebote gibt, wäre also folgender: Das grundle;ende Gebot ist »Präge deine Münze um«; aber diese Umprä;ung kann sich nur über den Weg und die Vermittlung des »Erk.enne dich selbst« vollziehen, die das Falschgeld der Meinung, 2ie man von sich selbst hat und die die anderen von einem ha::len, durch die wahre Münze der Selbsterkenntnis ersetzt. Man .;';'ann auf sein eigenes Leben Einfluß nehmen, man kann sich :.:m die eigene Person wie um eine wirkliche Sache sorgen, man ::ann die wahre Münze der eigenen wahren Existenz in Hänien halten, wenn man sich selbst erkennt. Und Julian bemerkt, iaß diese Münze, die er selbst war, ihren wahren Wert angenommen hat, sobald Diogenes dem pythischen ApolIon ge:,-orcht hatte und er damit begann, sich selbst zu erkennen. Weil er sich selbst erkannte, konnte Diogenes sich selbst sogar ge;enüber Alexander für überlegen halten, und die anderen k.onnten das ebenfalls. Das ist der Bezug auf jene berühmte Konfrontation zwischen Diogenes und Alexander. Alexander sagt: Wenn ich nicht Alexander gewesen wäre, hätte ich Dioge-
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nes sein wollen;21 Diogenes erwidert ihm: Aber der wahre König (die wahre Münze) bin ich. Sie sehen, daß während der ganzen Geschichte und der Darstellung des Kynismus das Thema der paracharaxis tou nomismatos, das Gebot »paracharaxon to nomisma« (Präge die Münze um) im Zentrum der kynischen Erfahrung und Praxis stehen. Natürlich findet man eine Reihe von Interpretationen dieses Prinzips, die sich im wesentlichen um das Thema drehen, daß nomisma zwar Geld bedeutet, aber auch nomos, Gesetz und Brauch. Das Prinzip, das nomisma umzuprägen, bedeutet auch, den Brauch zu ändern, mit ihm zu brechen, die Regeln, Gewohnheiten, Konventionen und Gesetze zu brechen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß diese Formel auf diese Weise interpretiert und verstanden wurde, was auch immer ihr ursprünglicher Sinn gewesen sein mag. Das müssen wir also in gewisser Weise festhalten. Aber mir scheint, daß wir in der Analyse dieses Prinzips noch etwas weiterkommen können. Vielleicht könnte man den Sinn dieser Formel erhellen, wenn man an die Beschreibung erinnert, die die Kyniker von sich selbst gegeben zu haben scheinen, als sie die Bestimmung kommentierten, die sie sich selbst zuschrieben, nämlich die des »Hundes«. Zu den Gründen, aus denen Diogenes »der Hund« genannt worden war, gibt es verschiedene Interpretationen. Die einen haben mit einem bestimmten Ort zu tun: wegen des Ortes, den Diogenes als sein Heim wählte. 22 Anderen Interpretationen zufolge sei diese Bestimmung eine Folge dessen, daß er das Leben eines Hundes geführt habe. Da er von den anderen als Hund betrachtet wurde, habe er sich dieses Attribut zu eigen gemacht und sich zum Hund erklärt. Auch hier spielt der Ursprung der Formel eigentlich keine Rolle. Das Problem besteht vielmehr darin, welche Bedeutung sie annimmt und wie man sie in dieser kynischen Tradition benutzt, die man im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung erkennen kann. Bei einem Kommentator von Aristoteles 23 - aber auch andere Autoren nehmen oft darauf Bezug - finden wir folgende Interpretation des bios kynikos, die kanonisch gewesen zu sein
~;::heint. Erstens ist das kynikos Leben insofern wie das Leben .::nes Hundes, als es ohne Schamgefühl, ohne Scham, ohne ::::enschliche Ehrfurcht ist. Es ist ein Leben, das in der Öffent.-::chkeit und in den Augen aller das tut, was allein die Hunde ..:rrd Tiere zu tun wagen, während es die Menschen gewöhnlich c,·erbergen. Das Leben des Kynikers ist das Leben eines Hunies, da es unzüchtig ist. Zweitens ist das kynische Leben das =.eben eines Hundes, weil es wie das der Hunde gleichgültig :5L Gleichgültig gegenüber allem, was geschehen mag, ist es an :-cichts gebunden, begnügt sich mit seinem Besitz und kennt ,,;eine anderen Bedürfnisse als jene, die es unmittelbar befriedisen kann. Drittens gleicht das Leben der Kyniker dem Leben eines Hundes, es erhielt das Attribut kynikos, weil es gewisser::::aßen ein Leben ist, das bellt, ein diakritisches (diakritikos) ::'eben, d. h. ein Leben, das imstande ist, sich zu schlagen, die ? einde anzubellen, das die Guten von den Schlechten zu unter:,cheiden weiß, die Wahren von den Falschen, die Herren von ien Feinden. In folgendem Sinne ist es ein diakritikos Leben: ,,:n Leben des Urteilsvermögens, das Prüfungen vorzunehmen c:eiß, das zu testen und zu unterscheiden weiß. Schließlich ist ias kynische Leben viertens phylaktikos. Es ist das Leben eines \,~'achhunds, ein Leben, das sich zu opfern weiß, um die ande::-en zu retten und das Leben der Herren zu schützen. Ein Le:,en der Schamlosigkeit, ein adiaphoros (gleichgültiges) Leben, ein diakritikos (diakritisches, unterscheidendes, gewisserma:}en bellendes) Leben und einphylaktikos Leben (ein wachsames Leben, das Leben eines Wachhunds). Sie sehen, daß es nicht schwierig ist, in diesen vier Merkmalen, iie, wie gesagt, in der Tradition, in der die Kyniker dargestellt ,;,,-erden, in diesen Begriffen kanonisch, erhaben, ausgezeichnet sind, eine sehr enge Verwandtschaft mit jenen zu erkennen, die :ch letztes Mal hervorzuheben versuchte und durch die man :::-adionellerweise das wahre Leben definierte. Im Grunde ist ias kynische Leben zugleich der Widerhall, die Fortführung, iie Verlängerung, aber auch der Grenzübertritt und der Umschwung des wahren Lebens (dieses unverborgenen, unabhän-
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gi gen, geraden, souveränen Lebens). Was ist denn das schamlose Leben, wenn nicht die Fortführung, die Verfolgung, aber auch der Umschwung, der skandalöse Umschwung des unverborgenen Lebens? Sie erinnern sich, daß dieser bios alethes, dieses Leben in der aletheia, ein Leben ohne Verheimlichung war, das nichts verbarg, ein Leben, das imstande war, sich über nichts zu schämen. Nun, dieses Leben ist im Extrem das unverschämte Leben des kynischen Hundes. Das gleichgültige Leben, dieses adiaphoros Leben, das nichts braucht, das sich mit dem begnügt, was es besitzt, was ihm begegnet, was man ihm entgegenschleudert, dieses Leben ist nichts anderes als die Fortführung, die Verlängerung, der Grenzübertritt, der skandalöse Umschwung des unvermischten Lebens, des unabhängigen Lebens, das eines der grundlegenden Merkmale des wahren Lebens war. Das diakritische Leben, das bellende Leben, das zwischen Gut und Böse, zwischen den Freunden und den Feinden, zwischen den Herren und den anderen unterscheiden hilft, ist die Fortführung, aber auch der skandalöse, gewaltsame, polemische Umschwung des geradlinigen Lebens, des Lebens, das dem Gesetz (dem nomos) gehorcht. Schließlich ist das Leben des Wachhunds, das Leben des Kampfes und des Dienstes, das den Kynismus auszeichnet, ebenfalls die Fortführung und der Umschwung jenes ruhigen Lebens, das Herr über sich selbst ist, jenes souveränen Lebens, das die wahre Existenz auszeichnete. Ich werde versuchen, all diese Dinge gleich genauer zu entwikkeln. Was ich jetzt hervorheben möchte, ist, wie Sie sehen, daß jene Umprägung der Münze, jene Änderung ihres Werts, die so beständig mit dem Kynismus verbunden sind, zweifellos so etwas wie folgendes bedeuten: die Formen und Gewohnheiten, die gewöhnlich die Lebensweise kennzeichnen und ihr ihre Gestalt geben, gilt es, durch das Bildnis der Prinzipien zu ersetzen, die traditionellerweise von der Philosophie angenommen werden. Aber durch die Tatsache selbst, daß man diese Prinzipien auf das Leben anwendet, anstatt sie bloß im Element des logos zu halten, aufgrund dessen, daß sie das Leben formen wie
das Bildnis einer Münze das Metall formt, auf dem es aufgeprägt ist, läßt man die anderen Lebensweisen, das Leben der anderen als nichts anderes als eine falsche Münze erscheinen, eine Münze ohne Wert. Wenn man diese äußerst traditionellen, die konventionellerweise anerkanntesten, die allgemeinsten Prinzipien der gängigen Philosophie betrachtet, so bringt man aufgrund der bloßen Tatsache, daß man ihnen die Lebensweise des Philosophen als Ansatzpunkt, als Ort der Verwirklichung, als Form des Wahrsprechens gibt, die wahre Münze mit ihrem wahren Wert durch das kynische Leben in Umlauf. Das kynisehe Spiel offenbart, daß dieses Leben, das wirklich die Prinzipien des wahren Lebens umsetzt, ein anderes ist als dasjenige, das die Menschen im allgemeinen und die Philosophen im besonderen leben. Ich glaube, daß wir mit dieser Vorstellung, daß das wahre Leben das andere Leben ist, in der Geschichte des Kynismus und in der Geschichte der Philosophie, gewiß aber in der Geschichte der abendländischen Ethik an einem besonders wichtigen Punkt angelangen. Wenn man nämlich einräumt, daß der Kynismus jene Bewegung ist, durch die das Leben ab dem Augenblick, da es wirklich, tatsächlich, wahrhaftig das Bildnis der Philosophie trägt, hierdurch zu einem anderen wird, dann befinden wir uns im Zentrum eines wichtigen Problems. Denn der Kynismus war ~l1sofern nicht einfach die Form der unverschämten, groben, elementaren Erinnerung an die Frage nach dem philosophischen Leben. Er hat eine sehr schwerwiegende Frage aufgeworfen oder vielmehr hat er seine Schärfe dem Thema des philosophischen Lebens gewidmet, indem er folgende Frage gestellt hat: Muß das Leben, um wirklich das Leben der Wahrheit sein zu können, nicht ein anderes Leben sein, ein radikal und paradoxerweise anderes Leben? Radikal anders, weil es ,,-öllig und in allen Punkten mit den traditionellen Formen der Existenz bricht, mit der philosophischen Existenz, die gewöhnlich von den Philosophen gepflegt wird mit ihren Halrungen und ihren Konventionen. Wird das wahre Leben nicht ein radikal und paradoxerweise anderes sein, da es in nichts an-
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derem bestehen wird als in der Umsetzung der in der geläufigen philosophischen Praxis am weitesten akzeptierten Prinzipien? Ist nicht und muß nicht das wahre Leben ein anderes Leben sein? Das ist eine Frage von großer philosophischer Bedeutung und von ziemlich großer historischer Tragweite. Vielleicht könnte man sagen - verzeihen Sie auch hier das Schematische, es handelt sich um Vermutungen, Punktierungen, Grundzüge, Arbeitsmöglichkeiten -, daß die griechische Philosophie seit Sokrates im Grunde mit und durch den Platonismus die Frage nach der anderen Welt gestellt hat. Sie hat aber auch von Sokrates oder vom sokratischen Vorbild ausgehend, auf das sich der Kynismus bezog, eine weitere Frage gestellt. Nicht die Frage nach der anderen Welt, sondern nach dem anderen Leben. Die andere Welt und das andere Leben waren, so scheint mir, die beiden großen Themen, die beiden großen Formen, die beiden großen Grenzen, zwischen denen die abendländische Philosophie sich unablässig entwickelte. Vielleicht könnte man folgendes Schema vorschlagen. Erinnern Sie sich an Heraklit, der, da er es ablehnte, das feierliche, majestätische, isolierte und zurückgezogene Leben des Weisen zu leben, zu den Handwerkern ging, sich an den Ofen des Bäkkers setzte und sich wärmte, da er denen, die sich darüber verwunderten und empörten, sagte: kai enthauta theous (aber auch dort sind die Götter).24 Heraklit [entwirft] eine Philosophie, eine philosophische Praxis, ein Philosophieren, das sich durch das Prinzip des kai enthauta theous (auch dort sind die Götter, bis hin zum Ofen des Bäckers) vollzieht. Das Philosophieren vollzieht sich im Denken der Welt selbst und in der Form desselben Lebens. Nur zeichnen sich mit der sokratischen Sorge um sich selbst, mit jener epimeleia heautou, über die ich schon so lange spreche, zwei große Entwicklungslinien ab, an denen entlang die abendländische Philosophie sich entfalten wird. Einerseits diese Entwicklungslinie nimmt ihren Ausgang im Text des AIkibiades, wie alle Neoplatoniker anerkannten - wird diese Sorge um sich selbst zu der Frage führen, was das, worum man
öich kümmern soll, in seiner Wahrheit, in seinem eigenen Wesen ist. Was ist dieses »Ich«, dieses »Selbst«, um das man sich ;';:ümmern soll? Diesen Fragen begegneten wir im Alkibiades,25 c:nd sie führten diesen Dialog zur Entdeckung, daß man sich c:m die Seele kümmern müsse, daß man die Seele aufmerksam 2:letrachten müsse. Und was entdeckt man im Spiegel der Seele, sich selbst aufmerksam betrachtet? Die reine Welt der 'i;Cahrheit, jene andere Welt, die die Welt der Wahrheit ist und "ach der man streben soll. In diesem Sinne begründete der AI€ibiades eben im Ausgang von der Sorge um sich selbst, im Ausgang von der Seele und der Selbstbetrachtung der Seele das Prinzip der anderen Welt und markierte den Ursprung der 2.bendländischen Metaphysik. _\ndererseits führt die Sorge um sich selbst von diesem Ausgangspunkt, der seinen Ursprung dieses Mal jedoch nicht im Alkibiades, sondern im Laches findet, nicht zu der Frage, was iieses Seiende, um das ich mich kümmern soll, in seiner Wirk:ichkeit und seiner Wahrheit ist, sondern was diese Sorge sein soll und wie ein Leben aussehen soll, das beansprucht, sich um sich selbst zu kümmern. Von hier aus wird nicht eine Bewegung zu jener anderen Welt hin in Gang gesetzt, sondern die Erforschung dessen, was im Verhältnis zu allen anderen Lebensformen diejenige sein soll, die sich um sich selbst und darum kümmert, was sie in Wahrheit ist. Diese andere Entwicklungslinie verdankt, wenn nicht ihren Ursprung, so doch zumindest ihre philosophische Begründung der Frage nach der Lebenskunst und Lebensart. Auf dieser Linie begegnen wir nicht dem Platonismus und der Metaphysik der anderen Welt. Wir begegnen dem Kynismus und iem Thema des anderen Lebens. Diese beiden Entwicklungslinien - von denen die eine zur anderen Welt und die andere zum anderen Leben läuft, und zwar beide im Ausgang von der Sorge um sich selbst - streben offensichtlich auseinander, da die eine die platonische, neuplatonische Spekulation und die abendländische Metaphysik erzeugen wird, während die andere in einem gewissen Sinne zu nichts weiter als der kynischen
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U ngehobeltheit führen wird. Aber sie wird der Frage nach dem philosophischen Leben und dem wahren Leben als anderem Leben wieder Schwung verleihen, und zwar als Frage, die im Hinblick auf die philosophische Praxis sowohl zentral als auch randständig ist. Kann und muß nicht das philosophische Leben, das wahre Leben notwendig ein radikal anderes Leben sein? Diese beiden großen, auseinanderstrebenden Gründungslinien aller abendländischen philosophischen Praxis sollte man, wie mir scheint, natürlich nicht so betrachten, daß sie einander völlig und entschieden fremd gewesen wären. Schließlich hat auch der Platonismus die Frage nach dem wahren Leben in Form der anderen Existenzweise gestellt. Und wir haben gesehen, daß gerade der Kynismus sich in philosophischen Spekulationen verzweigen oder mit solchen kombinieren oder sich mit ihnen beschweren konnte, die der urwüchsigen, elementaren und ungeschliffenen Tradition des Kynismus selbst ziemlich fremd waren. Es hat also eine ständige Wechselwirkung gegeben. Man muß auch die Tatsache berücksichtigen, die in der Geschichte der abendländischen Philosophie, Moral und Spiritualität eine Hauptrolle spielte, nämlich daß das Christentum, aber auch alle gnostischen Strömungen26 rings um das Christentum, gerade Bewegungen waren, in denen versucht wurde, auf systematische und zusammenhängende Weise das Verhältnis zwischen der anderen Welt und dem anderen Leben zu denken. In den gnostischen Bewegungen und im Christentum hat man versucht, das andere Leben, das einen Bruch darstellende Leben, das Leben der Askese, das Leben ohne gemeinsames Maß mit der [gewöhnlichen] Existenz als Bedingung für den Zugang zur anderen Welt zu denken. Dieses Verhältnis zwischen dem anderen Leben und der anderen Welt - das im Zentrum der christlichen Askese so tief durch das Prinzip gekennzeichnet ist, daß das andere Leben zur anderen Welt führt - wird in der protestantischen Ethik und durch Luther radikal in Frage gestellt, als der Zugang zur anderen Welt durch eine Lebens32 2
form bestimmt wird, die mit der Existenz im Diesseits völlig übereinstimmt. Dasselbe Leben zu führen, um zur anderen \\(!elt zu gelangen, das ist die Formel des Protestantismus. Von diesem Augenblick an ist das Christentum modern geworden. 'Wir machen eine Pause von drei Minuten und wenden uns dann wieder dem Problem des anderen Lebens zu.
Anmerkungen I
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Die Porträts von Demetrius stehen bei Seneca (Über die Wohltaten, VII, I-lI und XI und Briefe an Lucilius, 69). Montaigne wurde r982 als vollkommene Illustration des Versuchs in der Renaissance vorgestellt, »eine Ästhetik und eine Ethik des Selbst wiederzubegründen« (L'Hermeneutique du sujet, a. a. 0., S.240; dt.:
S·3 12 ). 3 Spinoza und seine Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes wurden von Foucault schon r982 als Zeugen dafür berufen, das Fortbestehen spiritueller Ansprüche innerhalb der klassischen Philosophie nachzuweisen (L'Hermeneutique du sujet, S. 29; dt.: S. 48). 4 »Nicht selten sagte er, er glaube, man müsse sich zum Leben entweder mit Verstand ausrüsten oder mit einer Schlinge (um sich zu erhängen)« (Diogenes Laertius, Leben und Meinungen ... , übers. v. O. Apelt, a.a.O., VI. Buch, §24, S.290)' 5 Leben und Meinungen ... , S. 291. 6 »Demonax tadelte die Leute, die sich große Sorge um ihren Körper machen, während sie sich selbst vernachlässigen, als ob man sich um sein Haus kümmern würde, ohne für die zu sorgen, die darin wohnen« (Stobaeus, W. H., II, I, r r, in: Les Cyniques grecs, übers. v. L. Paquet, a.a.O., S.28r). 7 »Wer daher ein Kyniker und ein Mann von sittlichem Ernste (kynikos einai kai spoudaios aner) sein will, der soll sich zunächst wie Diogenes und Krates um sich selbst kümmern [...}< (Kaiser Julian, Rede gegen die ungebildeten Hunde, 20rd, übers. v. R. Asmus, a. a. 0., S. 75). 8 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen ... , übers. v. O. Apelt, VI. Buch, § 27-28, S. 29r-292). 9 Stobaeus, W. H. II, I, r (in: Les Cyniques grecs, Demonax, Nr.6r, S.282). 18 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen ... , übers. v. O. Apelt, VI. Buch, § 27-28, S. 292. 1 I »Diokles erzählt, sein Vater habe ein öffentliches Wechselgeschäft gehabt und sei wegen Falschmünzerei flüchtig geworden« (Leben und Meinungen ... , übers. v. O. Apelt, VI. Buch, § 20, S. 288).
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I2 "Eubulides aber berichtet in seinem Buch über Diogenes, dieser sei selbst der Täter gewesen und sei mit seinem Vater in die Fremde gegangen« (ebd., VI, 20, S. 288). I3 Foucault spricht hier die dritte Version an, die Diogenes Laertius vorschlägt und die in der Tat viel komplexer ist: Diogenes sei als öffentlicher Verwalter von Finanzbeamten überredet worden, Münzen zu fälschen. Er sei nach Delphi gegangen, um diesbezüglich um Rat zu fragen, und das Orakel habe geantwortet "präge um«, indem es sich jedoch auf alteingesessene Bräuche bezog. Diogenes habe es mißverstanden und dann Münzen gefälscht. I4 ,,[ ...] noch andere behaupten, er sei vom Vater zur Münzfälschung veranlaßt worden und dieser sei im Gefängnis gestorben, er aber sei flüchtig geworden und nach Delphi gegangen und habe da angefragt, nicht ob er das Geld fälschen dürfe, sondern was ihm dazu verhelfen würde, alle an Ruhm zu übertreffen, und habe darauf jene Antwort erhalten« (Leben und Meinungen ... , übers. v. O. Apelt, VI. Buch, §2I, S.288). I5 Foucault läßt sich hier von der alten Übersetzung von R. Genaille täuschen. Tatsächlich stiehlt Monimos nicht das Geld, sondern zerstreut es, er wirft es durcheinander (" Dadurch weckte er in Monimos die Liebe zu dem Mann in dem Grade, daß er sich wahnsinnig stellte und das Kleingeld sowie sämtliches Silbergeld auf den Wechslertisch bunt durcheinanderwarf, bis ihn sein Herr entließ« (ebd., VI, § 82, S. 3 I9). I6 »Er habe sein Vermögen zu Gelde gemacht - denn er gehörte zu den reichstbegüterten - und an die zweihundert Talente zusammengebracht, die er an seine Mitbürger verteilt habe. [...] Diokles berichtet, Diogenes habe ihn überredet, sein Landgut zur freien Schafweide zu machen, und was er an barem Gelde habe, ins Meer zu werfen« (ebd., VI, 87, S. 322). I7 Ebd., VI, 99-IOO, S. 327-328. I8 Ebd., IV, 46, S. 2I2. I9 Julian (der Kaiser), Rede gegen die ungebildeten Hunde, I88a-b, S. 5960. 20 Julian (der Kaiser), Gegen den Kyniker Herakleios, 2I Ib-d, übers. v. R. Asmus, a.a. 0., S.94-95. 2I Diogenes Laertius, Leben und Meinungen ... , übers. v.O. Apelt, VI. Buch, §32, S.293. 22 Tatsächlich handelt es sich um den Aufenthaltsort von Antisthenes, dem ersten Kyniker: "Seinen Unterricht erteilte er in dem Kynosarges, einem Gymnasium nicht weit vor dem Tor, wovon nach einigen die Schule auch ihren Namen bekommen haben soll« (ebd., VI, I3, S. 284). 23 Es handelt sich um Elias (vgl. Commentaire sur les Categories,proemium, I-32, hg. v. A. Busse, Berlin, IV, 2, I888, S.III; vgl. auch C.A. Brandis, Commentaria in Aristotelem graeca, Berlin, Akademie der Wissenschaften, I836, Neuaufl. I882-I909, S.23; J. Humbert, Socrate et les petits socratiques, Paris I967).
_ ··Wie Heraklit Berichten zufolge zu Fremden sagte, die ihn treffen ,,;ollten, die jedoch, als sie bei ihm eintraten, sahen, wie er sich in der Küche wärmte, und wie angewurzelt stehenblieben - er forderte sie auf, ruhig einzutreten, weil 'selbst an einem solchen Ort Götter weil:en< (einai gar kai enthauta theous) (Les tcoles presocratiques, Heraklit -0,. 9, hg. v.J.-P. Dumont, Paris I99I, S. 57). Diese Passage ist ein Auszug aus Aristoteles (Vier Bücher über die Teile der Tiere, I, 5, 645a7-23, übers. v. A. von Frantzius, Aalen I978). Foucault verfrachtet also Heradit von der »Küche« an den "Backofen«. Es scheint, daß es sich in Aristoteles' Text um eine »Toilette« handelt, daß aber die Tradition vorzog, an eine »Küche« zu denken (vgl. die Übersetzung von J.-F. Pradeau, in: Heraclite. Fragments, Paris 2002, S. I93, sowie die Anm. auf S. 324). :.: Vgl. zu diesem Punkt die Vorlesung vom I3. Januar I982, in: L'Hermeneutique du sujet, S. 68-7I; dt.: S.98-I02. :.: \-gl. zu dieser Bewegung die Hinweise Foucaults in seiner Vorlesung aus dem Jahr I982 (ebd., S. 246, 402-403; dt.: S. 51 I- 5I3).
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Bei der Analyse des kynischen Lebens hatte ich auf vier Aspekte hingewiesen: das nicht-verborgene Leben, das unabhängige Leben, das geradlinige Leben und das souveräne Leben, das über sich selbst gebietet. Ich habe zu zeigen versucht, wie die Praxis des Kynismus, indem sie sich auf diese Themen stützte und sie zur Geltung brachte, gerade darin bestand, sie zum Skandal umzuwenden. Erstens, das nicht-verborgene Leben. Letztes Mal hatte ich versucht, Ihnen zu zeigen, daß der Begriff des wahren Lebens (alethes bios) zunächst und vor allem in Abhängigkeit von dem allgemeinen Prinzip Gestalt gewann, daß das alethes das Unverborgene, das Nicht-Verheimlichte ist. Das wahre Leben war also das nicht-verborgene Leben, das Leben, das keines seiner Teile verbirgt, und zwar deshalb, weil es keine schändliche Handlung begeht, keine unredliche, tadelnswerte Handlung, die bei den anderen Mißbilligung hervorrufen und denjenigen, der sie begeht, zum Erröten bringen könnte. Das unverborgene Leben ist also das Leben, über das man nicht errötet, weil man darüber nicht zu erröten braucht. Für diese Vorstellung vom wahren Leben als einem unverborgenen Leben, über das man nicht errötet, ließen sich viele Beispiele finden. So erinnern Sie sich zum Beispiel bei Platon an das, was im Phaidros und im Gastmahl gesagt wird: Die wahre Liebe ist diejenige, die keine beschämende Handlung zu verbergen hat und die niemals die Dunkelheit sucht, um ihr Begehren zu erfüllen. 1 Sie ist eine Liebe, die immer unter dem Rückhalt und der Garantie
:'er anderen gelebt und praktiziert werden kann. Man könnte LUch bei Seneca eine ganze Reihe von sehr interessanten Aus~::inrungen über dieses unverborgene Leben finden. Für Seneca :sc das wahre Leben das Leben, das man so leben soll, als ob :::-,an immer dem Blick der anderen im allgemeinen ausgesetzt ",'ire, aber vor allem und vorzugsweise dem Auge, dem Blick, :ler Kontrolle des Freundes, der zugleich ein anspruchsvoller ?i.inrer und Zeuge ist. Für Seneca hatte selbst die Praxis der :';:'orrespondenz, des Austauschs von Briefen, die den Autor 2eS Briefs und seinen Empfänger einander gegenwärtig werden gerade diese Funktion, gewissermaßen die Existenz der ~eiden Briefpartner dem Blick jedes der beiden auszusetzen, . :'Oden dem Blick des anderen zu unterstellen. 2 Einerseits stellt :er Autor des Briefs für denjenigen, an den er seine Ratschläge Meinungen richtet, eine Art Auge bzw. ein Prinzip der "C-berwachung dar. Seneca sagt zu Lucilius: Wenn ich dir einen Brief schicke, in dem ich dir meine Ansichten unterbreite, dann :5: es in gewisser Weise so, als ob ich selbst käme, um zu sehen ':.:.nd zu prüfen, was du gerade tust. Insofern er sein eigenes Lecen erzählt, was er tut, seine Entscheidungen, sein Zögern, sei::::Oe Entschlüsse, setzt der, der den Brief schreibt, andererseits sein eigenes Leben dem Blick seines Empfängers aus. Die bei:'en Briefpartner, der Autor des Briefs und der Empfänger, stehen somit jeweils unter dem Blick des anderen. Die Korrespondenz ist eine Praxis des wahren Lebens als eines unverbor;::enen Lebens, d. h. als Leben, das zugleich unter dem wirklichen und virtuellen Blick des anderen steht. Bei Epiktet würden wir noch eine weitere Formulierung, weitere Variationen über dieses Thema des unverborgenen Lebens :1nden. Das unverborgene Leben bei Epiktet ist nicht dasjeni;::e, das sich durch die Korrespondenz dem Blick des anderen LUssetzt, sondern ein Leben, das sich bewußt ist, daß es sich ;::änzlich vor einem gewissen inneren Blick abspielt, nämlich dem Blick der Gottheit, die in uns wohnt. Die Unverborgen~1eit wird somit zu einer Folge der ontologischen Struktur des :t1enschlichen Wesens, wenn der logos ein göttliches Prinzip
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Vorlesung 7 (Sitzung vom 14. März 1984, zweite Stunde)
Das unverborgene Leben: die stoische Version und die kynische Umwertung. - Das unvermischte Leben in seiner traditionellen Interpretation: Unabhängigkeit und Reinheit. - Die kynische Armut: wirklich, aktiv, unbestimmt. - Die Suche nach Entehrung. - Kynische Demütigung und christliche Demut. - Die kynische Wende des geradlinigen Lebens. Der Skandal der Tiernatur.
~'~icht- Verbergens,
(ein daimon) in der Seele ist. Auf diese Weise bringt Epiktet in einer Reihe von Passagen, die Ihnen bekannt sind, dieses Prinzip des unverborgenen Lebens zum Ausdruck, das jedoch gegenüber diesem inneren Blick unverborgen ist, der sich sehr von der Kontrolle über die Liebe unterscheidet, von der Platon sprach, und der auch von jener Praxis der spirituellen Korrespondenz bei Seneca so verschieden ist. Bei Epiktet besteht die Unverborgenheit darin, daß man unter diesem inneren Blick lebt und sich dessen bewußt ist. Im Gespräch 14 des 1. Buchs sagt er: »Zeus [... ] hat auch jedem Menschen seinen eigenen Genius als Beschützer gesellt und beigegeben, um ihn für ihn zu behüten, einen Begleiter, der sich nicht einschläfern und betrügen läßt. [... ] Wenn ihr Türen und Fenster verschließt und Dunkel im Inneren eures Hauses macht, dürft ihr doch niemals glauben, daß ihr allein seid; denn ihr seid es nicht, sondern Gott ist drinnen und euer Schutzgeist. Und was brauchen diese Licht, um zu sehen, was ihr treibt ?«3 Und im Gespräch 8 des 11. Buchs lesen wir: »[Du] bist ein Stück von Gott. Du hast in dir einen Teil von ihm. [... ] Willst du nicht daran denken, wenn du issest, wer du bist, der da ißt, und wen du ernährst? Wenn du dich vermählst, wer du bist, der dies tut? [...] Einen Gott trägst du mit dir herum, du Unglücksmensch, und weißt es nicht! [... ] In dir selbst trägst du ihn, und es kommt dir gar nicht zum Bewußtsein, daß du ihn durch unlautere Gedanken und schmutzige Handlungen besudelst! «4 Dieses Thema des unverborgenen Lebens war von äußerster Wichtigkeit und nahm eine Reihe völlig verschiedener Formen an. In der philosophischen Tradition steht es jedoch als Charakterisierung des wahren Lebens im Mittelpunkt. Im Kynismus scheint es sehr regelmäßig wiederaufgenommen worden zu sein. Es wird jedoch nur durch eine Art von Verfälschung, von Umwertung aufgenommen, die aus seiner Anwendung einen Skandal macht. Wie vollzieht sich diese Verfälschung bzw. Umwertung? Zunächst auf die gewissermaßen einfachste, unmittelbarste, direkteste Weise: durch eine Dramatisierung jenes Prinzips des
eine Dramatisierung dieses Prinzips im und iurch das Leben selbst. Die Regel des Nicht-Verbergens ist für :2le Kyniker nicht mehr ein ideales Verhaltensprinzip, was sie Jei Epiktet oder noch bei Seneca sein konnte. Vielmehr geht es :.:m die Formgebung, um die Inszenierung des Lebens in sei:1er materiellen und alltäglichen Wirklichkeit: unter dem wirk:ichen Blick der anderen, aller anderen oder zumindest der srößtmöglichen Zahl von anderen. Das Leben des Kynikers ist ~n dem Sinne unverborgen, daß es wirklich, materiell und kör;Jerlich öffentlich ist. Diese Elemente des kynischen Lebens als eines öffentlichen Lebens erscheinen in den mehr oder weniger :egendären Erzählungen über Diogenes; diese sind allgemein 6ekannt. Diogenes Laertius erzählt: »[ ...] und so war ihm jeder Ort recht zum Frühstück, zum Schlafen, zur Unterhaltung, s:urz für alles.«5 Fehlen eines Hauses - das Haus war selbstverständlich wie auch bei uns, aber bei den Griechen noch mehr, ier Ort des Verborgenen, der Abschottung, des Schutzes vor iem Blick der anderen. Selbst die Kleidung fehlt: Der Kyniker Diogenes ist nackt, oder fast nackt. Es geht auch um die Wahl seiner Aufenthaltsorte: Korinth. Dion Chrysostomos sagt, daß Diogenes deshalb beschlossen hatte, so häufig nach Korinth zu gehen, weil Korinth eine große Stadt war, eine öffentliche Stadt, eine Stadt, in der man öffentlich leben konnte und wo man an Straßenecken und in den Tempeln Seeleute und Reisende treffen konnte, Leute, die aus allen Ecken der Welt kamen. Unter diesem Blick hatte Diogenes zu leben beschlossen. Schließlich starb er in einem Gymnasium an den Toren von Korinth, eingehüllt in seinen Mantel wie ein schlafender Bettler. Man hat seinen Mantel zurückgeschlagen und wurde ge"rahr, daß er tot war. 6 Im kynischen Leben gibt es keine Priyatsphäre, kein Geheimnis, nichts, was nicht öffentlich wäre. Diesem Thema werden wir in der Folge ständig begegnen: Der Kyniker lebt auf der Straße, er wohnt an den Toren der Tempel. Er ißt und befriedigt seine Bedürfnisse und seine Wünsche in der Öffentlichkeit. 7 Er läuft zu allen großen Versammlungen des Volkes hin. Man sieht ihn bei den Spielen und in den Thea-
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:::it zum Guten gehört. Das heißt, daß das Nicht-Verbergen,
terno Allen gegenüber bezeugt er sein eigenes Leben. Erinnern Sie sich auch an den berühmten Peregrinus, den Lukian so sehr haßte und der beschlossen hatte, sich auf dem Scheiterhaufen das Leben zu nehmen - zweifellos an der Verbindungs stelle eines alten herkulischen Themas und vielleicht auch einer Praxis, die aus Indien stammte. Peregrinus beschließt, sich zu verbrennen, aber er verbrennt sich öffentlich, während der Spiele, so daß die größtmögliche Anzahl von Zuschauern seinem Tod beiwohnt. Das kynische Leben hat eine absolute Sichtbarkeit. Aber diese Dramatisierung, diese Theatralisierung des Prinzips des Nicht-Verbergens wird sofort auch von einer Umkehrung seiner Wirkungen begleitet, so daß diese kynische Lebensweise, die dem Prinzip des Nicht-Verbergens wirklich am treuesten ist, durch diese Radikalisierung selbst als radikal anders und als nicht zurückführbar auf alle anderen Lebensweisen erscheint. Das Spiel, das bewirkt, daß diese Dramatisierung sich zu einem Skandal und eigentlich zu einer Umkehrung des unverborgenen Lebens der anderen Philosophen wenden wird, ist folgendes: Ein unverborgenes Leben ist ein Leben, das nichts von dem verbirgt, was nicht böse ist und das Böse nicht tut, weil es nichts verbirgt. Kann es nun, sagen die Kyniker, aber etwas Böses in dem geben, was die Natur will und was sie in uns hineingelegt hat? Und umgekehrt, wenn es in uns etwas Böses gibt oder wenn wir etwas Böses tun, geschieht das dann nicht dadurch, daß die Menschen der Natur durch ihre Gewohnheiten, ihre Meinungen, ihre Gebräuche etwas hinzugefügt haben? Weshalb das Nicht-Verbergen, wenn es die Garantie und die Bürgschaft für ein vollkommen gutes Leben leisten soll, für ein Leben, das gut sein wird, weil es vollkommen sichtbar ist, nicht die gewöhnlichen, herkömmlichen Grenzen der Schamhaftigkeit übernehmen und gutheißen darf, jene Grenzen, über die die Menschen übereingekommen sind und die sie für unverzichtbar halten. Im Gegenteil soll dieses Nicht-Verbergen unbegrenzt und rückhaltlos das im menschlichen Wesen zum Vorschein bringen, was zur Natur und so-
";'~'eit davon entfernt, jene traditionellen Regeln der Schamhaf::gkeit zu übernehmen und gutzuheißen, die bewirken, daß ::"an erröten würde, wenn man vor den anderen Böses tut, das !ugernis der Natürlichkeit des menschlichen Wesens vor den Augen aller sein soll. Dieses Ärgernis der Natürlichkeit, die ,2.c nstoß erregt, die das Nicht-Verbergen der Existenz, die iurch die traditionelle Schamhaftigkeit beschränkt ist, in ein Argernis verwandelt, [dieses Ärgernis] zeigt sich in den be:-:"ichtigten kynischen Verhaltensweisen. Diogenes aß in der Öffentlichkeit - was im traditionellen Griechenland nicht .Eicht zugelassen wurde. 8 Vor allem onanierte Diogenes in der ·.5ffentlichkeit. 9 Auch Krates, der zu heiraten einwilligte, weil SEine Frau ihm versprochen hatte, genau denselben Lebensstil, iieselbe Lebensweise wie er zu pflegen, schlief öffentlich mit :hr. 10 All das gehört gerade zur Form dieses unverborgenen Lebens, und zwar im Hinblick auf das Prinzip, das Diogenes "lud Krates oft wiederholen, nämlich: Wie sollte doch der Geschlechtsverkehr, die Verwirklichung sexueller Beziehungen ",15 etwas Böses betrachtet werden, da es ja zu unserer eigenen :'\ atur gehört? Da es zu unserer eigenen Natur gehört, kann es :'ichts Böses sein. Also muß man es auch nicht verbergen. Das 3ffentliche kynische Leben wird also ein Leben von anstoßer:"Egender und völlig sichtbarer Natürlichkeit sein, das jenes ?rinzip zur Geltung bringt, daß die Natur nie etwas Böses sein ;;'ann. Die kynische Dramatisierung des unverborgenen Le:Jens erweist sich also als die strenge, einfache und in einem gec;\'issen Sinn auch äußerst ungeschliffene Anwendung des Prinzips, daß man leben soll, ohne über das, was man tut, erröten zu müssen, daß man folglich vor den Augen der anderen und der Bürgschaft ihrer Gegenwart leben soll. Aber als Konsequenz dieser strengen, einfachen, ungeschliffenen Anwendung des allgemeinsten Prinzips erkennt man auch die Umkehrung lller Regeln, Gewohnheiten und Konventionen der Schamhaf:igkeit, die dieses Prinzip im Grunde spontan akzeptierte, fortsetzte und bestärkte. Das traditionelle philosophische Denken
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postulierte oder setzte unter dem Slogan des unverborgenen Lebens den Anspruch der Schamhaftigkeit fort, es akzeptierte deren Gewohnheiten. Der Kynismus hat durch die buchstäbliche Anwendung des Prinzips des Nicht-Verbergens die Richtlinien der Schamhaftigkeit gesprengt, mit denen dieses Prinzip des Nicht-Verbergens implizit oder explizit verbunden blieb. Das ist das unzüchtige Leben, das Leben in der anaideia (das schamlose Leben). Auf diese Weise dramatisiert, entfaltet das philosophische Leben der Kyniker das allgemeine Thema des Nicht-Verbergens, befreit es jedoch von allen vereinbarten Prinzipien. Daher erscheint das philosophische Leben gegenüber allen anderen Lebensformen als radikal anders. Zweitens nun, das unvermischte Leben. Erinnern Sie sich, das wahre Leben war das unvermischte Leben, d. h. das Leben ohne Bindung, ohne Abhängigkeit im Hinblick auf das, was ihm fremd sein mag, und zwar aufgrund des Prinzips, daß das, was alethes ist, auch rein ist, ohne Verfälschung, in vollkommener Selbstidentität. Diese Bestimmung des wahren Lebens als unvermischtes Leben hatte in der antiken Philosophie zu zwei recht verschiedenen Stilistiken des Lebens geführt, die gleichwohl häufig miteinander verbunden waren: eine Ästhetik der Reinheit, die man vor allem im Platonismus findet, wo es darum geht, die Seele von allem zu befreien, was ein Element der Unordnung, der U mast, der unfreiwilligen U muhe für sie darstellen könnte (sie also von allem Materiellen und Körperlichen zu befreien); und außerdem eine Stilistik der Unabhängigkeit, der Selbstgenügsamkeit, der Autarkie, die man leichter bei den Epikuräern und bei den Stoikern findet, wo es darum geht, das Leben von allem zu befreien, was es von äußeren Dingen, von ungewissen Ereignissen abhängig machen könnte.Jedenfalls geht es darum, eine Haltung zu bestimmen, die vollkommen losgelöst von denjenigen Ereignissen ist, auf die man keinen Einfluß hat. Die Gleichgültigkeit des kynischen Lebens, jenes gleichgültige Leben (adiaphoros bios) fügt sich in die gemeinsame Linie der verschiedenen Themen des unabhängigen Lebens ein. Auch hier entwickelt sie sich ausgehend von
Konsens, aber in einer solchen Form, daß sie dessen ?:-L'1zip verändert. Sie wertet die Münze um, sie ändert den ert dieser Münze, und sie bringt das philosophische Leben LS ein solches zur Erscheinung, das radikal anders ist oder sein ,::Hte. Wodurch? Zunächst auch hier durch etwas, was man ::5e materielle, physische, körperliche Dramatisierung des ?::-inzips des unvermischten und unabhängigen Lebens nennen ,:önnte. Und diese Dramatisierung des Prinzips der Unabhän::::gkeit in Form des Lebens selbst, des physischen, materiellen _eDens nimmt natürlich die Gestalt der Armut an. :-tier berühren wir ein Thema, das zugleich wichtig und '2:'1wierig ist. Denn das Thema, daß das wahre Leben ein Leben Armut sein soll, ist ein Thema, das offensichtlich eine sehr 1::-oße kulturelle Verbreitung hat und das man in vielen anderen :;'-;''Jlturen, vielen anderen Philosophien und natürlich auch in '''~ vielen Religionen wiederfindet. Sicherlich findet man in Griechenland schon früh - Sokrates war ein Beispiel :2.iür - die Vorstellung, daß das wahre Leben, das philosophi:;,::he Leben kein Leben in Reichtum, kein Leben sein kann, das ":eh an Reichtümer bindet. Dennoch hat die Frage der Armut der griechisch-römischen Ethik, Philosophie und philoso:.::ischen Praxis eine Reihe von Schwierigkeiten aufgeworfen, 23. die griechisch-römische Kultur unablässig einen bestimm:,,:1, gesellschaftlich anerkannten, bestätigten und strukturie:e:1den Gegensatz ausspielte: den Gegensatz zwischen den ':':-sten, den Besten, den Mächtigsten, denen, die Bildung und besitzen, und den anderen, der Menge, denen, die kei,,,rlei Macht, keine Bildung und auch kein Vermögen haben. .Jieser Gegensatz zwischen den ersten und den anderen, zwi,.:hen den Besten und der Menge, hat unablässig die antiken, :::riechischen und römischen Gesellschaften strukturiert und ::3.[ auch ständig, bis zu einem gewissen Grad, aber doch spür:: 3.r, das moralische und philosophische Denken der Antike ;eprägt. Selbst dort und selbst bei jenen, die wie z. B. Seneca sa;en, daß es keinen Unterschied zwischen der Seele eines Skla'"n und der Seele eines Ritters oder eines Senators gibt, gilt der
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Gegensatz zwischen den Besten und den anderen, zwischen den Ersten und der Menge, weiter. Seneca versäumt es nicht, beständig darauf hinzuweisen, daß er, was seine eigene Haltung angeht, höchsten Wert darauf legt, unter den Ersten, unter den Besten zu sein, im Gegensatz zu einer Menge - in der man übrigens mächtige und reiche Leute finden kann. Aber der Gegensatz: die Ersten und die Besten/die anderen und die Menge strukturiert diese Gesellschaften und diese Form des Denkens. Daher war die Frage der Armut als Bestandteil des wahren Lebens kein einfaches Problem in der antiken Gesellschaft, der antiken Kultur und im antiken Denken, zweifellos viel weniger einfach als im mittelalterlichen Christentum. Wohl auf~rund dieser Unsicherheit, aufgrund der Schwierigkeit, sich mit dem Prinzip zu versöhnen, daß das wahre Leben kein Leben in Reichtum sein kann, sondern daß das wahre Leben zugleich das Leben der Besten ist, finden wir im Hinblick auf die Armut eine etwas gemischte, doppeldeutige Einstellung; wir sehen jedenfalls, daß die Vorstellung privilegiert wird, die Hauptsache bestehe nicht so sehr darin, Geld zu besitzen oder nicht, sondern eine bestimmte Einstellung und Haltung gegenüber dem Geld, gegenüber dem Vermögen einzunehmen, die sich dadurch auszeichnet, daß man sich nicht von den Sorgen um dieses Vermögen völlig in Anspruch nehmen läßt, daß man sich nicht um die Vorstellung sorgt, daß man es verlieren könnte und daß man sich in dem Fall, daß man es tatsächlich verlieren würde, nicht verunsichern läßt. Bei dem wahren Leben, von dem die Philosophen sprechen, handelt es sich vielmehr um eine bestimmte Einstellung zum Vermögen und zur Mittellosigkeit und zum Übergang vom Vermögen zur Mittellosigkeit. Bei diesem wahren Leben geht es vor allem darum. Und wieder hat Seneca, der Gauner und überaus reiche Mann, ausführlich die Vorstellung entwickelt, daß das wahre Leben in einem Leben der virtuellen Loslösung vom Reichtum besteht. Dagegen und demgegenüber ist die kynische Armut wohlgemerkt eine wirkliche, materielle, physische Armut. Die kynische Armut ist wirklich, aktiv und unbegrenzt.
':::-stens ist die kynische Armut wirklich, d. h., sie ist keines.,;,-egs eine bloße Loslösung der Seele. Sie ist eine Nüchternheit cer Lebensweise, die auf materielle Dinge verzichtet, an die sie :-:erkömmlicherweise gebunden ist und von denen man ge.,;,.-ähnlich annimmt, daß sie davon abhängt. Die kynische ArIut wird sich beispielsweise auf die Kleidung, auf die Woh:::mg erstrecken, die auf ein Minimum reduziert werden, auf '::e Besitztümer - Krates verteilt wirklich seine Güter. 11 Sie ers:reckt sich auf die Nahrung, die man auf ein Minimum zu re,:uzieren versucht. Wir können dieses kynische Leben mit Iehreren Passagen von Seneca in seiner Korrespondenz mit ~ucilius vergleichen, in denen er die Arten von Vorbereitungszeiten im Hinblick auf die Armut anspricht, denen man sich '.-on Zeit zu Zeit unterziehen sol1. 12 Seneca sagt: Einige Tage 2ng, drei oder vier, solltest du dich mit grobem Wollstoff bei:leiden, auf einer Pritsche schlafen, so wenig wie möglich essen; ich verspreche dir, daß dir das guttun wird, nicht nur des:-:alb, weil es dir wieder eine gewisse Fähigkeit zum Genuß -,-erleihen wird - das tun nämlich auch viele Schlemmer -, son':ern auch deshalb, weil es dich lehren wird, allen diesen Din~en gegenüber eine solche Haltung einzunehmen, daß, wenn ,:U zufällig alles verlieren solltest, du nicht darunter leiden ':'iürdest. Es handelt sich also um einen Schutz gegen ein mögliches Ereignis, und nicht um eine wirkliche Praxis, sozusagen -.lm eine virtuelle Übung. Die kynische Armut ist jedoch eine wirkliche Armut, die echte Entsagung übt. Zweitens ist sie eine aktive Armut in dem Sinne, daß es sich ::icht um eine Armut handelt, die sich damit begnügte, auf jede Sorge um das Vermögen, auf jedes Erwerbsverhalten, auf jede Art von Sparsamkeit zu verzichten. Die kynische Armut begnügt sich nicht damit, sich in der Mittelmäßigkeit eines Stanies zu halten, der anfänglich gegeben wäre. Daher schrieben Jie Kyniker, die gegenüber Sokrates doch immer eine vereh:-ende und ehrfürchtige Haltung einnehmen, zumindest aber sich ständig auf eine solche beziehen, Diogenes eine Kritik [an] Sokrates zu, in der sie sagten: Sokrates hat aber doch ein Haus,
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eine Frau und Kinder, er hat sogar Pantoffeln.)} Das bedeutet, daß die sokratische Haltung, die darin besteht, sich mit der kleinen Mittelmäßigkeit zu begnügen, die seine Existenz ausmacht, nicht die kynische Haltung ist. Die kynische Armut kann nicht in einer Gleichgültigkeit gegenüber dem Vermögen und im Annehmen einer gegebenen Lage bestehen. Die kynische Armut muß eine Operation sein, die man an sich selbst vornimmt, um positive Ergebnisse der Tapferkeit, der Widerstandskraft und der Ausdauer zu erzielen. Die Dramaturgie der kynischen Armut ist sehr weit entfernt von jener Gleichgültigkeit, die sich nicht um den Reichtum sorgt, sei es nun der Reichtum der anderen oder der eigene. Sie ist eine Arbeit an sich selbst in Form der sichtbaren Armut. Sie ist kein Annehmen der Armut, sondern ein wirkliches Verhalten gegenüber der Armut. Schließlich ist die kynische Armut drittens eine unbegrenzte Armut. Sie ist wirklich, aktiv und unbegrenzt oder ohne feste Grenzen in dem Sinne, daß sie nicht bei einem Stadium haltmacht, das als zufriedenstellend betrachtet werden könnte, weil man in diesem Augenblick meinen könnte, daß man von allem Überflüssigem insgesamt frei sei. Sie sucht stets und immer noch nach möglichen Entsagungen. Sie ist eine ruhelose Armut, eine Armut, die mit sich selbst unzufrieden ist und die sich immer bemüht, neue Grenzen zu erreichen, bis sie den Tiefpunkt des absolut Notwendigen erreicht. Zu diesem Thema gibt es eine ganze Reihe von Anekdoten. Die berühmteste ist natürlich die Anekdote mit dem kleinen Napf. Diogenes, dessen ganzes Geschirr aus einer kleinen Schüssel bestand, einer kleinen Schale, aus der er Wasser trank, bemerkt bei einem Brunnen einen kleinen Jungen, der seine Hände zu einer Schale formt und aus seinen Händen trinkt. In diesem Augenblick wirft Diogenes seine Schüssel weg, weil er sich sagt, daß auch das noch ein nutzloser Reichtum sei. 14 Sie sehen, daß die charakteristische Armut des kynischen Lebens keine virtuelle Armut, keine Armut der Einstellung wie bei Seneca ist. Sie ist auch keine durchschnittliche Armut des
Standes wie die, die Sokrates akzeptierte. Sie ist eine wirkliche _-\rmut der Entsagung, eine unbeschränkte Armut, eine unbep-enzte Arbeit an sich selbst. ~ur führt diese Dramaturgie der wirklichen Armut, der unbe5;:hränkten Armut zu paradoxen Effekten. Aus Treue zu den Prinzipien dieser aktiven Armut als sichtbarer Form des un-;ermischten Lebens, des reinen und selbstgenügsamen Lebens :c..i.hrt der Kyniker am Ende nämlich ein Leben der Häßlichkeit, ier Abhängigkeit und der Demütigung. Und so führt die ra:Ekale Anwendung dieses Prinzips zu seiner Umkehrung: zu ~LT1em Leben des Kynikers in Armut, das anstoß erregend, un:rträglich, häßlich, abhängig und demütigend ist. Auch hier ::aoen wir eine ganze Reihe von Zeugnissen. Wir können rasch '.ioer etwas hinweggehen, das dennoch von Bedeutung ist, ::ämlich die paradoxe Wertschätzung der Schmutzigkeit, der Häßlichkeit, des struppigen und plumpen Elends. Man ver:;reht wohl, daß diese Wertschätzung der Schmutzigkeit, der Häßlichkeit, der Plumpheit, die zum Kynismus gehört, in Gesellschaften, die sich so sehr den Werten der Schönheit, den ',;Certen des Bildhauerischen am menschlichen Körper, am ::nenschlichen Gestus, am Verhalten und der Körperhaltung ier Menschen verschrieben hatten, nicht leicht zu akzeptieren ?;ar. Diese Umkehrung der körperlichen Werte hat zweifel:05 eine nicht unbeträchtliche Rolle gespielt. Es ist jedenfalls ';-erständlich, daß diese Umkehrung Anlaß zum Skandal gab. ::)enn man konnte zwar auch bei Sokrates eine Reihe von Dingen bezüglich des Wechselspiels zwischen der Wertschätzung :.md der Abwertung des Schönen und Häßlichen finden. Aber Sokrates hebt gerade die Tatsache hervor, daß man sich nicht an iie Schönheit des Körpers binden soll, daß man die Übungen ier Seele jenen vorziehen soll, die den Körper verschönern und stärken sollen. Wir begegnen bei ihm auch der Vorstellung, daß ::nan hinter der Plumpheit eines häßlichen Körpers die Schön:ceit der Seele anerkennen soll. Aber es ist eben immer das Vorziehen einer Schönheit gegenüber einer anderen, das Privileg ei::1er Schönheit gegenüber einer anderen, was bei Sokrates das
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Prinzip dieser relativen und immer bloß relativen Herabwürdigung der körperlichen Schönheit und des körperlichen Werts darstellt. Die kynische Armut ist dagegen die Behauptung des eigenen und inneren Werts der körperlichen Häßlichkeit, der Schmutzigkeit, des Elends. Das ist wichtig und hat sowohl in die Ethik, in die Kunst des Benehmens, als auch unglücklicherweise in die Philosophie Werte der Häßlichkeit eingeführt, die immer noch bestehen. Nun gibt es aber noch mehr als diese Wertschätzung der Häßlichkeit an sich, nämlich die Tatsache, daß der Mensch in dieser absoluten Armut sich schließlich in einer Situation der Abhängigkeit befindet. Und das Prinzip des unvermischten Lebens, des Lebens ohne Unterordnung, des völlig unabhängigen Lebens kehrt sich am Ende um. Denn worauf trifft man, wenn man den Tiefpunkt der absoluten Armut erreicht? Man trifft auf die Versklavung, die, wie Sie wissen, für einen Griechen oder einen Römer unannehmbar war - und wenn die Versklavung annehmbar wird, dann im allgemeinen als Schicksal, das man erleidet und das man mit Gleichgültigkeit erleiden muß. Bei den Kynikern gibt es dagegen so etwas wie eine direkte, positive Annahme der Situation der Versklavung. Das ist die Geschichte von Diogenes, der, als er auf dem Markt zum Verkauf angeboten wird, sich setzen will, weil er findet, daß das bequemer sei, und der, als der Sklavenhändler, der ihn verkauft, ihm verbietet, sich zu setzen, erwidert: »Das macht nichts aus; werden doch auch die Fische verkauft, mögen sie nun so oder so gelagert sein.«15 Und er legt sich hin wie ein Fisch, indem er auf diese Weise einwilligt, die Rolle dieser Verkaufsware zu spielen. Die Armut führt also zur Annahme der Versklavung. Sie führt zu etwas, das für einen Griechen oder Römer noch schlimmer als die Versklavung war (denn schließlich konnte die Versklavung immer zu den Übeln der menschlichen Existenz gehören): zum Bettelstand. Der Bettelstand ist die Armut, die so weit getrieben wurde, daß man von den anderen, von ihrem guten Willen, von den Zufällen der Begegnung ab-
:äIlgig ist. Für einen antiken Menschen war das Handausstrek""n die Geste der schändlichen Armut, der Abhängigkeit in ih~,~~ unerträglichsten Form. Und dieser Bettelstand war nun die ,;::,-nische Armut, die bis zum beabsichtigten Skandal getrieben -;;,urde. 5~hließ1ich stieß die kynische Armut über den Bettelstand, diese materielle Abhängigkeit hinaus auf etwas, das noch 5.::hlimmer als das Sklaventum und der Bettelstand war. Sie s:ieß auf die adoxia. Die adoxia ist der schlechte Ruf, das Bild, i2.s man von sich hinterläßt, wenn man von den anderen beleiiigt, mißachtet, gedemütigt wurde, was alles Dinge sind, die :ei den Griechen und Römern offensichtlich niemals positiv :"wertet wurden. In einer Gesellschaft, in der die Ehrenver:::ältnisse so wichtig waren, in der der Ruhm, der gute Ruf, die Erinnerung, die man im Gedächtnis der Menschen hinterläßt, ~D."1e der Formen des ersehnten Nachlebens war, konnte man :::.er adoxia natürlich keinen positiven Wert beimessen. Nun ge:::.ört die adoxia aber gerade zum entsagenden Leben der K yni-'i:er. Auch hier fürchtete natürlich jemand wie Sokrates nicht, "in Todesurteil anzunehmen, auch wenn es ungerecht war. Lnd als man ihm die Möglichkeit zur Flucht anbot, wollte er ~es] nicht, da er die Art von Entehrung akzeptierte, die in der Tatsache bestand, zum Tod verurteilt worden zu sein. Aber als ~r diese Art von Entehrung akzeptiert, vollzieht Sokrates kei::eswegs die adoxia der Kyniker. Wenn er in den Augen der :',lehrheitsmeinung tatsächlich nichts anderes als jemand ist, ler ein Verbrechen begangen hat und zum Tod verurteilt wurle, weiß er doch genau, daß er in einer bestimmten Hinsicht ':lud in den Augen derer, die wirklich wissen, gerecht ist und sein Leben von keiner Entehrung betroffen wurde. Für die Kyniker ist die systematische Praxis der Entehrung da;egen ein positives Verhalten, ein Verhalten, das Sinn und Wert oesitzt. Wir haben hier zweifellos etwas äußerst Einzigartiges :n der antiken Moral, was aus den Kynikern wirklich eine Aus:lahmeerscheinung macht. [Zur] adoxia bei den Kynikern habe ich einen Aufsatz gefunden, der sie aufgrund der Fragestellung
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des Autors auf interessante Weise behandelt - ich weiß [jedoch] nicht, ob diese Behandlung historisch fundiert ist. Der Aufsatz steht in den Harvard Studies in Classical Philology von 1962, stammt von einem gewissen Ingalls und trägt den Titel »The Seeking of Dishonor« (die Suche nach Entehrung). Der Autor gibt zu verstehen, wie empfänglich er für die Tatsache ist, daß der Kynismus vollständig zur griechischen Kulturlandschaft gehörte. Und er hebt [den Umstand] hervor, daß die Kyniker im Grunde nichts anderes als ein besonders konzentrierter und energischer Ausdruck einer Reihe von Themen waren, die zur griechischen Moral gehörten. Es gibt jedoch einen Punkt, bei dem man überhaupt nicht der Meinung sein kann, daß die Kyniker die griechische Moral repräsentieren, und das ist eben das Problem der adoxia (der Entehrung). An dieser Stelle macht er den Einfluß Indiens geltend - wie soll man sagen ... , einer bestimmten Praxis, die man bei bestimmten religiösen Gruppen von Hindus findet, wo die Entehrung und die Suche nach Entehrung einen positiven Wert annehmen. Diesen Einschub der adoxia in die griechische Moral betrachtet er also als Wirkung eines äußeren Einflusses. Tatsächlich weiß ich nicht, ob das historisch wahr ist oder nicht. Was mich jedenfalls an all dem interessiert, ist, daß diese Vorstellung der adoxia möglicherweise gerechtfertigt und verstanden werden kann anhand der Umkehrung des Prinzips des unabhängigen Lebens, das von dem Augenblick an, da es sich zur absoluten Armut dramatisiert, notwendigerweise auf die Abhängigkeit und die Entehrung stoßen muß. [Nun] wird aber genau diese Entehrung von den Kynikern gesucht: durch die aktive Suche nach demütigenden Situationen, die deshalb einen Wert haben, weil sie den Kyniker schulen, allem zu widerstehen, was eine Erscheinung der Meinungen, Überzeugungen und Konventionen ist. Davon haben wir ein Beispiel in der Anekdote von Diogenes, der, als er einen Faustschlag oder einen Schlag mit einem Stock, ich weiß es nicht mehr, auf den Kopf erhalten hatte, sich weigert, darauf zu reagieren. Das ist keine Frage der Ehre. Er sagt: Nächstes Mal werde ich einen Helm
,mfziehen. 16 Denn der Schlag ist nichts weiter als ein Schlag, '.md die ganze Entehrung, die dieser Situation angeblich anhaftet - man empfängt einen Schlag -, hat keinerlei Bedeutung und existiert buchstäblich nicht. Also: Gleichgültigkeit gegenüber allen diesen demütigenden Situationen und sogar aktives Aufsuchen demütigender Situationen, weil es zunächst den Aspekt der Übung, der Reduktion der Meinungen gibt und außerdem die Tatsache, daß man im Rahmen der akzeptierten Demütigung die Situation gewissermaßen umkehren und wieder Kon[rolle über sie gewinnen kann. Das zeigt die Geschichte von Diogenes, der, als er auf einem öffentlichen Platz ißt, von den Passanten als Hund bezeichnet wird: Du ißt wie ein Hund, sagen sie zu ihm. Und sogleich kehrt Diogenes die Situation um, wobei er die Demütigung akzeptiert. Er akzeptiert die Demütigung und kehrt sie um, indem er sagt: Aber ihr seid ebenfalls Hunde, weil nur die Hunde einen fressenden Hund umkreisen. bin zwar ein Hund, aber ihr seid es ebensosehr wie ichY Eines Tages, als er zu einem Gastmahl kommt, wirft man ihm einen Knochen hin, weil er ja ein Hund ist. Augenblicklich entfernt er sich mit seinem Knochen, kehrt zurück und pinkelt die Gäste an wie ein Hund. 18 Sie sehen, dieses Spiel der kynischen Demütigung ist interessant, und [man kann] es mit etwas vergleichen, was sich bis zu einem gewissen Grad davon ableiten, aber die Bewertungen, Bedeutungen und Formen ändern wird: die christliche Demut. Von der kynischen Demütigung bis zur christlichen Demut haben wir eine ganze Geschichte des Demütigens, eine ganze Geschichte der Schmach, eine ganze Geschichte der Schande, des Skandals wegen der Schande, was historisch von großer Bedeutung ist und, wie gesagt, der geläufigen Moral der Griechen und Römer recht fremd war. Ich glaube, daß man genau zwischen dem unterscheiden muß, was die christliche Demut sein wird - die ein Zustand, eine Geisteshaltung ist, die sich in erlittenen Demütigungen manifestiert und spürbar wird -, und der kynischen Entehrung, die ein Spiel mit den Konventionen der Ehre und der Unehre ist, in dem der Kyniker gerade dann,
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wenn er eine äußerst entehrende Rolle spielt, seinen Stolz und seine Oberhoheit zur Geltung bringt. Der kynische Stolz findet seinen Ansatzpunkt in solchen Prüfungen. Der Kyniker behauptet seine Souveränität, seine Kontrolle durch diese Prüfungen der Demütigung, während die Demütigung oder vielmehr die christliche Demut eine Versöhnung mit sich selbst sein wird. Kynische Demütigung und christliche Demut, all dies wäre ohne Zweifel viel weiter auszuführen, als ich es jetzt tue. Ich gebe bloß Hinweise. Im Ausgang vom Thema des unabhängigen Lebens und durch seine Dramatisierung in Form der Armut, der Versklavung, des Bettelstands, der adoxia, der Entehrung haben wir eine Umkehrung des klassischen philosophischen Themas und die Erscheinung des wahren Lebens als anderes Leben, das Anstoß erregt. Dasselbe könnte man im Hinblick auf das geradlinige Leben sagen, das eines der Merkmale des wahren Lebens im traditionellen Sinne dieses Begriffs ist. Dieses geradlinige Leben als Merkmal des wahren Lebens war ein Leben, das mit einem bestimmten logos übereinstimmte, welcher logos [seinerseits] an der Natur ausgerichtet war. Das geradlinige Leben war ein Leben, das mit der Natur übereinstimmt, aber auch mit den Gesetzen oder zumindest mit bestimmten Gesetzen, Regeln, Bräuchen, über die die Menschen übereinkamen. In diesem traditionellen Begriff des wahren Lebens als geradlinigen Lebens gab es eine Art von grundlegender Doppeldeutigkeit. Denn dieses geradlinige Leben stand in einem recht zweideutigen Einklang mit einem Kern von Natürlichkeit und einer nie völlig bestimmten, ziemlich verschwommenen und je nach Schulen und Philosophen variablen Gesamtheit, die mit den menschlichen Gesetzen, den gesellschaftlichen Gesetzen und den anerkannten bürgerlichen Gesetzen variierte, als ob sie als Rahmen, als Raster, als Organisationsprinzip des wahren Lebens diente. Der Kyniker wird dieses Thema des wahren Lebens als geradliniges Leben, als konformes Leben wiederaufnehmen. Bloß wird er es auf eine solche Weise wiederaufnehmen, daß dieses
fconforme Leben zu einem völlig anderen Leben werden wird. Denn die Übereinstimmung, nach der die Kyniker das Prinzip 3.es wahren Lebens, des geradlinigen Lebens ausrichten, be:rifft nur den Bereich des Naturgesetzes. Nur das, was zur Na:ur gehört, kann ein Prinzip für die Übereinstimmung sein, um das geradlinige Leben den Kynikern zufolge zu bestimmen. Keine Konvention, keine menschliche Vorschrift kann im kyDischen Leben akzeptiert werden, wenn sie nicht genau mit dem übereinstimmt, was in der Natur und nur in der Natur ~iegt. Daher lehnen die Kyniker natürlich die Ehe und die Fa;"[lilie ab und praktizieren die freie Vereinigung oder geben es zumindest vor. 19 Daher lehnen die Kyniker alle Tabus und Konventionen im Bereich der Ernährung ab. Diogenes soll yersucht haben, rohes Fleisch zu essen. 20 Es scheint sogar, wir ,,:erden darauf zurückkommen, daß er gestorben ist, weil er yersucht hatte, einen lebendigen Kraken zu essen, der ihn erstickt haben soll.2 1 Diogenes Laertius zufolge soll Diogenes es :licht für widerwärtig und unerträglich gehalten haben, Men5chenfleisch zu essen. 22 Selbst der Kannibalismus kann vom Kyniker nicht abgelehnt werden. _\us demselben Grund lehnten die Kyniker auch jedes Verbot 3.es Inzests ab. Hier verweise ich Sie auf eine sehr interessante Stelle bei Dion Chrysostomos. Die zehnte Rede von Dion Chrysostomos, die zu einem großen Teil dem kynischen Leben '-md der Persönlichkeit des Diogenes gewidmet ist, endet mit einer Kritik an Laios, die in folgendem besteht: Laios war im Grunde doch nicht so schlau, weil er das Orakel nur sehr schlecht verstanden hatte. Das delphische Orakel hatte zu ihm ~esagt: Du sollst kein Kind haben, oder du sollst es aussetzen. Und Dion Chrysostomos zufolge, der ein ideales Porträt von Diogenes zeichnet, soll dieser gesagt haben, daß das Orakel in Wirklichkeit meinte: Man soll weder Kinder haben noch sie wssetzen, d. h., du sollst keine Kinder haben; aber wenn du eiDes hast, dann setze es nicht aus. Und Laios habe in seiner Dummheit ein Kind bekommen, was zeigte, daß er nicht auf das Orakel gehört hatte; dann habe er es ausgesetzt, was zum
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zweiten Mal zeigte, daß er nicht verstanden und gegen die Anordnung des Orakels verstoßen hatte. 23 Jedenfalls hat Laios diese Dummheit begangen, und Ödipus ist zugleich Ergebnis und Erbe dieser Dummheit. Erbe, weil es ganz klar ist, daß Ödipus nicht wirklich schlau war, als er das Rätsel der Sphinx gelöst hat. 24 Jeder Mensch hätte die Antwort auf jenes berühmte Rätsel gefunden. Aber vor allem hat Ödipus durch seinen eigenen Inzest seine Dummheit und Naivität bewiesen. Denn, was hätte Ödipus tun sollen? Er hätte eigentlich das delphische Prinzip des »Erkenne dich selbst« praktizieren sollen. In diesem Fall hätte er nicht Tiresias aufgesucht, um herauszufinden, um was es ging. Er hätte nicht Kreon geschickt, um das Delphische Orakel zu befragen, sondern wäre selbst dorthin gegangen. Bei der Anhörung des Delphischen Orakels hätte er verstanden, daß er seine Mutter geheiratet, seinen Vater getötet und mit seiner Mutter Kinder gezeugt hatte. Was hätte er sich dann gesagt, wenn er schlau gewesen wäre, nachdem er dies alles gewußt hätte? Er hätte gesagt: Aber das sehe ich doch jeden Tag in meinem Hühnerstall, das geschieht bei allen Tieren, daß man seinen Vater tötet, seine Mutter heiratet und zugleich Vater und Bruder seiner Kinder ist, seiner Brüder und Schwestern. 25 Es gab hier also ein natürliches Vorbild, das Ödipus nicht erkannt hat, weil er nicht in der Lage war, sich selbst zu erkennen und in sich selbst einen der Kerne seiner Natürlichkeit zu finden. Über diese Natürlichkeit bei den Kynikern gäbe es noch sehr viel zu sagen.':' Worauf dieses Prinzip eines geradlinigen Le-
bens hinführt, das an der Natur und nur an der Natur ausgerichtet sein soll, ist die positive Wertschätzung der Tiernatur. Und das ist etwas, das hier im antiken Denken auch wieder einzigartig und skandalös ist. Allgemein und sehr verkürzt kann man sagen, daß die Tiernatur im antiken Denken die Rolle eines absoluten Unterscheidungsmerkmals für den Menschen spielt. Indem er sich von der Tiernatur unterschied, behauptete und manifestierte der Mensch seine Menschlichkeit. Die Tiernatur war immer mehr oder weniger etwas Abstoßendes für diese Konstitution des Menschen als vernünftigem und menschlichem Wesen. Bei den Kynikern wird die Tiernatur aufgrund der strengen und systematischen Anwendung des Prinzips des geradlinigen, an der Natur ausgerichteten Lebens eine völlig andere Rolle spielen. Sie wird mit einem positiven Wert aufgeladen werden, sie wird ein Verhaltensvorbild sein, ein materielles Vorbild, das der Vorstellung entspricht, daß der Mensch nach dem, worauf das Tier verzichten kann, kein Bedürfnis haben soll. Hier finden wir eine ganze Reihe von Anekdoten: die von Diogenes, der das Leben der Mäuse beobachtet,26 von Diogenes, der eine Schnecke sieht, die ihr Haus auf dem Rücken trägt, und der beschließt, auf dieselbe Weise zu lebenY Wenn das Bedürfnis eine Schwäche, eine Abhängigkeit, ein Mangel an Freiheit ist, darf der Mensch keine anderen Bedürfnisse als die des Tieres haben, als die, die von der Natur selbst befriedigt werden. Um dem Tier nicht unterlegen zu sein, muß man in der Lage sein, diese Tiernatur anzunehmen, und zwar als reduzierte,
". Das Manuskript enthält folgende Ausführung, die Foucault in seiner Vorlesung nicht aufnimmt: »Aber das kynische Leben vollzieht die Umkehrung des geradlinigen Lebens nicht einfach durch einen Rückzug auf die unmittelbarste Natürlichkeit. Auch hier handelt es sich um einen aktiven, aggressiven, polemischen, aktivistischen Rückzug. Das natürliche Leben des Kynikers hat eine maieutische Funktion. Es geht für ihn um den Versuch, alle Wahrheiten, die von den Menschen akzeptiert und verehrt werden mögen, zu prüfen. Der Aktivismus des kynischen Lebens steht auch hier der philosophischen Lebensweise in der allgemeinsten Form entgegen. Seneca oder Epiktet behaupten, daß sie einem mächtigen Mann nicht
mehr Vertrauen schenken als einem anderen. Der Kyniker zitiert Diogenes, der zu Alexander sagte, daß er nur ein undurchsichtiger Körper zwischen ihm und der Sonne sei. Alle Philosophen zeigen sich streng gegenüber denen, die ausgefallene Gerichte genießen. Sie empfehlen immer eine einfache, natürliche Nahrung, die den Hunger stillt. Diogenes ist dafür bekannt, daß er rohes Fleisch versucht hat. Alle Philosophen empfahlen, den geheimen Lüsten nur dann nachzugehen, wenn man ein Bedürfnis danach hatte und wenn es notwendig war und nicht gegen die Gesetze des Staats verstieß. Die Kyniker beziehen sich ihrerseits auf ein natürliches Vorbild, das den Inzest nicht ausschließt.«
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aber präskriptive Form des Lebens. Die Tiernatur ist nicht etwas Gegebenes, sondern eine Aufgabe. Oder vielmehr ist sie etwas Gegebenes, etwas, das uns unmittelbar von der Natur geschenkt ist, aber zugleich ist sie auch eine Herausforderung, die man fortwährend annehmen muß. Diese Tiernatur, die das materielle Vorbild der Existenz ist, die auch ihr moralisches Vorbild ist, stellt im kynischen Leben eine Art von ständiger Herausforderung dar. Die Tiernatur ist eine bestimmte Seinsweise im Verhältnis zum eigenen Selbst, eine Seinsweise, die die Form einer fortwährenden Prüfung annehmen soll. Die Tiernatur ist eine Aufgabe. Sie ist eine Aufgabe, die man gegenüber sich selbst hat, und zugleich ist sie ein Skandal für die anderen. Vor den anderen den Skandal einer Tiernatur anzunehmen, die eine Aufgabe ist, die man sich selbst gegenüber hat, dahin führt das Prinzip des geradlinigen Lebens den Kynikern zufolge, wenn es erst einmal an der Natur ausgerichtet ist und wenn dieses Prinzip eines an der Natur ausgerichteten, geraden Lebens zur wirklichen, materiellen, konkreten Form der Existenz selbst wird. Der bios philosophikos als gerades Leben ist die Tiernatur des Menschen, die als Herausforderung angenommen, als Aufgabe praktiziert und den anderen als Skandal entgegengeschleudert wird. Übrig bliebe noch das vierte Element, das des unwandelbaren Lebens, des Lebens ohne Verfall, ohne Verkommenheit, des souveränen Lebens. Ich müßte Ihnen zeigen, wie dieses Leben von den Kynikern umgekehrt wird. Ich werde versuchen, es Ihnen nächstes Mal zu zeigen, weil uns das geradewegs zu einem anderen Moment, einer anderen Figur führt: zum wahren Leben in der Spiritualität der christlichen Askese.
Anmerkungen I Vgl. zu diesem Punkt L'Usage des plaisirs, a. a. 0., S. 251-269 (Kap. "Le veritable amour«); dt.: Der Gebrauch der Lüste, a.a.O., S.287-3IO. 2 Vgl. zu diesem Punkt, L'Hermeneutique du sujet, a. a. 0., S. 343-344; dt.: S·44 0-44I. 34 6
3 Epiktet, in: Epiktet, Teles und Musonius, übers. u. einge!. v. W. Capelle, Zürich 1948, 1. Buch, Gespräch XIV, S. 97-9 8. 4 Epiktet, ebd., 11. Buch, Gespräch VIII, S.92. 5 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen ... , übers. v.O. Apelt, a.a.O., VI. Buch, §22, S.289. 6 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen ... , a. a. 0., VI. Buch, § 77, S. 316. 7 Ebd., VI, 69, S. 312. 8 Ebd., VI, 58, S. 307 und 69, S. 312. 9 Ebd., VI, 46, S. 300 und 69, S. 312. 10 Ebd., VI, 96-97, S. 326. I I Ebd., VI, 87, S. 322. 12 Zu den Übungen der Armut bei Seneca vg!. L'Hermeneutique du sujet, S·4IO-4II; dt.: S. PI-P3. 13 "Diogenes behauptete, selbst Sokrates habe Luxus getrieben; denn das Häuschen, das Ruhebett, die Sandalen, die Sokrates bisweilen zu tragen pflegte, seien viel zu aufwendig gewesen« (Älian, Bunte Geschichten, übers. v. H. Helms, Leipzig 1990, S. 77). 14 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen ... , VI. Buch, § 37, S. 29 6. 15 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen ... , VI. Buch, § 29, S. 29 2. 16 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen ... , VI, 41, S.29 8. 17 Ebd., VI, 61, S.308. 18 Ebd., VI, 46, S. 30I. 19 ,,[Diogenes] erklärte sich auch für Weibergemeinschaft, indem er die Ehe als nichtig bezeichnete und die gütliche Überredung allein für entscheidend hielt für das Beisammensein« (ebd., VI, 72, S. 73 8; siehe auch die entsetzten Äußerungen von Philodern, Sur les Stoiciens = Papyrus von Herculanum 155 und 339, XV-XX, in: Les Cyniques grecs, S. 117). 20 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VI, 34, S. 294. 21 Tatsächlich sprechen die beiden Versionen, die sich auf den Tod von Diogenes durch einen" Kraken« beziehen, nicht von einem Ersticken: entweder wurde Diogenes von der Cholera befallen, nachdem er einen rohen Kraken gegessen hatte (ebd., VI, 76, S. 316) oder man erzählt, "er habe einen Polypen unter Hunde verteilen wollen und sei dabei in die Fußsehne gebissen worden, was seinen Tod herbeigeführt habe« (ebd., VI, 77, S. 3 16). 22 Ebd., VI, 73, S. 314. 23 Dion Chrysostomos, Rede X: "Diogenes oder Über die Sklaven«, § 2425, in: Dion Chrysostomos, Sämtliche Reden, a. a. 0., S. I7 0-17I. 24 Ebd., § 3 I, S. In 25 »Die Hähne regen sich über solche Beziehungen nicht auf, nicht die Hunde noch die Esel [...]« (ebd., §30, S.254). 26 »Wie Theophrast in seinem Megarikos berichtet, ward er aufmerksam auf eine hin- und herlaufende Maus, die weder eine Ruhestätte suchte noch die Dunkelheit mied noch irgend welches Verlangen zeigte nach 347
sogenannten Leckerbissen. Das gab ihm einen Wink zur Abhilfe für seine dürftige Lage« (Diogenes Laertius, Leben und Meinungen ... , übers. v.O. Apelt, Buch VI, §22, Leipzig I92I, 5.268). 27 »Ich bat dich um Unterkunft, und danke dir für deine Zusage. Da ich aber eine Schnecke erblickte, fand ich in dem Faß im Metroon eine Behausung, die mich gegen den Wind schützt« (Die Kynikerbriefe, übers. v. E. Müseler, a. a. 0., Diogenes, Brief N r. I6: »Diogenes an Apolexis«, 5·45)·
(Sitzung vom
Vorlesung 8 März 1984, erste Stunde)
21.
Die kynische Umkehrung des wahren Lebens in das andere Leben. - Das souveräne Leben im traditionellen Verständnis: der hilfreiche und vorbildliche Weise. - Das Thema des Philosophenkönigs. - Die kynische Wandlung: das Aufeinandertreffen von Diogenes und Alexander. - Lobrede auf Herakles. - Die Idee des philosophischen Aktivismus. - Der König des Spotts. - Der verborgene König.
[... "] Heute wollte ich eigentlich das abschließen, womit ich letztes Mal angefangen hatte, d. h. die kynische Umkehrung der Themen des wahren Lebens. Wir hatten versucht zu sehen, wie die Praxis des wahren Lebens, die von den Kynikern bis ins Extrem getrieben und in einer Reihe von Formen dramatisiert wurde, zur skandalösen Manifestation des anderen Lebens geworden ist. Dieser Übergang, diese Umkehrung, diese Verwandlung des wahren Lebens in das andere Leben scheint mir am Ursprung und im Zentrum des kynischen Skandals gestanden zu haben. Wir hatten zunächst gesehen, daß das Thema des unverborgenen Lebens bis zum Extrem getrieben und daß es von den Kynikern in Form des schamlosen Lebens dramatisiert wurde. Wir hatten auch gesehen, wie das Thema des unvermischten, unabhängigen, selbstgenügsamen Lebens ebenfalls in Form der Armut dramatisiert wurde und sich in eine Praxis der absichtlichen Entsagung, des Bettelns und schließlich sogar der Entehrung umkehrte. Drittens schließlich hatten wir im Hinblick auf das Thema des geradlinigen Lebens, des mit der Natur, der Vernunft und dem nomos übereinstimmenden Lebens gesehen, wie dieses Thema von den Kynikern in Form des natürlichen ". M. F. beginnt mit folgenden Bemerkungen: Ich werde versuchen, Ihnen heute zwei Stunden vorzulesen, aber ich bin nicht völlig sicher, ob ich das auch schaffe, weil ich ein bißchen bzw. völlig erkältet bin. Ich werde also mein möglichstes tun. Sie werden mir verzeihen, wenn wir für eine gewisse Zeit eine Pause machen. 34 8
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Lebens, des Lebens außerhalb der Konvention dramatisiert wurde und wie es sich von da aus umgekehrt hat und in Form eines Lebens erschienen war, das sich als Herausforderung und Aufgabe im Praktizieren der Tiernatur manifestierte. Das nackte Leben, das Leben als Bettler, das Leben als Tier oder auch das schamlose Leben, das Leben der Entsagung und der Tiernatur, all das tritt mit den Kynikern an den Grenzen der antiken Philosophie in Erscheinung - in einem gewissen Sinne und auf bestimmte Weise in unmittelbarer Nähe zu ihrem gewöhnlichen Gedankengut, da alle diese Themen im Grunde nur die Fortsetzung bzw. Extrapolation einer Reihe von Prinzipien sind, die in ihr recht verbreitet waren. Insgesamt erscheint der Kynismus als Konvergenzpunkt einer Reihe ganz geläufiger Themen, aber zugleich ist diese Figur des anderen Lebens, des schamlosen Lebens, des ehrlosen Lebens, des Lebens der Tiernatur für die antike Philosophie, das antike Denken, die ganze antike Ethik und Kultur äußerst schwierig anzunehmen. Der Kynismus ist also jene Art von Fratze, die die Philosophie sich selbst schneidet, jener gebrochene Spiegel, in dem der Philosoph sich zugleich sehen, aber nicht erkennen soll. Das ist das Paradox des kynischen Lebens, wie ich es zu bestimmen versuchte; es ist die Vollendung des wahren Lebens, aber als Forderung nach einem radikal anderen Leben. Ein vierter Aspekt dieser Umkehrung blieb noch zu untersuchen. Sie erinnern sich, daß [diese Vorstellung] des wahren Lebens, wenn man sie in ihrer geläufigsten Form betrachtet, zunächst das Thema des unverborgenen Lebens, dann des unabhängigen, unvermischten Lebens und schließlich das des geradlinigen Lebens betraf. Der vierte Aspekt, den ich angesprochen hatte, war das Thema des souveränen Lebens. Mir scheint, daß man auch hier einen Grenzübergang und eine Umkehrung ausmachen kann, und das ist das grundlegendste, das kennzeichnendste, aber auch das paradoxeste Element des kynischen Lebens. Die vierte Umkehrung ist also die Umkehrung des Themas des souveränen Lebens. Auch hier haben wir ein traditionelles, gewöhnliches Thema.
In seiner traditionellen Form ist das Thema des souveränen Lebens, d. h. des selbstbestimmten Lebens, das jeder anderen Art von Leben überlegen ist, im allgemeinen, wie mir scheint, durch zwei Grundzüge gekennzeichnet. Erstens ist das souveräne Leben in der antiken Philosophie im allgemeinen ein Leben, das die Tendenz hat, ein Selbstverhältnis im Sinne der Nutznießung im doppelten Wortsinn herzustellen: als Verfügungsgewalt und als Lust zugleich. Das souveräne Leben ist ein Leben, das über sich selbst verfügt, ein Leben, bei dem kein Bestandteil der Ausübung seiner Macht und seiner Souveränität gegenüber sich selbst verlorengeht. Souverän zu sein bedeutet vor allem, sich selbst zu gehören. Zu diesem Punkt gibt es eine ganze Reihe von Formulierungen. Die explizitesten findet man bei Seneca, bzw. man findet eine ganze Menge von Ausdrücken wie beispielsweise: in se potestatem habere (die Verfügungsgewalt über sich selbst haben: Briefe 20, 1 62,2 75 3 ), oder ganz einfach auch sui juris esse (sein eigenes Gesetz sein, keinem fremden Recht unterstehen: Über die Kürze des Lebens 4 ). Es gibt auch den Ausdruck se habere (sich selbst besitzen, gewissermaßen sich selbst haben: Brief 425), und auch ganz einfach suum esse oder suum fieri (das Seine sein, das Seine werden: Über die Kürze des Lebens6 ). Dieses Verhältnis von Nutznießung und Besitz ist auch ein Verhältnis von Nutznießung und Genuß. Man genießt sich selbst im souveränen Leben, man findet in sich alle Prinzipien und Grundlagen der wahren Lust, nicht der des Körpers, nicht derjenigen, die von äußeren Dingen abhängt, sondern derjenigen, über die man unbegrenzt verfügen kann, ohne ihr jemals verlustig zu gehen. Auch hier verwendet Seneca viele Formulierungen, die sich um dieses Thema drehen. So finden wir etwa im Brief 23 das Prinzip suo gaudere (sich selbst genießen, Genuß an sich selbst finden),7 oder man findet auch das Prinzip, daß man in sich selbst seine ganze Freude suchen soll (intra se omne gaudium petere: in sich selbst nach seiner ganzen Freude streben Trostschrift an die Mutter Helvetia, Kap. V).8 Das souveräne Leben ist in diesen allgemeinen Formulierungen also
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ein Leben der Nutznießung: Nutznießung im Sinne des Besitzes und Nutznießung im Sinne des Genusses. Aber - und das ist ein weiterer Aspekt, der für das allgemeine Thema des souveränen Lebens in der Antike ebenfalls sehr wichtig ist - gerade aufgrund der Tatsache, daß das souveräne Leben in einem Selbstverhältnis und einem Genuß seiner selbst besteht, begründet es auch oder eröffnet es eine Beziehung zum anderen und zu den anderen. Das souveräne Leben ist ein wohltätiges Leben, und diese Beziehung zu den anderen, die im Verhältnis des Besitzes, der Nutznießung und des Genusses seiner selbst steht, kann zwei Formen annehmen. Es kann eine persönliche Beziehung der Leitung, der spirituellen Hilfeleistung, der Hilfe sein: das ist die Leitung, Hilfeleistung, U nterstützung, die man einem Schüler zuteil werden lassen kann, der gerade unterrichtet wurde. Ich verweise Sie auf Epiktet, wo Sie eine ganze Menge wichtiger Formulierungen finden können, denen zufolge der Lehrer dem Schüler nicht nur Sachunterricht erteilen, ein \Vissen vermitteln, ihn Logik lehren soll oder wie er ein Sophisma widerlegen kann, und der Schüler soll auch nicht nur das vom Lehrer verlangen. Zwischen den beiden soll ein anderes Verhältnis hergestellt werden, ein Verhältnis der Sorge, der Hilfeleistung, der Unterstützung. Du bist hierhergekommen, sagt Seneca zu seinem Schüler, wie in ein diatrium (in eine Klinik). Du bist hier, um dich behandeln zu lassen. Und wenn du nach Hause zurückkehrst, dann nicht bloß als jemand, der in der Lage ist, Sophismen aufzulösen oder sich aufgrund seiner Diskussionsfertigkeit bewundern zu lassen. Du sollst heimkehren als jemand, der behandelt und geheilt wurde und dessen Leiden gestillt wurden. Dieses persönliche Verhältnis ist das Verhältnis des Lehrers zum Schüler. Es ist auch, und zwar sehr oft, das Verhältnis des Freundes zum Freund, wie beispielsweise im Falle Senecas. Seneca bietet seine Hilfe Lucilius an, einem Freund, der etwa in seinem Alter und kaum jünger ist als er selbst. Hier gäbe es Dutzende von Texten, ich zitiere bloß jenen, der im Vorwort des vierten Teils der Naturales quaestiones steht, wo Seneca an
Lucilius schreibt, der gerade zum Prokurator von Sizilien ernannt wurde: Das Meer wird uns nun trennen, dennoch will ich dir auch weiterhin zur Seite stehen. Du bist deines Weges noch wenig gewiß, ich werde dich an der Hand nehmen, um dich zu führen. 9 Das souveräne Leben ist also ein Leben der Hilfe und Unterstützung für andere (Schüler oder Freund). Aber es ist den anderen auch noch in einer anderen Form nützlich oder wohltuend: insofern es selbst eine Art von Lektion ist, eine Lektion von universeller Tragweite, die man dem Menschengeschlecht durch die Art und Weise erteilt, wie man lebt, und durch die Art und Weise, wie man dieses Leben ganz deutlich sichtbar vor den Augen der anderen führt. Der Weise, der ein souveränes Leben führt, kann und wird dem Menschengeschlecht durch das Beispiel nützlich sein, das er bietet, durch die Texte, die er schreibt. Ein Text von Seneca erklärt, daß sein Entschluß, in Pension zu gehen, jedenfalls nicht dazu dient, sich vom Menschengeschlecht abzukoppeln und ein egoistisches Leben zu führen. Im Gegenteil wird er jetzt seine Zeit dem Schreiben von Texten widmen, von Texten, die zirkulieren können, die für die Menschheit im allgemeinen eine Lektion des Lebens und der Existenz sein können. Das souveräne Leben ist ganz einfach auch eine Lektion von universeller Tragweite aufgrund der Herrlichkeit, aufgrund des Glanzes, mit dem es das Menschengeschlecht schmückt. Diese Vorstellung finden Sie ganz deutlich bei Epiktet ausgedrückt, wenn er sagt, daß der Weise wie jener kleine rote Faden auf der Toga des Senators ist (der Laticlavus). Die Verzierung dieser Toga ist der rote Faden, das rote Band, das den Rang und Status der Person anzeigt, die sie trägt. Ebenso soll der Weise im Gewebe der Menschheit wie der rote Faden sein, der den Glanz und die Herrlichkeit des Menschengeschlechts garantiert. Interessant an diesen Themen zur Souveränität des Lebens des Weisen und seines wohltätigen Charakters ist das Verhältnis zum anderen, ein Verhältnis der Beratung, der Hilfe, der Ermutigung, des Vorbilds, offensichtlich eine Pflicht, der man
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sich nicht entziehen kann. Selbst in dem Fall Senecas von gerade eben, das haben wir klar gesehen, selbst in dem Fall, daß der Weise in Pension geht und daher weit ab von den menschlichen Blicken ein zurückgezogenes und verborgenes Leben führen wird, selbst wenn er auf jeden Ehrgeiz und auf jegliches aktives politisches Leben verzichtet, selbst wenn er sich entweder vom Staat im allgemeinen oder von der Stadt entfernt, um auf dem Lande zu leben, muß er doch den anderen nützlich sein. Er ist an diese Verpflichtung gebunden, den anderen nützlich zu sein, und diese Verpflichtung übernimmt Seneca in seinen Briefen, seinen Gesprächen, den Unterhaltungen mit seinen Freunden und den Texten, die er schreibt. Es stimmt also, daß das Nützlichsein für die anderen in der Ausübung eines souveränen Lebens, das sich selbst genießt, in gewissem Sinne eine Pflicht ist. Man sollte jedoch verstehen, daß diese Tätigkeit, durch die man den anderen aufgrund der eigenen souveränen Lebensführung nützlich ist, gewissermaßen ein Überschuß, eine Zutat ist, oder vielmehr ist sie nichts mehr und nichts weniger als der andere angesichts des Verhältnisses zu sich selbst. Über sich selbst die vollkommene Herrschaft auszuüben, diese Herrschaft in den Augen der anderen zu bezeugen und ihnen durch dieses Zeugnis zu helfen, sie zu leiten, ihnen als Beispiel und Vorbild zu dienen, das sind nur verschiedene Aspekte ein und derselben Souveränität. Sich selbst gegenüber souverän und den anderen nützlich zu sein, sich selbst und nur sich selbst genießen und zugleich den anderen die Hilfe zuteil werden zu lassen, die sie in ihrer Verlegenheit, ihren Schwierigkeiten und eventuell auch ihrem Unglück brauchen, das ist im Grunde nur ein und dasselbe. Es ist derselbe grundlegende Akt der Besitzergreifung seiner selbst durch sich selbst, die mir einerseits den Genuß meiner selbst verschaffen wird und [andererseits] gestatten wird, den anderen nützlich zu sein, wenn sie in Verlegenheit oder in Not sind. Soviel könnte man ganz schematisch zum Thema des wahren Lebens sagen, wenn man es in seinen gewöhnlichsten und ge-
läufigsten Dimensionen betrachtet. Nun wird dieses Themadas wahre Leben als Ausübung der Souveränität gegenüber sich selbst, das zugleich eine Wohltat gegenüber den anderen ist - aber von den Kynikern wiederaufgenommen. Es wird wiederaufgenommen, aber auch hier bis zum Extrem getrieben und in Form der arroganten Behauptung akzentuiert, intensiviert, dramatisiert, daß der Kyniker König ist. Natürlich sind die Kyniker nicht die ersten, und vor allem waren sie nicht die einzigen, die das Thema der Monarchie als politische Souveränität mit dem Thema des philosophischen Lebens als Souveränität seiner selbst gegenüber sich selbst verknüpft haben. Dafür könnte man viele Beispiele finden, ich werde aber bloß zwei zitieren. Zunächst ist natürlich bei Platon die Beziehung zwischen Monarchie und Philosophie eine sehr wichtige, intensive und hoch bewertete Beziehung. Aber unter dem Vorbehalt, die Sache aus größerer Nähe zu betrachten, scheint mir doch, daß das Verhältnis zwischen Philosophie und Monarchie, zwischen Philosoph und König sein, sich auf zweierlei Weise darstellt. Erstens stellt es sich in Form einer Strukturanalogie dar, da der Philosoph im Grunde derjenige ist, der es vermag, in seiner Seele und im Hinblick auf sich selbst eine Art von Hierarchie und eine Art von Macht zu begründen, die von derselben Art ist, die dieselbe Form, dieselbe Struktur hat wie die Macht, die in einer Monarchie von einem Monarchen ausgeübt wird, wenn er dieses Namens wenigstens würdig ist und wenn seine Regierung wirklich dem Wesen der Monarchie entspricht. Es gibt also in der Tat ein gemeinsames Wesen, eine gemeinsame Form, eine gemeinsame Struktur der politischen Monarchie und der Souveränität gegenüber sich selbst. Aber dieses Thema der Verbindung zwischen Monarchie und Philosophie findet man bei Platon auch in einer anderen Form, nämlich des Sollens und des Seins. Das heißt, daß man versuchen müßte, jenen idealen Punkt zu erreichen, an dem der Philosoph über die anderen tatsächlich nach Art eines Monarchen herrschen kann und wo die Identifikation des Monarchen mit dem Philoso-
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phen einerseits jeder Seele die Souveränität über sich selbst garantiert und andererseits dem ganzen Staat die Form gewährleistet, die ihm ermöglicht, glücklich und stabil zu sein. Bei den Stoikern begegnet man ebenfalls dem Thema, dem Prinzip einer Verbindung zwischen Monarchie und Philosophie. Die Verbindung unterscheidet sich von derjenigen, die man bei Platon findet, aber auch von der, die man bei den Kynikern antreffen wird. Bei den Stoikern ist der Philosoph in einem gewissen Sinne ganz nahe dar an, König zu sein, oder vielmehr ist er mehr als ein König. Er ist mehr als ein König in dem Sinne, daß er nicht nur in d er Lage ist, sich selbst zu regieren (er leitet seine eigene Seele), sondern auch die Seele der anderen zu regieren, und nicht nur der anderen, die abgegrenzt sind und in einem Staat leben, sondern auch die Seele der Menschen im allgemeinen, die Seelen der Menschheit. In diesem Sinne ist der Philosoph mehr als ein König. Genau das warf Seneca Attallus vor, einem Kyniker, dem Seneca erwiderte, als dieser sagte, daß er ein König sei: Tatsächlich ist der Philosoph etwas anderes als ein König, in einem gewissen Sinne ist er sogar besser als ein König, denn er ist in der Lage, die Seele des Königs zu führen und zu leiten und über die Seele des Königs ist er auch in der Lage, die Seele der Menschen und der gesamten Menschheit zu leiten. Der König und der Philosoph, Monarchie und Philosophie, Monarchie und Souveränität über sich selbst, das sind also die häufig vorkommenden Themen. Bei den Kynikern nehmen sie aber, glaube ich, eine ganz andere Form an, einfach weil die Kyniker die ganz einfache, ganz nüchterne, völlig unverschämte Behauptung aufstellen, daß der Kyniker selbst König ist. Das ist nicht bloß das Ideal eines Staats, in dem die Philosophen Könige sein werden und auch nicht die Art von Spiel zwischen der Andersheit und der Überlegenheit des Philosophen gegenüber dem König. Der Kyniker ist selbst ein König, er ist sogar der einzige König. Die gekrönten Souveräne, die gewissermaßen sichtbaren Souveräne sind nur der Schatten der wahren Monarchie. Der Kyniker ist der einzige wahre König. Und
zugleich ist er gegenüber den Königen der Erde, den gekrönten Königen, den auf dem Thron sitzenden Königen der König als Anti-König, der zeigt, wie eitel, eingebildet und unsicher die Monarchie der Könige ist. Diese Position des Kynikers als König, der ein Anti-König ist, als der wahre König, der durch die Wahrheit seiner Monarchie selbst das Trugbild des politischen Königtums anprangert und deutlich macht, ist im Kynismus sehr wichtig. Sie erklärt die Tatsache, daß die berühmte historische Begegnung (die wahrscheinlich ein Mythos ist) von Alexander und Diogenes eine jener gewissermaßen urtümlichen Szenen darstellt, auf die die Kyniker ständig Bezug nehmen. Eine historische Begegnung: Ihr tatsächliches Stattfinden wird durch nichts ausgeschlossen. Mythische Begegnung in den Augen aller Kommentare, Erklärungen, Erörterungen, die in der kynischen Tradition ganz einfach deshalb darüber gemacht und hinzugefügt wurden, weil wir hier in dieser Vorstellung des Philosophen als Königs in Gestalt eines Anti-Königs etwas haben, das im eigentlichen Zentrum der kynischen Erfahrung und des kynischen Lebens als wahren und anderen Lebens und des Kynikers als wahren und anderen Königs steht. Für diesen Gegensatz zwischen dem Kyniker als König und dem politischen König der Menschen haben wir eine Vielzahl von Beispielen. Ich möchte bloß auf einen bedeutenden Text eingehen, der der längste von denen ist, über die wir bezüglich der Begegnung zwischen Alexander und Diogenes verfügen, und der in seinen Wendungen abermals mythisch ist. Er steht bei Dion Chrysostomos (oder Dion von Prusa) und bildet etwa das erste Drittel seiner IV. Rede. 1O Seine ersten vier Reden sind dem Problem der Monarchie gewidmet, und am Anfang der vierten gibt es eine lange Erörterung dieser berühmten Begegnung zwischen Diogenes und Alexander. Ich möchte bloß einige Elemente festhalten, die es mir gestatten, in der Analyse dieser Figur des antiköniglichen Königs voranzukommen. Erstens finden wir in dieser Erzählung die Vorstellung, daß Diogenes und Alexander sich in einer Art von völlig asymme-
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trischer und in egalitärer Gleichheit gegenüberstehen. Alexander ist der allmächtige König. Er steht schon im vollen Glanz seines Ruhmes. Er hat zwar Persien nicht erobert, ist aber schon Herr über Griechenland. Um sich herum hat er eine Armee. Die Höflinge. Er beschließt, Diogenes zu besuchen, weil Diogenes in seinen Augen der einzige ist, der es mit ihm aufnehmen könnte. Der wohlbekannte und oft wiederholte Ausspruch Alexanders lautet: Wenn ich nicht Alexander gewesen wäre, hätte ich Diogenes sein wollenY Diogenes und Alexander stehen sich also von Angesicht zu Angesicht gegenüber und sind von diesem Gesichtspunkt aus vollkommen symmetrisch. Zugleich gibt es jedoch eine totale Asymmetrie, da gegenüber Alexander in seinem ganzen Ruhm Diogenes der Elende in seinem Faß ist. Aber Alexander zeigt seine wahre Größe, und daß er einem König wirklich nahe kommen könne, durch die Tatsache, daß er Diogenes nicht einen Besuch abstattet, bei dem er seine Autorität auf den ganzen Glanz seines Ruhmes und auf seine ganze Streitmacht stützt. Er sucht Diogenes in vertraulicher Zweisamkeit auf. Er läßt seinen Hof und seine Umgebung zurück, erklärt Dion Chrysostomos, und tritt Diogenes gegenüberP Sie sehen das Spiel der Symmetrie und der Asymmetrie, der Gleichheit und der Ungleichheit, das in der Inszenierung des Verhältnisses zwischen Diogenes und Alexander verwirklicht wird. Und der Dialog, der diese Konfrontation [inszeniert], wird so geführt, daß gezeigt wird, daß der wahre König nicht derjenige ist, den man für einen hält. Der wahre König ist natürlich Diogenes. Ich werde diese ganze Diskussion, die doch recht lang ist, nicht wiederholen, sondern möchte nur einige Elemente hervorheben. Erstens ist Alexander ein König der Erde, ein König der Menschen, ein politischer König. Aber um diese Monarchie zu gewährleisten und sie ausüben zu können, muß er Abhängigkeiten eingehen, und tatsächlich ist er von einer Reihe von Dingen abhängig. Um seine Monarchie auszuüben, braucht er eine Armee, er braucht Wächter, er braucht Verbündete, er braucht
sogar eine Rüstung (er tritt mit seinem Schwert auf). Diogenes braucht für die Ausübung seiner Souveränität dagegen strenggenommen nichts. Vor Alexander ist er nackt, er ist in seinem Faß, er besitzt nichts, hat weder eine Armee noch einen Hof noch Verbündete noch sonst irgend etwas. Die Monarchie Alexanders ist also eine sehr empfindliche und unsichere Monarchie, weil sie von etwas anderem abhängt. Die von Diogenes ist dagegen unausrottbar und kann nicht gestürzt werden, weil er zu ihrer Ausübung nichts weiter braucht. 13 Das ist das erste Argument. Zweitens, ist der wahre König jener, der entweder durch Erziehung oder durch Erbschaft König werden muß, weil er den Auftrag von seinen Eltern oder von Personen erhalten hat, die ihn adoptiert haben? So ist es im Falle Alexanders: Er hat die Monarchie von seinen Eltern empfangen, er hat auch eine Bildung (eine paideia) genossen, die beansprucht, ihn zur Ausübung der Monarchie zu befähigen. Dem setzt Diogenes das entgegen, was ein wahrhafter König wie er selbst ist. Ein wahrhafter König wie Diogenes stammt erstens direkt von Zeus ab. Er ist Zeus' Sohn und nicht der Sproß einer monarchischen [Stammlinie]. Er ist Zeus' Sohn in dem Sinne, daß er direkt nach dem Vorbild des Zeus selbst gebildet wurde. Die Seele des Weisen ist keine kultivierte Seele, sie mußte die Monarchie und die Fähigkeit, Monarch zu sein, nicht durch Erziehung erwerben. Die königliche Seele ist von Natur königlich, ohne irgendeine paideia. Sie ist mit dem ausgestattet, was Dion Chrysostomos andreia nennt (sowohl Tapferkeit als auch allgemeine Mannhaftigkeit). Er ist ganz einfach ein Mann. Und in dieser Mannhaftigkeit, in der Tatsache, daß er ein Mann ist, manifestiert sich seine Monarchie. Auch in der megalophrosyne (der Seelengröße). Mannhaftigkeit und Seelengröße sind die Kennzeichen, die den Sohn des Zeus im Gegensatz zur paideia auszeichnen, zur Erziehung, die notwendig ist, damit der erbliche Sohn eines Königs seinerseits König wird. 14 Das ist der zweite Gegensatz. Der dritte Gegensatz ist folgender: Was die Königswürde ei-
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nes Souveräns wie Alexander auszeichnet, die Bedingung, aufgrund deren er diese Souveränität ausübt, besteht darin, daß er fähig ist, über seine Feinde zu siegen. Und durch den Sieg über seine Feinde wird er seine Souveränität über die Menschen sicherstellen. Folgendes sagt Alexander zu Diogenes: Aber wenn ich schließlich nicht nur König der Griechen sein werde, weil ich das ja schon bin, sondern auch König der Meder und der Perser, die ich besiegt haben werde, werde ich dann nicht voll und ganz König sein? Worauf Diogenes antwortet: Wie aber! Du wirst die Griechen besiegt haben, du wirst die Meder besiegt haben, du wirst die Perser besiegt haben. Aber wirst du die wahren Feinde besiegt haben, die sich dir entgegenstellen? Diese wahren Feinde sind die inneren Feinde, deine Fehler und Laster. 15 Der Weise hat weder Fehler noch Laster. Der König der Erde, der König der Menschen kann ruhig alle seine Feinde bekämpfen. Er kann sie ruhig Zug um Zug besiegen. Ihm bliebe immer noch jener letzte und erste grundlegende Kampf übrig. Schließlich besteht das letzte Merkmal, der letzte Gegensatz zwischen dem König der Menschen und dem Philosophenkönig, dem Kynikerkönig darin, daß der König der Menschen allen Unglücksfällen und allen Schicksalswendungen ausgesetzt ist. Er kann seine Monarchie verlieren. Dagegen wird der Philosophenkönig, der Kynikerkönig immerzu König sein. Er ist es auf immer, weil er es von Natur aus ist. Und an dieser Stelle erwähnt Dion Chrysostomos oder läßt von Diogenes den berühmten persischen Ritus erwähnen, bei dem man im Laufe gewisser Zeremonien einen Kriegsgefangenen nahm und ihn eine Zeitlang wie einen König behandelte, ihm Kurtisanen gab, alle seine Bedürfnisse, Wünsche, all sein Verlangen befriedigte. Und nachdem man ihn so ein wahrhaft königliches Leben führen ließ, beraubte man ihn all dieser Dinge, entkleidete ihn, peitschte ihn aus und erhängte ihn schließlich. 16 Das ist, so Diogenes nach dem Bericht von Dion Chrysostomos, das Schicksal aller Könige der Menschen. Der Weise braucht seinerseits alle diese Befriedigungen, Vergnügungen, Verzierun-
gen nicht, die das Leben eines Königs kennzeichnen. Aber, indem er auf all dies verzichtet, wird er unbegrenzt König bleiben. Sie sehen, der Kyniker ist der wahre König. Und diese Vorstellung des Kynikers als eines wahren Königs ist, glaube ich, ziemlich verschieden von der platonischen Vorstellung der Beziehungen zwischen Monarchie und Philosophie, und auch verschieden von der stoischen Auffassung. Das ist aber noch nicht alles. Der Kyniker ist ein wahrer König, nur ist er ein verkannter König, ein König, den man nicht kennt, ein König, der aufgrund seiner Lebensweise, aufgrund der Wahl der Lebensweise, die er getroffen hat, aufgrund der Entsagung und [des] Verzichts, denen er sich aussetzt, sich selbst absichtlich als König verbirgt. Und in diesem Sinne ist er zwar der König, aber der König des Spotts. Er ist ein König des Elends, ein König, der seine Souveränität in der Entsagung verbirgt. Nicht nur in der Form der Entsagung, sondern, wie wir letztes Mal gesehen haben, auch in der Form der willentlichen Ausdauer, der dauernden Arbeit an sich selbst, durch die man die Grenzen dessen, was man ertragen kann, immer weiter verschiebt. Im Zentrum dieser Monarchie des Kynikers, die eine faktische und nicht bloß ideale Monarchie ist, finden wir den leidenschaftlichen Eifer, der sich auf das Selbst bezieht. Der König Diogenes wird sich im Sommer im brennenden Sand oder im Winter im Schnee wälzen, und zwar einzig und allein, um gegenüber sich selbst eine immer vollkommenere, immer härtere, immer vollendetere Ausdauer ausüben zu können. Eine wirkliche Monarchie also, aber auch eine verkannte, die sich hinter der Entsagung und dem Spott verbirgt. Das dritte Merkmal ist, daß es sich um eine Monarchie der Hingabe handelt. Ein Königtum der Hingabe, einer Hingabe jedoch, die etwas ganz anderes ist als jene Art des Überfließens oder der Umkehrung der auf sich selbst gerichteten Souveränität in Wohltaten für die anderen, wie etwa jenes Überfließen, das wir bei Seneca [beobachten] konnten, wo man sah, wie die Souveränität über sich selbst eine wohltuende Wirkung auf die anderen haben konnte.
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Die Hingabe des kynischen Königs, dieses wirklichen und verspotteten Königs, ist durch drei Merkmale gekennzeichnet. Erstens ist die einzigartige Hingabe dieses Königs des Elends ein Auftrag, den er erhalten hat, eine Aufgabe, die ihm auferlegt wurde. Die Natur, die ihn zum König gemacht hat, hat ihn auch zugleich damit beauftragt, sich um die anderen zu kümmern. Sich um die anderen zu kümmern bedeutet nicht nur, daß man den anderen durch seine Reden oder sein Beispiel Lektionen erteilt, die ihnen gestatten, sich richtig zu verhalten, sondern es bedeutet, daß man sich wirklich um sie sorgt, daß man sie dort abholt, wo sie eben sind, daß man sein eigenes Leben opfert, um sich um die anderen kümmern zu können. Man wird sich um die anderen nicht im Sinne des Selbstgenusses, sondern vielmehr im Sinne einer bestimmten Art des Selbstverzichts kümmern. Das ist eine harte Aufgabe, von der man bis zu einem gewissen Grad sagen kann, daß sie ein Opfer darstellt, wenn die Kyniker nicht gleichzeitig sagen würden, daß der Philosoph in dieser Aufopferung seiner selbst wirklich die Freude und Fülle seiner Existenz findet. Zweitens ist der so verstandene Auftrag kein Auftrag eines Gesetzgebers oder gar eines Regierenden. Er ist ein Verhältnis der Behandlung und Pflege, ein medizinisches Verhältnis. Der K yniker wird die Leute behandeln. Er bringt ihnen ein Heilverfahren, mit dem sie tatsächlich ihre eigene Heilung und ihr eigenes Glück sicherstellen können. Er ist das Instrument des Glücks der anderen. In dieser Rolle sieht man beispielsweise Krates, einen der ersten Schüler von Diogenes, eine historischmythische Gestalt, die von Apuleius als jemand beschrieben wird, der von Haus zu Haus geht, an die Türen klopft und all denen, die sie brauchen, seine Ratschläge erteilt, und zwar so, daß sie gesund werden können. 17 Im Auftrag der Kyniker gibt es gewissermaßen einen medizinischen Interventionismus, der ihn völlig jener Art von Überfluß entgegensetzt, durch den das glückliche Leben des weisen Philosophen, z. B. bei Seneca, den anderen bloß als Vorbild gilt, d. h., daß seine Hilfe bloß in Ratschlägen, Beispielen und Schriften bestand. Dagegen haben wir
bei den Kynikern einen physischen und gesellschaftlichen Interventionismus. Drittens schließlich nimmt dieser kynische Auftrag die Gestalt eines Kampfes an. Er hat einen polemischen, kriegerischen Charakter. Die Heilverfahren, die die Kyniker empfehlen, sind hart. Man kann sagen, daß der Kyniker zwar eine Art von Wohltäter ist, aber ein wesentlich, grundlegend und ständig aggressiver Wohltäter, dessen wichtigstes Mittel natürlich die berühmte Schmährede ist. Wir haben hier eine Reihe von Texten, von Beispielen, von Beschreibungen: Der Kyniker erhebt sich in der Mitte einer Versammlung, sei es in einem Theater, einer politischen Versammlung oder mitten auf einem Fest, entweder ganz einfach an der Straßenecke oder auf dem Markt. Dort ergreift er das Wort und greift an. Er greift seine Feinde an, d. h., er greift die Laster an, die die Menschen plagen, besonders seine Gesprächspartner, aber auch die Menschheit im allgememen. Sie sehen also, daß der Kyniker ganz anders als durch das Beispiel seines Lebens oder durch Ratschläge dient, die er geben könnte. Er ist nützlich, weil er sich schlägt, er ist nützlich, weil er beißt, er ist nützlich, weil er angreift. Sehr häufig bezogen die Kyniker diese Attribute auf sich selbst, die Beschreibung ihres eigenen Auftrags als der eines Kampfes, indem sie sich mit jenen Konkurrenten verglichen, die bei den Spielen oder den Wettbewerben versuchen, die anderen zu besiegen - und an dieser Stelle bestimmt der Kyniker sich selbst als Athlet -, oder auch indem sie sich mit den Soldaten einer Armee verglichen, die entweder Wache halten oder Feinden entgegentreten und sich einen Nahkampf mit ihnen liefern. Natürlich sind auch hier die Kyniker nicht die einzigen, die diesen athletischen oder militärischen Vergleich verwenden, um die wahre Philosophie zu bezeichnen. Sie wissen, daß man leicht eine ganze Reihe von Vergleichen und Metaphern derselben Art in der antiken Philosophie spätestens seit der Tradition von Sokrates finden könnte. Erinnern Sie sich an Sokrates als Soldat, an Sokrates, der besser als jeder andere die ganze Mühe, die Ar-
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beit und die Härte des Lebens als Soldat aushalten kann, so sehr, daß er sogar die Bewunderung von Laches erregte. Sokrates sagt von sich selbst, daß er wie ein Athlet (ein athletes) ist. Es scheint so, daß man bei den Kynikern jene recht traditionellen Themen des militärischen oder athletischen Kampfes findet, jedoch mit einer bestimmten Wendung. Bei Sokrates und den Stoikern war dieser athletische oder militärische Kampf, dieser Kampf, der erforderte, daß man sich sein ganzes Leben lang übt, um möglichen Unglücksfällen des Lebens begegnen zu können, gegen das eigene Verlangen, die eigenen Begierden, die eigenen Leidenschaften als Feinde gerichtet. Für alle, zumindest aber für alle diejenigen, die diesen Kampf annahmen, ging es darum, den Sieg der Vernunft über ihre eigenen Begierden oder seiner Seele über seinen Körper sicherzustellen. Der Kampf der Kyniker, sei er nun militärisch oder athletisch, ist gerade auch der Kampf des Individuums gegen sein Verlangen, seine Begierden und seine Leidenschaften. Und in diesem Sinne könnte man ihn einen spirituellen Kampf nennen. Es ist aber auch ein Kampf gegen Gebräuche, gegen Konventionen, gegen Institutionen, gegen Gesetze, gegen einen bestimmten Zustand der Menschheit. Es ist ein Kampf gegen Laster, aber diese Laster sind nicht bloß die des einzelnen. Sie betreffen die ganze Menschheit, sie sind die Laster der Menschen und sie sind Laster, die in so vielen Gewohnheiten, Handlungsweisen, Gesetzen, politischen Organisationen oder gesellschaftlichen Konventionen, die man bei den Menschen findet, Gestalt annehmen, sich [auf] sie stützen oder ihnen zugrunde liegen ... Der kynische Kampf ist also nicht bloß jener militärische oder athletische Kampf, durch den das Individuum die Herrschaft über sich selbst sicherstellt und dadurch den anderen [gegenüber] wohltätig ist. Der kynische Kampf ist ein Kampf, ein ausdrücklicher, absichtlicher und ständiger Angriff, der sich an die Menschheit im allgemeinen wendet, an die Menschheit in ihrem wirklichen Leben, wobei der Horizont oder das Ziel ist, sie zu ändern, sie in ihrer moralischen Einstellung (ihrem ethos) zu ändern, sie aber zugleich auch und eben dadurch in
ihren Gewohnheiten, ihren Konventionen, ihren Lebensweisen zu ändern. Der Kyniker ist ein Kämpfer, dessen Kampf für die anderen und gegen die Feinde die Form der Ausdauer, der Entsagung, der ständigen Selbstprüfung, aber auch des Kampfes im Schoße der Menschheit, im Hinblick auf die Menschheit und für die ganze Menschheit annimmt. Der Kyniker ist ein König des Elends, ein König der Ausdauer, ein König der Hingabe. Er ist aber ein kämpfender König, der sowohl für sich als auch für die anderen kämpft. In dieser Darstellung des kynischen Kampfes begegnen wir der Figur des Herakles. Das große Vorbild für den kynischen König, diesen König des Elends und des Kampfes ist Herakles, Sohn des Zeus - wir begegneten dem Thema, daß der Weise direkt von Zeus abstammt und von Zeus' Händen geformt wurde. In der berühmten Anekdote, der berühmten Erzählung des Prodikos bei Xenophon, wählt Herakles anstelle des leichten Lebens, des Lebens der Zügellosigkeit und der Wollust, das Leben der körperlichen und geistigen Übung und der Ausdauer. 18 An der Kreuzung der beiden Wege wird Herakles den harten, den steilen Weg am Beginn seines Lebens wählen. Herakles ist ein Mann, der einen Auftrag erhalten hat. Er steht im Dienste von Eurystheus und tut in diesem Sinne das, was man ihn zu tun heißt. Und schließlich führt er bei diesem Dienst, bei diesem Auftrag, den er von Eurystheus empfangen hat, einen Kampf, der sich weder auf seine Laster (denn er hat keine) noch auf seine Übel (er hat ebenfalls keine) bezieht. Es ist ein Kampf gegen die Laster der Welt und die Übel der Menschen. Er muß die Welt säubern und sich gewissermaßen die Häßlichkeit und Niedertracht der Menschheit aufhalsen. Dieser Bezug auf Herakles ist eine Konstante in der kynischen Praxis und im kynischen Diskurs. Auch hier können wir ein besonders gut entwickeltes Beispiel bei Dion Chrysostomos finden, dieses Mal am Ende der VIII. Rede, die der Tugend gewidmet ist. 19 In dieser Rede entwickelt Dion Chrysostomos das Thema des Herakles und läßt ihn als kynischen Helden er-
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scheinen. Auch hier können wir einige Züge dieses Textes hervorheben, weil sie sehr interessant sind, um die Umkehr des souveränen Lebens bei den Kynikern zu erfassen. Dion Chrysostomos stellt zunächst Herakles den anderen Helden, den anderen Athleten gegenüber, die in der Mythologie durch ihre Schönheit, ihren Reichtum oder ihre Macht berühmt waren. Herakles ist nicht, wie Zetes, einer der Argonauten. 2o Er ist nicht wie Peleus, der Vater des Achilles. Er ist auch nicht, wie Jason21 und Cinyras. 22 Er ist nicht wie Pelops mit seiner Schulter aus Elfenbein. 23 Dagegen wird Herakles, weit davon entfernt, einer dieser glänzenden Helden zu sein, die von allen anerkannt werden und glücklich in ihren Heldentaten sind, so Dion Chrysostomos, immer von allen als leidend (ponounta) und kämpfend (agonizomenon) dargestellt. 24 Daher ist er jemand, für den man Mitleid empfinden muß. Er ist der bemitleidenswerteste Mensch (anthropon athliotaton). Athlios ist ein Wort - ich weiß allerdings nicht, ob das etymologisch fundiert ist - das auf athletes verweist. 25 Der athletes ist der Athlet. Athlios ist der Jämmerliche. Das Thema des jämmerlichen Athleten (athletes athlios) durchzieht diese ganze Passage von Dion Chrysostomos. Ein jämmerlicher Athlet, ein Kämpfer, der durch die Härte seines Schicksals Mitleid erregt, dadurch zeichnet sich Herakles im Gegensatz zu all den großen und gewissermaßen positiven, sichtbaren und glänzenden Helden der Legende aus. Erst nach seinem Tod wird Herakles als das erscheinen, was er wirklich ist, wird er schließlich anerkannt, wird sein jämmerliches Königtum zu einem herrlichen. Nach seinem Tod wird er anerkannt, gewürdigt, geehrt, vergöttlicht, und man gibt ihm Hebe zur Frau. 26 Dion Chrysostomos wird diesen Gegensatz zwischen HerakIes und den anderen Helden, den anderen Athleten entwikkeln, indem er ein körperliches Porträt wie das eines wirklichen Helden der Ausdauer zeichnet. Körperlich ist Herakles ein Mensch, der genauso behende ist wie ein Löwe. Er hat ein scharfes Auge, ein feines Gehör, er ist übermäßiger Hitze gegenüber genauso gleichgültig wie beißender Kälte. Er schläft
nie in einem Bett, sondern immer auf dem Fußboden. Er braucht keine Decke und hat schließlich schmutzige Haut. 27 Dieser Held ist genau jener Bettler, dessen Porträt wir uns letztes Mal angesehen haben. Und dieser verborgene, jämmerliche, bettelarme König wird die als die Arbeiten von Herkules bekannten, verschiedenen Heldentaten vollbringen. Dion Chrysostomos zählt diese verschiedenen Arbeiten auf, indem er jeder eine symbolische Bedeutung zuweist, und zwar gemäß einer Interpretation, die in der Antike übrigens ganz geläufig war. Diomedes von Thrakien, den er in einem Kampf besiegt und mit seiner Keule wie einen alten Tontopf auseinanderschlägt, war der ungerechte, tyrannische Souverän, der auf einem goldenen Sitz thronte und alle Fremden tötete, die sein Gebiet kreuzten. Ein ungerechter Souverän also, der nicht in der Lage ist, die Universalität des Menschengeschlechts zu erkennen. Dieser politischen Verirrung wird Herakles entgegentreten, und er wird Diomedes töten. 28 Geryon bedeutet Reichtum, und er wird ihm seine Kälber nehmen. 29 Die Amazonen sind natürlich die Unkeuschheit, die körperliche Wollust. Prometheus, den er erlöst - die Interpretation ist interessant -, wird von Dion Chrysostomos als Sophist dargestellt. Das ist ein Thema, das für die Kyniker sehr charakteristisch ist. Prometheus war nämlich bei den Kynikern eine negative Figur, weil er derjenige war, der die Menschen von ihrer ursprünglichen Tiernatur, von ihrer eigenen anfänglichen Natur abgebracht hat, indem er den Menschen die Erfindung des Feuers gab und sie in die Techniken und das technische Können einführte. Prometheus ist der, der den Menschen von seiner ursprünglichen Natürlichkeit getrennt und ihn daher allen späteren Übeln ausgeliefert hat. Prometheus ist also genau der Sophist. Und wenn Herakles Prometheus erlöst hat, dann bedeutet das nicht, daß er diesen Sophisten befreit hat, damit er mit seinen schlechten Handlungen fortfahren und seinen üblen Einfluß auf die Menschen ausüben kann. Wenn Herkules Prometheus erlöst hat, dann bedeutet das, daß er ihn von seiner eigenen Meinung befreit hat (von der vorteilhaften Meinung, die
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er von sich selbst hatte, und von allem, was er in bezug auf das Wissen, die Techniken, den Unterricht glaubte).30 Die Erlösung des Prometheus, das bedeutet: Prometheus und die Menschheit ihrer ursprünglichen Natürlichkeit zurückzugeben. Diese Lobrede auf Herakles legt Dion Chrysostomos also in den Mund von Diogenes. Und Dion Chrysostomos beendet diese Ausführung, indem er sagt, daß diese Rede die Begeisterung der Zuhörerschaft hervorruft. Aber Diogenes selbst blieb inmitten dieser B"geisterung schweigsam. Er hat sich auf den Boden gesetzt und hat eine gewisse unanständige Handlung vollzogen. Während die ganze Menge ihm wohlgesonnen war, als sie die Rede zugunsten von Herakles hörte, wird sie jetzt wütend, als sie ihn diese unanständige Handlung vollziehen sieht, und behauptet, daß er verrückt sei. Die Sophisten, die Diogenes umringten und ihm zuhörten, fangen wieder mit ihrem Lärm an wie die Frösche, wenn sie die Wasserschlange nicht mehr sehen. 31 Diese [Episode] ist ziemlich interessant für das Spiel, für die Inszenierung dieser antiköniglichen Monarchie der Kyniker. Diogenes hat also die Begeisterung aller hervorgerufen. Jedermann ist nun also bereit, ihm zu folgen, und dann begeht er die unanständige Handlung. Er setzt sich auf den Boden (Gegensatz zur königlichen Haltung des Souveräns, der auf seinem Thron sitzt), und er vollzieht eine unanständige Handlung (Rückkehr zur ursprünglichen Tiernatur, die die wahre Form der Monarchie ist, wie man sie verstehen sollte und wie sie nicht anerkannt wird). Und in diesem Moment verbirgt sich dieser König des Elends erneut. Er verschwindet wie die Wasserschiange, die die Frösche ihren Lärm machen läßt. Die Sophisten beginnen wieder, ihre Reden zu halten, Diogenes verschwindet, die wahre Monarchie verbirgt sich wieder. Der König als Anti -König, der verborgene König, der König der Schatten, der jämmerliche und verspottete König. Diese Dramatisierung der Souveränität in der Monarchie des Spotts ist kennzeichnend für die Kyniker. Eine Dramatisierung des souveränen, glücklichen und wohltätigen Lebens zu
einem Leben des jämmerlichen Königtums, einem Leben der Prüfungen seiner selbst und des Kampfes für die anderen, das alles kennzeichnet diese letzte kynische Umkehrung. Als Schlußfolgerung könnte man folgendes sagen. Anhand der verschiedenen Themen, die schon erwähnt wurden, haben wir gesehen, daß die Kyniker die Vorstellung des unverborgenen Lebens umgekehrt hatten, indem sie sie in der Praxis der Nacktheit und der Schamlosigkeit dramatisierten. Sie hatten das Thema des unabhängigen Lebens umgekehrt, indem sie es in Form der Armut dramatisierten. Sie hatten das Thema des geradlinigen Lebens umgekehrt, indem sie es in Form der Tiernatur dramatisierten. Nun, man kann auch sagen, daß sie das Thema des souveränen Lebens (des ruhigen und wohltätigen Lebens: ruhig im Hinblick auf dieses Leben selbst, das sich genießt, und wohltätig für die anderen) umkehren, indem sie es in der Form von so etwas wie einem aktivistischen Leben dramatisieren, einem Leben des Kampfes gegen sich und für sich, gegen die anderen und für die anderen. Ich weiß wohl, daß, wenn ich diesen Begriff des »aktivistischen Lebens« verwende, ich damit einen offensichtlichen Anachronismus begehe. Der Begriff des Aktivisten, des Aktivismus, der Militanz kann nicht übersetzt werden oder kann keinerlei Äquivalent im griechischen und lateinischen Wortschatz haben. Dennoch haben wir hier trotz allem einen gewissen Kern, der in der Geschichte der Ethik sehr wichtig ist. Ich meine folgendes. Erstens gibt es eine Reihe von Begriffen, Bildern und Ausdrücken, die von den Kynikern verwendet werden und die mir ziemlich gut das abzudecken scheinen, was in der Folge in der abendländischen Ethik zum eigentlichen Thema des aktivistischen Lebens wird. Erinnern Sie sich an die Art und Weise, wie die Kyniker selbst den Begriff des »Hundes« deuteten, den man auf sie anwendete und den sie auf sich selbst anwendeten. Die Vorstellung des Wachhunds, der sich den Feinden nähert und sie beißt; das Thema des Soldaten als Kämpfers oder des Athleten als Kämpfers, der sich gegen die Übel der Welt schlägt; die Vorstellung des Kämpfers, der immer kampfbereit
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geübt. Bei den Kynikern haben wir, wie mir scheint, eine etwas andere Vorstellung, nämlich die eines Aktivismus, der gewissermaßen in einem offenen Milieu operiert, d. h. eines Aktivismus, der sich ausnahmslos an alle wendet, eines Aktivismus, der eben keine bestimmte Erziehung (eine paideia) verlangt, sondern auf eine Reihe von heftigen und drastischen Mitteln zurückgreift, nicht so sehr, um die Menschen zu bilden und sie zu lehren, sondern um sie wachzurütteln und sie zu bekehren, und zwar auf brüske Weise. Es handelt sich um einen Aktivismus in einem offenen Milieu in dem Sinne, daß er vorgibt, nicht nur verschiedene Laster, Fehler oder Meinungen anzupacken, die dieser oder jener Mensch haben könnte, sondern ebenfalls die Konventionen, Gesetze, Institutionen, die selbst auf den Lastern, Fehlern, Schwächen, Meinungen beruhen, die die
Menschheit im allgemeinen teilt. Dieser Aktivismus gibt also vor, die Welt zu verändern, anstatt seinen Anhängern bloß die Mittel zu liefern, ein glückliches Leben zu erreichen. Wenn man vom kynischen Aktivismus sprechen möchte, darf man nicht die Ganzheit vergessen, deren Teil er ist. Man darf nicht vergessen, daß er vielen anderen Formen des philosophischen Bekehrungseifers in der Antike benachbart ist. Aber man sollte in diesem Aktivismus auch eine besondere Form erkennen: einen offenen, universellen, aggressiven Aktivismus, einen innerweltlichen Aktivismus, der sich gegen die Welt richtet. Das macht, glaube ich, die Einzigartigkeit dieser kynischen Souveränität aus. Eine Geschichte der Philosophie, der Moral und des Denkens, die als Leitfaden die Lebensformen, die Lebenskünste, die Verhaltensweisen, Haltungen und Seinsweisen nähme, eine solche Geschichte würde dem Kynismus und der kynischen Bewegung gewiß eine große Bedeutung zuweisen. Insbesondere könnte man, wie mir scheint, in der Vorstellung der kynischen Souveränität als verspotteter und aktivistischer Monarchie den Ursprung von zwei Dingen sehen, die für unsere Kultur von Bedeutung sind. Erstens ein Ereignis innerhalb dessen, was man das Imaginäre oder das Mythologische unseres politischen Denkens nennen könnte: die Figur des verspotteten Königs. Dieses Thema des Verhältnisses zwischen Monarchie und Spott sollte man untersuchen. Man könnte es, glaube ich, in sehr vielen verschiedenen Gestalten finden. Beispielsweise in dem Paar, das von dem König und seinem Narren gebildet wird: der Narr an der Seite des Königs, das Gegenüber des Königs, gewissermaßen der AntiKönig, die Karikatur des Königs, die dem König äußerst entgegengesetzt ist und die dem König zugleich am nächsten steht, sein Vertrauter ist, der einzige, zu dem er frei sprechen und ihm gegenüber die parrhesia ausüben kann, und der besser noch als der König die Wahrheit kennt, übrigens auch die über den König. Der König und sein Narr, das ist eine gewisse Umwandlung des Themas der verspotteten Monarchie.
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ist, nichts für sich behält, sondern sein eigenes Elend für das größere Wohl aller aushält - all das scheint mir insgesamt dem viel moderneren Begriff des Aktivismus sehr nahezustehen. Dieser Begriff des Aktivismus scheint mir viele Dimensionen dieses kynischen Lebens abzudecken, das die wohltätige Souveränität des bias philasaphikas in eine kämpferische Ausdauer umkehrt. Die Vorstellung eines philosophischen Aktivismus ist natürlich nicht nur eine Eigenart der Kyniker. Man trifft sie in der antiken Philosophie sehr häufig an, insbesondere bei den Stoikern. Dennoch - das wäre meine zweite These -, auch wenn es stimmt, daß der kynische Aktivismus zu vielen Praktiken des Bekehrungseifers gehört, so ist er doch einzigartig und unterscheidet sich von allen anderen in dem Sinne, daß die Militanz, der Aktivismus der Schulen, der philosophischen Sekten der Antike sich doch im wesentlichen in einem geschlossenen Kreis vollzog. Es ging darum, durch die Macht des Bekehrungseifers oder der Propaganda weitere Anhänger zu gewinnen, die größtmögliche Zahl von Individuen für die Sache zu gewinnen. Aber der philosophische Aktivismus wurde immer nur in der Form einer Sekte, in der Form der kleinen Zahl aus-
Man könnte auch das Thema des verborgenen Königs untersuchen, des verkannten Königs, der die Menschheit durchwandert, ohne je von jemandem erkannt zu werden, während er doch die höchste Form der Tugend und die wahre Macht besitzt. Hier finden wir ein Thema wieder, das im Christentum bekanntlich eine bedeutende Rolle spielt. Das christliche Thema des verborgenen Königs hat sicher bis zu einem bestimmten Grad eine Reihe von Elementen diesem Thema des kynischen Königs, des Königs des Elends entlehnt. Auch alle so häufig anzutreffenden Figuren des verbannten Königs, des Königs, der von seinem Land verjagt wurde und die Welt durchschreitet, ohne von jemandem erkannt zu werden, gehören hierher. König, Heiliger, Held oder Ritter, es ist jedenfalls diese maskierte Persönlichkeit, deren Wahrheit, Heldenhaftigkeit und äußerst wohltätiger Wert für die Menschheit von der gesamten Menschheit verkannt werden. Am Zusammenfluß all dieser Faktoren könnten Sie ohne weiteres die Gestalt des Königs Lear finden. König Lear ist nämlich eine bestimmte Episode, ohne Zweifel die höchste Ausgestaltung dieses Themas des verspotteten Königs, des verrückten Königs und des verborgenen Königs. König Lear beginnt schließlich mit einer Geschichte der parrhesia, einer Prüfung der Offenherzigkeit: Wer wird dem König die Wahrheit sagen? König Lear ist gerade jemand, der nicht in der Lage war, die Wahrheit dort zu erkennen, wo sie ist. Und aufgrund dieses Verkennens der Wahrheit wird er selbst verkannt. Als König verkannt, wird er durch die Welt irren, begleitet von Leuten, die ihn beschützen werden und ihm Gutes tun, ohne daß er sie erkennt, bis zu jenem Ende, das zugleich den Tod seiner Tochter Cordelia und seinen eigenen Tod darstellt, die Vollendung des Elends - aber eine Vollendung, die zugleich der Triumph und die Wiederherstellung der Wahrheit selbst ist. In dieser gewissermaßen politischen Fiktion der verkannten Monarchie hat, glaube ich, der Kynismus eine große Rolle gespielt. Ich denke auch - und hier wären die Dinge wohl leichter, müßten aber auch näher untersucht werden -, daß der Kynismus
die Matrix und den Ausgangspunkt einer langen Reihe von historischen Figuren bildete, die man in der christlichen Askese wiederfindet, einer Askese, die sowohl ein spiritueller Kampf an sich gegen die eigenen Sünden, die eigenen Versuchungen ist als auch ein Kampf für die ganze Welt. Der christliche Asket ist derjenige, der die ganze Welt von ihren Dämonen läutert. Die Vorstellung der kämpferischen Schmutzigkeit. Und außerdem findet man natürlich in den verschiedenen Bewegungen, die das Christentum durch seine ganze Geschichte begleitet haben, ebenfalls diese Vorstellung eines verborgenen Souveräns, des verspotteten Souveräns, der für die Menschheit kämpft und dafür, sie von ihren Übeln und ihren Lastern zu befreien. Da ist die Entwicklung der Bettelorden im Mittelalter, da sind die Bewegungen, die der Reformation vorausgegangen und die auf sie gefolgt sind. In diesen Bewegungen tritt ständig das Prinzip eines Aktivismus hervor, eines offenen Aktivismus, der in einer Kritik des wirklichen Lebens und des Verhaltens der Menschen besteht und der im Verzicht, in der persönlichen Entsagung den Kampf führt, der zur Veränderung der ganzen Welt führen soll. Und schließlich ist auch der revolutionäre Aktivismus des 19. Jahrhunderts von derselben Art. Auch hier haben wir jene Art von Königtum, von Monarchie, die sich unter dem Mantel des Elends, jedenfalls aber hinter den Praktiken der Entsagung und des Verzichts verbirgt, jene Monarchie, die in einem aggressiven Kampf, einem ständigen Kampf, einem unablässigen Kampf besteht, damit sich die Welt verändert. Und man kann in aller Kürze sagen, daß der Kynismus unter diesen Bedingungen das Thema des wahren Lebens nicht nur so weit getrieben hat, bis es sich zum Thema des skandalösen anderen Lebens [umkehrte':·], er hat diese Andersheit des anderen Lebens nicht bloß als Wahl eines anderen, glücklichen und souveränen Lebens behauptet, sondern als Praxis eines Kampfgeistes, in deren Horizont es eine andere Welt gibt. Sie sehen also, daß der Kyniker derjenige ist, der, während er
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die traditionellen Themen des wahren Lebens in der antiken Philosophie wieder aufnimmt, diese Themen transponiert und sie zu einer Forderung und Behauptung der Notwendigkeit eines anderen Lebens umkehrt. Und dann transponiert er noch einmal anhand des Bildes und der Gestalt des jämmerlichen Königs die Idee eines anderen Lebens zum Thema eines Lebens, dessen Andersheit zur Veränderung der Welt führen soll. Ein anderes Leben für eine andere Welt. Wie Sie sehen, sind wir natürlich sehr fern von den meisten Themen des wahren antiken Lebens. Wir haben hier aber den Kern einer Form der Ethik, der völlig charakteristisch für die christliche und die moderne Welt ist. Und insofern er jene Bewegung darstellt, durch die das Thema des wahren Lebens zum Prinzip des anderen Lebens und zum Streben nach einer anderen Welt geworden ist, stellt der Kynismus die Matrix, zumindest aber die Verbindung zu einer grundlegenden ethischen Erfahrung im Abendland dar. Ich werde jetzt aufhören. Wenn Sie wollen, werde ich in der zweiten Stunde trotz meiner schlechten Verfassung versuchen, kurz einen Text von Epiktet (das berühmte Gespräch 22 aus dem IH. Buch) zu kommentieren, wo wir eine ganz präzise Beschreibung der kynischen Mission haben. In dieser Passage werden wir diesen Themen in Epiktets Umsetzung wiederbegegnen. Anmerkungen I »Wenn du wohlauf bist und dich in deiner sittlichen Bildung so weit gefördert glaubst, daß du in absehbarer Zeit ganz Herr deiner selbst (fias tuus) wirst, so freue ich mich« (Seneca, Briefe an Lucilius, übers. v. O. Apelt, Leipzig 1924, Brief 20, I, S. 69). 2 »Ich, mein Lucilius, habe Muße, ja ich habe Muße, und wo ich bin, gehöre ich mir selbst (ibi meus sum)« (ebd., Brief 62, I, S.22I). 3 »Und worin besteht diese (die schrankenlose Freiheit)? So fragst du. Weder vor Menschen noch vor den Göttern Furcht zu haben; seine Wünsche weder auf Schimpfliches noch auf Übermäßiges zu richten, über sich selbst unbedingte Gewalt zu haben (in se ipsum habere maximam potestam )« (ebd., Brief 75, 18, S. 55). 374
4 »[...] niemals wird er [der Weise] halbfrei sein, da er im Besitz der stets unversehrten Freiheit und vollständigen, unabhängig und eigenen Rechtes (sui juris) und höher als alle übrigen« (Seneca, Über die Kürze des Lebens, v, 3, in: L. Annaeus Seneca, Philosophische Schriften, übers., einge!. und mit Anmerkungen versehen v. M. Rosenbach, 2. Bd., Darmstadt 1983, S. 189); wir können auch den Brief 75,18 zitieren: >>[. ..] unschätzbares Gut ist, Eigentum seiner selbst zu werden« (Briefe an Lucilius, in: Philosophische Schriften, 4. Bd., a. a. 0., S. 95). 5 »Wer sich hat (se habet), der hat nichts verloren. Aber wie wenigen ist es beschieden, sich zu haben (se habere)!« (ebd., Brief 42,10, S. 146). 6 »[jener] ist der Diener jenes, dieser der eines anderen, der eigene niemand (suus nemo est)« (Über die Kürze des Lebens, II, 4, a. a. 0., S. 181). 7 »Tue, liebster Lucilius, was allein dich glücklich machen kann (de tuo gaude)« (Briefe an Lucilius, Brief 23,6, S. 84). 8 »Er hat nämlich immer darum gerungen, sehr viel auf seine eigene Person zu setzen, von sich alle Freude zu verlangen (a se omnium gaudium peteret)« (Seneca, Trostschrift an die Mutter Helvetia, in: Seneca, Philosophische Schriften, 2. Bd., a. a. 0., V,I, S. 305). 9 »Obwohl wir durch das Meer getrennt sind, werde ich oft versuchen, dir durch Gewaltanwendung einen Dienst zu erweisen, um dich auf einen besseren Weg zu führen« (Se ne ca, Questions naturelles, IVA , übers. v. P. Oltramare, 2. Bd., Paris 1961, S. 178). 10 »Diogenes oder Über die Gewaltherrschaft«, in: Dion Chrysostomos, Sämtliche Reden, Zürich und Stuttgart 1967, S. 98-1 I I. 11 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen ... , übers. v. O. Apelt, a. a. 0., Buch VI, §}2, S. 293. 12 Dion Chrysostomos, »Diogenes oder Über die Gewaltherrschaft«, § I I, a. a. 0., S. 100. 13 Ebd., § 8, S.99. 14 Ebd., §30, S. 104. 15 Ebd., § 55, S. 1°9. 16 Dion Chrysostomos, »Sur la Royaute«, in: Les Cyniques grecs, übers. v. L. Paquet, a.a.O., §67, S.2I3. 17 »Der berühmte Krates, Schüler von Diogenes, wurde in Athen von seinen Zeitgenossen so geehrt wie der Schutzgeist jedes Hauses. Nie war ihm ein Haus verschlossen; ein Familienvater konnte kein so intimes Geheimnis haben, daß Krates nicht in es eingeweiht wurde, und zwar immer mit Absicht; er war der Vermittler und der Schiedsrichter aller Streitigkeiten und Auseinandersetzungen zwischen Verwandten schlechthin« (Apuleius, Florides, XXII, 1-4, übers. v. V. Betolaud, CEuvres completes, Bd.3, Paris 1836; Krates wird Diogenes zufolge als »>Öffner der Türen< bezeichnet, da er zu allen Häusern Zugang hatte und dort seine Zurechtweisungen erteilte«, VI, 86, S. 75 3; vgl. ein ähnliches Porträt in Plutarch, Moralia, 6}2e). 18 Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, II, I, 21-34, S.9 I -99. 375
I9 Dion Chrysostomos, VIII. Rede: »Diogenes oder Von der Tugend«, in: Dion Chrysostomos, Sämtliche Reden, einge!., übers. u. er!. v. W. EIliger, Zürich und Stuttgart I967, S. I48-I 56. 20 Ebd., §27, S. I54 (Zetes ist mit Kalais einer der beiden Söhne von Boreus; beide nahmen an der Expedition der Argonauten teil). 2I Jason war der Anführer der Argonauten und führte die mythische Expedition, die zur Eroberung des Goldenen Vlieses aufgebrochen war. 22 Als Sohn von Apollon und Paphos ist Cinyras der erste König von Zypern, der aus Asien kam. Da er von Aphrodite geliebt wurde, die ihm beträchtliche Reichtümer aufnötigte, lebte er I60 Jahre lang. Seine Langlebigkeit und sein Vermögen wurden sprichwörtlich. 23 »Diogenes oder Von der Tugend«, § 28, a. a. o. Als Sohn des Tantalos wurde Pelops in Stücke geschnitten und von seinem eigenen Vater bei einem Mahl, das den Göttern bereitet wurde, aufgetragen. Der Vater wollte die Allwissenheit der Götter auf die Probe stellen. Diese bemerkten jedoch schnell den Unterschied zwischen Tier- und Menschenfleisch, außer Demeter, die die Schulter des Jünglings verschlang. Tantalos wurde wegen dieses üblen Spiels in die Hölle geworfen und sein Sohn wieder zusammengesetzt, mit Ausnahme der verzehrten Schulter, die durch ein Stück aus Elfenbein ersetzt wurde. 24 Ebd. 25 "Die Mühsale und Kämpfe des Herakles erbarmten sie, und sie hielten ihn für den gequältesten Menschen. Deshalb nannten sie seine Mühen und Arbeiten auch 'qualvolle Kämpfe<, wie wenn das arbeitsreiche Leben auch qualvoll sein müßte« (ebd.). 26 Ebd. 27 Ebd., §30, S.I55· 28 Ebd., §3I, S.I55. 29 Ebd. 30 Ebd., § 33, S. I 55- I 56. 3 I »Während Diogenes so sprach, umringte ihn eine große Menge und lauschte mit Vergnügen seinen Worten. In Gedanken vielleicht noch bei der letzten Tat des Herakles, brach Diogenes ab, hockte sich auf die Erde und tat etwas, was man sonst in der Öffentlichkeit nicht tut. Sofort empörte sich die Menge über ihn und sagte, er sei verrückt. Und von neuem erhoben die Sophisten ihr Geschrei wie Frösche in einem Sumpf, die die Wasserschlange nicht sehen« (ebd., § 36, S. I56).
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(Sitzung vom
Vorlesung 8 März 1984, zweite Stunde)
2r.
Lektüre von Epiktets Buch über das kynische Leben (IIl, 22). - Die stoischen Elemente des Porträts. - Das philosophische Leben: von der überlegten Wahl zur göttlichen Berufung. - Die asketische Praxis als Prüfung. Ethische Elemente des kynischen Auftrags: Ausdauer, Wachsamkeit, Prüfung. - Die Verantwortung der Menschheit. - Die Regierung der Welt.
Ich werde versuchen, mit Ihnen kurz das Kapitel 22 des dritten Buchs von Epiktets Gesprächen zu lesen. Das ist ein hochinteressanter Text, insofern es sich schlichtweg um die Beschreibung des kynischen Auftrags handelt. Wenn man in Übereinstimmung mit dem, was ich Ihnen vorhin gesagt habe, annimmt, daß die Umkehrung des Themas des souveränen Lebens bei den Kynikern einerseits zu der Behauptung geführt hat, daß der Kyniker ein König ist und daß er andererseits einen schwierigen Auftrag zu erfüllen hat, dann findet man bei Epiktet die Entwicklung des zweiten Aspekts (des Auftrags), während Dion Chrysostomos stärker das Thema der kynischen Monarchie hervorhebt (Reden IV bis VIII). Epiktet ist also wegen dieser Bestimmung der kynischen Souveränität als Auftrag interessant. Der Text ist jedenfalls komplex, und man kann ihn nicht als direkten Ausdruck eines Kynikers im Hinblick auf seine Lebensformen auffassen: Epiktet war Stoiker. Sie wissen, daß es - das ist eine komplizierte, schwierige, unklare Sache - äußerst viele Nachbarschaftsbeziehungen und Berührungspunkte zwischen einer bestimmten Form des Stoizismus und einer bestimmten Form des Kynismus gegeben hat. Mit Epiktet haben wir hier also die Darstellung des kynischen Lebens durch einen Stoiker im Hinblick auf jene Merkmale, die für einen Stoiker am leichtesten annehmbar, am leichtesten erkennbar, am wesentlichsten und reinsten waren. Epiktet wird die lautesten, die grellsten, die skandalösesten Züge von dieser Darstellung fernhalten. Er wird das Thema der 377
Schamlosigkeit beiseite fegen und sagen, daß der Kyniker nicht schmutzig und widerlich zu sein braucht, daß er im Gegenteil die Menschen an sich ziehen soll, natürlich nicht durch den Luxus, sondern durch Sauberkeit und Anstand. Er wird also eine Reihe von Dingen aus dem Kynismus ausscheiden. Der Beschreibung des kynischen Lebens wird er statt dessen eine Reihe von eigentlich stoischen Elementen hinzufügen, insbesondere alles, was die Praxis der Prüfung der Vorstellungen, die Theorie der Neigung, der Abneigung, des Begehrens und der Abscheu betrifft. Alle diese stoischen Kategorien wird er in seiner Beschreibung des kynischen Lebens zur Anwendung bringen, so daß wir eine Art von Mischung oder Gemisch haben, nämlich die an den Stoizismus angelehnte Beschreibung eines Kynismus, der - auf diesen Punkt möchte ich eingehenhier als aktivistische Praxis des philosophischen Lebens vorgestellt wird. Das philosophische Leben also als Aktivismus. Wie stellt Epiktet diesen kynischen Aktivismus, diese Tapferkeit dar, in seinem Leben und gegenüber den anderen die Wahrheit einer Philosophie zur Geltung zu bringen? Das erste, was man hervorheben muß, ist, daß Epiktet, wenn er von der kynischen Praxis spricht, nicht genau die Wahl eines Lebensstils charakterisiert, sondern einen Auftrag, den man empfängt. Dieser Unterschied bzw. diese Umwendung (von der Wahl eines Lebensstils zum empfangenen Auftrag) scheint mir etwas Wichtiges zu sein. Wenn wir den Stoizismus als Bezugspunkt nehmen, können wir sagen, daß für die Stoiker jeder Mensch, der in einem Staat lebt, de facta einen Status, ein Vermögen und eventuell Aufgaben und Verpflichtungen hat. Die Stoiker waren der Ansicht, daß es unehrenhaft oder zumindest moralisch verwerflich sei, sich diesen verschiedenen Aufgaben zu entziehen. Man hat zu heiraten, seine Kinder großzuziehen, man soll Ämter ausüben, wenn es nötig ist, usw. Das sind Aufgaben, die man empfing und denen man sich nicht entziehen konnte. Was [bedeutete] nun im Gegensatz zu diesen Aufgaben die Philosophie? Die Philosophie war gerade eine Wahl, die Wahl
einer bestimmten Existenzweise, die es ermöglichte, daß man diese Funktionen, diese Aufgaben, diesen Status auf bestimmte Weise ausüben konnte. Die Philosophie war eine Wahl im Hinblick auf eine Art von gesellschaftlichem Auftrag, den man empfing. Das kynische Leben, wie es hier von Epiktet dargestellt wird, wandelt diese Vorstellung der Philosophie als reiner Wahl im Gegensatz zu den empfangenen Aufträgen und Aufgaben um. Epiktet beschreibt das kynizein (die Tatsache, ein Kyniker zu sein, ein kynisches Leben zu führen) nicht als eine Wahl, die man aus sich selbst heraus träfe, im Gegenteil. Wenn er von jenen Leuten spricht, die mit der Ausübung eines kynischen Lebens beginnen (indem sie einen groben Mantel tragen und auf dem Boden schlafen), sagt er, daß alle diese Entscheidungen im Hinblick auf einen Lebensstil, daß alle diese absichtlichen Praktiken, die man sich selbst auferlegt, nicht das wahre kynizein (die wahre kynische Praxis) ausmachen können. Der Schüler, der sich als Kyniker versteht und in diesem Dialog Epiktets Gesprächspartner ist, sagt folgendes: »Einen alten Rock trage ich jetzt auch, und schlafen auf harter Pritsche tue ich jetzt auch. Dazu nehme ich den Ranzen und Stock, ziehe umher und fange an, die Leute, die mir begegnen, anzubetteln und auszuschimpfen.«l Dieser Schüler meint also oder glaubt, daß man, um Kyniker zu sein, eine Wahl treffen müsse, die Wahl der Kleidung, des Aussehens, die Wahl einer Lebensweise. Worauf Epiktet erwidert: »Wenn du dir die Sache so denkst, dann hast du keine Ahnung; laß die Hände davon, es ist nichts für dich!«2 Epiktet will, glaube ich, sagen, daß diese ganze Äußerlichkeit des kynischen Lebens (der grobe Mantel, der jämmerliche Ranzen, der Stock) nur Flitter ist und mit dem kynischen Leben im eigentlichen Sinne nichts zu tun hat. Es gibt jedoch noch einen anderen Grund. Nicht nur, weil es sich um reine Äußerlichkeiten handelt, die das Verhältnis zu sich selbst nicht betreffen, sondern auch, weil der Mensch, indem er dies tut, sich selbst zum Kyniker aufwirft. Er macht sich selbst zum Kyniker. Gerade das darf man aber nicht tun. Für Epiktet ist einer, der sich unabhängig von den Göttern (dicha theous) »an
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ein solches Unternehmen wagt, ein Gottverworfener [... ] und [will] sich nur öffentlich blamieren«.3 Deshalb darf die Annahme des kynischen Lebens nicht die Wahl sein, die man für sich selbst trifft, die man für sich selbst aufgrund der eigenen Entscheidung trifft, sie kann sich nicht dicha theous (unabhängig von den Göttern) vollziehen. An dieser Stelle macht Epiktet einen Vergleich: Stellen Sie sich vor, daß jemand ein wohlgeordnetes Haus betritt. Nun erklärt er sich zum Verwalter dieses Hauses und beginnt die Funktionen eines Verwalters auszuüben, ohne irgend etwas von dem Haus oder der Ordnung, die dort herrscht, zu wissen. Natürlich würde sogleich die größte Unordnung entstehen. Und der Herr des Hauses würde, wenn er die so erzeugte Unordnung sieht, den Betrüger bald hinauswerfen. 4 Nun geschieht aber dasselbe in der Ordnung des kynischen Lebens. Das kynische Leben ist ein Leben, zu dem man von Gott berufen sein muß, genau wie der wahrhafte Verwalter, der die Ordnung herrschen ließe, die in einem Haus nötig ist, vom Hausherrn berufen wird. Man macht sich nicht selbst zum Verwalter eines Hauses. Man macht sich nicht selbst zum Kyniker. Epiktet führt zu diesem Thema nun eine Prosopopoiie Gottes ein, indem er ihm folgende Rede zuschreibt. Gott wendet sich an die Sonne und sagt zu ihr: »Du bist Sonne [... ], zieh deine Bahn und setze so vom Größten bis zum Kleinsten alles in Bewegung.«5 Dann wendet er sich einem Tier zu und sagt zu ihm: »Du bist ein Stier; geh auf ihn los und kämpfe mit ihm; denn dir kommt das zu, und du hast die Kraft und Fähigkeit dazu!«6 Schließlich wendet er sich an einen Menschen und sagt zu ihm »Du hast die Gaben, das Heer gegen Troja zu führen; sei ein Agamemnon! Du hast die Kraft, mit Hektor den Zweikampf zu wagen; sei ein Achill !«7 Der Vergleich ist klar: Genauso wie Gott jedem Ding seinen Platz in der Welt angewiesen hat und die Rolle, die es dort spielen soll, genauso beruft Gott bestimmte Individuen unter den Menschen, um ihnen einen bestimmten Auftrag anzuvertrauen. Dieser Auftrag wird hier übrigens metaphorisch durch die folgenden Elemente dargestellt: 3 80
Der Philosoph ist wie die Sonne, die die Welt erhellt und alle Dinge, große wie kleine, in Bewegung setzt; der Philosoph ist wie der Stier, der nach vorn drängt und kämpft (Aktivismus); der Philosoph ist auch derjenige, der in der Lage ist, den Menschen zu befehlen, genauso wie Agamemnon gegen Troja befahl; schließlich ist der Philosoph in der Lage, die schwersten Kämpfe gegen Fehler und Laster auszuhalten, gen au wie Achilies in der Lage war, gegen Hektar zu kämpfen. Nun wurden aber die Sonne, der Stier, Agamemnon und Achilles von Gott berufen, um ihre Funktion und Rolle auszuüben. Auf dieselbe Weise wird dann offensichtlich auch der kynische Philosoph berufen. Er darf sich also nicht selbst berufen. Hier muß man, glaube ich, nun folgende Unterscheidung treffen. Epiktet sagt keineswegs, daß man, um das Leben eines Philosophen zu praktizieren, darauf warten muß, diesen Auftrag von Gott zu empfangen. Für ihn ist die Philosophie, die philosophische Lebensweise, in welchem Stand man auch sein mag, ob man Magistrat oder verheiratet sei, ob man arm oder reich sei, durchaus die Folge einer Wahl. Aber innerhalb des philosophischen Lebens gibt es eine bestimmte besondere Funktion, eine Spitzenfunktion, eine Kampffunktion und auch eine Dienstfunktion für die Menschheit. Diese Funktion ist eben der Kynismus. Innerhalb dieses allgemeinen Bereichs der Philosophie, der auf der Wahl beruht, gibt es den philosophischen Auftrag weniger Menschen. Dieser philosophische Auftrag kann nur durch einen Gott anvertraut werden, und niemand kann sich gewissermaßen als professioneller Philosoph niederlassen, wenn er diesen Auftrag nicht empfangen hat. Die Wahl des philosophischen Lebens anstelle des nicht-philosophischen Lebens unterliegt der Entscheidung und der Freiheit. Als Kyniker aufzutreten und die Aufgabe zu unternehmen, die darin besteht, sich an das Menschengeschlecht zu wenden, um mit ihm und für es, möglicherweise auch gegen es für die Veränderung der Welt zu kämpfen, das ist ein Auftrag, den man von Gott und nur von Gott empfängt. Man muß auf ihn warten, man darf ihn nicht sich selbst anvertrauen. 38r
In einem gewissen Sinne finden wir hier das sokratische Thema des göttlichen Auftrags wieder. Auch Sokrates hatte einen Auftrag empfangen. Was hatte die Tatsache, daß Sokrates an diesen Auftrag gebunden war, in der Apologie des Sokrates für eine Auswirkung? In der Apologie sagte Sokrates, daß er einen Auftrag habe und schloß daraus, daß er, weil er ihn empfangen hatte, sich davon nicht entbinden konnte. Was auch immer die Feindseligkeit gewesen sein mochte, der er aufgrund dieses Auftrags begegnete und trotz der Tatsache, daß er wegen dieses Auftrags den Zorn der Bürger auf sich zog, nicht nur deren Zorn, sondern auch einen Prozeß, und nicht nur einen Prozeß, sondern auch den Tod, nun, trotz all dieser Umstände h~elt er, weil er diesen Auftrag empfangen hatte, an ihm fest und erfüllte die Aufgaben bis zum Ende. Der Auftrag band ihn persönlich an eine bestimmte Aufgabe. In diesem Text von Epiktet wird der philosophische Auftrag einen etwas anderen Sinn annehmen. Durch den Auftrag ist der Kyniker natürlich an diese Verpflichtung gebunden, aber die Vorstellung eines Auftrags hat wesentlich zur Folge, vom Beruf des Kynikers all jene fernzuhalten, die kein Recht darauf haben, und alle diejenigen, die nicht dazu berufen wurden. Der göttliche Auftrag zwingt Sokrates, trotz der Gefahren Philosoph zu sein. Der göttliche Auftrag schließt Epikur zufolge von diesem philosophischen Auftrag alle aus, die kein Anrecht haben, alle, die nicht dazu fähig sind, und alle falschen Philosophen. Mir scheint also, daß die beiden Auffassungen des Auftrags nicht genau dieselbe Wirkung haben, selbst wenn der kynische Auftrag tatsächlich an das sokratische Thema des philosophischen Auftrags erinnert, den man [vom Gott] empfangen hat. Man empfängt also den Auftrag, Kyniker zu sein. Wie gesagt, jedermann soll in der Lage sein, die Wahl des philosophischen Lebens zu treffen. Dagegen sind manche die Missionare der Philosophie, sie legen das Gelübde der Philosophie ab. In der Übersetzung bei Bude lautet der Titel des Kapitels - der später hinzugefügt wurde und der weder von Epiktet noch von Arri-
an stammt: »Vom Beruf des Kynikers«8 (auf griechisch: peri kynismou, über den Kynismus). Diese Übersetzung können wir übernehmen, indem wir »Beruf« (profession) die beiden Bedeutungen des Begriffs zuweisen. Einerseits handelt es sich um die Philosophie als einen Beruf, dem man sich vollständig widmet, andererseits aber auch um einen Beruf in dem Sinne, daß es die Einstellung ist, mit der man vor den Augen aller die Philosophie verwirklicht, an die man glaubt, und die Tatsache, daß man an diese Philosophie glaubt und daß man sich wirklich mit der philosophischen Rolle identifiziert, die einem gegeben wurde. Es wird also vom philosophischen Beruf die Rede sein. Hier gäbe es eine Menge zu sagen über das Erscheinen jener gewissermaßen berufsmäßigen Vorstellung der Tätigkeiten, die etwa zu jener Zeit entstand. Bei Marc Aurel finden Sie Betrachtungen über die Ausübung der kaiserlichen Macht als Beruf und beinahe schon als Gewerbe. 9 Woran läßt sich nun dieser Auftrag erkennen, zu Fachleuten der Philosophie zu werden, den einige von denen, die die philosophische Wahl getroffen haben, empfingen? Gibt es Zeichen, wie es schließlich im Christentum Zeichen der göttlichen Gnade oder der göttlichen Berufung geben wird? Tatsächlich gibt es für Epiktet kein vorgängiges Kennzeichen, das es ermöglicht, sich selbst als Beauftragten einer philosophischen Mission zu erkennen. Man kann sich nur unter der Bedingung, daß man sich selbst geprüft hat, als Beauftragten dieser philosophischen Mission erkennen. Diese wichtige Rolle weist er der Selbsterkenntnis zu. Wer K yniker werden will, darf nicht nach äußeren Zeichen dafür suchen, als was Gott ihn auserwählt hat. Er muß etwas anderes tun: »Geh der Sache tiefer auf den Grund, erkenne dich selbst, befrage die Gottheit; ohne Gottes Beistand geh nicht daran!« 10 Weiter oben sagte er: »Siehst du nun, welch dorniges Unternehmen du vorhast? Nimm erst mal einen Spiegel und betrachte deine Schultern, deine Hüfte und deine Schenkel.«l1 Wovon handelt der Text, der sich offensichtlich auf den Athleten und den Kampf bezieht? Man erkennt, daß man für den Beruf des
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Kynikers gemacht ist und diesen Auftrag empfangen hat, wenn man sich im kynischen Leben übt und wenn man in diesem Leben, in der Ausübung dieses Lebens erkennen kann, daß man in der Lage ist, ihn zu erfüllen. Keine Selbsternennung, sondern eine Selbstprüfung, die Erkenntnis dessen, was man ist, und was man bei dem Versuch, kynisch zu leben, tun kann. Wie gehen nun diese Prüfungen und Erfahrungen vor sich, die man gegenüber sich selbst vollziehen soll, um sich als Kyniker zu erkennen? Das ist ganz einfach, und Sie werden sofort bestimmte Elemente wiedererkennen, denen wir schon begegnet sind: »Erstlich mal darfst du dich in deinen persönlichen Angelegenheiten [sagt Epiktet zu dem, der das kynische Leben unternehmen will; M. E] in keiner Beziehung mehr so wie jetzt benehmen: nicht mit Gott hadern, nicht mit den Menschen! Begehren darfst du überhaupt nichts mehr und meiden nur das, was von deinem Wollen abhängt. Zorn, Groll, Neid, Mitleid, all das muß dir fremd sein; kein Mädchen darfst du schön finden, keinen Ruhmesschimmer, keinen Knaben, keinen Leckerbissen. Denn das mußt du wissen, daß die andern Menschen die Mauern ihrer Häuser und die Dunkelheit als Schutzwand haben, wenn sie so etwas tun, kurz, daß sie vielerlei Mittel haben, sich den anderen unsichtbar zu machen. Da hat einer seine Tür zugeschlossen [.. .].«12 Was soll der Kyniker also tun? Er soll nichts von dem, was ihn angeht, verbergen wollen. Nur seine aidos (seine Scham) soll ihn verbergen. »Denn allein jene bedeutet für ihn Haus, verschlossene Tür, Wächter vor seiner Kammer und Dunkelheit.«13 Es ist vollkommen klar, daß wir hier das Ideal des unverborgenen Lebens vor uns haben, wobei wir erstens folgende Änderung bzw. Abwandlung erkennen: Das Prinzip des verborgenen Lebens wird nicht direkt an die anaideia (die Schamlosigkeit), sondern im Gegenteil an die aidos (die Scham) gebunden. Das unverborgene Leben wird hier von Epiktet also in seinem traditionellen Sinn wiedergegeben. Das Leben soll unverborgen sein, weil der, der ein philosophisches Leben führt und sich gemäß den Regeln der Scham verhält, sich nicht zu
verstecken braucht und alle sehen können, was er tut. Sie erkennen also das Prinzip des unverborgenen Lebens, aber mit eben jener Rückzugsbewegung im Hinblick auf die anaideia. Zweitens sieht man, daß die erste Prüfung, durch die jemand sowohl erkennen kann, daß er in der Lage ist, ein Kyniker zu sein, als auch, was sein Auftrag ist, in folgendem besteht: Ist er fähig, in der U nverborgenheit zu leben oder nicht? Die zweite Prüfung besteht gerade darin, daß man herausfindet, ob man in der Lage ist, ein Leben ohne Bedürfnisse, ein Leben der Entsagung und der Armut, d. h. das wahre Leben, das unvermischte und unabhängige Leben zu führen. Epiktet erörtert diese zweite Prüfung des kynischen Lebens etwas weiter, wenn er sagt, daß der Kyniker derjenige ist, der einen Stoff zu bearbeiten hat. Welchen Stoff hat der Kyniker zu bearbeiten? Genau wie der Zimmermann das Holz als zu bearbeitenden Stoff hat, so muß der Kyniker an seiner eigenen Seele arbeiten. »Der elende Körper geht mich nichts an [.. .]. Verbannung? Verbannen könnte mich jemand aus dem Kosmos? Unmöglich! Wo ich auch hingehe, da scheinen ebensogut Sonne, Mond und Sterne, kommen Träume und Vorzeichen, besteht die Gemeinschaft mit den Göttern.«14 Hier haben wir die zweite kynische Prüfung, die Prüfung eines Lebens der Armut und der Heimatlosigkeit, daß einen nichts an ein Vaterland bindet und festhält. Es ist ein Leben unter der Sonne, dem Mond und den Sternen, ein Leben, das mit den Göttern spricht, den Träumen lauscht und die Vorzeichen versteht. Aber darüber hinaus ist dieses Leben an nichts gebunden, es ist adiaphoros, ein unabhängiges Leben, über das wir letztes Mal sprachen, ein Leben der Armut und Mittellosigkeit. Die dritte Prüfung des kynischen Lebens ist die des diakritischen (diakritikos) Lebens, des Lebens, das unterscheidet. Ist man in der Lage, das Leben eines bellenden Hundes zu führen, der die Freunde von den Feinden zu unterscheiden weiß, der diejenigen, die seinem Herrn wohlgesonnen sind, von denen zu unterscheiden weiß, die ihm feindlich gesonnen sind? Der Kyniker ist derjenige, der den Menschen zeigen kann, daß sie sich
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völlig im Irrtum befinden und das Wesen des Guten und des Bösen dort suchen, wo es nicht ist. Der Kyniker soll ein Kundschafter (kataskopos) sein und sich, so Epiktet, an dieser Tatsache erkennen, ein Kundschafter, der den Menschen zeigt, was günstig und was schädlich für sie istY Es ist gerade diese diakritische Funktion, [die darin besteht], zwischen dem Günstigen und dem Schädlichen zu unterscheiden, zwischen den Freunden und den Feinden. Sie sehen, daß die drei Aspekte des kynischen Lebens, die ich Ihnen letztes Mal vorgestellt habe, ganz deutlich in diesem Text enthalten sind. Sie machen sowohl die Verwirklichung des kynischen Lebens, seinen Vollzug als auch die Art und Weise aus, wie man anhand von Zeichen erkennen kann, daß man in der Lage ist, ein solches Leben zu führen. Es handelt sich also zugleich um den Ausdruck und die Prüfung, das Maß und den Vollzug des kynischen Lebens. Man soll also nicht nach äußeren Zeichen für den kynischen Auftrag suchen. Der kynische Auftrag wird nur in der Praxis der askesis erkannt werden. Die Askese, die Übung, die Praxis dieser ganzen Ausdauer, die bewirkt, daß man in der Unverborgenheit, in der Unabhängigkeit, in der Diakritik zwischen dem Guten und Schlechten lebt, all das wird an sich das eigentliche Zeichen des kynischen Auftrags sein. Man ist nicht zum Kynismus berufen, wie Sokrates durch den delphischen Gott berufen wurde, der ihm ein Zeichen gab, und auch nicht wie die Apostel durch das Geschenk der Sprachen, das sie empfangen werden. Der Kyniker erkennt sich selbst, und er ist gewissermaßen mit sich selbst allein, um sich selbst durch die Prüfung zu erkennen, der er das kynische Leben in seiner Wahrheit unterzieht, d. h. das unverborgene und unabhängige Leben, das Leben, das die Aufteilung des Guten und des Bösen neu gestaltet und wieder auflöst. Jetzt, da wir gesagt haben, daß der Kynismus ein Auftrag ist, bei dem man erkennt, daß man in der Lage ist, ihn durch jene ständige Selbstprüfung auszuführen, worin wird dieser Auftrag nun bestehen? Das ist der dritte Punkt, der dritte Reflexi-
onsschritt, den man in diesem Text findet. Worin besteht der kynische Auftrag, wie Epiktet ihn vorstellt? Ganz am Ende des Textes gibt es eine sehr wichtige und entscheidende Passage, wie ich meine. Epiktet, der sein Gespräch mit dem kynischen Kandidaten beendet, erinnert ihn daran, wie schwierig die Aufgabe ist, die er zu erfüllen hat, und mit welchen Vorsichtsmaßnahmen er sie daher angehen muß, mit welcher Sorgfalt er sich darauf vorbereiten soll. Um diese Aufgabe zu charakterisieren, greift Epiktet auf ein Zitat Homers zurück. In der !lias (VI. Buch, Vers 492) sagt Hektor unmittelbar vor dem Kampf mit Achilies zu Andromache (ich weiß nicht genau, ob es der Kampf mit Achilies ist, aber das spielt schließlich keine Rolle): Geh' nach Hause, widme dich deiner Webarbeit »der Krieg ist Sache der Männerl Aller, doch meine zuerst ... « Der kynische Auftrag ist also ein Kampfauftrag. Es gibt die Frauen, die anderen, die nach Hause gehen und sich ihrer Webarbeit widmen sollen; und dann gibt es die »einigen«, die Soldaten, die sich schlagen und ihren Kriegsauftrag erfüllen müssen. Der Kyniker ist ein Philosoph im Krieg. Er ist derjenige, der für die anderen den philosophischen Krieg führt. Was beinhaltet dieser Auftrag des philosophischen Kriegs? Erstens beinhaltet er alles, was wir schon kennen: die Härte gegenüber sich selbst, alle Entbehrungen, die der Kyniker sich selbst auferlegt. Epiktet erinnert daran: Der Kyniker hat weder Kleidung noch Obdach noch Herd. Er lebt im Schmutz und besitzt weder Sklaven noch Vaterland. Der Kyniker, den Epiktet beschreibt, sagt von sich selbst: »[ ...] ich habe kein Heim und kein Vaterland, weder Besitz noch Gesinde; ich schlafe auf der bloßen Erde, habe weder Weib noch Kind noch eine Leibwache, sondern nur die Erde unter und den Himmel über mir und einen einzigen alten Rock.«16 Nur wird er für Epiktet nicht durch diese einfache Privation beschrieben. Es gibt noch mehr, und man erkennt hier etwas, das ich letztes Mal ansprach: Das Annehmen von Gewalttätigkeiten, von Schlägen, von Ungerechtigkeiten, die die anderen ihn erleiden lassen können. Das war ein charakteristisches Merkmal des Kynis-
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mus. Die Schläge, die Beleidigungen, die Demütigungen sind für die Kyniker eine Übung, und diese Übung hat den Sinn eines Trainings, eines Trainings der körperlichen Ausdauer, auch eines Trainings der Gleichgültigkeit gegenüber den Meinungen. Wie Sie sich erinnern, war das auch eine Art und Weise, eine Umkehrung herbeizuführen und nun stärker als die anderen zu erscheinen. In diesen Szenen hatten wir gesehen, wie Diogenes eine Beleidigung oder einen Schlag eingesteckt und dann die Situation umgekehrt hat und nun stärker als die anderen erschien. Bei Epiktet finden wir alle diese Themen der Annahme von Leiden und Ungerechtigkeiten, die, wie gesagt, in der Antike recht einzigartig sind, eine Annahme, die zugleich den Sinn der Prüfung wie des Trainings hat. Im Absatz 53 sagt Epiktet: Wenn Gott die auf dem kynischen Weg verpflichtet, dann nicht deshalb, weil er gerne sieht, daß du Schläge einsteckst, sondern damit »du ein wirklich Großer wirst«.17 Die Schläge machen also groß. Sie prüfen, sie trainieren, sie vervollkommnen. Etwas weiter sagt Epiktet noch: Wenn man Schläge erhält, muß man nicht Cäsar oder den Prokonsul aufsuchen. Der Kyniker ist überzeugt, daß in allen Leiden, die er ertragen muß, Zeus ihn schult. 18 Die Vorstellung also, daß das vom Kyniker angenommene Leid, die Demütigung, der er sich nicht entzieht, einer Übung gleichkommen. Aber wohin führt diese Übung? Einerseits führt sie natürlich dazu, zu unterscheiden, was zum Körper und was zur Seele gehört. »Denn die Geduld des Kynikers muß so groß sein, daß er den Leuten fühllos wie ein Stein vorkommt; niemand kann ihn beschimpfen, niemand mißhandeln oder verhöhnen. Seinen Körper aber gibt er selbst jedem preis, der Lust hat; der kann damit machen, was er wi11.«19 Es gibt jedoch einen anderen Aspekt der kynischen Ausdauer, des Sinns einer Übung, den die Annahme dieser Demütigung, dieser Beleidigungen und Schläge erhält - das ist wichtig und bezeichnet zweifelsohne eine gewisse Nähe zum Stoizismus, wie eine Verunreinigung zwischen dem kynischen und stoischen Denken bei Epiktet -, nämlich daß die Übung der Ausdauer
das philanthropische Band zwischen den Philosophen und der ganzen Menschheit manifestiert und verstärkt. Auf das Leiden und die Ungerechtigkeit, die er seitens eines anderen erfährt, wird der Kyniker auf eine völlig asymmetrische Weise durch die Behauptung antworten, daß er selbst durch ein Band der Freundschaft oder zumindest ein Band der Philanthropie mit denen verbunden ist, die ihm weh tun. Die Gewalt und die U ngerechtigkeit erträgt man nicht bloß, um ausdauernd zu werden und sich auf alle Unglücksfälle vorzubereiten, die einem zustoßen können - worin die klassische Form besteht -, sondern als eine Übung der Freundschaft, der ,Zuneigung, jedenfalls einer intensiven Verbindung mit dem ganzen Menschengeschlecht. In den Absätzen 54-55 heißt es: Dem Kyniker wird ein wohlgefälliges Los bereitet, »er muß sich treten lassen wie ein Hund und unter den Tritten eben die, welche ihn treten, auch noch lieb haben, wie ein Vater von allen, wie ein Bruder!«2o Dieses Verhältnis von Beleidigungen, von Demütigungen, von Gewalttätigkeiten, das sich zwischen dem Kyniker und den anderen einstellt und von dem wir bei Diogenes gesehen haben, daß es als eine Art der Wiedererlangung der Herrschaft, der Wiedererlangung der ironischen Herrschaft diente, erscheint hier also durch eine interessante Wendung in der Geschichte der Ethik als die Gelegenheit für eine Umkehrung, nicht im Sinne der Herrschaft, nicht im Sinne der Gewalt, nicht so, daß dadurch eine andere Form von Herrschaft ermöglicht würde, sondern eine Umkehrung, die bewirkt, daß die Beleidigung dem Kyniker die Gelegenheit verschafft, ein Verhältnis der Zuneigung selbst zu jenen herzustellen, die ihm weh tun, und über sie mit dem gesamten Menschengeschlecht. Wenn der Kynismus durch diese Praxis der Ausdauer Verbindungen mit der ganzen Menschheit webt, was wird dann vor dem Hintergrund dieses Bandes der Freundschaft mit der ganzen Menschheit die Tätigkeit des Kynikers und seine Aufgabe als Missionar sein? Er wird - wir sind dem Wort vorhin begegnet - der kataskopos (der Kundschafter, der Späher)21 oder
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auch der episkopos (ich wollte gerade sagen: der Bischof) des Menschengeschlechts sein, an das er sich wendet. 22 Zur Analyse dieses Auftrags des Kynikers muß man sich, glaube ich, auf eine lange Passage jener TextsteIle beziehen, in der Epiktet erklärt, warum der Kyniker nicht heiraten soll. Es war nämlich eine stoische These, daß jeder Mann heiraten sollte, außer unter besonderen Umständen, die ihn daran hindern konnten, denn die Ehe gehört gerade zu den Aufträgen der Menschheit. Insofern man ein Mensch ist, insofern man eine Familie hat, insofern man Bürger einer Stadt ist und vor allem, insofern man Mitglied des Menschengeschlechts ist, steht es außer Frage, sich dieser allgemeinen Pflicht zu entziehen. Nun, sagt Epiktet in dieser Passage, wenn jeder Mann heiraten soll (die stoische These), kann dagegen der Kyniker gar nicht heiraten und soll es auch nicht. Und warum soll er nicht heiraten? Weil, wenn er sich um seinen Haushalt zu kümmern hätte, er das Badewasser für seinen Sohn heizen müßte, seiner Frau Wolle bringen müßte, wenn sie schwanger ist, seinem Schwiegervater zu Diensten sein und die ganze Familie ernähren müßte. 23 Nun ist es aber ganz klar, daß der Kyniker »frei bleiben muß von allem, was ihn ablenken könnte«. Er muß »ganz dem Dienst der Gottheit geweiht sein [Hinweis auf die Mission, von der ich vorhin gesprochen habe; M. E], durch nichts abgelenkt, um an seinen Mitmenschen arbeiten zu können, nicht durch Pflichten des Spießbürgers gefesselt noch durch persönliche Beziehungen gebunden.«24 In diesem Augenblick erscheint der Kyniker als ein Mann, dessen Elend, dessen Mittellosigkeit, das Fehlen eines Hauses und Vaterlands nichts anderes sind als die Voraussetzung dafür, auf positive Weise den positiven Auftrag auszuführen, den er empfangen hat. In diesem Augenblick erscheint er, der von allem und von allen Regungen frei ist, als eine Art von universalem Wächter, der über den Schlaf der Menschheit wacht. Als universaler Wächter muß er über die anderen wachen, über alle Verheirateten, über alle, die Kinder haben. Er muß jene beobachten, die ihre Frau gut behandeln, und jene, die sie schlecht behandeln, er muß sehen, »wer Zank und Streit
macht, in welchem Hause ein guter Geist herrscht, in welchem nicht [.. .].« Er soll »wie ein Arzt [herumgehen] und den Leuten den Puls fühlen«.25 Ein universaler Missionar der Menschheit, der über die Menschen wacht, was auch immer sie tun und wo auch immer sie sein mögen, der an die Türen klopft, eintritt und nach dem Rechten schaut, der sagt, was gut und was böse ist. All dies ist, wie Sie sehen, die Mission des Kynikers, die nichts anderes ist als die positive Kehrseite der Ungebundenheit, die man von ihm verlangt. Das Bild des Missionars, des Arztes für alle, des Kundschafters, der allen Mahnungen und Ratschläge erteilt. Das Bild des Wohltäters, der jeden zu tun drängt, was er tun soll, dieses Bild ist etwas Neues im Vergleich zu dem, was man den Bekehrungseifer oder den gewöhnlichen und herkömmlichen Aktivismus in den verschiedenen philosophischen Sekten der Antike nennen könnte. Der Kyniker ist ein Amtsträger der Menschheit im allgemeinen, er ist ein Amtsträger der ethischen Universalität. Und dieser Mann, von dem man Ungebundenheit im Hinblick auf alle besonderen Bindungen verlangt, die solche der Familie, des Vaterlands, der bürgerlichen und politischen Verantwortung sein können, ist von diesen Bindungen nur befreit, um die große Aufgabe der ethischen Universalität erfüllen zu können, einer ethischen Universalität, die nicht die politische Universalität einer Gruppe (des Stadtstaats oder des Staats oder auch der gesamten Menschheit) ist, sondern die Universalität aller Menschen. Eine individuelle Bindung an die Menschen, aber an alle Menschen, dadurch zeichnet sich die Bindung des Kynikers an alle anderen Menschen, die das Menschengeschlecht ausmachen, in ihrer Freiheit, aber auch in ihrer pflichtgemäßen Form aus. Der Kyniker ist also verantwortlich für die Menschheit. Diese schlichte, mühsame, harte Aufgabe, die soviel Verzicht verlangt, ist zugleich die wohltätigste und höchste. Erstens nützt sie den Menschen, und zwar allen Menschen. »Sind diejenigen [fragt Epiktet; M. E] ein größerer Segen für ihre Mitmenschen, die zwei oder drei rotznasige Gören in die Welt setzen [d.h.
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die, die heiraten und Kinder zeugen; M.F.], oder die, welche nach Möglichkeit auf die ganze Menschheit achtgeben (hoi episkopountes): was sie treiben, wie sie leben, worum sie sich kümmern und was sie wider ihre Pflicht nicht kümmert ?«26 Hier finden wir natürlich den Bezug zum Thema der epimeleia, einer doppelten epimeleia, die bewirkt, daß der Philosoph (in diesem Fall der Kyniker) derjenige ist, der darüber wacht, worüber die Menschen wachen. Ihre Sorge, ihre epimeleia besteht darin, über die Sorge der Menschen zu wachen. Sorge zu tragen für die Sorge der Menschen, das erscheint hier als die eigentliche Aufgabe des kynischen Philosophen. Diese Aufgabe nützt also allen Menschen. Sie wiegt bei weitem alle privaten Tätigkeiten auf. Es ist besser, über die ganze Welt zu wachen, als zwei oder drei rotznasige Gören zu fabrizieren. Aber es ist auch besser als irgendeine öffentliche Tätigkeit. Wohl steigt der Kyniker nicht auf die Rednerbühne, so Epiktet, um von öffentlichen Einkünften oder vom Krieg oder Frieden innerhalb des Staats zu sprechenY Aber wenn er das nicht tut, so wendet sich der Kyniker doch an jedermann, ob er Athener, Korinther oder Römer sei. Und er wird nicht über Steuern, Einkünfte, über den Krieg und den Frieden sprechen. Worüber wird er dann mit all diesen Menschen, den Athenern, Korinthern und Römern sprechen? »Über das Glück und das Unglück, über das gute und das schlechte Geschick, über die Knechtschaft und die Freiheit.« Kann er eine größere Autorität als diese ausüben? Besteht darin nicht (zu allen Menschen vom Glück und vom Unglück, vom guten und schlechten Geschick, von der Knechtschaft und der Freiheit zu sprechen) die wahre politische Tätigkeit, das wahrhafte politeuesthai ?28 So erscheint nun der Kyniker, der nur ein jämmerlicher König war, und zwar ein verborgener und verkannter König, als einer, der die wahre Funktion des politeuesthai, die wahre Funktion der politeia, verstanden im wahren Sinne dieses Begriffs, ausübt, diese politeia, bei der es nicht bloß um Krieg und Frieden, Steuern, Abgaben und Einkünfte in einem Staat, sondern um Glück und Mißgeschick, um Freiheit und Knechtschaft der
ganzen Menschheit geht. Und daher ist der Kyniker mit der Regierung des Universums verbunden. Dieses politeuesthai ist nicht mehr das der Stadtstaaten noch das der großen Staaten, es ist die Regierung der gesamten Welt. Epiktet beschwört das harte Tagewerk des Kynikers, das ihn durch alle Entsagungen, alle Entbehrungen, alle Leiden dazu geführt hat, die Menschen anzurufen und ihnen dort zu helfen, wo sie waren. Am Abend dieses harten Tagewerks, das das Leben des Kynikers ausmacht, kann er, so Epiktet, mit reinem Herzen einschlafen, weil er weiß, daß »er alles, was er denkt, als Freund der Götter denkt, als ihr Diener, als Mitregent des Zeus«.29 Hier haben wir also den Kyniker an seinem Lebensabend, gestärkt, jenseits seines verborgenen Königtums, in der wahren Souveränität, die die der Götter gegenüber der ganzen Menschheit ist. Darin besteht die Umkehrung des Themas der Souveränität bei den Kynikern."·
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". Das Manuskript enthält hier eine Ausführung, die Foucault nicht aufnImmt: "Verweilen wir einen Augenblick an dieser Stelle. Einerseits weiß ich, wie übertrieben es ist oder wäre, dem Kynismus zu unterstellen, den philosophischen Aktivismus erfunden zu haben. Erstens weil es doch so scheint, als würde seine eigene Praxis in einer ihm vorausgehenden Tradition wurzeln. Dann und vor allem, weil ein gewisser Aktivismus in verschiedenen Graden und in verschiedenen Formen in den meisten philosophischen Bewegungen der Antike existierte: die Schule, der allgemeine Unterricht. Der kynische Aktivismus ist Teil einer ganzen Menge von Praktiken des Bekehrungseifers. Was ihn aber einzigartig macht und ihn von allen anderen unterscheidet, ist, daß er sich nicht in einem geschlossenen Kreis, sondern in einem offenen Umfeld abspielt, daß er keine Erziehung, keine paideia erfordert. Er setzt heftige, drastische Mittel ein, um die Leute wachzurütteln. Schließlich beansprucht er ja, ausschließlich die Konventionen, Gesetze und Institutionen anzugreifen. Dieser Aktivismus gibt vor, die Welt zu verändern. Aber wenn wir vom kynischen Aktivismus sprechen, dürfen wir das Ganze nicht vergessen, dessen Teil er ist. Wir dürfen nicht vergessen, daß wir in seiner Nachbarschaft Formen von philosophischem Bekehrungseifer finden. Wir dürfen auch nicht vergessen, daß die Stoiker oft eine Art von Tätigkeit, von Propaganda praktizieren, die ganz eng benachbart ist. Also: den Kynismus innerhalb dieser ganzen Familie rekonstruieren; aber dennoch in ihm eine Form von offenem, aggressivem Aktivismus erkennen, einen Aktivismus in der Welt und gegen die Welt. Was dieser kyni-
Nächstes Mal, was das letzte Mal sein wird, werde ich versuchen, das Thema der parrhesia wiederaufzunehmen und Ihnen zu zeigen, wie durch die kynische Lebensweise selbst die Werte der parrhesia sich gewandelt haben und welche Gestalt sie im Christentum anzunehmen beginnen.
sehen Aktivität ihre historische Bedeutung verleiht, ist auch die Abfolge, in der sie steht: Aktivismus des Christentums, der sowohl ein spiritueller Kampf als auch ein Kampf für die Welt ist; andere Bewegungen, die das Christentum begleitet haben, sind: Bettelorden, Prediger, Bewegungen, die der Reformation vorausgingen und auf sie gefolgt sind. In allen diesen Bewegungen finden wir das Prinzip eines offenen Aktivismus wieder. Der revolutionäre Aktivismus des 19. Uahrhunderts]. Das wahre Leben als anderes Leben, als Leben des Kampfes für eine veränderte Welt.« 394
Anmerkungen Epiktet, Gespräche, in: Epiktet, Teles und Musonius, übers. v. W. Capelle, Zürich 1948, Buch III, Gespräch 22,10, S. 129. 2 Ebd., III, 22,11, S. 130. 3 Ebd., III, 22, 2, S. 129. 4 Ebd., III, 22, 3-4, S. 129. 5 Ebd., III, 22, 5-6, S. 129. 6 Ebd., UI, 22, 6, S. 129. 7 Ebd., III, 22, 7-8, S. 129. 8 Ebd. 9 Vgl. zu diesem Punkt L'Hermeneutique du sujet, a.a.O., S.19 2 - 194; dt.: S. 25 3-256 (die Texte von Mare Aurel sind die Gedanken, VI, 30 und VIII, 5). 10 Epiktet, Gespräche, IU, 22, 53, a. a. 0., S. 135. I I Ebd., IU, 22,51, S. 135. 12 Ebd., III, 22,13-14, S. 130. 13 Ebd., III, 22,15-16, S. 130. 14 Ebd., III, 22, 21-22, S. 131. 15 »Denn Kundschafter ist der Kyniker, dessen nämlich, was den Menschen gut und was ihnen schädlich ist. Und wenn er im Gelände scharf zugesehen hat, muß er zurückkommen und die Wahrheit berichten, ohne von Furcht benommen oder auf andere Weise von falschen Vorstellungen betört oder verwirrt zu sein« (ebd., III, 22, 24-25, S. 13 1). 16 Ebd., III, 22, 47-48, S. 134. 17 Ebd., III, 22,53, S. 135. 18 Ebd., III, 22,56-57, S. 136. 19 Ebd., III, 22, IOO, S.142. 20 Ebd., III, 22,53, S. 135-136. 21 Ebd., III, 22, 24-25, S. 131. 22 Ebd., III, 22, 77, S. 139. 23 Ebd., III, 22, 68-71, S. 137. 24 Ebd., III, 22, 69, S. 137. 25 Ebd., III, 22, 73, S. 138. 26 Ebd., III, 22, 77, S. 139. 27 Ebd., III, 22, 84, S. 140. 28 Ebd., III, 22, 85, S.140. 29 Ebd., III, 22, 95, S. 140. 1
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Zunächst einige Bemerkungen zur parrhesia des Kynikers, gefolgt von einigen Hinweisen zur Entwicklung des Ausdrucks parrhesia bei den christlichen Autoren der ersten Jahrhunderte. Und dann werde ich vielleicht versuchen, wenn ich noch Zeit dazu habe, alles, was ich Ihnen dieses Jahr und die Jahre zuvor gesagt habe, in den allgemeineren Rahmen zu stellen, den ich für diese Analysen vorgesehen habe. Erstens also die Rückkehr zum Problem der parrhesia in der kynischen Praxis und im kynischen Leben. Sie erinnern sich an die Art und Weise, wie das kynische Leben sich selbst bestimmte und sich als ein königliches Leben, ja sogar als das königliche Leben schlechthin darstellte, das vollkommen über sich selbst verfügt. Ich glaube, daß diese Souveränität, durch die das kynische Leben sich auszeichnete, einen zweifachen Hohn gegenüber der politischen Souveränität, gegenüber den Königen der Erde darstellte. Zunächst, weil diese kynische Souveränität sich aggressiv im Modus der Kritik und der Polemik als einzig wahres Königtum behauptete. Bei der Begegnung zwischen Diogenes und Alexander ging es im Grunde um die Frage, welcher der beiden der wahre König sei. Und Diogenes behauptete sich natürlich und erwies sich gegenüber Alexander als der wahre König, der sein Königtum im wahren Sinne dieses Begriffs nur insofern besaß, als er auch an der Souveränität jener Weisheit teilhatte. Andererseits - das war die andere Seite, durch die die Kyniker die Monarchien verhöhnten - kehrte dieses wirkliche Königtum des Kynikers alle Zeichen und Kennzeichen dieser politi-
schen Monarchien um. Es praktizierte die Einsamkeit, wo die Herrscher sich mit ihrem Hof, ihren Soldaten und ihren Verbündeten umgaben. Es praktizierte die Entsagung, wo die Monarchen der Erde sich mit allen sichtbaren Zeichen des Reichtums und der Macht versahen. Es praktizierte die Ausdauer, die asketischen Übungen, wo die Monarchen der Erde statt dessen dem Genuß der Lüste nachgingen. Ein zweifacher Hohn also auf diese wirkliche Monarchie. Aber durch diesen zweifachen Hohn auf die wirklichen, politischen Monarchien erlangte der kynische Souverän die wahre Monarchie, die universale Monarchie, nämlich die der Götter. Am Ende seines Tagewerks, Sie erinnern sich, konnte der Kyniker in der Reinheit seines Herzens schließlich einschlafen, weil er genau wußte, daß »er alles, was er denkt, als Freund der Götter denkt, als ihr Diener, als Mitregent des Zeus [metechan tes arches tau Dias: einer, der an der Regierung, an der Macht von Zeus teilhat; M. E}<.l Diese Ausübung der kynischen Souveränität, bei der ich mich letztes Mal aufgehalten hatte, beinhaltet, glaube ich, zwei Konsequenzen. Über die erste werde ich rasch hinweggehen, und bei der zweiten werde ich etwas verweilen. Erstens begründet die kynische Souveränität für den, der sie ausübt, eine Modalität des glückseligen Lebens. Zweitens begründet diese kynische Souveränität eine Praxis der offenbarten, der zu offenbarenden Wahrheit. Die kynische Souveränität begründet die Möglichkeit eines glückseligen Lebens in einem Selbstverhältnis in Form der Annahme seiner Bestimmung. In derselben Passage, die ich vorhin erwähnte, wo man ihn am Ende seines Tagewerks reinen Herzens einschlafen sieht, und wo er erkennt, daß er an der Regierung der Götter teilhat, kann der Kyniker, so E piktet, dann den Vers des Kleanthes rezitieren: »Zeus, führe mich, und Verhängnis, du zugleich.«2 Der Kyniker bejaht also sein eigenes Schicksal. Er willigt ein, von Zeus geführt zu werden. Und insofern akzeptiert der Kyniker alles, was Zeus will, alles, was Zeus ihm wirklich an Prüfungen zukommen läßt, alle Härten des Lebens, die er erfahren mag. Er akzeptiert sie, indem er ihnen den
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Vorlesung 9 (Sitzung vom 28. März 1984, erste Stunde)
Die beiden Aspekte des kynischen Lebens als souveränen Lebens: Glückseligkeit und Manifestation der Wahrheit. - Die Selbsterkenntnis als Maß, Wachsamkeit und Prüfung. - Die Verwandlung des Selbst und der Welt. Übergang zur christlichen Askese: Ähnlichkeiten. - Unterschiede: das Jenseits und das Prinzip des Gehorsams.
Stempel der Glückseligkeit und des Glücks aufdrückt. Wenn er auch aller Dinge beraubt werden mag, wird er doch sagen können: »Und was bleibt mir? Habe ich etwa Kummer oder Angst? Bin ich nicht wahrhaft frei? [... ] Hat mich jemals einer von euch mit finsterer Miene gesehen? [... ] Meint doch jeder, der mich sieht, seinen eigenen König und Herrn zu sehen! «3 Sie sehen: Rückkehr zum Thema des Königtums, der Souveränität; diese Souveränität, die sich im Glanz der Freude dessen offenbart, der sein Schicksal annimmt und deshalb keinen Mangel, keinen Kummer und keine Furcht kennt. Jede Härte des Lebens, jede Entbehrung und Frustration, all das kehrt sich in eine positive Übung der Souveränität gegenüber sich selbst um. Im Vergleich mit dieser Glückseligkeit erscheinen dann alle Wirrnisse eines politisch königlichen Lebens, des Lebens der Könige der Erde, die ihre politische Souveränität ausüben, in ihrer Negativität. Epiktet sagt, daß Diogenes die Gewohnheit hatte, »seine Glückseligkeit mit der des Großkönigs [zu vergleichen}<.4 Oder vielmehr dachte er, daß es gar keinen möglichen Vergleich zwischen der Glückseligkeit des Großkönigs und seiner eigenen gab, »denn wo Aufregung, Kummer, Angst, ungestilltes Begehren, vergebliches Meiden, Neid und Eifersucht [kurz, überall, wo das herrscht, was das Leben selbst des Königs charakterisiert; M. F.] herrschen, wo ist da ein Weg zur Glückseligkeit?« Für die Könige auf Erden gibt es keine Glückseligkeit. Dagegen ist derjenige glückselig, der wie der Kyniker sein Schicksal akzeptiert. Das ist ein erster Aspekt. Die andere Seite dieses souveränen Lebens, die ich stärker betonen möchte, besteht darin, daß dieses souveräne Leben, das ein Leben der Glückseligkeit ist, auch die Wahrheit offenbart. Der Kyniker, so Epiktet, ist der, der den Mut hat, wahrzusprechen (tharrein parrhesiazesthai).5 Und im Absatz 25 sagt er, daß der Kyniker den Auftrag hat, die Wahrheit zu verkünden. Er ist gewissermaßen der Engel der Wahrheit, der Engel, der die Wahrheit sagt und sie verkündet (apangelein talethe: er verkündet die wahren Dinge).6
Nun, in diesem Text, dessen ich mich, wie gesagt, bediene, um diese letzte Ausformung, diese Grenzform des Kynikers zu bestimmen (Sie werden gleich sehen warum), sieht man an der Art und Weise, wie Epiktet dieses kynische Leben und diese kynische Praxis beschreibt, daß die Praxis der Wahrheit bei ihm verschiedene Aspekte annimmt. Die Funktion der Veridiktion, die Offenbarung der Wahrheit im und durch das kynische Leben, gehen gleichzeitig verschiedene Wege. Im kynischen Leben gibt es mehrere Weisen, die Wahrheit zu sagen. Nach dem ersten Weg ist das Verhältnis zur Wahrheit ein unmittelbares Verhältnis, ein Verhältnis der Übereinstimmung im Verhalten, sogar der Übereinstimmung mit der Wahrheit im Körper. Diese Übereinstimmung ist ein ganz banales, ganz bekanntes Thema, wir sind ihm schon begegnet. Es war, erinnern Sie sich, im Laches von wesentlicher Bedeutung, als Sokrates das Vertrauen von jemandem wie Laches gerade aufgrund der Übereinstimmung, der Harmonie, des Gleichklangs zwischen dem, was er sagte, und seiner Lebensweise erwerben konnte. 7 Denselben Gleichklang, dieselbe Übereinstimmung soll man [beim] Kyniker wiederfinden. Epiktet erklärt, daß der Kyniker beispielsweise nicht jemand ist, der den anderen sagt, daß man nicht stehlen darf, während er im selben Augenblick einen Kuchen unter seinem Arm und in seinem Mantel versteckt. 8 Der Kyniker, der sagt, daß man nicht stehlen darf, stiehlt nicht. All dies ist leicht und einfach, aber es gibt auch die Vorstellung, daß nicht nur ein Verhältnis der Übereinstimmung mit dem Verhalten bestehen soll, sondern auch eine physische Übereiastimmung, gewissermaßen eine körperliche Übereinstimmung zwischen dem Kyniker und der Wahrheit. Es gibt hier bei Epiktet eine interessante Stelle, weil ihm das zugleich dazu dient, eine bestimmte Form der Übertreibung des kynischen Elends zu kritisieren. Diese Dramatisierung des kynischen Elends, über die ich gesprochen hatte, lehnt Epiktet ab, und zwar aus einer Reihe von Gründen. Der Hauptgrund, auf den wir zurückkommen werden, besteht darin, daß er das Porträt des Kynikers, das er anfertigt, gewissermaßen anhand einer
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Reihe von Prinzipien begrenzt bzw. regelt, die ganz einfach stoische Prinzipien sind. In dieser Passage sagt er, daß die Kyniker ein Übermaß an Elend, ein Übermaß an Schmutz, ein Übermaß an Häßlichkeit vermeiden sollten. Denn die Wahrheit soll anziehen, sie soll der Überzeugung dienen. Die Wahrheit soll überzeugen, während die Schmutzigkeit, die Häßlichkeit, die Abscheulichkeit abstoßend wirken. Der Kyniker soll gewissermaßen sowohl im Hinblick auf die Entsagung als auch im Hinblick auf die Sauberkeit seines Körpers wie die sichtbare Gestalt einer anziehenden Wahrheit sein. Er ist die eigentliche Plastik der Wahrheit mit allen positiven Wirkungen, die eine solche Plastik haben kann. Epiktet beschreibt diese Plastik der Wahrheit im Körper und Verhalten des Kynikers folgendermaßen: »Denn er muß nicht nur durch Offenbarung geistig-sittlicher Eigenschaften die Laien zur Erkenntnis bringen, daß es möglich ist, ohne die von ihnen bewunderten Dinge ein ganzer Kerl zu sein«, sondern er muß auch »durch seine leibliche Erscheinung den Beweis erbringen, daß das schlichte und einfache Leben unter freiem Himmel auch die Gesundheit nicht schädigt«.9 Genau das tat Diogenes: denn er ging umher »strahlend von Gesundheit und [zog] gerade durch sein glänzendes Aussehen die Augen der Menge auf sich«.l0 Der Kyniker ist also wie die sichtbare Statue der Wahrheit. Von allen überflüssigen Verzierungen befreit, von allem, was für den Körper gewissermaßen das Gegenstück zur Rhetorik wäre, aber zugleich blühend und in voller Gesundheit: das eigentliche Sein des Wahren, das durch den Körper sichtbar gemacht wird. Das ist einer der ersten Wege, einer der ersten Pfade, demgemäß das kynische Leben eine Offenbarung der Wahrheit sein soll. Aber das kynische Leben hat noch weitere Verantwortlichkeiten, andere Aufgaben gegenüber der Wahrheit. Das kynische Leben soll auch eine genaue Selbstkenntnis beinhalten. Nicht nur die Statue der Wahrheit, sondern auch die Arbeit der Wahrheit des Selbst an sich selbst. Diese Selbsterkenntnis soll zwei Aspekte annehmen. Erstens soll der Kyniker immer in
der Lage sein, seine Fähigkeiten ordentlich und korrekt zu beurteilen, so daß er die Prüfungen bestehen kann, denen er [ausgesetzt] sein mag, so daß er vermeidet, daß er in der Arbeit an sich selbst nur Situationen begegnet, in denen er besiegt werden könnte. Der Kyniker ist wie ein Athlet, der sich auf 0 lympia vorbereitet. Aber offensichtlich handelt es sich um einen Kampf, der darüber hinaus ernst ist, weil es ein Kampf gegen die übel ist, gegen die Laster und die Versuchungen. Diese Einschätzung seiner selbst, dieses Maß, das man von sich selbst nehmen soll, bevor man sich den Prüfungen stellt, bringt Epiktet im Absatz 5I zum Ausdruck, als er seine Empfehlungen dem gibt, der Kyniker sein will: »Nimm erst mal einen Spiegel und betrachte deine Schultern, deine Hüfte und deine Schenkel.«l1 Aber diese Selbsterkenntnis soll außerdem noch etwas anderes sein. Sie soll nicht nur eine Selbsteinschätzung sein, sondern auch eine ständige Wachsamkeit über sich selbst, eine Wachsamkeit, die sich wesentlich auf die Bewegung der Vorstellungen selbst beziehen soll. Erinnern Sie sich an jene Passage, die ich Ihnen letztes Mal zitierte, wo Epiktet sagte: Genau wie der Zimmermann als Rohstoff das Holz verwendet, so soll der Kyniker seine Seele als Rohstoff für seine eigene Arbeit nehmen. 12 Die Bewegung der Vorstellungen soll unablässig Gegenstand dieser Wachsamkeit sein. Der Kyniker soll der Wächter seines eigenen Denkens sein. Im Hinblick auf die moralische Person und den Gebrauch der Vorstellungen sagt Epiktet daher - auch hier sehen Sie leicht, wie stark die stoische Abwandlung in diesem Text ist, aber im Augenblick spielt das keine Rolle -: »[ ...] da solltest du einmal sehen, was er für Falkenaugen hat; dann würdest du sagen: >Argos war nichts gegen ihn!«,13 Folglich soll jeder sich selbst gegenüber wie ein Argos sein. 14 Alle Augen, die er besitzt, sollen auf ihn selbst gerichtet sein. Und Epiktet fährt fort: »Ist etwa seine Zustimmung vorschnell, sein Wollen vergeblich, sein Begehren fruchtlos, sein Meiden umsonst [das sind die vier großen Kategorien des Stoizismus; M. E], sein Vorhaben erfolglos? Wo gäbe es bei ihm Murren,
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Kleinmut oder Neid? In der Hinsicht ist seine Achtsamkeit groß (prosoche kai syntasis).«15 Sich selbst messen also, aber auch über sich selbst wachen, Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und ständiger Blick auf den Fluß der eigenen Vorstellungen, das soll den Kyniker auszeichnen. Aber dieses Verhältnis zur Wahrheit seiner selbst, zu den eigenen Fähigkeiten und zum Fluß der Vorstellungen soll von einem anderen sekundiert werden, das ein Verhältnis des Überwachens der anderen ist. Der Kyniker, der sich selbst gegenüber ein Argos ist, soll nicht nur die tausend Augen, mit denen er ausgestattet ist, auf sich selbst richten, sondern auch auf die anderen. Er soll betrachten, was sie tun, was sie denken, und ihnen gegenüber eine ständige Prüfung durchführen. Daher rührt die Bedeutung des Verbs episkopein, das Epiktet mehrmals wiederholt, wenn es darum geht, die Tätigkeit der Kyniker zu bestimmen. Die Kyniker sind die Episkope der anderen. Erinnern Sie sich an jene Passage von Epiktet, die ich Ihnen letztes Mal zitierte, wo er die Verdienste jenes anständigen Familienvaters bewertet, der zufällig zwei oder drei rotznasige Gören in die Welt setzt. 16 Gegenüber diesem haben die Kyniker ihrerseits im Hinblick auf die gesamte Menschheit eine Aufgabe, eine Verantwortlichkeit und ein Verdienst, die viel größer sind, weil sie nach Maßgabe ihrer Kraft ihre Überwachung (episkopountes) aller Menschen ausüben, indem sie beobachten, was sie tun, wie sie ihr Leben verbringen, worum sie sich kümmern und was sie entgegen ihren Pflichten vernachlässigen. Prüfung, Überwachung der anderen, die dem prüfenden Blick unterstellt werden. Das ist noch eine weitere Funktion, eine weitere Modalität [der Umsetzung] der Praxis der Wahrheit. Es sollte jedoch klar sein, daß die Kyniker, wenn sie das tun, wenn sie die anderen prüfen und ihre Handlungen überwachen, wenn sie die Art und Weise belauern, wie sie ihr Leben verbringen, nicht zu den Leuten gehören - vor denen die Griechen übrigens große Angst hatten und die sie so häufig kritisierten -, die sich um die Angelegenheiten der anderen küm-
mern, sich in sie einmischen, ihre Nase überall hineinstecken. Von diesem Makel, dieser Einstellung, die von den Griechen so beständig kritisiert wurde, muß der Kyniker abstehen, wenn er sich ordentlich um die Angelegenheiten der anderen kümmert. 17 Indem er sich um die anderen kümmert, soll der K yniker sich tatsächlich darum kümmern, was bei den anderen zur Menschheit im allgemeinen gehört. Insofern der Kyniker sich so um die anderen kümmert, indem er jene polypragmosyne vermeidet, die sich in die Angelegenheiten von allen und jedem einmischt, indem er in den Handlungen der anderen nur das betrachtet, was zur Menschheit gehört, kümmert er sich offenbar also zugleich um sich selbst, weil auch er ein Teil der Menschheit ist. Auf diese Weise steht seine eigene Solidarität mit der Menschheit in Frage. Sie ist der Gegenstand seiner Sorge, seiner Besorgnis, seiner Überwachung, wenn er die Handlungsweise der Menschen betrachtet, wenn er sieht, wie sie ihr Leben verbringen und wenn er sich fragt, wofür sie Sorge tragen. Der Kyniker ist also jemand, der, indem er sich um die anderen sorgt, um zu wissen, worum sich die anderen sorgen, sich zugleich und dadurch um sich selbst kümmert. So haben wir bei Epiktet in den Absätzen 96 und 97 folgende Passage: Warum »sollte er da nicht getrost zu seinen Brüdern, seinen Kindern frei von der Leber weg sprechen [hier sind wir mitten in der parrhesia; M. E], überhaupt zu seinen Verwandten ?«18 Syngeneis: das bezeichnet natürlich die gesamte Menschheit. Der Kyniker ist »nicht etwa ein Mensch, der sich um Dinge kümmert, die ihn nichts angehen rpolypragmon: jemand der sich zu sehr um die Angelegenheiten der anderen kümmert; M. E], oder etwa übertrieben geschäftig; denn er kümmert sich ja nicht um fremde Angelegenheiten, wenn er das menschliche Treiben beobachtet, sondern um seine eigenen.«19 Andernfalls müßte man auch meinen, daß »der General, der seine Truppen besichtigt (episkope)«, sie durchmustert (exetaze), sie überwacht und diejenigen züchtigt, die die Disziplin durcheinanderbringen, polypragmon (vorwitzig) ist, wenn man jemanden wie den Kyniker, der sich um die Angele-
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genheiten der Menschen kümmert, polypragmon nennen sollte. 20 Ein General hat nicht als vorwitzig zu gelten, wenn er sich um seine Soldaten kümmert, wenn er sie mustert und überwacht. Er ist kein Vorwitziger, weil sich der Blick des Generals gewissermaßen nicht auf das individuelle Leben der Soldaten richtet, sondern auf all das, wodurch der Soldat ein Teil der Armee ist. Genauso wie der General, der sich um seine Soldaten kümmert, sich auch um die gesamte Armee kümmert und somit auch um sich selbst, da er ja ebenfalls ein Teil von ihr ist und die Verantwortung für sie trägt, ist auch der Kyniker, wenn er sich um die Menschheit wie ein General kümmert, der seine Inspektion vornimmt, kein polypragmon. Er ist kein Vorwitziger, der sich in das Privatleben eines jeden hineindrängen würde, er stellt die gesamte Menschheit in Frage, zu der er selbst gehört. Die Sorge um die anderen fällt somit genau mit der Sorge um sich selbst zusammen. Nun bezweckt aber - und das ist ein neuer Aspekt dieser Arbeit an der Wahrheit - die Überwachung seiner selbst, die zugleich eine Überwachung der anderen ist oder die Überwachung der anderen, die zugleich Überwachung seiner selbst ist, eine Veränderung, die in Epiktets Text unter zwei Aspekten erscheint: eine Veränderung im Verhalten der einzelnen; aber auch ein Verhalten in der allgemeinen Konstellation der Welt. Erstens eine Veränderung im Verhalten. Der Kyniker soll den anderen durch die Reden, die er hält, die Kritiken, die er austeilt, die Skandale, die er verursacht, zeigen, daß sie sich ganz und gar im Irrtum über das Gute und Böse befinden und daß sie das Wesen des Guten und des Bösen dort suchen, wo es in Wirklichkeit nicht ist. Der Kyniker soll sich auf diese Weise an die Leute wenden, die ihn umgeben, und ihnen sagen: »Wehe, ihr Menschen, wohin treibt ihr? Was tut ihr Elenden? Wie Blinde irrt ihr hin und her! Ihr seid vom wahren Wege abgekommen [ihr folgt einem anderen Weg: allen hodon; M. F.] und geht in die Irre [nachdem ihr den wahren Weg (ten ousan) verlassen habt]; ihr sucht euer Heil und das Glück> wo es nicht ist, und wenn es euch ein anderer zeigen will, wollt ihr ihm nicht 4°4
glauben! «21 Diese Passage ist interessant, weil sie einerseits zeigt, was der eigentliche Gegenstand des kynischen Diskurses ist, der Gegenstand seiner verbalen Intervention> das Ziel der »Diatribe«, um diese besondere Ausdrucksform zu verwenden, die für die Kyniker charakteristisch war. Das Ziel dieser Intervention besteht darin, den Menschen zu zeigen, daß sie sich irren, daß sie die Wahrheit anderswo suchen, daß sie das Prinzip des Guten und des Bösen an der falschen Stelle suchen, daß sie den Frieden und das Glück anderswo suchen, daß sie sich nicht dorthin wenden, wo diese Dinge sich wirklich befinden. Betrachten Sie die ganze Bedeutung, die in diesem Spiel das Anderswo und das Andere spielen: Ihr sucht den Frieden und das Glück anderswo, ihr folgt einem anderen Weg. Nun erinnern Sie sich aber daran, daß das Prinzip des Kynismus gerade in der Behauptung besteht, daß das wahre Leben ein anderes Leben ist. Einer der wesentlichen Punkte der kynischen Praxis hat gerade damit zu tun, daß der Kyniker, indem er - wir hatten das letztes Mal gesehen - die traditionellsten Themen der klassischen Philosophie wiederaufnimmt, den Wert dieser Münze ändert und offenbar macht, daß das wahre Leben im Vergleich mit dem traditionellen Leben der Menschen, einschließlich der Philosophen, nur ein anderes Leben sein kann. Ein wahres Leben ist nur als anderes Leben möglich, und vom Gesichtspunkt dieses anderen Lebens wird man das gewöhnliche Leben der gewöhnlichen Leute gerade als etwas anderes als das wahre Leben erscheinen lassen. Ich lebe auf andere Weise und durch die Andersheit meines Lebens zeige ich Ihnen, daß das, was Sie suchen, anderswo ist als dort, wo Sie es suchen, daß der Weg, den Sie einschlagen, ein anderer Weg ist gegenüber dem, den Sie nehmen müßten. Und das wahre Leben - das zugleich Lebensform, Selbstverwirklichung, Plastik der Wahrheit ist, aber auch ein Unternehmen des Nachweises, der Überzeugung, der Überredung durch die Rede - hat die Funktion zu zeigen, daß, obwohl es anders ist, es die anderen sind, die sich in der Andersheit, im Irrtum, dort befinden, wo sie nicht sein sollen. Die 4°5
Aufgabe der kynischen Veridiktion besteht also darin, alle Menschen, die kein kynisches Leben führen, an diese Lebensform zu erinnern, die das wahre Leben ist. Nicht die andere, die sich im Weg geirrt hat, sondern dieselbe, die der Wahrheit treu ist. Dadurch bezieht sich Epiktet auf eine Lebensform, die nicht bloß eine Reform der Individuen wäre, sondern eine Reform der ganzen Welt. Man soll nämlich nicht meinen, daß der Kyniker sich an eine Handvoll Menschen wendet, um sie zu überzeugen, daß sie ein anderes als ihr tatsächliches Leben führen sollten. Der Kyniker wendet sich an alle Menschen. Allen diesen Menschen zeigt er, daß sie ein anderes Leben als das führen, das sie eigentlich sollten. Und dadurch taucht zwangsläufig eine ganz andere Welt auf, die jedenfalls im Horizont der kynischen Praxis sein und deren Ziel ausmachen muß.':· ,;. Das Manuskript enthält hier präzisere Angaben, die nicht in die Vorlesung aufgenommen wurden: »Epiktet bezieht sich zumindest in dieser Passage auch auf das wahre Leben, als ob es eine andere Welt sei. Man darf diese andere Welt nicht wie Platon verstehen, d.h. als eine Welt, die den Seelen nach ihrer Erlösung vom Körper versprochen wäre. Es handelt sich um einen anderen Zustand der Welt, um eine andere >Katastasis< der Welt, um einen Stadtstaat der Weisen, wo für den kynischen Aktivismus kein Bedarf wäre. Die Bedingung jedoch, um zu diesem wahren Leben zu gelangen, besteht darin, daß jeder Mensch eine Beziehung der Wachsamkeit gegenüber sich selbst ausbildet. Das Prinzip des wahren Lebens ist weder im Körper noch in der Ausübung der Macht noch im Besitz eines Vermögens zu suchen, sondern in sich selbst. In allen diesen Gedanken geht vieles auf den Stoizismus zurück, aber man sieht klar formuliert, was den wichtigsten historischen Kern des Kynismus ausmacht: nämlich daß das wahre Leben das Leben der Wahrheit ist, das die Wahrheit offenbart, das die Wahrheit in der Beziehung zu sich selbst und den anderen praktiziert, und zwar so, daß dieses Leben der Veridiktion die Verwandlung der Menschheit und der Welt zum Ziel hat. Der Kynismus hat zur philosophischen Lehre zweifellos nur ganz wenig beigetragen: Er hat kaum mehr getan, als ihr die traditionellsten und geläufigsten Formeln zu entlehnen. Aber er hat dem philosophischen Leben eine so einzigartige Form gegeben, er hat die Wirklichkeit eines anderen Lebens so stark betont, daß er [für] Jahrhunderte die Frage nach dem philosophischen Leben geprägt hat. Eine geringe Bedeutung in der Geschichte der Lehren.
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Metaphysische Erfahrung der Welt, historisch-kritische Erfahrung des Lebens: Hier haben wir zwei grundlegende Kerne in der Entstehung der europäischen oder abendländischen philosophischen Erfahrung. Wir sehen jedenfalls, wie mir scheint, daß sich im Kynismus die Matrix dessen abzeichnet, was die ganze christliche und moderne Tradition hindurch eine geachtete Lebensform war, d. h. die Matrix eines Lebens, das der Wahrheit gewidmet ist, das sowohl der tatsächlichen Manifestation der Wahrheit (ergo) als auch der Veridiktion, dem Wahrsprechen, der Manifestation im Diskurs (logo) der Wahrheit gewidmet war. Und diese Praxis der Wahrheit, die das kynische Leben charakterisiert, hat nicht nur zum Ziel, daß gesagt und gezeigt wird, was die Welt in ihrer Wahrheit ist, sondern sie hat auch zum Ziel, und zwar zum letzten Ziel, zu zeigen, daß die Welt ihre Wahrheit nur finden kann, daß sie sich nur verwandeln und anders werden kann, um zu finden, was sie in Wahrheit ist, um den Preis einer Veränderung, einer völligen Änderung, nämlich der völligen Veränderung im Verhältnis, das man zu sich selbst hat. Und in dieser Rückkehr von sich zu sich selbst, in dieser Sorge um sich liegt das Prinzip des Übergangs zu dieser anderen Welt, die der Kynismus verspricht. Das ist im großen und ganzen das, was ich Ihnen über den K ynismus sagen wollte. Mein Vorhaben - und hier gehe ich zum zweiten Teil dessen über, was ich Ihnen heute sagen wollte war nicht, beim Kynismus zu verweilen, sondern Ihnen zu zeigen, wie der Kynismus zu einer anderen Form, einer anderen Bestimmung der Verhältnisse zwischen dem wahren Leben, dem anderen Leben und der parrhesia, dem Diskurs der Wahrheit führen konnte und auch tatsächlich geführt hat. Es ist klar - wie gesagt, ich möchte darauf nicht zurückkommen -, daß das Porträt des Kynikers, das wir Epiktet zeichnen sahen, in keiner Weise eine genaue historische Darstellung des kynischen Lebens ist. Es kann keineswegs als klare und zusammenhängende Darstellung der allgemeinen Prinzipien des kyniEine beträchtliche Bedeutung in der Geschichte der Lebenskünste und in der Geschichte der Philosophie als Lebensform.«
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schen Lebens betrachtet werden. Es ist ein Gemisch, ein Gemisch aus Lehren und ein Gemisch aus Praktiken. Aber wenn ich die Analyse des Kynismus bis zu diesem Punkt getrieben habe, wenn ich am Ende als letzten Bezugspunkt diesen Text von Epiktet über den Kynismus genommen habe, der gewissermaßen unrein und vermischt ist, dann deshalb, weil ich zeigen wollte, wie sich um den Kynismus herum eine Reihe von Themen angeordnet haben, die anderen Philosophien entlehnt wurden, insbesondere dem Stoizismus, und wie der Kynismus durch diese Kombination eine bestimmte Form annehmen konnte, die, wie gesagt, zweifelsohne im Vergleich mit dem, was vermutlich die wahre kynische Lehre in ihrer Reinheit, Einfachheit und Ungeschliffenheit war, unrein und vermischt ist. Aber an dieser etwas vermischten und ziemlich rätselhaften Persönlichkeit, die Epiktet im Gespräch 22 des III. Buchs darstellt, konnten Sie schon eine Reihe von Elementen erahnen, denen wir später und insbesondere in der christlichen Erfahrung wiederbegegnen werden. Denn die Vorstellung eines Missionars der Wahrheit, der zu den Menschen kommt, um ihnen das asketische Beispiel des wahren Lebens vorzuführen, um sie an sich selbst zu erinnern, um sie wieder auf den rechten Weg zu bringen und ihnen eine andere Katastasis der Welt zu verkünden, diese Persönlichkeit geht natürlich einerseits bis zu einem gewissen Grad auf das sokratische Erbe, ein modifiziertes Erbe, zurück, aber Sie sehen auch, daß sie sich bis zu einem gewissen Grad dem christlichen Vorbild annähert. Nächstes Jahr werde ich vielleicht versuchen - aber mit allen Vorbehalten, denn ich gestehe, daß ich mir darüber noch nicht im klaren bin, ich habe mich noch nicht entschlossen -, die Erforschung dieser Themen etwas fortzusetzen. Ich werde vielleicht versuchen, die Geschichte der Lebenskünste, der Philosophie als Lebensform, der Askese in ihrem Verhältnis zur Wahrheit eben im Christentum nach der antiken Philosophie weiterzuverfolgen. Jedenfalls möchte ich Ihnen heute einfach eine ganz kurze 408
Skizze vorstellen, eine Art von Ausgangspunkt für derartige Analysen. Für mich ist es ein Ausgangspunkt, wenn ich sie weiterführe; für Sie ist es eine Anregung, wenn Sie sie Ihrerseits wieder aufgreifen. Was ich Ihnen sagen werde, ist also vollkommen vorläufig, völlig ungewiß und noch ganz im Fluß. Es handelt sich um Ideen, die mir gekommen sind und die ich versucht habe, auf eine Reihe von Texten und Stellen zu stützen (aber natürlich unter dem Vorbehalt, daß man vielleicht alles neu bearbeiten, alles wieder einreißen und ganz anders von neuem beginnen müßte). Jedenfalls würde ich die Dinge folgendermaßen sehen. Wenn ich den Übergang von einer heidnischen zur christlichen Askese zu analysieren hätte, dann scheint mir, daß ich mich im Augenblick ungefähr in folgende Richtung bewegen würde. Erstens - das ist ziemlich naheliegend - müßte man versuchen, die bereits wohlbekannte und ziemlich gut bestimmte Kontinuität zwischen den Praktiken der Askese, den Formen der Ausdauer, den Arten von Übungen, die man im Kynismus findet, und denen, die einem im Christentum begegnen, etwas zu rekonstruieren. Mir scheint nämlich, wie gesagt unter dem Vorbehalt von etwas präziseren Ergebnissen, daß zwischen dem, sagen wir aktivistischen, aggressiven, sich selbst und den anderen gegenüber unnachgiebigen Kyniker und dem christlichen Asketen eine Reihe von Gemeinsamkeiten besteht. Man könnte beispielsweise versuchen, die ganz wichtige Geschichte der Beziehungen zur Ernährung, zum Fasten, zur Askese im Hinblick auf die Ernährung zu verfolgen, die viel wichtiger ist als die Geschichte der Sexualität und die in der Antike und im Urchristentum wiederum von zentraler Bedeutung war. Der Augenblick, in dem die sexuelle Askese die Oberhand über die Probleme der Nahrungsaskese gewinnt, findet später statt. Zu Beginn ist jedenfalls das Problem der Nahrungsaskese ganz wichtig. Sie erinnern sich, wie bedeutend es [für] die Kyniker war. Sie finden es in ziemlich ähnlichen Formulierungen bei den Christen wieder, mit dem Unterschied jedoch, daß die Christen die Praktiken des Verzichts der Kyniker unendlich 4°9
viel weiter getrieben und versucht haben, sie noch zu radikalisieren. Sie wissen, daß es beim Kynismus darum ging, durch eine kontinuierliche Arbeit an sich selbst zu einem Punkt zu gelangen, an dem die Befriedigung der Bedürfnisse völlig erreicht wäre, ohne daß man der Lust selbst irgendein Zugeständnis machen würde. Oder besser, um das Maximum an Lust mit einem Minimum an Mitteln zu erreichen, praktizierte der Kyniker eine Art von reduzierter Ernährung. Die Reduktion der Ernährung, die Reduktion dessen, was man ißt und trinkt, auf diejenige elementare Nahrung und diejenigen elementaren Getränke, die ein Maximum an Lust mit den geringsten Kosten verschaffen, danach strebte man im großen ganzen im Kynismus. Im Christentum begegnen wir jedoch etwas anderem. Wir finden zwar dieselbe Vorstellung, daß man die Grenze anstreben soll, aber diese Grenze besteht keineswegs in einem Gleichgewicht zwischen dem Maximum an Lust und dem Minimum an Mitteln. Im Gegenteil wird es um die Reduktion jeglicher Lust gehen, und zwar so, daß weder die Nahrung noch die Getränke jemals an sich irgendeine Art der Lust hervorrufen. Es gibt also zugleich eine Kontinuität und eine bestimmte Bewegung zu einer Grenze hin. Man könnte auch an die christliche Askese denken, und zwar sowohl, wie sie sich mit großer Intensität im 3· und 4. Jahrhundert entwickelt, als auch, wie sie anschließend begrenzt, reguliert und in bestimmte Formen des Zönobitismus integriert und fast schon sozialisiert wird. Bevor sie jedoch die Formen des Zönobitismus in seinem gewissermaßen wilden und freien Aspekt angenommen hat, findet man in dieser Askese wie im Kynismus die Themen des Skandals, der Gleichgültigkeit gegenüber den Meinungen der anderen, auch der Gleichgültigkeit gegenüber den Machtstrukturen und ihrer Vertreter. Ich zitiere Ihnen aus dem Immerwährenden Gebet bei den Vätern einen Text, der sich auf den Abt Theodor von Pherme bezieht, der eines Tages Besuch von einem Mächtigen erhielt. Gerade als dieser Mann ihn besucht, bemerkt ein anderer Asket, daß der Abt Theodor eine entblößte Schulter und nackte Brust hat.
Er weist den Abt darauf hin, welcher erwidert: Sind wir die Sklaven der Menschen? Ich treffe jedenfalls die Menschen, so wie ich bin. Wenn mich einer besucht, antworte ihm nichts Menschliches (anthropinon). Wenn ich esse, sag ihm: Er ißt. Wenn ich schlafe, sag ihm: Er schläft. Mit dem Ausdruck »Menschlichkeit« bezieht sich der Text wohl auf die Menschlichkeit in ihrer Materialität, aber so, daß diese an Konventionen gebunden ist, durch die sie in der Form dessen, was für die gesamte Menschheit annehmbar ist, gemildert und sozialisiert wird. Wenn man ißt, dann ißt man. Wenn man schläft, dann schläft man. Diese Roheit der materiellen Existenz soll gegen alle Werte der Menschlichkeit behauptet werden. In der christlichen Askese finden Sie auch einen gewissermaßen bestialischen Zug, der in einer Reihe von Texten offen zutage tritt. Beispielsweise berichtet Gregor der Große von St. Benedikt, daß er sich in seiner Höhle versteckte, als die Hirten ihn entdeckten, und als sie ihn im Dickicht mit einer Tierhaut bekleidet sahen, glaubten sie zuerst, daß er ein Tier sei. 22 Die Tiernatur des christlichen Asketen kommt sehr häufig in den Geschichten über das Eremitentum vor. Oder auch die folgende Geschichte, [die denen der] heiligen Anachoreten [entnommen ist] und die im dritten Band der Moines d'Orient von Festugiere übersetzt wurde. 23 Es handelt sich um einen Einsiedler, der vollkommen nackt lebte und der, so der Text, wie die Tiere Gras aß. Er konnte nicht einmal den Geruch eines Menschen ertragen. Hier geht es um die Behauptung der vollen Tiernatur, und der Ruf dieses Einsiedlers ist so, daß ein Christ, der selbst sehr asketisch, aber in der Askese weniger fortgeschritten ist, ihn treffen möchte und ihn verfolgt. Der Christ, der ihn verfolgt, ist so arm und hat sich so um seine eigene Armut gesorgt, daß er nur mit einem Leinensack bekleidet ist. Aber der Einsiedler selbst ist nackt. Der Einsiedler flieht nun vor dem Mann, der versucht, ihn zu verfolgen und ihm zu begegnen. Der andere läuft hinter ihm her und verliert dabei seine Bekleidung. Er ist nun also genauso nackt wie der Einsiedler, den er verfolgt. In diesem Augenblick bleibt der Einsiedler, der
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bemerkt hat, daß sein Verfolger seine Bekleidung verloren hat, stehen und sagt zu ihm: Ich bleibe stehen, weil du jetzt den Schlamm der Welt abgeworfen hast. Man müßte auf all das genauer eingehen, aber mir scheint doch, daß man in diesen Praktiken des asketischen Lebens eine Reihe von Elementen wiederfinden würde, die in einer Kontinuität zur kynischen Askese stehen, manchmal mit ihr übereinstimmen, aber auch über sie hinausgehen. Nur hat die christliche Askese im Vergleich zur kynischen Tradition eine Reihe von anderen Elementen beigetragen. Auch hier wäre ich geneigt, gegenwärtig zwei Dinge hervorzuheben, die mir wichtig zu sein scheinen, wenn ich eine solche Geschichte des Übergangs von der kynischen Askese zur christlichen Askese zu schreiben hätte. Erstens gibt es in der christlichen Askese natürlich eine Beziehung zum Jenseits, und nicht zu einer anderen Welt. Selbst wenn Sie also in einer Strömung des Christentums - das ist gewiß eines der großen Probleme, wie man bei Origenes sehen kann - das Thema einer bestimmten Katastasis der Welt finden (Origenes hätte »Apokatastasis« gesagt), durch die die Welt zu ihrem ursprünglichen Zustand zurückkehrt, so ist doch die Vorstellung im Christentum recht beständig, daß das andere Leben, dem sich der Asket widmen soll und das er erwählt hat, nicht einfach nur zum Ziel hat, diese Welt zu verwandeln - wie gesagt, was auch immer das Thema der Katastasis oder der Apokatastasis sein mag -, sondern es hat auch und vor allem den Zweck, den Menschen, eventuell allen Christen, der gesamten christlichen Gemeinschaft Zugang zu einer anderen Welt zu verschaffen. Insofern kann man, glaube ich, sagen, daß einer der Gewaltstreiche des Christentums bzw. seine philosophische Bedeutung darin bestand, daß es das Thema eines anderen Lebens als wahres Leben und die Idee eines Zugangs zum Jenseits als Zugang zur Wahrheit miteinander verbunden hat. [Einerseits] ein wahres Leben, das ein anderes Leben im Diesseits ist, [andererseits] der Zugang zumJ enseits als Zugang zur Wahrheit und zu dem, was folglich die Wahrheit dieses
wahren Lebens begründet, das man im Diesseits führt: Diese Struktur ist, wie mir scheint, die Kombination, der Punkt der Begegnung, der Verbindungspunkt zwischen einer ursprünglich kynischen Askese und einer Metaphysik platonischen Ursprungs. Das ist sehr schematisch, aber mir scheint, daß wir hier einen der ersten großen Unterschiede zwischen der christlichen und der kynischen Askese haben. Die christliche Askese ist schließlich durch eine Reihe von historischen Prozessen, die man natürlich genauer betrachten müßte, dazu gelangt, die platonische Metaphysik mit dieser Vision, mit dieser historischkritischen Welterfahrung zu verbinden. Der zweite große Unterschied ist von ganz anderer Art. Es handelt sich um die Bedeutung, die im Christentum, und nur im Christentum, etwas beigemessen wird, das man weder im Kynismus noch im Platonismus antrifft, nämlich dem Prinzip des Gehorsams, des Gehorsams im weiten Sinne des Begriffs. Gehorsam gegenüber Gott, verstanden als Herr (als despotes), dessen Sklave und Diener man ist; Gehorsam gegenüber Seinem Willen, der zugleich die Form des Gesetzes annimmt; Gehorsam schließlich gegenüber denen, die den despotes (den Herrn und Meister) vertreten und die von Ihm eine Autorität erhalten haben, der man sich völlig unterwerfen muß. Mir scheint also, daß der andere Wendepunkt in dieser langen Geschichte der erzählten Askese als Kontrapunkt gegenüber dem Verhältnis zum Jenseits das Prinzip eines Gehorsams einem anderen gegenüber im Diesseits und vom Diesseits aus ist mit dem Ziel, Zugang zum wahren Leben zu erlangen. Ein wahres Leben gibt es nur durch den Gehorsam gegenüber dem anderen, und ein wahres Leben gibt es nur mit dem Ziel, Zugang zum Jenseits zu erlangen. Diese Art und Weise, das Prinzip des anderen Lebens als wahres Leben an den Gehorsam gegenüber dem anderen im Diesseits und an den Zugang zum Jenseits in einem anderen Leben zu heften, diese Art und Weise, ein platonisches Element und ein anderes, das eigentlich christlich oder jüdisch-christlich ist, miteinander zu verketten, diese Verbindung wird für die beiden großen Wendepunkte der kynischen
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Askese sorgen und den Übergang von der kynischen zur christlichen Form herstellen. Man bräuchte also den Unterschied zwischen dem Heidentum und dem Christentum gar nicht als einen Unterschied zwischen einer christlichen asketischen Moral und einer nicht-asketischen Moral der Antike zu charakterisieren. Das ist, wie Sie wissen, ein völliges Hirngespinst. Die Askese war eine Erfindung der heidnischen Antike, der griechischen und römischen Antike. Wir dürfen also nicht die nicht-asketische Moral der heidnischen Antike der asketischen Moral des Christentums entgegensetzen. Wir dürfen auch nicht, meine ich, so wie etwa Nietzsehe, eine antike Askese, nämlich die des gewalttätigen und aristokratischen Griechenlands, im Gegensatz zu einer anderen Form der Askese charakterisieren, die die Seele vom Körper trennt. Der Unterschied zwischen der christlichen Askese und anderen Formen, die sie vorbereitet haben und ihr vorausgingen, muß in dieses zweifache Verhältnis gestellt werden: das Verhältnis zum J enseits, zu dem man dank dieser Askese Zugang hätte, und das Prinzip des Gehorsams dem anderen gegenüber (Gehorsam dem anderen gegenüber im Diesseits, Gehorsam gegenüber dem anderen, der zugleich Gehorsam gegenüber Gott und den Menschen ist, die ihn vertreten). Auf diese Weise könnte man sehen, wie sich ein neuer Stil des Selbstverhältnisses abzeichnet, ein neuer Typ von Machtverhältnissen, eine andere Ordnung der Wahrheit. Diese grundlegenden Veränderungen, die äußerst komplex sind und die ich jetzt nur ganz schematisch skizziere, kann man, glaube ich, ganz gut auf der Oberfläche anhand der Entwicklung des Begriffs der parrhesia als Weise der Selbstbeziehung und Beziehung zu den anderen verfolgen, anhand der Ausübung des Wahrsprechens in der christlichen Erfahrung. Diesen Begriff der parrhesia in der christlichen Erfahrung als Verhältnis zum Jenseits und zu Gott, als Verhältnis des Gehorsams gegenüber den anderen und gegenüber Gott, möchte ich Ihnen jetzt kurz erläutern. Wir machen fünf Minuten Pause und sprechen dann über die parrhesia in den ersten christlichen Texten. 414
Anmerkungen I Epiktet, Gespräche, in: Epiktet, Teles und Musonius, Buch III, Gespräch 22,95, übers. v. W. Capelle, Zürich 1948, S.14I. 2 Ebd. 3 Ebd., III, 22, 48-49, S. 135. 4 Ebd., III, 22, 60, S. 136. 5 Ebd., III, 22, 96, S. I4I. 6 »Denn Kundschafter (kataskopos) ist der Kyniker, dessen nämlich, was den Menschen gut und was ihnen schädlich ist. Und wenn er im Gelände scharf zugesehen hat, muß er zurückkommen und die Wahrheit berichten, ohne von Furcht benommen oder auf andere Weise von falschen Vorstellungen betört und verwirrt zu sein« (ebd., III, 22, 24- 2 5, S.13 1). 7 Platon, Laches, I88c-189a, übers. v. L. Georgii, a. a. 0., S. 186-187. Vgl. oben, Vorlesung vom 22. Februar, zweite Stunde. 8 Epiktet, Gespräche, in: Epiktet, Teles und Musonius, Buch III, Gespräch 22,98, S. 142. 9 Ebd., III, 22, 87-88, S.140. 10 Ebd., III, 22, 88, S. 140. 11 Ebd., III, 22,51, S. 135. 12 Ebd., III, 22, 21-22, S. 13I. 13 Ebd., III, 22,1°3, S. 142. 14 Als Sohn von Arestor und Mykene verfügte Argos über hundert Augen, die über den ganzen Kopf verteilt waren. Die Hälfte der Augen war abwechselnd geschlossen, wodurch immer noch fünfzig Augen wachsam sein konnten. 15 Epiktet, Gespräche, III, 22,104-1°5, S. 142-143. 16 Ebd., III, 22, 77, S. 139. 17 Vgl. zu dieser Kritik (hauptsächlich im Ausgang von Plutarchs De curiositate) L'Hermeneutique du sujet, a.a.O., S.210-2I3; dt.: S.275- 280 . 18 Epiktet, Gespräche, III, 22, 96, S. I4I. 19 Ebd., III, 22,97, S.142. 20 Ebd., III, 22, 98, S. I42. 2I Ebd., III, 22, 26-27, S. 132. 22 Dialogues de Gregoire le Grand, Bd. II, Ir. Buch: Vie et miracles du venerable abbe Benoft, II, 1,8, übers. v. P. Antin, Paris 1979, S. 137. 23 Les Moines d'Orient, übers. v.A.-J. Festugiere, Paris 1961-I965 (IIIIr, III/z und III/3: Les Moines de Palestine). Foucault bezieht sich auf eine Anmerkung von Festugiere (III/3, S. 15, Anm.II), der eine Anekdote über die Eremiten von Ägypten berichtet, »die völlig nackt leben, ohne weitere Kleidung als ihre Haare«. Festugiere zitiert einen Text aus Peri anakoreton hagion: "eiden anthropon boskomenon hos ta theriae (er sah einen Mann, der Gras abweidete wie ein wildes Tier; in: H. Koch, Quellen zur Geschichte der Askese und des Mönchtums in der Alten
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Kirche, Tübingen I933, S. I I8-I20). ZU diesem Beispiel schreibt Festugiere: »Der Autor fügt hinzu, daß dieser Eremit flieht, da er den Geruch eines Menschen nicht ertragen kann. Der andere setzt ihm nach und wirft während dieser Verfolgung seine Tunika weg (lebetona). Der Eremit bleibt daraufhin stehen und, da er den Besucher nun ganz nackt sieht, empfängt ihn und sagt: »Weil du die hyle tou kosmou abgeworfen hast, habe ich auf dich gewartet« (ebd.).
Vorlesung 9 (Sitzung vom 28. März 1984, zweite Stunde)
Die Verwendung des Begriffs parrhesia in den ersten vorchristlichen Texten: menschliche und göttliche Modalitäten. - Die parrhesia im Neuen Testament: vertrauender Glaube und Öffnung des Herzens. - Die parrhesia bei den Kirchenvätern: die Unverschämtheit. - Entwicklung eines antiparrhesiastischen Pols: die argwöhnische Selbsterkenntnis. - Die Wahrheit des Lebens als Bedingung für den Zugang zu einer anderen Welt.
Zunächst einige Hinweise - die auch hier völlig skizzenhaft und in Form von Hypothesen ausfallen - zu der sehr merkwürdigen Entwicklung der Bedeutung des Begriffs der parrhesia in den ersten christlichen Texten. Eigentlich möchte ich diese Hinweise um drei Probleme herum anordnen. Erstens die Verwendung des Wortes in vorchristlichen Texten (in jenen, die aus den jüdisch-griechischen Milieus hervorgingen, im wesentlichen bei Phiion von Alexandria und in der Version der Septuaginta [der Bibel]; zweitens der Begriff der parrhesia in den apostolischen Texten, vor allem in den patristischen Texten, sowie [drittens] in denen der christlichen Askese der ersten Jahrhunderte. Zunächst einige Worte zur Verwendung des Begriffs in den jüdisch-hellenistischen Texten. Hier bin ich natürlich überhaupt nicht kompetent, und zwar aus dem ganz einfachen Grund, daß ich kein Hebräisch kann, was zumindest dann unverzichtbar wäre, wenn man die Version der Septuaginta etwas genauer untersuchen wollte. Ich beziehe mich auf Hinweise, die man in einer Reihe von bereits durchgeführten Untersuchungen finden kann. Unter denen, die am besten zugänglich sind, gibt es [die] von Schlier in dem Artikel »Parrhesia« im Wörterbuch von Kittel (der ins Englische übersetzt wurde, für diejenigen unter ihnen, die einen schwierigen Zugang zum Deutschen haben).! Man findet auch einen Aufsatz, der im Juli 1982 im Catholic Biblical Quarterly erschien, von Stanley Marrow geschrieben wurde und den Titel trägt »Parrhesia and the New 4 16
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Testament«.2 Was man zu dieser Verwendung des Wortes in den jüdisch-hellenistischen Texten sagen kann, ließe sich etwa folgendermaßen bestimmen. Erstens findet man die Verwendung des Wortes parrhesia in der ganz traditionellen Bedeutung des Wahrsprechens als Kühnheit und Tapferkeit und als Folge der Unbescholtenheit des Herzens. Sie finden diesen Sinn des Wortes beispielsweise in Über die Einzelgesetze, wo Phiion von Alexandria jene Gesetze erwähnt und rechtfertigt, die die Mysterien und alle verborgenen Praktiken verurteilen. Phiion - und daran sehen Sie, daß er nichts anderes sagt, als die Kyniker gegen sie sagten - verurteilt die Formen der Religion, die mit Mysterien zu tun haben, wenn er sagt, daß die Wahrheit, wenn es wirklich eine gibt, auch gesagt werden muß: »Oder siehst du nicht, daß auch die Natur von ihren vielgefeierten und herrlichen Werken keines verhüllt hat [...J ?«3 Und wenn die Natur nichts von ihren herrlichen Werken verbirgt, müssen folglich auch diejenigen, deren Handlungen allen zugute kommen, Gebrauch von der vollen Redefreiheit machen. Es muß also parrhesia für diese geben (esto parrhesia),4 »[sie mögenJ am hellen Tage mitten über den Markt [schreitenJ, um dichte Menschenhaufen anzutreffen [... J«.5 Es ist also die Billigkeit, die allgemeine Nützlichkeit, die hier die Grundlage einer parrhesia sind, welche nichts anderes ist als der Mut, Dinge zu sagen, die für jedermann nützlich sind, und zwar seitens einer Reihe von Personen, bei denen die Reinheit des Herzens, der Mut, der Seelenadel diese parrhesia ermöglichen. Diese Verwendung des Wortes in einem Sinn, der der klassischen griechischen und hellenistischen Tradition noch äußerst nahesteht, wird jedoch in einer Reihe von Texten modifiziert. Man findet nämlich in den Texten desselben Phiion von Alexandria, auch in den Texten der Version der Septuaginta den Begriff der parrhesia mit einer Bedeutung, die ziemlich tiefgehend verändert wurde.':· Zu dieser Zeit bezeichnet die parrhesia nicht ". Am Seitenrand des Manuskripts werden für Philon die Paragraphen I50, I26 und 95 zitiert sowie die Sprüche, IO, 9-II für die Bibel der Septuaginta. 4 18
mehr bloß den Mut des einzelnen, der gewissermaßen allein gegenüber allen anderen die Wahrheit sagen muß, und wie es um das steht, was getan werden soll. Diese andere parrhesia, die sich hier abzeichnet, versteht sich als eine Art von Modalität des Verhältnisses zu Gott, eine volle und positive Modalität. Es geht um so etwas wie die Öffnung des Herzens, die Transparenz der Seele, die sich dem Blick Gottes darbietet. Und zugleich mit dieser Öffnung des Herzens, dieser Transparenz der Seele vor dem Blick Gottes, gibt es eine gewissermaßen aufsteigende Bewegung dieser reinen Seele, die sie zum Allmächtigen emporhebt. Die parrhesia wird sich also, wenn Sie so wollen, nicht mehr auf der [horizontalenJ Achse der Verhältnisse des einzelnen zu den anderen abspielen, auf der Achse dessen, der den Mut gegenüber denen aufbringt, die sich irren. Die parrhesia ist nun auf der vertikalen Achse eines Verhältnisses zu Gott angeordnet, wo einerseits die Seele transparent ist und sich Gott gegenüber öffnet, und wo sie sich andererseits zu Ihm erhebt. Auf diese Weise finden Sie in der Version der Septuaginta die Verwendung des Worts parrhesia für die Übersetzung eines Textes, der in einem bestimmten Sinne für uns ziemlich weit vom traditionellen Sinn des Begriffs entfernt ist. Hier ist der Text, wie er in der deutschen Einheitsübersetzung erscheint. Er steht im Buch Job: »Werde sein Freund, und halte Frieden! Nur dadurch kommt das Gute dir zu. Nimm doch Weisung aus seinem Mund, leg dir seine Worte ins Herz: Kehrst du zum Allmächtigen um, so wirst du aufgerichtet. Hältst Unrecht deinem Zelt fern, wirfst in den Staub das Edelgold, zum Flußgestein das Feingold, dann wird der Allmächtige dein Edelgold und erlesenes Silber für dich sein. Dann wirst du am Allmächtigen dich erfreuen und zu Gott dein Angesicht heben. Flehst du ihn an, so hört er dich und wird deine Gelübde erfüllen. Beschließt du etwas, dann trifft es ein, und Licht überstrahlt deine Wege.«6 Interessant ist nun, daß die Version der Septuaginta das Verb parrhesiazesthai verwendet, um das hebräische »dann wirst du am Allmächtigen dich erfreuen« (wortwörtlich) zu übersetzen. 41 9
Mit anderen Worten, dieses unmittelbare Verhältnis, diese Kontaktbeziehung, diese Beziehung der Wonne, der Freude, die die Seele verspürt, wenn sie im Kontakt mit Gott steht, diese Glückseligkeit, diese Freude, diese Lust werden in der Version der Septuaginta mit »parrhesiazesthai« übersetzt. Die parrhesia ist also überhaupt nicht mehr, wie Sie sehen, das mutige und riskante Wahrsprechen dessen, der jene Kühnheit gegenüber denen besitzt, die sich irren. Sie ist jene Bewegung, jene Öffnung des Herzens, durch die das Herz und die Seele, die sich zu Gott erheben, Gott schließlich erfassen, gewissermaßen Nutzen daraus ziehen und das Prinzip seiner Glückseligkeit erfahren können. Wir gehen, wie Sie sehen, von der Wahrheit, von der parrhesia als Nicht-Verbergen zur Vorstellung eines Verhältnisses über, in dem die Seele zu Gott erhoben, auf seiner Höhe getragen, mit ihm in Berührung gebracht wird und wo sie ihre Glückseligkeit finden kann. Bei Phiion von Alexandria (Über die Einzelgesetze ) finden wir in ähnlichem Sinne eine Passage, in der die parrhesia als an das Gebet gebunden erscheint. Die parrhesia im Gebet ist eine Art von Qualität oder vielmehr eine Dynamik, eine Bewegung, durch die die Seele sich zu Gott erhebt, vorausgesetzt, daß sie ein hinreichend reines Gewissen hat. So schreibt Phiion: Wer beten kann ek katharou tou syneidotos (mit reinem Gewissen), der ist zur parrhesia fähig. 7 Die parrhesia bleibt in einem bestimmten Sinne zwar ein Wahrsprechen, aber es ist nicht einmal mehr ein »Sprechen«, sondern die Öffnung der Seele, die sich in ihrer Wahrheit Gott gegenüber offenbart und diese Wahrheit zu Ihm trägt. In diesen jüdisch-hellenistischen Texten finden wir auch einen dritten Sinn, der nicht mehr der traditionelle Sinn ist, der uns in Griechenland begegnete, noch auch der Sinn dieser Bewegung der Seele zu Gott hin, diese Öffnung und dieses Streben nach Gott in der Version der Septuaginta, wofür Phiion von Alexandria Beispiele anführte. In einer Reihe von Texten erscheint die parrhesia als eine Eigenschaft, eine Qualität, genauer noch als eine Gabe Gottes. Gott selbst ist mit der parrhesia begabt. Und
wenn Gott mit der parrhesia begabt ist, dann natürlich, insofern er die Wahrheit sagt, aber auch insofern er Sich, Seine Liebe, Seine Macht oder eventuell auch Seinen Zorn offenbart. Es ist das eigentliche Wesen Gottes in seiner Offenbarung, was parrhesia genannt wird. Zwei TextsteIlen zu dieser Bedeutung des Begriffs. In den Sprüchen 8 (Version der Septuaginta) haben wir folgenden Text: »Die Weisheit ruft laut auf der Straße, auf den Plätzen erhebt sie ihre Stimme. Am Anfang der Mauern predigt sie, an den Stadttoren hält sie ihre Reden.« Der Ruf der Weisheit in den Straßen wird parrhesia genannt. Und hier ist die parrhesia, wie Sie sehen, die parrhesia der Weisheit selbst. Es ist die parrhesia Gottes, die überströmende Gegenwart Gottes, gewissermaßen seine übervolle Gegenwart, was mit parrhesia bezeichnet wird. Diese parrhesia ist genau die sprachliche Artikulation der Stimme der Weisheit, die sie kennzeichnet. Aber die parrhesia kann auch - das geht zumindest aus einem anderen Text hervor - die Gegenwart Gottes sein> der sich verbirgt und sich zurückhält, die Gegenwart oder die Macht Gottes, die der Mensch anruft und die er anrufen muß, wenn er sich in den Fängen des Unglücks befindet oder der Ungerechtigkeit unterworfen ist. Es tut mir leid, ich habe die Stellenangabe nicht aufgeschrieben und kann auch nicht sagen, daß ich sie nächstes Mal mitbringen werde, weil es kein nächstes Mal geben wird; in einem Text heißt es: »Gott der Vergeltung, 0 Herr, du Gott der Vergeltung, erscheine [zeige dich, heißt es im hebräischen Text; M. E] ! Ergebe dich, Richter der Erde, vergilt den Stolzen ihr Tun ! Wie lange noch dürfen die Frevler, 0 Herr, wie lange noch dürfen die Frevler frohlocken ?«9 Und dieses »erscheine«, dieses »zeige dich« werden in der Version der Septuaginta durch parrhesiazesthai ins Griechische übersetzt. Der Begriff der parrhesia wird hier also verwendet, um etwas zu bezeichnen, das dem griechischen Denken offenbar sehr fremd ist: die Allmacht des Allmächtigen, die sich in Seiner Güte und Seiner Weisheit offenbart und offenbaren muß, die sich auch in Seinem Zorn gegen die Ungerechten, die Arroganten und
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Hochmütigen offenbart. Sie sehen, daß der Begriff der parrhesia in dieser Reihe von Texten allgemein immer mehr dazu tendiert, das Gegenüber des Allmächtigen und seiner Kreatur zu bezeichnen, ihre Asymmetrie, aber auch ihre Beziehung zueinander. Es ist die Bewegung, durch die sich der Mensch Gott zuwendet, aber umgekehrt auch die Bewegung, durch die Gott Sein Wesen als Macht und Weisheit offenbart, als Kraft und Wahrheit. Innerhalb dieses ontologischen Verhältnisses des Gegenüber von Mensch und Gott tendiert die parrhesia bis zu einem gewissen Grad dazu, sich zu verschieben. Es handelt sich nicht mehr um den Mut des einsamen Mannes gegenüber den anderen, die sich irren, sondern um die Seligkeit, die Glückseligkeit des Menschen, der sich Gott zugewandt hat. Und Gott antwortet auf diese Bewegung des Menschen zu ihm durch den Ausdruck, die Offenbarung Seiner Güte und Seiner Macht. Zweitens taucht nun auch in der neutestamentlichen Literatur der Begriff der parrhesia einige Male auf, und zwar mit einer Bedeutung, die sich von derjenigen unterscheidet, die wir gerade in der jüdisch-christlichen Tradition gesehen haben, und natürlich auch von derjenigen, die uns in der Verwendung bei den Griechen begegnet ist. Zwei wichtige Veränderungen gibt es. Die erste besteht darin, daß die parrhesia in der neutestamentlichen Literatur künftig nicht mehr als Modalität der göttlichen Offenbarung erscheint. Gott ist nicht mehr der Parrhesiast, der er in der Version der Septuaginta und bis zu einem gewissen Grad bei PhiIon von Alexandria war. Die parrhesia ist einfach eine Seinsweise, ein Modus menschlicher Tätigkeit. Die zweite Veränderung: Dieser menschliche Tätigkeitsmodus enthält zwar bis zu einem gewissen Grad, in einem bestimmten Kontext und unter bestimmten Umständen die Nebenbedeutung der Tapferkeit, der Kühnheit zu sprechen, aber es geht auch um eine Haltung des Herzens, eine Seinsweise, die sich nicht in der Rede und der Sprache zu offenbaren braucht. Einige Beispiele. Der Begriff der parrhesia wird im wesentlichen in zwei Kontexten verwendet, um eine bestimmte Tu-
gend zu bezeichnen, die entweder die Menschen oder zumindest alle Christen kennzeichnet oder kennzeichnen soll oder auch die Apostel und diejenigen, die damit beauftragt sind, den Menschen die Wahrheit zu lehren. Für die Menschen im allgemeinen oder zumindest für die Christen ist die parrhesia keineswegs eine verbale Tätigkeit. Sie ist das Vertrauen auf Gott, jene Zuversicht, die jeder Christ in der Liebe, in der Zuneigung Gottes zu den Menschen, in der Verbindung, die Gott und die Menschen aneinander bindet, haben kann und haben muß. Dieses parrhesiastische Vertrauen ermöglicht das Gebet, und dadurch kann der Mensch in eine Beziehung zu Gott eintreten. Beispielsweise heißt es im ersten Brief des Johannes: »Dies schreibe ich euch, damit ihr wißt, daß ihr das ewige Leben habt; denn ihr glaubt an den Namen des Sohnes Gottes.«l0 Sie sehen, daß hier deutlich hervorgehoben wird, daß die, an die sich Johannes wendet, an den Namen des Sohnes Gottes glauben. Das sind die Gläubigen, die Christen und als solche wissen sie, daß sie von nun an das ewige Leben haben. »Wir haben ihm gegenüber die Zuversicht, daß er uns hört, wenn wir etwas erbitten, das seinem Willen entspricht.«!! Hier wurde der Ausdruck parrhesia übersetzt. Wir haben die Zuversicht (parrhesia), daß, wenn wir etwas erbitten, das Seinem Willen entspricht, er uns hört. Die parrhesia ist also in folgendem Kontext angesiedelt. Einerseits weiß der Christ als solcher, der an den Namen des Sohnes Gottes glaubt, daß er das ewige Leben hat. Zweitens, er wendet sich an Gott, um was von ihm zu erbitten? Nichts anderes als das, was Gott will. Das Prinzip des Gehorsams. In dieser Zirkularität des Glaubens an Gott und der Gewißheit, das ewige Leben zu haben, auf der einen Seite und einer Bitte, die sich an Gott wendet und nichts anderes ist als der Wille Gottes selbst auf der anderen Seite, wird die parrhesia verankert. Die parrhesia ist die Zuversicht, daß Gott diejenigen hören wird, die Christen sind und die als solche, da sie an ihn glauben, um nichts anderes bitten als um das, was seinem Willen entspricht. Diese parrhesiastische Einstellung ermöglicht das eschatologische Vertrauen auf das Jüngste Ge-
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richt, das man voller Vertrauen (meta parrhesias) wegen der Liebe Gottes erwarten kann und muß. Es ist dieses eschatologische Vertrauen, dieses Vertrauen in das, was am Jüngsten Tag geschehen wird, das ebenfalls im Ersten Brief des Johannes zum Ausdruck kommt: »Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm. Darin ist unter uns die Liebe vollendet, daß wir am Tag des Gerichts Zuversicht (parrhesia) haben.«12 Seitens der Menschen, seitens der Christen ist die parrhesia also das Vertrauen auf die Liebe Gottes, die sich offenbart, wenn Er die Gebete erhört, die man an ihn richtet, eine Liebe, die Gott offenbart und offenbaren wird am Tage des Jüngsten Gerichts. Aber die parrhesia ist in diesen neutestamentlichen Texten auch das Kennzeichen der mutigen Haltung dessen, der das Evangelium predigt. In diesem Sinne ist die parrhesia die apostolische Tugend schlechthin. Und hier finden wir eine Bedeutung und eine Verwendung des Wortes wieder, die derjenigen recht nahesteht, die wir von der klassischen griechischen oder hellenistischen Auffassung kennen. So ist beispielsweise in der Apostelgeschichte von Paulus die Rede, von seiner Berufung und von dem Mißtrauen, das die Schüler, die Apostel am Anfang ihm gegenüber hatten. Man hält ihn nicht für einen Schüler Christi. An dieser Stelle erzählt Barnabas, wie er Paulus in Damaskus gesehen hat, wie er ihn »freimütig« im Namen J esu predigen sah. 13 In J erusalem wie in Damaskus wird Paulus nun unter den Schülern hin- und hergehen und sich voller Zuversicht (meta parrhesias) im Namen des Herrn aussprechen. So führte er Streitgespräche mit den Griechen, »[d]iese aber planten, ihn zu töten«.14 Hier wird die mündliche Predigt, wie Sie sehen, die Tatsache, daß man das Wort ergreift, mit den Griechen Streitgespräche führt und mit ihnen streitet, wobei man eigentlich sein Leben riskiert, als parrhesia charakterisiert. Die apostolische Tugend der parrhesia steht also der griechischen [Tugend] ziemlich nahe. Ebenso bittet Paulus die Bewohner von Ephesos im Brief an die Epheser, für ihn zu beten, damit, wie er sagt, »Gott mir das rechte Wort schenkt, wenn es darauf
ankommt, mit Freimut das Geheimnis des Evangeliums zu verkünden, als dessen Gesandter ich im Gefängnis bin. Bittet, daß ich in seiner Kraft freimütig (meta parrhesias) zu reden vermag, wie es meine Pflicht ist.«15 Das sind also einige Anhaltspunkte im Hinblick auf die neutestamentliche Literatur: die parrhesia als apostolische Tugend, die in ihrer Bedeutung dem sehr nahe steht, was wir bei den Griechen gesehen hatten; und außerdem die parrhesia als Form eines allgemeinen Vertrauens der Christen auf Gott. Wenden wir uns nun - hier werden die Dinge zweifellos komplizierter, jedenfalls aber auch interessanter - der Askese der ersten Jahrhunderte und der Zeit danach zu. Die parrhesia beginnt damals mit einem doppeldeutigen Wert zu erscheinen. Bis zu einem gewissen Grad nimmt diese Doppeldeutigkeit der Werte des Begriffs der parrhesia die Doppeldeutigkeit wieder auf, die wir schon bei den Griechen bemerkt hatten, und verstärkt sie. Die parrhesia war dort sowohl als Mut des tugendhaften Individuums erschienen, sich an die anderen zu wenden und zu versuchen, sie aus ihrem Irrtum zur Wahrheit zurückzuführen, als auch als Redefreiheit, als Unordnung und Anarchie, die zur Folge hat, daß jeder alles beliebige sagen kann. Diese Doppeldeutigkeit werden wir bis zu einem gewissen Grad wiederfinden, aber in Form einer sehr tiefgehenden Transposition. Erstens erscheint die parrhesia in ihrem positiven Wert als eine Schlüsseltugend, die sowohl die Haltung des Christen, und zwar des guten Christen gegenüber den Menschen als auch seine Seinsweise gegenüber Gott charakterisiert. Gegenüber den Menschen wird die parrhesia der Mut sein, trotz aller Bedrohungen die Wahrheit, die man kennt, die man weiß und für die man Zeugnis ablegen will, zur Geltung zu bringen. Hier sind wir nahe an jenem Wert der parrhesia mit den Bedeutungen, denen wir in der griechischen Antike begegnet sind. So finden wir beispielsweise bei J ohannes Chrysostomos (Über die Vorsehung) folgendes: Inmitten der Verfolgungen erfüllten die Schafe das Amt der Schäfer und die Soldaten erfüllten das Amt
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,,- Das Manuskript nimmt hier Bezug auf den Brief I 39 von Theodoret von Cyrus.
Mut etwa eines Sokrates oder eines Diogenes und dem eines Märtyrers - das sagt, glaube ich, der heilige Hieronymus -liegt gerade darin, daß der erste nur der Mut eines Menschen ist, der sich an die anderen Menschen wendet, während der Mut der christlichen Märtyrer ein solcher ist, der sich auf jenen anderen Aspekt, jene andere Dimension derselben parrhesia stützt, die im Vertrauen auf Gott besteht. Vertrauen auf das Heil in der Güte Gottes und ebenso Vertrauen auf das Hören Gottes. Und hier zeigt eine ganze Reihe von Texten, daß das Thema der parrhesia sich mit dem Thema des Glaubens und des Vertrauens auf Gott verbindet. Beispielsweise gibt es bei Gregor von Nyssa (Über die Jungfräulichkeit, Kap. XII) eine sehr interessante Passage über diese parrhesia, denn sie überschneidet sich in einigen Punkten mit dem Kynismus. In diesem Text geht es darum, daß man neu wird und zurückkehrt - indem man sich sich selbst zuwendet, sich selbst prüft und sich der ganzen Mühe unterzieht, mit der man versucht, durch alles hindurch, was die Seele mit einem Schleier überzogen und besudelt hat, ihre ursprüngliche Form zu entziffern - um das herauszufinden, was der ursprüngliche Mensch in seinem ursprünglichen Leben war. Gregor von Nyssa fragt in dieser Passage: Wer war also dieser ursprüngliche Mensch? »Er war noch nackt [... ], mit Freimut (en parrhesia) blickte er in Gottes Antlitz, noch nicht konnte er durch Geschmacks- und Gesichtssinn das Schöne beurteilen, einzig am Herrn hatte er seine Freude [.. .].«18 Das überschneidet sich mit der Vorstellung eines ursprünglichen Lebens bei den Kynikern, das zugleich auch ein wahres Leben ist, zu dem man zurückkehren soll, ein Leben der Entsagung und Nacktheit. Sie finden hier die Vorstellung einer parrhesia als parrhesia des Gegenübers zu Gott wieder. In diesem ursprünglichen Zustand des Verhältnisses der Menschheit zu Gott haben die Menschen volles Vertrauen. Sie befinden sich in der parrhesia mit Gott: Öffnung des Herzens, unmittelbare Gegenwart, direkte Kommunikation der Seele mit Gott. Es gibt eine Reihe von Texten wie diesen hier, die aber am Ende vielleicht weniger aussage-
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der Heerführer aufgrund ihrer parrhesia und ihrer Tapferkeit (andreia ).16 Wir befinden uns hier in einer wohlbekannten U mgebung, der der Verfolgung und der Märtyrer. Angesichts der Verfolgungen hat eine Reihe von Personen den Mut, die Wahrheit, an die sie glauben, geltend zu machen. Diesen Mut zeigen sie offen: Die Soldaten übernehmen die Rolle von Heerführern, und sie tun das, weil sie in der Lage sind, eine Haltung der Tapferkeit und der parrhesia einzunehmen. Ebenso sagt Johannes Chrysostomos (Über die Vorsehung): »Denk' daran, welchen Nutzen die wachsamen Menschen wohl aus diesen Beispielen gezogen haben, als sie eine unbesiegbare Seele sahen, eine Weisheit, die sich nicht unterjochen läßt, eine Sprache, die voll von tapferer Kühnheit ist.«17 Das Wort parrhesia wird hier durch »tapfere Kühnheit« übersetzt. Die Idee ist folgende: Diese parrhesia, durch die bestimmte Individuen in der Lage waren, sich der Verfolgung zu widersetzen und das Martyrium auf sich zu nehmen, war hilfreich und nützlich. »Denk' daran, welchen Nutzen die wachsamen Menschen wohl aus diesen Beispielen gezogen haben.« Es gibt wachsame Menschen, die überredet, überzeugt oder zumindest an die Wahrheit des Evangeliums durch den Mut jener Parrhesiasten erinnert werden können, die Märtyrer sind. Der Märtyrer ist der Parrhesiast schlechthin. Und insofern sehen Sie, daß das Wort parrhesia sich auf den Mut bezieht, den man angesichts der Verfolger hat und den man für sich selbst ausübt, den man aber auch für die anderen und für jene ausübt, die man überreden, überzeugen oder in ihrem Glauben stärken will. Aber diese parrhesia als Beziehung zu den Menschen ist auch eine Tugend im Hinblick auf Gott. Die parrhesia ist nicht einfach nur der Mut, den man angesichts der Verfolgungen zeigt, um die anderen zu überzeugen, [sondern auch ein] Mut, der im Vertrauen auf Gott besteht, und dieses Vertrauen kann nicht von der Haltung der Tapferkeit getrennt werden, die man gegenüber den Menschen hat.':- Der Unterschied zwischen dem
kräftig sind. Sie sehen, daß der Begriff der parrhesia mit dem positiven Wert des Verhältnisses zu den anderen erscheint, insofern man in der Lage ist, bis einschließlich zum Märtyrertod den Mut zur Wahrheit aufzubringen. Diesen Mut zur Wahrheit kann man nur insoweit haben, als man ihn in einer Beziehung des Vertrauens auf Gott verankert oder Wurzeln schlagen läßt, die uns Ihm in einer Art des Gegenübers am nächsten bringt, das zumindest bis zu einem gewissen Grad an das ursprüngliche Gegenüber des Menschen und seines Schöpfers erinnert. Das ist der positive Kern dieses Begriffs der parrhesia. Nur, insofern sich im Leben des Christentums, in der christlichen Praxis, in den christlichen Institutionen das Prinzip des Gehorsams durchsetzt, und zwar ebensowohl in der Beziehung zu sich selbst wie in der Beziehung zur Wahrheit, wird dieses Verhältnis des Vertrauens - worin die parrhesia bestand - des Menschen zu sich selbst, das sich auf ein Verhältnis des Vertrauens des Menschen zu Gott stützte, dieses Vertrauen (Vertrauen auf das Heil, Vertrauen, daß Gott einen hören wird, daß man Gott nahe ist, daß sich die Seele Gott öffnet) wird sich in einem gewissen Sinne verdunkeln, es wird gegenüber seinem eigenen Ursprung und seiner ursprünglichen Achse erzittern und sich gleichsam mit einem Schleier überziehen. Das Thema der parrhesia als Vertrauen wird durch das Prinzip eines zitternden Gehorsams ersetzt werden, bei dem der Christ Gott zu fürchten hat und die Notwendigkeit erkennen muß, sich dem Willen Gottes zu unterwerfen und dem Willen derer, die ihn vertreten. Wir werden sehen, wie sich das Thema des Mißtrauens gegenüber sich selbst entwickelt sowie die Regel des Schweigens. Aufgrund dessen wird die parrhesia als Öffnung des Herzens, als Vertrauensverhältnis, durch die der Mensch und Gott einander gegenüberstehen und ganz nahe sind, davon bedroht, immer mehr als eine Art von Arroganz und Dünkelhaftigkeit zu erscheinen. Das alles würde natürlich erfordern, weiter ausgearbeitet zu werden, aber Sie sehen, daß - sagen wir vom 4· Jahrhundert an, aber immer deutlicher im 5. und 6. Jahrhundert- sich im Chri-
stentum die Autoritätsstrukturen entwickeln, durch die die individuelle Askese innerhalb der institutionellen Strukturen, wie jener des Zönobitismus des kollektiven Mönchtums einerseits und jener des Pastorats andererseits gleichsam eingebettet wird, durch die die Leitung der Seelen Pastoren, Priestern oder Bischöfen anvertraut wird. Zugleich mit der Entwicklung dieser Strukturen wird das Thema eines Verhältnisses zu Gott, das nur durch den Gehorsam vermittelt werden kann, als Voraussetzung und Folge die Vorstellung nach sich ziehen, daß das Individuum nicht durch sich selbst in der Lage ist, sein Heil zu erlangen, daß es durch sich selbst nicht dazu fähig ist, dieses Gegenüber zu Gott wiederzufinden, das seine ursprüngliche Existenz charakterisierte. Und wenn es nicht in der Lage ist, durch sich selbst, durch die Bewegung seiner Seele, durch die Öffnung seines Herzens dieses Verhältnis zu Gott herzustellen, wenn es dieses Verhältnis nur durch die Vermittlung jener Autoritätsstrukturen herstellen kann, dann ist das eben ein Zeichen dafür, daß es sich selbst mißtrauen soll. Es soll nicht glauben, es soll sich nicht vorstellen, es soll nicht die Arroganz haben zu denken, daß es durch sich selbst fähig sei, sein eigenes Heil zu erlangen und den Weg der Öffnung zu Gott zu finden. Es selbst soll für sich ein Gegenstand des Mißtrauens sein. Es soll Gegenstand einer aufmerksamen, gewissenhaften, argwöhnischen Wachsamkeit sein. Durch sich und in sich selbst kann es nichts anderes als das Böse finden, und nur durch den Verzicht auf sich selbst und die praktische Umsetzung des allgemeinen Prinzips des Gehorsams kann der Mensch sein Heil erlangen. Diese parrhesia, die doch zu jener Art von Vertrauensverhältnis geworden war, zur Öffnung des Herzens, die den Menschen an Gott binden konnte, wird als solche verschwinden, oder vielmehr wird sie als Vertrauen im Lichte eines Mangels, im Lichte einer Gefahr, im Lichte eines Lasters erscheinen. Die parrhesia als Vertrauen ist dem Prinzip der Gottesfurcht fremd. Sie ist dem Gefühl entgegengesetzt, das notwendig ist für die Entfernung von der Welt und den weltlichen Dingen.
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Die parrhesia erscheint als unvereinbar mit dem nun strengen Blick, den man auf sich selbst richten soll. Wer sein Heil erlangen mag - d. h., wer Gott fürchtet, wer sich fremd in der Welt fühlt, überwacht sich selbst und soll sich unablässig überwachen -, kann unmöglich diese parrhesia besitzen, dieses frohlockende Vertrauen, durch das er mit Gott verbunden war, zu Ihm getragen wurde, bis daß er Ihn in einem direkten Gegenüber erfaßte. Die parrhesia erscheint jetzt also als ein tadelnswertes Verhalten der Anmaßung, der Vertrautheit und des arroganten Selbstvertrauens. So finden wir eine Reihe von Texten, insbesondere in der asketischen Literatur und im Immerwährenden Gebet bei den Vätern. Beispielsweise haben wir folgendes Apophtegma: Sei nicht der Vertraute des Higumenen (des Vorstehers der Gemeinschaft), suche ihn nicht zu häufig auf, denn du wirst eine gewisse parrhesia daraus beziehen und schließlich wirst du deinerseits Vorsteher werden wollen. 19 Der berühmteste Text und der grundlegendste in dieser neuen Kritik der parrhesia ist das Apophtegma von Agathon (das erste in der alphabetischen Liste). Ein junger Mann besucht Agathon und sagt zu ihm: »Ich möchte mit den Brüdern zusammenleben; sag mir, auf welche Weise man das tun soll.« Agathons Antwort ist: »Behalte alle Tage deines Lebens die geistige Haltung eines Fremden, die du am ersten Tag hattest, als du zu ihnen gingst, um mit ihnen nicht zu vertraulich zu werden.«20 Und er fährt fort: Was gibt es Schlimmeres als die parrhesia ? Nichts, sagt er. »Sie ist einem großen Glutwind ähnlich: Wenn er entsteht, fliehen alle vor ihm, und die Frucht der Bäume verdirbt er.«21 Der Kontext dieses Apophtegmas ist interessant, und er läßt sich sehr schematisch folgendermaßen rekonstruieren. Es geht, wie Sie sehen, um die Frage nach dem Leben in der Gemeinschaft. Es geht um einen jungen Mönch, der kommt, um die Askese zu praktizieren, aber gemeinsam mit den Brüdern. Nun gibt es aber in diesem neuen Leben, also mit den Brüdern, unter der Autorität eines Higumenen und mit einer gemeinsamen Regel eine Gefahr. Die Gefahr besteht darin, daß der Mönch, der auf 43°
diese Weise mit den anderen verbunden ist, ein weltliches Leben im vollen Vertrauen führt, ohne sich selbst und den anderen zu mißtrauen, und daß er die parrhesia praktiziert, eine parrhesia, von der man weiß, daß sie Vertrauen in sich selbst, Vertrauen in die anderen, Vertrauen in das ist, was man gemeinsam erreichen kann, und folglich vergißt, daß man sich in einem wahrhaft asketischen Leben immer der Arbeit an sich selbst, der Entzifferung seiner selbst widmen muß, was ein Mißtrauen gegenüber sich selbst, Furcht im Hinblick auf das Heil und Zittern vor dem Willen Gottes einschließt. Dieser Text der Apophtegmata Agathons wird etwas später von Dorotheus von Gaza im IV. Buch seiner Unterweisungen wiederaufgenommen. Er nimmt dieses Apophtegma auf, um es zu kommentieren, und kommentiert es, indem er folgendes sagt, worin man, glaube ich, die Elemente jener anti-parrhesia findet, die im Begriff ist, sich zu entwickeln: »Wir jagen aber die Furcht Gottes weit von uns [... ], weil wir weder das Gedenken an den Tod noch das Gedenken an die Strafen in uns haben, weil wir nicht auf uns selbst achthaben, weil wir uns nicht selbst prüfen, wie wir gelebt haben, sondern einfach so dahinleben und uns mit gleichgültigen Menschen abgeben, weil wir vertraulich sind. Das ist das Schlimmste von allem, das ist der völlige Untergang.«22 Wenn man die verschiedenen Elemente betrachtet, die diese parrhesia charakterisieren, so zeigt sie sich darin, daß man die Gottesfurcht weit von sich jagt, indem man weder an den Tod noch an die Bestrafung denkt. In jenem vorgeblichen Gottvertrauen vollzieht man in Wirklichkeit eine Umkehr und wendet sich von der Gottesfurcht ab, einer Furcht davor, was im Augenblick des Todes geschehen wird, einer Furcht vor dem Jüngsten Gericht und einer Furcht vor den Strafen dieses Gerichts. Das zweite Merkmal dieser parrhesia, die jetzt zu einem Mangel und einem Laster geworden ist: Nicht nur fürchtet man Gott nicht, sondern man achtet auch nicht auf sich selbst. »Wir jagen aber die Furcht Gottes weit von uns [... ], weil wir weder das Gedenken an den Tod noch das Gedenken an die Strafen in uns haben, weil wir nicht 43 I
auf uns selbst achthaben, weil wir uns nicht selbst prüfen.«23 Sie sehen hier, daß die parrhesia jetzt eine Vernachlässigung seiner selbst ist, während sie früher Sorge um sich selbst war. Man kümmert sich nicht um sich selbst, man hat sich selbst gegenüber nicht das nötige Mißtrauen. Drittens: »weil wir einfach so dahinleben und uns mit gleichgültigen Menschen abgeben.«24 Dieses Mal geht es um das Vertrauen auf die Welt. Die Vertrautheit mit der Welt, die Gewohnheit, inmitten der anderen zu leben, gutzuheißen, was sie tun und sagen, alle diese Bindungen sind der notwendigen Fremdheit, die wir gegenüber der Welt haben sollen, feindlich und entgegengesetzt. Dadurch wird also die parrhesia bestimmt: keine Furcht vor Gott, kein Mißtrauen gegenüber sich selbst, kein Mißtrauen gegenüber der Welt. Sie ist ein arrogantes Vertrauen. Dorotheus von Gaza fährt fort, indem er sagt, was ebenfalls interessant ist: »Die parrhesia (die Vertraulichkeit) ist aber sehr vielgestaltig: Es kann jemand vertraulich sein durch ein Wort, durch eine Berührung oder durch einen Blick. Durch die parrhesia gelangt man zu unnützem Geschwätz und dazu, Weltliches zu reden.«25 In diesem gemeinschaftlichen, zönobitischen Leben treibt die parrhesia zu unnützem Geschwätz und dazu, von weltlichen Dingen zu sprechen. »Parrhesia ist es auch, jemanden ohne Notwendigkeit zu berühren, seine Hand beim Lachen nach jemandem auszustrecken, jemanden zu stoßen oder etwas von ihm zu nehmen, ihn schamlos zu betrachten. «26 Von dieser ganzen Vertrautheit, der physischen, körperlichen Vertrautheit, die man im Gemeinschaftsleben haben kann, soll man sich dadurch lösen, daß man sich selbst mißtraut, den anderen mißtraut und Gott fürchtet. Und schließlich besteht die parrhesia darin, daß man ohne Scham (anaidos) einen Bruder anblicktP »Denn ohne Ehrfurcht ehrt man selbst Gott nicht, noch beachtet man jemals irgendein Gebot.«28 Sie sehen, daß die parrhesia hier auf ganz merkwürdige Weise gleichsam als Mangel an Ehrfurcht erscheint. Es ist nicht unmöglich, daß es hier einen ausdrücklichen Bezug auf all das gibt, was im Verständnis der Griechen das Problem der parrhesia an das stoi-
sche und kynische Problem der aidos oder der anaideia (Scham und Schamlosigkeit) knüpfte. Aber selbst ohne diesen ausdrücklichen Bezug finden wir hier das Problem der parrhesia als Selbstvertrauen wieder, das die notwendige Achtung, die den anderen gebührt, verkennt. Daraus folgt: die Entleerung der parrhesia als Arroganz und Selbstvertrauen; die Notwendigkeit der Achtung, die ihre ursprüngliche Form und ihre wesentliche Manifestation im Gehorsam haben muß. Wo Gehorsam herrscht, kann es keine parrhesia geben. Wir finden also das wieder, was ich Ihnen vorhin gesagt habe, nämlich daß das Problem des Gehorsams sich im Zentrum dieser Umkehrung der Werte der parrhesia befindet. Die positive Auffassung macht aus der parrhesia ein Vertrauen -auf Gott, ein Vertrauen als das Element, durch das der Mensch die Wahrheit, mit der er beauftragt ist, sagen kann, wenn er ein Apostel oder ein Märtyrer ist. Die parrhesia ist auch das Vertrauen, das man in die Liebe Gottes hat und in die Art und Weise, wie Gott den Menschen empfangen wird, wenn der Tag des Jüngsten Gerichts kommt. Diese Auffassung der parrhesia hat um sich herum etwas auskristallisiert, was man den parrhesiastischen Pol des Christentums nennen könnte, demzufolge das Verhältnis zur Wahrheit im Gegenüber mit Gott hergestellt wird und im Vertrauen, einem menschlichen Vertrauen, das dem Ausfluß der göttlichen Liebe entspricht. Dieser parrhesiastische Pol scheint mir am Ursprung dessen gewesen zu sein, was man die große mystische Tradition des Christentums nennen könnte. Wer ausreichend Vertrauen in Gott besitzt, wer ein ausreichend reines Herz hat, um sich Gott gegenüber öffnen zu können, dem wird Gott durch eine Bewegung antworten, die sein Heil garantiert und ihm ermöglicht, einen Zugang zu einem ewigen Gegenüber mit [Ihm] zu haben. So sieht die positive Funktion der parrhesia aus. Dann gibt es im Christentum noch einen anderen Pol, einen anti-parrhesiastischen Pol, der nicht die mystische, sondern die asketische Tradition begründet. Das ist der Pol, demzufolge das Verhältnis zur Wahrheit nur im furchtsamen und ehrerbie-
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tigen Gehorsam gegenüber Gott und in Form einer argwöhnischen Selbstentzifferung durch Versuchungen und Prüfungen hergestellt werden kann. Dieser anti-parrhesiastische, asketische Pol ohne Vertrauen, dieser Pol des Mißtrauens gegenüber sich selbst und der Furcht vor Gott ist nicht weniger wichtig als der parrhesiastische Pol. Ich würde sogar sagen, daß er in historischer und institutioneller Hinsicht viel wichtiger war, weil sich schließlich um ihn herum alle pastoralen Institutionen des Christentums entwickelt haben. Und das lange und schwierige Fortbestehen der Mystik, der mystischen Erfahrung im Christentum ist nichts anderes, wie mir scheint, als das Überleben des parrhesiastischen Pols des Vertrauens auf Gott, das nicht ohne Mühe an den Rändern gegen das große Unternehmen des anti-parrhesiastischen Argwohns weiterexistierte, den der Mensch sich selbst und den anderen gegenüber aus Gehorsam gegen Gott und in der Furcht und dem Zittern vor demselben Gott zu beweisen und zu praktizieren berufen 1st. Künftig wird mit der Entwicklung des anti-parrhesiastischen, nicht-parrhesiastischen, asketischen Pols die Wahrheit über sich selbst oder auch das Problem der Beziehungen zwischen der Erkenntnis der Wahrheit und der Wahrheit über sich selbst nicht mehr die gewissermaßen volle und ganze Form einer anderen Lebensweise annehmen können, die zugleich eine Lebensweise der Wahrheit und eine Lebensweise wäre, durch die man die Wahrheit über sich selbst erkennen könnte. Künftig wird die Selbsterkenntnis (die Erkenntnis im Hinblick auf sich selbst, die Erkenntnis seiner selbst) eine der grundlegenden Bedingungen und sogar die Vorbedingung der Reinigung der Seele sein und folglich auch für den Augenblick gelten, in dem man endlich das Vertrauensverhältnis mit Gott erreichen kann. Man wird das wahre Leben nur unter der Vorbedingung erreichen, daß man diese Entzifferung der Wahrheit an sich selbst praktiziert hat. Die Wahrheit über sich selbst in dieser Welt entziffern, sich selbst im Mißtrauen gegenüber sich selbst und der Welt entzif434
fern, und zwar in der Furcht und im Zittern vor Gott, dies und dies allein kann uns Zugang zum wahren Leben verschaffen. Wahrheit des Lebens vor dem wahren Leben, in dieser Umkehrung hat die christliche Askese auf grundlegende Weise eine antike Askese verändert, die immer danach strebte, sowohl das wahre Leben als auch das Leben der Wahrheit zu führen und die zumindest im Kynismus die Möglichkeit behauptete, dieses wahre Leben der Wahrheit auch tatsächlich zu führen. Nun also, hören Sie, ich hatte vor, Ihnen einige Dinge zum allgemeinen Rahmen dieser Analysen zu sagen.':- Aber jetzt ist es zu spät. Also dann, dankeschön. ;,- M. F. bezieht sich hier auf die ganzen folgenden Ausführungen, die das Manuskript aus dem Jahr 1984 abschließen: »Beziehungen zwischen Subjekt und Wahrheit AI Diese in der Antike untersuchen: genauer in jener langen Zeitspanne, die sich vom klassischen Griechenland bis zu dem erstreckt, was man Spätantike oder den Beginn des Christentums nennt; hier handelt es sich um den anderen Aspekt des Ereignisses, das die Philosophiehistoriker gut kennen, bei dem die Beziehungen zwischen dem Sein und der Wahrheit nach dem Modus der Metaphysik bestimmt werden. BI Diese Beziehungen habe ich relativ unabhängig von dieser hier zu erforschen versucht (= eine Unabhängigkeit, die ebenso die Existenz von Beziehungen impliziert); ich habe sie vom Gesichtspunkt der Selbstpraxis zu erforschen versucht. a: d. h., indem ich die Analysen soweit wie möglich diesseits der Definition des Subjekts als Seele hielt und meinen Blick auf das Problem des Selbst, des Verhältnisses zu sich selbst fixierte; natürlich nimmt dieses Selbstverhältnis oft die Form der Beziehung zur Seele an, aber es wäre offenbar etwas reduktionistisch, wenn man sich damit begnügen würde, und die Verschiedenartigkeit der Bedeutungen, die mit dem Begriff der psyche verbunden werden, läßt sich verstehen oder zumindest erhellen, wenn man annimmt, daß die Beziehung zur Seele Teil eines Ganzen ist: Beziehung zum bias, zum Körper, zu den Leidenschaften, zu den Ereiglllssen. b: und diese Beziehungen habe ich versucht als Themen von Praktiken zu analysieren, d. h. als Gegenstände der Bearbeitung nach technischen Verfahren, über die man nachdenkt, die man verändert und perfektioniert; die man lehrt und anhand von Beispielen weitergibt; die man sein ganzes Leben lang befolgt, und zwar entweder zu bestimmten privilegierten und ausgewählten Zeiten oder regelmäßig und kontinuierlich; 435
diese Praktiken wurzeln in einer grundlegenden Haltung, nämlich im Kümmern um sich selbst, in der Sorge um sich; und sie haben zum Zweck, ein ethos, eine Weise zu sein und zu handeln, eine Weise des Verhaltens hervorzubringen, die gewissen rationalen Prinzipien entspricht und die Ausübung der Freiheit, verstanden als Unabhängigkeit, begründet; die Erforschung der Selbstpraktiken ist also die Untersuchung der konkreten Formen, Vorschriften und Techniken, die von der Sorge um sich in ihrer ethopoietischen Rolle befolgt werden. CI Im Hinblick auf diese Beziehungen zu sich selbst dachte ich, daß man die Frage nach den Wahrheits spielen stellen könnte, auf die sie sich berufen, auf die sie sich stützen und von denen sie bestimmte eigentümliche Wirkungen erwarten; und auf diese Frage gibt es mehrere Antworten: Die ethische Hervorbringung seiner selbst erfordert den Erwerb einer Reihe von mehr oder weniger zahlreichen und komplexen Erkenntnissen, die Bereiche betreffen, die mehr oder weniger ausgedehnt sind und dem Subjekt selbst mehr oder weniger nahe- oder fernstehen: die grundlegende Wahrheit über die Welt, das Leben, den Menschen usw.; praktische Wahrheiten über das, was man in diesen oder jenen Umständen tun soll; kurz, eine ganze Menge von Dingen, die gelernt werden müssen: die mathemata. Aber die Hervorbringung seiner selbst als ethisches Subjekt impliziert auch ein anderes Spiel der Wahrheit: Nicht mehr das Spiel des Erlernens, des Erwerbs wahrer Propositionen, mit denen man sich für das Leben und seine Ereignisse wappnet und ausrüstet, sondern das der auf sich selbst bezogenen Aufmerksamkeit, der Aufmerksamkeit auf das, was man zu tun fähig ist, auf den Grad der Abhängigkeit, den man erreicht hat, auf die Fortschritte, die man unternehmen muß und die zu tun bleiben; und diese Spiele der Wahrheit haben nichts mit den mathemata zu tun, sondern sind Übungen, die man an sich selbst vornimmt: Selbstprüfung; Prüfungen der Ausdauer und andere Kontrollen der Vorstellungen; die Dimension der askesis. Das ist nicht alles. Diese Übung der Wahrheit an sich selbst genügt nicht. Sie ist nur möglich und findet eine Grundlage nur in jener Haltung des Mutes zur Wahrheit: den Mut haben, die Wahrheit zu sagen, ohne etwas davon zu verbergen und trotz der Gefahren, die das mit sich bringt. Und hier begegnen wir dem Begriff der parrhesia: ursprünglich ein politischer Begriff, der sich, ohne diese ursprüngliche Bedeutung zu verlieren, abwandelt, indem er sich mit dem Prinzip der Sorge um sich selbst verbindet. Die parrhesia oder vielmehr das parrhesiastische Spiel erscheint unter zwei Aspekten: - der Mut, die Wahrheit demjenigen zu sagen, dem man helfen möchte und den man in der ethischen Bildung seiner selbst leiten möchte - der Mut, gegenüber allem die Wahrheit über sich selbst zu offenbaren, sich so zu zeigen, wie man ist.
An dieser Stelle erscheint der Kyniker: Er hat den unverschämten Mut, sich so zu zeigen, wie er ist; er besitzt die Kühnheit, die Wahrheit zu sagen; und in der Kritik, die er an den Regeln, Konventionen, Gebräuchen und Gewohnheiten übt, indem er sich in völliger Zwanglosigkeit und ganz aggressiv an die Herrscher und Mächtigen wendet, kehrt er das philosophische Leben und die Funktionen der politischen parrhesia um und dramatisiert sie auch. Ich weiß sehr wohl, daß ich den Eindruck erwecke, wenn ich die Dinge auf diese Weise präsentiere, dem Kynismus einen wesentlichen Ort in der antiken Ethik zuzuweisen und aus dem Kynismus eine absolut zentrale Figur zu machen, obwohl er doch zumindest von einem bestimmten Gesichtspunkt aus marginal und grenzwertig bleibt. Tatsächlich wollte ich mit dem Kynismus nur eine Grenze erkunden, eine der beiden Grenzen, zwischen denen die Themen der Sorge um sich und des Mutes zur Wahrheit sich entfalten. Es wäre also besser, die Dinge folgendermaßen zu präsentieren. Die antike Philosophie hat das eine mit dem anderen verbunden: das Prinzip der Sorge um sich selbst (die Pflicht, sich um sich selbst zu kümmern) und das Erfordernis des Mutes, die Wahrheit zu sagen und zu manifestieren. Tatsächlich hat es viele verschiedene Weisen gegeben, die Sorge um sich selbst und den Mut zur Wahrheit miteinander zu verbinden, und zweifellos kann man zwei extreme Formen, zwei entgegengesetzte Modalitäten erkennen, die jeweils auf ihre Weise die sokratische epimeleia und parrhesia weitergeführt haben. - Die platonische Modalität. Sie betont ganz entscheidend die Bedeutung und den Umfang der mathemata; sie gibt der Selbsterkenntnis die Form der Selbstbetrachtung und der ontologischen Anerkennung dessen, was die Seele in ihrem eigenen Sein ist; sie tendiert dazu, eine doppelte Spaltung herzustellen: zwischen Seele und Körper; zwischen der wahren Welt und der Welt der Erscheinungen; schließlich rührt ihre beträchtliche Bedeutung daher, daß sie diese Form der Sorge um sich selbst an die Begründung der Metaphysik binden konnte, während die Unterscheidung zwiscben esoterischer Lehre und den allen zugänglichen Vorlesungen ihre politische Reichweite beschränkte. - Die kynische Modalität. Sie schränkt den Bereich der mathemata so streng wie möglich ein und verleiht der Selbsterkenntnis die privilegierte Form der Übung, der Probe, der Praktiken der Ausdauer; sie versucht, den Menschen in der Nüchternheit seiner tierhaften Wahrheit zu offenbaren, und wenn sie gegenüber der Metaphysik zurückgeblieben ist, wenn sie ihrer großen historischen Nachwelt gegenüber fremd geblieben ist, so hat sie doch in der Geschichte des Abendlandes eine bestimmte Lebensweise hinterlassen, einen bestimmten bios, der auf verschiedene Weisen eine wesentliche Rolle gespielt hat. Wenn man die Frage nach den Beziehungen zwischen der Sorge um sich selbst und dem Mut zur Wahrheit stellt, dann scheint es, daß der Platonis-
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mus und der Kynismus zwei große Formen darstellen, die sich gegenüberstehen und die jeweils eine andere Genealogie hervorgebracht haben: einerseits die psyche, die Selbsterkenntnis, die Arbeit der Reinigung, der Zugang zur anderen Welt; andererseits den bios, das Sich-selbst-auf-dieProbe-Stellen, die Reduktion auf die Tiernatur; der innerweltliche Kampf gegen die Welt. Aber was ich zum Abschluß hervorheben möchte, ist folgendes: Es gibt keine Einsetzung der Wahrheit ohne eine wesentliche Setzung der Andersheit; die Wahrheit ist nie dasselbe; Wahrheit kann es nur in Form der anderen Welt und des anderen Lebens geben.«
Anmerkungen I H. Schlier, »Parrhesia, parrhesiazomai«, in: G. Kittel, Hg., Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament; Stuttgart 1949-1979, S.869884· 2 S. B. Marrow, S.]., »Parrhesia and the NewTestament«, Catholic Biblical Quarterly, 44,1982, S.431-446. 3 PhiIon von Alexandria, Über die Einzelgesetze, I, § )22, übers. v. 1. Heinemann, in: L. Cohn, Hg., Die Werke Philos von Alexandria, Breslau 1910, S. 100 (und weiter oben: "Denn wenn diese schön und förderlich sind, warum, ihr Eingeweihten, schließt ihr euch zusammen in tiefer Finsternis ab [... ] ?«, § 320, S.99)· 4 »Wer aber gemeinnützig wirkt, der trete offen hervor (esto parrhesia) [ ... }< (ebd., §32I, S. IOO). 5 Ebd. 6 Job, 22, 21-28 (Einheitsübersetzung). 7 »Denn das Gesetz will erstens, daß der Geist des Opfernden von Frömmigkeit erfüllt sei durch beständige Versenkung in gute und nützliche Gedanken [...], so daß einer beim Auflegen der Hände freimütig (parrhesiasamenon) mit reinem Gewissen (ek katarou tou syneidotos) etwa so sprechen könnte« (Über die Einzelgesetze, I, § 203, a. a. 0., S.68). 8 Sprüche, I, 20-21. 9 Psalmen, 94,1-3· 10 Erster Brief des Johannes, 5, 13. I I Ebd., 5, 14. 12 Ebd.,4, 16-17. 13 »Als er nach Jerusalem kam, versuchte er, sich den Jüngern anzuschließen. Aber alle fürchteten sich vor ihm und konnten nicht glauben, daß er ein Jünger war. Barnabas jedoch nahm sich seiner an und brachte ihn zu den Aposteln. Er erzählte ihnen, wie Saulus auf dem Weg den Herrn gesehen habe und daß dieser mit ihm gesprochen habe und wie er in Damaskus mutig und offen im Namen J esu aufgetreten sei« (Apostelgeschichte, 9, 26- 2 7). 43 8
14 »So ging er bei ihnen in J erusalem ein und aus, trat unerschrocken im Namen des Herrn auf und führte auch Streitgespräche mit den Hellenisten. Diese aber planten, ihn zu töten« (Apostelgeschichte, 9, 28-29). 15 Brief des Apostels Paulus an die Epheser, 6, 19-20. 16 »Wenn niemand zur Stelle ist, um die Herde zu leiten, übernehmen die Schafe selbst das Amt der Schäfer, die Soldaten das des Heerführers dank ihrer zuversichtlichen Kühnheit (parrhesias) und ihrer Tapferkeit (andreias), und alle mit der Inbrunst, dem Eifer und der nötigen Zurückhaltung. Bist du nicht verblüfft und voller Bewunderung für die tugendhaften Handlungen, durch die die Ereignisse verursacht wurden ?« (Johannes Chrysostomos, Sur la providence de Dieu, XIX, I I, hg. und übers. v.A.-M. Malingrey, Paris 1961, S.24 I ). 17 Ebd., XXII, S. 259. 18 Gregor von Nyssa, Über die Jungfräulichkeit, 302C, XII, 4, in: Bibliothek der griechischen Literatur, Bd. 7, Stuttgart 1977, S. I I 8. 19 »Ein Greis sagt: ,Du sollst keine vertraute Beziehung mit dem Higumenen haben und ihn nicht zu oft aufsuchen, denn daraus wirst du Zuversicht beziehen (kai parrhesian hexeis) und den Wunsch entwickeln, den anderen Befehle zu erteilen (hegeisthai allon)« (Les Apophtegmes des Peres, 2. Bd., § XV, Nr. I07, übers. v. A. Guy, Paris 2003, S. 35 1). 20 Ebd., S. 3I. 21 Foucault zitiert hier Agathon im Text von Dorotheus von Gaza, Doctrinae Diversae. Die geistliche Lehre, »Verschiedene Unterweisungen unseres heiligen Vaters Dorotheus an seine Schüler«, § 53, 1. Teilband, übers. u. eingel. v. Judith Pauli, Freiburg u. a. 2000, S. 207. 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Ebd., §53, S.235· 26 Ebd. 27 »Parrhesia ist es auch [... ], ihn schamlos (anaidos) zu betrachten« (ebd.). 28 Ebd.
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Frederic Gros" Situierung der Vorlesungen
Die Vorlesung des Jahres 1984 ist die letzte, die Foucault am College de France halten wird. Da er zu Beginn des Jahres sehr geschwächt war, fängt er mit seinen Vorlesungen erst im Februar an und beendet sie Ende März. Seine allerletzten öffentlichen Worte waren: »Es ist zu spät. Also dann, dankeschön.« Sein Tod im darauffolgenden Juni stellt diese Vorlesung in ein besonderes Licht, da man natürlich versucht ist, so etwas wie ein philosophisches Testament in sie hineinzulesen. Die Vorlesung legt das allerdings auch nahe, da Foucault, indem er mit Sokrates auf die eigentlichen Wurzeln der Philosophie zurückgeht, sich entschließt, die Gesamtheit seines kritischen Werks in sie einzuschreiben.
1.
Der allgemeine methodologische Rahmen: die Ontologie der wahren Diskurse
Seiner Gewohnheit entsprechend widmet Foucault einen ganzen Teil der ersten Vorlesungen methodischen Betrachtungen und bemüht sich erneut, die Besonderheit seines Ansatzes zu bestimmen. Indem er eine Problematik aus der Archäologie des Wissens l wiederaufnimmt, wird Foucault seine unterschiedliche Position um den Begriff der Wahrheit herum konstruieren. Die Archäologie bestand in der Aktualisierung einer Diskursorganisation, die die konstituierten Wissensinhalte strukturiert. Diese Diskursschicht besaß weder die Systematizität noch ". Frederic Gros ist Professor für politische Philosophie an der Universität Paris-XII. Er unterrichtet ebenfalls am Pariser Institut d'etudes politiques (Master-Studiengang »Histoire et Theorie du politique«). Letzte Buchveröffendichung: Etats de violence. Essai sur la fin de la guerre, Paris, Gallimard, 2006. I
Archäologie des Wissens, übers. v. U. Köppen, Frankfurt/M. 1973.
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die Beweiskraft der Wissenschaften, aber sie stellte einen zwingenden Organisationscode für Diskurse dar. 2 Dadurch, daß er seinen Analysegegenstand hier verortete, konnte Foucault den Regeln der Erkenntnistheorie und der Wissenschaftsgeschichte entkommen: Es ging nicht mehr darum, an die wahren Diskurse die Frage nach den Bedingungen ihrer formalen Möglichkeit oder ihrer fortschreitenden Offenbarung zu stellen, sondern sie auf ihre historisch-kulturellen Existenzbedingungen hin zu befragen. Diesbezüglich trifft Foucault 1984 die Unterscheidung zwischen einer Analyse der erkenntnistheoretischen Strukturen einerseits und einer Untersuchung der »alethurgischen« Formen andererseits. 3 Die erste stellt die Frage, was eine wahre Erkenntnis möglich macht, die zweite fragt nach den ethischen Wandlungen des Subjekts, insofern es sein Verhältnis zu sich selbst und zu den anderen von einem bestimmten Wahrsprechen abhängig macht. Was Foucault dann »Alethurgie« nennt, setzt ein Prinzip der Nichtreduzierbarkeit auf jede Erkenntnistheorie voraus. Während des ganzen Jahres 1984 wird er mit der Entfaltung eines Begriffs von Wahrheit beschäftigt sein, der entschieden originell ist und Foucault zufolge in der antiken Philosophie eine wesentliche Verankerung findet, die durch die moderne Herrschaft der Diskurse und Wissensinhalte weitgehend verdunkelt wird. Außerdem entfaltet Foucault in seinen ersten Vorlesungen noch einmal, wie er es schon im Jahr zuvor getan hatte, das Triptychon seines kritischen Werkes: eine Untersuchung der Veridiktionsmodi (anstatt einer Erkenntnistheorie der Wahrheit); eine Analyse der Formen der Gouvernementalität (anstatt einer Theorie der Macht); eine Beschreibung der Techniken der Subjektivierung (anstatt einer Deduktion des 2 Ebd., S. 253-279 (Kap. »Wissenschaft und Wissen«). 3 Vgl. oben, Vorlesung vom I. Februar 1984, erste Stunde (Der Begriff der »Alethurgie« wurde von Foucault erstmals 1980 gebildet und in den Vorlesungen im College de France vom 23. und 30. Januar erklärt (Vor-
lesung »Le Gouvernement des vivants«, dt.: Die Regierung der Lebenden).
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Subjekts) -wobei es darum ging, einen bestimmten kulturellen Kern als Untersuchungs gegenstand zu nehmen (das Geständnis, die Sorge um sich usw.), der gerade am Schnittpunkt dieser drei Dimensionen Gestalt gewinnt. 4 In diesem allgemeinen theoretischen Rahmen muß die Analyse des Begriffs der parrhesia, die I 982 begonnen und I 9 83 fortgesetzt wurde, rekonstruiert werden. Genauer findet sie ihren Ort innerhalb dessen, was Foucault I983 eine »Ontologie der wahren Diskurse«5 genannt hatte. Darunter muß man eine U ntersuchung verstehen, die an die wahren Diskurse nicht die Frage nach den intrinsischen Formen stellt, die ihnen Geltung verleihen, sondern nach den Seinsweisen, die sie für das Subjekt implizieren, das sich ihrer bedient. Foucault ist daher in der Lage, eine einzigartige Typologie von Veridiktionsstilen in der antiken Kultur vorzuschlagen, die sehr weit von derjenigen entfernt ist, die die Tradition seit Aristoteles kennt (die Hierarchisierung der Diskurse nach ihrer logischen Form), indem er den Typ des Verhältnisses zu sich und den anderen betrachtet, der mit der Behauptung der Wahrheit impliziert ist. Auf diese Weise ist das Wahrsprechen der parrhesia - insofern sie auf die Verwandlung des ethos des Gesprächspartners abzielt, ein Risiko für den Sprecher beinhaltet und sich in eine Temporalität der Gegenwart einfügt - vom Wahrsprechen des Unterrichts, der Prophezeiung und der Weisheit verschieden. 6
4 Ebd. 5 Le Gouvernement de soi et des autres. Cours au College de France, I9 82 I9 83, hg. v. F. Gros, Paris 2008, S. 285 f.; dt.: Die Regierung des Selbst und der anderen, übers. v.J. Schröder, Frankfurt/M. 2009, S. 388 H. 6 Vgl. oben, Vorlesung vom 1. Februar 1984, erste und zweite Stunde.
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2.
Das griechische Geheimnis der Politik: die ethische Differenz
Einen großen Teil des Jahres I983 hatte Foucault auf die Untersuchung des Begriffs der parrhesia in ihrer politischen Dimension verwandt. Dabei ging es um die Freilegung einer nicht-formalen Bedingung der athenischen Demokratie: den Mut eines Wahrsprechens, das in einer öffentlichen Rede ausgeübt wird. Der Mut zur Wahrheit wurde hier als das bestimmt, was das Spiel der Demokratie wirksam und unverfälscht macht. 7 In den ersten Vorlesungen des Jahres I9848 beansprucht Foucault zwar nichts anderes, als die Bilanz aus dem vorangehenden Jahr zu ziehen, aber man merkt schnell, daß das, was wie eine einfache Erinnerung aussieht, in Wirklichkeit eine Radikalisierung der Einsätze bedeutet. Denn Foucault, der nun zum Knotenpunkt der griechischen politischen Philosophie kommen will, entdeckt diesen in dem, was er ein Prinzip der ethischen Differenzierung nennt. Es wurde seit jeher gesagt, daß die politische Philosophie der Alten von der schwierigen Suche nach der »besten Regierung« getrieben wurde. Und darin hat man meistens die Wirkung eines etwas naiven und flachen Moralismus gesehen, dem sich der tragische Pessimismus der Modernen entgegengesetzt hätte. Foucault versucht hier, ein anderes Fazit zu ziehen: zu zeigen, daß die Suche nach der »besten Verfassung« sich nicht mit einer moralischen Suche überschneidet, sondern die Realisierung eines Prinzips der ethischen Differenzierung innerhalb des Problems der Regierung der Menschen darstellt. Tatsächlich geht es nicht darum, eine ideale Form oder eine optimale Mechanik der Machtverteilung zu bestimmen, sondern geltend zu machen, daß die politische Vortrefflichkeit von der Art und Weise abhängt, wie die politischen Akteure sich selbst als ethische Subjekte konstiruieren konnten. Es ist jedoch schwierig, 7 Le Gouvernementdesoi ... , a.a.O., S.145-147; dt. S.204-208. 8 Vgl. oben, Vorlesung vom 8. Februar 1984, erste und zweite Stunde.
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diesen Unterschied zu erfassen, da es schließlich immer darum geht zu sagen, daß eine gute Politik von tugendhaften Regierenden abhängt. Aber Foucaults Stoß richtung ist entscheidend, insofern sie geltend macht, daß diese ethische Differenzierung in Wirklichkeit nicht die moralische Qualität eines Regierenden bezeichnet, und auch nicht die Singularität einer Stilisierung der Existenz, die ein außergewöhnliches Individuum gegenüber der anonymen Masse auszeichnen würde. Vielmehr soll sie in der Herstellung des Selbstverhältnisses den Unterschied der Wahrheit zur Geltung bringen oder besser noch die Wahrheit als Unterschied, als Distanz, die gegenüber der allgemeinen Meinung und den geteilten Gewißheiten gewonnen wurde. Daher rührt die strukturelle Schwäche der Demokratie,9 denn auch wenn der Gedanke möglich ist, daß ein Individuum oder eine kleine Gruppe es schafft, diese unterscheidende ethische Arbeit an sich vorzunehmen, so scheint dasselbe doch für ein ganzes Volk unwahrscheinlich zu sein. Es bleibt, daß die ethische Differenz, die die Schaffung der besten politeia ermöglicht, nur die Wirkung der Differenz der Wahrheit selbst in einem Subjekt ist. Diese Neubewertung des politischen Denkens der Griechen ermöglicht Foucault zugleich, seine eigene Vorgehensweise in diese Gedankenlinie einzubetten. lO Er gelangt nämlich zu folgendem Ergebnis: Die antike Philosophie stellt das Problem der Regierung der Menschen (politeia) in Abhängigkeit von einer ethischen Ausbildung eines Subjekts dar (ethos), welches für sich selbst und gegenüber den anderen die Differenz eines Diskurses der Wahrheit geltend machen kann (aletheia). Die drei Dimensionen des Wissens, der Macht und des Subjekts (oder vielmehr: der Veridiktion, der Gouvernementalität und der Subjektivierungsmodi), anhand deren Foucault sein Unternehmen beschrieben hat, sind hier also präsent. Aber diese drei 9 Vgl. oben in der Vorlesung vom 8. Februar, erste Stunde, die Schlußfolgerung aus der Analyse der rätselhaften Stelle der Politik des AristoteIes (III, 7, 1279a-b), S·72f. 10 Vgl. oben. Vorlesung vom 8. Februar 1984, Ende der zweiten Stunde. 444
Dimensionen sind nicht wie drei verschiedene Stücke oder drei verschiedene Bereiche, die jeweils für sich zu untersuchen wären. Foucault besteht darauf, daß die Identität des philosophischen Sprechens seit ihrer Begründung durch Sokrates und Platon auf einer Struktur des Appells beruht: Man sollte niemals die Diskurse der Wahrheit untersuchen, ohne zugleich ihre Wirkung auf die Regierung des Selbst und der anderen zu beschreiben; man sollte niemals die Strukturen der Macht analysieren, ohne zu zeigen, auf welche Wissensinhalte und welche Formen der Subjektivität sie sich stützen; man sollte nie die Modi der Subjektivierung bestimmen, ohne ihre politischen Fortsetzungen zu verstehen und ohne zu berücksichtigen, von welchen Beziehungen zur Wahrheit sie abhängen. Und man sollte nicht hoffen, eine dieser Dimensionen als grundlegend auszuzeichnen: Nie wird man die politischen Gewaltsamkeiten oder moralischen Haltungen in einer allgemeinen Logik erschöpfen können; ebenfalls wird man nie die Erfordernisse des Wissens oder die ethischen Konstruktionen auf Herrschaftsformen zurückführen können; und schließlich wird man auch nie die Formen der Veridiktion und der Regierung auf Strukturen des Subjekts zurückführen können. Diese beiden Prinzipien einer notwendigen Korrelation und einer grundsätzlichen Irreduzibilität reichen aus, um die Identität der Philosophie seit den Griechen zu bestimmen, und Foucault stellt sein Projekt in diese Identität hinein. Deshalb kann Foucault schließlich jenen antworten, die sagen mögen (man hat es gehört und wird es künftig noch hören), daß bei Foucault keine »wahre« Philosophie der Erkenntnis oder eine »wahre« politische oder Moralphilosophie zu finden sei: Zum Glück, denn wenn man vorgäbe, daß die Erkenntnistheorie, die Moral und die Politik unabhängige, nebeneinander bestehende Bereiche darstellten, die man jeweils methodisch und getrennt ausschöpfen könnte, würde das bedeuten, daß man aus der ursprünglichen Inspiration der Philosophie heraustritt.
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3. Das Licht des Todes
Am 25. Juni I984 stirbt Foucault an AIDS. Im Januar desselben Jahres wird er, als er schon sehr krank ist, mit Antibiotika behandelt. l l Er schreibt an Maurice Pinguet: »Ich habe geglaubt, daß ich AIDS hätte, aber eine energische Behandlung hat mich wieder auf die Beine gebracht.«12 Er wird wieder gesund und kann seiner Vorlesung ab Februar erneut nachkommen, auch wenn er sich Anfang März über eine üble Grippe beschwert. 13 Es ist schwierig zu bestimmen, welches Bewußtsein Foucault genau von der Krankheit hatte und haben wollte, die ihn schwächte. Daniel Defert weist in seiner Chronologie darauf hin, daß Foucault im März, als er regelmäßig im Krankenhaus Tarnier untersucht wird, »weder eine Diagnose verlangt noch erhält« und daß die einzige Frage, die er den Ärzten zu stellen scheint, ist: »Wieviel Zeit bleibt mir noch ?«14 Hier handelt es sich um das innige Verhältnis, das jeder zu seinem Körper, zu seiner Krankheit und zu seinem eigenen Tod hat. Dennoch steht eine Reihe von I984 gehaltenen Vorlesungen über große Texte der Philosophiegeschichte gerade in diesem Horizont der Krankheit und des Todes. 15 Hier lassen sich vor allem Platons Apologie des Sokrates und der Phaidon nennen. Im Hinblick auf Sokrates' Schicksal fällt auf, daß Foucaults Demonstration sich auf sein Verhältnis zum Tod bezieht, genauer noch auf das Problem der Angst zu sterben. 16 Das allgeD. Defert, »Chronologie«, in: Dits et lcrits, 1954-1988, hg. v. D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange, Bd. I, Paris 1994, S. 63; dt.: »Zeittafel«, in: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. I, übers. v. M. Bischoff, H.-D. Gondek u.H. Kocyba, Frankfurt/M. 2001, S. 102. 12 Ebd. 13 Vgl. oben die ersten Worte der Vorlesung vom 2r. März, erste Stunde. 14 D. Defert, »Zeittafel«, a. a. 0., S. 103. 15 Übrigens schien die Lebensweise Foucaults in jenem Winter 1984 selbst von dieser radikalen Askese geprägt gewesen zu sein, die er gleichzeitig bei den Kynikern beschrieb. 16 Vgl. oben, Vorlesung vom 15. Februar, erste Stunde.
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meine Thema ist das der Wandlung einer parrhesia, die auf einer politischen Rednerbühne ausgeübt wird (Perikles oder SoIon gegenüber den Athenern), zu einer parrhesia, die auf dem öffentlichen Platz im Rahmen einer Beziehung zwischen den Individuen praktiziert wird (die sokratische Prüfung). Auf den Vorwurf, den man ihm machen könnte, daß er keine Politik betrieben habe, hatte Sokrates geantwortet: Aber wenn ich Politik betrieben hätte, dann wäre ich schon lange tot. Dennoch bedeutet diese Antwort, wie Foucault zeigt, keine Angst vor dem Sterben, sondern vielmehr einen Versuch, so lange wie möglich einen Auftrag zu verfolgen, den er von den Göttern empfangen hat - die Sorge um die anderen: diese nachdrückliche und stete Wachsamkeit, deren Ziel es ist, bei jedem Menschen festzustellen, ob er richtig Sorge für sich trägt. Dabei sieht man, wie sich um die Person des Sokrates herum das Thema der parrhesia mit dem der epimeleia (der Sorge um sich) verbindet und wie das philosophische Unternehmen als jenes mutige Wahrsprechen neu bestimmt wird, das darauf abzielt, die Seinsweise des Gesprächspartners zu verwandeln, damit er lernt, sich richtig um sich selbst zu kümmern. Um diese Aufgabe wahrzunehmen, lehnt Sokrates es ab, Politik zu betreiben. Nicht aus Angst vor dem Sterben, sondern aus Angst davor, daß seine eigentliche Mission durch sein Verschwinden gefährdet wird. Ebenso kann man sagen, daß eine schwere Krankheit uns angst macht, nicht deshalb, weil sie das abscheuliche Gespenst des Nichts wachrüttelt, sondern weil sie uns daran hindern würde, eine Untersuchung oder eine Arbeit zum Abschluß zu bringen. Der beste Beweis dafür ist, daß Sokrates (davon handelt die ganze Erzählung der Apologie) schließlich den Tod gegenüber dem Verrat seiner eigentlichen Mission vorzieht. Während Foucaults gesamte Lektüre der Apologie sich um das Problem der Angst vor dem Tod dreht, konzentriert sich die des Phaidon auf die wesentliche Beziehung zwischen der Philosophie und der Krankheit. 17 Das gestellte Problem bezieht 17 Vgl. oben, Vorlesung vom 15. Februar, zweite Stunde.
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sich auf Sokrates' letzte Worte, auf die rätselhafte Ermahnung: ,,0 Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig; kümmere dich darum« (rr8a). Diese letzten Worte wurden in der gesamten Tradition nihilistisch gedeutet. Als ob Sokrates gesagt hätte: Man muß dem Gott der Heilkunst danken, denn durch den rettenden Tod werde ich von der Krankheit des Lebens geheilt. Foucault wird sich mit DumeziPs behelfen, um dieser berühmten Formel eine andere Interpretation zu geben: Wenn Sokrates dem Asklepios in seinen letzten Augenblicken dankt, dann zwar deshalb, weil er geheilt wurde, aber geheilt von der Krankheit der falschen Reden, der Ansteckung durch verbreitete und vorherrschende Meinungen, der Epidemie der Vorurteile, geheilt durch die Philosophie. Die beiden Aussagen, zu denen Foucault 1984 gelangt und die man nicht von seinem Kampf gegen die Krankheit und seinen Tod im Juni trennen kann, wären also: Nicht der Tod macht mir angst, sondern die Unterbrechung meiner Aufgabe; von allen Krankheiten ist die eigentlich tödliche die Krankheit der Reden (die falschen Klarheiten und die trügerischen Gewißheiten), und die Philosophie heilt mich davon bis zum Schluß. Man sollte schließlich beachten, daß die allerletzten Worte, die Sokrates ausspricht (kümmere dich darum, vernachlässige meine Bitte nicht: me amelesete) sich auf die epimeleia bezieht, auf die Foucault so viel Wert legte. Diese Sorge um sich selbst, die er ins Zentrum der antiken Ethik stellen wollte, war das letzte Wort auf Sokrates' Lippen. Es bleibt jedoch noch zu zeigen, und darum wird es in der Vorlesung von 1984 gehen, daß diese Sorge um sich selbst, die 198219 bloß als eine spezifische und nicht auf das christliche oder transzendentale Modell reduzierbare Strukturierung des 18 G. Dumezil, »Le Moyne noir en gris dedans Varennes«. Sotie nostradamique suivie d'un Divertissement sur les dernieres paroles de Socrate, Paris 1984; dt.: Der schwarze Mönch in Varennes: Nostradamische Posse, Übers. v. E. Moldenhauer, Frankfurt/M. 1989. 19 L'Hermeneutique du sujet. Cours au College de France, 1981-1982, hg. v. F. Gros, Paris 2001; dt.: Hermeneutik des Subjekts, übers. v. U. Bokelmann, Frankfurt/M. 2004. 44 8
Subjekts verstanden wurde (weder das Subjekt des Bekenntnisses noch das transzendentale Ego), auch eine Sorge um das Wahrsprechen ist, welches Tapferkeit und vor allem eine Sorge um die Welt und die anderen erfordert und die Verwirklichung eines »wahren Lebens« als ständige Kritik der Welt verlangt.
4. Der Laches und die Radikalisierung der Einsätze Die Lektüre von Platons Laches war für Foucault im Rahmen einer Vorlesung mit dem Titel »Der Mut zur Wahrheit« schon beinahe eine Pflicht, weil es sich hier um einen der seltenen philosophischen Texte handelt, die völlig dem Problem der Tapferkeit gewidmet sind. Aber auch wenn die Wahl des Werkes nicht überrascht, so tut es die Voreingenommenheit der Lektüre um so mehr. Denn während die große Mehrheit der Kommentatoren sich vor allem mit dem zentralen Teil des Textes befaßt (mit dem dialektischen Moment der mißglückten Versuche von Nikias und Laches, die Tugend der Tapferkeit zu definieren), interessiert sich Foucault ausschließlich für den Anfang und das Ende des Dialogs, d. h. dafür, was für viele nur mit der anekdotischen Inszenierung zu tun hat. 20 Da hier erneut die Betonung auf die parrhesia gelegt wird, ermöglicht ihm diese Aufteilung, nur dasjenige als Tapferkeit zu betrachten, was einem Wahrsprechen und vor allem einem Lebensstil zugrunde liegt. In der Fortsetzung des Kommentars zur Apologie wird Sokrates zwar immer noch als jemand dargestellt, der in seiner Wendung an die Individuen ein mutiges Wahrsprechen ausübt, um ihr ethos zu korrigieren. Aber mit der Lektüre des Laches erscheint eine neue Dimension: Sokrates ist auch jemand, der den Mut hat, dieses Erfordernis der Wahrheit auf der sichtbaren Grundlage seines Lebens zur Geltung zu bringen. Dieses zweite Element ist für die Logik der gesamten Vorlesung bestimmend, weil es ermöglicht, das Problem des »wahren Lebens« 20
Vgl. oben, Vorlesung vom
22.
Februar. 449
zu stellen und von da aus einen allgemeinen theoretischen Rahmen für die Untersuchung des antiken Kynismus zu liefern. Diese Neubewertung ist übrigens schon insofern entscheidend, als sie Foucault dazu führt, die Geschichte der Philosophie in einer globalen Perspektive zu sehen, und, wenn auch mit geändertem Inhalt, die die Struktur der binären Ableitung wieder aufnimmt, die dazu diente, das moderne Denken seit Kant zu beschreiben. 21 Seit den 70er Jahren hatte Foucault nämlich mehrmals zwei kantische Nachwelten unterschieden: die transzendentale Nachwelt (mit der Frage: Was kann ich wissen?) und die kritische Nachwelt (mit der Frage: Wie werden wir regiert ?). In den 80er Jahren hatte er diese Unterscheidung angereichert, indem er der Untersuchung der Machtverhältnisse die ethische Dimension hinzugefügt hat - was zu der Frage führte: Welche Weisen der Subjektivierung schließen sich an die Regierungsformen der Menschen an, um diesen Widerstand zu leisten oder sie auszufüllen. I 984 wird Foucault die Dinge zu den Quellen verfolgen, indem er von Platon zwei große geistige Richtungen der Philosophie abzweigen läßt: einerseits, gestützt auf den Alkibiades, eine Metaphysik der Seele, der es darum geht, im Diskurs und durch die theoretische Betrachtung die ursprüngliche Verbindung der unsterblichen psyche und der transzendenten Wahrheit zu begründen; andererseits, im Ausgang vom Laches, eine Ästhetik der Existenz, die die Aufgabe verfolgt, dem Leben (dem bias) eine sichtbare, harmonische und schöne Form zu verleihen. Diese Alternative einer platonischen Abzweigung unterscheidet sich stark von der kantischen. Bei Kant ging es darum, zwei Untersuchungsbereiche zu unterscheiden: einerseits die Bestimmung der formalen Bedingungen der Wahrheit, andererseits die der Bedingungen der Gouvernementalität der Menschen. Hier jedoch werden sich einerseits eine geistige
Aufgabe, die ihre Vollendung in einem logos, in der Konstitution eines Systems von Erkenntnissen findet, und eine andere Aufgabe gegenüberstehen, die ihre Gestalt in der Wirksamkeit der konkreten Existenz und in der Askese gewinnt. Man hat den Eindruck, daß Foucault 1984 das Für und Wider der Philosophie als diskursiven Bereich und Korpus von begründeten Wissensinhalten und der Philosophie als Prüfung und Einstellung abwägt, anstatt sie als zwei mögliche Typen von Untersuchungen (transzendental und historisch-kritisch) zu verstehen.
5· Der kynische Gestus Ein sehr großer Teil der Vorlesung des Jahres I 984 ist einer sehr originellen, man könnte sogar sagen, erfrischenden Darstellung des antiken Kynismus gewidmet. Der Kynismus war immer das arme Elternteil der Geschichte der antiken Philosophie. Die Gesamtheit von Untersuchungen, die ihm gewidmet wurden, ist lächerlich dürftig, verglichen mit jenen, die sich auf den Epikuräismus, den Stoizismus und sogar den Skeptizismus beziehen. Foucault wird also einer der ersten sein, der in Frankreich das Interesse an dieser randständig gebliebenen Strömung erneuert. 22 Von ihren Vertretern ist uns auch nur wenig überliefert, da einerseits der Inhalt der Lehre relativ ungeschliffen war und andererseits die Kunst des Schreibens nach dem Vorbild des Sokrates, der kein einziges Buch hinterlassen
21 Vgl. zu diesem Punkt schon die Vorlesung von 1978 "Was ist Kritik ?«, die vor der französischen Gesellschaft für Philosophie gehalten wurde (in: Bulletin de la Sociere franr;aise de Philosophie, Sitzung vom 27. Mai 1978) und 1983 die Vorlesung vom 5. Januar (S.21-22; dt. S. 38-40).
22 Untersuchungen zu den Kynikern hatten jedoch seit dem Ende der 80er Jahre Konjunktur, besonders in Frankreich um M.-O. GouletCaze (vgl. M.-O. Goulet-Caze, L'Ascl?se cynique. Un commentaire de Diogene Laerce V1lO-lI, Paris 1986; M.-O. Goulet-Caze und R. Goulet, Hg., Le Cynisme ancien et ses prolongements. Actes du colloque international du CNRS (Paris, 22.-25. Juli 1991), Paris 1993; M.-O. Goulet-Caze und R. Bracht Branham, Hg., The Cynics: The Cynic Movement in Antiquity and its Legacy, Berkeley 1996. In etwa zeitgleich mit der Vorlesung erschienen auch die Bücher von P. Sloterdijk (Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt/M. 1983) und von A. Glucksmann (Cynisme et Passion, Paris 1981).
45°
45 1
hat, weitgehend vernachlässigt wurde. Der Kynismus ist uns also im wesentlichen durch Anekdoten, Geschichtchen, Bonmots oder andere scharfe Erwiderungen überkommen. Genau dieser theoretischen Dürftigkeit bemächtigt sich Foucault, um aus dem Kynismus das reine Moment einer radikalen Neubewertung der philosophischen Wahrheit zu machen, die in der praxis, in der Prüfung durch das Leben, in der Veränderung der Welt neu verankert wird. Die Kyniker erkennt man an der parrhesia (am Freimut), weshalb sie auch dieser neuen Untersuchung als einführender Rahmen dient. Bisher hatte Foucault zwei große Aspekte der parrhesia erforscht: zunächst den politischen Aspekt, der sich aus einem demokratischen Moment entwickelt hatte, das sehr ambivalent war - die parrhesia bezeichnete sowohl das mutige Ergreifen des Wortes seitens des Bürgers, der an die ihm Ebenbürtigen unangenehme Wahrheiten richtete und dadurch ihren Zorn riskierte, als auch das allen zugestandene demagogische Recht, Beliebiges zu sagen - und zu einem autokratischen Moment hin tendierte, das den Auftritt des Philosophen als Berater des Fürsten zeigt, dem er mutig die Leviten liest und sich dadurch über das Stimmengewirr der Schmeichler am Hof erhebt; anschließend der ethische Aspekt, der durch Sokrates dargestellt wird, der jeden anspricht, um ihn zu fragen, ob er sich in ausreichendem Maße um sich selbst kümmert. Die kynische parrhesia stellt eine dritte große Form des Mutes zur Wahrheit dar, auch wenn sie in einem ersten Schritt als die bloße Fortsetzung des sokratischen Wahrsprechens verstanden werden kann. Denn schließlich werden Diogenes und Krates ebenfalls als solche beschrieben, die auf dem öffentlichen Platz eine Rede an die Menge halten, die faulen Kompromisse aller anprangern und jeden zwingen, sich Fragen über seine Lebensweise zu stellen. Aber diese Mahnung vollzieht sich auf unvergleichlich aggressivere, brutalere, radikalere Weise als bei Sokrates. Im übrigen gibt es nicht nur einen Unterschied in der Intensität oder im Stil. Es handelt sich schon nicht mehr nur darum - wie es trotz allem bei Sokrates der Fall war -, das gute 452
(oder falsche) Gewissen zu beunruhigen, das jeder bezüglich seiner Überzeugungen hat, das falsche Wissen anzuprangern oder auch die Dissonanzen zwischen den Reden und den Handlungen einer Person ironisch hervorzuheben. Man hat deutlich das Gefühl, daß bei den Kynikern die Infragestellung radikaler und umfassender ist: Die Gesamtheit der überkommenen Sitten und Werte in der antiken Kultur ist betroffen und wird angegriffen. Sokrates ist zweifellos eine wunderliche Person, aber er führt, mit Ausnahme seiner Manie für endlose Diskussionen, ein eher geordnetes und traditionelles Leben. In gewissen Hinsichten gibt er sogar das Vorbild eines Bürgers ab. Obwohl er verschroben ist, ist er doch kein absoluter Außenseiter. Der Kyniker macht dagegen durch eine Lebensweise aufmerksam, die einen Bruch darstellt. Man erkennt ihn, wie gesagt, zuerst an seinem Freimut (parrhesia: seine Sprache ist rauh, seine verbalen Attacken sind scharf, seine Standpauken heftig), aber auch an seinem Äußeren: Eher schmutzig geht er einher, in einen alten Mantel gekleidet, der ihm zugleich als Decke dient, trägt einen einfachen Ranzen, geht barfuß oder in Sandalen und hält seinen Wanderstab in der Hand, mit dem er auch seinen Verwünschungen Nachdruck verleiht. Dieser absolut grobschlächtige Lebensstil, diese vagabundenhafte Mittellosigkeit sind nun aber für Foucault der sichtbare Ausdruck einer Prüfung der Existenz durch die Wahrheit. 23 Diese Thematik ist von zentraler Bedeutung, denn sie ermöglicht das Erscheinen einer Dimension der abendländischen Philosophie, die weitgehend unbeachtet blieb: die des Elementaren. Wenn sich dem Denken die Frage nach der Wahrheit stellt, dann bringt sie die Dimension des Wesentlichen zum Erscheinen als desjenigen, was immer bleibt, die geistigen Abwandlungen übersteigt und die keine zeitliche Zersetzung kennt. Die Frage nach der Wahrheit wird von den Kynikern also an das Leben in seiner Materialität gestellt, was ermöglicht, das zutage zu fördern, was absolut standhält: Brauche ich ein Festgelage, um 23 Vgl. oben, Vorlesung vom 29. Februar, erste Stunde.
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mich zu ernähren, brauche ich Paläste, um zu schlafen? Was ist in Wahrheit nötig zum Leben? Es taucht also das Elementare wie eine Schicht der absoluten Notwendigkeit nach der asketischen Reduktion auf. Übrig bleibt die Erde zum Leben, der Sternenhimmel als Dach und die Bäche zum Trinken. Wie die Platoniker versuchten, durch den dichten Nebel der überkommenen Meinungen hindurch das wesentliche Wissen zu erkennen, verfolgen die Kyniker im Gestrüpp der Konventionen und der extravaganten Kunstgriffe das Elementare - was in der Konkretheit der Existenz absolut standhält. Die kynische parrhesia beizt gleichsam das Leben ab, indem sie jeden Wunsch und jedes Bedürfnis darauf befragt, was wahr an ihm ist, und läßt unser Leben als voller Belanglosigkeiten und nutzloser Eitelkeiten erscheinen. 24 Diese enge Verflechtung des Lebens und der Wahrheit, diese Bemühung, das Wahre im sichtbaren Körper des Lebens zu offenbaren, wäre also die wesentliche Charakterisierung des Kynismus, dessen Nachwelt in der Religion (die Bettelorden des Christentums), in der Politik (der Revolutionär des 19. Jahrhunderts) oder auch in der modernen und zeitgenössischen Kunst zu suchen wäre. 25 Die Vorstellung eines Lebens, das in der Dichte seiner Materialität durch die Wahrheit bearbeitet wird, wird von Foucault im Rahmen einer Neuinterpretation des berühmten kynischen Mottos paracharaxon to nomisma (»Präge die Münze um«) noch weiterverfolgt. Foucault beginnt mit der schon oft gemachten Bemerkung, daß man hinter dem Wort nomisma die Idee des nomos (Gesetz, Brauch) verstehen müsse und daß die umzustürzenden Werte nicht nur solche des Geldes sind. Vor allem aber macht er geltend, daß die paracharaxis auch die Tatsache bedeutet, das abgenutzte Bildnis einer Münze zu tilgen, um ihr ihren eigentlichen Wert wieder zurückzugeben. Die kynische Ermahnung kann dann als Umkehrung der Werte der Wahrheit verstanden werden. Es stellt sich also die Frage nach den» Bedeutungen« oder» Wer24 Ebd. 25 Vgl. oben, Vorlesung vom 29. Februar, zweite Stunde. 454
ten« der Wahrheit26 (er spricht nicht von Kriterien). Foucault unterscheidet vier: die Unverborgenheit, die Reinheit, den Einklang mit der Natur und die Souveränität. Paracharaxon to nomisma bedeutet dann bei den Kynikern: Bringe die wahren, die abgebeizten Bedeutungen der Wahrheit zur Geltung, indem du aus ihnen ebenso viele Leitprinzipien des Lebens machst. Ein »wahres Leben« zu führen bedeutet somit: ein völlig öffentliches und sichtbares Leben führen (das U nverborgene), ein Leben der vollständigen Mittellosigkeit und Armut (das Reine), ein radikal wildes und tierhaftes Leben (das Geradlinige) und eine grenzenlose Souveränität zu bewahren (das Unwandelbare). Die kynische Umwertung ist genau diese Arbeit, die darin besteht, die Prinzipien der Wahrheit buchstäblich zu leben. Die Wahrheit ist definitiv unerträglich, sobald sie den Bereich der Reden verläßt, um sich im Leben zu verkörpern. Das »wahre Leben« kann sich nur als »anderes Leben« manifestieren.
6. Das wahre Leben als Aufruf zur Kritik und Veränderung der Welt Am Ende seiner Untersuchung des antiken Kynismus ist Foucault in der Lage, eine Gesamtvision zu entfalten und das Verhältnis zwischen dem griechisch-lateinischen Denken und dem Christentum neu zu bestimmen. Seit der Vorlesung von 1980 hatte diese Beziehung die Gestalt eines Gegensatzes zwischen einem antiken Modus der Subjektivierung, der eine Konstruktion des Selbst, eine Gestaltung seiner Existenz, die kontinuierliche Anwendung einer Sorge um sich als Ausübung einer Freiheit beinhaltete, und einem Modus der Subjektivierung, der durch die Anwendung eines Wissens und die ständige Pflicht des Gehorsams zu einem Selbstverzicht führte. 27 1984 modifiziert er diese Gesamtperspektive. 26 Vgl. oben, Vorlesung vom 7. März, erste Stunde. 27 Vgl. die Sitzungen vom 12., 19. und 26. März 1980 der Vorlesung von 1979-1980 am College de France (»Die Regierung der Lebenden«). 455
Die Analyse der »Umkehrung« der Bedeutungen der Wahrheit hatte schon die Begründung des Begriffs eines »anderen Lebens« ermöglicht. Indem der Kyniker in der Dichte seines Lebens die Werte der Wahrheit, die herkömmlicherweise auf den Diskurs bezogen werden, geltend macht, bringt er nämlich den Skandal eines »wahren« Lebens hervor, das mit allen gewöhnlichen Lebensformen bricht. Das wahre Leben wird nicht mehr als jene vollendete Existenz angesehen, die Qualitäten oder Tugenden zur Vollkommenheit brächte, welche die gewöhnlichen Schicksale nur in schwachem Glanz aufweisen. Mit den Kynikern wird es zu einem skandalösen, beunruhigenden, einem »anderen« Leben, das unmittelbar abgelehnt und an den Rand gedrängt wird. In den letzten Vorlesungen, in denen er die Lektüre des Gesprächs III-22 von Epiktet (das große Porträt des Kynikers)Z8 weitertreibt, zeigt Foucault, wie dieses andere Leben zugleich die Kritik der bestehenden Welt darstellt und die Berufung auf eine »andere Welt« stützt. Das wahre Leben stellt sich somit als ein anderes Leben dar, das die Forderung nach einer anderen Welt zum Vorschein bringt. Die Askese, durch die der Kyniker sein Leben zur ständigen Aussetzung, zur radikalen Entsagung, zur wilden Tiernatur und zur grenzenlosen Souveränität zwingt (die vier umgekehrten Bedeutungen der Wahrheit), ist kaum dazu berufen (wie das für die Epikuräer, die Stoiker und die Skeptiker der Fall sein konnte), eine innere Ruhe zu garantieren, die einen Zweck an sich darstellt, während sie zugleich erbaulich ist. Der Kyniker zwingt sich zum »wahren Leben«, um die anderen zu provozieren, damit sie verstehen, daß sie sich irren, auf Abwege geraten, und um die Heuchelei der überkommenen Werte zu sprengen. Durch diesen dissonanten Einbruch des »wahren Lebens« in das Konzert der Lügen und des falschen Scheins, der hingenommenen Ungerechtigkeiten und der verborgenen U nbilligkeiten, läßt der Kyniker den Horizont einer »anderen Welt« erscheinen, deren Ankunft die 28
V gl. oben, Vorlesung vom
22.
März, erste Stunde. 45 6
Veränderung der gegenwärtigen Welt erfordern würde. Diese Kritik, die eine kontinuierliche Arbeit an sich selbst und eine nachdrückliche Mahnung der anderen verlangt, muß als politische Aufgabe interpretiert werden. Und jener »philosophische Aktivismus«, wie Foucault ihn nennt, stellt selbst die edelste und höchste aller Formen der Politik dar: Das ist Epiktets großes politeuesthai. 29 Daher versteht man auch, wie die Untersuchung der kynischen Bewegung ihm ermöglicht hat, das Risiko aufzuklären, das die Position der »Sorge um sich« im Zentrum der antiken Ethik darstellt. Gewiß war der Zweck dieser Neuzentrierung in erster Linie ein polemischer, weil es darum ging, das klassische Privileg des gnothi seauton (die Selbsterkenntnis) zu verabschieden und der christlichen Askese, die Selbstverzicht und Gehorsam gegenüber dem anderen beinhaltete, eine antike Askese entgegenzusetzen, die zur Konstruktion seiner selbst aufforderte. 3o Foucault hatte jedoch darauf bestanden zu zeigen, daß diese Sorge keine einsame Übung, sondern eine gesellschaftliche Praxis war und sogar eine Aufforderung zur richtigen Regierung der Menschen (sich ordentlich um sich selbst zu kümmern, damit man sich ordentlich um die anderen kümmern kann). Diese Sorge um sich, die in ihrer stoischen und epikuräischen Version im wesentlichen beschrieben wurde, brachte jedoch ein Spiel der Freiheit zum Vorschein, bei dem die innere Konstruktion gegenüber der politischen Veränderung der Welt vorherrscht. Die Einführung des Begriffs der parrhesia in ihrer sokratischen und kynischen Version sollte 29 Foucault fand in seinen letzten Monaten, während er eine zurückgezogene und völlig auf seine Arbeit der Vorbereitung der Vorlesungen sowie der Lektüre und Korrektur der Druckfahnen der Bände II und III seiner Geschichte der Sexualität (Der Gebrauch der Lüste und Die Sorge um sich, Frankfurt 1986) konzentrierte Lebensweise führte, noch die Zeit, im März Claude Mauriac in Begleitung von Arbeitern aus Mali und dem Senegal zu empfangen, die von der Polizei aus ihren Wohnungen vertrieben worden waren, um Briefe zu ihren Gunsten zu verfassen (vgl. zu diesem Punkt D. Defert, »Zeittafel«, a.a.O.). 30 V gl. in Hermeneutik des Subjekts, a. a. o. 457
dieser Darstellung der antiken Ethik ein entscheidendes neues Gleichgewicht verschaffen. Die Kyniker stellen nämlich in ihrer ganzen Aggressivität den Moment dar, in dem die Selbstaskese nur noch den Wert hat, als Provokation an die anderen gerichtet zu werden, weil es darum geht, aus sich selbst ein Schauspiel zu machen, das jeden mit seinen eigenen Widersprüchen konfrontiert. Gerade dadurch wird die Sorge um sich zur Sorge um die Welt, während das »wahre Leben« an den Beginn einer »anderen Welt« appelliert. Angesichts der kynischen Gliederung »anderes Leben/andere Welt« erhebt sich für Foucault die Frage nach dem Platonismus. Im Platonismus geht es eher darum, »das Jenseits« und »das andere Leben« gemeinsam zur Geltung zu bringen. Das Jenseits ist das Reich der reinen Formen und der ewigen Wahrheiten, das jenes der sinnlichen, bewegten und vergänglichen Wirklichkeiten übersteigt. Das andere Leben ist jenes, das der Seele verheißen ist, sobald sie, nachdem sie sich vom Körper gelöst hat, in der anderen Welt ihr Heimatland als ein glasklares, strahlendes, ewiges Leben entdeckt. Man versteht nun, welchen Stil in der Stammlinie des Platonismus die Sorge um sich annehmen muß: die eigene Seele für das Jenseits in der Erwartung ihres eigentlichen Schicksals zu bewahren und zu reinigen. Das Christentum bezieht Foucault zufolge seine Originalität gerade daraus, daß es die platonische Zielrichtung eines »Jenseits« mit der kynischen Forderung nach einem »anderen Leben« kreuzt: Der Glaube und die Hoffnung auf eine himmlische Heimat sollen durch eine Lebensweise beglaubigt werden, die die zeitlichen Gebräuche überschreitet. Der Sinn des Bruchs, den Luther und die Reformation darstellen, wird darin bestehen, daß sie es ablehnen, den Zugang zum Jenseits von einem anderen Leben abhängig zu machen: In Zukunft wird man sein Heil erlangen können, wenn man seine alltägliche Aufgabe, seine diesseitige Bestimmung erfüllt. 31
3 I V gl. oben, Vorlesung vom
I4.
März, erste Stunde.
45 8
7. Das Wahre und das Andere
Das Spiel zwischen »ewigem Leben/anderem Leben« und »J enseits/anderer Welt« setzt bei Foucault eine Philosophie der Alterität voraus, die, wenn sie schon nicht systematisch ausformuliert ist, dem Denken doch seinen Schwung verleiht. Dieser Begriff der Alterität gestattet ihm nämlich, seinen Begriff der Wahrheit philosophisch zu verankern. 32 Schon 1983 hatte Foucault den Staat als Zeugen einberufen, um die Vorstellung einer glücklichen und durchsichtigen Ehe zwischen Demokratie und Wahrheit in Frage zu stellen. Nach Platon bestand die Tugend der wahren Rede gerade darin, einen Unterschied und Hierarchien in die Seele einzuführen, die die konsensuellen Logiken aufbrechen und eine Präferenz ordnung zwischen den Begierden herstellen. 1984 wird Foucault diese Dimension der Alterität als Zeichen des Wahren erneut ins Spiel bringen, dieses Mal aber mit Bezug auf das Leben (den bias). Das »wahre Leben«, das Leben, das sich der Prüfung auf Wahrheit unterzieht, kann in den Augen des gewöhnlichen Menschen nur als ein anderes Leben erscheinen: als ein Leben, das einen Bruch vollzieht und Grenzen überschreitet. Man kann verstehen, warum Foucault, als er die verschiedenen »Bedeutungen« oder »Werte« der Wahrheit gesammelt hatte, nachdem er die Themen des Unverborgenen, des Reinen, des Geradlinigen und des Souveränen festgesetzt hatte, das Thema des »Identischen« oder des »Selben« aufgibt, indem er es im Manuskript durchstreicht. Dieses Thema hatte er zuerst als eine der großen traditionellen Bedeutungen der Wahrheit bestimmt - und in der Tat steht diese auch im Zentrum unserer philosophischen Kultur. Aber 1984 will er gerade geltend ma32 Diese Arbeit über den Begriff der Wahrheit im Ausgang von der griechischen Philosophie hatte schon seit der ersten Vorlesung am College de France, I971, begonnen (»Der Wille zum Wissen«), die sich auf die Techniken der Wahrheit im archaischen Griechenland bezog und dadurch einen geheimen Dialog mit dem Denken Heideggers über die griechische Vorstellung der Wahrheit einleitete, der 1984 seine Vollendung findet.
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chen, daß das Kennzeichen des Wahren die Alterität ist: was sich von der Welt und den Meinungen der Menschen unterscheidet, was dazu verpflichtet, seine Lebensweise zu ändern, dessen Unterschied die Perspektive auf eine zu schaffende, zu träumende Welt eröffnet. Der Philosoph versetzt also durch den Mut seines Wahrsprechens in seinem Leben und seinem Wort den Blitzstrahl einer Alterität in Schwingung. Auch wenn Foucault die folgenden Worte schreiben konnte, so hatte er doch keine Zeit mehr, sie vorzutragen. Aber es sind die letzten, die er auf der letzten Seite des Manuskripts seiner letzten Vorlesung geschrieben hat: »Aber was ich zum Abschluß hervorheben mächte, ist folgendes: Es gibt keine Einsetzung der Wahrheit ohne eine wesentliche Setzung der Andersheit; die Wahrheit ist nie dasselbe; Wahrheit kann es nur in Form des Jenseits und des anderen Lebens geben.«
F. G.
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Namenregister Anm·40, 234, 316, 324 f. Anm.23- 24 Arrian [Flavius Arrianus, -95175]: 219,23 I Anm. 3; s. Epiktet Asklepios, Äskulap, Myth.: 126, 12 7 Anm. 5,131-135, 139f., 144, 148, 154 f., 448; s. Kriton, Dumezil, Platon [Phaidon), Sokrates Attalus [ohne Datum]: 356; s. Seneca Aubenque, Pierre: 129 Anm.40 Augustinus, der heilige [354-43°]: 239,251 Anm·7
Achilles, Myth. [vg1. Homer, !lias]: 291,299 Anm. 6,366; s. Epiktet Älian der Sophist [Claudius Aelianus,-17 0 - 235J: 347 Anm . 13 Agamemnon, Agamemnon: 144, 38of.; s. Dumezil, Epiktet, Euripides Agathon v. Athen [-448-4°1 v.Chr.]: 43of., 439 Anm.21 Alkibiades [-450-404 v.Chr.J,AIkibiades: 47,53 Anm·4, 169ff., 192,208-212,226,3° 1, 321,45°; s. Laches Alexander [356-323 v.Chr.J, König von Makedonien: 262, 3 15,345 Anm."·, 349, 357-3 60 , 396; s. Diogenes, Dion Chrysostornos Alexandre, Manuel, Jr.: 284 Anm·43 Amazonen (die), Myth.: 64; s. Herakles Andromache: 387; s. Epiktet [vg1. Homer, !liasJ Antigone: 144; s. Dumezil Antisthenes [4. Jhd. v. ChrJ: 309, 324 Anm.22 Anytos: 117, 122; s. Meletos; Platon, Apologie Apollon: 46,57,112,297, 313ff., 324 Anm. 14,343 f., 376, 386 ; s. Dumezil, Diogenes Laertius Apuleius [Lucius Apuleius, 2. Jhd. v.Chr.]: 362,375 Anm.17 Ariston v. Chios [320-250 v.Chr.]: 283 Anm'34 Aristophanes: 24 Aristoteles: 28,41 Anm. 36, 56, 72-79,82 Anm.24-3 6, 85 f ., 99 Anm.3-6, 105, 127 Anm.8, 129
Bacon, Francis [1909-1992]: 248 Bachtin, Michail [1895-1975J: 24 6, 251 Anm·9 Baudelaire, Charles: 248, 249 Anm."· Beckett, Samuel: 248 Bion von Borysthenes [335-245 v. Chr.]: 314, s. Diogenes Laertius Brandis, Christianus A. [17301764]: 324 Anm. 23 Burnet,John: 133,156 Anm.7 Burroughs, William S.: 248 Caligula [Caius Augustus Germanicus, 12-41 n.Chr.]: 255; s. Seneca Cassian, h1. J ohannes Uoannes Cassianus, -365-435J: 252 Cellini, Benvenuto [15°0-1571]: 246,25 I Anm. I I Chairephon [? -400 v. Chr.]: I I2 H.; s. Platon [Apologie} Cinyras, Sohn des Apollon, Myth.: 184, 189 Anm.22; s. Dion Chrysostomos
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ander; Diogenes Laertius, Dion Chrysostomos, Epiktet, J ulian (der Kaiser) Diomedes von Thrakien, Myth.: 367; s. Dion Chrysostomos, Herakles Dion Cassius [Cassius Dio Cocceianus, -155-235J: 281 Anm.13 Dion Chrysostomos, Dion von Prusa [30-II7 n.Chr.]: 218, 262, 269f., 282 Anm.24, 329, 343, 357 f ., 360, 36 5-3 68 , 377 Dion von Syrakus [408-354 v. Chr]: 88,294; s. Platon Brief] Dionysos, Myth.: 281 Anm.21 Dostojewskij, Fjodor Michailowitsch: 243 Dumezil, Georges: 53 Anm. "", 99, I02, 127, 130ff., 135, 139 ff ., 144f., 14 8ff., 15 8- 16 3
Cumont, Frantz: 139f., 156 Anm.20 Damon: 200, 202; s. Platon [Laches] Defert, Daniel: 7,12,446,457 Anm.29 Demetrius der Kyniker [I. Jhd. n.Chr.]: 19,255-258,272,281 Anm. 9- I 0, 32 3 Anm. I; s. Seneca Demonax [I. Jhd. n.Chr.]: 221 f., 231 Anm. 8, 262 ff., 282 Anm. 23 & 27, 302, 3 10 f., 323 Anm.6; s. Lukian, Stobaeus Demosthenes [384-322 v. Chr.]: 24f., 27, 40 Anm.28-29, 56,60, 62 f., 80 Anm. 4 Dionysios der Ältere [-43°-367 v. Chr.J, Tyrann von Syrakus: 28,89 Dionysios der Jüngere [-367-344 v. Chr.J, Tyrann von Syrakus: 88 ff., 100 Anm. I I, 300 Anm. 12; s. Platon [7. Brief] Descartes, Rene: 187 Anm.6 Diokles [Ende 5. Jhd. n. Chr.]: 323 Anm. I I & 15; s. Diogenes Laertius Diogenes Laertius [3. Jhd. v. Chr.]: 35,41 Anm. 37, 105, 128 Anm. 10, 218f., 224, 27rf., 275, 282 Anm. 32,296, 3 I 1-3 14,324 Anm. 13,329,343 Diogenes der Kyniker [-404-323 v.Chr.J: 24,219,221,224,226, 239f., 262-266, 27rf., 275 f., 282 Anm. 32,285, 296f·, 3093 13, 3 I 5f., 32 3 Anm·7, Anm. 11-14, Anm. 16,329,33 I, 335f~338,340f~343,345,347 Anm. 13, Anm. 19, Anm.21, Anm.23, Anm.26-27, 357-362, 368,376 Anm. 19 & 31, 388f., 396,398,4°0,427, 4F; s. Alex-
Elias: 324 Anm. 23; s. Aristoteles Epiktet [-50-130 n.Chr.]: 19,39 Anm. 15, 218ff., 225, 230 Anm. 3, Anm. 5, Anm. 12,3°1, 327 ff ., 344 Anm. "", 3Ff., 374, 377-393,397-4°6 & Anm. "", 407f., 415 Anm. I Äskulap: 102, 126f., 132, 134, 138 ff., 154; s. Asklepios Eubulides [4· Jhd. v.Chr.]: 324 Anm. 12; s. Diogenes Laertius Euripides [480-4°6 v.Chr.]: 55, 57,62,80 Anm. I, 93, 114, 144f. Eurystheus, Myth. (König von Mykene und Tiryns): 365; s. Dion Chrysostomos, Herakles Evagoras 1. [-411-374 v. Chr.J, König von Salamis: 90 Ewald, Fran<;:ois: 8 Anm. 5, 12, 38 Anm. I
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Faust, Faust [Goethe]: 280,284 Anm·44 Flaubert, Gustave: 248, 249 Anm."· Fontana, Alessandro: 8 Anm. 5, 12 Fronto [Marcus Cornelius Fronto, -100-175 n.Chr.]: 17
Herakleios der Kyniker, Herakleios: 224,231 Anm. 11,261, 3 I 5; s. Julian (der Kaiser) Herakles / Herkules, M yth.: 265f.,274, 276, 365-368, 376 Anm.25 & 31; s. Dion Chrysostornos, Xenophon, Prodikos Heraklit von Ephesos [55°-48o v.Chr.]: 35,4 1 Anm·37,46, 278, 320, 325 Anm. 24; s. Diogenes Laertius Hermippos von Smyrna [3. Jhd. v. Chr.J: 314; s. Diogenes Laertius Hermodoros von Syrakus: 35 f.; s. Diogenes Laertius Hieron [27°-215 v. Chr.J, Tyrann von Syrakus, Hieron: 84f., 99 Anm. 1-3; s. Xenophon Hieronymus, der heilige: 427 Hipparchia: 224; s. Krates Hippias, Hippias der Kleinere: 12 3,174, 18 7 Anm. 14, 290, 299 Anm·4&6 Hippolytos, Hippolytos: 55, 80 Anm. 3; s. Euripides Hock, Ronald E: 284 Anm.43 Hölderlin, Friedrich: 251 Anm.lo Homer: 214,299 Anm.6 [HippiasJ, 387 [EpiktetJ H umbert, J ean: 324 Anm. 23 Hyppolite, Jean: 7
Galen [Claudius Galeanus, 131201 n. Chr.J: 19,21,39 Anm·14 Gehlen, Arnold: 235,237,251 Anm'3 Geryon, Myth.: 367; s. Dion Chrysostomos, Herakles Glucksmann, Andre: 254,280 Anm.8 Goethe, Johann Wolfgang von: 280 Gorgias [-483-380 v. Chr.J, Gorgias: 123,157Anm'37,188, 193,2°5 Anm. 1& Anm. 12, 294,3°0 Anm. 13; s. Platon Gregor von Nazianz [-330-390J, der heilige: 227 f., 232 Anm. 19-20, 2F, 280 Anm. I, 28 5 Gregor von Nyssa [-335-394], der heilige: 427,439 Anm. 18 Gregor 1. der Große, Papst [54°604J, der heilige: 4 I I, 4 I 5 Anm.22 Hadot, Pierre: 39 Anm. I I Hebe, Myth. (Tochter von Zeus und Hera): 366; s. Dion Chrysostomos Hektor, Myth.: 380f.,387; s. Epiktet, Homer [!lias] Heinrich, Klaus: 235,237,251 Anm.2 Helvidius Priscus [gest. 75 n. Chr.]: 257; s. Dion Cassius, Tacitus, Thrasea Paetus
Ion, Myth., Ion: 55,80 Anm. I, 114; s. Euripides Isokrates [436-338 v.Chr.]: 25, 40 Anm. 30,56,58,60,81 Anm.6 & 10, 90f., 100 Anm.I3 Jason: 366,376 Anm.2I; s. Dion Chrysostomos, Herakles Johannes, Apostel: 413,424 Johannes Chrysostomos, der heilige: 425,439 Anm. 16
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Johannes Klimakos, der heilige: 252 Jokaste: 55; s. Euripides [Phoinikerinnen}, Polyneikes Julian [Flavius Claudius Julianus, genannt Julian der Apostat, 331-363 n.Chr.], Kaiser: 218, 224,231 Anm.II, 239, 255, 258, 26of., 264f., 278, 282 Anm. 22 Anm. 29-3°,297,3°2, 311, 314 f ., 323 Anm·7, 324 Anm. 19 & 20
Lagrange, Jacques: 7, 10, 38 Anm.1 Lamartine, Alphonse de Prät deo 132 f.; s. Dumezil Lear, König Lear: 372 Leibniz, Gottfried Wilhelm: 307f. Leon von Salamis: 109f.; s. Platon [Apologie} Lukian von Samosata [-125-192 n. Chr.]: 2 I 8, 220 ff., 231 Anm.6-12, 238, 257ff., 262ff., 268f., 281 Anm. 14-15, 282 Anm.23, 285, 302, 330 Lucilius: 335, 352f., 374 Anm. 1-2, Anm.4, Anm. 7; s. Seneca Lysimachos [-361-281 v.Chr.]: 48,173-179, 18rf., 185, 187 Anm. 17, 190, 197,201,2°3 f.; s. Laches, Melesias, Nikias
Kalais (Sohn des Boreas): 376 Anm. 20; s. Dion Chrysostomos Kallikles: 188,193,205 Anm. 12; s. Platon [Gorgias} Kebes: 13°,132,145, 147f.; s. Platon [Phaidon} Krates von Theben (Schüler von Diogenes): 214,262-266,3°9, 3 II , 3 13, 323 Anm·7, 331, 335, 362 ,375 Anm. 17, 452; s. Apuleius, Diogenes Laertius, Julian (der Kaiser) Kritias [-450-403 v.Chr.], Kritias: 293,296,3°0 Anm. IO Kriton, Kriton: 53 Anm. "", I03, 126, 127 Anm. 5, 130f., 133155,157 Anm.24-3 0, Anm·3 839, 163,448; s. Platon [Apologie, Phaidon} Koch, Hugo: 415 Anm.23 K yros Ir. der Große [-559- 529 v. Chr.]: 86 f., 99 Anm. 7; s. Platon [Gesetze}, Xenophon [Kyropädie}
Mark Aurel [Marcus Aurelius Antoninus, 121-180 n.Chr.]: 17, 383,395 Anm·9 Manet, Edouard [1832-1883]: 248 & Anm. "., 249 Anm. ". Marrow, Stanley: 417,438 Anm.2 Maximus von Tyra [2.Jhd. v.Chr.]: 227f., 252, 285; s. Gregor v. Nazianz Melesias: 48,173-179,182,185, 187 Anm. 17,197; s. Laches, Lysomachos, Nikias Meletos: 117, 122; s. Anytos, Platon [Apologie} Mänaden (die), Myth.: 281 Anm. 21; s. Dumezil Menippos [4. -3.Jhd. v.Chr.]: 282 Anm. 32,314; s. Diogenes Laertius Monimos [gest. 72 v. Chr.]: 3 I 3, 324 Anm. 15; s. Diogenes Laertius Montaigne, Michel deo 3°7,323 Anm.2
Laches [gest. 4 I 8 v. Chr.], Laches: 48,99,158,163,164-185, 188ff., 195ff., 199ff., 206 Anm. 24,207-212,223 f., 321, 364,399; s. Alkibiades, Lysimachos, Nikias, Platon
47 0
135- 138,145- 14 8, 15 Iff ., 155, 156 Anm.2, Anm.6, Anm. 12, 157 Anm·45, 162f., 446f.; s. Platon; s. auch: Dumezil Phaidros, Phaidros: )26; s. Platon Philodem [- IIO-28 v. Chr.]: 21, 41 Anm.20, 347 Anm. 19 PhiIon von Alexandria [-20 v.Chr. -50 n.Chr.]: 417-422, 43 8 Anm. 3-4 & 7 Pierre Riviere: 52 Anm. ". Pindar [-520-434 v. Chr.]: 214 Platon: 17,28,41 Anm.42, 42, 56, 58 f., 70 f., 79, 80 Anm. 4, 86, 88 ff., 100 Anm. 7, Anm. 9, Anm.21, 102, 127 Anm. 1-7, Anm. 29-32, Anm. 37-39, 13 0ff., 135 ff., 14 rf., 144, 149, 156 Anm. 6-9 & Anm. II-17, 157 Anm. 24-)0, Anm.)2, Anm·35, Anm·45, 16rf., 164, 169-172,187 Anm. 12, Anm. 14, Anm. 18, Anm.24, 188,193,2°4,2°5 Anm. 1,234, 248,286,288, 292f., 293 Anm. "·-Anm. "."", 294 und Anm. ''", 295f., 299 Anm·4 & Anm·7, 32 6, )28, 355 f., 361 , 406 Anm. "", 437, 445, 449 f., 459; s. Alkibiades, Apologie, Gastmahl, Kriton, Gorgias, Hippias der Kleinere, Laches, 7- Brief, Gesetze, Phaidon, Phaidros, Staatsmann, Staat, Theaitetos Plutarch [-5°-125 n.Chr.]: 21, 28, 105,128 Anm·9, 275, 283 Anm·4 0 , 375 Anm. 17, 415 Anm.17 Polyneikes: 55; s. Euripides [Phoinikerinnen}, Jokaste Prodikos von Keos [-460-399 v.Chr.]: 123,274,365,375 Anm. 18; s. Platon
Nikias [-47°-413 v.Chr.]: 166f., 173-182, 184f., 189ff., 194f., 199-202, 206 Anm. 24, 209, 223,449; s. Laches, Lysimachos Nikokles [gest. -353 v.Chr.]: 90 f.; s. Isokrates Niehues-Pröbsting, Heinrich: 253,280 Anm.2 Nietzsche, Friedrich: 9 Anm. 7, 10, 133ff., 139, 156 Anm.8 & Anm. 18, 235,253 f., 280 Anm.6,4 14 Nostradamus [Michel de NostreDame, 15°3-1566]: 53 Anm. "", 13of., 16Iff.; s. Dumezil O'Neil, Edward N.: 284 Anm.43 Ödipus: 344 Olympiodoros [5. Jhd. n. Chr.]: 133,156 Anm·9 Origenes [-185-252/4]: 4 12 Parmenides von Elea [-5 I 5-440 v.Chr.]: 235,251 Anm.2, 274, 283 Anm·37 Patocka, J an [19°7- I 977]: 94, 100 Anm. 21, 171 f., 187 Anm.12 Paulus, Apostel: 424,439 Anm.15 Peisistratos [-600-527 v. Chr.]: 86,99 Anm·5-6, 105f., II8, 128 Anm. I I; s. AristoteIes, Diogenes Laertius Peleus, Myth. (Vater des Achilles): 366 Pelops, Myth. (Sohn des Tantalos): 366,376 Anm.23; s. Dion Chrysostomos Peregrinus [Peregrinus Proteus, -95-165 n.Chr.]: 221,238, 257f., 262, 281 Anm.14-15, 3°2,33°; s. Lukian Phaidon, Phaidon: 53 Anm. "", I02f., 126, 127 Anm. 5,133, 47 1
Prometheus, Myth.: 367; s. Dion Chrysostomos Protagoras [-485-420 v.Chr.]: 188, 205 Anm. I; s. Platon
278; s. Aristoteles, Nikias, Plutarch Spinoza [Baruch d'Espinoza]: 307 f ., 323 Anm·3 Stein, Ludwig [I859-I930]: 253, 280 Anm.6 Stesilaos: I 74 f., 179, I 97, 202; s. Platon [Laches} Stobaeus Uean Stabes, Ioannes Stobaios, 5. Jhd. n. Chr.]: 3Io f., 323 Anm.6 & 9
Rhadamanthys: 294 f.; s. Platon [Gorgias} Robert d' Arbrissel [-I04 5-1 I 16J, Gründer des Ordens von Fontevrault: 240 Rohde, Erwin: 94, IOO Anm. 19
Zetes, Sohn des Boreas: 366,376 Anm.2o; s. Dion Chrysostomos; s. auch: Kalais
Xenophon [-43°-355 v. Chr.]: 64, 84,99 Anm. I, 274, 28 3 Anm. 38,284 Anm·42, 36 5, 375 Anm. 18; Pseudo-Xenophon: 74f., 8I Anm. I5, 82 Anm. I620 & 22
Tacitus [c. Cornelius Tacitus, 5. Jhd. n. Chr.J: 258, 28 I Anm.I3 & I7 Tantalos, Myth., Sohn von Zeus und Pluto: 376 Anm.23 Theaitetos: 296, 300 Anm. 20; s. Platon Theodor von Pherme [Abt, 303374 n. Chr.]: 4IO Theophrast [-372-287 v.Chr.J: 347 Anm. 26; s. Diogenes Laertius Thrasea Paetus: 19, 257f.; s. Tacitus Thrasymachos: I88, 205 Anm. I; s. Platon, [Staat} Til!ich, Paul: 234f., 237, 251 Anm.I
Schlegel, Friedrich: 253 Schlier, Heinrich: 417,438 Anm.I Seneca [Lucius Annaeus Seneca, -Iv.Chr.-65n.Chr.]: 16f., 2I, 39 Anm. 19, 255 f., 272f., 281 Anm·9-12, 30I, 323 Anm. I, 327 ff., 333-33 6, 344, 347 Anm. 12, 35 1-354, 35 6, 361 f., 372 Anm. 1-9 Shakyamuni: I}2, 156 Anm.4; s. Dumezil Simmias: 145, 147f.; s. Platon [Phaidon} Simonides: 84; s. Xenophon[Hieron} Sloterdijk, Peter: 236, 25 I Anm·4 Snel!, Bruno: 94, IOO Anm. 20 Sokrates: 36, 4I Anm.42, 46ff., 53 Anm. "", 59,60,99, IOI- I27, I27 Anm. 1-2, Anm. I7-20, I3I-I55, I58, I62- 167, 173, I80-I86, I88-204, 205 Anm. I, Anm. 12, 208 H., 214f., 22I H., 225,243,283 Anm.38, 284 Anm·42, 29I, 294f., 296f·, 3I2, 315,3 20 ,333,335,337,339, 347 Anm. I3, 363 f., 382, 386, 399,427,440,445-449,451 H. Solon, Gesetzgeber Athens [592 v.Chr. -?J, Solon: I05f., II2, 1I8, 128 Anm. 9, 19 I, 194, I96,
Vasari, Giorgio [I 51 I-I 574J: 246f., 25 I Anm. IO Veyne, Paul: 160 Westerink, Leendert G.: I56 Anm·9 Wieland, Christoph Martin [I733- I8I 3J: 253 Wilamowitz-Moel!endorH, Ulrich von [I848-193I]: 139f., I56Anm.I8-19 Xeniades: 27I; s. Diogenes Laertius, Diogenes der Kyniker 47 2
473
Ausführliches Inhaltsverzeichnis
Vorwort Vorlesung I (Sitzung vom
7
I.
Februar 1984, erste Stunde)
13
Erkenntnistheoretische Strukturen und Formen der Alethurgie. Genealogie der Untersuchung der parrhesia: die Praktiken des Wahrsprechens in bezug auf die eigene Person. - Der Lehrmeister im Horizont der Sorge um sich. - Seine Haupteigenschaft: die parrhesia. - Strukturelle Merkmale: Wahrheit, Engagement und Risiko. - Der parrhesiastische Pakt. - Parrhesia versus Rhetorik. - Die parrhesia als eigentliche Modalität des Wahrsprechens. - Kontrastierende Untersuchung zweier anderer Formen des Wahrsprechens in der antiken Kultur: Prophezeiung und Weisheit. - Heraklit und Sokrates.
Vorlesung I (Sitzung vom
1.
Februar 1984, zweite Stunde)
42
Das Wahrsprechen des Fachmanns. - Gegenstand des parrhesiastischen Wahrsprechens: das ethos. - Die Zusammensetzung der vier Arten des Wahrsprechens bei Sokrates. - Das philosophische Wahrsprechen als Verbindung der Funktionen der Weisheit und der parrhesia. - Die Predigt und die Universität im Mittelalter. - Eine neue Kombinatorik der Arten des Wahrsprechens. - Die Neuordnung der vier Weisen der Veridiktion in der Moderne.
Vorlesung 2 (Sitzung vom 8. Februar 1984, erste Stunde) Die euripideische parrhesia: ein Privileg des hochgeborenen Bürgers. - Kritik der demokratischen parrhesia: schädlich für den Staat, gefährlich für den, der sie ausübt. - Sokrates' politische Zurückhaltung. - Demosthenes' Erpressung/Herausforderung. - Die Unmöglichkeit einer ethischen Differenzierung in der Demokratie: das Beispiel des Staats der Athener. - Vier Prinzipien des griechischen politischen Denkens. - Die platonische Wende. - Das aristotelische Zögern. - Das Problem des Scherbengerichts.
475
54
Vorlesung 2 (Sitzung vom 8. Februar 1984, zweite Stunde)
83
Die Wahrheit und der Tyrann. - Das Beispiel Hierons. - Das Beispiel Peisistratos'. - Die psyche als Ort der ethischen Differenzierung. - Rückkehr zu Platons VII. Brief -Isokrates wendet sich an Nikokles. - Die Wandlung einer demokratischen parrhesia zu einer autokratischen parrhesia. - Die Eigentümlichkeit des philosophischen Diskurses.
Vorlesung 3 (Sitzung vom 15. Februar 1984, erste Stunde)
Vorlesung 4 (Sitzung vom 22. Februar 1984, zweite Stunde)
101
Vorlesung 5 (Sitzung vom 29. Februar 1984, erste Stunde)
13°
Vorlesung 5 (Sitzung vom 29. Februar 1984, zweite Stunde) Vermutungen zur Nachkommenschaft des Kynismus. - Die religiöse Nachkommenschaft: die christliche Askese. - Die politische Nachkommenschaft: die Revolution als Lebensstil. - Die ästhetische Nachkommenschaft: die moderne Kunst. - Der Antiplatonismus und Antiaristotelismus der modernen Kunst.
Vorlesung 4 (Sitzung vom 22. Februar 1984, erste Stunde)
Vorlesung 6 (Sitzung vom 7. März 1984, erste Stunde)
476
2°7
Der Zirkel der Wahrheit und der Tapferkeit. - Vergleich zwischen dem Alkibiades und dem Laches. - Metaphysik der Seele und Ästhetik der Existenz. - Das wahre und das schöne Leben. - Der Zusammenhang zwischen Wahrsprechen und Lebensweise im Kynismus. - Die parrhesia als Hauptmerkmal des Kynikers: Texte von Epiktet, Diogenes Laertius und Lukian. - Bestimmung der Beziehung zwischen Wahrsprechen und Lebensweise: instrumentelle Funktion, Reduktionsfunktion, Beweisfunktion. - Das Leben als Theater der Wahrheit.
Sokrates' letzte Worte. - Die großen klassischen Interpretationen. Dumezils Unbehagen. - Das Leben ist keine Krankheit. - Die Lösungen von Wilamowitz und Cumont. - Kriton, geheilt von der vorherrschenden Meinung. - Die falsche Meinung als Krankheit der Seele. - Die Einwände von Kebes und Simmias gegen die Unsterblichkeit der Seele. - Die Solidarität der Seelen im Diskurs. - Rückkehr zur Sorge um sich selbst. - Sokrates' Vermächtnis.
Etymologische Untersuchungen rund um die epimeleia. - Dumezils Methode und ihre Ausweitung. - Platons Laches: die Gründe der Wahl. - Der Pakt des Freimuts. - Das Problem der Kindererziehung. - Die gegensätzlichen Urteile von Nikias und Laches über die Vorführung von Waffen. - Die Frage nach der technischen Kompe-
188
Sokrates und die vollständige und kontinuierliche Selbstprüfung. Der bias als Gegenstand der sokratischen parrhesia. - Der Einklang von Reden und Handlungen. - Die Schlußfolgerungen des Dialogs: die schließliehe Unterwerfung unter den logos.
Die Gefahr der Selbstvergessenheit. -Sokrates' Ablehnung des politischen Engagements. - Solon bei Peisistratos. - Sokrates' Dämon. Die Lebensgefahr: Geschichte der Generäle der Schlacht bei den Arginusen und Leons von Salamis. - Das Delphische Orakel. - Sokrates' Antwort auf das Orakel: die Prüfung und die Untersuchung. Ziel der Mission: die Sorge der Menschen um sich selbst. - Nichtreduzierbarkeit der sokratischen Veridiktion. - Auftauchen einer ethischen parrhesia im eigentlichen Sinne. - Der Zyklus von Sokrates' Tod als ethische Begründung der Sorge um sich selbst.
Vorlesung 3 (Sitzung vom 15. Februar 1984, zweite Stunde)
tenz im sokratischen Sinne. - Sokrates' Umkehrung des dialektischen Spiels.
15 8
Bibliographische Hinweise. - Zwei gegensätzliche kynische Persönlichkeiten: Demetrius und Peregrinus. - Zwei gegensätzliche Darstellungen des Kynismus: als Schwindel oder als Universale der Philosophie. - Die Beschränktheit der Lehre und die gesellschaftliche Ausbreitung des Kynismus. - Die kynische Lehre als Rüstzeug für
477
233
25 2
das Leben. - Das Thema der beiden Wege. - Überlieferung der Lehre und Überlieferung der Lebensweise. - Das philosophische Heldentum. - Goethes Faust.
Vorlesung 6 (Sitzung vom 7. März I984, zweite Stunde)
reiche und vorbildliche Weise. - Das Thema des Philosophenkönigs. - Die kynische Wandlung: das Aufeinandertreffen von Diogenes und Alexander. - Lobrede auf Herakles. - Die Idee des philosophischen Aktivismus. - Der König des Spotts. Der verborgene König.
28 5
Das Problem des wahren Lebens. - Die vier Bedeutungen von Wahrheit: ohne Verschleierung; ohne Vermischung; geradlinig; unwandelbar. - Die vier Bedeutungen der wahren Liebe bei Platon. Die vier Bedeutungen des wahren Lebens bei Platon. - Diogenes' Motto: "Präge die gangbare Münze um."
Vorlesung 7 (Sitzung vom I4. März I984, erste Stunde)
30I Vorlesung 9 (Sitzung vom 28. März I984, erste Stunde)
Die kynische Umkehrung des wahren Lebens in das andere Leben. - Das souveräne Leben im traditionellen Verständnis: der hilf-
47 8
39 6
Die beiden Aspekte des kynischen Lebens als souveränen Lebens: Glückseligkeit und Manifestation der Wahrheit. - Die Selbsterkenntnis als Maß, Wachsamkeit und Prüfung. Die Verwandlung des Selbst und der Welt. - Übergang zur christlichen Askese: Ähnlichkeiten. - Unterschiede: das Jenseits und das Prinzip des Gehorsams.
}26
Das unverborgene Leben: die stoische Version und die kynische Umwertung. - Das unvermischte Leben in seiner traditionellen Interpretation: Unabhängigkeit und Reinheit. - Die kynische Armut: wirklich, aktiv, unbestimmt. - Die Suche nach Entehrung. - Kynische Demütigung und christliche Demut. - Die kynische Wende des geradlinigen Lebens. Der Skandal der Tiernatur.
Vorlesung 8 (Sitzung vom 2r. März I984, erste Stunde)
377
Lektüre von Epiktets Buch über das kynische Leben (lU, 22). - Die stoischen Elemente des Porträts. Das philosophische Leben: von der überlegten Wahl zur göttlichen Berufung. - Die asketische Praxis als Prüfung. - Ethische Elemente des kynischen Auftrags: Ausdauer, Wachsamkeit, Prüfung. - Die Verantwortung der Menschheit. - Die Regierung der Welt.
Das kynische Paradox oder der Kynismus als skandalöse Banalität der Philosophie. - Der Eklektizismus mit umgekehrter Wirkung. Die drei Formen des Mutes zur Wahrheit. - Das Problem des philosophischen Lebens. - Traditionelle Bestandteile des philosophischen Lebens: das Gerüst des Lebens; die Sorge um sich selbst; die niitzlichen Erkenntnisse; das konforme Leben. - Interpretationen der kynischen Devise: Präge die Münze um. -Die Bestimmung »Hund«.Die beiden Entwicklungslinien des wahren Lebens: Alkibiades oder Laches.
Vorlesung 7 (Sitzung vom I4. März I984, zweite Stunde)
Vorlesung 8 (Sitzung vom 2r. März I984, zweite Stunde)
Vorlesung 9 (Sitzung vom 28. März I984, zweite Stunde)
4I 7
Die Verwendung des Begriffs parrhesia in den ersten vorchristlichen Texten: menschliche und göttliche Modalitäten. - Die parrhesia im Neuen Testament: vertrauender Glaube und Öffnung des Herzens. - Die parrhesia bei den Kirchenvätern: die Unverschämtheit. - Entwicklung eines anti-parrhesiastischen Pols: die argwöhnische Selbsterkenntnis. - Die Wahrheit des Lebens als Bedingung für den Zugang zu einer anderen Welt.
349
Frederic Gros, Situierung der Vorlesungen
44°
Literaturverzeichnis ................ .
4 6I
Namenregister ........................ .
467