Anne Holt
Die Präsidentin
s&p 04/2007
»Wir haben sie. Wir werden uns melden.« – Bis auf diese vernichtende Notiz hat ...
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Anne Holt
Die Präsidentin
s&p 04/2007
»Wir haben sie. Wir werden uns melden.« – Bis auf diese vernichtende Notiz hat Kommissar Yngvar Stubø nichts, auf das er sich stützen könnte: Die amerikanische Präsidentin hält sich zum Staatsbesuch in Norwegen auf. Nun ist sie entführt worden. Politischer Terror oder private Hintergründe? Stubø bleibt wenig Zeit, das herauszufinden – unerwartet aber kommt ihm Hanne Wilhelmsen zu Hilfe. ISBN: 978-3-492-04692-3 Original: Presidentens valg (2006) Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs Verlag: Piper Nordiska Erscheinungsjahr: 2007
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Es ist der Morgen des 17. Mai. norwegischer Nationalfeiertag. Helen Lahrdal Bentley, die amerikanische Präsidentin, macht ihren ersten Staatsbesuch in dem Land, aus dem ihre Vorfahren stammen. Als sie zum Empfang auf dem Osloer Schloß abgeholt werden soll, ist ihre Suite leer. Niemand hat die Räume betreten oder verlassen – und doch ist Helen Bentley verschwunden. Yngvar Stubø wird mit dem hochbrisanten Fall betraut, aber die amerikanischen Sicherheitskräfte stellen ihm ihren Experten Warren Scifford zur Seite, ausgerechnet ihn, den eine ungeklärte Vergangenheit mit Stubøs Frau Inger Johanne verbindet. Scifford spielt ein undurchsichtiges Spiel und scheint nicht unbedingt auf Kooperation aus zu sein. Und auch die Weste der Präsidentin ist nicht blütenweiß: Warum wollte sie keine Sicherheitskameras in ihrer Hotelsuite? Und wie eng ist die alte Beziehung zu ihrem Studienfreund Al Muffet? Eine brisante politische Entführung, ein dramatischer privater Konflikt und ein rasantes Tempo − Anne Holt beschert Kommissar Yngvar Stubø einen schwierigen Partner und Ermittlungen von internationaler Tragweite. Doch Hilfe erwartet ihn von unerwarteter Seite: Hanne Wilhelmsen.
Autor
Anne Holt, geboren 1958 in Larvik, wuchs in Norwegen und den USA auf. Nach ihrer Arbeit als Rechtsanwältin und einer Episode als norwegische Justizministerin lebt sie heute als freie Autorin und Medienberaterin in Oslo. Mit ihren Kriminalromanen gehört sie zu den wenigen skandinavischen Autoren, deren Bücher weltweit gelesen werden. Auf deutsch erscheinen ihre Romane im Piper Verlag.
Für Amalie Farmen Holt meine Waffenträgerin meinen kleinen Augenstern, der jetzt schon groß wird
DONNERSTAG, 20. JANUAR 2005
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1 I got away with it. Bei diesem Gedanken zögerte sie für einen Moment. Der alte Mann vor ihr runzelte die Stirn. Sein von Krankheit verwüstetes Gesicht hatte in der Januarkälte schon eine bläuliche Färbung angenommen. Helen Lardahl Bentley schnappte nach Luft und wiederholte endlich die Worte, die der Mann verlangte: »I do solemnly swear …« Der Text in der über hundert Jahre alten, in Leder gebundenen Bibel war von drei Generationen tief religiöser Lardahls bis zur Unleserlichkeit abgenutzt worden. Gut versteckt hinter der lutherischen Fassade amerikanischen Erfolgs war Helen Lardahl Bentley selbst jedoch eine Zweiflerin. Deshalb zog sie es vor, beim Schwur ihre rechte Hand auf etwas zu legen, woran sie auf jeden Fall voll und ganz glaubte: ihre eigene Familiengeschichte. »… that I will faithfully execute …« Sie versuchte, den Blick des Mannes festzuhalten. Sie wollte den Chief Justice anstarren, so wie alle sie anstarrten, die riesige Menschenmenge, die unter der Wintersonne fröstelte, und die Demonstranten, die zu weit weg standen, um auf dem Podium gehört zu werden, aber von denen sie wußte, daß sie TRAITOR, TRAITOR riefen, rhythmisch und aggressiv, bis die Rufe hinter den Stahltüren der an diesem Morgen von der Polizei aufgefahrenen Sonderfahrzeuge verhallten. »… the office of President of the United States …« Die Augen der ganzen Welt ruhten auf Helen Lardahl Bentley. Alle blickten jetzt auf sie, voll Haß oder Bewunderung, voll Neugier oder Skepsis, oder vielleicht auch, in einigen der friedlichsten Winkel der Welt, mit purer Gleichgültigkeit. Im 6
Kreuzfeuer mehrerer hundert Fernsehkameras war sie für diese ewig langen Minuten der Mittelpunkt der Welt, und sie durfte nicht, wollte nicht an dieses eine denken. Nicht jetzt, und dann nie mehr. Sie preßte die Hand fester auf die Bibel und hob das Kinn ein wenig. »… and will, to the best of my ability, preserve, protect and defend the Constitution of the United States.« Von der Menge stieg Jubel auf. Die Demonstranten waren fortgeschafft worden. Die Menschen auf der Ehrentribüne lächelten ihr Glückwünsche zu, die einen warm, die anderen zurückhaltend. Freunde und Kritiker, Kollegen, Verwandte und der eine oder andere Feind, der ihr niemals wohlgesonnen gewesen war, alle formten sie diese Floskel mit den Lippen, lautlos oder munter und lärmend: »Herzlichen Glückwunsch!« Abermals ahnte sie den Hauch von Angst, den sie mehr als zwanzig Jahre lang unterdrückt hatte. Und hier und jetzt, nach nur wenigen Sekunden in ihrem neuen Amt als 44. Präsident und erste Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika, straffte Helen Lardahl Bentley die Schultern, fuhr sich energisch mit der Hand übers Haar, schaute hinaus über die Menschenmenge und faßte ein für allemal ihren Entschluß: I got away with it. It’s time I finally forgot.
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2 Die Gemälde waren durchaus nicht schön. Vor allem bei dem einen hatte er seine Zweifel. Es machte ihn seekrank. Als er sich tief über die Leinwand beugte, sah er, daß die wogenden gelborangen Streifen zu einer Unendlichkeit von winzigen Rissen geborsten waren, wie Kamelkot unter sengender Sonne. Er fühlte sich versucht, mit den Fingern über den grotesk klaffenden Schlund des Hauptmotivs zu fahren. Aber er ließ es sein. Das Bild war vom Transport ohnehin schon beschädigt. Das Geländer rechts neben der entsetzten Gestalt ragte jetzt in den Raum hinaus, mit traurigen Leinwandfasern an seinem Ende. Es war ausgeschlossen, diesen Riß reparieren zu lassen. Dazu wäre ganz besondere Erfahrung vonnöten. Wenn die berühmten Gemälde jetzt in einem von Abdallah al-Rahmans eher bescheidenen Palästen am Stadtrand von Riad hingen, dann lag das mehr als an allem anderen daran, daß er wenn irgend möglich einen Bogen um die Fachleute machte. Er schwor auf schlichtes Handwerk. Er hatte noch nie eingesehen, warum mau zu einer Motorsäge greifen sollte, wenn auch ein Messer gute Arbeit leistete. Auf dem Weg von einem ungesicherten Museum in der norwegischen Hauptstadt in eine fensterlose Turnhalle in Saudi-Arabien wurden die Bilder von Kleinkriminellen transportiert, die keine Ahnung hatten, wer er war, und die aller Wahrscheinlichkeit nach in ihren Heimatländern im Gefängnis landen würden, ohne jemals plausibel erklären zu können, was eigentlich aus den Gemälden geworden war. Die Frauengestalt gefiel Abdallah al-Rahman schon besser. Aber auch sie hatte etwas Abstoßendes. Noch nach über sechzehn Jahren im Westen, von denen er zehn an angesehenen Schulen in England und den USA verbracht hatte, ekelten ihn 8
die nackten Brüste und die vulgäre Art an, in der die Frau sich darbot, gleichgültig und verludert zugleich. Er wandte sich ab. Er war nackt, abgesehen von einer weiten, schneeweißen kurzen Hose. Barfuß stieg er nun wieder auf die Tretmühle. Er griff nach der Fernbedienung. Das Laufband wurde schneller. Aus den Lautsprechern um den riesigen Fernsehschirm an der gegenüberliegenden Wand drangen Geräusche. »… protect and defend the Constitution of the United States.« Es war schwer zu verstehen. Als Helen Lardahl Bentley noch Senatorin gewesen war, hatte der Mut dieser Frau ihn beeindruckt. Nachdem sie das Elitecollege Vassar als Drittbeste ihres Jahrgangs beendet hatte, war die kurzsichtige, mollige Helen Lardahl sofort nach Harvard weitergeeilt und hatte dort promoviert. An ihrem vierzigsten Geburtstag war sie bereits gut verheiratet und darüber hinaus Teilhaberin der sechstgrößten Anwaltskanzlei der USA, was allein schon für außergewöhnliche Kompetenz und eine solide Portion Zynismus und Schläue bürgte. Außerdem war sie jetzt schlank, blond und brillenlos. Was ja auch ziemlich clever von ihr war. Aber für die Präsidentschaft zu kandidieren, war die pure Hybris. Jetzt war sie gewählt, vereidigt und in ihr Amt eingeführt worden. Abdallah al-Rahman lächelte, als er mit einem Tastendruck die Geschwindigkeit des Laufbandes steigerte. Die harte Haut unter seinen Fußsohlen brannte auf dem Gummibelag. Dann erhöhte er das Tempo ein weiteres Mal, bis an seine eigene Schmerzgrenze. »It’s unbelievable«, stöhnte er in fließendem Englisch, in der Gewißheit, daß niemand auf der ganzen Welt ihn durch meterdicke Wände und eine dreifach isolierte Tür hören konnte. »She actually thinks she got away with it!« 9
3 »Ein großer Moment«, sagte Inger Johanne Vik und faltete die Hände, als halte sie es für angemessen, für die neue Präsidentin der USA ein Gebet zu sprechen. Die Frau im Rollstuhl lächelte, sagte aber nichts. »Niemand kann behaupten, es ginge nicht voran mit der Welt«, fügte Inger Johanne hinzu. »Nach dreiundvierzig Männern hintereinander … eine Präsidentin!« »… the office of President of the United States …« »Du mußt doch zugeben, daß das großartig ist«, beharrte Inger Johanne und richtete ihren Blick wieder auf den Fernsehschirm. »Ich meine, ich dachte wirklich, daß sie eher einen Afroamerikaner nehmen würden als eine Frau.« »Nächstes Mal nehmen sie Condoleeza Rice«, sagte die andere. »Zwei Fliegen mit einer Klappe.« Nicht, daß das ein erwähnenswerter Fortschritt wäre, dachte sie. Weiß, gelb, schwarz oder rot, Mann oder Frau, der Posten des US-Präsidenten war ein Job für Kerle, unabhängig von Hautpigmentierung oder Geschlechtsorganen. »Nicht das Weibliche an Bentley hat sie dahin gebracht, wo sie jetzt ist«, sagte sie langsam, fast gleichgültig. »Und erst recht nicht das Schwarze an Rice. In vier Jahren treffen sie aufeinander. Und das wird dann weder sonderlich minderheitenfreundlich noch feminin vor sich gehen.« »Das wäre aber wirklich …« »Nicht Weiblichkeit oder Sklavenabstammung sind das Beeindruckende an diesen Damen. Sie nutzen es natürlich nach Strich und Faden aus. Aber das eigentlich Imponierende ist …« Sie schnitt eine Grimasse und versuchte, sich im Rollstuhl 10
aufzusetzen. »Stimmt was nicht?« fragte Inger Johanne. »Doch, doch. Das Imponierende ist …« Sie stemmte sich von den Armlehnen hoch und konnte ihren Körper ein wenig näher an die Rückenlehne bringen. Dann strich sie zerstreut den Pullover über ihrer Brust glatt. »… daß sie sich schon so verdammt früh entschieden haben müssen«, fügte sie endlich hinzu. »Was meinst du?« »So hart zu arbeiten. So tüchtig zu sein. Niemals einen Fehler zu machen. Patzer zu vermeiden. Niemals, niemals mit heruntergelassener Hose erwischt zu werden. Eigentlich ist es ganz und gar unbegreiflich.« »Aber sie haben doch immer etwas … irgend etwas … sogar der tiefreligiöse George W. hatte doch …« Die Frau im Rollstuhl lächelte plötzlich und drehte ihr Gesicht zur Zimmertür. Ein Mädchen von etwa anderthalb Jahren schaute schuldbewußt durch den Türspalt. Die Frau streckte eine Hand aus. »Komm her, Herzchen. Du solltest doch schlafen.« »Kann sie denn allein aus dem Gitterbettchen klettern?« fragte Inger Johanne skeptisch. »Du darfst in unserem Bett schlafen. Komm her, Ida.« Das Kind stapfte durch das Zimmer und ließ sich auf den Schoß nehmen. Die Haare fielen in kohlschwarzen Locken über die Apfelbäckchen, aber die Augen waren eisblau und hatten einen markanten schwarzen Ring um die Iris. Die Kleine lächelte die Besucherin, die sie offenbar kannte, vorsichtig an und setzte sich besser zurecht. »Komischerweise sieht sie dir ähnlich«, sagte Inger Johanne, beugte sich vor und streichelte die Patschhändchen der Kleinen. 11
»Nur die Augen«, sagte die andere. »Die Farbe. Die Leute lassen sich immer von Farben täuschen. Von den Augen.« Wieder schwiegen die beiden Frauen. In Washington DC zeichnete der Atem der Menschen sich im grellen Januarlicht ab wie grauer Dampf. Man half dem Chief Justice, sich zurückzuziehen, sein Rücken erinnerte an den eines Zauberers, als er vorsichtig ins Haus geführt wurde. Die frischgewählte Präsidentin war barhäuptig, sie lächelte breit, als sie ihren blaßrosa Mantel enger um sich zusammenzog. Vor den Fenstern in der Osloer Kruses gate wurde die abendliche Dunkelheit dichter, die Straßen waren schneefrei und feucht. Eine seltsame Gestalt betrat jetzt das große Wohnzimmer. Sie zog das eine Bein heftig nach, wie die Karikatur einer Schurkin in einem alten Film. Ihre Haare waren trocken und dünn und standen nach allen Seiten ab. Die Waden ragten unter ihrer Schürze hervor wie Bleistiftstriche aus zwei schottischkarierten Pantoffeln. »Dieses Kind hätt’ schon längst ins Bett gehört«, schalt sie, ohne die Besucherin zu begrüßen. »So wird das hier im Haus nie was. Die gehört in ihr eigenes Bett, das hab ich schon ’ne Million mal gesagt. Komm jetzt, meine Prinzessin.« Ohne auf eine Reaktion der Frau im Rollstuhl oder der Kleinen zu warten, packte sie das Kind, setzte es rittlings auf ihre wehe Hüfte und humpelte dahin zurück, woher sie gekommen war. »Ich wünschte, ich hätte auch so ein Faktotum«, seufzte Inger Johanne. »Das hat auch seine Nachteile.« Wieder kehrte Schweigen ein. CNN wechselte zwischen verschiedenen Kommentatoren hin und her, versetzt mit Filmclips von der Tribüne, wo die versammelte politische Elite jetzt langsam vor der Kälte kapitulierte und sich zurückzuziehen 12
begann, um die großartigste Amtseinführung zu feiern, die die Hauptstadt der USA jemals gesehen hatte. Die Demokraten sahen ihre drei Ziele verwirklicht. Sie hatten einen zur Wiederwahl angetretenen Präsidenten geschlagen, was an sich schon eine Leistung darstellte. Sie hatten mit größerem Vorsprung gewonnen, als irgend jemand zu hoffen gewagt hatte. Und sie hatten mit einer Frau an der Spitze gesiegt. Nichts von alledem würde unbemerkt bleiben. Über den Fernsehschirm flimmerten Bilder von Hollywoodstars, die alle entweder bereits in der Stadt waren oder im Laufe des Nachmittags erwartet wurden. Das ganze Wochenende lang würde die Stadt von Feierlichkeiten und Feuerwerk geprägt sein. Madam President würde eine Gesellschaft nach der anderen besuchen, würde sich huldigen lassen, endlos viele Danksagungen an ihre Helfer vorbringen und sich vermutlich zwischendurch immer wieder umziehen. Und mittendrin würde sie die, die es verdient hatten, mit Posten und Ämtern belohnen, würde Wahlkampfeinsatz und Geldspenden bewerten, würde Loyalität abwägen und Tüchtigkeit messen, würde viele enttäuschen und wenige glücklich machen, so wie es dreiundvierzig Männer vor ihr während der knapp 230jährigen Existenz der Nation getan hatten. »Kann man nach so etwas schlafen?« »Bitte?« »Glaubst du, sie kann heute nacht schlafen?« fragte Inger Johanne. »Du bist ja lustig«, erwiderte die andere Frau lächelnd. »Natürlich kann sie schlafen. Du kommst nicht dahin, wo sie jetzt ist, wenn du nicht schlafen kannst. Sie ist eine Kriegerin, Inger Johanne. Laß dich von ihrer zarten Gestalt und den Frauenkleidern nicht täuschen.« Von irgendwo weiter hinten in der Wohnung war ein Wiegenlied zu hören, als die Frau im Rollstuhl den Fernseher 13
ausschaltete. »Ai-ai-ai-ai-BOFF-BOFF.« Inger Johanne lachte leise. »Meinen Kindern würde das eine Höllenangst einjagen.« Die andere rollte zum Couchtisch und griff nach einer Kaffeetasse. Nippte daran, rümpfte die Nase und stellte die Tasse wieder ab. »Ich muß machen, daß ich nach Hause komme«, sagte Inger Johanne in leicht fragendem Tonfall. »Ja«, sagte die andere. »Das mußt du wohl.« »Dann danke ich dir für deine Hilfe. Für all die Hilfe in diesen Monaten.« »Das war doch wirklich nicht sehr viel.« Inger Johanne Vik rieb sich kurz das Kreuz, dann schob sie ihre ungebärdigen Haare hinter die Ohren und rückte mit schmalem Zeigefinger ihre Brille gerade. »Doch«, sagte sie. »Ich glaube, du mußt ganz einfach lernen, damit zu leben. Daran, daß es sie gibt, läßt sich ja nichts ändern.« »Sie hat meine Kinder bedroht. Sie ist gefährlich. Daß ich mit dir sprechen konnte, daß du mich ernstgenommen hast, mir geglaubt hast … das hat es immerhin leichter gemacht.« »Es ist fast ein Jahr her«, sagte die Frau im Rollstuhl. »Wirklich ernst war die Sache im vorigen Jahr. Aber das jetzt im Winter … ich bin einfach überzeugt davon, daß sie … sich über dich lustig macht.« »Sich über mich lustig macht?« »Sie stachelt deine Neugier an. Du bist ein zutiefst neugieriger Mensch, Inger Johanne. Deshalb bist du Wissenschaftlerin. Deine Neugier führt dich in Ermittlungen, mit denen du eigentlich gar nichts zu tun haben willst, und sie zwingt dich 14
dazu, um jeden Preis herausfinden zu müssen, was diese Frau von dir will. Es war deine Neugier, die … dich hierher zu mir geführt hat. Und es ist …« »Ich muß los«, fiel Inger Johanne ihr ins Wort. Ihr Mund verzog sich zu einem raschen Lächeln. »Es hat keinen Sinn, das alles noch einmal durchzugehen. Aber jedenfalls vielen Dank. Ich finde selbst hinaus.« Einen Moment lang blieb sie stehen. Ihr fiel auf, wie schön die Gelähmte war. Sie war schlank, fast schon dünn. Ihr Gesicht war oval und ihre Augen waren so auffällig wie die des Kindes: eisblau, fast farblos klar, mit einem breiten kohlschwarzen Ring um die Iris. Der Mund war wohlgeformt mit einem markanten Amorbogen, umgeben von winzigen schönen Fältchen, die zeigten, daß sie jedenfalls schon einiges über vierzig war. Sie war exklusiv gekleidet, in einen hellblauen Kaschmirpullover mit V-Ausschnitt und Jeans, die vermutlich nicht in Norwegen gekauft worden waren. In ihrer Halsgrube lag ein einzelner großer Diamant. »Du siehst so gut aus, wollte ich noch sagen.« Die Frau lächelte zaghaft, fast verlegen. »Wir sehen uns sicher bald«, sagte sie und rollte mit ihrem Stuhl zum Fenster, wo sie mit dem Rücken zu ihrem Gast schweigend sitzen blieb.
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4 Der Schnee lag knietief über den weiten Feldern. Es fror jetzt schon lange. Die nackten Bäume im Wäldchen waren vom Eis glasiert. Die Schneeschuhe brachen immer wieder durch die verharschte Schneedecke, und einen Moment lang hätte er fast das Gleichgewicht verloren. Al Muffet blieb stehen und rang nach Luft. Die Sonne ging jetzt hinter den Hügeln im Westen unter. Nur ab und zu zerriß ein Vogelschrei die Stille. Der Schnee glitzerte im rotgoldenen Abendlicht. Der Mann mit den Schneeschuhen folgte mit seinen Blicken einem Hasen, der aus dem Dickicht sprang und im Zickzack zum Bach auf der anderen Seite des Feldes lief. Al Muffet atmete so tief durch, wie er nur konnte. Er hatte nie daran gezweifelt, daß er das Richtige getan hatte. Als seine Frau starb und er mit drei Töchtern von acht, elf und sechzehn Jahren allein zurückblieb, hatte er nur wenige Wochen gebraucht, um zu begreifen, daß die Karriere an einer der Prestigeuniversitäten in Chicago sich ganz einfach nicht mit der alleinigen Verantwortung für Kinder vereinbaren ließ und daß seine finanzielle Situation es ihm außerdem nahelegte, mit den Kindern so schnell wie möglich an einen ruhigen ländlichen Ort überzusiedeln. Drei Wochen und zwei Tage, nachdem die Familie ihr neues Zuhause an der Rural Route 4 in Farmington, Maine, bezogen hatte, flogen zwei Passagierflugzeuge in jeweils einen Turm in Manhattan. Gleich darauf donnerte ein drittes ins Pentagon. Am selben Abend schloß Al Muffet seine Augen zu einem stillen Dank für seine Umsicht: Schon als Student hatte er seinen ursprünglichen Namen abgelegt, Ali Shaeed Muffasa. Seine Kinder hatten so vernünftige Namen wie Sheryl, Catherine und 16
Louise, und zu allem Glück hatten sie die Stupsnase und die blonden Haare ihrer Mutter geerbt. Jetzt, etwas mehr als drei Jahre danach, verging kaum ein Tag, ohne daß er sich über seine ländliche Umgebung gefreut hätte. Die Kinder blühten auf, und er selbst hatte bemerkenswert schnell wieder Freude an der praktischen Arbeit gefunden. Seine Patienten waren abwechselnd kleine Tiere und großes Nutzvieh; kränkelnde Wellensittiche, trächtige Hündinnen und ab und zu ein bösartiger Stier, der eine Kugel vor den Kopf brauchte. Jeden Donnerstag spielte er Schach im Club. Samstag war sein fester Kinotag mit den Kindern. Das Programm an den Montagabenden bestand in der Regel aus zwei Runden Squash mit dem Nachbarn, der in seiner Scheune eine Bahn eingerichtet hatte. Die Tage folgten einander in einem stetigen Strom aus zufriedener Monotonie. Nur an den Sonntagen unterschied Familie Muffet sich von den meisten anderen Bewohnern der Kleinstadt. Sie gingen nicht in die Kirche. Al Muffet hatte schon längst den Kontakt zu Allah verloren, und er hatte nicht vor, sich einen anderen Gott zuzulegen. Anfangs hatte es Reaktionen darauf gegeben, vorsichtige Fragen bei Elternabenden, vieldeutige Kommentare an der Tankstelle oder Samstagabends vor dem Popcornautomaten im Kino. Aber auch das hatte sich schließlich gelegt. Alles findet sich, dachte Al Muffet und mühte sich, seine Armbanduhr zwischen Handschuh und Daunenjacke freizulegen. Er mußte sich beeilen. Seine jüngste Tochter wollte kochen, und aus Erfahrung wußte er, daß es ratsam war, während dieses Prozesses zu Hause zu sein. Andernfalls würde ihn eine überaus üppige Mahlzeit erwarten, die alle Leckerbissen in dem kleinen Schrank verbraucht hatte. Beim letzten Mal hatte Louise an einem Montag vier Gänge aufgetischt, Gänseleber und Risotto mit echten Trüffeln, gefolgt von Hirschsteak von der Herbstjagd, das eigentlich für den 17
alljährlichen Weihnachtsschmaus mit den Nachbarn reserviert gewesen war. Die Kälte machte ihm jetzt, wo die Sonne untergegangen war, ordentlich zu schaffen. Er zog die Handschuhe aus und legte die Handflächen an die Wangen. Nach einigen Sekunden setzte er seinen Weg fort, mit den langsamen, breiten Schneeschuhschritten, die er nach und nach zu meistern gelernt hatte. Er hatte sich die Amtseinführung der Präsidentin nicht angesehen, aber nicht, weil ihm das etwas ausgemacht hätte. Als Helen Lardahl Bentley sich vor zehn Jahren in die Öffentlichkeit begeben hatte, war er allerdings erschrocken gewesen. Er konnte sich deutlich an sein Unbehagen erinnern, an jenem Vormittag in Chicago, als er mit Grippe zu Hause im Bett lag und sich durch seine Fieberanfälle zappte. Helen Lardahl hielt gerade eine Rede im Senat, und sie sah anders aus als in seiner Erinnerung. Die Brille war verschwunden. Der späte Fohlenspeck, der ihr Aussehen bis weit in ihre zwanziger Jahre geprägt hatte, war nicht mehr da. Nur die Gesten, wie etwa die energische diagonale Bewegung durch die Luft, mit offener, flacher Hand, um jede zweite Pointe zu betonen, überzeugte ihn davon, daß er wirklich dieselbe Frau vor sich hatte. Wie kann sie es wagen, hatte er damals gedacht. Seither hatte er sich langsam daran gewöhnt. Wieder blieb Al Muffet stehen und sog die eiskalte Luft tief in seine Lunge. Er hatte jetzt den Bach erreicht, wo unter einem Deckel aus glasklarem Eis noch immer das Wasser floß. Sie verließ sich ganz einfach auf ihn. Offenbar hatte sie beschlossen, sich auf das Versprechen zu verlassen, das er ihr einmal gegeben hatte, vor einem Leben, in einer anderen Zeit und an einem ganz anderen Ort. In ihrer Position wäre es doch sicher leicht, herauszufinden, daß er noch immer lebte, daß er noch immer in den USA wohnte. 18
Trotzdem hatte sie sich zur mächtigsten Regierungschefin der Welt wählen lassen, in einem Land, in dem Moral eine Tugend und Doppelmoral eine Tugend der Notwendigkeit war. Er stieg über den Bach und sprang über die Schneekante. Sein Puls hämmerte dermaßen, daß es in seinen Ohren sauste. Es ist so lange her, dachte er und streifte die Schneeschuhe ab. Er nahm einen in jede Hand und lief einen schmalen Winterweg entlang. »We got away with it«, flüsterte er im Takt seiner schweren Schritte. »Auf mich ist Verlaß. Ich bin ein Ehrenmann. We got away with it.« Er kam zu spät. Wahrscheinlich erwarteten ihn zu Hause Austern und eine geöffnete Champagnerflasche. Louise würde es als Feier bezeichnen, als Huldigung an die erste Präsidentin in der Geschichte der USA.
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VIER MONATE SPÄTER MONTAG, 16. MAI 2005
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1 »Ein verdammt blöder Zeitpunkt. Wer zum Teufel hat ausgerechnet dieses Datum ausgesucht?« Der Chef des Polizeilichen Sicherheitsdienstes PST fuhr sich über die roten Haarstoppeln. »Das weißt du sehr gut«, sagte eine etwas jüngere Frau und schaute aus zusammengekniffenen Augen zu einem veralteten Fernseher hoch, der auf einem Aktenschrank in der Ecke des Büros balancierte; die Farben waren blaß und ein schwarzer Streifen flimmerte über den unteren Bildrand. »Das war der Ministerpräsident persönlich. Schöne Gelegenheit, weißt du, die alte Heimat in ihrer ganzen nationalromantischen Pracht vorzuführen.« »Suff, Schlägereien und überall Abfall«, brummte Peter Salhus. »Nicht gerade romantisch. Der 17. Mai ist und bleibt die pure Folter. Und wie in drei Teufels Namen …« Jetzt schlug seine Stimme ins Falsett um, während er auf den Fernseher zeigte. »… sollen wir auf die Frau aufpassen, wie stellen die sich das vor?« Madam President setzte soeben den ersten Fuß auf norwegischen Boden. Vor ihr gingen drei Männer in dunklen Mänteln. Die charakteristischen Ohrstöpsel waren gut zu sehen. Trotz der tiefhängenden Wolkendecke trugen alle Sonnenbrillen, als wollten sie sich selber parodieren. Hinter der Präsidentin, auf dem Weg über die Treppe der Air Force One, kamen ihre Zwillingsbrüder, ebenso dunkel und ebenso ausdruckslos. »Sieht aus, als würden sie das allein schaffen«, sagte Anna Birkeland trocken und nickte. »Außerdem hoffe ich, daß sonst 21
niemand deinen … Pessimismus hört, um das mal so zu sagen. Ich mache mir nicht die geringsten Sorgen. Du bist doch sonst auch nicht …« Sie unterbrach sich. Auch Peter Salhus schwieg und starrte auf den Fernsehschirm. Sein Ausbruch von vorhin sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Im Gegenteil, als er vor zwei Jahren zum Chef der Überwachungspolizei befördert worden war, hatten die Ruhe und das angenehme Wesen des Mannes es überhaupt erst möglich gemacht, daß jemand mit militärischem Hintergrund als oberster Chef für einen Dienst akzeptiert wurde, dessen Geschichte lauter üble Schandflecken aufwies. Das Wutgeschrei der Linken war ein wenig leiser geworden, als Salhus eine Vergangenheit als Jungsozialist hatte anführen können. Er war mit neunzehn Jahren zur Armee gegangen, um »den US-Imperialismus zu entlarven«, wie er lächelnd in einem Fernsehinterview erzählt hatte. Als er dann sehr ernst wurde und im Laufe von anderthalb Minuten ein Bedrohungszenario skizzierte, bei dem die allermeisten zustimmend nicken konnten, war die Hauptsache geschafft. Peter Salhus tauschte die Uniform gegen einen zivilen Anzug und ließ sich in den Räumlichkeiten des PST nieder, wenn auch nicht unter Jubelrufen, so doch mit Unterstützung in allen politischen Lagern. Die Angestellten mochten ihn, die ausländischen Kollegen respektierten ihn. Die militärisch kurzen Haarstoppeln und der graumelierte Bart wirkten auf altmodische Weise vertrauenerweckend und maskulin. Peter Salhus war, so paradox es klang, ein beliebter Überwachungschef. Und Anna Birkeland erkannte ihn einfach nicht wieder. Die Deckenlampe spiegelte sich in seiner schweißnassen Kopfhaut. Sein Körper wiegte sich hin und her, und offenbar bemerkte er das nicht einmal. Als Anna Birkeland einen Blick auf seine Hände warf, waren die zu harten Fäusten geballt. »Was ist los?« fragte sie leise, so als wollte sie eigentlich gar keine Antwort. 22
»Das ist keine gute Idee.« »Warum hast du das Ganze denn nicht abgeblasen? Wenn du dir solche Sorgen machst, hättest du doch …« »Ich habe es versucht. Das weißt du genau.« Anna Birkeland stand auf und ging ans Fenster. Der Frühling wirkte in dem blaßgrauen Nachmittagslicht nicht gerade beeindruckend. Sie legte die Handfläche an die Scheibe. Sofort zeichnete sich ihr Umriß auf dem Glas ab und war gleich darauf wieder verschwunden. »Du hattest Einwände, Peter. Du hast Szenarien skizziert und Gegenvorschläge gebracht. Das ist nicht dasselbe wie der Versuch, etwas zu verhindern.« »Wir leben in einer Demokratie«, sagte er, und wenn Anna richtig gehört hatte, dann lag in seiner Stimme keinerlei Ironie. »Die Politiker bestimmen. In Fällen wie diesem bin ich nur ein armseliger Berater. Wenn ich zu entscheiden hätte …« »Dann hätten wir alle ausgesperrt?« Er fuhr herum. »Alle«, wiederholte sie, jetzt lauter. »Alle, die auf irgendeine Weise die Idylle im Dorf Norwegen herausfordern?« »Ja«, sagte er. »Vielleicht.« Sein Lächeln war schwer zu deuten. Auf dem Bildschirm wurde die Präsidentin von dem riesigen Flugzeug fort und zu einer provisorischen Rednerbühne geführt. Ein dunkel gekleideter Mann machte sich am Mikrofon zu schaffen. »Als Bill Clinton hier war, ist doch alles ganz hervorragend gelaufen«, sagte Anna und biß vorsichtig in einen Fingernagel. »Er ist durch die Stadt spaziert, hat Bier getrunken und Gott und der Welt guten Tag gesagt. War sogar in einer Konditorei. Hat gegen jeden Plan und jede Abmachung verstoßen.« »Aber das war vorher.« 23
»Vorher?« »Vor dem 11. September.« Anna setzte sich wieder. Sie hob ihre halblangen Haare mit flachen Händen über ihren Nacken. Dann schaute sie zu Boden und holte Atem, um etwas zu sagen, stieß aber statt dessen ein lautes Seufzen aus. Vom Gang her war Lachen zu hören, dann verschwand es zusammen mit eiligen Schritten in Richtung Fahrstuhl. Die Präsidentin hatte ihre kurze Rede im stummen Fernseher bereits beendet. »Der Polizeibezirk Oslo ist für die Bewachung zuständig«, sagte sie endlich. »Streng genommen ist der Präsidentinnenbesuch also nicht dein Problem. Unseres, meine ich. Außerdem …«, sie zeigte auf den Aktenschrank unter dem Fernseher, »… haben wir nichts gefunden. Nicht bei den Gruppen, die wir hier im Land schon kennen. Nicht in den Randzonen. Nichts von dem, was wir von auswärts gehört haben, weist darauf hin, daß das hier etwas anderes wird als ein richtig netter Besuch von …« Ihre Stimme klang jetzt wie die einer Nachrichtensprecherin. »… einer Präsidentin, die dem Land ihrer Vorfahren und der guten Zusammenarbeit Norwegens mit den USA ihre Reverenz erweisen will. Es gibt keinen Hinweis auf irgendwelche anderen Pläne.« »Was doch auffällig ist, oder? Das ist …« Er hielt inne. Madam President setzte sich in eine dunkle Limousine. Eine Frau mit blitzschnellen Händen half ihr mit dem Mantel. Der hing noch draußen und wäre fast von der Autotür eingeklemmt worden. Der norwegische Ministerpräsident lächelte und winkte in die Kameras, ein wenig zu eifrig in seiner kindlichen Begeisterung über diesen großartigen Besuch. »Das da ist das Haßobjekt Nummer eins auf der Welt«, sagte Peter und nickte zum Bildschirm hinüber. »Wir wissen, daß 24
jeden Tag neue Anschläge gegen das Leben dieser Frau geplant werden. Jeden verdammten Tag. In den USA. In Europa, im Nahen Osten. Überall.« Anna Birkeland schniefte und fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Oberlippe. »So ist das aber schon lange, Peter. Das trifft auch auf andere zu, nicht nur auf sie. Weshalb wir und unsere Kollegen in aller Welt immer wieder solche Pläne aufdecken und verhindern. Sie haben die besten Nachrichtendienste der Welt und …« »Darüber streiten die Gelehrten sich noch«, fiel er ihr ins Wort. »… und die effektivste polizeiliche Organisation«, sie redete unbeeindruckt weiter. »Ich glaube nicht, daß du dir vor Sorgen um die Präsidentin der USA schlaflose Nächte bereiten mußt.« Peter Salhus erhob sich und drückte mit seinem breiten Zeigefinger auf den Ausschaltknopf, gerade als die Kamera eine Großaufnahme der kleinen US-Flagge auf der Motorhaube des Wagens zeigte. Das Fähnchen flatterte heftig rotweißblau, als das Auto beschleunigte. Der Bildschirm wurde schwarz. »Ich mache mir ja keine Sorgen um sie«, sagte Peter Salhus. »Eigentlich nicht.« »Jetzt verstehe ich wirklich nicht mehr, worauf du hinauswillst«, sagte Anna mit sichtlicher Ungeduld. »Ich gehe jetzt. Du weißt, wo du mich findest, falls etwas sein sollte.« Sie hob eine umfangreiche Aktentasche vom Boden hoch, richtete sich auf und ging zur Tür. Mit der Hand auf der Klinke drehte sie sich noch einmal um und fragte: »Wenn es nicht Bentley ist, um die du dir Sorgen machst, wer denn dann?« Peter Salhus legte den Kopf schräg und runzelte ein wenig die Stirn, als sei er nicht ganz sicher, ob er diese Frage wirklich gehört hatte. 25
»Wir«, sagte er plötzlich und scharf. »Ich mache mir Sorgen darüber, was mit uns passiert.« Die Klinke fühlte sich unter ihrer Handfläche seltsam kalt an. Sie ließ sie los. Langsam fiel die Tür ins Schloß. »Ich meine nicht uns beide«, sagte er lächelnd zum Fenster gewandt, er wußte, daß sie rot wurde und wollte das nicht sehen. »Ich mache mir Sorgen um …« Seine Fäuste malten einen riesigen, vagen Kreis ins Nichts. »Norwegen«, sagte er und erwiderte endlich ihren Blick. »Was zum Teufel soll aus Norwegen werden, wenn das hier schief geht?« Sie war nicht sicher, ob sie verstanden hatte, was er meinte.
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2 Madam President war endlich allein. Die Kopfschmerzen krallten sich in ihrem Hinterkopf fest, wie sie das nach solchen Tagen immer machten. Sie setzte sich vorsichtig in einen cremefarbenen Sessel. Der Schmerz war ein alter Bekannter. Er schaute immer wieder bei ihr vorbei. Medikamente waren keine Hilfe, vermutlich, weil sie niemals irgendeinem Arzt von ihren Problemen erzählt hatte und deshalb nur rezeptfreie Mittel benutzen konnte. Die Kopfschmerzen stellten sich nachts ein, wenn alles vorbei war und sie endlich die Schuhe abstreifen und die Beine hochlegen könnte. Sie hätte vielleicht ein Buch lesen oder die Augen zumachen können, um gar nichts denken zu müssen, ehe der Schlaf sich einstellte. Aber das ging nicht. Sie mußte stillsitzen, leicht nach hinten gelehnt, die Arme ausgestreckt und die Füße fest auf dem Boden. Die Augen halb geschlossen, niemals ganz; die rote Dunkelheit hinter ihren Augenlidern machte ihren Schmerz schlimmer. Ein wenig Licht mußte sein. Ganz wenig Licht durch ihre Wimpern. Schlaffe Arme mit offenen Handflächen. Die Aufmerksamkeit mußte so weit wie möglich von ihrem Kopf abgelenkt werden, auf die Füße, die sie so hart sie konnte auf den Teppich preßte. Wieder und wieder, im Takt ihres langsamen Pulses. Nicht denken. Die Augen nicht ganz schließen. Die Füße nach unten drücken. Noch einmal und noch einmal. Endlich, in einer brüchigen Balance zwischen Schlaf, Schmerz und wachem Zustand, ließen die Krallen ihren Hinterkopf langsam los. Sie wußte nie, wie lange so ein Anfall gedauert hatte. In der Regel handelte es sich wohl um eine Viertelstunde. Manchmal starrte sie entsetzt auf ihre Armbanduhr und konnte nicht begreifen, daß die die richtige Zeit anzeigte. Ein seltenes Mal war auch nur die Rede von Sekunden. 27
So wie jetzt, das konnte sie auf der Uhr auf dem Nachttisch sehen. Ungeheuer vorsichtig hob sie die rechte Hand und legte sie an ihren Nacken. Noch immer saß sie ganz still. Die Füße pulsierten weiterhin auf dem Boden, von der Ferse zu den Zehen und zurück. Die Kälte der Handflächen verursachte Gänsehaut auf ihren Schultern. Der Schmerz war wirklich verschwunden, ganz und gar. Sie atmete leichter und erhob sich ebenso vorsichtig, wie sie sich gesetzt hatte. Das Schlimmste an den Anfällen war vielleicht gar nicht der Schmerz, sondern der Zustand von erregtem Wachsein, der darauf folgte. Helen Lardahl Bentley hatte sich in fast zwanzig Jahren daran gewöhnt, daß Schlaf etwas war, auf das sie zeitweise ganz einfach verzichten mußte. Manchmal war sie monatelang schmerzfrei geblieben, aber im letzten Jahr war die Sitzung im Sessel fast zu einem mitternächtlichen Ritual geworden. Und da sie eine Frau war, die niemals etwas vergeudete, auch keine Zeit, überraschte sie ihre Mitarbeiter immer wieder damit, daß sie bei frühen Morgenbesprechungen auffällig gut vorbereitet war. Die USA hatten, ganz ohne das zu wissen, eine Präsidentin bekommen, die sich normalerweise mit vier Stunden Schlaf pro Nacht begnügen mußte. Und wenn es nach ihr ging, würde die Schlaflosigkeit ein Geheimnis bleiben, das sie nur mit einem Ehemann teilte, der nach vielen Jahren gelernt hatte, bei Licht zu schlafen. Jetzt war sie ganz allein. Weder Christopher noch Tochter Billie begleiteten sie auf dieser Reise. Es war nicht leicht für Madam President gewesen, dafür zu sorgen. Noch immer wand sie sich bei der Erinnerung daran, wie die Augen der beiden sich vor Enttäuschung verdunkelt hatten, als sie ihnen mitteilte, daß sie ohne sie fahren werde. Die Reise nach Norwegen war ihr erster Auslandsbesuch 28
als Präsidentin, es war eine reine Repräsentationsreise, noch dazu in ein Land, das die einundzwanzigjährige Tochter gern gesehen hätte. Es gab tausend gute Gründe für eine Reise mit der Familie, wie sie ursprünglich auch geplant gewesen war. Trotzdem hatten die beiden zu Hause bleiben müssen. Helen Bentley machte einige tastende Schritte, als sei sie nicht sicher, ob der Boden sie tragen werde. Die Kopfschmerzen waren definitiv verschwunden. Sie rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Stirn und sah sich im Zimmer um. Erst jetzt ging ihr auf, wie schön die Suite eigentlich eingerichtet war. Es war ein skandinavisch kühler Stil, mit hellem Holz, hellen Stoffen und vielleicht ein wenig zuviel Glas und Stahl. Besonders interessant fand sie die Lampen. Ihre Kuppeln waren aus mattiertem Glas. Jede Form war anders, aber dennoch waren sie aufeinander abgestimmt, in einer Weise, die sie nicht ganz durchschaute. Sie legte die Hand auf eine der Lampen. Eine vorsichtige Wärme drang durch den Schirm, von einer Birne mit niedriger Wattzahl. Sie sind überall, dachte sie und fuhr mit dem Finger über das Glas. Sie sind überall und sie passen auf mich auf. Es war unmöglich, sich daran zu gewöhnen. Unabhängig von Ort und Anlaß, davon, mit wem sie zusammen war, ohne Rücksicht auf Zeit und Höflichkeit; sie waren immer da. Natürlich verstand sie, daß es so sein mußte. Mit ebenso großer Selbstverständlichkeit hatte sie nach knapp einem Monat im Amt erkannt, daß sie sich an die mehr oder weniger unsichtbaren Bewacher nie ganz gewöhnen würde. Das eine waren die Leibwächter, die ihr tagsüber Gesellschaft leisteten. Sie hatte ziemlich bald gelernt, sie als einen Teil des Alltags zu betrachten. Man konnte sie voneinander unterscheiden. Sie hatten Gesichter. Einige hatten sogar Namen, Namen, die sie benutzen durfte, auch wenn sie nicht ausschließen wollte, daß es sich um falsche Namen handelte. 29
Mit den anderen sah es schlimmer aus. Den zahllosen und unsichtbaren, den bewaffneten verborgenen Schatten, die sie immer umringten, ohne daß sie je genau wußte, wo sie waren. Sie gaben ihr ein Gefühl des Unbehagens, eine Paranoia, die fehl am Platze war. Sie paßten doch auf sie auf. Wollten nur ihr Bestes, falls sie überhaupt etwas anderes verspürten als Pflichtgefühl. In den ersten Wochen ihrer Präsidentschaft hatte sie noch geglaubt, auf ein Dasein als Objekt vorbereitet zu sein, doch dann hatte sie verstanden, daß eine solche Vorbereitung unmöglich war. Nahezu unmöglich jedenfalls. Während ihrer gesamten politischen Karriere hatte sie Möglichkeiten und Macht im Blick gehabt und sich vorsichtig auf beides zubewegt. Natürlich war sie unterwegs auf Widerstand gestoßen. Auf sachlichen und politischen, aber auch auf sehr viel Böswilligkeit und Hetze, Neid und Ablehnung. Sie hatte sich für eine politische Karriere in einem Land mit einer langen Tradition personifizierten Hasses, organisierter Verleumdung, unerhörten Machtmissbrauchs und auch von Attentaten entschieden. Am 22. November 1963 hatte sie als verängstigte Dreizehnjährige ihren Vater zum ersten Mal weinen sehen, und tagelang hatte sie geglaubt, die Welt gehe jetzt unter. Sie war noch immer ein Teenager, als Bobby Kennedy und Martin Luther King im selben stürmischen Jahrzehnt ermordet wurden. Trotzdem hatte sie die Angriffe nie als wirklich persönlich gemeint aufgefaßt. Für die junge Helen Lardahl waren politische Morde unerträgliche Anschläge auf Ideen, auf Werte und Haltungen, die sie sich begierig aneignete und die ihr noch immer, fast vierzig Jahre später, eine Gänsehaut machten, wann immer sie eine Aufnahme der »I have a dream«-Rede sah. Als die entführten Flugzeuge im September 2001 ins World Trade Center flogen, hatte sie das deshalb auf dieselbe Weise aufgefaßt wie fast dreihundert Millionen ihrer Landsleute: Der Terror war ein Attentat auf die amerikanische Idee als solche. 30
Die fast dreitausend Opfer, die unvorstellbaren materiellen Schäden und Manhattans für immer veränderte Skyline verschmolzen zu einer größeren Einheit: dem Amerikanischen. So wurde jedes einzelne Opfer – jeder heldenhafte Feuerwehrmann, jedes Waisenkind und jede zerrissene Familie – ein Symbol für etwas, das viel größer war als sie selbst. Und so wurden die Verluste erträglich, für die Nation und für die Hinterbliebenen. So hatte sie das empfunden. So hatte sie gedacht. Erst jetzt, nachdem sie selber die Rolle des Object 1 übernommen hatte, begann sie den Betrug zu ahnen, der in diesem Denken lag. Jetzt war sie das Symbol. Das Problem war, daß sie sich selbst nicht als Symbol empfand. Jedenfalls nicht nur. Sie war Mutter. Sie war Ehefrau und Tochter, Freundin und Schwester. Fast zwei Jahrzehnte lang hatte sie zielstrebig für dieses eine gearbeitet, nämlich, Präsidentin der USA zu werden. Sie wollte Macht, sie wünschte sich Möglichkeiten. Es war ihr gelungen. Und der Betrug wurde ihr immer deutlicher. In den schlaflosen Nächten konnte das quälend sein. Sie dachte an eine Beerdigung, die sie besucht hatte, so wie sie alle – Senatoren und Kongreßmitglieder, Gouverneure und all die anderen Prominenten, die sich an der Großen Amerikanischen Trauer beteiligen wollten – an Beisetzungen und Trauerfeiern teilgenommen hatten, gut sichtbar für Fotografen und Presseleute. Die Verstorbene war eine erst kürzlich eingestellte Sekretärin einer Firma im 73. Stock des North Towers. Der Witwer konnte höchstens dreißig Jahre alt sein. Er saß auf der ersten Bank in der Kapelle, mit einem kleinen Kind auf jedem Knie. Ein Mädchen von sechs oder sieben Jahren neben ihm streichelte die Hand des Vaters, wieder und wieder, fast manisch, als habe schon diese Kleine begriffen, daß Papa kurz 31
davor war, den Verstand zu verlieren und daran erinnert werden mußte, daß sie existierte. Die Fotografen konzentrierten sich auf die Kinder, auf die Zwillinge von zwei oder drei Jahren und ihre schöne Schwester, gekleidet in Schwarz, wie man das keinem Kind zumuten sollte. Helen Bentley dagegen starrte den Vater an, als sie an der Bahre vorüberging. Sie sah keine Trauer, jedenfalls keine Trauer, wie sie selbst sie empfand. Sein Gesicht war verzerrt, vor Verzweiflung und Angst, vor purem, reinen Entsetzen. Dieser Mann konnte nicht begreifen, wie das Leben weitergehen sollte. Er hatte keine Ahnung, wie er es schaffen sollte, sich um die Kinder zu kümmern. Er wußte nicht, wie er zurechtkommen sollte, woher das Geld für Miete und Schule nehmen, die Kraft, drei Kinder ganz allein großzuziehen. Er erhielt seine fünfzehn Minuten Ruhm, weil seine Frau zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war, und absurderweise war sie damit zu einer amerikanischen Heldin geworden. Wir haben sie benutzt, dachte Helen Bentley und schaute durch die nach Süden blickenden Panoramafenster auf den dunklen Oslofjord. Der Himmel zeigte noch immer ein seltsames blaßblaues Licht, als sträube er sich, es Nacht werden zu lassen. Wir haben sie als Symbole benutzt, damit die Bevölkerung die Reihen schließen sollte. Das ist uns gelungen. Aber was macht er jetzt? Was ist aus ihm geworden? Und aus den Kindern? Warum habe ich nie gewagt, mich danach zu erkundigen? Die Wächter waren dort draußen. Auf den Gängen. In den Zimmern ringsum. Auf Dächern und in parkenden Autos; sie waren überall und paßten auf sie auf. Sie mußte schlafen. Das Bett sah einladend aus, mit großen weichen Daunenkissen, wie sie sie aus dem Mansardenzimmer bei ihrer Großmutter in Minnesota kannte, damals, als sie ein Kind gewesen war und segensreich wenig gewußt hatte und die Welt aussperren konnte, indem sie sich einfach eine karierte Decke über den Kopf zog. 32
Diesmal würde die Bevölkerung nicht die Reihen schließen. Deshalb war das hier schlimmer. So unendlich viel bedrohlicher. Das letzte, was sie vor dem Einschlafen noch tat, war, ihr Mobiltelefon auf Wecken einzustellen. Es war inzwischen halb drei und seltsamerweise wurde es draußen schon hell.
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DIENSTAG, 17. MAI 2005
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1 Der Nationalfeiertag begann wie immer schon in aller Herrgottsfrühe. Die Osloer Polizei hatte bereits mehr als zwanzig lallende Teenager aufgegriffen, die jetzt ihren Rausch ausschliefen und darauf warteten, daß ihre Väter sie mit einem nachsichtigen Lächeln freikauften. Die restlichen der vielen tausend Jugendlichen, die ihren Schulabschluß feierten, gaben sich alle Mühe, damit niemand die Festlichkeiten verschlief. Billige Busse mit schweineteuren Musikanlagen brüllten durch die Straßen. Das eine oder andere kleine Kind trug schon seinen feinsten Putz. Die Kinder liefen wie junge Hunde hinter den bunt angemalten Autos her und bettelten um Abiturientenkarten. Auf den Friedhöfen hatten Gruppen von Kriegsveteranen – die jedes Jahr weniger wurden – sich zu einer stillen Gedenkfeier für Frieden und Freiheit versammelt. Blaskapellen schleppten sich in halbherzigem Marschtritt durch die Stadt. Die mißtönenden Trompetenstöße sorgten dafür, daß alle, die wider Erwarten noch schliefen, aus dem Bett sprangen und den ersten Kaffee des Tages zu sich nahmen. In den Parks der Städte kroch hier und da ein verwirrter Junkie unter seinen Decken und Plastiktüten hervor und begriff nicht so ganz, was hier los war. Das Wetter war so wie immer. Die Wolkendecke öffnete sich im Süden, aber nichts deutete darauf hin, daß der Tag mild sein würde. Im Gegenteil bestand aller Grund, den einen oder anderen Regenguß zu befürchten, wenn man vom Grauton des Nordhimmels ausging. Die Bäume standen noch immer halbnackt da, auch wenn die Birken grüne Blattspitzen und pollenfette Kätzchen zeigten. Überall im Land zogen Eltern ihren Kindern, die schon lange vor dem Frühstück nach Eis und Würstchen quengelten, wollene Unterwäsche an. Die Flaggen knatterten im scharfen Wind. 35
Das Königreich war bereit zum Feiern. Vor einem Hotel in der Osloer Innenstadt stand eine fröstelnde Polizistin. Sie stand schon die ganze Nacht hier. Immer häufiger schaute sie so diskret wie möglich auf die Uhr. Bald würde sie abgelöst werden. Ab und zu hatte sie sich einen kurzen Wortwechsel mit einem fünfzig, sechzig Meter weiter postierten Kollegen erschlichen, ansonsten war ihr die Nacht unerträglich lang geworden. Eine Weile hatte sie versucht, die Zeit totzuschlagen, indem sie Leibwächter erriet. Der Strom von Menschen, die kamen und gingen, hatte nach zwei Uhr jedoch abgenommen. Soviel sie sehen konnte, gab es auf den Dächern keine Wachen. Keine dunklen, leicht erkennbaren Autos mit Geheimagenten waren vorübergekommen, nachdem die Präsidentin der USA kurz nach Mitternacht abgesetzt und ins Haus gebracht worden war. Aber natürlich waren sie da. Das wußte sie, auch wenn sie nur eine einfache Polizistin war, die zur Dekoration dort stand, in frischgereinigter Uniform, und sich eine Blasenentzündung zusammenfror. Eine Wagenkolonne näherte sich dem Haupteingang des Hotels. Normalerweise war die Straße für alle frei und offen. Jetzt war sie mit mobilen Metallgittern abgesperrt worden und bildete einen länglichen provisorischen Platz vor der bescheidenen Eingangspartie. Die Polizistin öffnete zwei Schranken, wie ihr vorher aufgetragen worden war. Dann trat sie auf den Bürgersteig zurück. Sie machte zwei unsichere Schritte auf den Eingang zu. Vielleicht konnte sie die Präsidentin aus der Nähe sehen, wenn die zum Frühstücksempfang abgeholt wurde. Das wäre eine willkommene Belohnung nach dieser Höllennacht. Nicht, daß sie das eigentlich interessierte, aber die Dame war doch immerhin die mächtigste Frau der Welt. Niemand hielt sie auf. Als das erste Auto bremste, kam ein Mann durch die Drehtür 36
des Hotels gelaufen. Er war barhäuptig und trug keinen Mantel. Ein Funkgerät hing an einem Riemen über seiner Schulter, und die Polizistin konnte unter der offenen Jacke ein Waffenholster ahnen. Sein Gesicht war auffallend ausdruckslos. Ein Mann in dunklem Anzug stieg auf der Beifahrerseite des ersten Wagens aus. Er war klein und untersetzt. Kaum hatte er das Auto verlassen, packte der Mann mit dem Funkgerät schon seinen Arm. Sie blieben einige Sekunden stehen, der größere hatte die Hand auf den Arm des anderen gelegt und flüsterte ihm etwas zu. »Was? What?« Der kleine Norweger hatte nicht das Pokergesicht des Amerikaners. Er starrte einen Moment lang ungläubig, dann riß er sich zusammen und richtete sich auf. Die Polizistin trat langsam zwei Schritte auf das Auto zu. Noch immer konnte sie kein Wort verstehen. Vier weitere Männer waren jetzt aus dem Hotel gekommen. Einer sprach leise in ein Telefon und starrte eine entsetzliche Skulptur eines Mannes aus blankem Stahl an, der auf ein Taxi wartete. Die drei anderen Agenten gaben irgendwem, den die Polizistin nicht sehen konnte, ein Zeichen, dann sahen sie allesamt wie auf Befehl in ihre Richtung. »Hey you! Officer! You!« Die Polizistin lächelte unsicher. Dann hob sie die Hand und zeigte mit fragender Miene auf sich. »Yes, you«, wiederholte der eine Mann und war mit drei langen Schritten bei ihr. »ID, please.« Sie zog ihren Dienstausweis aus der Tasche. Der Mann warf einen Blick auf das norwegische Wappen. Ohne sich auch nur das Bild anzusehen, gab er ihn ihr zurück. »The main door«, fauchte er und hatte schon halbwegs kehrtgemacht, um zurückzulaufen. »No one in, no one out. Got 37
it?« »Yes. Yes.« Die Polizistin schluckte und riß die Augen auf. »Yes, sir!« Der Mann war schon zu weit weg, um diese Höflichkeitsphrase zu hören, die ihr endlich eingefallen war. Der Kollege aus der Nacht kam auf den Haupteingang zu. Er hatte offenbar dieselbe Anweisung erhalten wie sie und wirkte unsicher. Alle vier Wagen gaben plötzlich Gas, jagten vom Platz und waren verschwunden. »Was ist denn los«, flüsterte die Polizistin und stellte sich vor die doppelte Glastür. Ihr Kollege wirkte restlos verwirrt. »Was zum Teufel ist hier bloß los?« »Wir sollen … wir sollen die Tür bewachen, glaube ich.« »Sicher! Das hab ich auch kapiert. Aber … warum? Was ist passiert?« Eine ältere Dame tauchte im Hotelfoyer auf und versuchte, die Türen in Bewegung zu setzen. Sie trug einen dunkelroten Mantel und einen seltsamen blauen Hut mit weißen Blumen auf der Krempe. An ihre Brust hatte sie eine Schleife in den norwegischen Farben geheftet, die fast bis auf den Boden reichte. Endlich schaffte sie es, sich einen Weg ins Freie zu öffnen. »Tut mir leid, meine Dame. Sie müssen leider noch ein wenig warten.« Die Polizistin lächelte so freundlich sie konnte. »Warten?« wiederholte die Dame feindselig. »Ich bin in einer Viertelstunde mit meinem Sohn und meiner Schwiegertochter verabredet. Ich habe einen Platz auf …« »Es dauert sicher nicht lange«, sagte die Polizistin beruhigend. »Wenn Sie nur bitte …« 38
»Ich kümmere mich darum«, sagte ein Mann in Hoteluniform, der mit raschen Schritten aus der Rezeption herbeigeeilt kam. »Gnädige Frau, wenn Sie bitte mit mir kommen und …« »Oh say, can you seeeee, by the dawn’s early liiiight …« Eine kraftvolle Stimme ertönte plötzlich in der Morgenluft. Die Polizistin fuhr herum. Von Nordwesten her, wo die abgesperrte Straße auf einem südlich des Hauptbahnhofs gelegenen Parkplatz endete, kam eine riesige Männergestalt in dunklem Mantel, er trug ein Mikrofon und hinter ihm marschierte eine Blaskapelle. »… what so prouuuudly we hailed …« Sie erkannte ihn sofort. Auch die weißen Uniformen der Musikanten waren unverkennbar, und plötzlich fiel ihr ein, daß die Jugendkapelle von Sinsen und der stimmgewaltige Mann um genau halb acht für Madam President heimatliche Stimmung erzeugen sollten, ehe sie sich dann zum Frühstück ins Schloß begab. Ein Trommelwirbel wuchs auf Donnerstärke an. Der Sänger beugte sich vor, als wollte er Anlauf nehmen, und holte tief Luft: »… at the twilight’s last gleeeeming …« Die Kapelle versuchte, eine Art Marschrhythmus zu spielen. Der Sänger dagegen neigte eher zum Dramatischen. Er fiel hinter die Melodie zurück, und seine leidenschaftliche Körpersprache bildete einen witzigen Kontrast zur militärischen Haltung der Musikanten. Madam President ließ sich noch immer nicht blicken. Die Wagenkolonne war längst verschwunden. Die Amerikaner hatten gerade noch ihre Befehle erteilen können, ehe sie im Hotelfoyer verschwunden waren, und auch sie waren durch die geschlossenen Türen nicht zu entdecken. Nur die ältere Dame im Hute wütete noch immer hinter den Fenstern. Irgendwer hatte offenbar den automatischen Türöffner abgeschaltet. Die junge Polizistin stand allein da und hatte keine Ahnung, was sie 39
machen sollte. Auch der Kollege war verschwunden, und sie wußte nicht, wohin. Sie fragte sich, ob es überhaupt richtig von ihr gewesen war, Befehle von einem Ausländer anzunehmen. Aber es war auch keine Ablösung gekommen, wie verabredet gewesen war. Vielleicht sollte sie jemanden anrufen. Es mochte an der Kälte liegen oder auch an ihrer Nervosität über diesen wichtigen Auftrag. Jedenfalls machten die vierzig Musikanten und der Musicalstar unverdrossen weiter mit ihrer Darbietung des Starspangled Banner, auf einer abgesperrten Straße, die zu einem eher mißlungenen Festplatz umfunktioniert worden war, mit einer einsamen Polizistin als Zuhörerin. »Verdammt, Marianne! O verdammt!« Die Polizistin fuhr herum. Aus einer Seitentür des Hotels kam der Kollege angestürzt. Er trug keine Mütze, und sie rümpfte die Nase und griff sich tadelnd an die eigene. »Sie ist verschwunden, Marianne.« Er rang nach Atem. »Was?« »Ich habe gehört, wie zwei … ich wollte doch wissen, was los ist, klar, und …« »Wir haben Anweisung, hier zu stehen. Die Tür zu bewachen.« »Ich lasse mir doch von denen keine Befehle geben! Die haben hier überhaupt nichts zu sagen! Und wir hätten vor einer halben Stunde abgelöst werden sollen. Also bin ich da reingegangen …« Er zeigte eifrig ins Foyer. »… und die Hotelleute, weißt du, die haben mich nicht aufgehalten, wo ich doch die Uniform habe, und deshalb …« »Wer ist verschwunden?« 40
»Die Frau. Bentley! Die Präsidentin, Mensch!« »Verschwunden«, wiederholte sie tonlos. »Weg. Und niemand weiß, wo sie stecken könnte. Jedenfalls … ich habe zwei von den Typen reden hören und …« Er verstummte und zog sein Mobiltelefon hervor. »Wen willst du«, begann Marianne und hielt sich ein Uhr zu, die Kapelle steigerte sich zum Crescendo. »Wen rufst du an?« »VG«, keuchte der Kollege. »Die zahlen zehntausend. Mindestens.« Blitzschnell entriß sie ihm das Telefon. »Das läßt du bleiben«, fauchte sie. »Wir müssen … müssen …« sie schaute hilfesuchend das Telefon an. »Wen könnten wir …« »… and the laaand of the freeeeee!« Das Lied verklang. Der Sänger verbeugte sich unsicher. Irgendwer in der Kapelle lachte. Dann wurde es ganz still. Die Stimme der Polizistin war dünn und scharf, und ihre Hand zitterte, als sie dem Kollegen das Telefon hinhielt und den Satz beendete: »Mit wem zum Teufel sollen wir denn jetzt reden?«
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2 Die Chefsekretärin des Justizministers war allein im Büro. Aus einem Stahlschrank im verschlossenen Archiv holte sie drei Ordner, einen gelben, einen blauen und einen roten. Sie legte sie auf den Schreibtisch des Ministers und setzte danach Kaffee auf. Sie holte aus dem Materialschrank Bleistifte, Kugelschreiber und Blocks für das Besprechungszimmer. Mit raschen Griffen schaltete sie dann drei Computer ein, ihren eigenen, den des Ministers und den des Staatssekretärs. Sie holte eine Stoppuhr aus ihrem Schreibtisch, dann ging sie wieder ins Archiv. Ohne besondere Mühe schob sie ein Regal zur Seite. Dahinter tauchte eine Platte mit roten Zahlen auf. Sie drückte auf die Uhr. Gab einen zehnziffrigen Code ein, überprüfte die Zeit. Vierunddreißig Sekunden darauf gab sie einen weiteren Code ein. Starrte die Stoppuhr an, wartete. Wartete. Anderthalb Minuten vergingen. Noch einen Code. Die Tür sprang auf. Sie nahm die graue Dose heraus und ließ den restlichen Inhalt liegen. Dann sperrte sie mit einer ebenso umständlichen Prozedur wieder ab und schloß das Archiv. Für den Weg zum Büro hatte sie genau sechs Minuten gebraucht. Sie und ihr Mann waren auf dem Weg zu ihrer Nichte in Bærum gewesen, um den Tag mit Eierlaufen und Waffelbacken in der Schule von Evje zu verbringen, als ihr Telefon geklingelt hatte. Schon als sie die Nummer im Display sah, bat sie ihren Mann, vom Ringvei abzubiegen. Er fuhr sie ins Regierungsviertel, ohne auch nur zu fragen, warum. Sie war die Allererste. Langsam ließ sie sich in den Sessel sinken und fuhr sich über die Haare. 42
Code 4, hatte die Stimme im Telefon gesagt. Es konnte eine Übung sein, wie sie sie in den letzten drei Jahren regelmäßig trainiert hatten. Es konnte natürlich eine Übung sein. Am 17. Mai? Eine Übung am Nationalfeiertag? Die Chefsekretärin fuhr zusammen, als die Flurtür aufgerissen wurde. Der Justizminister kam grußlos herein. Er ging mit steifen kurzen Schritten, als müsse er sich zwingen, nicht zu rennen. »Wir haben unsere Routinen für solche Fälle«, sagte er ein wenig zu laut. »Läuft alles wie geplant?« Er redete wie er ging, stakkatohaft und zackig. Die Chefsekretärin war nicht sicher, ob die Frage an sie gerichtet war oder an einen der drei Männer, die nach dem Minister das Zimmer betraten. Sicherheitshalber nickte sie. »Gut«, sagte der Justizminister, ohne auf dem Weg in sein Büro innezuhalten. »Wir haben Routinen. Die laufen wie geplant. Wann kommen die Amerikaner?« Die Amerikaner, dachte die Chefsekretärin und merkte, wie ihr die Wärme in den Kopf stieg. Die Amerikaner. Sie warf unwillkürlich einen Blick auf den dicken Ordner mit der Korrespondenz über Helen Bentleys Besuch. Überwachungschef Peter Salhus folgte den drei anderen nicht. Er kam zu ihrem Tisch und streckte die Hand aus. »Lange nicht mehr gesehen, Beate. Ich wünschte, die Umstände wären anders.« Sie erhob sich, strich ihren Rock glatt und nahm seine Hand. »Ich weiß nicht ganz …« Ihre Stimme versagte, und sie räusperte sich. »Bald«, sagte er. »Bald wirst du informiert.« 43
Seine Hand war warm und trocken. Sie hielt sie einen Moment zu lange fest, als brauche sie die Ermutigung, die in dem warmen Druck lag. Dann nickte sie kurz. »Hast du die graue Dose geholt?« fragte er. »Ja.« Sie reichte sie ihm. Alle Kommunikation im Büro des Ministers konnte mit wenigen Handgriffen und ohne weitere Ausrüstung zerhackt, codiert und verzerrt werden. Das war nur selten notwendig. Sie konnte sich nicht erinnern, wann zuletzt jemand darum gebeten hatte. Vielleicht bei irgendeiner Unterredung mit dem Verteidigungsminister, sicherheitshalber. Aber in außergewöhnlichen Situationen sollte die Dose benutzt werden. Es war niemals nötig gewesen. Außer bei den Übungen. »Nur zwei Dinge …« Salhus wiegte zerstreut die Dose in der Hand. »Das hier ist keine Übung, Beate. Und du solltest damit rechnen, daß du eine Weile hierbleiben mußt. Aber … weiß jemand, daß du hier bist?« »Mein Mann natürlich. Wir …« »Ruf ihn noch nicht an. Warte damit so lange wie möglich. Das hier wird sehr bald herauskommen. Aber bis auf weiteres müssen wir die Zeit nutzen, die uns bleibt. Wir haben den Nationalen Sicherheitsrat einberufen, und wir wollen sie am liebsten alle hier haben, ehe es so weit ist …« Sein Lächeln erreichte seine Augen nicht. »Kaffee?« fragte sie. »Soll ich etwas zu trinken hineinbringen?« »Darum kümmern wir uns selbst. Da hinten, ja?« Er griff nach der vollen Kaffeekanne. »Im Zimmer stehen Tassen, Gläser und Mineralwasser«, sagte die Chefsekretärin. Das letzte, was sie hörte, als die Tür sich hinter dem 44
Überwachungschef schloß, war die Stimme des Justizministers, die ins Falsett umschlug: »Wir haben Routinen für solche Fälle! Hat denn niemand den Ministerpräsidenten erreicht? Ha? Wo in aller Welt steckt der Ministerpräsident? Wir haben doch Routinen!« Dann wurde es still. Durch die dicken Fensterscheiben konnte sie nicht einmal den Festumzug der Abiturienten hören, die es für richtig befunden hatten, ihre Wagen mitten in der Akersgate zu parken, direkt vor dem Kulturministerium. Dort waren alle Fenster dunkel.
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3 Inger Johanne Vik wußte nicht, wie sie den Tag überstehen sollte, so wie sie nie ganz begriff, wie sie den 17. Mai überleben sollte. Sie hielt Kristianes Trachtenbluse hoch. In diesem Jahr hatte sie Umsicht genug besessen und für die Tochter eine Garnitur zum Wechseln besorgt. Die erste war schon gegen halb acht schmutzig gewesen. Diese hatte soeben Marmelade am Ärmel abbekommen, und am Kragen klebte ein Stück geschmolzene Schokolade. Die Zehnjährige tanzte nackt durchs Zimmer, klein und schmächtig, mit einem Blick, der nirgendwo haften blieb. Es war schon fast halb elf, und sie hatten es eilig. »Stille Nacht«, sang das Kind vor sich hin. »Heilige Nacht. Alles schläft, einsam wacht. O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter und möge der Herr sein Antlitz erheben und dir Frieden schenken.« »Ich glaube, du wirfst da zwei Feste ein bißchen durcheinander«, sagte Yngvar Stubø grinsend und fuhr seiner Stieftochter durch die Haare. »Für den 17. Mai gibt es eigene Lieder, weißt du. Hast du eine Ahnung, wo meine Manschettenknöpfe sein könnten, Inger Johanne?« Sie gab keine Antwort. Wenn sie die erste Bluse gleich gewaschen und in den Trockner gesteckt hätte, könnte das Kind jetzt wenigstens sauber angezogen auf das Fest gehen. »Sieh dir das an«, klagte sie und hielt Yngvar die Bluse hin. »Ist doch egal«, sagte er und suchte weiter. »Kristiane hat noch andere weiße Blusen im Schrank.« »Andere weiße Blusen?« Sie verdrehte die Augen. »Weißt du überhaupt, was meine Eltern für diese verdammte 46
Tracht bezahlt haben? Ist dir klar, wie sauer Mama sein wird, wenn das Kind in einer normalen Bluse von H&M auftaucht?« »Zu Bethlehem geboren ist uns ein Kindelein«, sang Kristiane. »Und darauf ein dreifaches Hurra!« Yngvar griff nach der Bluse. Er sah sich die Flecken an. »Das kriege ich hin«, sagte er. »In fünf Minuten mit Spülmittel und einem Fön. Außerdem unterschätzt du deine Mutter. Nur wenige verstehen Kristiane so gut wie sie. Mach du Ragnhild fertig, dann sind wir in einer Viertelstunde aus dem Haus.« Das sechzehn Monate alte Kind saß tief konzentriert mit seinen bunten Klötzchen in einer Zimmerecke. Gesang und Tanzen der Schwester schien sie nicht zu bemerken. Überraschend präzise setzte sie die Klötzchen aufeinander und lächelte, als der Turm ihr Gesicht erreicht hatte. Inger Johanne brachte es nicht übers Herz, sie zu stören. In solchen Augenblicken ging ihr auf, welcher Abgrund zwischen den beiden Mädchen klaffte. Die ältere so klein und schmächtig, die jüngere so ungeheuer robust. Kristiane war so schwer zu verstehen, Ragnhild so durch und durch gesund und direkt; sie nahm das oberste Klötzchen, entdeckte ihre Mutter und lachte mit acht kreideweißen Zähnen: »Tumm, Mama. Agni ihr Tumm. Kuck!« »Schön ist’s auf Erden«, sang Kristiane mit glockenheller Stimme. »Prächtig Gottes Himmel.« Inger Johanne schnappte sich ihre ältere Tochter. Kristiane ließ sich willig wie ein Kleinkind hochheben und lag splitternackt in den Armen der Mutter. »Jetzt ist nicht Weihnachten«, sagte Inger Johanne leise und legte die Lippen an die warme Kinderwange. »Jetzt ist der 17. Mai, verstehst du?« »Das weiß ich«, antwortete Kristiane und ihr Blick hielt für einen winzigen Augenblick den der Mutter fest, ehe sie monoton 47
verkündete: »Es ist der Tag der Verfassung. Wir feiern unsere Selbständigkeit und Freiheit. In diesem Jahr begehen wir zugleich den hundertsten Jahrestag der Auflösung der Union mit Schweden. 1814 und 1905. Das feiern wir.« »Du feines Kind«, flüsterte Inger Johanne und küßte sie. »Du bist so tüchtig. Jetzt müssen wir dich wieder anziehen, ja?« »Das kann Yngvar machen.« Sie befreite sich aus den Armen der Mutter und rannte auf nackten Füßen durch das Zimmer zum Bad. Beim Fernseher blieb sie für einen Moment stehen und schaltete ihn ein. Die Nationalhymne dröhnte aus den Lautsprechern, Kristiane hatte den Ton am Vorabend voll aufgedreht. Inger Johanne griff nach der Fernbedienung und dämpfte den Radau. Als sie sich umdrehen wollte, um das feine Kleidchen ihrer jüngeren Tochter zu holen, fesselte etwas ihre Aufmerksamkeit. Es war eine durchaus klassische Szene. Eine festlich gekleidete Menschenmenge vor dem Schloß. Große und kleine Flaggen, alte Leute in Reih und Glied auf den wenigen verfügbaren Stühlen, gleich unter dem Balkon des Königs. Die Großaufnahme einer kleinen Pakistani in norwegischer Tracht, sie lächelte in die Kamera und winkte begeistert. Als das Bild die Flaggenburg zeigte und dann bei der in feinsten Putz gewandeten Reporterin zum Stillstand kam, passierte etwas. Die Frau griff sich ans Ohr. Sie lächelte dümmlich, warf einen Blick auf etwas, bei dem es sich vielleicht um ein Manuskript handelte, und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Aber es kam nichts. Statt dessen drehte sie sich halbwegs um, als wolle sie nicht aufgenommen werden. Dann folgten zwei plötzliche, unmotivierte und viel zu schnelle Schnitte. Für einen Moment waren die Baumwipfel im Osten des Schlosses zu sehen, dann ein wütend schreiendes Kind auf den Schultern seines Vaters. Das Bild war total verrutscht. Inger Johanne drehte den Ton wieder lauter. 48
Endlich erwischte die Kamera die Reporterin, die sich das linke Ohr zuhielt und konzentriert lauschte. Ein Jugendlicher schob den Kopf über ihre Schulter und brüllte hurra. »Und jetzt«, sagte die Frau endlich verwirrt, »und jetzt verlassen wir das Schloß für einen Moment … wir werden uns gleich wieder von hier melden, doch zuerst …« Der Junge machte mit den Fingern Hasenohren über dem Kopf der Reporterin und heulte vor Lachen. »Wir schalten zurück ins Funkhaus für eine zusätzliche Nachrichtensendung«, sagte die Reporterin ein wenig zu rasch, und sofort verschwand das Bild. Inger Johanne schaute auf die Uhr. Sieben Minuten nach halb elf. »Yngvar«, sagte sie leise. Ragnhild warf ihren Turm um. Die Erkennungsmelodie der Nachrichten erklang. »Yngvar«, rief Inger Johanne. »Yngvar, komm schnell her!« Der Mann im Studio trug einen dunklen Anzug. Seine kräftigen Locken wirkten grauer als sonst, und Inger Johanne glaubte zu sehen, daß er zweimal schluckte, ehe er den Mund aufmachte. »Irgendwer muß gestorben sein«, sagte sie. »Was?« Yngvar kam mit der angezogenen Kristiane auf dem Arm ins Zimmer. »Ist jemand gestorben?« »Pst!« Inger Johanne zeigte auf den Fernseher und legte den Zeigefinger an die Lippen. »Wir wiederholen, daß es sich um eine bisher nicht bestätigte Meldung handelt, aber …« 49
Die Drähte im Sender liefen offenbar heiß. Auch der erfahrene Chefsprecher legte den Zeigefinger an seinen Ohrstöpsel und horchte einige Sekunden lang konzentriert, dann schaute er in die Kamera und fügte hinzu: »Wir schalten hinüber zu …« Er runzelte die Stirn, zögerte. Dann zog er den Ohrstöpsel heraus, legte eine Hand auf die andere und sprach ohne Manuskript weiter: »Wir haben einige Reporter vor Ort, um uns ein genaueres Bild zu machen, und wie Sie sicher bereits bemerkt haben, gibt es im Moment einige technische Probleme. Wir werden gleich zu unseren Mitarbeitern hinüberschalten. Vorerst wiederhole ich also: Helen Lardahl Bentley, die Präsidentin der USA, ist heute nicht zum geplanten Frühstück im Schloß erschienen. Eine offizielle Begründung für ihr Fernbleiben liegt nicht vor. Auch im Storting, wo sie zusammen mit Parlamentspräsident Jørgen Kosmo den Kinderumzug hätte beobachten sollen … einen Moment …« »Ist sie … ist sie tot?« »Tot und rot mit hartem Brot«, sagte Kristiane. Er stellte sie vorsichtig auf den Boden. »Das wissen sie offenbar nicht«, sagte Inger Johanne rasch. »Aber es sieht so aus, als ob …« Ein schriller Piepton kam aus dem Fernseher, dann erschien ein Reporter, der noch nicht die Zeit gefunden hatte, sich die Festschleife vom Revers zu reißen. »Ich stehe hier vor dem Osloer Polizeigebäude«, sagte er atemlos, das Mikrofon zitterte heftig. »Und eins steht jedenfalls fest: Es ist etwas passiert. Polizeipräsident Bastesen, der sonst den Umzug zum 17. Mai anführt, kommt soeben hier hinter mir die Straße hochgelaufen, zusammen mit …« Er machte eine halbe Drehung und zeigte auf den sanften Hang, der zum Eingang des Polizeigebäudes hochführte. »… zusammen mit … noch anderen. Zugleich sind etliche 50
Streifenwagen vom Hinterhof losgefahren, einige mit Blaulicht und Sirenen.« »Harald«, sagte der Mann im Studio. »Harald Hansen, hörst du mich?« »Ja, Christian, ich höre dich …« »Hat irgend jemand eine Erklärung für diese Ereignisse abgegeben?« »Nein, es ist nicht einmal möglich, zum Eingang zu gelangen. Aber es brodelt natürlich nur so von Gerüchten, wir sind hier sicher schon mit zwölf oder dreizehn Kollegen, und auf jeden Fall scheint Präsidentin Bentley etwas zugestoßen zu sein. Sie ist heute morgen zu keinem der vereinbarten Termine erschienen, und bei der Pressekonferenz in der Wandelhalle des Parlaments unmittelbar vor Beginn des Kinderumzugs war ganz einfach … kein Mensch! Der Pressedienst der Regierung ist offenbar vollständig zusammengebrochen, und bis auf Weiteres …« »Was zum Teufel«, flüsterte Yngvar und ließ sich auf die Sofalehne sinken. »Pst …« »Wir haben Leute zu den großen Krankenhäusern geschickt«, sagte der Reporter gehetzt, »… wo Bentley natürlich jetzt anzutreffen sein müßte, wenn ihr Nichterscheinen … gesundheitliche Ursachen hätte. Aber bisher gibt es nichts, ich betone, nichts, was auf irgendeine außergewöhnliche Aktivität in diesen Krankenhäusern hinweist. Keine sichtbaren Sicherheitsvorkehrungen, kein ungewöhnlicher Verkehr, nichts. Und …« »Harald! Harald Hansen!« »Ich höre dich, Christian!« »Ich muß dich unterbrechen, denn wir haben soeben …« Das Bild zeigte wieder das Studio. Inger Johanne konnte sich 51
nicht daran erinnern, jemals gesehen zu haben, wie einem Nachrichtensprecher im Studio ein Text ausgehändigt worden wäre. Der Arm des Boten tauchte auf, als das Bild auf dem Schirm erschien, und der Sprecher suchte nach der Brille, die er bisher nicht benötigt hatte. »Wir haben eine Pressemeldung aus dem Büro des Ministerpräsidenten bekommen«, sagte er und räusperte sich. »Und ich lese vor …« Ragnhild fing an zu brüllen. Inger Johanne ging rückwärts in die Ecke, in der das Kind wie besessen heulte und die Arme in die Luft streckte. »Sie ist verschwunden«, sagte Yngvar fasziniert. »Die Frau ist einfach weg.« »Wer ist verschwunden?« fragte Kristiane und griff nach seiner Hand. »Niemand«, sagte er fast unhörbar. »Doch«, beharrte Kristiane. »Die haben gesagt, daß eine Frau verschwunden ist.« »Keine, die wir kennen«, sagte er und winkte ab. »Mama jedenfalls nicht. Mama ist hier. Und wir gehen zu Oma und Opa. Mama verschwindet nie.« Ragnhild beruhigte sich, sowie sie auf dem Arm der Mutter saß. Sie schob den Daumen in den Mund und schmiegte den Kopf in Inger Johannes Halsgrube. Kristiane hielt noch immer Yngvars Hand und wiegte sich langsam hin und her. »Dum-di-rum-dum«, flüsterte sie. »Alles in Ordnung«, sagte er zerstreut. »Es ist nichts passiert, mein Schatz.« »Dum-di-rum-dum.« Sie wird sich jetzt abkapseln, dachte Inger Johanne verzweifelt. Kristiane war dabei, sich vollständig zu 52
verschließen, das machte sie immer, wenn sie auch nur die geringste Bedrohung wahrzunehmen glaubte oder wenn etwas Unvorhergesehenes passierte. »Alles ist in Ordnung, Liebes.« Sie streichelte den Kopf des Kindes. »Und jetzt können wir uns allesamt abmarschbereit machen. Wir fahren zu Oma und Opa, weißt du. Ganz wie geplant.« Aber sie konnte ihre Augen nicht vom Fernseher losreißen. Die Bilder kamen jetzt aus der Luft, von einem Hubschrauber, der langsam über der Osloer Innenstadt kreiste. Die Kamera folgte der Karl Johans gate vom Parlament bis zum Schloß, unendlich langsam. »Über hunderttausend Menschen«, flüsterte Yngvar, der wie gefesselt dastand und nicht einmal merkte, daß Kristiane seine Hand losließ. »Vielleicht auch doppelt so viele. Wie um alles in der Welt wollen sie da …« In einer Zimmerecke stand Kristiane und schlug mit dem Kopf gegen einen Eckschrank. Sie hatte sich wieder ausgezogen. »Die Frau ist verschwunden«, sang sie leise. »Dum-di-rumdum. Die Frau ist weg.« Dann fing sie an zu weinen, leise und untröstlich.
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4 Abdallah al-Rahman war satt. Er fuhr sich mit der Hand über seinen prall gefüllten Bauch. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, die Trainingsrunde ausfallen zu lassen. Er hatte wirklich zuviel gegessen. Andererseits hatte er für den Rest des Tages genug zu tun. Wenn er jetzt nicht trainierte, war die Gefahr groß, daß er später nicht dazu kommen würde. Er schloß die Tür zu seinem riesigen Studio auf. Kühle Luft wehte ihm wie eine angenehme Brise entgegen. Sorgfältig schloß er die Tür, dann zog er sich aus, ein Kleidungsstück nach dem anderen. Am Ende stand er wie üblich barfuß da, bekleidet nur mit weiten, schneeweißen Shorts. Er schaltete das Laufband ein. Langsam zuerst, in einem Intervallprogramm von fünfundvierzig Minuten. Das würde ihm danach noch eine knappe halbe Stunde für die Gewichte lassen. Eine Vorstellung, die weder seinem Wunsch noch seinen Gewohnheiten entsprach, aber besser als nichts. Natürlich hatte er nichts gehört. Es war keine Bestätigung gekommen, keine codierte Meldung, kein Anruf und keine verschlüsselte E-Mail. Die moderne Kommunikation war ein zweischneidiges Schwert, effektiv und zugleich viel zu gefährlich. Er hatte statt dessen mit einem französischen Geschäftsmann gefrühstückt und mit seinem Vater die Vormittagsgebete gesprochen. Bei einem kurzen Besuch im Gestüt hatte er sich das neue Fohlen angesehen, es war in der Nacht geboren worden und schon jetzt ein phantastischer Anblick. Niemand hatte Abdallah al-Rahman mit Dingen gestört, die nichts mit seinem Alltagsleben hier und jetzt zu tun hatten. Aber das wäre auch gar nicht nötig gewesen. CNN hatte ihm längst die erwünschte Bestätigung geliefert. Offenbar war alles ganz nach Plan gelaufen. 54
5 Alles klappte. Das ging ihr auf, als sie sich endlich Zeit für eine Zigarette stehlen konnte. Beate Koss, die Chefsekretärin des Justizministers, war keine Gewohnheitsraucherin, aber in der Regel hatte sie immer eine Zehnerpackung in der Handtasche. Sie hatte den Mantel angezogen und war mit dem Fahrstuhl nach unten ins Foyer gefahren. Das war für das Publikum gesperrt, und vor dem Eingang standen auf beiden Seiten bewaffnete Wachposten. Ihr schauderte ein wenig, und sie nickte dem zivilangestellten Pförtner zu, der sie ohne Probleme durch die Sperre ließ. Sie überquerte die Straße. Es klappte wirklich. Alles, was bisher im Safe eingeschlossene Anweisungen und reine Theorie gewesen war, hatte sich im Laufe einiger weniger Vormittagsstunden in Realität verwandelt. Kommunikationssysteme und Melderoutinen funktionierten wunschgemäß. Die Schlüsselpersonen waren einberufen und Krisenstäbe gebildetet worden. Sogar der Verteidigungsminister, der den Nationalfeiertag auf Spitzbergen hatte verbringen wollen, befand sich wieder in seinem Büro. Alle kannten ihre Rolle und ihren Platz in einer gewaltigen Maschinerie, die aus eigener Kraft weiterzulaufen schien, jetzt, wo sie in Gang gekommen war. Eine oder zwei Stunden zu spät vielleicht, wie Peter Salhus offenbar meinte, aber sie konnte sich doch eine Art Stolz nicht verkneifen, weil sie an einem so großen und historischen Ereignis beteiligt war. »Schäm dich«, murmelte sie und zündete die Zigarette an. Die Nachricht vom Verschwinden der Präsidentin der USA hatte der Festtagsstimmung noch keinen sichtbaren oder 55
hörbaren Dämpfer versetzt. Lärm und Hurrarufe warfen zwischen den Gebäuden des Regierungsviertels ein schwaches Echo. Die Menschen, die eilig an ihr vorüberliefen, lächelten und lachten. Vielleicht wußten sie nichts. Obwohl die Nachricht längst bekannt war und die großen Fernsehsender immer wieder Sondersendungen brachten, schien die Nation sich in der riesigen, alljährlichen Feier ihrer selbst nicht stören lassen zu wollen. Die Zigarette tat gut. Sie zögerte einen Moment, dann steckte sie sich noch eine an. Ihr Blick wanderte von der Gruppe der Journalisten vor dem Hochhaus zu den grünen, kugelsicheren Fenstern im sechsten Stock. Die unterschieden sich deutlich vom übrigen Gebäude. In Gedanken hatte sie sich oft gewundert, warum der Justizminister kugelsichere Fensterscheiben hatte, da er doch allein in den Supermarkt ging und zu Hause eine ganz normale Alarmanlage reichte. Aber so mußte es eben sein, hatte sie gedacht, so wie sie sich immer und äußerst loyal mit den Dingen abfand, wie sie nun einmal beschlossen und eingerichtet waren. Ein Mann schaute zu ihr herunter. Unsicher hob sie die Hand zu einem Gruß. Er winkte zurück. Es war Peter Salhus. Ein guter Mann. Ein Mann, auf den Verlaß war. Immer freundlich, wenn sie sich trafen, aufmerksam und geistesgegenwärtig, ganz anders als so viele der hochrangigen Persönlichkeiten, die im Büro des Justizministers ein und aus gingen und kaum registrierten, daß Beate Koss existierte. Sie warf die Kippe auf den Boden und trat sie aus. Als sie wieder hochblickte, glaubte sie zu sehen, daß Salhus etwas sagte, ehe er die Vorhänge schloß und sich wieder ins Zimmer umdrehte. Ein Streifenwagen fuhr langsam vorbei, ohne Sirenen, aber mit blinkendem Blaulicht. »Jetzt, wo wir allein sind«, sagte Peter Salhus, denn nur der 56
Justizminister und Oslos Polizeipräsident hielten sich noch im Büro hinter den grünen Fensterscheiben auf, »darf ich mir wohl die Frage erlauben …« Er kratzte sich am Bart und schluckte. »Das Hotel Opera«, sagte er plötzlich und starrte Polizeipräsident Bastesen an. »Das Hotel Opera!« »Ja?« »Warum?« »Diese Frage verstehe ich wirklich nicht ganz«, sagte Bastesen leicht pikiert und runzelte die Stirn. »Das war aufgrund …« »Hier haben wir Continental und Grand«, fiel Salhus ihm ins Wort, seine Stimme war angespannt leise. »Elegante, traditionsreiche Hotels. Wir haben schöne Repräsentationswohnungen und wir haben …« Er dämpfte die Stimme noch weiter und tippte mit dem Finger auf einen riesigen Plan der Osloer Innenstadt. »Da haben schon Könige gewohnt. Prinzessinnen und Präsidenten. Albert Einstein, verdammt noch mal …« Er unterbrach sich und holte tief Luft. »… und Gott allein weiß, wieviele andere Berühmtheiten, Filmstars und Nobelpreisträger süß und geborgen in ihren Betten geschlummert haben – hier!« Sein Zeigefinger drückte fast ein Loch in den Stadtplan. »Und dann wird beschlossen, die Präsidentin der USA in eine verdammte Klitsche zwischen einem Bahnhof voller Junkies und einem verfluchten Bauplatz einzuquartieren. Großer Gott …« Er richtete sich mit einer Grimasse auf. Bis auf das leichte Rauschen der Klimaanlage war es vollkommen still im Raum. Der Minister und der Polizeipräsident beugten sich vor und sahen sich den Plan auf dem Tisch sorgfältig an, als könne Madam President sich dort versteckt haben, zwischen 57
Straßennamen und schraffierten Blocks. »Wie seid ihr bloß auf diese Idee gekommen?« Der Justizminister trat zwei Schritte zurück. Polizeipräsident Bastesen wischte sich unsichtbaren Staub von der Uniformbrust. »Von diesem Ton hat hier keiner etwas«, sagte er ruhig. »Und ich möchte daran erinnern dürfen, daß wir jetzt die Verantwortung für den Personenschutz tragen. Das beinhaltet jegliche Sicherung von Objekten, norwegischen wie ausländischen. Ich kann dir versichern, daß …« »Terje«, fiel Salhus ihm ins Wort und blies die Wangen auf, um die Luft dann langsam wieder entweichen zu lassen. »Es tut mir leid. Du hast recht. Ich hätte mich nicht so aufregen dürfen. Aber … das Grand kennen wir doch! Wir haben Übung im Sichern des Continental. Warum um alles in der Welt …« »Jetzt laß mich doch ausreden!« »Ich schlage vor, daß wir uns setzen«, sagte der Justizminister streng. Keiner der anderen schien dieser Aufforderung Folge leisten zu wollen. »Sie haben dort vor kurzem eine Präsidentensuite eingerichtet«, sagte Bastesen. »Das Hotel bereitet sich auf den Einmarsch der kulturellen Elite vor. Der großen Namen. Bisher standen sie wohl in dem Ruf, nicht ganz … naja, nicht die Grand-Klasse zu erreichen, um es mal so zu sagen, aber wenn die neue Oper fertig ist, wird die Lage doch ein bedeutender Wettbewerbsvorteil sein und …« Der Zeigefinger malte einen Kreis um Bjørvika. »Im Moment ist das ein Verkehrsknotenpunkt und nicht gerade einladend. Das muß ich zugeben. Aber die Pläne sehen gut aus … Die Präsidentensuite entsprach allen unseren Anforderungen. Ästhetisch, praktisch und nicht zuletzt sicherheitsmäßig. Prachtvoller Ausblick. Sie haben eine 58
bestehende Suite mit zwei weiteren Räumen im neunten Stock zusammengelegt, und das ist … und außerdem …« Er lächelte verlegen. »Billig war es auch.« Ein Engel schwebte durch das Zimmer. Salhus starrte Bastesen ungläubig an, der immer noch auf den Stadtplan schaute. »Billig«, stöhnte der Überwachungschef endlich. »Die Präsidentin der USA kommt nach Norwegen. Die Sicherheitsanforderungen sind riesig, vielleicht die größten, vor denen wir je gestanden haben. Und ihr sucht euch ein Hotel aus, weil es … billig ist. Billig!« »Was sicher auch deine Dienststelle gewußt hat«, sagte Bastesen noch immer ziemlich gelassen. »Jeder Leiter einer Behörde hat die Aufgabe, mit öffentlichen Mitteln so sparsam wie möglich umzugehen. Wir haben eine Gesamtanalyse des Hotels Opera vorgenommen und es mit den von dir erwähnten Hotels verglichen. Und das Opera hat am besten abgeschnitten. Insgesamt gesehen. Und ich möchte daran erinnern dürfen, daß Madam President selbst einen ziemlich großen Sicherheitsapparat mitbringt. Der Secret Service hat sich die Umgebung natürlich angesehen. Gründlich. Kaum Einwände, wenn wir das richtig verstanden haben.« »Und dabei sollten wir es jetzt belassen«, sagte der Justizminister. »Wir müssen uns an die Tatsachen halten, so wie sie sind, statt uns in dem zu verzetteln, was wir anders hätten machen können oder müssen. Ich schlage vor, daß wir jetzt …« Er ging zur Tür und öffnete sie. »Wo sind die Grundrisse«, fragte Peter Salhus und sah den Polizeipräsidenten an. »Des Hotels?« Salhus nickte. »Die sind bei uns. Ich werde sofort Kopien für dich machen 59
lassen.« »Danke.« Er streckte als versöhnliche Geste die Hand aus. Bastesen zögerte, nahm sie dann aber. Es war schon nach zwei. Noch immer hatte niemand etwas von Helen Bentley gehört. Noch immer wußten sie nicht einmal genau, wann sie verschwunden war. Und noch immer ahnten weder der Überwachungschef noch der Polizeipräsident von Oslo, daß die Grundrisse, vor denen sie in dem tristen, geschwungenen Gebäude im Grønlandsleiret 44 saßen, nicht voll und ganz mit dem Terrain übereinstimmten.
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6 Ein Mann wachte davon auf, daß sein Ohr voll von Erbrochenem war. Der Gestank quälte seine Nase, und er versuchte, sich aufzurichten. Die Arme wollten ihm nicht gehorchen. Resigniert ließ er sich zurücksinken. Jetzt ging es zu weit. Er erbrach sich schon. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er sich zuletzt all des Drecks hatte entledigen müssen, den er in sich hineinschüttete. Mehrere Jahrzehnte der Übung hatten seinen Magen immun gegen das meiste werden lassen. Nur von Brennspiritus ließ er die Finger. Brennspiritus war der Tod. Zwei Jahre zuvor, nach einer richtigen Runde mit Schmuggelware, war er zusammen mit zwei Saufbrüdern im Krankenhaus gelandet. Alle hatten eine Methanolvergiftung davongetragen. Der eine war gestorben. Der andere blind geworden. Er selbst war nach fünf Tagen aufgestanden und nach Hause gegangen, er hatte sich lange nicht mehr so gesund gefühlt. Der Arzt hatte gesagt, er könne sich glücklich schätzen. Übung, hatte er gedacht. Alles eine Frage der Übung. Aber von Brennspiritus ließ er die Finger. Die Wohnung sah aus wie ein Alptraum. Das wußte er. Er sollte besser etwas unternehmen. Die Nachbarn beschwerten sich auch schon. Vor allem über den Geruch. Er mußte etwas tun, sonst würden sie ihn auf die Straße setzen. Wieder versuchte er, sich aufzurichten. Verdammt. Die Welt drehte sich wie besessen. Seine Leiste schmerzte, und er hatte Kotze in den Haaren. Wenn er den Unterleib vom Sofa rollte, würde er vielleicht aufstehen können. Ohne diesen verdammten Krebs wäre das kein Problem. Dann hätte er sich nicht erbrochen. Er hätte die 61
Kraft gehabt, auf die Beine zu kommen. Langsam, um das bißchen Muskulatur zu schonen, das sein magerer Körper noch aufwies, schob er die Füße auf den Couchtisch zu. Endlich konnte er sich halbwegs aufsetzen, mit den Knien auf dem verfilzten Teppich und dem Körper in Ruhestellung vor dem Sofasitz, wie zum Gebet. Der Fernseher war jetzt viel zu laut. Nun fiel es ihm wieder ein. Er hatte ihn eingeschaltet, als er morgens nach Hause gekommen war. Wie in einem vagen Traum hatte er registriert, daß jemand an die Tür klopfte. Wütend und heftig, wie die verdammten Nachbarn ihn eben früh und spät quälten. Zum Glück war sonst nichts passiert. Die Bullerei hatte an so einem Tag ja noch anderes zu tun, als herzukommen, um einen armen Teufel wie ihn einzubuchten. »Ein Hurra auf den 17. Mai«, keuchte er mit Mühe und schaffte es endlich, auf das Sofa zu kriechen. »Noch immer steht nicht fest, wann genau Präsidentin Bentley aus dem Hotel verschwunden ist …« Das Geräusch bohrte sich in sein müdes Gehirn. Der Mann versuchte, im Chaos auf dem Couchtisch die Fernbedienung zu finden. Eine Tüte Kartoffelchips hatte sich über alten Zeitungen entleert und badete jetzt im Bier einer umgefallenen Dose. Die fast noch ganze Pizza, die ihm am Vortag ein Kumpel aus dem Nachbarhaus geschenkt und die er für den Nationalfeiertag aufgehoben hatte, war von irgendjemandem angefressen worden. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, von wem. »Wie wir in Erfahrung bringen konnten, hat der Vizepräsident der USA …« In vieler Hinsicht war es eine verdammt nette Nacht gewesen. Echter Schnaps, nicht der übliche Drecksfusel. Er hatte eine halbe Upper Ten ganz für sich allein gehabt. Und noch viel mehr, das mußte er zugeben, wenn hier die Wahrheit gefragt 62
war. Er hatte sich an den Waren der anderen bedient, wenn er sich unbeobachtet fühlte, und nur ein einziges Mal war es zu einem kleinen Handgemenge gekommen. Aber so gehörte es sich eben unter guten Kameraden. Noch zwei kleine Flaschen hatten den Weg in seine Jackentasche gefunden, als alles zu Ende war. Harrymarry konnte da nichts gegen sagen. Harrymarry war ein Pfundsmädel. Sie war auf den grünen Zweig gekommen, als sie von dieser Polizistin und ihrer stinkreichen Lesbe aufgelesen worden und zur kackvornehmen Haushälterin im Westend aufgestiegen war. Aber Harrymarry war keine, die vergaß, woher sie kam. Sie wollte zwar nie die Festung von Wohnung verlassen, in die sie sich eingemauert hatte, aber sie schickte Berit im Käfig zweimal pro Jahr Kohle, am 17. Mai und zu Heiligabend. Und dann konnte die alte Clique feiern. Mit Essen und echter Ware. Nach so einem schönen Abend hätte es ihm einfach nicht so schlecht gehen dürfen. Es war nicht der Schnaps, sondern der verdammte Hodenkrebs. Als er am frühen Morgen durch die Stadt gegangen war, es mochte so gegen vier gewesen sein, hatte ein schönes Licht über dem Fjord gelegen. Die Abiturienten machten natürlich einen Höllenlärm, aber in den stillen Momenten hatte er sich eine Ruhepause gegönnt. Auf einer Bank vielleicht, oder auf einem Zaun bei einer Mülltonne, wo er eine ungeöffnete große Flasche Bier gefunden hatte. Das Licht im Frühling war so schön. Die Bäume sahen irgendwie freundlicher aus, und auch die Autos hupten nicht ganz so wütend, wenn er zwischendurch einmal ein wenig zu schnell auf die Fahrbahn torkelte und der Fahrer auf die Bremse treten mußte. Oslo war seine Stadt. »Die Polizei bittet alle, die möglicherweise etwas gesehen 63
haben …« Wo zum Teufel war nur die Fernbedienung? Da. Endlich. Sie hatte sich unter der Pizza versteckt. Er machte den Ton leiser und ließ sich auf dem Sofa zurücksinken. »Himmel«, sagte er tonlos. Sie zeigten das Bild einiger Kleidungsstücke. Eine blaue Hose. Eine knallrote Jacke. Schuhe, die einfach aussahen wie Schuhe. »… nach Informationen der Polizei war Präsidentin Bentley bei ihrem Verschwinden so gekleidet. Es ist wichtig, daß …« Es war zehn nach vier gewesen. Er hatte gerade auf die Uhr vor dem alten Ostbahnhof geschaut, als sie gekommen war. Sie und zwei Mannsbilder. Ihre Jacke war zwar rot, aber die Frau war viel zu alt für eine Abiturientin. O verdammt, was brannte sein Schritt! War jemand verschwunden? Es war eine schöne Nacht gewesen. Er war auch nicht komplett besoffen, sodaß er es durch die Stadt und nach Hause geschafft hatte, und er hatte sich satt und wohl gefühlt. Bunte Girlanden schmückten die Straßen, und ihm war aufgefallen, wie sauber es überall aussah. Der Kotzegestank war jetzt eine richtige Qual. Er mußte etwas unternehmen. Unbedingt aufräumen. Putzen, damit er nicht auf die Straße gesetzt wurde. Er schloß die Augen. Dieser verdammte Krebs. Aber an irgendwas muß man ja schließlich sterben, dachte er. So war das. Er war erst einundsechzig, aber das reichte eigentlich auch, wenn er sich das richtig überlegte. Dann glitt er langsam zur Seite und schlief tief ein, mit dem Ohr in seinem eigenen Erbrochenen, ein weiteres Mal. 64
7 »… und so ist es einfach.« Der Ministerpräsident ließ sich im Sessel zurücksinken. In dem großen Raum wurde es still. Ein vager Geruch von Feuchtigkeit hing in der Luft. Der Raum war lange nicht benutzt worden. Peter Salhus verschränkte die Hände im Nacken und ließ seinen Blick durch das Zimmer wandern. An der einen Wand stand ein langes, schrankähnliches Möbelstück. Ansonsten wurde der Raum dominiert von einem riesigen Konferenztisch mit vierzehn Sesseln. An einer Wand hing ein Plasmabildschirm. Die Verstärker standen auf Glasständern auf dem Boden. Eine vergilbte Weltkarte hing an der gegenüberliegenden Wand. »Wir werden also diese …« Der Polizeipräsident von Oslo, Terje Bastesen, hätte offenbar gern »Paviane« gesagt, entschied sich aber für ein anderes Wort: »… Agenten am Hals haben. Die alles wissen wollen, was wir finden, was wir tun, was wir vielleicht glauben und denken. Na Mahlzeit.« Ehe der Ministerpräsident dazu etwas sagen konnte, holte Peter Salhus tief Luft. Er beugte sich über den Tisch vor und legte die Arme auf die Tischplatte. »Erstens finde ich, daß wir uns eins ganz klar vor Augen halten sollten«, sagte er leise. »Und zwar, daß die Amerikaner nicht einfach hinnehmen werden, daß ihre Präsidentin sich in Luft auflöst, ohne selbst ihr absolut Äußerstes zu tun, um …« Er hob einen Finger. »… sie zu finden. Zweitens …« Noch ein Finger zeigte zur die Decke. »… um den oder die zu fangen, die sie entführt haben. Und 65
drittens …« Er rang sich ein Lächeln ab. »Sie werden Himmel und Erde – und auch die Hölle, falls es sein muß – in Bewegung setzen, um die Entführer zu bestrafen. Und das wird nicht hier in diesem Land passieren, um es mal so zu sagen. Die Bestrafung, meine ich.« Der Justizminister räusperte sich trocken. Alle sahen ihn an. Er öffnete zum ersten Mal während dieser Besprechung den Mund. »Die Amerikaner sind unsere Freunde und gute Verbündete«, sagte er; in seiner Stimme lag eine Mischung aus Ergriffenheit und Panik, bei der Peter Salhus die Augen schließen mußte, um ihm nicht ins Wort zu fallen. »Und wir werden ihnen natürlich zu Diensten stehen. Aber es muß auch einwandfrei klargestellt werden …« Und hier schlug der Minister ein wenig zu hart mit der Faust auf den Tisch. »… daß wir uns in Norwegen befinden. Und den norwegischen Gesetzen unterstellt sind. Für die Ermittlungen ist die norwegische Polizei zuständig. Das muß ganz klar sein. Und wenn der Täter gefaßt ist, sind es norwegische Gerichte …« Seine Stimme wurde schrill, und das hörte er selbst. Er unterbrach sich. Räusperte sich noch einmal, wie um Anlauf zu nehmen. »Bei allem Respekt …« Peter Salhus’ Stimme klang im Vergleich zu der des Justizministers grob. Er erhob sich. Der Justizminister blieb mit halboffenem Mund sitzen. »Herr Ministerpräsident«, sagte Salhus jetzt, ohne auch nur einen Blick auf den obersten politischen Verantwortlichen für die norwegische Polizei zu werfen. »Ich glaube, hier ist eine Art Realitätsorientierung am Platze.« Die Polizeidirektorin, eine magere Frau in vollständiger 66
Uniform, die bisher vor allem zugehört hatte, ließ sich zurücksinken und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie hatte meistens abwesend gewirkt und zweimal den Raum verlassen, um Telefongespräche anzunehmen. Jetzt richtete sie den Blick auf den Überwachungschef und machte ein interessierteres Gesicht. »Ich halte es für angebracht«, sagte der Justizminister hitzig, »darauf aufmerksam zu machen, daß …« »Ich denke, die Zeit nehmen wir uns«, unterbrach ihn der Ministerpräsident mit einer Handbewegung, die vermutlich beruhigend gemeint war, die aber eher wirkte wie ein Tadel für ein ungehorsames Kind. »Na los, Salhus. Wo fehlt es uns denn an Wirklichkeitsorientierung? Was hast du gesehen, was wir anderen nicht kapiert haben?« Seine Augen, die ohnehin auffallend schmal in dem runden Gesicht wirkten, sahen jetzt aus, als seien sie mit dem Skalpell hineingeschnitten worden. »Bin ich hier der einzige«, sagte Salhus und breitete die Arme aus, »bin ich der einzige, der diese Situation als vollständig absurd erlebt?« Ohne auf Antwort zu warten, fügte er hinzu: »Eine komplette kleine Luftflotte, zusätzlich zur Air Force One. Um die fünfzig Secret Service-Agenten. Zwei Panzerwagen. Bombenspürhund. Ein Haufen Sonderberater, was meistens FBI-Agenten bedeutet, falls jemand da Zweifel haben sollte …« Er versuchte, nicht den Justizminister anzusehen, der jetzt eifrig mit einem Bleistift in seiner Tasse rührte. »Das ist die Begleitung der US-Präsidentin auf ihrem Norwegenbesuch. Und wißt ihr was? Das ist überraschend wenig!« Jetzt lehnte er sich noch weiter über den Tisch und preßte beide Hände auf die Tischplatte. 67
»Wenig!« Er ließ das Wort in der Luft hängen, als wollte er die Schockwirkung testen. »Ich kann mir nicht so recht vorstellen, was uns das jetzt bringen soll«, sagte die Polizeidirektorin ruhig. »Wir wissen alle, welche Mannschaft die Präsidentin mitgebracht hat, und das ist wohl nicht …« »Das ist sehr wenig«, wiederholte Peter Salhus. »Es kommt durchaus vor, daß die Präsidenten der USA ein Heer von zweioder dreihundert Agenten mitbringen. Eigene Köche, einen ganzen Wagenpark. Einen riesigen Lastwagen vollgestopft mit moderner Kommunikationstechnik. Militärische Ambulanz. Kugelsichere Schirme zur Verwendung bei öffentlichen Auftritten, jede Menge Computerkram, ganze Zwinger voller Spür-, Bomben- und Kampfhunde …« Wieder schnitt er eine Grimasse, als er sich aufrichtete. »Aber hierher zu uns kommt die Alte mit einer ziemlich jämmerlichen Truppe. Verzeihung …« Letzteres kam blitzschnell und er hob abwehrend die Hand in Richtung des Ministerpräsidenten. »Die Präsidentin meine ich. Madam President. Und warum, das möchtet ihr jetzt sicher wissen. Warum? Warum um alles in der Welt tritt die Präsidentin der USA auf ihrer ersten Auslandsreise mit dermaßen wenig Schutz von eigener Seite auf?« Die Anwesenden schienen sich über diese Frage keine besonderen Gedanken gemacht zu haben. Im Gegenteil, das Gespräch hatte sich bisher um die überwältigende Schar von US-Agenten gedreht, die jetzt an Türen klopften, in Büros eindrangen, Ausrüstung mit Beschlag belegten und ansonsten der norwegischen Polizei Probleme machten. »Weil – es – hier – sicher – ist.« 68
Die Wörter kamen übertrieben langsam und er wiederholte: »Weil Norwegen sicher ist. Haben wir gedacht. Seht uns an.« Er schlug sich vorsichtig an die Brust. »Das Ganze ist absurd«, sagte er leise, und jetzt hörten die anderen aufmerksamer zu. »Dieser kleine Schlauch auf der Karte, dieses …« Er warf einen Blick auf die Weltkarte. Jugoslawien stand in dicken Buchstaben über dem Balkan, und Peter Salhus ertappte sich bei einem Kopfschütteln. »Das gute alte Norwegen«, sagte er und fuhr mit dem Finger über sein Land, von Norden nach Süden. »Viele Jahre lang haben wir abwechselnd darüber gesprochen, was wir jetzt für eine farbenfrohe nationale Gemeinschaft haben und zu welch multikultureller Nation wir geworden sind, um uns dann im nächsten Moment in Vorstellungen von Frieden, Unschuld und Anderssein einzulullen. Die Welt ist dichter an uns herangerückt, das sagen wir immer wieder, während wir gleichzeitig zutiefst beleidigt sind, wenn dieselbe Welt uns nicht genauso sieht, wie wir uns immer gesehen haben: Wir sind ein idyllischer Fleck auf der Landkarte. Eine friedliche Ecke der Welt, reich und großzügig und lieb zu allen.« Er biß sich einen trockenen Hautfetzen von der Lippe. »Wir befinden uns mitten in einer gewalttätigen, entsetzlichen Kollision, und ich will, daß ihr das begreift. Dieses Land ist auf Krisen vorbereitet, so weit das überhaupt nur möglich ist. Wir haben uns auf Epidemien und andere Katastrophen eingestellt. Einige meinen sogar, daß wir auf den Kriegsfall vorbereitet sind …« Er lächelte den Verteidigungsminister müde an, aber der lächelte nicht zurück. »Worauf wir absolut nicht vorbereitet sind, ist das hier. Das, was jetzt passiert.« 69
»Und das ist?« fragte die Polizeidirektorin, ihre Stimme war scharf und hell. »Das ist, daß wir die Präsidentin der USA verschusselt haben.« Der Justizminister hatte einen unpassenden Schluckauf, der sich wie ein Kichern anhörte. »Und das lassen sie sich ganz einfach nicht gefallen«, sagte Salhus unbeirrt und ging zurück zu dem Sessel, aus dem er sich erhoben hatte. »Die Amerikaner haben zwar in ihrer Geschichte schon einige Präsidenten durch Attentate verloren. Aber sie haben noch nie, niemals, auf fremdem Boden einen Präsidenten eingebüßt. Und eins könnt ihr mir glauben …« Er ließ sich in den Sessel fallen. »Jeder einzelne von diesen Secret Service-Agenten, die jetzt hier herumschwirren und unseren Leuten das Leben schwer machen, nimmt das persönlich. Zutiefst persönlich. This happened on their watch, und das werden sie nicht auf sich sitzen lassen. Für sie ist das schlimmer als … für sie ist das …« Sein Zögern gab dem Ministerpräsidenten die Möglichkeit, eine Frage einzuwerfen: »Mit wem … mit wem können wir sie eigentlich vergleichen?« »Mit niemandem.« »Mit niemandem? Aber sie sind doch eine Art Polizei …« »Ja. Sie haben zwar auch noch allerlei andere Aufgaben, aber der Personenschutz macht die Identität der Truppe aus, und das schon seit dem Attentat auf Präsident McKinlay im Jahre 1901. Und durch das, was heute nacht geschehen ist, ist dieses Selbstverständnis ernstlich bedroht. Nicht zuletzt, weil es auf einem dicken Patzer beruht. Der ihnen selbst passiert ist.« Noch immer klirrte es in der Tasse des Justizministers. Ansonsten war nichts zu hören. Diesmal nutzte niemand die 70
Pause zu einer Frage. »Sie haben die Lage falsch eingeschätzt«, sagte Peter Salhus. »Und wie. Nicht nur wir halten dieses Land für einen friedlichen Winkel in einer gefährlichen Welt. Die Amerikaner haben das auch getan. Und das Besorgniserregendste an der ganzen Angelegenheit ist, abgesehen davon, daß die Präsidentin spurlos verschwunden ist, daß die Amerikaner wirklich gedacht haben, hier wäre sie in Sicherheit. Sie können solche Fragen nämlich sehr viel besser beurteilen als wir. Sie hätten es ganz einfach besser wissen müssen, da …« »Da sie über unvorstellbar viel mehr Erfahrung verfügen«, beendete die Polizeidirektorin langsam den Satz. »Ja.« »Aha«, sagte der Ministerpräsident. »Genau«, sagte der Verteidigungsminister und nickte. »Ja«, sagte Peter Salhus ein weiteres Mal. Dann wurde es still. Sogar der Justizminister ließ seine Tasse in Ruhe. Der Plasmabildschirm an der Wand leuchtete einfarbig blau und hatte nichts zu berichten. Eine Neonröhre fing an zu blinken, ohne Rhythmus und ohne Geräusch. Als eine Fliege die Stille mit dumpfen Summen brach, folgte Peter Salhus ihr mit seinen Blicken, bis das Schweigen peinlich wurde. »Die Amerikaner haben also keine Ahnung, was hier alles passieren kann«, brachte der Regierungschef die Lage auf den Punkt. Er schob seine Papiere zu einem Stapel zusammen, ließ aber ansonsten nicht erkennen, daß er die Besprechung zu beenden wünschte. »Die auch nicht, meine ich.« »Ich würde wohl eher sagen, daß sie nichts geahnt haben«, sagte Salhus zögernd. »Vorher, meine ich. Sie stehen vor der Herausforderung, immer wieder das unendliche Material 71
analysieren zu müssen, vor dem sie sitzen. Immer wieder. Sie müssen die Karten anders legen und sehen, was sich dann für ein Bild ergibt.« »Aber das Problem ist«, sagte die Polizeidirektorin und schlug leicht nach der Fliege, die aufdringlich geworden war, »daß sie zu viele Karten haben.« Salhus nickte. »Ihr macht euch keinen Begriff«, sagte er, seine Augen sahen trocken aus und er biß sich in den Daumen. »Es ist für uns schwer vorstellbar, was sie alles haben. Und was bei ihnen einläuft. Jede Minute, jede Stunde, rund um die Uhr. Nach dem 11. September ist das FBI um ein Vielfaches gewachsen. Zuerst war es eine relativ herkömmliche Polizeiorganisation mit klaren polizeilichen und vor allem inneramerikanischen Aufgaben, jetzt beansprucht die Terrorabwehr den größten Teil der Gelder und des Personals. Und das, meine Damen und Herren …« Er hob ein offizielles Foto von Helen Lardahl Bentley vom Tisch hoch. »Die Präsidentin zu entführen fällt definitiv unter den amerikanischen Terrorbegriff. Und jetzt werden sie angestürmt kommen, darauf könnt ihr euch verlassen. Wie ich schon gesagt habe, befinden sich in der Begleitung der Präsidentin vermutlich etliche FBI-Leute. But we ain’t seen nothing yet.« Er lächelte matt und ließ seinen Zeigefinger unter seinem Kragen entlang wandern, während er zerstreut das Foto der Präsidentin betrachtete. »Nach meinen Informationen wird bereits in drei Stunden eine Sondermaschine landen«, bestätigte die Polizeidirektorin. »Und das wird sicher nicht die einzige bleiben.« Der Ministerpräsident ließ die Fingerspitzen über die Tischplatte wandern. Bei einem Kaffeefleck hielt er inne. Zwei tiefe Furchen zeichneten sich zwischen den Hautfalten ab, und 72
nur ein Lichtreflex verriet, daß sich dort auch Augen befanden. »Wir sprechen hier ja wohl nicht von einer regelrechten Invasion«, sagte er deutlich gereizt. »Das hört sich so an, als seien wir den Amerikanern hilflos ausgeliefert, Salhus. Es kann aber nicht der leiseste Zweifel daran bestehen …« Er hob die Stimme noch ein wenig mehr. »… daß der Vorfall auf norwegischem Boden geschehen ist. Wir werden natürlich keine Kosten und Mühen scheuen, und die Amerikaner werden mit dem gebührenden Respekt behandelt werden. Aber das ist und bleibt eine norwegische Angelegenheit. Für die norwegische Polizei und die norwegische Justiz.« »Viel Glück«, murmelte Peter Salhus und rieb sich die Fingerknöchel an der Stirn. »Ich möchte mir solche Bemerkungen doch verbitten …« Der Ministerpräsident unterbrach sich und hob ein Glas Wasser zum Mund. Seine Hände zitterten ein wenig und er stellte das Glas wieder hin, ohne getrunken zu haben. Ehe er weitersprechen konnte, beugte die Polizeidirektorin sich vor: »Peter, was willst du uns eigentlich sagen? Sollen wir den ganzen Komplex den Amerikanern überlassen? Unsere Souveränität und unsere Gerichtsbarkeit aufgeben? Das kannst du doch nicht im Ernst meinen.« »Das meine ich natürlich nicht«, sagte Salhus, die vertrauliche Anrede schien ihn zu überraschen, und er zögerte. »Ich meine, daß … ich meine das genaue Gegenteil. Alle Erfahrung – politisch, polizeilich, historisch und von mir aus auch militärisch – weist daraufhin, daß wir den Amerikanern gegenüber in diesem Fall einen enormen Vorteil besitzen.« Es klopfte an der Tür, und über dem Türrahmen ging eine rote Lampe an. Niemand reagierte. 73
»Wir sind hier in Norwegen«, sagte Peter Salhus. »Wir kennen dieses Land. Wir beherrschen die Sprache. Kennen die Infrastruktur. Geographie, Topographie, Architektur, die Stadt. Wir sind Norweger. Sie sind Amerikaner.« Wieder wurde geklopft, jetzt energischer. »Wir sind dabei«, sagte Salhus und zuckte mit den Schultern. »Alles funktioniert. Wir sitzen hier, alle, die hier sein sollten. Die Krisenbereitschaft funktioniert. Die Mannschaft ist einberufen. Die Maschinerie ist in allen Abteilungen längst angelaufen. Vorläufig versuchen Außenministerium und Justiz, sich um das Protokoll zu kümmern. Ich wollte nur darauf hinweisen …« Er unterbrach sich, als eine kugelrunde Frau mittleren Alters das Zimmer betrat. Stumm legte sie einen Zettel vor den Ministerpräsidenten, der keine Anstalten machte, ihn zu lesen. Statt dessen nickte er Salhus auffordernd zu. »Weiter«, sagte er kurz. »Es geht mir darum, daß wir einsehen müssen, mit welchen Kräften wir es zu tun haben. Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, daß die Amerikaner sich in einer solchen Situation dirigieren lassen. Sie werden zu weit gehen, immer wieder. Zugleich müssen wir anerkennen, daß sie über Qualifikationen, Ausrüstung und Nachrichtendienste verfügen, die für den Fall von Entscheidung sein können. Wir brauchen sie ganz einfach. Das allerwichtigste wird sein, sie davon zu überzeugen, daß …« Er hob sein Glas und schaute es abwesend an. Die Fliege hatte sich an der Innenseite niedergelassen und bewegte langsam und halbtot die Flügel. »Daß sie uns mindestens ebenso sehr brauchen«, sagte er nachdrücklich und drehte das leere Glas zwischen den Händen. »Wenn nicht, werden sie uns überfahren. Und wenn wir ein solches gegenseitiges Vertrauen entwickeln wollen, dann sollten wir lieber von Anfang an nicht zu sehr auf Wörter wie 74
Gerichtsbarkeit, norwegisches Territorium oder Souveränität pochen.« »So ungefähr hat Vidkun Quisling sich sicher auch ausgedrückt«, sagte der Verteidigungsminister. »Im April 1940.« Die Stille, die darauf folgte, war fast absolut. Sogar die Fliege hatte kapituliert und lag mit den Beinen nach oben auf dem Boden des Glases. Das ewige Gefummel des Ministerpräsidenten an seinen Unterlagen kam jäh zum Erliegen. Die Polizeidirektorin saß steif im Sessel, ohne die Rückenlehne zu berühren. Der Außenminister, der während der ganzen Besprechung kaum etwas gesagt hatte, machte ein starres, verdutztes Gesicht. »Nein«, sagte Peter Salhus endlich und so leise, daß der Ministerpräsident am anderen Ende des Tisches es kaum hören konnte. »Nicht so. So ja nun wirklich nicht.« Steif und langsam erhob er sich. »Ich nehme an, daß diese Besprechung beendet ist«, sagte er, ohne den Ministerpräsidenten anzusehen. Dann ging er auf die Tür zu. Er hielt seine Unterlagen lose in der Hand und sah niemanden an. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Als er am letzten Sessel vor der Tür vorbeikam, legte der Ministerpräsident ihm versöhnlich die Hand auf den Unterarm. »Danke jedenfalls«, sagte er. Salhus gab keine Antwort. Der Ministerpräsident ließ seine Hand liegen. »Du … du bewunderst diese FBI-Leute wirklich.« Peter Salhus konnte nicht verstehen, worauf der Mann hinauswollte. Er sagte noch immer nichts. »Und diese Secret Service-Agenten. Die bewunderst du auch, oder?« 75
»Bewundern«, wiederholte Peter Salhus langsam, als könne er den Sinn dieses Wortes nicht ganz begreifen. Er zog den Arm zurück und erwiderte den Blick des Ministerpräsidenten. »Vielleicht«, sagte er und nickte. »Aber vor allem … fürchte ich sie. Das sollten wir alle tun.« Dann verließ er das geheime Krisenzentrum der Regierung, mit einem schwachen Geruch modriger Fäule in der Nase.
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8 Der Mann an der Tankstelle hatte das alles satt. Er mußte jetzt im zweiten Jahr am 17. Mai arbeiten. Er war zwar erst neunzehn und damit der jüngste Angestellte hier, aber es war trotzdem nicht gerecht, daß er an einem Tag hier versauern sollte, an dem fast niemand Benzin brauchte. Die Tankstelle lag zu weit vom Zentrum entfernt, was den Würstchenverkauf auch nicht gerade ankurbeln würde. Sie hätten den ganzen Dreck heute dichtmachen sollen. Wenn irgendwer ums Verrecken Treibstoff haben wollte, gab es ja noch die Karten-Zapfsäule. »Der Junior macht das«, hatte der Chef gebrummt, als sie sich zwei Wochen zuvor um den Dienstplan gestritten hatten. Der Junior macht das. Als ob der Chef sein Vater wäre oder so. Zwei Jungs von vielleicht zehn Jahren kamen hereingestürzt. Ihre Uniformen waren weißrot, mit schwarzer Mütze und weißgelacktem Koppel. Ihre Trommeln hatten sie irgendwo abgelegt. Sie fuchtelten wild und heftig mit den Stöcken. »En garde«, schrie der eine und setzte zu einem Stoß an, der traf. »Au! Scheiße!« Der Kleinere ließ die Trommelstöcke fallen und griff sich an die Schulter. »Macht nicht so einen Krach«, sagte der Tankwart. »Wollt ihr jetzt was kaufen, oder nicht?« Ohne zu antworten liefen die Knaben zur Eistruhe. Die war ein wenig zu hoch für sie. Der eine benutzte das Schokoladenregal als Leiter. »Booteis«, schrie der andere. 77
»Hört auf mit dem Scheiß!« Der Tankwart schlug auf den Tresen. Der Frechdachs auf dem Schokoregal war ein Kanake. Die konnten sich mit Uniformen und Trachten verkleiden, soviel sie wollten. Kanaken waren sie trotzdem. Eigentlich ziemlich blödsinnig, wie sehr sie versuchten, norwegisch zu sein. Vorhin war eine ganze Bande winziger Neger gekommen. Sie hatten geplappert und sich aufgeführt wie zu Hause in Tamiland oder Afrika oder wo immer sie nun herkamen. Aber Schleifen hatten sie! Riesige rotweißblaue Bänder, an Revers und Mänteln von der Heilsarmee. Sie grinsten und lachten und ruinierten ihm den ganzen Nationalfeiertag. »He, du!« Der Tankwart öffnete die Klappe im Tresen und ging zu den Jungs. Er packte den Pakistani im Nacken. »Leg das Eis zurück.« »Ich bezahl ja. Ich bezahl das doch!« »Leg das verdammte Eis zurück!« »Au, Scheiße!« Seine Stimme klang jetzt dünner. Der Tankwart hätte schwören können, daß der Kleine gleich losheulen würde. Er ließ ihn los. »Hallo.« Ein Mann kam herein. Er blieb einen Moment lang stehen und sah die beiden Jungen fragend an. Der Tankwart murmelte einen Gruß. »Tut mir leid, daß ich gleich vor das Fenster gefahren bin«, sagte der Mann und nickte zu einem blauen Ford auf der anderen Seite der Glasscheiben hinüber. »Hab das Schild erst gesehen, als ich aus dem Auto gestiegen war. Und ich brauche nur was zu trinken.« 78
Der Tankwart zeigte auf einen der Kühlschränke und ging zurück hinter den Tresen. Der jüngere Knabe mit den blonden Locken unter der Mütze knallte einen Fünfziger vor ihn hin. »Zwei Eis«, fauchte er verbissen. »Zwei Booteis, du Arsch.« Der Mann mit dem Ford stellte sich hinter ihn. Wortlos nahm der Junge das Wechselgeld und drehte sich um. Dann hielt er das eine Eis seinem Kumpel hin, der gleich beim Ausgang Zuflucht gesucht hatte. »Schwanzlutscher«, krähten sie im Chor, als die Tür hinter ihnen zufiel. »Drei Wasser«, sagte der Mann. »Mit Karte zahlen?« fragte der Tankwart sauer. »Nein. Hier.« Er bekam auf einen Hunderter heraus und stopfte das Geld in die Tasche. Der Tankwart warf einen Blick nach draußen. Das Auto stand mit der Fahrerseite zum Fenster da, weniger als einen Meter entfernt. Er glaubte, jemanden auf dem Beifahrersitz sehen zu können, einen Oberschenkel und eine Hand, die nach etwas griff. Auf dem Rücksitz schlief eine Frau. Ihr Kopf lehnte am Fenster. Sie hatte sich die Jacke über die Schulter gehängt und ihr Hals war unnatürlich abgewinkelt. Er war fast so rot wie die Jacke. »Schönen Tag noch«, sagte der Mann, zog sich die Schirmmütze in die Stirn und verschwand. Scheiß 17. Mai. Es war fast vier. Immerhin konnte er bald mit Ablösung rechnen. Falls der Chef sich dazu herabließ, natürlich nur. Man konnte nie wissen. Dreckstag. Langsam schob er eine Wurst in ein Brötchen und gab Krabbensalat, Salatsoße und jede Menge Senf dazu, ehe er hineinbiß. Es war seine neunte seit dem Morgen, und sie schmeckte nicht gut. 79
9 »Das Schloß ist gleich da oben«, sagte Botschafter George A. Wells und nickte hinüber zum Park auf der anderen Seite des Drammensvei. »Das ist nicht nur zur Dekoration. Sie wohnen wirklich da. König und Königin. Nette Leute. Sehr nette Leute.« Die Männer ähnelten einander. Wie sie dastanden, mit dem Rücken zum Zimmer und dem Gesicht zur Stadt hinter dem Befestigungswerk, das das dreieckige Gebäude umgab, hätte man sie für Brüder halten können. Der Botschafter mußte sich zwar jeden Tag von seiner Frau anhören, daß er etliche pounds am Bauch abnehmen sollte, aber die beiden Männer, die an einem Fenster in der US-Botschaft in Oslo standen und zusahen, wie hinter den feindseligen Stahlgittern festlich gekleidete Menschen jubelten, nahmen ihre Ernährung und ihr Golf überaus ernst. Sie sahen gut aus. George Wells ging auf die siebzig zu, konnte aber noch immer mit einer dichten silbergrauen Mähne brillieren. Der Gast war jünger und hatte auch solche Haare, wenn auch weniger gut gepflegt. Sie hatten beide die Hände in den Hosentaschen. Die Jacketts hatten sie schon längst abgelegt. »Die Königsfamilie scheint weniger gut beschützt zu werden als wir«, sagte der Gast und nickte zum Schloßpark hinüber. »Kann wirklich jeder bis vor das Schloß gehen?« »Man kann das nicht nur. Man tut es auch. Diese ewiglange Parade, die sie jedes Jahr am 17. Mai abhalten, zieht unter einem Balkon vorüber, auf dem die königliche Familie steht und winkt. Bisher ist es immer gutgegangen. Aber sie sind auch …« Er lächelte müde und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »… ein wenig beliebter als wir.« 80
Sie schwiegen. Sie schauten auf die Straße hinunter, es war schwer zu sagen, ob die Menschen dort unten kamen oder gingen. Plötzlich und gleichzeitig entdeckten sie einen kleinen Jungen mit US-Flagge. Er mochte fünf oder sechs Jahre alt sein, er trug eine dunkelblaue Hose und einen knallroten Pullover mit V-Ausschnitt über einem weißen Hemd. Er blieb stehen und schaute hoch. Er konnte sie unmöglich sehen, er war zu weit weg und die getönten Fenster erschwerten den Einblick. Trotzdem lächelte er vorsichtig und schwenkte die Flagge. Seine Mutter drehte sich gereizt um und packte seinen Arm. Der Junge versuchte zu winken, dann war er nicht mehr zu sehen. »Er kommt damit durch, weil er klein ist«, sagte der Botschafter. »Er ist ein kleiner und niedlicher Afroamerikaner, und deshalb darf er am 17. Mai das Sternenbanner schwenken. In ein paar Jahren ist das nicht mehr so leicht.« Wieder Schweigen. Der Gast schien vom Gewimmel auf der Straße fasziniert zu sein und blieb am Fenster stehen. Der Botschafter machte auch keine Anstalten, sich zu setzen. Eine Bande Jugendlicher kam vom Nobel-Institut herangetorkelt. Sie sangen so laut und quälend falsch, daß der Lärm sich durch das Panzerglas fraß. Ein Mädchen von vielleicht achtzehn war sturzbetrunken und mußte von zwei Freunden gestützt werden. Der eine hatte seine linke Hand um ihre Brust gekrallt, aber das schien sie nicht weiter zu stören. Eine Grundschulklasse wanderte auf die Dreiergruppe zu, Hand in Hand und in Reih und Glied. Das erste Paar, zwei Mädchen mit blonden Zöpfen, brach in Tränen aus, als einer der Jugendlichen sie anbrüllte. Aufgebrachte Eltern kamen angestürzt. Ein junger Mann im blauen Overall begoß den wütendsten der Väter mit Bier. Ein Streifenwagen versuchte, sich durch die Menschenmenge zu zwängen. Auf halber Strecke gab er auf und hielt an. Zwei Jugendliche hatten sich auf die Motorhaube gesetzt. Ein Mädchen wollte unbedingt den Polizisten küssen, der ausstieg, um Ordnung zu schaffen. Andere kamen dazu, und im 81
Handumdrehen machte sich eine ganze Bande rotgekleideter knutschlüsterner Mädchen über den uniformierten Polizisten her. »Was ist das hier«, murmelte der Gast. »Was ist das für ein Land?« »Das hättest du eigentlich wissen müssen«, sagte der Botschafter. »Bevor du Madam President herschickst. An so einem Tag.« Der Gast seufzte laut hörbar, fast demonstrativ. Er ging zu einem Tisch, wo auf einem Silbertablett Mineralwasser und Gläser standen. Er nahm eine Flasche und blickte den Botschafter fragend an. »Bedien dich. Keine Hemmungen.« Auch der Botschafter schien das norwegische Volksleben satt zu haben. Er griff nach einer Fernbedienung, und per Tastendruck schlossen sich die leichten Vorhänge. »Entschuldige den blöden Kommentar, Warren.« Der Botschafter setzte sich. Seine Bewegungen wirkten jetzt schwerer, als sei der Tag schon zu lang gewesen und das Alter nicht mehr so leicht zu ertragen. »Schon gut«, sagte Warren Scifford. »Und außerdem hast du recht. Ich hätte es wissen müssen. Das ist der springende Punkt. Ich weiß alles, was man sich erlesen und erlauschen kann. Du kennst die Abläufe, George. Du weißt, wie wir arbeiten.« Er hielt die Wasserflasche am ausgestreckten Arm und betrachtete skeptisch das Etikett. Dann zuckte er mit den Schultern und füllte sein Glas. »Wir haben zwei Monate daran gearbeitet«, sagte er. »Und wir hielten es wirklich für eine gute Idee, als Madam President Norwegen als Ziel ihres ersten Auslandsbesuchs vorschlug. Eine …« Er hob das Glas zu einem stillen Prost. 82
»… hervorragende Idee. Und du weißt natürlich, warum.« Der Botschafter schwieg. »Wir haben eine Rangleiter«, sagte Warren Scifford. »Ganz inoffiziell, natürlich, aber dennoch eine seriöse Rangleiter. Und wenn wir von ein paar Staaten im Pazifik absehen, mit einigen tausend friedlichen Einwohnern, wo die einzige Gefahr für unsere Präsidentin in einem unangekündigten Tsunami bestehen könnte …« Er trank, schluckte und wischte sich mit dem Hemdsärmel über den Mund. »Dann ist Norwegen das sicherste Land, das es gibt. Beim letzten Mal …« Jetzt schüttelte er ein wenig den Kopf. »Präsident Clinton hat sich hier aufgeführt wie auf einer Bierreise nach Little Rock. Das war vor deiner Zeit und vor …« Er griff sich jäh an die Schläfe. »Ist alles in Ordnung?« fragte der Botschafter. Warren Scifford runzelte die Stirn und legte die Hand in den Nacken. »Anstrengender Flug«, murmelte er. »Ich habe seit vierundzwanzig Stunden nicht mehr geschlafen. Das hat uns alle überrumpelt, kann ich dir sagen. Wann kommt dieser Mensch? Und wann kann ich …« Das Telefon auf dem riesigen Schreibtisch klingelte. »Ja?« Der Botschafter hielt sich den Hörer zwei Zentimeter vom Ohr. »Ja«, sagte er noch einmal und legte auf. Warren Scifford stellte das Glas wieder auf das Silbertablett. »Er kommt nicht«, sagte der Botschafter und stand auf. »Was?« 83
»Wir sollen zu denen kommen.« Er griff nach seinem Jackett und zog es an. »Aber wir hatten eine Abmachung …« »Streng genommen war das wohl eher eine Anweisung«, fiel der Botschafter ihm ins Wort und zeigte auf Sciffords Jackett. »Ein Befehl von uns an sie. Zieh dich an. Das nehmen sie nicht hin. Wir sollen zu ihnen kommen.« Ehe Warren Scifford ein weiteres Mal protestieren konnte, hatte der Botschafter dem jüngeren Mann väterlich die Hand auf den Arm gelegt. »Du würdest es genauso machen, Warren. Wir sind Gäste in diesem Land. Sie wollen den Ball in ihrer Spielfeldhälfte behalten. Und auch wenn sie wenige sind, mußt du damit rechnen, daß sie …« Er verstummte und lachte kurz auf, wiehernd und überraschend hell. Dann ging er zur Tür und beendete die Diskussion mit: »Dieses Land hat nicht viele Einwohner, aber die sind unvorstellbar stur. Einer wie der andere. You might as well get used to it, son. Get used to it!«
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10 »Mama! Das stimmt! Du kannst ja Caroline fragen!« Sie beugte sich aufgeregt über den Tisch und schlug mit der linken Hand auf die Platte. Ihre Augen waren rot, und die Schminke verlief auf den Wangenknochen zu grauen Schatten. Die Haare, die sie am Vorabend mit bunten Bändern und Schnürsenkeln hochgebunden hatte, eine Huldigung an die achtziger Jahre, hingen als traurige Reste eines etwas zu gelungenen Festes über ihren Rücken. Sie hatte ihren Anzug halb ausgezogen. Die Jackenärmel waren locker um ihre Taille gebunden, und sie hatte eine Halbliterflasche Cola in den Hosenbund gesteckt. »Warum willst du mir nicht glauben? Du glaubst mir einfach nie!« »Doch«, sagte die Mutter ruhig und schob das Backblech in den Ofen. »Nein! Du glaubst, ich saufe und fi…« »Nimm dich in acht!« Die Stimme der Mutter wurde schärfer und sie knallte die Ofentür zu. »Im Herbst ziehst du aus, junge Dame. Und dann kannst du machen, was du willst. Aber bis dahin …« Die Frau drehte sich zu ihrer Tochter um. Sie stemmte die Hand auf die Hüfte und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Dann machte sie den Mund wieder zu und strich sich resigniert über die Haare. »Frag doch Caroline«, jammerte die Tochter und griff nach einem halbvollen Milchglas. »Wir waren ja beide da. Ich weiß nicht, woher sie gekommen sind, aber sie haben sich in ein Auto gesetzt. Ein blaues Auto. Echt wahr! Das ist wahr, Mama!« 85
»Ich bezweifle nicht, daß du die Wahrheit sagst«, sagte die Mutter mit angestrengter Stimme. »Ich versuche nur, dir klarzumachen, daß ihr nicht die Präsidentin der USA gesehen habt. Es muß eine andere gewesen sein. Verstehst du das nicht? Begreifst du nicht …« Stöhnend setzte sie sich an den Tisch und versuchte, die Hand ihrer Tochter zu nehmen. »Wenn irgendwer die Präsidentin der USA entführt, dann spaziert er nicht mit ihr vor aller Augen ganz harmlos am 17. Mai im Morgengrauen über einen Parkplatz am Hauptbahnhof. Du mußt aufhören mit …« Die Tochter riß ihre Hand zurück. »Vor aller Augen? Vor aller Augen? Verdammt, außer uns war da doch keiner. Da waren nur Caroline und ich und …« »Sei nicht immer so dramatisch! Du mußt doch begreifen …« »Also, ich ruf jetzt die Bullen. Die Frau hatte genau die Klamotten an, die sie im Fernsehen gezeigt haben. Haargenau die gleichen! Echt. Ich ruf an, Mama!« »Tu das nur. Wenn du dich total blamieren willst. Aber vergiß nicht, daß sie sich Polizei nennen. Und nicht Bullen. Also, ruf an.« Die Mutter stand auf. Der Bratengeruch war unangenehm. Sie machte das Fenster einen Spaltbreit auf. »Und wer zum Teufel hat um 17. Mai abends Gäste zum Essen«, murmelte die Tochter und trank einen Schluck Milch. »Jetzt reiß dich zusammen. Und hör auf, immer so zu fluchen!« »Am 17. Mai treffen sich die Leute zum Frühstück, Mama. Zum Frühstück oder meinetwegen zu einem guten Mittagessen. Ich hab noch nie von Leuten gehört, die eine scheiß …« Ein Topf knallte auf den Küchentisch. Die Mutter riß sich die Schürze vom Leib und machte zwei rasche Schritte auf die 86
Tochter zu. Dann schlug sie mit den Händen auf den Tisch. »Wir haben am 17. Mai abends Gäste zum Essen, Pernille. Wir, die Familie Schou. Das machen wir seit mehreren Generationen so, und du …« Sie hob den Zeigefinger. Der zitterte. »… du hast um Punkt sechs im Eßzimmer zu stehen, und zwar in einem Zustand, der um einiges besser ist als jetzt. Haben wir uns verstanden?« Die Mutter deutete das Murmeln der Tochter als Zustimmung. »Aber ich habe wirklich die Präsidentin gesehen«, beharrte die Tochter kaum hörbar. »Und die sah verdammt noch mal nicht besonders entführt aus.«
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11 Das Modell des Hotels Opera war im Maßstab 1:50 ausgeführt. Es stand auf soliden Beinen und erinnerte an eine winzige Bohrinsel. Die Einzelheiten waren beeindruckend. Die kleinen Drehtüren in der Eingangspartie waren beweglich. Die Fenster waren aus hauchdünnem Glas, und sogar die Vorhänge hatten die richtigen Muster. Als Warren Scifford in die Knie ging und ins Foyer lugte, sah er gelbe Sofas, die sich an winzigen Tischen gegenüberstanden. Die Lampen leuchteten gelb und die königsblauen Sessel luden zum Hinsetzen ein. »Das ist nicht an einem Tag gebaut worden«, murmelte er und kratzte sich die Bartstoppeln. »Nein«, sagte Polizeipräsident Terje Bastesen. »Das Modell wurde in Verbindung mit den Umbauarbeiten hergestellt. Die Hotelleitung war natürlich überaus …« Er suchte nach dem englischen Wort. »… entgegenkommend. Das Dach kann abgenommen werden.« Seine Hände waren grob und er zitterte ein wenig. Als er das Dach vorsichtig fassen wollte, verrutschte es. Ein schrappendes Geräusch ließ einen jungen Polizisten herbeistürzen, der bisher zurückgezogen in einer Zimmerecke gestanden hatte. Behutsam nahm er das Dach ab, wodurch der neunte Stock des Hotels entblößt wurde. »Sieh an«, sage Warren Scifford. »Hier hat sie also gewohnt.« Die Präsidentensuite lag nach Süden, im linken Flügel des Hotels. Auch nach Entfernung des Daches waren die Fenster zum Fjord an Ort und Stelle. Die Schiebetüren führten auf die Dachterrasse, die von winzigen Blumentöpfen eingerahmt war. Die Suite war schön möbliert, bis ins geringste Detail, wie im 88
Puppenhaus der verwöhnten Tochter reicher Leute. »Hier kommt man also herein«, zeigte Bastesen mit einem Laserstrahl, der rote Punkt tanzte und zitterte. »Zuerst in den Aufenthaltsraum. Dann kann man hierhin gehen …« Der Punkt hüpfte ostwärts. »… zum Arbeitszimmer. Das soll eine Art Arbeitszimmer sein. Wir finden hier ja …« Er bückte sich kurzsichtig über das Modell. »Wir haben hier ja einen Computer und einen winzigen Drucker. Und wie Sie sehen, steht hier im Aufenthaltsraum das Bett. Wir nehmen an, daß die Präsi…, daß Madam President schlief, als die Kidnapper gekommen sind.« »Die Kidnapper«, wiederholte Warren Scifford und berührte vorsichtig die Bettwäsche. »Wenn ich das richtig verstanden haben, dann wissen wir noch längst nicht, wie viele es waren.« Polizeipräsident Bastesen nickte und steckte den Laserpointer wieder in die Brusttasche. »Ja, das stimmt. Ich gehe nur von der Mitteilung aus. Wir melden uns, steht da. ›Wir‹, nicht ›ich‹. We’ve got her. We’ll be in touch.« Warren Scifford richtete sich auf und ließ sich ein laminiertes Stück Papier geben. »Ich gehe davon aus, daß das eine Kopie ist«, sagte er. »Natürlich. Das Original ist zur Analyse gebracht worden. Ihre Männer haben es gefunden und sie … sie waren klug genug, es liegenzulassen, bis sich jemand darum kümmern konnte.« »Times New Roman«, stellte Scifford rasch fest. »Die üblichste Schrifttype von allen. Ich gehe davon aus, daß es keine Fingerabdrücke gibt? Und daß man diese Sorte Papier in jedem Büro und in jedem Haushalt findet?« Er hob nicht einmal den Blick, als der Polizeipräsident bejahte. Statt dessen reichte er ihm den Bogen zurück und konzentrierte 89
sich wieder auf das Modell. »Im übrigen sind das nicht meine Männer«, sagte er und ging langsam zwei Schritte nach links, um die Eingangstür zur Präsidentensuite aus einer anderen Perspektive zu betrachten. »Verzeihung?« »Sie haben gesagt, ›meine Männer‹ hätten den Zettel gefunden. Das sind nicht meine Männer. Die sind vom Secret Service. Ich dagegen, wie Sie vermutlich schon mitbekommen haben …« Die Haare fielen ihm in die Stirn, als er sich bückte und ein Auge schloß. Mit dem anderen musterte er den Gang, der an der Präsidentensuite entlang führte. »… bin vom FBI. Unterschiedliche Organisationen.« Seine Stimme war kühl. Er suchte noch immer keinen Blickkontakt zum Polizeipräsidenten. Statt dessen preßte er den Handrücken gegen dessen Oberarm, wie um sich von einem widerspenstigen Knaben zu befreien. »Machen Sie doch mal Platz«, murmelte er und schien sich wieder in das Modell des Hotel Opera zu vertiefen. »Ist das alles genauso, wie es hier aussieht?« Der Polizeipräsident gab keine Antwort. Röte breitete sich über seinen Wangenknochen aus. Er blinzelte mehrere Male, dann wischte er einen Fussel von seiner Uniformjacke und räusperte sich. »Mr. Scifford«, sagte er, seine Stimme klang jetzt voller und dunkler. »Scifford«, korrigierte der FBI-Agent. »SCHI, wie diese Bretter, auf denen ihr durch den Schnee lauft, nicht SKY wie der Himmel.« Er zeigte auf das Dach. »Ich bedaure und werde es mir merken«, sagte der Polizeipräsident langsam. »Aber ehe wir weitermachen, würde 90
ich hier gern zwei Dinge klarstellen. Erstens …« »Nur einen kleinen Moment.« Warren Scifford hob die Hand. »Hier ist eine Kamera, nicht wahr?« Er fischte einen Kugelschreiber aus der Jackentasche und zeigte auf den Gang. »Ja«, sagte Bastesen zögernd. »Und hier hinten auch. Genau dort, wo der Korridor im rechten Winkel abknickt. Auf diese Weise hat man den gesamten Flur im Blick. In beide Richtungen. Außerdem gibt es noch eine Kamera hier …« Er zeigte auf den Bereich vor dem Fahrstuhlschacht. »Und hier, bei den Treppen. Dem Notausgang. Aber ehe wir weitermachen, würde ich gern …« »Warten Sie mal eben. Nur einen Moment.« Warren Scifford umkreiste das Modell tief in Gedanken versunken. Ab und zu blieb er stehen, legte das Gesicht an die Außenwand und spähte durch den Korridor. Seine Haare, dunkelgrau und leicht gelockt, fielen ihm immer wieder in die Stirn. Er spitzte den Mund und schmatzte, dann drehte er eine weitere langsame Runde. »Ich muß mir das Hotel natürlich in natura ansehen«, sagte er, ohne den Blick vom Modell zu lösen. »Am liebsten noch heute abend. Aber Sie haben recht. Offenbar wird der gesamte Korridor überwacht. Was ist mit der Terrasse?« »Von außen kommt man nicht hoch, es sei denn, man …« »Nichts ist unmöglich«, fiel Warren Scifford ihm ins Wort und ließ darauf ein undeutbares Lächeln folgen. »Meine Frage zielt darauf, wie die Kameraüberwachung funktioniert.« »Na ja, Madam President wollte keine Kamera in ihrer Suite. Sie scheint sehr energisch darauf bestanden zu haben. Wir und …« 91
Warren Scifford hob beide Hände. Polizeipräsident Bastesen ließ sich abermals unterbrechen. Der junge Polizist hatte sich wieder in die Ecke bei der Tür zurückgezogen und schaute betreten zu Boden. Im Zimmer wurde es jetzt warm, fast heiß. Bastesen schwitzte in seiner Uniform. Die Röte hatte sich von den Wangen über sein gesamtes Gesicht ausgebreitet. Dünne Haarsträhnen klebten an seiner Stirn. Scifford hatte längst das Jackett abgelegt und die Hemdsärmel aufgekrempelt. Sein Schlips war gelockert, der Hemdkragen aufgeknöpft. Seine dunkelbraunen Augen mit den langen Wimpern lagen tief in ihren Höhlen. Die Locken und die etwas zu langen Haare ließen ihn jünger aussehen, als er vermutlich war. Jetzt sah er dem Osloer Polizeipräsidenten voll ins Gesicht. Bastesen starrte zurück. »Ich kenne meine Präsidentin«, sagte Warren Scifford langsam. »Ich kenne sie sehr gut. Ich halte es deshalb für reichlich unnötig, von Ihnen über die Angewohnheiten der Dame informiert zu werden. Ich glaube, uns allen wäre geholfen, wenn wir dieses … Gespräch … auf das begrenzten, was ich brauche. Und Sie ganz einfach meine Fragen beantworteten. Okay?« Polizeipräsident Bastesen holte tief Luft. Dann lächelte er unerwartet und plötzlich. Er ließ sich ausgiebig Zeit, als er sein Jackett aufknöpfte und ablegte. Die großen Schweißringe unter den Armen schienen ihm nicht weiter peinlich zu sein, als er sich mit beiden Händen die Haare nach hinten strich. Dann lächelte er noch breiter und verschränkte die Hände im Rücken. Langsam wippte er wie ein altmodischer Wachtmeister auf den Fußballen hin und her. Seine Schuhe knirschten. »Nein«, sagte er freundlich. »Das ist nicht okay.« Warren Scifford hob die Augenbrauen. »Ich glaube, das Allerwichtigste ist jetzt«, sagte Bastesen, »daß Sie verstehen, welche Rolle Sie haben. Und welche ich 92
habe.« Er blieb für einen Moment auf den Zehenballen stehen, dann ließ er sich wieder nach unten sinken und fügte hinzu: »Ich bin Polizeipräsident in Oslo. In meiner Stadt, in meinem Land ist ein Verbrechen geschehen. In Norwegen, einem selbständigen Staat. Die Ermittlung dieses Verbrechens fällt in meinen souveränen Verantwortungsbereich. Nun verhält es sich so, daß das Opfer eine … eine prominente Bürgerin eines anderen Landes ist …« Seine Hände zitterten nicht mehr, als er vorsichtig mit dem Zeigefinger die kleinen Blumen auf der Terrasse vor der Präsidentensuite berührte. Es war so still im Zimmer, daß das leise Scharren von Papier über Haut zu hören war. »… und deshalb werden wir aus ganz normaler Höflichkeit und aus Respekt vor der Bedeutung des Falles sehr gern dafür sorgen, daß Sie und Ihre Mitarbeiter laufend informiert werden. Und damit sind wir beim Stichwort angekommen. Information. Ihr helft uns mit den Informationen, die wir brauchen, um diesen Fall so schnell wie möglich und so gut wie möglich zu klären. Wir informieren euch über den Stand der Dinge und die Schritte, die wir ergreifen. So weit das die Ermittlungen nicht gefährdet.« Das plötzliche Steigern der Tonstärke ließ den Polizisten in der Ecke zusammenfahren. Dann war alles still. Warren Scifford zupfte sich am Ohrläppchen. Er war braun für diese Jahreszeit. Ein weißer Streifen am linken Handgelenk zeigte, wo er üblicherweise seine Armbanduhr trug. »Verstanden«, sagte er freundlich und nickte. »Das will ich hoffen«, sagte Bastesen, der das Lächeln diesmal nicht erwiderte. »Und wenn ich dann zu meinem eigentlichen Punkt kommen dürfte?« Scifford begnügte sich mit einem Nicken. »Sie wollte also in der Suite keinerlei Form von Überwachung. 93
Und auch aus dem Grund haben wir das mit dem Flur besonders genau genommen.« Abermals schaltete er den Laserpointer ein. »Und wie Sie schon wissen, zeigen die Kameras keine Bewegung im Umfeld der Zimmertür in der Zeit von null Uhr vierzig, als Madam President sich nach dem offiziellen Essen zurückzog, und sieben Uhr zwanzig, als Ihre Männer …« Er riß sich zusammen und fing noch einmal an. »… als der Secret Service sich gezwungen sah, das Zimmer zu betreten. Sie hätte sich um sieben Uhr bei ihnen melden müssen. Die Wagen, die sie zum Frühstück ins Schloß bringen sollten, wurden für Punkt halb acht erwartet. Und was die Terrasse angeht …« Er umkreiste das Modell und zeigte auf die gläsernen Schiebetüren. »Es war schwierig, auf der Terrasse Kameras anzubringen, ohne gegen den Wunsch der Präsidentin, im Zimmer nicht überwacht zu werden, zu verstoßen. Also hatten wir ein Problem. Deshalb haben wir vorsichtshalber die Türen mit Sensoren ausgerüstet.« Bastesen legte eine kleine Pause ein, bevor er fortfuhr. »Wenn die Türen geöffnet werden, geht ein Alarm los. Natürlich haben wir die Sensoren getestet. Die sind völlig in Ordnung. Wir können also davon ausgehen, daß niemand herausgekommen und niemand hineingegangen ist.« »Niemand gekommen, niemand gegangen.« Warren Scifford fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »Mal davon abgesehen, daß Madam President verschwunden ist und irgendwer eine Mitteilung in ihrem Zimmer hinterlassen hat.« Wenn Polizeipräsident Bastesen besser Englisch gesprochen hätte, wäre ihm der bissige Sarkasmus sicher nicht entgangen. 94
So aber nickte er mit wohlwollender Zustimmung. »Ja, davon abgesehen, natürlich.« »Lüftungsschächte«, sagte Warren Scifford mechanisch und wollte das Modell nicht aus den Augen lassen. »Notausgänge. Andere Fenster.« »Die Untersuchungen laufen noch. Natürlich wird alles sehr genau überprüft. Aber wir haben schon mit dem technisch Verantwortlichen des Hotels gesprochen, und er schließt die Möglichkeit aus, daß die Lüftungsschächte benutzt worden sind, um in das Zimmer oder wieder heraus zu gelangen. Sie sind nicht groß genug, meint er, und außerdem werden sie blockiert von festen Gittern mit relativ schmalen Zwischenräumen. Die Fenster dagegen waren, wie gesagt, alle mit Alarmanlagen gesichert. Sie sind ganz einfach nicht geöffnet worden. Notausgänge?« Er ließ den roten Punkt eine Tür streifen, die vom Arbeitszimmer auf den Gang führte. »Das Schloß ist mit einer dieser grünen Plastikdosen gesichert, die abgebrochen werden müssen, wenn die Tür geöffnet werden soll. Aber der Mechanismus ist unversehrt. Der Ausgang wird außerdem von den Kameras auf dem Gang beobachtet, und wie gesagt …« »Niemand ist gekommen«, sagte Warren Scifford. »Und niemand ist gegangen.« Es klopfte an der Tür. Der Polizist in der Ecke sah Bastesen fragend an, und der nickte. »Botschafter Wells und der Außenminister warten auf Herrn Scifford«, sagte eine junge Frau auf Norwegisch. »Ich hatte den Eindruck, daß sie ziemlich ungeduldig waren.« »Sie werden erwartet«, übersetzte Bastesen und reichte Scifford die Jacke. Der nahm sie nicht an. Statt dessen lockerte er seinen Schlips 95
noch ein wenig und zog einen Notizblock aus der Hosentasche. »Ich schlage vor, daß wir vorläufig für jeden Tag drei Besprechungen ansetzen«, sagte er und strich sich langsam mit dem Finger über die Oberlippe. »Außerdem hätte ich gerne eine Verbindungsperson. Falls …« Sein Lächeln wirkte fast jungenhaft, als bitte er um Entschuldigung, ohne das ehrlich zu meinen. »Falls es Ihnen und Ihren Mitarbeitern recht ist«, fügte er hinzu. »Und Sie es für eine sinnvolle Art des Informationsaustauschs halten sollten.« Bastesen nickte und zuckte mit den Schultern. Noch immer hielt er Sciffords Jacke in der Hand. »Und dann hätte ich sehr gern …« Scifford kritzelte einen Namen auf ein Blatt Papier und reichte es dem Polizeipräsidenten. »… diese Frau. Kennen Sie den Namen?« Bastesen hob überrascht die Augenbrauen und musterte den Zettel. »Ja, aber das ist unmöglich. Sie arbeitet nicht bei uns. Das hat sie noch nie getan, auch wenn sie …« Er legte das Jackett über eine Stuhllehne. »Sie hat der Polizei einige Male geholfen«, sagte er. »Ganz inoffiziell. Aber in der Situation, die sich jetzt ergeben hat, ist es ausgeschlossen, sie …« »Ich fürchte, ich muß darauf bestehen«, sagte Warren Scifford. Seine Stimme klang jetzt anders. Die Arroganz war verschwunden. Seine schleppende, langsame Sprechweise war einem fast appellierenden Tonfall gewichen. »Nein«, sagte Bastesen und versuchte abermals, dem Amerikaner das Jackett in die Hand zu drücken. »Das geht nicht. Aber ich werde sofort eine geeignete Person ausfindig 96
machen. Ich glaube, Sie sollten jetzt gehen. Die sind offenbar sehr ungeduldig.« »Moment«, sagte Scifford und kritzelte noch einen Namen auf den Block. »Kann ich dann den haben? Der müßte doch jedenfalls …« »Ingvar Stubbor«, las Bastesen langsam und schüttelte kurz den Kopf. »Kenne ich nicht. Aber ich …« »Yngvar Stubø«, kam es von der Tür her. Beide Männer fuhren herum. Der Polizist in der Ecke errötete. »Er meint sicher Yngvar Stubø«, stammelte er. »Der ist bei der Kripo. Wir hatten bei ihm Unterricht in …« »Yngvar Stubø«, wiederholte Bastesen und schwenkte den ersten Zettel, den Scifford ihm gegeben hatte. »Der ist mit dieser Dame verheiratet. Kennen Sie die beiden?« Warren Scifford schloß seinen Hemdkragen. Dann zog er endlich sein Jackett an. »Ich bin Stubbor zweimal begegnet«, sagte er. »Aber ich kenne ihn nicht. Inger Johanne Vik dagegen … Inger Johanne kenne ich gut. Kann ich also Stubbor haben?« »Stubø«, korrigierte Bastesen. »Stubøøø. Wie in bird. Ich werde sehen, was ich tun kann.« Sie gingen zusammen zur Tür. Bastesen blieb plötzlich stehen und machte ein neugieriges Gesicht, als er die Hand auf die Schulter des Gastes aus den USA legte und rief: »Ja, richtig! Inger Johanne Vik hat eine Art Vorgeschichte beim FBI. Irgendwas, was ich nie ganz verstanden habe. Kennt ihr euch von daher?« Warren Scifford gab keine Antwort. Statt dessen zog er seinen Schlips stramm, rückte sein Jackett gerade und begab sich zu seinem Botschafter.
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12 Abdallah al-Rahman war noch immer ein guter Schwimmer. Er teilte das Wasser mit zähen Zügen. Sein Rhythmus war langsam, aber die Effektivität der langen Arme mit den ungewöhnlich großen Handflächen gab ihm dennoch ein hohes Tempo. Das Wasser war nicht gechlort. Ihm wurde von Chemikalien immer leicht übel, und da außer ihm niemand das große Becken benutzen durfte, war es mit Salzwasser gefüllt. Das Wasser wurde so oft gewechselt, daß es ihm niemals Probleme machte. Der Mann, der in einem bequemen Sessel mit vielen lockeren Kissen saß, bewunderte lächelnd die Schönheit der Mosaiken im Becken und rund herum. Winzige Fliesen in Millionen von Blautönen funkelten im Widerschein der Fackeln an der Ostmauer. Die Abendluft wirkte kühl im Vergleich zu der schrecklichen Hitze, die ihm schon den ganzen Tag zu schaffen machte. Er konnte sich an diese Hitze einfach nicht gewöhnen. Ihre Reste aber liebte er, eine gespeicherte Sonnenwärme, die die Abende angenehm machte und durch die sein wehes Knie endlich zu schmerzen aufhörte. Der Körper des Arabers durchpflügte die Oberfläche. Der Mann am Beckenrand trank Tee und ließ den Freund nicht aus den Augen. Er hieß Tom Patrick O’Reilly und war 1959 unter elenden Umständen in Virginia geboren worden. Und danach wurde alles noch schlimmer. Als der Sohn knapp zehn war, verschwand der Vater. Er wollte eines Nachmittags zum Tanken fahren. Die Familie sah ihn und den zwölf Jahre alten Pickup, ihr einziges Auto, niemals wieder. Die Mutter schuftete sich buchstäblich zu Tode, um die vier Kinder am Leben zu erhalten; sie starb, als Tom sechzehn war. Das war 1975, und Tom beschloß bereits während der bescheidenen Trauerfeier, alles auf 98
seine einzige Chance zu setzen. Er war ein fähiger Spieler in der Footballmannschaft seiner Schule, und im Laufe seiner beiden letzten Jahre auf der High School wurde aus ihm der verheißungsvollste Quarterback, den Virginia seit mehreren Jahrzehnten hervorgebracht hatte. Er bekam ein Stipendium für Stanford und verließ seine Heimatstadt mit einem Rucksack voller Kleidung, dreihundert Dollar in der Hosentasche und der absoluten Gewißheit, daß er nie wieder einen Fuß in diese Kleinstadt setzen wollte. Im ersten Jahr ging sein Knie kaputt. Gelenkband, Kreuzband und Meniskus. Tom O’Reilly war zwanzig Jahre alt und glaubte, keine Zukunft mehr zu haben. Da seine akademischen Leistungen bestenfalls mittelmäßig waren, gab es keine Möglichkeit, das Studium zu beenden, wenn er nicht mehr durch spektakuläre Pässe bezahlen konnte. Er saß weinend in seinem Zimmer, als Abdallah hereinkam. Der Junge, mit dem Tom bisher nur zweimal gesprochen hatte, setzte sich auf einen Stuhl und schaute aus dem Fenster. Er sagte nichts. Tom O’Reilly wischte sich die Tränen ab. Er lächelte steif und zog an seinem Pullover, der jetzt schon zu klein wurde. Durch das Training war Tom immer mehr gewachsen. Das Stipendium reichte nur für das Allernötigste, für Schulgeld und den dringendsten Lebensunterhalt. Kleider waren ein Luxus. Der junge Mann, der ungebeten Toms Zimmer betreten hatte und an den bescheidenen Habseligkeiten herumzupfte, die Tom in seinen Rucksack gesteckt hatte, trug teure Jeans und ein Seidenhemd, das allein schon Toms jährliches Kleiderbudget gesprengt hätte. Jetzt, wo er in einem Palast am Stadtrand von Riad saß, süßen Tee nippte und ein Vermögen verwaltete, von dem er nicht einmal an der Schwelle zu einer strahlenden Sportlerkarriere geträumt hatte, kam ihm dieses Ereignis an jenem warmen Frühlingstag des Jahres 1978 absurd vor. 99
Er kannte Abdallah nicht. Niemand in Stanford kannte ihn. Im Grunde nicht, auch wenn er zu einigen der angesagtesten Feste eingeladen wurde und dort ab und zu auftauchte, schlendernd und mit einem Lächeln, das niemand verstand. Der junge Mann war überaus reich. Öl, dachten alle beim Anblick der schwarzen Haare und des scharfen Profils. Bestimmt Öl, dachten sie, aber niemand fragte. Abdallah al-Rahman lud nicht zu Fragen solcher Art ein. Er war durchaus freundlich, das schon, und außerdem ein tüchtiger Schwimmer der Schulmannschaft. Aber obwohl er nicht wie die anderen die Gesellschaft von Gleichaltrigen suchte, war er kein Einzelgänger. Die Mädchen schauten ihm hinterher. Er war breitschultrig und hochgewachsen und hatte ungewöhnlich große Augen. Es kam jedoch nie etwas dabei heraus, er blieb ein Fremder. Und so schien es ihm auch recht zu sein. Doch plötzlich saß er da, in einem chaotischen Studentenzimmer mit dem Geruch ungewaschener Männersocken und hielt Tom O’Reilly einen Rettungsring hin, den der bettelarme Junge aus Virginia mit beiden Händen ergriff. Seither hatte er nie wieder losgelassen. Der Tee war so süß, daß seine Zunge sich rauh anfühlte. Tom O’Reilly stellte das Glas hin. Er fuhr sich mit den Fingern durch die rotblonden Haare und lächelte den Araber an, als der sich mit einer einzigen eleganten Bewegung aus dem Becken schwang. »Schön, dich zu sehen«, sagte Abdallah und hielt ihm die Hand hin. »Tut mir leid, daß ich dich warten lassen mußte.« Immer diese Hand, dachte Tom O’Reilly. Nie eine traditionelle Umarmung oder ein Kuß. Nie etwas anderes oder etwas mehr, nur die Hand. Sie war naß und kalt, und Tom O’Reilly schauderte es ein wenig. »Du hast zuviel Sonne abgekriegt«, sagte Abdallah und griff 100
nach einem Handtuch, um sich die Haare zu trocknen. »Wie immer. Ich hoffe, du hast dich nicht gelangweilt. Ich war ein wenig beschäftigt.« Tom begnügte sich mit einem Lächeln. »Wie geht es Judith? Und den Kindern?« »Gut«, sagte Tom. »Sehr gut, danke. Garry macht sich. Wird zwar nie ein nennenswerter Quarterback werden. Zu groß und schwer. Aber als Verteidigungsspieler hat er vielleicht eine Zukunft. Ich versuche, da an ein paar Strippen zu ziehen.« »Zieh nicht zu sehr«, sagte Abdallah und zog sich einen schneeweißen Kittel über den Kopf, ehe er sich in einen freien Sessel setzte. »Kinder müssen mehr oder weniger allein zurechtkommen. Noch Tee?« »Nein, danke.« Abdallah goß sich Tee aus einer Silberkanne ein. Sie schwiegen. Tom ertappte sich dabei, daß er Abdallah heimlich musterte. Der Araber besaß eine fremde Ruhe, die Tom immer wieder faszinierte. Sie kannten einander seit fast dreißig Jahren. Abdallah wußte alles über ihn, was es zu wissen gab. Tom hatte schon am ersten Abend seine traurige Geschichte mit ihm geteilt, und seither hatte er ihn über alles mögliche informiert, über Mädchen und Belanglosigkeiten, über Arbeit, Liebe und politische Präferenzen. Manchmal, wenn Tom im Bett lag und nicht schlafen konnte, sah er im Dunkeln seine Frau an und dachte, daß Abdallah mehr über ihn wußte als sie. Noch nach fast zwanzig Jahren Ehe. Das war die Vereinbarung. Schon an jenem warmen Nachmittag, als der Frühling endlich angebrochen war und Tom den Brief mit der Mitteilung erhalten hatte, daß sein Stipendium mit Beginn des nächsten Semesters erlöschen würde, in Anbetracht der medizinischen Gegebenheiten, wurde ihm der Preis für dieses phantastische 101
Geschenk klargemacht. Abdallah wollte alles über ihn wissen. Damals wie heute erschien Tom dieser Preis als gering. Es war immer angenehm, Abdallah zu treffen. Beim Studium waren sie hin und wieder zusammengewesen, hatten aber nie als enge Freunde gegolten. Jedenfalls nicht in den Augen anderer. Nach Ende des Studiums trafen sie sich niemals in den USA. Ab und zu kreuzten ihre Wege sich in Europa. Tom war oft zu Besprechungen in den Metropolen, wo zufälligerweise auch Abdallah geschäftlich zu tun hatte. Und dann aßen sie in einem arabischen Lokal in London zu Abend, spazierten über das Marsfeld am Eiffelturm oder, nach ein paar Tassen Espresso in einem römischen Café, am Tiberufer entlang. Ein seltenes Mal wurde Tom nach Riad bestellt. »Ist die Reise gut verlaufen?« Abdallah schenkte Tee nach. »Ja.« Tom O’Reilly war gern in Riad. Er wurde immer an diesen Ort gebracht, obwohl es, wie er wußte, noch andere Paläste gab. Größere und weit beeindruckendere, wenn er Abdallahs vage Andeutungen richtig verstanden hatte. Die Einladungen trafen unerwartet ein, meistens nur drei Stunden vor Abreise. Immer wurde er von einer lokalen Telefonnummer aus angerufen. Ein Privatflugzeug stand am nächsten Flugplatz bereit. Tom brauchte sich dort nur zu melden. Er konnte sich in Madrid oder Kairo aufhalten, oder auch in Stockholm, wenn die Nachricht eintraf. Seine Arbeit als Geschäftsführender Direktor bei Colonel-Cars führte ihn um die ganze Welt. Als er im Unternehmen noch nicht so hoch aufgestiegen war, bereitete es ihm manchmal Probleme, seinen Zeitplan so plötzlich umstoßen zu müssen. Jetzt war es leichter und außerdem trafen die Einladungen immer seltener ein. Die letzte lag anderthalb Jahre zurück. 102
»Das wird unsere letzte Begegnung«, sagte Abdallah plötzlich und lächelte. Tom O’Reilly versuchte, sich in dem Meer von weichen Kissen aufzusetzen. Wieder schmerzte sein Knie. Er hatte zu lange in derselben Haltung gesessen. Er wußte nicht, was er sagen sollte, hatte aber das Gefühl, irgendeine Empfindung zum Ausdruck bringen zu müssen. »Wie schade«, sagte er und kam sich vor wie ein Idiot. Abdallah al-Rahman lächelte noch breiter. Seine weißen Zähne leuchteten in dem sonnenbraunen Gesicht. Er leerte sein Teeglas in einem Zug und stellte es dann vorsichtig ab. »Es war mir eine Freude, Tom. Eine wahre Freude.« Die Weichheit seiner Stimme überraschte Tom, es war, als spräche Abdallah zu einem geliebten Kind. »Mir auch«, murmelte er und griff nach dem Glas, um etwas in den Fingern zu haben. Wieder schwiegen beide. Fernes Hundegebell war das einzige, was die tiefe warme Stille im Palast brach. Das Wasser im Becken war spiegelglatt, die kühle Brise, die den Sonnenuntergang begleitet und die Abendluft in eine angenehme Bewegung versetzt hatte, war vollkommen eingeschlafen. Jedenfalls hier drinnen hinter den hohen alten Mauern, die den Garten umgaben. Als Tom O’Reilly damals, 1978, Abdallahs großzügiges Angebot annahm, hatte er keine besonderen Vorbehalte gehabt. Der kleine Hauch von etwas, das Ähnlichkeit mit schlechtem Gewissen haben mochte, ließ sich rasch verdrängen. Es war unklug, Fragen zu stellen, auf die man die Antwort nicht genau kannte. Er konnte sein Studium finanzieren und brauchte nur einen belanglosen Gegendienst zu erweisen. Nicht nur die Studiengebühr wurde übernommen, er bekam auch genug für seinen Lebensunterhalt. Er mußte nicht mehr nebenher jobben und konnte sich auf sein Studium konzentrieren. Da er nicht mehr vier Stunden am Tag zum Training brauchte, stiegen auch 103
seine geistigen Leistungen. Er beendete sein Studium in Stanford mit guten Noten, einem wertvollen Netzwerk aus Beziehungen und einem Willen zum Erfolg, wie man ihn eigentlich nur bei denen sieht, die schon am Rande des Abgrundes gestanden haben. Als er älter wurde, kamen ihm Zweifel. Keine sehr großen. Trotzdem hatte er mit dreißig Jahren versucht, mehr über die Stiftung in Erfahrung zu bringen, die es einem armen und nicht sonderlich vielversprechenden Studenten erlaubte, sein Studium an einer der angesehensten Universitäten der Welt zu beenden. Als Student hatte es ihn eigentlich nur interessiert, daß jeden Sommer und jedes Jahr zu Weihnachten auf seinem Konto eine größere Summe einlief, deren Absender nichtssagend als »Student Achievement Foundation« angegeben war. Diese Stiftung existierte nicht. Das machte ihm Sorgen und bescherte ihm zwei unruhige Nächte. Nach kurzer Zeit aber gab er sich damit zufrieden, daß die Stiftung wohl aufgelöst worden war. Daran war ja nichts Ungewöhnliches, wenn er sich das genauer überlegte. Jedenfalls hatte es keinen Zweck, noch mehr wertvolle Zeit für sinnlose Untersuchungen zu vergeuden. Tom O’Reilly war ein intelligenter Mann. Als Abdallah alRahman anfing, in Europa Kontakt zu ihm aufzunehmen, wußte er natürlich, daß das falsch verstanden werden könnte. Von anderen. Die nicht begriffen, daß sie wirklich gute Freunde waren. Alte Kommilitonen. Von anderen, die nicht wußten, daß ihre Gespräche ganz und gar unschuldig waren. »Ist das Leben so verlaufen, wie du es gehofft hattest?« fragte Abdallah ruhig, fast uninteressiert. »Ja.« Tom hatte alles bekommen. Er war seiner Frau treu, auch wenn es an Versuchungen nicht mangelte. Schon als Student 104
hatte er sich geschworen, sein Leben nicht vom schlechten Vorbild seines Vaters überschatten zu lassen. Die Familie konnte sich über vier Kinder und ein Einkommen freuen, das ihnen die Möglichkeit gab, eine Prachtvilla in einem der besten Vororte von Chicago zu beziehen. Tom arbeitete hart und viel, aber er war jetzt im Unternehmen so hoch gerückt, daß Wochenenden und Feiertage ihm gehörten. Tom O’Reilly war ein geachteter Mann. In stillen Stunden, als die Kinder kleiner waren und er sie zudeckte, ehe er selbst ins Bett ging, war er sich vorgekommen wie der Inbegriff des amerikanischen Traums. Er war zufrieden. »Ja«, sagte er noch einmal und räusperte sich. »Ich bin sehr dankbar.« »Du kannst dir selber danken. Ich habe dir nur geholfen, als das System dir den Rücken zugekehrt hatte. Den Rest hast du selbst geschafft. Du warst tüchtig, Tom.« »Danke. Aber ich bin wirklich … dankbar. Danke.« Abdallahs Wortwahl machte ihn nervös. Das System. Er hatte einen Begriff benutzt, den Tom nicht mochte. Nicht so, wie Abdallah ihn verwendete, in einem solchen Zusammenhang auf das System zu verweisen, wirkte wie … Abdallah ist nicht wie sie. Er versteht uns. Er operiert innerhalb unseres Systems, unserer Ökonomie, und er hat nie, kein einziges Mal, etwas gesagt, was andeuten könnte, daß er ist wie sie. Im Gegenteil. Er respektiert mich. Er respektiert das Amerikanische. Er ist fast … amerikanisch. »Das System ist hart«, Tom nickte. »Aber es ist gerecht. Ich will durchaus nicht unterschätzen, was du für mich getan hast. Wie gesagt bin ich dir zutiefst dankbar. Aber bei allem Respekt …« Er zögerte und musterte die kleinen Ziselierungen des 105
Teeglases. »Bei allem Respekt hätte ich es vermutlich auch so geschafft. Ich hatte den Willen. Ich war bereit, hart zu arbeiten. Das System belohnt harte Arbeit.« Es war unmöglich, in Abdallahs Gesicht zu lesen. Er schien sich zu entspannen. Er hatte die Augen halb geschlossen, und sein Mund verzog sich zu einem vagen Lächeln, als denke er an etwas Heiteres, das nicht das Geringste mit ihrem Gespräch zu tun hatte. »Dafür sind wir beide ein Beweis«, sagte er endlich und nickte. »Das System belohnt die, die hart und konzentriert arbeiten. Die sich langfristige Ziele setzen und nicht nur an kurzfristigen Gewinn denken.« Tom wurde ruhiger. Er zuckte die Schultern und lächelte. »Genau!« »Und jetzt möchte ich dich um einen Gefallen bitten«, sagte Abdallah, noch immer mit dieser zerstreuten Miene, als denke er eigentlich an etwas ganz anderes. Er winkte gebieterisch einem Diener, den Tom nicht einmal bemerkt hatte, der Mann stand halb verborgen hinter einem riesigen Kübel mit drei Palmen neben dem zwanzig Meter entfernten Eingang zur Terrasse. Der Diener näherte sich lautlos und reichte Abdallah einen Briefumschlag. Dann zog er sich ebenso still zurück. »Einen Gefallen«, murmelte Tom. »Was denn?« Du hast mich niemals um etwas gebeten. Nur um mein Leben. Um mich und das, womit ich mich beschäftige. Das war die Abmachung. Ich sollte Kontakt zu dir halten. Dich treffen, wenn du das wolltest. So sah die Abmachung aus. Du hast nichts von Gefallen gesagt, Abdallah. Fast dreißig Jahre lang habe ich mein Versprechen gehalten. Ich habe nur das versprochen: Von mir selbst zu geben. 106
»Einen ganz einfachen«, sagte Abdallah lächelnd. »Du nimmst diesen Brief mit zurück in die USA und gibst ihn dort auf. Danach sind wir quitt, Tom. Danach hast du das zurückbezahlt, was du mir schuldig bist. Und damit du nicht auf die Idee kommst, das hier könnte irgendwie gefährlich sein …« Tom saß wie gelähmt da, während Abdallah den Umschlag öffnete. Darin steckte ein kleinerer. Der war nicht zugeklebt. Abdallah schob die Nase in die Öffnung und holte Atem. Tief. Dann lächelte er und hielt die Öffnung für Tom auf. »Kein Gift. Ihr seid, und das darf ich wohl mit Fug und Recht behaupten, ein wenig hysterisch, wenn es um Postsendungen geht. Das hier ist ganz einfach ein Brief.« Tom sah zusammengefaltetes Papier. Es schienen mehrere Bögen zu sein. Sie waren so gefaltet, daß der Text innen war. Es handelte sich um ganz normales, weißes Papier. Abdallah leckte am Umschlag und klebte ihn zu. Dann schob er ihn in den größeren und verschloß auch den. »Du brauchst lediglich«, sagte er ruhig, »das hier mit nach Hause zu nehmen. Dort wirfst du den Brief in einen Briefkasten. Es ist mir ganz egal, wo in den USA der steht. Du öffnest den großen Umschlag und wirfst den kleinen ein. Wirf den großen dann weg. Das ist alles.« Tom O’Reilly gab keine Antwort. Seine Kehle schnürte sich zusammen, er hatte fast das Gefühl, mit den Tränen zu kämpfen. Er schluckte. Versuchte zu husten. »Warum«, stammelte er. »Geschäfte«, sagte Abdallah gleichgültig. »Ich habe kein Vertrauen zur Post. Und schon gar nicht zu dieser ganzen modernen Kommunikation. Zu viele Augen und Ohren. Überall. Und das hier muß einfach ankommen. Reine Geschäfte.« Wie kannst du mir einfach so ins Gesicht lügen, dachte Toni O’Reilly und versuchte, die Fassung zurückzugewinnen. Wie kannst du mich so beleidigen? Nach dreißig Jahren? Du 107
verfügst über eine Flugzeugflotte und ein Heer von Mitarbeitern. Aber ich soll für dich den Postillion spielen. Was soll das? Und was mache ich jetzt? »Das tust du«, sagte Abdallah ruhig. »Vor allem, weil du es mir schuldig bist. Und wenn das nicht reichen sollte …« Er fing den Blick des Amerikaners ein, ohne seinen Satz zu beenden. Du weißt alles über mich, dachte Tom und rieb sich die schweißnassen Handflächen. Mehr als irgendwer sonst. Seit achtundzwanzig Jahren reden wir miteinander, immer über mich, selten über dich. Ich habe dir alles anvertraut. Wirklich alles. Gewohnheiten und Unsitten, Träume und Alpträume. Du kennst meine Frau, ohne ihr jemals begegnet zu sein, du weißt, wie meine Kinder … »Ich verstehe«, sagte er abrupt und nahm den Brief entgegen. »Ich verstehe.« »Dann sind wir quitt. Das Flugzeug steht morgen früh bereit, um dich nach Rom zurückzubringen. Ist sieben Uhr zu früh? Nicht. Und jetzt habe ich Hunger. Laß uns essen, Tom. Jetzt ist es kühl genug zum Essen.« Er erhob sich und reichte dem Amerikaner die Hand, um ihm aus dem tiefen Sessel zu helfen. Tom nahm die Hand automatisch. Als er stand, legte der Araber ihm den Arm um die Schulter und küßte ihn. »Es war eine Freude, dich zum Freund zu haben«, sagte er weich. »Eine wahre Freude.« Und als der Amerikaner verwirrt hinter ihm über die Steinplatten auf die Glastüren des prachtvollen Palastes zutaumelte, kam ihm zum allerersten Mal der Gedanke: Wie viele Tom O’Reillys hast du, Abdallah? Wie viele wie mich gibt es eigentlich?
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13 Abteilungsleiter Yngvar Stubø ging nach einer viel zu langen und ziemlich außergewöhnlichen Feier des Nationalfeiertages zu Fuß von seinen Schwiegereltern nach Hause. Er hätte natürlich mitfahren können, als Inger Johanne gegen zehn endlich von ihrer Mutter die Erlaubnis erwirkte, sich zurückzuziehen. Ragnhild schlief schon längst. Sie sollte bis zum nächsten Tag bei den Großeltern bleiben. Kristiane war total erschöpft und verwirrt, als Isak, ihr biologischer Vater, sie gegen sieben abholte. Obwohl sie alle von den Ereignissen des Tages beeinflußt waren, hatte Kristiane sie ganz besonders schwer genommen. Am Vormittag hatten sie die Kleine noch beruhigen können, und sie hatte sich darüber gefreut, beim Kinderumzug mitgehen zu dürfen, auch wenn sie seine Hand nicht eine einzige Sekunde losgelassen hatte. Später am Tag war es schlimmer geworden. Sie war wie besessen von der verschwundenen Frau und klammerte sich verängstigt an die Mutter, bis endlich der Papa kam und sie mit sich locken konnte, weil er von einem neuen Zug erzählte, den sie ganz allein steuern dürfte. Yngvar hätte fahren können, wollte aber lieber gehen. Statt geradeaus den Kjelsåsvei zu nehmen und über Storo Richtung Tåsen nach Hause zu gehen, entschied er sich für den Umweg über das Grefsenplateau. Die Luft war kühl und frisch, und das Mailicht hing noch immer bleich am Westhimmel. Seine Schritte knirschten auf dem Asphalt, die Stadt hatte angeblich noch kein Geld gehabt, um den Streusand des Winters zu entfernen. Früher an diesem Tag hatte es geregnet. Aus den Gärten roch es feucht nach fauligem Laub vom Vorjahr. In den Blumenbeeten sangen die Tulpen ihr letztes Lied. Hinter jedem einzelnen Wohnzimmerfenster flimmerte ein Fernsehapparat. 109
Bei einem weiß angestrichenen Lattenzaun blieb Yngvar Stubø stehen. Auch das Haus war weiß, wirkte im Abendlicht aber bläulich. Die Vorhänge waren offen. Ein altes Ehepaar saß vor dem Fernseher. Er sah, daß die Frau eine Kaffeetasse hochhob. Als sie sie abstellte, griff sie nach der Faust des Mannes. So blieben sie sitzen, bewegungslos und Hand in Hand, während sie die Nachrichtensendung verfolgten, die ihnen vermutlich nicht viel mehr verriet, als sie nachmittags schon ein Dutzend mal gehört hatten. Yngvar stand immer noch da. Er fröstelte, und das fand er angenehm. Es machte den Kopf frei. Er brachte es nicht über sich, weiterzugehen. Das alte Ehepaar in dem kleinen weißen Haus mit den Tulpen unter dem Wohnzimmerfenster und den Nachrichten im Fernsehen wurde zu einem Sinnbild dafür, wie es um Norwegen stand an diesem seltsamen Tag, der mit einem Fest angefangen hatte und jetzt langsam zu einer Bedrohung gerann, deren Umfang noch niemand erfassen konnte. Ein Attentat könnten wir paradoxerweise leichter hinnehmen, dachte er. Ein Todesfall ist ein plötzliches Ende, aber auch der Anfang von etwas anderem. Tod ist eine Trauer, die man in den Griff bekommen kann. Ein Verschwinden ist ein endloses Fegefeuer und kaum zu ertragen. Der Mann im Wohnzimmer erhob sich plötzlich. Er stapfte zum Fenster, und für einen verlegenen Augenblick wähnte Yngvar sich entdeckt und trat zwei schnelle Schritte zurück. Der Mann zog die Vorhänge zu, schwere geblümte Stoffe, die für diese Nacht die Welt aussperren sollten. Yngvar beschloß, bis hinauf nach Stilla zu gehen, dann folgte er dem Weg am Flußufer. Das Wasser stand hoch über die Ufer. Die Gänse waren nach dem Winter längst zurückgekehrt, und hier und da schwamm eine Stockente tapfer gegen die Strömung 110
an und tauchte auf Nahrungssuche immer wieder unter. Yngvar wurde schneller. Er versuchte, mit dem frühlingshohen Fluß Schritt zu halten; er rannte fast schon. Sie haben sich gegen ein Attentat entschieden, dachte er atemlos. Falls es »sie« überhaupt gibt, haben sie sich entschieden, nicht zu töten. Wollen sie das denn so? Das Fegefeuer? Und wenn sie ein verwirrtes Vakuum anstreben, was wollen sie … Jetzt lief er so schnell, wie das in seinen guten Schuhen, dem Anzug und dem etwas zu engen Mantel überhaupt nur möglich war. Hier und da stolperte er, fand aber immer wieder das Gleichgewicht und jagte weiter. Er wollte nach Hause. Er lief und versuchte, an etwas anderes zu denken. An den Sommer, der schon in Reichweite stand, und an das Pferd, das er sich so gern zulegen wollte, während Inger Johanne sich einfach weigerte, noch weitere Haustiere anzuschaffen als den gelben sabbernden Köter, den Kristiane »Jack, den König von Amerika« nannte. Was wollen sie mit dem Leerraum?
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14 Es ging auf elf Uhr zu. Inger Johanne Vik war zu müde, um vom Sofa aufzustehen, und zu unruhig, um schlafen zu können. Sie versuchte, die Vorstellung von einer kinderfreien Nacht und einem kinderfreien Morgen zu genießen, konnte aber nur träge die Nachrichten anstarren, die die Öffentlichkeit mit sinnlosen Wiederholungen und wiedergekäuten Spekulationen versorgten. Fast sechzehn Stunden nach der Entdeckung, daß die Präsidentin der USA aus ihrem norwegischen Hotelzimmer verschwunden war, gab es nur eins, was mit Sicherheit feststand: daß sie sich nicht wieder eingefunden hatte. Noch immer vermieden die Repräsentanten des offiziellen Norwegens das Wort »Entführung«, aber die Journalisten fühlten sich da viel freier. Ein Kommentator nach dem anderen legte seine mehr oder weniger phantasievollen Theorien vor. Die Polizei verstummte immer mehr. Niemand aus der Ermittlungsleitung war seit dem frühen Nachmittag noch bereit gewesen, sich interviewen zu lassen. »Da bin ich ganz ihrer Ansicht«, sagte Yngvar und setzte sich neben Inger Johanne. »Es gibt Grenzen dafür, wie oft man sich zwingen lassen sollte, immer wieder genau dasselbe zu sagen. Sie wissen ja doch nichts. Bastesen hat die letzten beiden Male ziemlich dämlich ausgesehen.« »Ich hoffe, sie lügen.« »Lügen?« Sie lächelte vage und setzte sich bequemer hin. »Ja, daß sie mehr wissen, als sie zugeben. Und das ist bestimmt der Fall.« »Sei dir da nicht zu sicher. Ich habe selten eine dermaßen ernste Ansammlung von Menschen gesehen wie die auf dem 112
Weg von …« Inger Johanne schaltete auf CNN um. Wolf Blitzer saß selbst im Studio, wie schon seit fast vierzehn Stunden. Die Sendung »The Situation Room« hatte die gesamte Sendezeit des Kanals übernommen, und nach den Aktivitäten im Studio wies nichts darauf hin, daß ein baldiges Ende geplant wäre. Der Sprecher war wie immer tadellos gekleidet, nur sein Schlips hing ein wenig lockerer als noch vor einigen Stunden. Er schaltete souverän von einem Korrespondenten, der in Washington DC unter freiem Himmel stand, hinüber nach New York, dann unterbrach er diesen Mitarbeiter höflich und erteilte Christiane Amanpour das Wort. Die weltbekannte Journalistin stand vor dem Hintergrund des abendlich angestrahlten Schlosses. Sie war dünn gekleidet. Man konnte fast den Eindruck haben, daß sie fror. »Beeindruckend, wie schnell das geht«, murmelte Yngvar. »Die schaffen das in ein paar Stunden.« »Ich verstehe nicht ganz, was das Schloß mit der Sache zu tun haben soll«, sagte Inger Johanne und unterdrückte ein Gähnen. »Aber die Sendung ist gut. Da muß ich dir zustimmen. Und alles geht einfach glatter und schneller. Bist du gelaufen? Du bist ja schweißnaß, Lieber.« »Hab am Ende ein bißchen das Tempo gesteigert. Das war schön. Bin fast gejoggt.« »Im Anzug?« Er lächelte abwehrend und küßte sie. Sie verflocht ihre Finger mit seinen. »Seltsam, eigentlich …« Sie überlegte und streckte die Hand nach dem Weinglas aus. »Siehst du den Unterschied?« »Welchen Unterschied?« 113
»Zwischen den norwegischen und den amerikanischen Sendungen. Die Amerikaner sind effektiver, schneller, fast … aggressiv. Hier zu Hause wirkt alles eher … abwartend. Die Leute sind irgendwie wie gelähmt. Fast passiv. Jedenfalls diejenigen, die interviewt werden. Die scheinen die ganze Zeit Angst zu haben, sie könnten zuviel sagen, und dann ist es nur komisch, mit wie wenig sie herausrücken. Das ganze ist wie eine Parodie. Sieh dir die Amerikaner an, die sind soviel tüchtiger.« »Die haben auch mehr Übung«, sagte Yngvar und versuchte, die leise Irritation zu verbergen, die er immer empfand, wenn er auf Inger Johannes widersprüchliches Verhältnis zu allem Amerikanischen stieß. Einerseits wollte sie nie über ihre Studienjahre in den USA sprechen. Sie kannten einander jetzt seit vielen Jahren. Sie waren verheiratet. Sie hatten Kinder und ein Eigenheimdarlehen, hatten gemeinsame Träume und ihren Alltag. Trotzdem war ein langer Zeitabschnitt in Inger Johannes Vergangenheit ein Geheimnis, das sie eifriger hütete als ihre Kinder. Am Abend vor der Hochzeit hatte sie ihm einen Schwur abverlangt: Er dürfe nie, unter gar keinen Umständen, danach fragen, warum sie plötzlich ihr Psychologiestudium an der Akademie des FBI in Quantico abgebrochen habe. Er hatte es beim Grab seiner toten Tochter geschworen. Die Form des Eides und dessen Konsequenzen bereiteten ihm Übelkeit, wenn sie ein seltenes Mal zur Sprache kamen und Inger Johanne sich in einer Wut verlor, die sie sonst niemals zeigte. Zugleich grenzte Inger Johannes Faszination für alles, was amerikanisch war, beinahe schon an eine Manie. Sie las fast nur Belletristik aus den USA und besaß eine große Sammlung amerikanischer Low-Budget-Filme, die sie im Internet kaufte oder sich von einer Freundin in Boston schicken ließ, zu der er keinen Kontakt hatte und über die er kaum etwas wußte. Die Regale ihres kleinen häuslichen Arbeitszimmers waren 114
vollgestopft mit Büchern über Geschichte, Politik und Gesellschaft der USA. Er durfte nie eins davon lesen, und es schmerzte ihn zutiefst, daß sie die Tür abschloß, wenn sie ein seltenes Mal allein verreiste. »Eigentlich nicht«, sagte sie nach einer langen Pause. »Was?« »Du hast gesagt, sie hätten auch mehr Übung.« »Ich meine …« »Sie haben noch nie einen Präsidenten außerhalb der Landesgrenzen verloren. Die Präsidenten bisher wurden von hergelaufenen Irren aus dem eigenen Land umgebracht. Aber nie im Ausland. Und auch nie aufgrund einer Verschwörung. Hast du das gewußt?« Etwas in ihrer Stimme hinderte ihn am Antworten. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, daß ein Dialog sehr schnell in etwas anderes umschlagen könnte. Wenn er sie in Ruhe ließ, dann redete sie einfach weiter. »Vier von vierundvierzig Präsidenten sind bei Attentaten ums Leben gekommen«, sagte Inger Johanne nachdenklich, sie schien fast zu sich selbst zu sprechen. »Macht das nicht fast zehn Prozent?« Er versuchte, dem Drang, ihr zu antworten, zu widerstehen. »Kennedy«, sie lächelte kurz und kam ihm zuvor. »Vergiß es. Lee Harvey Oswald war ein komischer Vogel, der vielleicht bei der Planung mit ein paar anderen Verrückten zusammengesessen haben kann. Aber vermutlich nicht. Von einer großen Verschwörung kann jedenfalls keine Rede sein. Außer im Film natürlich.« Sie streckte die Hand nach der Weinflasche aus. Die stand zu weit weg. Yngvar griff danach und füllte ihr Glas. Der Fernseher lief noch immer. Wolf Blitzers Stirn war inzwischen ein wenig feucht geworden und als er zu einem weiteren 115
Reporter vor dem Weißen Haus schaltete, konnte man Schatten unter seinen Augen ahnen. Nach der nächsten Reklamepause würden die wahrscheinlich weggeschminkt sein. »Lincoln, Garfield und McKinley«, sagte Inger Johanne jetzt, ohne ihr Glas zu berühren. »Alle drei von einzelnen Fanatikern umgebracht. Von einem Südstaatenanhänger, einem Geisteskranken und einem verrückten Anarchisten, wenn ich mich richtig erinnere. Von durchgeknallten Landsleuten. Das gilt auch für die vielen mißlungenen Mordversuche. Reagans Attentäter wollte Jodie Foster beeindrucken, während der Typ, der es bei Theodor Roosevelt versucht hat, glaubte, von seinen Magenschmerzen befreit zu werden, wenn er den Präsidenten umbrächte. Nur die beiden Puertoricaner, die …« Wieder kam Christiane Amanpour ins Bild. Inzwischen hatte sie eine wärmere Jacke angezogen. Der Pelzkragen sollte vielleicht ein wenig Polarstimmung hervorrufen. Sie zog ihn mit der einen Hand immer fester um ihren Hals zusammen. Diesmal stand sie vor dem beleuchteten Polizeigebäude im Grønlandsleiret. Auch an dieser Front nichts Neues. Inger Johanne betrachtete den Bildschirm aus zusammengekniffenen Augen. Yngvar stellte den Ton mit der Fernbedienung leiser und fragte: »Was ist mit den Puerto …« »Vergiß es«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich wollte dich wirklich nicht mit den Grundzügen der US-Geschichte belästigen.« »Was wolltest du denn dann?« fragte er und versuchte noch immer, freundlich zu klingen. »Du hast angedeutet, daß sie vorbereitet sind. Und das sind sie natürlich, in vieler Hinsicht. Jedenfalls die Fernsehsender.« Sie nickte zu Christiane Amanpour hinüber, die Probleme mit dem Mikrofon hatte. Hinter ihr kam eine Gruppe von dunkelgekleideten Männern eilig die Straße hinab. Sie schlugen angesichts der Fernsehkameras ihre Mantelkragen hoch und ließen sich von den Rufen der an die dreißig Presseleute, die 116
hier offenbar für die Nacht ihr Lager aufgeschlagen hatten, nicht aufhalten. Ygnvar erkannte den Polizeipräsidenten sofort. Terje Bastesen wandte sich ab und zog die Uniformmütze vorschriftswidrig tief in die Stirn, während er auf die wartenden Autos zulief. »Aber die Bevölkerung der USA«, sagte Inger Johanne und richtete ihren Blick auf einen Punkt hoch über dem Fernsehschirm, »die ist sicher nicht richtig vorbereitet. Nicht ganz, und nicht auf das hier. Ihre Geschichte erzählt ihnen, daß sie sich vor verrückten Landsleuten hüten müssen, um Angriffe auf den Präsidenten zu vermeiden. Ich glaube sicher, daß der Secret Service eine Reihe von Attentatsszenarien entworfen hat, die sich vor allem gegen Abtreibungsgegner, Frauenhasser und die verbissensten Feinde des Irakkriegs richten. Denn da hat Helen Bentley im eigenen Land die erbittertsten Gegner, und da findest du den Nährboden für den Fanatismus, der empirisch gesehen vonnöten ist. Die neuere Geschichte der USA …« Sie zögerte einen Moment. »Die neuere Geschichte hat natürlich andere Szenarien entstehen lassen. Nach dem 11. September würde der Secret Service die Präsidenten bestimmt am liebsten in Betonbunker stecken. Seit dem Unabhängigkeitskrieg sind die USA in der übrigen Welt wohl kaum je so unbeliebt gewesen. Und da der Begriff Terror in den letzten Jahren einen ganz neuen Inhalt bekommen hat, jedenfalls in den USA, hat sich natürlich auch ihre Angst vor dem, was ihrem Präsidenten passieren kann, geändert. Daß die Präsidentin sich während eines Besuchs bei einer freundlich gesonnenen kleinen Nation in Luft auflöst, übersteigt aber sicher jede Vorstellungsfähigkeit um einiges. Aber …« Ihr Weinglas wäre fast umgekippt, als sie plötzlich danach griff. »… was weiß denn ich schon davon«, sagte sie leichthin. 117
»Prost, mein Lieber. Jetzt geht’s gleich in die Falle.« »Wie sieht es gerade jetzt im echten ›Situation Room‹ aus, Inger Johanne?« Sie löste sich aus seinem Arm. »Woher soll ich das denn wissen! Ich hab doch keine Ahnung …« »Doch. Hast du. Und sei es nur, weil du ein Buch hast, das sogar ›The Situation Room‹ heißt, und das …« Jetzt konnte Yngvar die Irritation, die kurz davor war, in Wut umzuschlagen, nicht mehr unterdrücken. »… und das auf deinem Nachttisch liegt. Ja, verdammt, Inger Johanne, es muß doch um Himmelswillen möglich sein, mir zu sagen …« Sofort war sie vom Sofa aufgesprungen und stürzte ins Schlafzimmer. Sekunden später war sie wieder da. Ihr Gesicht war flammendrot. »Hier«, sagte sie. »Du hast dir den Titel falsch gemerkt. Aber wenn es dich so wahnsinnig interessiert, dann kannst du es ja lesen. Es ist nicht gerade ein Geheimnis, wenn es da an unserem gemeinsamen Bett liegt. Bitte sehr.« Ihre Brille war leicht beschlagen. Der Schweiß über ihrer Nasenwurzel war deutlich zu sehen. »Inger Johanne«, stöhnte Yngvar resigniert. »Jetzt mach aber mal einen Punkt. Wir können einfach nicht so leben, daß …« So langsam habe ich das wirklich satt, dachte er. Nimm dich in acht, Inger Johanne. Ich weiß nicht, wie lange ich dieses doppelte Spiel aushalte. Den Widerspruch zwischen meiner klugen, freundlichvernünftigen Liebsten und diesem wutschnaubenden Wesen, das aus unbegreiflichen Ursachen die Stacheln ausfährt, macht mich fertig. Du hast zu große Geheimnisse, Inger Johanne. Zu groß für mich und viel zu groß für dich. Die Türklingel ertönte. 118
Sie fuhren beide zusammen. Inger Johanne ließ das Buch auf den Boden fallen, als sei sie mit Schmuggelware ertappt worden. »Wer kann das sein«, murmelte Yngvar und schaute auf die Uhr. »Zwanzig nach elf …« Steif erhob er sich und ging zur Tür. Inger Johanne blieb halb dem Fernseher zugewandt stehen. Über den Schirm flimmerten Bilder, die in diesem Moment in allen Erdteilen und den meisten Ländern verfolgt wurden, unabhängig von Zeitzonen und politischen Regimes, von Religion und ethnischer Zugehörigkeit. CNN hatte seit der Katastrophe von Manhattan kein größeres Publikum gehabt und schien die Gelegenheit gierig zu nutzen. An der Ostküste war es fast sechs Uhr nachmittags. Nachrichtenhungrige Amerikaner kamen von der Arbeit, zu der sie sich trotz der düsteren Neuigkeiten des Morgens gezwungen gefühlt hatten, und die Sendung füllte sich mit Beiträgen von Reportern und Analytikern, Kommentatoren und Experten. Sie wirkten allesamt, als fühlten sie sich eher gut aufgelegt als müde, als gebe die Gewißheit, daß die Sendung sich der prime time näherte, allen frische Energie. Ernste Männer und Frauen mit beeindruckenden Titeln diskutierten abwechselnd verfassungsmäßige Konsequenzen und nationale Bereitschaft, kurz- und langfristige Krisenszenarien, Terrororganisationen und die schon mehrmals kritisierte Abwesenheit des Vizepräsidenten. Wenn Inger Johanne das richtig verstanden hatte, war er mit dem Flugzeug in ein Versteck irgendwo in Nevada gebracht worden. Oder in einen Bunker in Arkansas, wie ein anderer Experte behauptete, während ein dritter wissen wollte, daß der Vizepräsident sich bereits in Sicherheit in einem amerikanischen Flottenstützpunkt weit außerhalb der Landesgrenzen befand. Sie diskutierten den 25. Verfassungszusatz und waren alle der Meinung, daß der größte Skandal darin lag, daß das Weiße Haus noch immer nicht klargestellt hatte, ob der jetzt anzuwenden sei. 119
Das sehen sie sich im wirklichen Situation Room an, dachte Inger Johanne. Sie sah die Plasmabildschirme vor sich, an den Wänden einer engen Abteilung des Weißen Hauses, im Erdgeschoß des Westflügels, mit roten Geranien vor den Fenstern. Mehr als 6200 Kilometer von dem Zweiparteienhaus im Osloer Stadtteil Tåsen entfernt arbeitete in diesem Moment eine Gruppe von Menschen unter chaotischer Ungewißheit in einer sich überstürzenden Krisensituation und behielt das Fernsehprogramm genau im Auge, das auch der Rest der Welt jetzt verfolgte, während sie zugleich zu verhindern versuchten, daß die Welt am nächsten Tag sehr viel anders aussah. Im Alltag empfingen die vielen Abteilungen und Büros, die mit der nationalen Sicherheit zu tun hatten, täglich mehr als eine halbe Million Nachrichten von Botschaften, militärischen Stützpunkten und anderen Nachrichtenquellen in aller Welt. Warnungen von entscheidender Bedeutung für die Sicherheit des Landes liefen ebenso ein wie belanglose Notizen, von denen sie lieber verschont geblieben wären. Routineberichte trafen gemeinsam mit besorgniserregenden Meldungen über feindliche Aktivitäten ein. Von CIA bis FBI, von der NSA bis zum Außenministerium, alle hatten eigene Operationszentralen, die in einem unaufhaltsamen Informationsfluß die Spreu von Weizen trennten. Das Sinnlose wurde dorthin geschickt, wo es am wenigsten Schaden anrichten konnte. Das Besorgniserregende, das Wichtige und das Gefährliche wurde an die weitergeleitet, die dafür zuständig waren: the Sit Room staff. Dieser kompakte Stab war befugt, die Informationsschwelle zu heben oder zu senken, weitere Berichte über besonders besorgniserregende Bereiche anzufordern, und vor allem: Sie versorgten den Präsidenten direkt. Unter George W Bush waren die Bildschirme ausschließlich auf Fox News eingestellt. Jetzt wurde im Situation Room wieder CNN geschaut. 120
Das machen sie alle, dachte Inger Johanne und setzte sich wieder hin. Die Amerikaner schwammen in einem Meer der Information mit Unterströmungen, die sie die ganze Zeit nach unten zu ziehen drohten. Büros und Ministerien, Operationszentralen und Auslandsstützpunkte, militärische und zivile Einheiten, der Informationsstrom in einer solchen Krise war unvorstellbar. Das gesamte System der USA war jetzt auf den Beinen, zu Hause und auswärts, in Washington DC und zahllosen anderen Städten. Als Inger Johanne die Augen schloß und eine unermeßliche Müdigkeit verspürte, die es ihr schwer machte, die Augen wieder zu öffnen, glaubte sie, ein fernes Summen zu hören, wie einen Bienenschwarm im Sommer, zehntausende amerikanische Beamte mit nur einem einzigen Ziel vor Augen: Die Präsidentin heil wieder nach Hause zu schaffen. Und sie sahen CNN: Sie schaltete aus. Sie kam sich so klein vor. Sie ging zum Küchenfenster, das endlich ausgewechselt worden war. Kein kühler Luftzug traf mehr ihre Hand, als sie über den Fensterrahmen strich. Draußen war es fast dunkel, aber nicht ganz, der Frühling brachte dieses segensreiche Licht mit sich, das die Abende weniger bedrohlich und die Morgen leichter werden ließ. Dann fuhr sie herum. »Wer war das?« »Die Arbeit«, murmelte er. »Die Arbeit? Um Mitternacht am 17. Mai?« Er kam auf sie zu. Sie starrte aus dem Fenster. Langsam legte er die Arme um sie. Sie lächelte und spürte die gute Wärme seines Körpers in ihrem Rücken. Entspannte sich. Schloß die Augen. »Ich will schlafen«, murmelte sie und fuhr mit dem Finger 121
über seinen Unterarm. »Bitte, bring mich ins Bett.« »Warren ist in Oslo«, flüsterte er und wollte sie nicht loslassen, auch als er merkte, wie sie erstarrte. »Warren Scifford.« »Was?« »Er ist hier in Verbindung mit …« Inger Johanne hörte nicht mehr zu. Ihr Kopf kam ihr leicht und benommen vor und schien ihr nicht mehr zu gehören. Eine Wärme strömte durch die Arme in ihre Hände, sie hob sie und legte sie an die Fensterscheibe. Sie sah die Lichter eines Flugzeugs am Nordhimmel und konnte nicht so recht verstehen, was das um diese Zeit in der Luft zu suchen hatte, an diesem Tag. Sie merkte, daß sie lächelte, und sie konnte nicht verstehen, warum. »Will nicht hören«, sagte sie leichthin. »Das weißt du. Will nicht hören.« Yngvar weigerte sich, sie loszulassen. Ihr Körper kam ihm jetzt kleiner vor, mager geradezu. Und stocksteif. Warren Scifford, The Chief, war Inger Johannes Lehrer an der FBI-Akademie gewesen. Und mehr als nur ihr Lehrer, das hatte Yngvar bald begriffen. Inger Johanne war damals so jung gewesen, erst dreiundzwanzig, während Warren damals schon weit über vierzig gewesen sein mußte. Es war eine Liebesbeziehung, die eine Ewigkeit zurücklag; Yngvar hatte bei seinen beiden Begegnungen mit Warren nicht einmal einen Hauch von Eifersucht verspürt. Das letzte Mal – es mußte drei, vier Jahre her sein, bei einer Interpol-Tagung in New Orleans – hatten sie sogar zusammen gegessen. Aus irgendeinem Grund, den er nicht ganz erklären konnte, waren ihm Warrens viele Fragen nach Inger Johanne unangenehm gewesen. Er war ausgewichen und für den Rest der Mahlzeit hatten sie sich auf Fachliches und Football konzentriert. Warren Scifford war der wesentliche Bestandteil von Inger 122
Johannes großem Geheimnis. Ihn zu erwähnen, war streng verboten, ein Verbot, das ihm vor allem eins verriet: Warren mußte sie zutiefst verletzt haben. Das kommt vor, dachte er und drückte Inger Johanne an sich. Es ist schlimm und es kann schwer sein. Aber man kommt darüber hinweg. Mit der Zeit. Es ist fast fünfzehn Jahre her, meine Liebste. Vergiß es. Bring es hinter dich, um Gottes willen. Oder war da noch mehr? »Sprich mit mir«, flüsterte er in ihr Ohr. »Kannst du mir nicht endlich sagen, was hier los ist?« »Nein.« Ihre Stimme war nur ein Hauch. »Ich werde mit ihm zusammenarbeiten«, sagte er. »Tut mir leid.« Er versuchte noch immer, sie festzuhalten, aber mit überraschender Kraft riß sie sich los und schob ihn weg. Ihre Augen machten ihm angst, als sie fragte: »Was hast du da gesagt?« »Er braucht einen Verbindungsmann.« »Und das mußt du sein. Von allen hunderten von … du sagst natürlich nein.« Irgendwie wirkte sie plötzlich anwesender, sie schien zu erwachen, als er ihren Körper losließ. »Das ist ein Befehl, Inger Johanne. Ich arbeite in einem Befehlssystem. Es gibt da nichts, was ›nein sagen‹ hieße.« Er zeichnete Gänsefüßchen in die Luft. Inger Johanne wandte sich von ihm ab und ging ins Wohnzimmer. Sie drehte den Korken vom Korkenzieher und verschloß die halbleere Flasche. Dann nahm sie die Gläser, ging zurück zur Küche und stellte alles auf den Tisch. Als sie feststellte, daß die Spülmaschine voll war, gab sie Spülmittel hinein, schloß die Metalltür und schaltete die Maschine ein. Sie 123
nahm einen Lappen, wrang ihn unter fließendem Wasser aus und wischte den Tisch ab. Sorgfältig schüttelte sie den Lappen über dem Spülbecken aus, spülte ihn noch einmal durch und faltete ihn zusammen, ehe sie ihn über den Wasserhahn hängte. Yngvar sah ihr dabei wortlos zu. Endlich sah Inger Johanne ihn an. »Eins muß ganz klar sein, ehe wir schlafen gehen«, sagte sie; ihre Stimme war ruhig und überdeutlich, wie dann, wenn sie Kristiane korrigierte. »Wenn du den Posten als Warren Sciffords Verbindungsmann annimmst, ist Schluß.« Er brachte keine Antwort heraus. »Dann verlasse ich dich, Yngvar. Wenn du das tust, verlasse ich dich.« Und dann ging sie ins Bett. Endlich war der Nationalfeiertag zu Ende.
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MITTWOCH, 18. MAI 2005
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1 Als Warren Scifford aufwachte, wußte er nicht, ob es an der Zeitverschiebung lag, an zu wenig Schlaf oder an einer heraufziehenden Grippe, daß er sich so elend fühlte. Er blieb eine Weile liegen und schaute zur Decke hoch. Die leichten himmelblauen Vorhänge ließen die Sonne durch. Das Bett war in Morgenlicht gebadet. Als er es endlich über sich brachte, den Kopf zu heben und einen Blick auf die Digitalanzeige am Fernseher zu werfen, runzelte er ungläubig die Stirn. Halb fünf. Erst jetzt begriff er, wozu die unschönen gummiartigen Verdunklungsrollos gut waren, die er ignoriert hatte, als er gegen eins ins Bett gefallen war. Er stand mühsam auf und stapfte zum Fenster hinüber, um das Zimmer in Dunkelheit zu hüllen. Endlich hatte er den Mechanismus durchschaut. Zwielicht senkte sich über das Zimmer, nur hauchdünne Lichtstreifen an den Rändern des Rollos ermöglichten es, überhaupt irgend etwas zu sehen. Er knipste die Nachttischlampe an und legte sich wieder hin, ohne sich zuzudecken. Sein nackter Körper überzog sich im Luftzug der Klimaanlage mit Gänsehaut. Sein Nacken fühlte sich steif an, und hinter seiner Nasenwurzel lagen vage Kopfschmerzen auf der Lauer. Er war erschöpft und wach zugleich, und er wußte, daß Weiterschlafen unmöglich sein würde. Nach einigen Minuten stand er wieder auf und zog einen pfauenblauen seidenen Schlafrock an. Im Regal neben dem Fernseher stand ein Wasserkocher. Drei Minuten darauf hatte er einen bitteren und viel zu starken Pulverkaffee angerührt, den er so schnell hinunterstürzte, wie das überhaupt nur möglich war. Es half, aber noch immer fühlte er sich dermaßen erschlagen, daß es ihm unter anderen Umständen durchaus Sorgen gemacht 126
hätte. Rasch rechnete er aus, daß es in Washington DC jetzt zwanzig vor elf war. Das hob seine Laune ein wenig. Er konnte noch immer mit zwei problemfreien Stunden rechnen, falls es notwendig sein würde, zu irgendwem Kontakt aufzunehmen. Rasch baute er sein transportables Büro auf dem Schreibtisch auf, den er sich vom Hotel hatte besorgen lassen. Der Rokokotisch mit der riesigen Blumenvase, der bei seinem Eintreffen gestern nachmittag im Zimmer gestanden hatte, wäre kaum geeignet gewesen. Der neue Schreibtisch war schlicht und schnörkellos, dafür aber riesig. Aus dem Metallkoffer, den er neben sein Bett gestellt hatte, nahm er einen ungewöhnlich großen Laptop, vier Mobiltelefone und einen Stapel leicht getöntes Papier. Er legte alles peinlich genau nebeneinander. Auf den Papierstapel, in genauem Abstand voneinander, legte er drei Kugelschreiber. Einen schwarzen, einen roten und einen blauen. Die vier Telefone waren von unterschiedlichem Fabrikat und unterschiedlicher Form und lagen wie ausgestellt links neben dem Laptop. Zum Schluß montierte er aus drei Einzelteilen, die er aus dem Koffer nahm, einen kleinen Drucker, schloß ihn an den Laptop an und schob den Stecker in die Steckdose unter dem Fenster. Sofort schaltete der Laptop sich ein. Das Hotel warb mit complementary wireless connection, er jedoch gab eine Nummer in den USA ein. Sekunden später hatte er den einen seiner elektronischen Briefkästen geöffnet, dessen Adresse nur vier Menschen kannten. Das Dekodierungsprogramm blieb für einen Moment hängen, wie es das immer machte, und zeigte ihm ein Chaos aus Zeichen, bis sich schließlich alles zu einem vertrauten Bild fügte. Warren Scifford gähnte und kniff die Augen zusammen, um sich von den aufsteigenden Tränen zu befreien. Er hatte eine Antwort auf die Frage bekommen, die er vor dem Einschlafen abgeschickt hatte. Mit einem Klick öffnete er die E-Mail. Er las langsam. Dann las er das Ganze ein weiteres Mal, ehe er auf »Drucken« klickte und auf das kratzende Geräusch wartete, 127
das mitteilte, daß das Dokument an den Drucker weitergeleitet worden war und jetzt ausgedruckt wurde. Rasch loggte er sich aus und klappte den Laptop zu. Danach ging er zur Tür, um sich davon zu überzeugen, daß der Sicherheitsriegel noch immer vorgeschoben war. Niemand hatte ihn angefaßt. Er brauchte eine Dusche. Er blieb mehrere Minuten unter dem strömenden, viel zu heißen Wasser stehen. Anfangs brannte seine Haut, dann breitete sich in seinem Rücken eine behagliche Taubheit aus. Sein Nacken kam ihm schon geschmeidiger vor und die Nebenhöhlen öffneten sich. Er seifte sich gründlich ein und wusch sich die Haare. Dann drehte er das heiße Wasser ab und keuchte unter einem eiskalten Sturzbach auf. Jetzt war er immerhin wach. Rasch trocknete er sich ab und nahm Kleidung aus dem Koffer, nachdem er hinter dem Verdunklungsrollo nachgesehen und sich noch einmal davon überzeugt hatte, daß ein sonniger Tag bevorstand. Er zog sich an, nahm den Ausdruck vom Drucker und ließ sich mit drei Kissen unter dem Kopf auf das Bett fallen. Die Troja-Spur war nicht nur weiterhin heiß, sie glühte geradezu. Sechs Wochen zuvor hatte einer der Spezialagenten mit einem kleinen Stapel Papier und einer besorgten Furche in der Stirn sein Zimmer betreten. Als der Mann ihn eine halbe Stunde später verließ, hatte Warren Scifford die Ellbogen auf den Tisch gelegt, die Hände im Nacken verschränkt und eine Ewigkeit lang die Tischplatte angestarrt und zugleich seine eigene Eitelkeit verflucht. Er hätte da bleiben können, wo er hingehörte. Warren Scifford war der Allerbeste in seiner Branche, er war der Fachmann für die Verhaltenspsychologie, die das FBI jetzt schon seit über drei Jahren entwickelte. Er hätte weiterhin der Superheld in seinem eigenen Universum sein können. In der Jagd nach bizarren 128
Serienmördern und verderbten Vergewaltigern lag paradoxerweise etwas Beruhigendes und Greifbares. Warren Scifford war so lange damit beschäftigt und hatte soviel gesehen, daß Verbrechen keinen besonderen Eindruck mehr auf ihn machten. Die Gefühle standen einem immer schärferen Blick und einer wachsenden Erkenntnis nicht mehr im Weg. Er war der allertüchtigste Jäger gewesen. Dann hatte er sich in Versuchung führen lassen. Präsidentin Bentley hatte schon nach der Wahl im November, lange vor ihrer Amtseinführung, angerufen, um ihn zu überreden. Noch immer konnte Warren sich an das berauschende Gefühl erinnern, das ihn dabei überkam. Der süße Geschmack des Erfolgs hatte ihn weich werden lassen, und nach dem Gespräch hatte er laut gelacht und die Fäuste erhoben. Er wurde nicht nur von Amerikas Commander in Chief für einen wichtigen Posten gewünscht, sie hatte ihn geradezu angefleht. Obwohl er seit über sechs Jahren mit Helen Bentley eng befreundet war, wußte er, daß ihm das keinen Vorteil in dem riesigen Puzzlespiel verschaffte, das sie zu legen begonnen hatte, während George W Bush endlich und widerwillig seine concession speach hielt. Eher war das Gegenteil der Fall. Die Kommentatoren lobten Madam President, als die Posten verteilt wurden. Auf bewundernswerte Weise umging sie Freunde und treue Helfer und entschied sich für Kandidaten mit unbestreitbarer Kompetenz und einwandfreier Selbständigkeit. Warren war einer von ihnen, und er wurde zu einem täglichen Gast im Westflügel. Die Gruppe, die er leiten sollte, gehörte zum FBI. Trotzdem mußte Warren der Präsidentin direkt Bericht erstatten, was bereits zu einem ernstlichen Konflikt mit dem FBI-Chef geführt hatte, als die Ermittlungsgruppe noch nicht einmal vollständig zusammengestellt war. Dieses Vorgehen brach mit jeglichem 129
Brauch des Büros. Der Chef mußte sich natürlich geschlagen geben, aber Warrens Freude über den prestigeträchtigen Auftrag kühlte doch bei der Erkenntnis ab, daß er jetzt nicht länger als Mann des Büros galt. Für kurze Zeit hatte er mit dem Gedanken gespielt, seine Entscheidung zu widerrufen. Dann hatte er rasch eingesehen, daß das nicht möglich wäre. Nach dem 11. September 2001 hatte sich beim FBI fast alles verändert. Das Büro hatte sich in überaus kurzer Zeit von einer Polizei-Organisation, die sich vor allem mit herkömmlicher und einheimischer Kriminalität beschäftigte, in die eigentliche Speerspitze im Kampf gegen den Terror verwandelt. Die Umstrukturierung, die früher viele Jahre in Anspruch genommen hätte, wurde innerhalb weniger Wochen durchgeführt. Ein Sturm patriotischer Tatkraft fegte über alle staatlichen Organisationen, Institutionen und Behörden, die auch nur das Geringste mit nationaler Sicherheit zu tun hatten. Eine große Hilfe dabei waren fast unbegrenzte Mittel und eine Gerichtsbarkeit, die sich viel flexibler zeigte, als irgendwer im Land sich das vor dem katastrophalen Morgen im September hätte vorstellen können. Das Feindbild hatte sich verändert. Noch immer gab es Länder und Staaten, die die mächtigste Nation der Welt bedrohten. Nach dem Niedergang und dem späteren Zerfall der Sowjetunion war die Angst vor einem herkömmlichen Krieg zwar so gut wie verflogen. Aber da die USA auf dem ganzen Erdball Interessen verfolgten, war es dennoch wichtig, weiterhin unfreundlich gesonnene Staaten und feindselige Nationen im Auge zu behalten, die den USA möglicherweise aus ideologischen, ökonomischen oder territorialen Ursachen Schaden zufügen könnten. Und das geschah ja auch, jetzt wie zu allen Zeiten. Aber am 11. September waren die USA von keinem Staat angegriffen worden. Es gab eigentlich kein Land, gegen das zurückgeschlagen werden könnte. Die Männer, die vier 130
Flugzeuge entführt und auf amerikanischen Boden hatten stürzen lassen, um zu töten, waren Einzelpersonen gewesen. Sie waren Individuen, teilweise von unterschiedlicher Herkunft und mit verschiedenen Lebensgeschichten. Während die politische Maschinerie um Präsident Bush entlang der »Achse des Bösen« einen klassischen Feind konstruierte und ihre Aggression auf existierende Nationen richtete, war Helen Lardahl Bentley davon überzeugt, daß es sich um gefährlichere Angreifer handelte. Um Menschen. Sie wurden nicht zum Kriegsdienst eingezogen, wie verängstigte Soldaten, die zu allen Zeiten für die Fahne und ein Vaterland, das sie niemals wiedersehen würden, in den Tod gegangen waren. Das Schlachtfeld wurde nicht mehr von Generälen definiert, für die zu beiden Seiten der Front im Grunde genau dasselbe Maß für Sieg und Niederlage galt: gewonnenes Terrain und verlorene Schlachten. Die neuen Feinde der USA waren Individuen, mit den Erfahrungen, Größen und Schwächen einzelner Menschen. Sie lebten nicht an einem Ort, in einem System, und sie trugen ihre Flagge nicht offen vor sich her. Sie zogen nicht auf Kommando in den Krieg, sondern aus Überzeugung. Sie waren nicht durch Staatsangehörigkeit und nationale Identität miteinander verbunden, sondern durch Glaube und Mißtrauen, durch Haß und Liebe. Die neuen Feinde der USA waren überall, und Helen Lardahl Bentley war überzeugt, daß sie nur entlarvt und besiegt werden konnten, wenn man sie kennenlernte. Ihre allererste Amtshandlung war die Einrichtung der Behavioral Science Counter Terror Unit. Deren Aufgabe war es, aus trockenen Fakten und vagen Informationen lebendige Bilder zu machen. Die BS-Unit sollte die Menschen sehen, wo das große System für die Sicherheit des Heimatlandes nur mögliche Angriffe und potentiellen Terror wahrnahm, nur Bomben und hochtechno131
logische Ausrüstung. Indem man analysierte, verstand und erklärte, was Männer unterschiedlicher Herkunft dazu bewegte, in einem kollektiven Haß auf die USA den Märtyrertod zu wählen, würde Amerika ihnen besser zuvorkommen können. Warren Scifford hatte die freie Auswahl gehabt. Unter den fast vierzig Spezialagenten in der Gruppe waren einige der besten Profiler, die im Dienst des FBI gestanden hatten. Sie waren dem Ruf eifrig gefolgt, einer wie alle. Aber Warren hatte seinen Entschluß schon bereut. Als der Spezialagent sechs Wochen zuvor mit vier beschriebenen Bögen in der Hand sein Büro betreten hatte, um den Chef leise in seine Überlegungen einzuweihen, hatte Warren Scifford sich zum ersten Mal in seinem sechsundfünfzig Jahre langen Leben wirklich gefürchtet. Ein trojanischer Angriff paßte nicht ins Bild. Er ergab einfach keinen Sinn. Er war weder spektakulär noch symbolisch. Er würde keine beängstigenden, unvergeßlichen Bilder produzieren, wie die Flugzeuge im World Trade Center. Keine Menschenmengen würden weinend und voller Panik und ungläubigem Entsetzen die Flucht ergreifen und unauslöschliche Fernsehbilder hinterlassen. Troja würde dem Feind keine Aufmerksamkeit verschaffen, aus einer solchen Aktion wäre keine Ehre zu holen, und sei sie noch so verzerrt. Das restliche System hatte sich alle Mühe gegeben, Al-Qaida oder eine verwandte Organisation mit Troja in Verbindung zu bringen. Warren Scifford und seine Männer und Frauen hatten heftig widersprochen. Es stimme nicht, argumentierten sie hartnäckig. So gehe Al-Qaida nicht vor. So dächten sie nicht. Und schon gar nicht wollten sie die USA auf diese Weise bestrafen. Da die BS-Unit von allen außer der Präsidentin mit scheelem Blick betrachtet wurde, trafen sie überwiegend auf taube Ohren. Nach zwei Wochen intensiver und zielgerichteter Arbeit, um eine Verbindung zu einem existierenden Terrornetzwerk zu finden, 132
ohne allerdings auch nur die allergeringste Andeutung eines Zusammenhangs entdecken zu können, kamen die anderen dann aber doch zu dem Schluß, daß Warren Sciffords Gruppe recht habe. Al-Qaida hatte mit der Sache nichts zu tun. Die mageren, unvollständigen Informationen verloren deshalb an Interesse. Das gewaltige Nachrichtendienstsystem der USA erfuhr doch soviel. Es gab unendlich Vieles, mit dem sie sich beschäftigen konnten. Während jeden einzelnen Tag unübersichtliche und chaotische Informationen über greifbarere Bedrohungen hereinströmten, wurde Troja auf ein stilles Nebengleis geschoben. Aber Warren Scifford machte sich weiterhin Sorgen. Und das galt auch für Madam President. Jetzt lag Warren auf dem Bett in einem norwegischen Hotelzimmer und verspürte ein Bohren im Zwerchfell. Er las die Mitteilung zum vierten Mal. Dann erhob er sich und ging ins Badezimmer. Dort zog er ein Feuerzeug aus der Tasche. Er hielt das Dokument über die Toilettenschüssel und zündete es an. Vor allem beunruhigte ihn das Gefühl, zum Narren gehalten worden zu sein. Der vage Verdacht, daß die Informationen gezielt ausgestreut worden waren, hatte ihm schon seit Wochen zu schaffen gemacht. Jetzt, nachdem er gelesen hatte, daß die Informationen über den Komplex, den er Troja getauft hatte, während der letzten vierundzwanzig Stunden dermaßen wild und chaotisch eingelaufen waren, daß sie keinen Sinn mehr ergaben, war er total verwirrt. Die Flammen züngelten am Papier. Kleine Rußflocken rieselten auf das weiße Porzellan. Wenn alles gezielt gestreut worden war, handelte es sich um ein Ablenkungsmanöver. Wenn das der Fall war, konnte die Präsidentin das eigentliche Ziel gewesen sein. Und in diesem Fall hatten sie es mit einem Feind zu tun, von dessen Identität sie keine Ahnung hatten. Es war nicht Osama bin Laden, es war 133
keine der vielen Terrororganisationen mit Basis in … »So kann das nicht sein«, sagte Warren laut, um sich aus seinen eigenen Gedanken zu reißen. »Niemand hat den Apparat, um so eine riesige Sache in die Welt zu setzen. Die Informationen sind zu gut, um gestreut worden zu sein.« Er mußte den kleinen Zipfel loslassen, der von dem Bogen noch übrig war. Er zog ab. Noch immer klebten Papierreste an der Schüssel, und er nahm die Toilettenbürste, um sie endgültig zu entfernen. Dann ging er zurück zum Schreibtisch und griff nach der Kopie des Zettels, der im Zimmer der Präsidentin gefunden worden war. »We’ll be in touch«, murmelte Warren Scifford. »But when?« Er ließ das Blatt Papier los, als ob er sich daran verbrannt hätte. Er mußte etwas essen. Die Uhr am Fernseher sagte ihm, daß soeben das Frühstück serviert worden war. Er brauchte drei Minuten, um sein Büro wieder abzubauen und den Koffer in einem Schrank einzuschließen. Nur der Stapel getönten Papiers blieb auf dem Schreibtisch liegen, mit den drei Kugelschreibern wie standhaften Zinnsoldaten obendrauf. Das eine Telefon steckte er in die Tasche, ehe er ging. Es war doch nicht nötig gewesen, jemanden anzurufen. Er hätte auch wirklich nicht gewußt, wen.
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2 Der Zollbeamte auf dem Osloer Flughafen Gardermoen wollte seinen Augen fast nicht trauen. Diese Bande von Amerikanern war zwar mit einer Chartermaschine gekommen, aber daß es überhaupt möglich sein sollte, der Flugsicherheit und den Gesetzen anderer Länder mit einer derartigen Arroganz gegenüberzutreten, war einfach unbegreiflich für ihn. »Moment!« Er streckte die Hand aus und trat von der Schranke, hinter der er seit anderthalb Stunden herumstand und sich langweilte, zwei Schritte auf den Gang hinaus. »Was haben Sie da?« fragte er auf Englisch mit einem Akzent, der dem Amerikaner ein Lächeln entlockte. »Das hier?« Der Mann öffnete die Jacke, um seinen Dienstrevolver zu zeigen. Der Zollbeamte schüttelte resigniert den Kopf. Jetzt kamen noch weitere von der Sorte, alle mit der typischen Ausbuchtung über den Rippen. Sie versuchten, sich an ihm vorbeizudrängen, während er beide Arme ausstreckte und rief: »Halt! Einen Augenblick, ja!« Gereiztes Gemurmel verbreitete sich in der frisch eingetroffenen Gruppe, die aus fünfzehn oder sechzehn Männern und zwei Frauen bestand. »No guns«, erklärte der Zollbeamte energisch und zeigte auf die niedrige, breite Schranke. »Waffen hier ablegen. Stellen Sie sich schön hintereinander auf, dann kriegen Sie alle eine Quittung.« »Hören Sie mal«, sagte der Mann, den er zu allererst angehalten hatte, er mochte Mitte Fünfzig sein und war einen Kopf größer als der kleine korpulente Zollbeamte. »Unser 135
Eintreffen ist mit den norwegischen Behörden abgesprochen, darüber sind Sie sicher informiert. Meines Wissens sollte uns hier ein Beamter empfangen, sowie wir …« »Spielt keine Rolle«, sagte der Zollbeamte und drückte sicherheitshalber auf den Knopf unter der Bank, der die vier Meter entfernten mechanischen Türen verriegelte. »Hier drinnen trage ich die Verantwortung. Haben Sie eine Zulassung für diese Waffen?« »Zulassung? Also hören Sie mal …« »Keine Zulassung, keine Waffen. Stellen Sie sich hintereinander auf, so, und dann werde ich …« »Ich glaube, ich sollte mit Ihrem Vorgesetzten sprechen«, sagte der Amerikaner. »Der ist nicht da«, sagte der Zollbeamte; er hatte große blaue Augen und lächelte freundlich. »Und jetzt bringen wir das so schnell wie möglich hinter uns.« Der Amerikaner drehte sich zu seinen immer ungeduldiger werdenden Kollegen um und begann ein gemurmeltes Gespräch. Eine der Frauen fischte ein Mobiltelefon hervor. Mit flinken Fingern tastete sie eine Nummer ein. »Hier drinnen gibt es keine Verbindung«, sagte der Zollbeamte zufrieden. »Das können Sie also gleich vergessen.« Die Frau lauschte trotzdem auf ein Lebenszeichen am anderen Ende. Dann zuckte sie mit den Schultern und schaute resigniert den Mann an, der offenbar eine Art Chef war. »Jetzt muß ich doch Protest erheben«, sagte der zum Zollbeamten, mit einem Blick, der den kleinen Beamten davon abhielt, ihm noch einmal ins Wort zu fallen. »Hier liegt offenbar eine Reihe von Mißverständnissen vor. Zum ersten sollten wir von unseren norwegischen Kollegen am Flugzeug abgeholt werden. Statt dessen werden wir in dieses … Labyrinth geschickt, ohne Begleitung und ohne zu wissen, wohin wir 136
überhaupt sollen.« »Sie sollen dahin«, sagte der Zollbeamte und zeigte auf die verriegelten Türen. »Dann schlage ich vor, daß Sie aufmachen. Und zwar SOFORT. Es liegt hier ein peinliches Mißverständnis Ihrerseits vor und ich habe die Sache jetzt satt.« »Ich schlage vor«, sagte der Zollbeamte und zögerte gerade lange genug, um mit einer Schnelligkeit, die niemand ihm zugetraut hätte, auf den Tresen zu springen. »Ich schlage vor, daß Sie jetzt tun, was ich gesagt habe. Da draußen …« Er wurde immer lauter und zeigte in Richtung Ankunftshalle. »… haben andere zu bestimmen. Aber hier drinnen, in diesem Gang, an dieser Kontrollstelle, vor der Sie jetzt stehen, sorge ich dafür, daß die Vorschriften eingehalten werden. Und die Vorschriften sagen, daß es streng verboten ist, Waffen in mein Land einzuführen …« Jetzt schrie er fast. »… ohne die notwendige Zulassung. Also stellt euch jetzt hintereinander auf, zum Henker!« Letzteres sagte er auf Norwegisch. Sein Gesicht war rot angelaufen und er schwitzte. Die Amerikaner starrten einander an. Jemand murmelte. Die Frau mit dem Mobiltelefon machte einen weiteren und ebenso erfolglosen Versuch, Hilfe herbeizurufen. Eine halbe Minute verstrich. Der Zollbeamte stieg vom Schaltertresen und verschränkte die Arme vor der Brust. Eine weitere halbe Minute verstrich. »Hier«, sagte plötzlich der Chef und gab seine Waffe ab. »Ich kann Ihnen versichern, daß das ein Nachspiel haben wird.« »Ich mache nur meine Arbeit, Sir.« Der Zollbeamte lächelte über das ganze Gesicht. Er brauchte fast eine halbe Stunde, um für alle Waffen Quittungen auszustellen und die Waffen in Plastikbehältern auf einem Regal 137
hinten im Raum zu verstauen. Als er fertig war, salutierte er mit zwei Fingern an der Stirn und drückte auf den Knopf, der die Türen entriegelte. »Ich wünsche Ihnen einen überaus angenehmen Aufenthalt«, sagte er und lachte, als keine Antwort kam. Er hatte nur seine Pflicht getan. Das mußten sie doch verstehen.
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3 Als Inger Johanne aufwachte, dachte sie als allererstes an ihre Arbeit. Regungslos blieb sie liegen und blinzelte ins Morgenlicht. Vielleicht war es doch dumm gewesen, sich für ein weiteres Jahr beurlauben zu lassen. Da sie kurz vor der Geburt ein Forschungsprojekt abgeschlossen und noch mit keinem neuen angefangen hatte, bedeutete es weder für die Universität noch für Inger Johanne einen nennenswerten Verlust, wenn sie sich die beiden Jahre freinahm, auf die sie Anspruch hatte. Sie waren sich einig gewesen, Yngvar und sie, als sie wie befürchtet für Ragnhild keinen Kindergartenplatz bekommen hatten. Da sie beide beruflich schon etabliert waren, als sie sich kennengelernt hatten, war das Darlehen auf die Wohnung auch mit nur einem Einkommen zu bewältigen. Sie lebten nüchtern, ruhig und gut. Kristiane machte Fortschritte. Alles war besser geworden, für sie alle. Sie mochte die Routine des Hausfrauendaseins. Das Zusammensein mit den Kindern verlief in einem anderen Tempo. Sie hatte schon immer gern gekocht, und die langen Vormittage gaben ihr die Möglichkeit, fast alles von Grund auf zu erledigen. Sie hatten der Putzfrau gekündigt, und sogar die Bodenreinigung war Teil einer kontemplativen Langeweile geworden, die Inger Johanne inzwischen zu schätzen wußte. Ragnhild schlief gegen Mittag zwei Stunden, und ab und zu hatte Inger Johanne das Gefühl, zum ersten Mal seit vielen Jahren wirklich nachdenken zu können. Es war ein gutes Dasein. Für eine gewisse Zeit. Vielleicht war diese Zeit bereits zu Ende. Die Vorstellung eines vormittagsstillen Hauses war ihr plötzlich zuwider. Sie lauschte auf Ragnhilds Geplapper, als ihr einfiel, daß die Einjährige ja bei den Großeltern war. Inger Johanne fühlte sich ungewöhnlich steif in den Gliedern. 139
Langsam streckte sie die Arme über den Kopf und drehte sich im Bett um. Yngvar war nicht da. Es sah ihr nicht ähnlich, so tief zu schlafen. Sonst wachte sie jede Nacht mehrmals auf, und das geringste Geräusch der Kinder ließ sie in Sekundenschnelle hellwach hochfahren. Abrupt setzte sie sich auf. Sie schüttelte den Kopf und hielt den Atem an, um besser horchen zu können. Aber sie hörte nur einen Automotor, der irgendwo in der Ferne im Leerlauf lief, und das Zwitschern von frühlingsmunteren Vögeln auf dem Baum vor dem Schlafzimmerfenster. »Yngvar?« Sie stand auf, zog ihren Morgenrock an und lief in die Küche. Die Uhr am Herd zeigte 08.13. Noch immer war alles still. Auf dem Tisch stand eine halbvolle Kaffeetasse. Als sie danach griff, verriet ein Rest Wärme, daß er noch nicht lange fort sein konnte. Neben der Tasse lag ein Blatt Papier. Liebes. Du siehst sicher ein, daß ich meine Arbeit tun muß. Wenn Du mir nicht einmal einen guten Grund dafür geben kannst, daß ich nein sagen soll, sehe ich keinen anderen Ausweg, als zu tun, was mir befohlen wird. Es ist schwer zu sagen, wann genau ich nach Hause komme, ich weiß ja nicht einmal, worin meine Aufgabe jetzt bestehen wird. Ich rufe so bald wie möglich an. Dein Y. Inger Johanne ertappte sich dabei, daß sie den lauwarmen Kaffeerest trank. Yngvar sollte Warrens Verbindungsmann sein. Sie hatte ihn gebeten, sich zu weigern. Sie hatte ihm mit dem gedroht, was sie für seinen ärgsten Alptraum hielt. Trotzdem war er aufgestanden, als sie noch schlief, hatte sich in aller Stille 140
Kaffee gekocht und ihr eine kurze und kühle Nachricht hinterlassen, ehe er gegangen war. Sie blieb lange stehen, die Mitteilung in der einen und die Tasse in der anderen Hand. Sie konnte nicht zu ihren Eltern fahren. Ihre Mutter würde hysterisch werden, und ihr Vater würde sich ans Herz greifen, wie er das oft tat, wenn die Welt sich gegen ihn verschworen hatte. Inger Johanne fragte sich oft, warum die Eltern Yngvar lieber mochten als sie. Jedenfalls lobte die Mutter ihn immer in den höchsten Tönen gegenüber allen, die bereit waren, ihr zuzuhören. Yngvar wurde von seinen Schwiegereltern mit Aufmerksamkeit überschüttet, und immer wurde es als sein Verdienst betrachtet, wenn Ragnhild mit neuen Wörtern und neuen Fähigkeiten beeindruckte. »In Wirklichkeit bin ich es, die sich den ganzen Tag mit ihr beschäftigt«, seufzte Inger Johanne dann immer, ehe sie ihre Irritation hinter einem Lächeln versteckte. Zu ihrer Schwester zu fahren, kam auch nicht in Frage. Maries Perfektion war im Laufe der Jahre zu einer unüberwindlichen Barriere zwischen ihnen gewachsen. Marie war schön, elegant und kinderlos. Allein die Vorstellung, sie mit Babybrei und vollgekackten Windeln in ihrer Wohnung im Nobelviertel Aker Brygge zu überfallen, ließ Inger Johannes Atem schneller gehen. Sie las Yngvars kurze Mitteilung ein weiteres Mal. Die Buchstaben wurden undeutlich. Sie versuchte, durch Blinzeln ihre Tränen zu vertreiben. Langsam, langsam kullerten sie an ihrer Nase entlang, und Inger Johanne wischte sich mit dem Ärmel einen Rotztropfen weg. Als sie sich am Vorabend schlafen legten, war sie sicher gewesen, daß er verstanden hatte. Im Bett hatte er sich an sie geschmiegt. Ohne ein Wort, und seine Hände waren warm und stark gewesen, wie sie sie immer geliebt hatte. Yngvar begriff, daß sie Schutz brauchte und daß Warren Scifford nicht in die 141
Nähe des geborgenen, vertrauten Daseins im Hauges vei gelassen werden durfte. Als er ihre Haare streichelte, war sie überzeugt, daß er das alles verstand; in seinen Augen glaubte sie, die Erkenntnis gesehen zu haben, daß Warrens Kommen alles bedrohte, was schön und wahr und echt war. Und deshalb hatte sie so wunderbar tief geschlafen. Aber dann war Yngvar einfach gegangen. Er hatte ihre Drohung nicht ernst genommen. Er hatte sie nicht ernst genommen. Er würde schon sehen, wie ernst ihr alles gewesen war. Inger Johanne packte das Nötigste ein. Sie legte für sich und ihre jüngere Tochter Kleidung für einige Tage in den Koffer. »Kristiane kann bei Isak bleiben.« Sie flüsterte vor sich hin und versuchte, nicht zu weinen. Sie mußte Ragnhild holen. Die Mutter würde die roten Augen sofort sehen, so wie sie immer jede Gemütsbewegung ihrer Tochter registrierte. »Reiß dich zusammen«, fauchte Inger Johanne und schniefte. Sie wußte nicht, wohin. Trotzdem packte sie weiter. Am Ende war der Koffer so voll, daß sie ihn kaum schließen konnte. Mit einem saftigen Fluch und großer Mühe konnte sie endlich den Reißverschluß zuziehen. Sie mußte Zuflucht bei einer Person suchen, die sie in Ruhe lassen würde. Nicht bei der Familie, nicht bei ihrer Freundin. Sie konnte nicht zu jemandem gehen, der ihr sagen würde, wie kindisch und verantwortungslos sie sich aufführte. Sie wollte zu niemandem gehen, der ihr erzählte, was sowieso offenkundig war: Daß das Drama in einigen Tagen vorüber sein würde, daß sie Yngvar nicht verlassen würde und daß sie deshalb auch gleich wieder nach Hause gehen könnte. Unter gar keinen Umständen konnte sie sich an Line wenden, ihre redselige beste Freundin. die ein Fest veranstalten würde, in der Überzeugung, daß es kein Problem auf der Welt gab, das sich nicht mit gutem 142
Essen, guten Freunden und jeder Menge Getränke lösen ließ. Als Inger Johanne die Haustür hinter sich zuzog und merkte, daß noch immer ein kühler Wind wehte, obwohl der Garten in Sonnenschein gebadet war, kam ihr die Erkenntnis: Es gab nur einen Zufluchtsort. Sie wischte sich die Tränen ab und zwang sich, dem Nachbarn, der ihr von der Straße her zuwinkte, ein Lächeln zuzuwerfen. Dann holte sie tief Luft und setzte sich ins Auto. Sie mußte Ragnhild holen. Eine Notlüge für die Mutter würde sie sich während der kurzen Autofahrt schon noch aus den Fingern saugen können. Wenn Inger Johanne sich nun auch nicht gerade erleichtert fühlte, so wußte sie jetzt doch jedenfalls, wohin.
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4 In Farmington, Maine, war es halb drei Uhr nachts. Al Muffet war aus einem Traum erwacht, an den er sich nicht erinnern konnte. Wieder einzuschlafen, war unmöglich. Die Bettwäsche klebte schweißnaß an seinem Körper und die Steppdecke hatte sich am Fußende zusammengeballt. Er legte sich anders hin. Nichts half. Er hatte den ganzen Tag vor dem Fernseher gesessen. Das Verschwinden der Präsidentin hatte ihn ebenso schockiert wie den Rest der Nation, aber zugleich kribbelte auch eine unerklärliche Unruhe in ihm. Sein Bruder hatte angerufen. Das war zuletzt vor drei Jahren geschehen. Damals lag ihre Mutter im Sterben. Ein Gehirnschlag hatte die geschäftige Frau umgeworfen, und es ging um Stunden. Al Muffet hatte den ersten Flug nach Chicago genommen. Er kam zu spät. Die Mutter lag bereits in einem offenen Sarg, geschminkt und in ihrem besten Kleid. Obwohl sie wie ihr Ehemann an ihrem muslimischen Glauben festgehalten hatte, war die Religion der Muffasas flexibel und vereinbar mit dem Leben in einem Vorort gewesen, in dem es kaum andere Araber gab. In der episkopalen Kirche, die nur einen Block weiter lag, war Mrs. Muffasa eine hoch geachtete Stütze der Gemeinde. Die besten Kuchen beim großartigen Erntedankfest kamen von ihr. Sie leitete eine Jugendgruppe für Kinder aus ärmeren Verhältnissen. Niemand konnte Blumen binden wie Mrs. Muffasa, und immer hütete sie die große Kinderschar des Pastors, wenn dessen Frau wieder einmal ein Kind zur Welt brachte und zwei Wochen lang ausfiel. Aber niemals besuchte Familie Muffasa den Gottesdienst. 144
In aller Stille versuchten sie, den Ramadan einzuhalten. Sie feierten ihn mit den Verwandten aus Los Angeles, die sich dann immer einfanden. Wenn Mr. Muffasa es nicht schaffte, fünfmal pro Tag gen Mekka zu beten, dann kam es doch nicht selten vor, daß er sich die Zeit zu einem Gebet in den stillen Stunden nahm, wenn die Autoreparaturwerkstatt leer war und er die Garagentore noch nicht für den Abend verschlossen und sich auf den Heimweg gemacht hatte. Mr. und Mrs. Muffasa lasen den Koran auf die freundlichste Weise. Sie ehrten den Propheten Mohammed und ließen den Frieden mit ihm sein, was sie aber nicht hinderte, einen Christbaum zu schmücken, damit ihre Kinder sich nicht zu sehr von anderen unterschieden. Nach ihrem Tod fanden die Kinder in der Nachttischschublade der Mutter eine Art Testament. Die Trauerfeier für Mrs. Muffasa sollte von der Pastorengattin in der Church of the Epiphany abgehalten werden. Die Verwandtschaft murrte und die älteste Schwester der Mutter verfiel in krampfhaftes Weinen vor der geschmückten Leiche, die mit gefalteten Händen in einem auf beiden Seiten mit einem Kreuz versehenen Sarg lag. Der Witwer aber ließ sich nicht beirren. Seine Frau war klar bei Verstand gewesen, als sie das Abschiedsritual festgelegt hatte. Niemand sollte ihn daran hindern, ihren allerletzten Wunsch zu erfüllen, und deshalb wurde Mrs. Muffasa vor einer zahlreichen christlichen Trauergemeinde in geweihter Erde bestattet. Damals hatte Al Muffet seinen älteren Bruder zum letzten Mal gesehen. Drei Jahre Schweigen. Aber nun hatte er angerufen. Al Muffet stand aus dem Bett auf und zog sich rasch und leise an. Er hatte allerlei Papierkram zu erledigen, mit dem er die Nachtstunden totschlagen konnte. Alles war besser, als schlaflos dazuliegen und eine bohrende Unruhe zu empfinden, die er nicht 145
verstehen konnte. Fayed und er waren niemals Freunde gewesen. Sie ertrugen einander, wie es sich für Brüder gehört, aber verstanden hatten sie sich nie. Während der kleine Ali am Rockzipfel der Mutter gehangen hatte und der Liebling ihrer vielen episkopalen Freundinnen gewesen war, hatte sich Fayed auf der Straße herumgetrieben und sich nach der zahlreichen Verwandtschaft in Los Angeles gesehnt. Dort durfte er jeden Tag mit dem Onkel in die Moschee gehen. Er bekam die traditionelle Kost serviert und lernte mehr Arabisch als die wenigen Worte, die er aus den gemurmelten Gebeten seines Vaters aufschnappte. Als Erwachsener konnte er kaum als praktizierender Muslim bezeichnet werden, aber er hielt sich doch einigermaßen an die Vorschriften und heiratete muslimisch. Und als Ali Shaeed Muffasa in den siebziger Jahren zu Al Muffet wurde, beschimpfte Fayed den Bruder als arabischen Onkel Tom. Seitdem hatten die Brüder kaum mehr miteinander gesprochen. Al Muffet konnte sich nicht vorstellen, was Fayed von ihm wollte. Er hatte so offen danach gefragt, wie es möglich war, ohne unhöflich zu sein. Sie waren immerhin Brüder und der Vater lebte noch, und deshalb wollte er einen dramatischen Bruch vermeiden. Das hätte der Vater nicht ertragen. Fayed wollte zu Besuch kommen. Fayed, der eine mittlere Führungsposition in einem riesigen Elektronikkonzern mit Hauptsitz in Atlanta bekleidete und der kaum Zeit für seine eigenen Kinder fand, hatte angerufen und seinen Besuch für den 18. Mai angekündigt. Die einzige vage Erklärung, die Al zu hören bekam, war ein säuerlicher Kommentar, daß es ja wohl kaum verwunderlich sei, wenn der Bruder sehen wolle, wie es Al und den Mädchen da oben im Niemandsland so gehe. Ich komme vorbei, hatte er gesagt. Al Muffet schlich sich am Schlafzimmer der Töchter vorbei. 146
Er kannte das alte Haus jetzt und trat vorsichtig über die knarrenden Dielen. Oben auf der Treppe blieb er stehen und horchte. Catherines gleichmäßiges Atmen und Louises Schnarchen entlockten ihm ein Lächeln. Er fühlte sich ruhiger. Es war sein Haus und sein Leben. Sollte Fayed doch vorbeikommen, wenn er unbedingt wollte. Niemand konnte Al Muffet oder seinen Töchtern schaden. Er ging leise die Treppe hinunter und schaltete in der Küche sämtliche Lampen ein. Ehe er die Tasche mit den Unterlagen holte, die er aus der Praxis mitgebracht hatte, setzte er Kaffeewasser auf und nahm die Thermoskanne aus der Spülmaschine. »Papa«, sagte Louise überrascht in der Türöffnung. Er fuhr zusammen und ließ die Kanne auf den Boden fallen. »Stimmt was nicht?« fragte die Tochter; ihre Haare standen nach allen Seiten ab und ihr Schlafanzug war zu groß. »Aber nicht doch, Herzchen. Ich bin nur wachgeworden und konnte nicht wieder einschlafen.« Er holte Kehrblech und Handfeger aus der Abstellkammer. »Warum hast du dich angezogen?« Louise sah jetzt ängstlich aus und kam näher. »Tritt nicht in die Scherben«, warnte er. »Es ist wirklich alles in Ordnung, glaub mir. Ich dachte nur, ich könnte die schlaflose Nacht nutzen, um ein bißchen Büroarbeit zu erledigen. Soll ich uns Milch warm machen? Dann können wir ein wenig reden, ehe du wieder ins Bett gehst. Soll ich?« Sie strahlte ihn an und setzte sich an den Küchentisch. »Das ist schön«, sagte sie und griff nach einem Apfel. »Fast wie damals, als ich klein war. Du, ich muß dir erzählen, was passiert ist, als Jody und ich …« Al Muffet hörte mit halbem Ohr zu und fegte die Glasscherben zusammen. Louise war jetzt immerhin beruhigt. Wie gern hätte er dasselbe von sich gesagt. 147
5 Der junge Polizeijurist hatte alles satt. Seit drei Stunden verhängte er jetzt Bußgelder, um den überfüllten Arrest zu leeren. Die Hälfte der Sünder waren junge Leute, denen die Feiern zum 17. Mai noch in den Knochen steckten. Jetzt standen sie verkatert vor ihm und starrten zu Boden, während sie Höflichkeitsphrasen murmelten und versprachen, es niemals wieder zu tun. Zwei schon ältere Männer, die im Suff gefahren waren, versuchten wütenden Widerspruch, wurden aber durch Androhung weiterer Stunden im Arrest besänftigt, ehe sie auf freien Fuß gesetzt wurden, um Anklage und Urteil zu erwarten. Der Rest bestand aus alten Bekannten. Die meisten fanden einen Gratisaufenthalt in einer Zelle, in der es immerhin warm und trocken war, gar nicht so schlecht. Der Polizeijurist hatte nie begriffen, wozu es gut sein sollte, Bußgelder über Leute zu verhängen, die dann aufs Sozialamt gehen mußten, um sich dort Geld zum Bezahlen zu holen. Aber er tat seine Pflicht und bald hatte er die ganze Liste durch. »Geht’sn so?« Der junge Mann hielt Bugs Bunny die Hand hin. Normalerweise grüßte er die Kundschaft nur mit einem Nicken, aber Bugs war etwas ganz Besonderes. Er war Dieb von Beruf. Irgendwann einmal war er richtig gut gewesen. Aber in den siebziger Jahren hatte ihn eine mißlungene Safesprengung die Finger der linken Hand gekostet, und danach hatte der Alkohol dem klapperdürren Leib den Rest gegeben. Bugs hieß eigentlich Snorre. Seinen Spitznamen hatte er bekommen, als er noch eigene Zähne besaß, und seitdem war er ihn nie wieder losgeworden. Jetzt begnügte er sich damit, aus offenen Lieferwagen, Kellerräumen mit einfachen Schlössern und ein seltenes Mal aus Geschäften zu stehlen. Und immer wurde er dabei erwischt. Mit 148
moderner Überwachungstechnik kannte er sich einfach nicht aus. Verzweifelt stand er mit den Waren unter dem Arm da, während der Alarm heulte und die Wächter angestürzt kamen. Bugs Bunny hatte niemals die Hand gegen einen anderen Menschen erhoben. »Nicht gut«, klagte er und setzte sich vorsichtig auf einen gebrechlichen Stuhl. »So siehst du auch nicht aus«, sagte der Polizeijurist. »Krebs. Da unten. Richtig fies.« »Kriegst du Hilfe?« »Tja. Is nich mehr viel zu machen, weißte.« »Aber warum wolltest du in eine Apotheke einbrechen?« »Es hat weh getan. Schrecklich weh.« »Du schaffst keine Apotheke, Bugs. Alarmanlagen und sowas. Die starken Mittel sind in einem Schrank eingeschlossen, und ich glaube nicht, daß du den knacken könntest, selbst wenn du wider Erwarten überhaupt in den Laden reinkommst. Das da war ganz einfach blöd von dir.« Bugs jammerte leise und fuhr sich mit der verstümmelten linken Hand über den Nacken. »Ja«, murmelte er. »Aber das tut so verdammt scheißweh.« Der Polizeijurist wippte auf seinem Stuhl vor und zurück. Es war still in dem schmalen Raum, während vom Arrest her scharfe Stimmen zu hören waren. Jemand weinte, es hörte sich an wie eine junge Frau. Der Jurist schaute Bugs ins Gesicht und hätte schwören können, daß in den Augen des heruntergekommenen Mannes Tränen standen. »Hier«, sagte er plötzlich und zog die Brieftasche aus der Jacke. »Heute hat der Schnapsladen wieder offen. Kauf dir was Starkes.« Er reichte dem anderen einen Fünfhunderter. Bugs glotzte 149
zahnlos und ungläubig. Dann schielte er zu dem uniformierten Polizisten neben der Tür hinüber. Der lächelte nur und wandte sich ab. »Danke und danke«, flüsterte Bugs. »Ihr seid wirklich was ganz Besonderes.« »Aber die kann ich nicht hergeben«, sagte der Polizeijurist und legte die Hand auf die Unterlagen. »Ich nehme an, daß du wie immer gestehen wirst?« »Sicher doch. Ich steh für meine Taten ein, weißte. Immer. Danke und danke.« Er streichelte den Geldschein. »Dann kannst du gehen. Und keinen Bruch mehr. Das schaffst du nicht. Okay?« Bugs erhob sich ebenso vorsichtig, wie er sich hingesetzt hatte. Er steckte das Geld in die Tasche. Normalerweise machte er, daß er so schnell ihn seine dünnen Beine trugen aus dem Arrest kam. Jetzt blieb er stehen, er schwankte leicht hin und her und schien in seine eigenen Gedanken versunken zu sein. »Es war zehn nach vier«, sagte er plötzlich. »Als diese Frau Präsident sich ins Auto gesetzt hat.« »Was?« »Ich hab gestern Nachrichten geguckt. Und da wußte ich, daß ich morgens die Frau gesehen hab, die ihr jetzt sucht.« Der Polizeijurist starrte ihn an und schien seinen Ohren nicht zu trauen. Der Uniformierte in der Ecke trat einen Schritt auf Bugs zu. »Setz dich«, sagte der Polizeijurist. »Du hast doch gesagt, ich könnte gehen.« »Setz dich erst mal, Bugs. Das ist jetzt wichtiger.« Der Alte nahm widerwillig Platz. »Ich hab doch schon gesagt, was ich zu erzählen habe«, sagte er mürrisch. 150
»Aber ich muß das genauer wissen. Wo warst du gestern morgen?« »Ich war auf einem Fest bei Berit im Käfig gewesen. Die wohnt in der Skippergate. Wollte nach Hause, weißte. Und als ich an dem Uhrenturm vorm Hauptbahnhof vorbeigekommen bin, hab ich das gesehen. Zehn nach vier. Da kamen eine Frau und zwei Typen über den Platz. Und setzten sich in ein Auto. Die Frau war blond, aber so wie ’ne erwachsene Frau eben. Blond gefärbt. Sie hatte eine rote Jacke, genauso eine wie im Fernsehen.« Der Polizeijurist sagte nichts. Er griff nach seiner Tabaksdose und schob sich einen Priem unter die Oberlippe. Dann hielt er die Dose Bugs hin, der sofort den halben Inhalt auf seinem zerschundenen Zahnfleisch verteilte. Der Uniformierte hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt, wie um ihn am Weglaufen zu hindern. »Und das war gestern«, sagte der Polizeijurist langsam. »Am 17. Mai.« »Ja«, sagte Bugs genervt und spuckte schwarzen Tabaksaft aus. »Mir geht’s schlecht, aber ich bin verdammich noch nicht so weggetreten, daß ich den Nationalfeiertag vergesse.« »Und es war zehn nach vier. Morgens. Da bist du dir ganz sicher?« »Ja, hab ich doch gesagt. Und jetzt will ich endlich in den Schnapsladen.« Er fischte den Fünfhunderter wieder hervor. Legte ihn auf sein Knie und strich ihn glatt. Faltete ihn wieder zusammen, sorgsam und vorsichtig, ehe er ihn in eine andere Tasche schob. Der Polizeijurist und der Uniformierte tauschten einen Blick. »Ich glaube leider, das wird noch einen Moment dauern«, sagte der Jurist. »Aber für die Zwischenzeit können wir dir etwas Schmerzstillendes besorgen.« Als er zum Telefon griff, fiel es ihm schwer, die richtigen Tasten zu treffen. 151
6 »Die werden so langsam stocksauer.« »Wer denn?« »Das FBI. Oder was das nun für Amis sind.« Überwachungschef Peter Salhus rümpfte die Nase. »Was ist denn jetzt wieder los«, fragte er gereizt. »Alles, wie mir scheint.« Polizeipräsident Bastesen zuckte mit den Schultern und hielt ihm die Tasse hin. »Auf Gardermoen hat es offenbar einen Zwischenfall gegeben. Zuerst ein Mißverständnis beim Abholen dieser zwei Dutzend Agenten, die heute morgen gelandet sind. Und dann mußten sie …« Er schmunzelte. Als Salhus nicht einmal den Mundwinkel verzog, hielt Bastesen sich die Faust vor den Mund, hüstelte und fuhr mit ernster Miene fort: »Ein pflichtbewußter Zollbeamter hat ihnen alle Waffen abgenommen, was ja an sich völlig korrekt war. Was wollen die hierzulande mit Waffen? Diese Secret Service-Jungs waren doch auch die ganze Zeit bewaffnet, und was hat ihnen das genützt? Aber dieser Zollbeamte war offenbar ein wenig … undiplomatisch.« Die Turnhalle des Polizeigebäudes hatte keine Fenster. Der Polizeipräsident hatte schon den Kragen ein wenig gelockert. Rund fünfzig Menschen saßen in tiefer Konzentration an den Tischen, die in Hufeisenformation einen riesigen runden Tisch umstanden. An den Sprossenwänden hingen Schaubilder und Landkarten. Die technische Ausrüstung verbreitete einen süßlichen Staubgeruch, der sich mit Schweiß und dem Gestank oft benutzter Turnschuhe mischte. »Mit den Räumlichkeiten sind sie auch nicht zufrieden.« Bastesen leerte seine Tasse mit einem letzten Schluck. »Wir haben ihnen drei Büros im zweiten Stock gegeben, rote 152
Zone. Soviel ich sehen kann, benutzen sie sie nicht. Mir auch egal. Hier haben wir deine Jungs vom PST, die besten von der Kripo und meine Männer versammelt. Das ist …« »Und Frauen«, fiel Salhus ihm ins Wort. »Und Frauen.« Bastesen nickte. »Das war mehr so eine Redensart. Ich will darauf hinaus, daß wir uns nicht dauernd von diesen Amis stören lassen dürfen. Ich begreife nicht, was sie zu unseren Ermittlungen überhaupt beitragen können. Allein die Sprachprobleme legen doch nahe … Bisher haben sie uns wirklich überhaupt nichts gebracht. Sind stumm wie die Fische.« »Aus den Berichten geht hervor, daß sie ihren Stab offenbar in der Botschaft untergebracht haben«, sagte Salhus. »Wie erwartet. Der Besuchsverkehr am Drammensvei hat um einiges zugenommen, gleichzeitig haben sie allen Publikumsservice geschlossen. In der Botschaft können sie machen, was sie wollen. Wir hätten es sicher auch so gehalten. Und was ihr Schweigen angeht …« Er wandte sich zum Polizeipräsidenten um. Nach kurzem Zögern legte er in einer unerwarteten, freundschaftlichen Geste die Hand auf den Unterarm des anderen. »Die Amerikaner geben nichts, wenn sie nicht daran verdienen«, sagte er. »Und schon gar nicht, wenn sie kein Vertrauen zum Empfänger haben. Streng genommen kann ich ja auch verstehen, daß dieses Vertrauen im Moment nicht gerade riesengroß ist.« Ohne auf eine Antwort zu warten, verließ er den podestähnlich erhöhten Bereich in der Südecke der Halle. Er hielt noch immer die Kaffeetasse in der Hand, als er bei einem übergewichtigen Mann von Mitte vierzig stehenblieb, der das Kinn in die Hand stützte und auf den Bildschirm starrte. »Noch immer nichts?« fragte Salhus leise. »Nein.« 153
Der Beamte rieb sich die roten Augen. Er griff nach einer Flasche Mineralwasser und trank sie halb leer, ehe er einen Rülpser unterdrückte und die Flasche wieder verschloß. »Ich habe mir alle Aufnahmen dreimal angesehen. Langsam, schnell und in Echtzeit. Es passiert nichts. Niemand kommt, niemand geht. Die Frau muß aus dem Fenster geflogen sein.« »Nein«, sagte Salhus ruhig. »Das ist sie sicher nicht. Der Secret Service hatte schließlich einen Posten … hier.« Eine Luftaufnahme der Umgebung des Hotel Opera hing hinter dem Monitor an der Wand. Salhus zeigte auf das Dach des Nachbarhauses. »Und technisch ist alles in Ordnung? Niemand hat daran herumgespielt? Keine Schnitte oder Wiederholungen?« »Das müßte dann wirklich verdammt gut gemacht sein«, sagte der Polizist seufzend und kratzte sich im Nacken. »Wir können einfach nichts finden. Ich begreife nicht …« Er schaute auf, deutlich verwundert über das wütende Klappern von Absätzen über dem Boden. In dem provisorischen Arbeitsraum waren alle um eine gedämpfte Lautstärke bemüht. Die meisten hatten sich einen tast schleichenden Gang zugelegt. Sogar die Geräusche der vielen technischen Geräte wurden durch Gummimatten und schaumstoffgedämmte Verkleidungen gemindert. Eine rothaarige Frau kam angelaufen. Sie schwenkte freudestrahlend ein Telefon, als ob sie einen Preis gewonnen hätte. »Zeugen«, rief sie, als sie Polizeipräsident Bastesen erreicht hatte, der Salhus gefolgt war und auf den Bildschirm starrte, der einen leeren Gang im neunten Stock des Hotel Opera zeigte. »Endlich sind Hinweise gekommen, und sogar viele.« »Zeugen«, wiederholte Bastesen zweifelnd. »Zeugen wofür?« Die Frau rang nach Atem und strich sich die roten Haare hinter 154
die Ohren. »Für die Entführung«, keuchte sie. Der korpulente Beamte starrte sie an, als falle es ihm schwer, ihre Sprache zu verstehen. »Es gibt keine Zeugen«, sagte er aggressiv und zeigte auf den Bildschirm. »Da ist doch verdammt noch mal kein Mensch zu sehen.« »Da nicht«, sagte die Frau. »Später. Draußen, meine ich. Vor dem Hotel.« »Wo?« Salhus legte ihr die Hand auf die Schulter, nahm sie aber gleich wieder herunter, als er sah, daß zwischen ihren Brauen eine kleine Falte erschien. »Eine junge Frau«, sagte sie, jetzt ruhiger. »Abiturientin … sie saß mit einer Freundin auf dem Parkplatz hinter dem Hauptbahnhof, als zwei Männer und eine Frau, die der Beschreibung von Helen Bentley entspricht, ankamen …« Sie schaute sich kurz um und zeigte dann eifrig auf die Luftaufnahme. »Von hier. Und dann sind sie in einen blauen Ford eingestiegen.« »So, so«, sagte Polizeipräsident Bastesen. »Was es nicht alles gibt.« Er hatte die Arme verschränkt und starrte auf einen vagen Punkt an der Wand. Peter Salhus zupfte sich langsam am Ohrläppchen. Der Beamte vor dem Monitor konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Glauben wir, trallalla«, murmelte er. »Sie ist außerdem nicht die einzige«, sagte die Frau rasch. »Sie und ihre Freundin, meine ich. Heute nacht ist einer der festen Kunden eingefahren, und als er heute morgen vor der Freilassung verhört werden sollte, kam heraus, daß er zur selben 155
Zeit am selben Ort war. Und er hat genau das gleiche erzählt.« »Zur selben Zeit«, sagte Peter Salhus und ließ sein Ohr los. »Und wann ist das?« »Gegen vier, sagen die Mädchen. – Der Alki sagt zehn nach vier, er hatte gerade auf den Uhrenturm geschaut. Und dann …« Sie tastete eifrig nach einem Notizbuch in ihrer Jackentasche. »Drei Zeugen haben unabhängig voneinander angerufen und von einem blauen Ford mit zwei Männern und einer schlafenden Frau in roter Jacke berichtet, die nach Svinesund unterwegs waren. Sie wurden gesehen in …« Sie blätterte. Jetzt hatte sich ein ganzer Zuhörerkreis versammelt. Niemand sagte etwas. Die rothaarige Frau feuchtete ihren Finger an und blätterte eine Seite weiter. »Auf der E6 bei Moss, an einer Tankstelle. Bei einer Raststätte vor Fredrikstad und …« Sie unterbrach sich und schüttelte langsam den Kopf. »In Larvik«, fügte sie enttäuscht hinzu. »In Larvik. Das liegt doch gar nicht auf dem Weg nach Schweden.« »Nicht direkt«, sagte der Mann am Monitor und grinste. »Aber das kennen wir doch«, sagte Bastesen. »Einige Zeugen haben etwas gesehen, andere wollen Aufmerksamkeit oder können sich nicht richtig erinnern. Das hier ist doch immerhin eine Spur. Gib mir mal die Unterlagen.« Er klopfte der Frau aufmunternd auf die Schulter und folgte ihr aus der Turnhalle. Peter Salhus blieb stehen. Ausdruckslos starrte er auf den Monitor, während der Beamte zu dem Bild vorspulte, das die Tür zur Suite der Präsidentin um vier Uhr morgens zeigte. »Leer«, sagte er mit vager Handbewegung. »Ist das hier eine Episode aus Star Trek? Kann sie sich auf den Parkplatz runterbeamen oder was?« »Spul zurück zu … wann hat die Präsidentin ihr Zimmer 156
betreten? Um zwanzig vor zwei?« Der Mann nickte und gab den Zeitpunkt in seinen Computer ein. Die Präsidentin wirkte erschöpft. Sie ging langsam und griff sich an den Hinterkopf, als sie stehenblieb und darauf wartete, daß die Tür geöffnet wurde. Das rasche Lächeln, mit dem sie die beiden Männer bedachte, konnte ihre Augen nicht erreichen. Dann nickte sie zu einer Bemerkung des einen und ging hinein. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloß. Die Agenten kamen immer näher an die Kamera heran und waren dann verschwunden. Der Gang war wieder leer. »Sagt dir das etwas?« »Was?« Peter Salhus zuckte zusammen. »Sagen diese Bilder dir irgendwas?« Zwei Abiturientinnen und ein Suffkopp, dachte Salhus. Zeugen, die von Tankstellen und Raststätten anrufen, von beiden Seiten des Oslofjords. Alle haben dasselbe gesehen, unabhängig voneinander. Einen blauen Ford, zwei Männer und eine Frau in einer roten Jacke. Es würden noch mehr Anrufe kommen, das war ihm plötzlich klar. Nicht nur aus Østfold und Vestfold. Es würden sich noch weitere Zeugen melden, manche glaubwürdig, andere sensationslüstern, aber alle würden schwören, zwei Männer und eine rotgekleidete Frau in einem blauen Ford gesehen zu haben. Bei dieser Erkenntnis wurden seine Wangen heiß. Die Luft war schwül und stickig. Er lockerte seinen Schlips und atmete schneller. »Sagt dir das was«, wiederholte der Mann am Computer. »Nein«, sagte Peter Salhus. »Das verwirrt mich genau so sehr wie der ganze Fall.« Dann steckte er den Schlips in die Tasche und ging, um sich mehr Kaffee und zwei Kopfschmerztabletten zu holen. 157
7 Die kleine Ragnhild hatte im Auto geschlafen. Inger Johanne fuhr an einem freien Parkplatz gleich beim Tor in der niedrigen Mauer vorbei. Einen Block weiter unten, in der Lille Frogner allé, fand sie eine neue Möglichkeit und schlüpfte hinter einem Lieferwagen mit defekter Auspuffanlage in die freie Nische. Ragnhild greinte ein wenig, als die Tür zuknallte. Aber sie wachte nicht auf. Inger Johanne fühlte sich sicher und unsicher zugleich. Sie würde willkommen sein. Das wußte sie. Die Wohnung hatte eine seltsame Atmosphäre von Freundlichkeit und Isolation, wie eine sonnige Insel weit draußen im Meer. Die Familie schien die meiste Zeit zu Hause zu verbringen. Die seltsame alte Haushälterin verließ das Haus wohl überhaupt nie, und Inger Johanne glaubte gehört zu haben, daß alle Waren an die Tür geliefert würden. Im vergangenen halben Jahr war sie ziemlich oft dort gewesen, vielleicht alle drei Wochen. Anfangs war sie hingegangen, weil sie Hilfe brauchte. Aber dann wurden die Besuche in der Kruses gate zu einer lieben Gewohnheit. Sie waren etwas, das sie ganz für sich allein hatte, eine Verschnaufpause ohne Yngvar und ohne den Rest der Familie. Immer kümmerte die Haushälterin sich um Ragnhild. Die beiden anderen Frauen hatten dann ihre Ruhe. Und sie saßen nur da, wie alte Freundinnen, und sprachen über ernste Themen. Inger Johanne hatte sich immer nur willkommen gefühlt. Aber jetzt zögerte sie trotzdem. Sie könnte ihre Tasche im Auto lassen, dann würde sie nicht so aufdringlich wirken. Vielleicht könnte sie sich vortasten. Vorgeben, es sei einfach ein kleiner Besuch, und dann die Lage peilen. Ob sie nicht vielleicht ungelegen kam. Ob es in Ordnung war, wenn sie mit einem 158
Kind im Schlepptau aufkreuzte und sich bei Menschen niederließ, die sie streng genommen erst seit kurzer Zeit kannte. Inger Johanne faßte einen jähen Entschluß. Sie machte den Motor aus und zog den Zündschlüssel ab. Ragnhild wachte auf, wie immer, wenn es still wurde. Sie war munter, als die Mutter sie vom Kindersitz losschnallte. »Agni geschlafen«, sagte sie zufrieden und ließ sich bereitwillig auf den Arm nehmen. Inger Johanne lief an der Mauer vorbei, ging durch das Tor und auf den Eingang zu. Sie schaute verstohlen zum obersten Stock hoch. Es brannte kein Licht, aber es war ja auch mitten am Tag. Die Schatten der hohen Eichen zeichneten sich scharf auf dem Asphalt ab, und als sie sich dem Haus näherte, wurde sie für einen Moment von einem scharfen Sonnenreflex in einem Fenster geblendet. Sie fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben und klingelte, ohne zu zögern. »Aber, aber, ist das nich meine Schönste!« Die Haushälterin begrüßte Inger Johanne nicht einmal. Energisch packte sie Ragnhild und setzte sie sich auf die Hüfte, während sie auf sie einplapperte. Das Kind griff nach einer Kette aus riesigen knallbunten Holzkugeln. Marry humpelte in die Küche und zog die Tür zu, noch immer ohne Inger Johanne auch nur eines Wortes gewürdigt zu haben. Die Wand hinten in der großen Diele war vollkommen aus Glas. Eine Frau in einem Rollstuhl war aus dem Wohnzimmer gekommen und wurde zu einer schwarzen Silhouette vor dem Licht, das durch die riesigen Glasscheiben hereinströmte. »Hallo«, sagte Inger Johanne. »Hallo«, sagte die andere und kam näher. »Kann ich ein bißchen bleiben?« »Ja. Komm rein.« 159
»Ich meine«, sagte Inger Johanne und schluckte. »Darf ich … könnten Ragnhild und ich … könnten wir hier wohnen? Nur für ein paar Tage?« Die Frau kam noch näher. Die Räder ihres Rollstuhls knackten ein wenig, vielleicht war es nur das Geräusch der Gummireifen auf dem Parkett. Ihre Finger berührten eine Holztafel in der Wand, und mit einem schwachen Summen fuhren Jalousien vor den Fenstern herab. Ein angenehmes Halbdunkel senkte sich über den Raum. »Natürlich könnt ihr das«, sagte sie. »Komm rein. Mach die Tür zu.« »Nur zwei Tage.« »Ihr seid immer willkommen.« »Danke.« Etwas steckte in Inger Johannes Hals fest, sie bewegte sich nicht vom Fleck. Die Frau im Rollstuhl kam noch näher und streckte die Hand aus. »Ich gehe davon aus, daß niemand gestorben ist«, sagte sie gelassen. »Denn dann wärst du wohl nicht hergekommen.« »Niemand ist gestorben«, sagte Inger Johanne leise. »Niemand ist gestorben.« »Du kannst so lange bleiben, wie du willst«, sagte die Frau. »Aber dann mußt du hereinkommen und die Tür schließen. Ich habe Hunger und wollte gleich essen.« Hanne Wilhelmsen zog ihre Hand zurück, wendete und fuhr langsam auf die Küche zu, wo sie Ragnhild hell und glücklich lachen hören konnten.
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8 Warren Sciffords Blick wanderte von dem uralten Fernseher mit der Tischantenne weiter zu der Korkpinnwand mit dem zerbrochenen Rahmen. Beim Schreibtischsessel hielt er inne. Dem fehlte eine Armlehne. Dann schnupperte er fast unmerklich in die Luft. Im Papierkorb lagen drei braune Apfelreste. »Ich bin ein wenig abergläubisch«, sagte Peter Salhus. »Ich habe riskante Posten gehabt, seit ich Anfang zwanzig war. Nie ist etwas wirklich schiefgegangen. Also habe ich den Stuhl behalten. Und was das restliche Büro angeht …« Er zuckte die Schultern. »Wir ziehen mit der ganzen Behörde im Juni um. Hat also keinen Sinn, für dieses Zimmer Energie zu vergeuden. Setzt euch.« Warren Scifford zögerte noch immer, als fürchte er für seinen teuren Anzug. Mitten auf dem Sesselsitz zeichnete sich ein nierenförmiger dunkler Fleck ab. Er fuhr vorsichtig mit dem Handrücken darüber, dann setzte er sich. Yngvar Stubø nahm neben ihm Platz und spielte mit einer silberfarbenen Zigarrenhülse herum. »Immer noch dasselbe Laster«, sagte Warren lächelnd. Yngvar schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich nicht. Eine an Heiligabend und vielleicht ein, zwei Züge an meinem Geburtstag. Das ist alles. Aber wir haben alle unsere Träume. Und daran zu riechen ist noch immer erlaubt.« Er öffnete die Hülse und hielt sich die Zigarre unter die Nase. Mit hörbarem Seufzen drehte er dann die beiden Metallteile wieder zusammen und steckte sie in die Jackentasche. »Diese Zeugen«, sagte er zu Peter Salhus, der ohne zu fragen 161
drei Gläser mit Mineralwasser füllte. »Hast du von der Polizei etwas über sie gehört?« Der Überwachungschef warf ihm einen Blick zu, den er nicht deuten konnte. Vielleicht sollte es eine Warnung sein. Vielleicht war es nichts. »Ich bin ziemlich sicher, daß Mr. Scifford schon …« »Warren. Bitte, sag Warren.« Scifford streckte auffordernd die Hand aus, als wollte er Peter Salhus ein Geschenk überreichen. Der Überwachungschef setzte sich. Die Gläser standen noch immer unberührt auf dem breiten Schreibtisch. Es war so still, daß nur das Zischen der Kohlensäure zu hören war. »Es freut mich, daß du jetzt den Verbindungsmann hast, den du haben wolltest«, sagte Peter Salhus endlich. »Yngvar Stubø wird bestimmt eine Hilfe sein. Außerdem mochte ich betonen, daß ich größtes Verständnis habe für deine … Ungeduld, was die Ermittlungen betrifft. Das Problem ist, wie du sicher verstehst …« »Das Problem ist, daß keine Ergebnisse kommen«, fiel Warren Scifford ihm ins Wort und fügte mit einem Lächeln hinzu: »Außerdem scheint die Ermittlungsarbeit chaotisch organisiert zu sein, ohne klare Führung, und noch dazu …« Sein Lächeln war jetzt verschwunden. Er schob unmerklich den Sessel zurück und rückte seine schmale Brille gerade. »Noch dazu erlebe ich von Seiten der Polizei eine Feindseligkeit, die ich nur schwer akzeptieren kann.« Wieder wurde es still im Raum. Peter Salhus nahm einen eiförmigen polierten Stein vom Tisch. Er ließ ihn auf seiner Handfläche ruhen, während sein Daumen über die glatte Oberfläche strich. Yngvar räusperte sich und richtete sich im Sessel auf. Salhus hob den Blick und starrte den Amerikaner an. »Daß du jetzt in meinem Büro sitzt«, sagte er freundlich, »ist 162
ein Beweis dafür, daß wir weit, sehr weit gehen, um dich und deine Leute zufriedenzustellen. Es ist nicht meine Pflicht, mit dir zu reden, und ich habe auch keine Zeit dazu. Aber du wolltest dieses Gespräch und ich habe mich entschieden, deinem Wunsch zu entsprechen. Jetzt könnte ich dir natürlich einen Blitzkurs über den Aufbau der norwegischen Polizei und des Nachrichtendienstes geben …« »Ich habe nicht …« »Einen Moment!« Peter Salhus erhob die Stimme, gerade genug, um weiterreden zu können. »Und das wäre vielleicht gar nicht so dumm. Aber um die Sache einfach zu machen und in der Hoffnung, dich zu beruhigen …« Er warf einen raschen Blick auf seine Armbanduhr. Sein Mund bewegte sich fast unmerklich, stumm, als rechne er etwas aus. »Es ist erst siebenundzwanzig Stunden her, daß das Verschwinden der Präsidentin entdeckt wurde«, sagte er und beugte sich über den Tisch. »Etwas mehr als einen Tag also. An diesem Tag haben wir eine Ermittlungsorganisation auf die Beine gestellt, wie dieses Land sie noch nie gesehen hat. Die Osloer Polizei hat alle verfügbaren Leute eingesetzt. Und noch mehr.« Jetzt krempelte er die Hemdsärmel auf, ehe er mit der rechten Hand seinen linken Zeigefinger packte. »Sie arbeiten eng mit uns zusammen«, sagte er und schüttelte den Finger, als halte er die gesamte PST fest, »denn es besteht Grund zu der Annahme, daß dieser Fall unsere tägliche Arbeit und unseren Verantwortungsbereich berührt. Außerdem …« Er schloß die rechte Hand um zwei Finger. »… ist die Landeskriminalpolizei eingeschaltet, mit den besonderen Kompetenzen, die sie besitzt. Nicht zuletzt auf dem 163
Gebiet der Technik. Mit anderen Worten: Alles, was Beine hat, arbeitet an diesem Fall. Und es handelt sich um überaus kompetente Leute, das muß ich in aller Unbescheidenheit sagen dürfen. Außerdem steht die Regierung in voller Krisenbereitschaft, mit allem, was das bedeutet, nicht zuletzt für andere Behörden und Abteilungen außer den rein polizeilichen. Unsere beiden Regierungen befinden sich überdies auf höchster Ebene in ständigem Austausch miteinander. Auf allerhöchster Ebene.« »Aber …« Warren Scifford zog seinen Schlips gerade. Er lächelte jetzt herzlicher. Peter Salhus hob abwehrend die Hand. »Es kommt kein Jack Bauer«, sagte er ernst. »Seine Frist ist vor …« Wieder schaute er auf die Uhr. »… drei Stunden abgelaufen. Wir müssen also unser Vertrauen in gute und moderne, wenn auch nicht sonderlich spektakuläre Polizeiarbeit setzen. Norwegische Polizeiarbeit.« Das Schweigen dauerte einige Sekunden an. Dann lachte Warren Scifford. Sein Lachen war warm, tief und ansteckend. Yngvar schmunzelte und Peter Salhus grinste breit. »Außerdem irrst du dich«, fügte er hinzu. »Wie du bei der Besprechung mit dem Polizeipräsidenten in einer knappen Stunde erfahren wirst, sind durchaus Fortschritte zu verzeichnen.« »Aha?« »Die Frage ist, ob …« Der Überwachungschef ließ sich zurücksinken und verschränkte die Hände im Nacken. Er schien einen Punkt an der Decke zu mustern. Das dauerte so lange, daß Yngvar hochblickte, um nachzusehen, ob dort wirklich etwas war. Er kam sich überflüssig vor. 164
Im Grunde hatte ihm niemand erklärt, was genau seine Aufgabe sein würde. Der Polizeipräsident hatte zerstreut gewirkt, als er ihn vor einer Stunde mit Warren bekanntgemacht hatte. Er hatte offenbar vergessen, daß sie sich schon kannten, und nach zwei Minuten hatte er sie verlassen, ohne weitere Instruktionen zu erteilen. Yngvar hatte das Gefühl, als Alibi zu fungieren, ein Stück Fleisch, das den Amerikanern in den Rachen geworfen wurde, damit sie Ruhe gaben. Und er hatte keine Zeit gehabt, zu Hause anzurufen. »Die Frage ist, ob ich nicht ganz offen sein soll«, sagte Peter Salhus plötzlich und fixierte den Amerikaner nachdenklich. Warren hielt dem Blick stand. Zuckte nicht mit der Wimper. »Ja«, sagte Peter Salhus endlich. »Ich glaube, schon.« Er schob Warren Scifford ein Glas hin. Der Amerikaner rührte es nicht an. »Zu allererst«, sagte Salhus, »muß ich betonen, daß ich das größte Vertrauen zur Osloer Polizei habe. Terje Bastesen ist seit fast vierzig Jahren bei der Truppe und war Beamter, ehe er Jurist wurde. Er wirkt vielleicht …« Er legte den Kopf schräg und suchte nach einem passenden Ausdruck. »Sehr norwegisch«, schlug Warren vor. »Vielleicht«, antwortete der Überwachungschef ohne ein Lächeln. »Aber man sollte ihn nicht unterschätzen. Ich glaube nämlich, daß wir in diesem Fall unsere Hoffnung auf die Polizei setzen müssen. Hier beim PST sind wir in den letzten vierundzwanzig Stunden alles durchgegangen, was vor dem Besuch der Präsidentin an Informationen bei uns eingelaufen ist. Wir haben jeden Bericht und jede Analyse auf den Kopf gestellt, um das zu finden, was wir übersehen haben, worauf wir kein Gewicht gelegt haben, was uns aber etwas hätte sagen müssen. 165
Was uns hätte warnen müssen. Aus dem übrigen Europa haben wir alles eingeholt, was dort an möglicherweise relevanten Informationen über bekannte Gruppen, vage Konstellationen, Einzelpersonen vorliegt …« Er legte sich die Hände auf den Kopf. »Nichts. Bisher jedenfalls nicht.« Warren Scifford nahm die Brille ab und zog ein Putztuch aus der Hosentasche. Langsam, fast liebevoll, säuberte er die Gläser. »Wir hatten etwas«, sagte er leise. »Vor dem elften September, meine ich. Die Information war da. Es gab sie, und wir hatten sie. Sie ist uns nur nicht aufgefallen. Eine Information, die fast dreitausend Menschenleben hätte retten können, ertrank in allem anderen. In allem, das …« Er setzte die Brille wieder auf, ohne den Satz zu beenden. »So ist es eben«, sagte Salhus und nickte. »In dieser Branche. Ich muß zugeben, daß mir gestern vormittag vor allem vor einem gegraust hat: Dem Moment, in dem einer meiner Leute mir eine Information bringt, die wir übersehen haben. Das Stück des Puzzlespiels, das wir beiseite gelegt haben, weil es nicht ins Bild paßte. Ich war sicher, daß das passieren würde. Aber vorläufig …« Er breitete die Arme aus und sagte noch einmal: »Nichts.« Nach einer kleinen Pause fügte er vorsichtig hinzu: »Und was ist mit euch? Habt ihr etwas gefunden?« Seine Stimme war locker und seine Frage freundlich. Warren beantwortete sie mit einem unmerklichen Heben der Augenbrauen. Dann griff er zu seinem Glas, trank aber nicht. »Du hast etwas von Zeugen gesagt«, sagte er und sah Yngvar Stubø an. »Ihr habt also etwas«, sagte Salhus. Warren leerte sein Glas. Er ließ sich Zeit dabei. Als er fertig war, wischte er sich mit einem Taschentuch über den Mund und 166
stellte das Glas weg. Sein Gesicht war ausdruckslos, als er den Überwachungschef ansah. »Zeugen«, mahnte Warren Scifford. »Ich habe versucht, Vertrauen zu schaffen.« »Mein Vertrauen hast du.« »Nein.« »Doch. Absolut. In unserer Branche gibt es einen großen Unterschied zwischen Vertrauen und Nachlässigkeit. Das weißt du genau. In dem Moment, in dem ich sehe, daß du mit deinen Leuten Informationen brauchst, die wir vielleicht haben, bekommst du sie. Du. Persönlich. Das kann ich versprechen. Aber vorher muß ich wissen, worum es bei diesem Gerede von Zeugen eigentlich geht.« Salhus erhob sich und ging zum Fenster. Der Morgen hatte Gutes verheißen, mit strahlender Sonne und nur vereinzelten leichten Frühlingswolken. Die Wolken waren jetzt dunkler und sammelten sich im Süden zum Angriff. Salhus konnte schon den Regenschleier sehen, der sich über dem Oslofjord näherte, und er blieb lange stehen und verfolgte ihn mit den Augen. Yngvars Gefühl, hier überflüssig zu sein, war so stark, daß er mit dem Gedanken spielte, sich zu verabschieden. Er hätte schon längst zu Hause anrufen müssen. Als er morgens seinen Entschluß gefaßt hatte, war er sicher gewesen, daß es das einzig Richtige war, dem Befehl zu folgen. Eine ungewohnte Wut hatte ihn erfaßt, als er aufgewacht war und sich aus dem Bett geschlichen hatte. Sein Magen war ihm vorgekommen wie ein Knoten, und er hatte das Frühstück ausfallen lassen. Yngvar konnte sich nicht erinnern, daß er jemals freiwillig auf eine Mahlzeit verzichtet hätte. Jetzt knurrte es unter seinem Hemd. Er wollte nur weg hier. Er wollte nach Hause. Dieser Fall überstieg alles, mit dem er je zu tun gehabt hatte, so sehr, daß er nichts zur Klärung beitragen konnte. Und wenn er Warren Scifford bei dessen Wanderungen durch die norwegischen 167
Behörden als Fremdenführer dienen sollte, dann war dieser Auftrag eine Beleidigung. Die Nachricht, die er Inger Johanne hinterließ, hätte vielleicht freundlicher ausfallen können. Er mußte wirklich bald anrufen. »Stubø«, sagte der Überwachungschef und drehte sich um. »Das ist was für dich.« Yngvar schaute auf. Er setzte sich verwirrt gerade hin, wie ein Schuljunge, der beim Träumen erwischt worden ist. »Ach ja?« Peter Salhus brauchte fünf Minuten, um aufzuzählen, welche Zeugen sich gemeldet hatten. An die dreißig Personen hatten die Polizei angerufen, und alle wollten dasselbe beobachtet haben. Zwei Männer, eine Frau, die aussah wie Madam President, und ein blaues Auto. Gut die Hälfte hielt dieses Auto für einen Ford. Die anderen waren sich nur sicher, was die Farbe anging. Ihnen allen gemeinsam war die Aussage, daß der Fahrer des blauen Wagens offenbar keine großen Anstrengungen unternahm, um nicht gesehen zu werden. »Und da haben wir Probleme«, endete er und zeigte auf die Karte, die er gezeichnet hatte. Seine Skizze von Norwegen erinnerte an einen ausgeleierten Fausthandschuh, der zum Trocknen an der Leine hing. Peter Salhus legte den Kugelschreiber weg und verschränkte die Arme vor der Brust. Die beiden anderen Männer beugten sich über die Zeichnung. »Das kann doch nicht stimmen«, sagte Yngvar. »Richtig«, sagte Salhus. »Vollkommen korrekt.« Dann beugte er sich vor und fügte hinzu: »Das sind die eingegangenen Hinweise. Aber auch, wenn wir die üblichen Vorbehalte gelten lassen, daß einige nicht richtig hingeschaut haben und andere offen die Unwahrheit sagen, so kann das 168
natürlich nicht stimmen. Da hast du ganz recht.« Yngvar ließ noch einmal seinen Blick auf der schlichten Karte von einem Punkt zum anderen wandern. Der Überwachungschef hatte die Zeitpunkte der Beobachtungen neben die roten Markierungen geschrieben. »Das ist also die E6 nach Schweden«, sagte Yngvar und fuhr mit dem Finger über Østfold. »Und das ist die E18 nach Kristiansand. Und hier …« Sein Finger wanderte in Richtung Trondheim. »Das gehört nicht in meinen Verantwortungsbereich«, sagte Salhus leise und kratzte sich im Bart. »Die Polizei wird das natürlich klären. Möglicherweise ist das sogar schon passiert. Es liegt doch auf der Hand.« »Das ist eine falsche Fährte«, rief Yngvar. »Das ist alles einfach nur Unsinn.« »Ja.« Warren Scifford hatte kein Wort gesagt, als Salhus zeichnete und berichtete. Jetzt griff er mit der rechten Hand nach der Karte. Während sein Blick sich auf die Perlenkette aus Beobachtungen im gesamten südlichen Norwegen richtete, sagte er: »Du kennst die Entfernungen. Hast du schon ausgerechnet, mit wie vielen Fords mit rotgekleideten Frauen wir es zu tun haben?« »Mindestens zwei«, sagte Salhus. »Vermutlich drei. Es ist theoretisch möglich, von hier …« Er nahm die Karte wieder an sich und zeigte darauf. »… im vorgegebenen Zeitrahmen nach hier zu gelangen. Man kann es auch in dreieinhalb Stunden von dieser Stadt in die hier schaffen …« Sein Zeigefinger lief von Larvik nach Hamar. »Aber leicht wird das nicht. Da allerdings Nationalfeiertag war und wenig Verkehr auf den Straßen, wäre es trotzdem möglich.« 169
»Zwei Einheiten«, murmelte Warren Scifford. »Vermutlich drei.« »Die durch Norwegen fahren und sich alle Mühe geben, gesehen zu werden«, sagte Yngvar. »Warum in aller Welt sollte irgendwer eine solche Aktion starten? Sie müssen doch wissen, daß es nur eine Frage der Zeit ist, bis wir sie durchschauen?« Das Tageslicht war nicht mehr so stark. Der Wind war kräftiger geworden und plötzlich prasselte Regen gegen die Scheiben. Eine Möwe setzte sich auf den Fenstersims. Ihr kohlschwarzes Auge starrte irgend etwas im Zimmer an. Dann öffnete sie den Schnabel, um einen Schrei auszustoßen. »Zeit«, sagte Salhus laut. »Sie wollen Zeit schinden und für Verwirrung sorgen.« Die Möwe hob ab und verschwand im Sturzflug nach unten. Hagel setzte ein. Die Eiskugeln waren so groß wie Pfefferkörner und schlugen lärmend gegen die Fenster. »Aber alles hat auch eine positive Seite«, sagte Salhus plötzlich und mit aufgesetzter Munterkeit. »Es gibt mehrere schöne Bilder des Fahrers. Oder der Fahrer. Von mindestens zwei Tankstellen, soviel ich gehört habe. Und egal, ob es sich bei diesem Manöver um eine Doppelgängerin auf einer Spritztour handelt, möchte ich doch zu gern wissen, wer sie losgeschickt hat. Du mußt den Polizeipräsident fragen, Warren. Wie gesagt, das ist nicht mein Bier. Sprich mit der Polizei. Aber ehe ihr geht …« Peter Salhus biß sich auf die Lippen und zögerte, ehe er hinzufügte: »Warum bist du eigentlich hier?« Warren Scifford sah ihn an und hob fast unmerklich die Augenbrauen. »Warum schicken sie ausgerechnet dich«, beharrte Salhus. »Wenn ich das richtig verstanden habe, leitest du eine Art … verhaltenspsychologische Antiterrorgruppe. Stimmt doch, 170
oder?« Der Amerikaner nickte gleichgültig. »Du bist also nicht der Leiter des FBI. Du leitest überhaupt keine operative Gruppe. Trotzdem schicken …« »Da irrst du dich. Wir sind im höchsten Grad operativ.« »Aber ich kann trotzdem nicht begreifen«, sagte Peter Salhus unbeirrt und beugte sich über seinen Schreibtisch, »warum sie keinen …« »Gut beobachtet«, unterbrach Warren Scifford ihn. »Sehr gut beobachtet. Du hast natürlich nicht ganz unrecht.« Zum ersten Mal glaubte Yngvar, an der selbstsicheren Gestalt etwas Hilfloses zu bemerken. Die Augen flackerten für einen Moment und ein Zug um den Mund ließ ihn älter wirken, fast alt. Aber er sagte nichts. Der Hagelschauer hörte so plötzlich auf, wie er eingesetzt hatte. »Und womit habe ich nicht unrecht?« fragte Peter Salhus leise. »Meine Kollegen glauben nicht, daß die Antwort auf dieses Rätsel in Norwegen liegt«, antwortete Warren Scifford und holte tief Luft. »Sie haben mich hierher geschickt, weil sie mich nicht zu Hause haben wollen. Sie sind davon überzeugt, daß wir die Lösung in dem Chaos von Geheimdienstinformationen finden, die wir bereits haben, wenn wir unsere derzeitigen eigenen Ermittlungen dazu nehmen. Und die sind … intensiv. Gelinde gesagt. Brutal, würdet ihr Europäer das vielleicht nennen.« Er griff nach seinem Glas, zögerte und stellte es wieder hin. Es war leer. »Das FBI hält das Verschwinden der Präsidentin für einen Terroranschlag, dem nur die USA gewachsen sind«, fuhr er fort. »Norwegen wird in diesem Zusammenhang ein kleines … ein sehr kleines und unbedeutendes …« Er lächelte kurz, fast bedauernd, und zuckte mit den Schultern. »Ihr wißt sicher, was ich meine. Und da ich und meine Männer 171
eine etwas andere Einstellung als die Führungsspitze zu der Frage haben, was ein Terrorist ist, was Terroristen zu erreichen versuchen und wie …« Wieder verstummte er. Er richtete sich auf und strich sich kurz über das Revers seiner Jacke, ehe er sich vorbeugte und Salhus in die Augen schaute. »Interne FBI-Konflikte sind wohl kaum interessant für dich«, sagte er. »Und ich habe auch nicht das Bedürfnis, darüber zu diskutieren. Aber ich verrate sicher nicht zuviel, wenn ich sage, daß der Hauptverdacht der USA in diesem Fall in eine einzige Richtung geht – zu Al-Qaida. Die haben Geld. Die haben ihr Netzwerk. Die haben ein Motiv. Und sie haben ja bekanntlich … uns schon früher angegriffen.« »Aber nicht deiner«, sagte Salhus. »Was?« »Dein Verdacht geht nicht in Richtung Al-Qaida.« Warren Scifford gab keine Antwort. Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare. Ein leichter Shampoogeruch verbreitete sich im Zimmer. »Du bist hier der Überwachungschef«, sagte er endlich, ein wenig zu laut. »Was glaubst du?« Jetzt war Peter Salhus derjenige, der nichts sagen wollte. Er trommelte mit einem Kugelschreiber auf die Tischplatte. »Hab ich mir gedacht«, sagte Warren Scifford. »Ich habe nichts gesagt.« »Doch. Und wir beide wissen, daß diese Aktion Al-Qaida sehr wenig ähnlich sieht. Osama bin Laden will Angst verbreiten, Salhus. Die Al-Qaida-Leute sind heilige Krieger, angetrieben von einem brennenden Haß. Sie wünschen sich spektakuläre Szenen aus purem … Terror. Sie sind Terroristen, im wahrsten Sinne des Wortes.« »Terror«, sagte Salhus und legte den Kugelschreiber in eine 172
Schublade, »wird im großen und ganzen definiert als ungesetzliche Handlung, bei der das Opfer der Gewalt oder der Drohungen nicht das Hauptziel ist, sondern ein Mittel, um eine größere Bevölkerungsgruppe zu treffen. Mit Angst und Schrecken, ganz einfach. Und ist die Entführung der Präsidentin der USA dann keine Terrorhandlung? Wenn ich die Nachrichtensendungen richtig verstanden habe …« Er nickte zu dem ramponierten Fernseher hinüber. »… dann herrschen in deinem Land doch gerade Angst und Schrecken.« »Oder Unsicherheit«, sagte Yngvar und räusperte sich. »Eine quälende Unsicherheit. Das ist vielleicht noch schlimmer. Mir kommt das ganz anders vor als alles, was ich mit Terror verbinde. Mir kommt es eher vor, als ob jemand …« Er holte Luft und suchte nach dem richtigen Wort, während er auf die mit roten Punkten übersäte primitive Norwegenkarte schaute. »… mit uns spielt«, sagte er endlich. »Mir kommt es so vor, als ob jemand uns zum Narren hält. Und das wäre nicht gerade Osama bin Ladens Stil.« Die beiden anderen sahen ihn an. Salhus nickte überrascht und zuckte mit den Schultern. Er wollte gerade etwas sagen, als Warren Scifford aufsprang. »Wir müssen weiter.« Yngvar fühlte sich noch immer nicht wohl in seiner Haut, als er an der Tür Salhus’ ausgestreckte Hand nahm. Der Amerikaner war schon unterwegs zum Lift, ein Mobiltelefon ans Ohr gepreßt. »Du hast ganz recht«, sagte Salhus leise auf Norwegisch. »Sie spielen mit uns. Irgendjemand hat ein Motiv, Mittel und die Möglichkeit, uns ganz gewaltig zum Narren zu halten. Und ich glaube verdammt noch mal, daß dein Spezi da vorn schon einen 173
Verdacht hat, wer das sein kann. Wenn du auch nur den geringsten Hinweis aufschnappen kannst, was hier läuft, dann melde dich. Sofort. Okay?« Yngvar nickte kurz und stellte überrascht fest, daß der Händedruck des Überwachungschefs kalt und feucht war.
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9 Abdallah al-Rahman liebte die neugeborene kleine Stute. Sie war kohlschwarz wie ihre Mutter, aber eine hellere Partie zwischen den Augen ließ darauf hoffen, daß sie die Blesse ihres Vater geerbt hatte. Ihre Beine waren unverhältnismäßig lang, wie es sich für ein Pferd, das einen Tag alt war, auch gehörte. Ihr Körper war vielversprechend, ihr Fell glänzte schon. Unsicher wich sie zurück, als er mit ausgestreckter Hand die Box betrat. Die Mutterstute wieherte aggressiv, aber er beruhigte sie rasch durch leises Murmeln und das Streicheln ihres Mauls. Abdallah al-Rahman war zufrieden. Alles lief nach Plan. Noch immer hatte er zu niemandem direkten Kontakt aufgenommen. Das war nicht nötig. Er hatte in seinem ganzen Erwachsenenleben noch nichts Unnötiges getan. Das Dasein war ein abgemessenes Stück Zeit, deshalb war es wichtig, im Gleichgewicht zu bleiben, eine Strategie zu verfolgen. Er betrachtete das Leben, wie er die phantastischen Teppiche betrachtete, die die Böden in den drei Palästen zierten, die er vorläufig zu benötigen glaubte. Eine Teppichknüpferin hatte immer einen Plan. Sie fing nicht in der einen Ecke an, um sich dann aufs Geratewohl dem fertigen Kunstwerk entgegenzuarbeiten. Sie wußte, wohin sie wollte, und das brauchte Zeit. Ab und zu überkam sie die Inspiration und sie konnte aus einem Impuls heraus die schönsten Details hinzufügen. Die Perfektion eines handgeknüpften Teppichs lag im Unperfekten, in winzigen Abweichungen vom vorher Festgelegten, aber doch in strenger Symmetrie und Ordnung. In seinem Schlafzimmer lag der schönste Teppich von allen. Seine Mutter hatte ihn geknüpft, sie hatte acht Jahre dazu 175
gebraucht. Als er fertig war, hatte sie ihn dem dreizehnjährigen Abdallah geschenkt. Niemand hatte je zuvor so einen Teppich gesehen. Die goldenen Töne änderten sich je nachdem, wie das Licht fiel, und machten es schwer zu sagen, welche Farben man eigentlich sah. Niemals hatte irgendjemand so dichte Knoten gesehen oder so unfaßbar weiche und fette Seide berührt. Das Fohlen näherte sich. Seine Augen waren kohlschwarz, und es riß sie auf, als es seitwärts wankte und den Kopf in den Nacken werfen mußte, um das Gleichgewicht zu behalten. Es schnaubte hilflos und preßte sich an die Flanke der Mutter, ehe es einen weiteren vorsichtigen Schritt auf ihn zu machte. Abdallas Leben war wie ein Teppich, und nach dem Tod seines Bruders hatte er entschieden, wie dieser Teppich aussehen sollte. Er hatte unterwegs einige Änderungen vorgenommen, einfach nur Angleichungen, aber eigentlich hatte er niemals etwas anderes gemacht als seine Mutter, hier und dort einen tieferen und düstereren Einschlag oder eine neue Nuance, weil sie schön war und ins Bild paßte. Sein drei Jahre älterer Bruder war am 20. August 1974 in Brooklyn ermordet worden. Er war auf dem Weg nach Hause von einer amerikanischen Freundin, von der die Eltern nichts wußten, und es war sehr spät. Als er am nächsten Morgen von einer älteren Frau gefunden wurde, waren seine Geschlechtsorgane eine von Tritten und Schlägen hinterlassene blutige Masse. Abdallahs Vater war sofort in die USA gereist und einen Monat darauf als alter Mann heimgekehrt. Der Mord wurde niemals aufgeklärt. Trotz der mächtigen Position, die der Vater in seinem eigenen Land innehatte, und trotz seiner unleugbaren Autorität auch den US-Behörden gegenüber, zuckte der zuständige Ermittler nach vierzehn Tagen mit den Schultern und schaute in eine andere Richtung, als er mitteilte, die Schuldigen würden wohl leider niemals gefunden werden. Es gebe so viele Morde, so viele junge Männer, die nicht begriffen, daß sie nach Mitternacht gefährliche Gegenden 176
meiden und zu Hause bleiben sollten. Sie hätten so geringe Mittel, klagte er, und klappte den dünnen Ordner endgültig zu. Der Vater kannte den Mann, der viel später der erste Präsident Bush werden sollte. Der Araber war ihm mehrmals gefällig gewesen, und nun war die Zeit gekommen, um einen Gegendienst einzufordern. Er konnte jedoch keinen Kontakt zu seinem einflußreichen Freund aufnehmen. Einige Tage vorher war Richard Nixon zum Rücktritt gezwungen worden. Gerald Ford war der neue Präsident der USA. Und am selben Abend, als ein junger Ausländer in einer Seitenstraße Brooklyns zu Tode geprügelt und getreten wurde, erklärte Präsident Ford, Nelson Rockefeller solle als 41. Vizepräsident der USA das Weiße Haus beziehen. Ein zutiefst enttäuschter und beleidigter George Bush senior hatte andere Sorgen, als sich um einen vergessenen arabischen Bekannten zu kümmern, und verzog sich einige Monate später nach China, um seine politischen Wunden zu lecken. In jenem Herbst wurde Abdallah erwachsen. Er war erst sechzehn, aber der Vater wurde nie wieder er selbst. Noch konnte der Alte seine Firma leiten. Er hatte gute Mitarbeiter, und obwohl es in der ersten Hälfte der siebziger Jahre in der Ölbranche zu heftigen Turbulenzen kam, wuchs das Familienvermögen kontinuierlich an. Aber der Vater wurde nie wieder er selbst. Immer häutiger versenkte er sich in religiöse Grübeleien und aß kaum noch. Er protestierte nicht einmal, als Abdallah die Eltern und seine sechs Schwestern verließ, um im Westen die Ausbildung zu machen, die dem Bruder zugedacht gewesen war. Ihre Unternehmen, zu denen nach und nach immer weitere hinzukamen, wurden von tüchtigen Leuten geleitet. Abdallah vertraute ihnen, aber schon mit zwanzig hatte er bei allen Geschäften eine Hand mit im Spiel. Er war so oft wie möglich zu Hause. In dem Sommer, in dem Abdallah fünfundzwanzig wurde, starb der Vater an der Trauer um einen Sohn, den er fast 177
zehn Jahre zuvor verloren hatte. Abdallah hatte das kommen sehen und in seinen Lebensteppich einbezogen, so daß er von nichts überrascht werden konnte. Er war Oberhaupt und alleiniger Eigentümer eines Konglomerates, das er gut genug kannte, um seinen Wert abzuschätzen. Nur er selbst konnte einen realistischen Betrag nennen, aber den gab er niemals preis. Das Einzige, womit er nicht gerechnet hatte, war das Erlöschen der Wut. Ein halbes Jahr nach dem Tod seines Bruders war er von seiner Wut so erschöpft, daß er krank wurde. Ein Erholungsheim in der Schweiz brachte ihn wieder auf die Beine, und die Wut wich einer berechnenden Ruhe, mit der zu leben ihm viel leichter fiel. Während die Wut sich auf alles und jeden gerichtet und ihn innerlich zerfressen hatte, so, wie es dem Vater mit seiner Trauer gegangen war, war der berechnende Zynismus etwas, das er sich einteilen konnte. Abdallah entdeckte den Wert langfristiger Planung und durchdachter Strategie und legte das Geschenk der Mutter in sein Schlafzimmer, damit er den Teppich vor dem Einschlafen studieren konnte und dann, wenn er nachts ein seltenes Mal aus einem Traum von seinem Bruder aufwachte. Das Fohlen war so ungefähr das Schönste, was er je gesehen hatte. Sein Maul war perfekt, mit ungewöhnlich kleinen, vibrierenden Nüstern. Seine Augen sahen nicht mehr so verängstigt aus, und die Wimpern waren lang wie Schmetterlingsflügel. Es trat ganz dicht an ihn heran, als er auf einem Strohballen saß und auf das Vertrauen des Pferdes wartete. »Vater!« Abdallah drehte sich langsam um. Über der Boxenwand sah er den Schopf seines jüngsten Sohnes, der versuchte, sich mit den Händen hochzuziehen, um sich das neue Fohlen anzusehen. 178
»Warte einen Moment«, sagte der Vater freundlich. »Ich komme raus.« Ungeheuer behutsam streichelte er den Hals des Fohlens. Das senkte den Kopf und zitterte ein wenig. Er lächelte und legte die Hand auf das kleine Maul des Pferdes. Das Tier wich nervös zurück. Abdallah erhob sich, ging langsam aus der Box und schloß die Tür. »Vater«, sagte der Junge freudestrahlend. »Wir wollten doch heute einen Film sehen. Das hast du mir versprochen!« »Möchtest du nicht lieber ein bißchen reiten? In der Halle, wo es kühl ist?« »Nein! Du hast mir einen Film versprochen.« Abdallah hob den Sechsjährigen hoch und trug ihn auf einem Arm, während er auf die riesigen Stalltüren zuging und ins Freie trat. Da es in Saudiarabien keine öffentlichen Kinos gab, hatte Abdallah seinen eigenen Saal einrichten lassen, mit zehn Sitzen und Silberleinwand. »Du hast es versprochen«, jammerte der Junge. »Später. Heute abend, habe ich gesagt.« Aus den Haaren des Jungen stieg ein sauberer Duft, der ihm in der Nase kitzelte. Er lächelte und gab ihm einen Kuß, bevor er ihn auf dem Boden absetzte. Der jüngste Sohn hieß Rashid, wie sein toter Onkel. Keiner der vier älteren Brüder hatte zu diesem Namen gepaßt. Sie alle hatten ihr Aussehen von der Familie ihrer Mutter geerbt. Dann kam der fünfte Sohn. Schon gleich nach der Geburt fiel Abdallah das breite Kinn mit dem winzigen Grübchen auf. Als der Junge zwei Tage alt war und endlich die Augen öffnete, schielte er auf dem linken ein wenig. Abdallah lachte glücklich und nannte ihn Rashid. Abdallah hatte nie daran gedacht, den Tod seines Bruders zu rächen. Jedenfalls nicht, als die erste Wut sich gelegt hatte und 179
er aus der Schweiz zurückkehrte. Er wußte auch nicht, an wem er sich hätte rächen sollen. Die Täter waren ja nicht gefaßt worden. Für einen jungen Araber wäre es unmöglich gewesen, auf eigene Faust in den USA in einem Mordfall zu ermitteln, ganz gleich, über welche finanziellen Mittel er verfügen mochte. Der Polizist, der die Ermittlungen eingestellt hatte, war selbst ein Opfer des Systems und wäre es kaum wert gewesen, daß jemand Zeit und Mittel aufwandte, um ihn zu bestrafen. Der Haß, der einzig wirkliche Haß, den Abdallah al-Rahman sich für lange Zeit gestattete, richtete sich gegen George Bush senior. Der Mann, der später CIA-Chef wurde, war dem Vater damals 1974 einen Gefallen schuldig und verfügte über großen Einfluß. Mit einem kurzen Anruf hätte er eine tote Ermittlung wieder aufleben lassen können. Da Rashid aller Wahrscheinlichkeit nach von einer Bande rassistischer Halbstarker umgebracht worden war, die den Umgang von Kanaken mit jungen Blondinen nicht billigen mochten, hätte es bestimmt keine allzu großen Probleme gemacht, den Fall zu lösen – falls man gewollt hätte, falls man bereit gewesen wäre, sich die Mühe zu machen und falls man die Erlaubnis dazu gehabt hätte. Aber George Herbert Walker Bush fand es wichtiger, sich über die verpaßte Ernennung zum Vizepräsidenten zu echauffieren, als die vielen Anfragen eines Geschäftspartners zu beantworten, den er lieber vergessen wollte. Im Laufe der Zeit erkannte Abdallah, daß er aus dem Tod seines Bruder vor allem eine Lehre ziehen konnte, nämlich die, daß eine Hand durchaus nicht die andere wäscht. Es sei denn, man hat noch einen Trumpf im Ärmel. Etwas, das es unmöglich macht, die Schuld zu vergessen, ob man das nun will oder nicht. Viele Menschen waren ihm sehr viel schuldig, denn Abdallah war jetzt seit fast dreißig Jahren großzügig, ohne jemals viel dafür verlangt zu haben. Die Zeit war einfach nicht reif gewesen. Das war sie erst, als Helen Lardahl Bentley ihm seine lebenslange Erfahrung 180
endgültig bestätigte: Verlasse dich nie, niemals auf einen Amerikaner. »Kann ich einen Actionfilm sehen, Vater? Kann ich …« »Nein. Das weißt du doch. Das ist nicht gut für dich.« Abdallah fuhr seinem Sohn durch die Haare. Der Junge zog einen Schmollmund, dann trottete er mit gesenktem Kopf davon und machte sich auf die Suche nach seinen Brüdern. Sie waren am Vorabend aus Riad gekommen und würden eine ganze Woche zu Hause verbringen. Abdallah blieb stehen und schaute seinem Sohn hinterher, bis der Junge hinter der Ecke des großen Stallgebäudes verschwunden war. Dann schlenderte er zum schattigen Garten weiter. Er wollte noch eine Runde schwimmen.
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10 Hanne Wilhelmsen war ein Mensch ohne Freunde. Sie hatte sich für dieses Leben entschieden, und sie hatte nicht immer so gelebt. Sie war fünfundvierzig Jahre alt und hatte davon zwanzig bei der Polizei verbracht. Ihre Karriere endete, als sie kurz nach Weihnachten 2002 bei der Festnahme eines vierfachen Mörders angeschossen worden war. Eine großkalibrige Revolverkugel hatte sie zwischen dem 10. und 11. Brustwirbel getroffen. Aus irgendeinem Grund, den die Ärzte nicht so ganz verstanden hatten, war die Kugel dort steckengeblieben. Als der Fremdkörper entfernt wurde, war der Chirurg von den breiigen Resten dessen, was einst Nerven gewesen waren, dermaßen fasziniert, daß er Fotos davon machen ließ. Insgeheim dachte er, daß er niemals etwas Schlimmeres gesehen hatte. Der Polizeipräsident hatte sie angefleht, bei der Truppe zu bleiben. Er besuchte sie während ihrer Genesung immer wieder, obwohl sie zunehmend abweisender wurde. Er bot ihr Sonderregelungen und Dienstanpassung an. Sie sollte freie Hand bei der Wahl ihrer Aufgaben haben, und bei Hilfsmitteln und Assistenz sollte es an nichts fehlen. Sie wollte nicht und kündigte zwei Monate nach der Operation. Hanne Wilhelmsens außergewöhnliche Tüchtigkeit war niemals angezweifelt worden. Vor allem die jüngeren Kollegen bewunderten sie. Sie kannten sie nicht, und sie hatten ihr abweisendes, verschrobenes Verhalten, das immer auffälliger wurde, noch nicht satt. Bis zu dem katastrophalen Schuß konnte es vorkommen, daß sie sich Protegées zulegte. Mit 182
Bewunderung konnte sie umgehen, denn zu Bewunderung gehörte Distanz, und für Hanne Wilhelmsen gab es nichts Wichtigeres als Distanz. Und sie war eine gute Lehrerin. Die gleichaltrigen und älteren Kollegen dagegen hatten längst die Nase voll. Auch sie konnten zwar nicht leugnen, daß Hanne Wilhelmsen zu den fähigsten Ermittlerinnen gehörte, die die Osloer Polizei jemals gesehen hatte. Aber ihre Eigenwilligkeit und ihre mürrische Abneigung gegen Zusammenarbeit ermüdeten die Kollegen im Laufe der Jahre dann doch. Und obwohl die ganze Truppe erschüttert war, weil eine Kollegin bei einer Festnahme lebensgefährliche Verletzungen davongetragen hatte, wurde in den Ecken getuschelt, daß es doch angenehm sei, diese Frau loszusein. Bis es dann still um sie wurde und die meisten sie vergaßen, so wie alle, die sich nicht mehr blicken lassen, früher oder später in Vergessenheit geraten. Nur einen wirklichen Freund hatte sie nach all den Jahren bei der Polizei noch gehabt. Er hatte ihr Leben gerettet, als sie bewußtlos in einem Ferienhaus in Nordmarka lag und fast verblutet wäre. Der riesige Mann hatte drei Tage rund um die Uhr im Krankenhaus über sie gewacht, bis er dermaßen gestunken hatte, daß eine Krankenschwester ihn mit der Mitteilung aus dem Raum geschoben hatte, es wäre besser für alle Beteiligten, wenn er sich nach Hause scherte. Als feststand, daß Hanne überleben würde, hatte er sich an ihre Hände geklammert und wie ein Kind geweint. Hanne hatte auch ihn abgewiesen. Es war inzwischen über ein Jahr her, daß er zuletzt vorbeigeschaut hatte, um festzustellen, ob es noch einen letzten Rest Freundschaft gäbe, auf dem sie aufbauen könnten. Als die Wohnungstür sich eine Viertelstunde darauf hinter dem breiten, gebeugten Rücken geschlossen hatte, ließ Hanne Wilhelmsen sich mit Champagner vollaufen, schloß sich im Schlafzimmer ein, zerschnitt ihre alte Dienstuniform und verbrannte sie im Kamin. 183
Hanne Wilhelmsen fühlte sich zum ersten Mal in ihrem seltsamen, verworrenen Leben wohl. Sie lebte mit einer Frau zusammen, die nach und nach ein geteiltes Dasein akzeptiert hatte. Nefis hatte ihren Posten an der Universität, ihre eigenen Freunde und ein Leben außerhalb der Wohnung, in dem ihre Lebensgefährtin nicht auftauchte. Zu Hause in der Kruses gate wartete Hanne, niemals fragend, immer froh und gelassen, wenn sie Nefis wiedersah. Und sie teilten das Glück, das Ida mit sich brachte. »Wo ist Ida?« fragte Inger Johanne. Sie hatte die Beine auf das Sofa gezogen. Ein riesiger Plasmabildschirm zeigte die Sondersendungen des Norwegischen Fernsehens. »Mit Nefis in der Türkei. Sie besuchen die Großeltern.« Inger Johanne fragte nicht weiter. Hanne mochte sie. Sie mochte sie, weil sie keine Freundin war und auch nicht verlangte, eine zu werden. Inger Johanne wußte nichts über Hanne, außer dem, was sie vielleicht von anderen gehört oder aufgeschnappt hatte. Das konnte natürlich so allerlei sein, aber sie ließ sich trotzdem niemals dazu hinreißen, zu graben oder zu fordern oder zu fragen. Sie redete viel, aber niemals über Hanne. Da Inger Johanne der aufrichtig neugierigste Mensch war, den Hanne je kennengelernt hatte, war der auffällige Mangel an Neugier eine Leistung, die bewies, daß Inger Johanne ihr Metier beherrschte. Sie war eine echte Profilerin. Inger Johanne verstand Hanne Wilhelmsen und ließ sie in Ruhe. Und sie schien gern bei ihr zu sein. »O nein«, sagte Inger Johanne leise und schloß die Augen. »Nicht die.« Hanne, die einen Roman gelesen hatte, warf einen Blick auf den Bildschirm. 184
»Sie steigt nicht aus dem Fernseher, um sich über dich herzumachen«, sagte sie und las weiter. »Aber warum müssen sie immer«, fragte Inger Johanne verzweifelt und holte tief Luft, »warum ist ausgerechnet sie zum großen Orakel in allen Fragen geworden, die mit Verbrechen und Verbrechern zu tun haben?« »Weil du das nicht sein willst«, sagte Hanne und lächelte. Inger Johanne hatte einmal bei einer Livesendung das Fernsehstudio aus Protest verlassen und war seither nie mehr vor die Kamera gebeten worden. Wencke Bencke war die bekannteste Kriminalschriftstellerin des Landes. Nachdem sie jahrelang als exzentrische, verschrobene Eigenbrötlerin gelebt hatte, war sie ein Jahr zuvor ins Rampenlicht getreten. Damals war eine Reihe von Prominenten in einem Fall ermordet worden, den die Polizei niemals hatte abschließen können. Gegen ihren Willen war Inger Johanne in die Ermittlungen hineingezogen worden, aber auch ihr waren die Morde lange ohne Motiv und inneren Zusammenhang erschienen. Und Wencke Bencke wurde zur Lieblingsexpertin der Medien. Sie brillierte mit ihren Erkenntnissen über den Charakter und die absurde Logik von Verbrechern, während sie zugleich auf ironischer Distanz zur Polizei blieb. Und das alles machte sich im Fernsehen durchaus gut. Im selben Herbst hatte sie ihren achten und besten Roman veröffentlicht. Er handelte von einer Kriminalschriftstellerin, die aus Langeweile mordet. Von dem Buch wurden in drei Monaten hundertzwanzigtausend Exemplare abgesetzt, und es wurde von Verlagen in mehr als zwanzig Ländern eingekauft. Nur eine Handvoll Menschen, und dazu gehörten Inger Johanne und Yngvar, wußten, daß das Buch eigentlich von Wencke Bencke handelte. Sie konnten nichts beweisen, wußten aber alles. Die Autorin selbst hatte dafür gesorgt. Die von ihr 185
ausgelegten Spuren waren als Beweise untauglich, aber für Inger Johanne Vik reichten sie doch aus. Und die Spuren waren auch ausgelegt worden, um sie zu quälen, da war sie sich ganz sicher. Wencke Bencke hatte gemordet, kam aber ungeschoren davon. Und ab und zu in schlaflosen Nächten, wenn ihr am Tage im Supermarkt Wencke Bencke mit breitem Lächeln an der Gefriertruhe begegnet war oder wenn sie ihr am späten Abend im Hauges vei zugewinkt hatte, konnte Inger Johanne sich noch immer nicht von dem Gedanken befreien, daß die Morde auch begangen worden waren, um sie zu quälen. Sie konnte nur nicht begreifen, warum. Im vergangenen Herbst, als sie mit beiden Kindern auf der Rückbank unterwegs ins Ferienhaus gewesen war, fuhr vor einer Ampel auf der Ullernchaussee ein Auto neben ihr an. Die Fahrerin hob den Daumen, hupte kurz und bog nach rechts ab. Es war Wencke Bencke. Zufall, hatte Yngvar damals resigniert gesagt. Oslo sei eine kleine Stadt und Inger Johanne solle endlich einen Strich unter diese verdammte Geschichte ziehen. Statt dessen besuchte sie Hanne Wilhelmsen. Anfangs aus Neugier; Hanne war bei den wenigen, die noch von ihr sprachen, zur Legende geworden. Wenn jemand Inger Johanne helfen könnte, Wencke Bencke zu verstehen, dann sie. Die gelassene, fast gleichmütige Art der ehemaligen Hauptkommissarin wirkte beruhigend. Sie war kalt und analytisch, wo Inger Johanne intuitiv war, sie war gleichgültig, wo Inger Johanne sich provozieren ließ. Aber Hanne nahm sich Zeit zum Zuhören, sie hatte immer Zeit zum Zuhören. »Die Polizei tritt absolut auf der Stelle«, sagte die Kriminalschriftstellerin im Studio und rückte ihre Brille gerade. »Es kommt selten vor, daß wir sie dermaßen verwirrt erleben. Und meines Wissens haben sie ein Problem, das eher in einen altmodischen Kriminalroman gehört als in die Welt der Wirklichkeit.« 186
Der Moderator beugte sich vor. Der Bildausschnitt zeigte jetzt beide in Großaufnahme. Sie steckten die Köpfe zusammen, als wollten sie ein Geheimnis miteinander teilen. »Aha«, sagte der Mann mit ernster Miene. »Natürlich war die Präsidentin von einem umfassenden Sicherheitsapparat umgeben, wie wir während der vergangenen vierundzwanzig Stunden vielen Reportagen entnehmen konnten. Unter anderem Überwachungskameras auf den Gängen …« »Quäl dich nicht«, sagte Hanne leise. »Wir können auch ausschalten.« Inger Johanne hatte ein Kissen gepackt und klammerte sich daran, ohne es zu merken. »Nein«, sagte sie kurz. »Ich will das hören.« »Sicher?« Inger Johanne nickte und starrte auf den Bildschirm. Hanne sah sie zwei Sekunden lang an, dann zuckte sie unmerklich mit den Schultern und las weiter. »… mit anderen Worten eine Art ›Geheimnis des geschlossenen Raums‹«, sagte Wencke Bencke und lächelte. »Niemand hat das Zimmer verlassen, niemand hat es …« »Woher weiß sie das?« fragte Inger Johanne. »Woher zum Teufel weiß sie immer alles, was die Polizei tut oder läßt? Die können sie doch nicht ausstehen und …« »Das Polizeipräsidium leckt wie ein Sieb von Ikea«, sagte Hanne und schien sich endlich für das Gespräch im Fernsehen zu interessieren. »So war das immer schon.« Inger Johanne nahm sich die Zeit, sie zu betrachten. Hanne hatte ihr Buch zugeklappt, und jetzt rutschte es ihr fast vom Schoß, ohne daß sie das zu bemerken schien. Der Stuhl rollte ein wenig nach vorn, und sie griff nach der Fernbedienung, um den Apparat lauter zu stellen. Sie beugte sich vor, als wolle sie auf gar keinen Fall auch nur die geringste Nuance in den Aussagen 187
der Kriminalschriftstellerin verpassen. Langsam nahm sie ihre Lesebrille ab, ohne den Bildschirm nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. So muß sie früher einmal gewesen sein, dachte Inger Johanne überrascht. So wach und konzentriert. So anders als die gleichgültige Gestalt, die sich in einer luxuriösen Wohnung im Westend einsperrte und Romane las. Hanne wirkte jetzt jünger, fast jung. Ihre Augen glänzten, sie feuchtete die Lippen an, ehe sie sich langsam die Haare hinter die Ohren strich. Ein Diamant blitzte im Licht des Fensters auf. Als Inger Johanne den Mund öffnete, um etwas zu sagen, hob Hanne fast unmerklich einen mahnenden Finger. »Wir müssen jetzt zum Regierungsgebäude umschalten«, sagte der Moderator endlich und nickte der Autorin dankend zu. »Dort wird der Ministerpräsident …« »Du mußt anrufen«, sagte Hanne Wilhelmsen und machte den Fernseher aus. »Anrufen? Wen soll ich anrufen?« »Die Polizei. Ich glaube, sie haben einen Fehler gemacht.« »Aber … warum rufst du sie nicht selbst an? Ich weiß doch gar nicht, was … woher soll ich …« »Hör zu!« Hanne drehte den Rollstuhl zu ihr hin. »Ruf Yngvar an!« »Das kann ich nicht.« »Ihr habt euch gestritten. So viel ist mir schon klar, wenn du herkommst und um Asyl bittest. Es muß auch ernst sein, sonst hättest du nicht dein Kind eingepackt und wärst abgehauen. Aber das ist mir scheißegal. Es interessiert mich nicht.« Inger Johanne ertappte sich dabei, daß sie Mund und Augen aufsperrte, und klappte laut hörbar den Unterkiefer wieder hoch. 188
»Das hier ist jedenfalls wichtiger«, sagte Hanne jetzt. »Wenn Wencke Bencke korrekt informiert ist, und zu der Annahme haben wir allen Grund, dann haben sie sich einen Patzer geleistet, der so groß ist, daß …« Sie zögerte, als wage sie nicht so recht, ihrer eigenen Theorie zu trauen. »Aber du kennst die vom Polizeipräsidium doch«, sagte Inger Johanne leise. »Nein. Ich kenne da niemanden. Du mußt anrufen. Wenn du Yngvar anrufst, wird er wissen, was zu tun ist.« »Dann laß hören«, sagte Inger Johanne zögernd und legte das Zierkissen weg. »Was ist denn so wichtig? Was hat die Polizei gemacht?« »Es geht eher darum, was sie nicht gemacht hat«, antwortete Hanne. »Und das ist in der Regel schlimmer.«
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11 Yngvar Stubø stand bei den Fahrstuhltüren im dritten Stock des Polizeigebäudes und fühlte sich überaus unwohl in seiner Haut. Er hatte noch immer nicht zu Hause anrufen können. Das Gefühl, einen Fehler begangen zu haben, als er sich aus dem morgenstillen Haus geschlichen hatte, ohne mit Inger Johanne zu sprechen, wurde mit jeder Stunde bedrückender. Warren Scifford hatte offenbar ein reichhaltiges Frühstück verzehrt. Zweimal hatte er das Angebot eines Mittagessens abgelehnt. Yngvar hatte inzwischen einen Bärenhunger und ärgerte sich langsam über die scheinbar planlosen Wanderungen des Amerikaners zwischen den Büros im Grønlandsleiret 44. Der Mann kommunizierte zusehends weniger mit seinem norwegischen Verbindungsmann. Ab und zu bat er um Entschuldigung, weil er telefonieren müsse, und dann ging er so weit weg, daß Yngvar von dem Gespräch nichts mitbekam. Da er keine Ahnung hatte, wie lange Warren beschäftigt sein würde, konnte er selbst diese Gelegenheiten nicht nutzen, um Inger Johanne anzurufen. »Muß los«, sagte Warren und klappte sein Mobiltelefon zu, während er auf Yngvar zugelaufen kam. »Wohin gehen wir denn?« Yngvar wartete seit fast einer Viertelstunde auf ihn. Er versuchte trotzdem, freundlich zu wirken. »Ich brauche dich nicht. Im Moment nicht. Ich muß zurück ins Hotel. Hast du eine Telefonnummer?« Yngvar zog seine Visitenkarte heraus. »Mobil«, sagte er und zeigte darauf. »Ruf die Nummer da an, wenn du mich brauchst. Soll ich dich begleiten? Dir ein Auto besorgen?« 190
»Die Botschaft hat schon eins geschickt«, sagte Warren leichthin. »Danke für die Hilfe. Bis dann.« Dann lief er die Treppen hinunter und war verschwunden. »Yngvar? Yngvar Stubø?« Eine adrette schlanke Frau kam auf ihn zu. Sofort fielen Yngvar ihre Schuhe auf. Die Absätze waren so hoch, daß schwer zu verstehen war, wie sie sich überhaupt auf den Beinen halten konnte. Ihr Gesicht strahlte, als sie sah, daß er es wirklich war. Sie stellte sich auf Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuß auf die Stirn. »Das ist aber nett«, sagte Yngvar, diesmal war sein Lächeln echt. »Lange nicht mehr gesehen, Silje. Wie geht’s dir?« »Puh …« Sie blies die Wangen auf und ließ die Luft langsam entweichen. »Hier herrscht die totale Hektik, das wissen ja alle. Wir sind allesamt mit dem Verschwinden der Präsidentin beschäftigt. Ich bin jetzt seit über vierundzwanzig Stunden hier und werde wirklich von Glück sagen können, wenn nicht noch ein halber Tag vergeht, ehe ich nach Hause darf. Und du?« »Ja, danke, ich …« Silje Sørensen sah ihn plötzlich an, als habe sie etwas Neues an der umfangreichen Gestalt entdeckt, die aussah, als sei sie in eine etwas zu enge Jacke gestopft worden. Yngvar unterbrach sich und griff sich verlegen an die Nase. »Du warst mit den Munch-Diebstählen beschäftigt«, sagte sie rasch. »Oder nicht? Und mit dem NOKAS-Überfall?« »Ja und nein«, antwortete Yngvar und schaute sich um. »Mit den Munch-Diebstählen, aber nicht direkt mit NOKAS. Aber ich …« »Du kennst dich aus in der Diebstahlsszene, Yngvar. Besser als die meisten anderen, nicht wahr?« 191
»Ja, ich hatte mit …« »Komm!« Silje Sørensen zupfte ihn am Ärmel und ging los. Er lief hinterher, ohne es wirklich zu wollen. Das Gefühl, wie ein herrenloser Hund behandelt zu werden, wurde immer stärker. Er hatte in jüngeren Jahren zwar im Polizeigebäude gearbeitet, fühlte sich dort aber nicht zu Hause und wußte nicht so recht, wohin Silje ihn führen wollte. »Was machst du hier bei uns?« fragte sie atemlos, während sie durch einen Gang eilte, ihre Absätze klapperten über den Boden. »Um ganz ehrlich zu sein, weiß ich das nicht so recht.« »Niemand weiß in diesen Tagen irgendwas so recht«, sagte sie lächelnd. Endlich hatten sie eine blaue Tür ohne Namensschild entdeckt. Silje Sørensen klopfte an und machte auf, ohne auf Antwort zu warten. Yngvar folgte ihr. Ein Mann mittleren Alters stand vor drei Monitoren und etwas, das Ähnlichkeit mit einem Mischpult in einem Aufnahmestudio hatte. Er fuhr herum und murmelte einen kurzen Gruß, dann konzentrierte er sich wieder auf die Arbeit. »Das ist Abteilungsleiter Yngvar Stubø von der Kripo«, sagte Silje. »Von der Neuen Kripo«, korrigierte Yngvar und lächelte. »Komischer Name«, brummte der Mann hinter dem Mischpult. »Frank Larsen. Kommissar.« Er reichte Yngvar nicht die Hand. Noch immer klebten seine Blicke am Monitor. Schwarzweiße Bilder von einer Tankstelle, mit Kundschaft, die kam und ging, flimmerten in wildem Tempo über den Bildschirm. »Nur wenige kennen sich in der ostnorwegischen Unterwelt so gut aus wie Yngvar«, sagte Silje Sørensen und zog zwei Stühle an den großen Tisch. »Setz dich, du.« 192
Kommissar Larsen machte jetzt einen interessierteren Eindruck. Er lächelte Yngvar kurz zu, während seine Finger blitzschnell über eine Tastatur liefen. Der Schirm wurde schwarz, Sekunden später tauchte ein neues Bild auf. Ein Mann kam durch eine offene Schiebetür. Die Kamera war offenbar an der Decke angebracht, denn der Mann war schräg von oben zu sehen. Er wäre fast gegen einen Zeitungsständer gestoßen und zog sich die Mütze tief in die Stirn. »Wir haben die Zeugenvernehmungen noch nicht systematisieren können«, sagte Silje leise, während der Kommissar das Bild bearbeitete, um es deutlicher zu machen. »Aber bisher ist mir vor allem eins aufgefallen. Dieser Mann, oder diese Männer – vorläufig glauben wir, daß wir es mit zweien zu tun haben – wollte von den Angestellten bemerkt weiden. Er hat geplaudert und sich auffällig benommen. Aber er wollte nicht von der Kamera eingefangen werden. Wir haben kein einziges deutliches Bild von seinem Gesicht. Oder von den Gesichtern.« Frank Larsen holte ein weiteres Bild auf den nächsten Monitor. »Hier siehst du«, sagte er und zeigte darauf. »Er weiß offenbar, wo die Kameras hängen. Hier zieht er die Mütze nach unten …« Alle drei schauten auf den mit A gekennzeichneten Bildschirm. »… und hier sieht er weg.« Bildschirm B zeigte den Mann, der sich fast seitwärts gewandt einer Kasse näherte. »Wenn sie wissen, wo die Kameras hängen, dann waren sie schon einmal da.« Yngvar sprach leise und starrte fasziniert Bildschirm C an, wo das vage, körnige Bild des Mannes langsam schärfer wurde. Es war schräg von hinten aufgenommen. Die Schirmmütze 193
bedeckte sein Gesicht fast ganz, aber die Kinnpartie und eine kräftige Nase waren zu sehen. Es war zu früh, um das genau zu sagen, aber Yngvar glaubte, einen kurzgetrimmten Bart erahnen zu können. »Und wenn sie ihre Aufnahmen gespeichert haben«, sagte er, »müßte es bessere Bilder von einem früheren Besuch geben.« »Kaum«, sagte Frank Larsen mißmutig, als verderbe ihm die bloße Vorstellung, noch mehr Bildmaterial durchsehen zu müssen, die Laune. »Die meisten Tankstellen löschen die Aufnahmen nach zwei Wochen. Das weiß jeder verdammte Gauner. Und die hier wissen das sicher auch. Sie brauchen die Örtlichkeiten nur früh genug auszukundschaften, dann ist die Sache gelaufen. Und diese hier übrigens auch.« Ein dicker Zeigefinger berührte Bildschirm C. Der Mann auf dem Bild war breitschultrig, und sein Kinn war wirklich von einem kurzen gepflegten Bart bedeckt. Nasenrücken und Augen waren versteckt, aber unter der Schirmmütze schaute eine ungewöhnlich große und krumme Nase hervor. Die Haare unter der Mütze waren kurz. Im rechten Ohr saß ein massiver kleiner Goldring. »Ich glaube, ich habe ihn schon mal irgendwo gesehen«, sagte Silje. »Und irgend etwas sagt mir, daß er mit der Raubszene zutun hat. Aber das …« »Er hat sich die Haare schneiden lassen«, sagte Yngvar und zog seinen Stuhl näher an den Tisch heran. »Und hat sich einen Bart zugelegt. Der Ring im Ohr ist auch neu. Die Sache ist nur …« Jetzt lächelte er breit und fuhr mit dem Finger über den Bildschirm. »Daß diese Nase sich nicht vertuschen läßt.« »Du weißt, wer er ist?« Frank Larsen machte einen überaus skeptischen Eindruck. 194
»Verdammt, wir sehen doch wirklich nicht viel von dem Kerl!« »Das ist Gerhard Skrøder«, sagte Yngvar und ließ sich im Sessel zurücksinken. »Auch der ›Kanzler‹ genannt. Er hat in der Stadt eine Zeitlang so viel geredet, daß wir schon dachten, er hätte mit dem NOKAS-Überfall zu tun. Aber das war nur Protzerei, wie sich dann herausgestellt hat. Die MunchDiebstähle dagegen …« Frank Larsen ließ seine Finger arbeiten, während Yngvar redete. Ein Drucker in der Ecke brummte los. »Wir haben ihm nie etwas nachweisen können. Aber wenn du mich fragst, dann war er daran beteiligt.« Silje Sørensen nahm das Blatt aus dem Drucker und warf einen Blick darauf, ehe sie es an Yngvar weiterreichte. »Noch immer sicher?« Das Foto war zwar nicht gut, aber nach der behutsamen Bildbearbeitung war es immerhin deutlich. Yngvar nickte und strich mit dem Finger darüber. Die riesige Nase, gebrochen bei einer Schlägerei im Jahre 2000 in einem Gefängnis und zwei Jahre darauf ein weiteres Mal bei einem Handgemenge mit der Polizei, war unverkennbar. Gerhard Skrøder stammte aus scheinbar gutem Hause und war ein notorischer Verbrecher. Sein Vater leitete eine große Behörde. Die Mutter saß für die Linkssozialisten im Parlament. Gerhards Schwester war Rechtsanwältin und der kleine Bruder soeben in die Leichtathletik-Nationalmannschaft berufen worden. Gerhard selbst versuchte, seit er dreizehn war, vor der Polizei wegzurennen, in der Regel ohne Erfolg. Der NOKAS-Überfall in Stavanger ein Jahr zuvor war der größte Banküberfall in der norwegischen Geschichte und hatte einen Polizisten das Leben gekostet. Noch niemals waren so viele Leute auf einen einzigen Fall konzentriert worden, und das hatte Ergebnisse gebracht. Irgendwann nach Weihnachten sollte 195
der Prozeß eröffnet werden. Gerhard Skrøder hatte lange im Scheinwerferlicht gestanden, aber im späteren Winter war das Interesse an ihm wieder erlahmt. Da bei den NOKASErmittlungen die gesamte Verbrecherszene auf den Kopf gestellt worden war, tauchte sein Name jedoch in anderen und fast ebenso interessanten Zusammenhängen wieder auf. Als die Munch-Gemälde »Der Schrei« und »Madonna« im August 2004 am hellichten Tag gestohlen worden waren, hatte Gerhard Skrøder sich mit einer achtzehn Jahre alten, nicht vorbestraften Blondine auf Mauritius aufgehalten. Das ließ sich beweisen. Yngvar war davon überzeugt, daß der Mann an den Planungen maßgeblich beteiligt gewesen war. Das ließ sich nicht beweisen. »Mal sehen«, sagte Frank Larsen und streckte die Hand nach dem Foto aus. Er studierte es ausgiebig. »Ich will dir gern glauben«, sagte er endlich und rieb sich mit den Fingerknöcheln die Augen. »Aber kannst du mir dann erzählen, warum jemand aus der Diebstahlsszene in eine Deckoperation in Verbindung mit der Entführung der amerikanischen Präsidentin verwickelt sein sollte?« Er schaute Yngvar aus rotunterlaufenen Augen an. »Kannst du mir das verraten? Hä? Die Präsidentin der USA zu kidnappen ist ja wohl etwas ganz anderes als das, womit diese Jungs sich sonst so amüsieren, oder nicht? Die denken doch nur an eins, diese Burschen, und zwar an Geld. Und wenn ich das richtig verstanden habe, ist nicht eine einzige verdammte Forderung gestellt worden, nicht eine einzige …« »Da irrst du dich«, fiel Yngvar ihm ins Wort. »Die denken nicht nur an Geld. Die denken auch an … Prestige. Aber in einem Punkt hast du wohl recht. Ich glaube auch nicht, daß die die Präsidentin der USA entführt haben. Ich glaube sogar, daß Gerhard Skrøder von der Sache nicht die geringste Ahnung hat. Er hat einfach einen fett bezahlten Auftrag angenommen, stelle 196
ich mir vor. Aber ihr könnt ihn ja fragen. Diese Jungs da …« Er warf noch einen Blick auf das Foto. »Die haben ihre Gewohnheiten, so daß wir genau wissen, wo sie sind. Jederzeit. Ihr braucht sicher höchstens eine Stunde, um ihn euch zu schnappen.« Dann klopfte er sich auf den Bauch, schnitt eine Grimasse und fügte hinzu: »Jetzt muß ich dringend etwas essen. Viel Glück!« Sein Telefon fiepte. Er warf einen Blick aufs Display und lief, ohne sich zu verabschieden, hinaus auf den Flur, um zu antworten.
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12 Eine Frau näherte sich dem See. Sie war für dieses Wetter nicht richtig angezogen. Ein grauer Himmel streifte das Wasser und die Wellen schäumten nur hundert Meter vom Ufer entfernt. Der Morgen hatte so schön angefangen, und sie hatte es riskiert, auf ihre Wollunterwäsche zu verzichten. Bis Ullevålseter war alles gut gegangen, aber jetzt bereute sie, daß sie für den Rückweg die weitere Strecke über Øyungen gewählt hatte. Sie wollte nach Skar, wo sie den kleinen Fiat abgestellt hatte, den sie nicht mehr fahren sollte, wenn es nach ihrem Sohn gegangen wäre. Die Frau hatte eben ihren achtzigsten Geburtstag gefeiert. Nach dem Fest hatte sie festgestellt, daß die Autoschlüssel von ihrem Haken über dem Regal in der Diele verschwunden waren. Natürlich hatte ihr Sohn es gut gemeint. Trotzdem provozierte es sie, daß er glaubte, ihre Gesundheit besser beurteilen zu können als sie selbst. Zum Glück hatte sie Reserveschlüssel in ihrer Schmuckschatulle. Sie fühlte sich geschmeidig wie ein Fohlen, dank der Wanderungen durch Wald und Flur, die sie fit hielten. Die leichten Schlaganfälle hatten sie zwar ein wenig vergeßlich werden lassen, aber an ihren Beinen war wirklich nichts auszusetzen. Sie fror entsetzlich, und leider hatte sie auch einen entsetzlichen Druck auf der Blase. Sie hatte zwar schon häufiger im Wald Wasser gelassen, aber bei der Vorstellung, in dem schneidenden Wind die Hose herunterstreifen zu müssen, lief sie doch lieber schneller. Nein, es ging nicht. Sie mußte sich eine passende Stelle suchen. Kurz vor dem Stausee bog sie nach Norden ab und zwängte 198
sich durch dichtstehende Birken voller Kätzchen und hellgrüner klebriger Blätter. Ein natürlicher Erdwall erschwerte das Vorankommen. Die alte Frau setzte ihre Wanderstiefel vorsichtig auf einen Ameisenhaufen, packte einen Ast und ließ sich in die anderthalb Meter tiefe Grube hinunter. Als sie gerade ihre Hose aufknöpfen wollte, sah sie ihn. Er schien friedlich zu schlafen. Der eine Arm lag schützend über seinem Gesicht. Das Moos unter ihm war tief und weich, und die Zweige der niedrigen Birken bildeten fast eine Decke. »Hallo«, sagte die Frau und behielt ihre Hose an. »Hallo, Sie!« Der Mann gab keine Antwort. Sie mühte sich an einem Findling vorbei und trat in ein Schlammloch. Ein Zweig schlug ihr ins Gesicht. Sie unterdrückte einen Schrei, wie um Rücksicht auf die Gestalt unter den Bäumen zu nehmen. Endlich stand sie neben ihm und rang nach Atem. Ihr Puls wurde schneller. Ihr war schwindlig, als sie vorsichtig seinen Arm hochhob. Die Augen, die sie anstarrten, waren braun. Sie standen weit offen, und in dem einen krabbelte eine kleine Fliege herum. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Ein Telefon hatte sie nicht bei sich, obwohl ihr Sohn deswegen immer wieder nervte. Solche Geräte ruinierten die Wanderfreude, und außerdem konnte man davon Krebs im Kopf bekommen. Der Mann trug einen dunklen Anzug und elegante, stark verdreckte Herrenschuhe. Die alte Dame kämpfte mit den Tränen. Er war so jung, fand sie, sicher nicht älter als vierzig. Sein Gesicht war friedlich, er hatte hübsche Augenbrauen, die über den großen offenen Augen wie ein fliegender Vogel aussahen. Sein Mund war bläulich, und einen Moment lang dachte sie an Wiederbelebungsmaßnahmen. Sie schlug sein Jackett auf, um besser an sein Herz zu kommen, in der unklaren Vorstellung, daß es so richtig wäre. Da rutschte etwas aus dem 199
Jackenfutter heraus. Sie dachte, es wäre eine Art Brieftasche, und nahm sie an sich. Dann richtete sie sich auf, als habe sie endlich begriffen, daß dieser kalte Leichnam schon seit vielen Stunden durch keine Herzmassage mehr zu retten war. Noch war ihr das Einschußloch an der Schläfe des Mannes nicht aufgefallen. Eine heftige Übelkeit stieg in ihr hoch. Langsam hob sie ihre rechte Hand. Die schien so weit fort zu sein, ganz und gar ihrer Kontrolle entzogen. Ihre Angst wollte sie von diesem Ort vertreiben, hinaus auf die Straße, auf den Waldweg, wo immer wieder andere Menschen unterwegs waren. Unbewußt steckte sie das kleine schwarze Lederetui in ihre Jacke und stieg auf den Erdwall, Ihr rechtes Bein wollte jetzt nicht mehr, es war gefühllos und knickte unter ihr weg, und daß die alte Frau es trotzdem schaffte, sich aus dem Gestrüpp und auf den Kiesweg zu schleppen, lag ausschließlich an ihrem eisernen Willen, der sie achtzig Jahre und fünf Tage lang stark und gesund erhalten hatte. Dann sank sie um und war ohnmächtig.
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13 »Da gibt es nichts zu diskutieren«, sagte Inger Johanne. »Aber …« »Sei still. Ich hatte dich gewarnt, Yngvar. Ich hatte es dir gestern abend gesagt. Ich war sicher, daß du verstanden hattest, wie ernst es mir war. Aber ich rufe nicht deshalb an.« »Du kannst doch nicht einfach mit dem Kind …« »Yngvar, zwing mich nicht dazu, laut zu werden. Dann fürchtet Ragnhild sich nur.« Das war die pure Lüge. Im Hintergrund war kein Kindergeplapper zu hören, und seine Tochter war nur dann ganz still, wenn sie schlief. »Bist du wirklich weg? Ganz im Ernst? Hast du den Verstand verloren, oder was?« »Vielleicht ein wenig.« Er glaubte, die Andeutung eines Lächelns zu hören, und atmete ein bißchen leichter. »Ich bin schrecklich enttäuscht«, sagte Inger Johanne ruhig. »Und ziemlich wütend auf dich. Aber darüber können wir später sprechen. Im Moment mußt du dir anhören …« »Ich habe das Recht zu erfahren, wo Ragnhild ist.« »Sie ist bei mir, und es geht ihr gut. Hör mir jetzt zu, dann verspreche ich dir auf Ehre und Gewissen, daß ich dich nachher anrufe, dann können wir über alles reden. Und mein Versprechen ist ein bißchen mehr wert als deins. Das wissen wir ja.« Yngvar biß die Zähne zusammen. Er ballte die Faust und hob sie, um auf irgend etwas einzuschlagen. Er fand aber nur die Wand. Ein uniformierter Polizeischüler blieb abrupt drei Meter 201
hinter ihm auf dem Gang stehen. Yngvar ließ die Faust sinken, zuckte mit den Schultern und rang sich ein Lächeln ab. »Stimmt das, was Wencke Bencke im Fernsehen gesagt hat?« fragte Inger Johanne. »Nein«, sagte Yngvar mit leisem Stöhnen. »Nicht schon wieder die. Bitte.« »Jetzt hör mir doch zu!« »Na gut.« »Du knirschst mit den Zähnen.« »Was willst du?« »Zeigen die Überwachungskameras wirklich, daß niemand das Zimmer der Präsidentin betreten oder verlassen hat? Von dem Moment an, als sie schlafen gegangen ist, bis zu der Entdeckung, daß sie verschwunden war, meine ich?« »Darauf kann ich keine Antwort geben.« »Yngvar!« »Ich stehe unter Schweigepflicht, wie du weißt.« »Seid ihr die Filme durchgegangen, die zeigen, was danach passiert ist?« »Ich bin überhaupt nichts durchgegangen. Ich bin Warrens Verbindungsmann und kein Ermittler im Fall der Präsidentin.« »Hörst du, was ich sage?« »Ja, aber ich habe nichts mit …« »Wann herrscht an einem Tatort das größte Chaos, Yngvar?« Er knabberte an seinem Daumennagel. Ihre Stimme klang jetzt anders. Der beleidigte, ungerechte Tonfall war gedämpft, fast verschwunden. Er hörte Inger Johanne so, wie sie eigentlich war, so, wie sie ihn immer wieder faszinierte, in ihrer fast sokratischen Art, ihn die Dinge mit anderen Augen und aus anderen Winkeln sehen zu lassen, als er es bisher in seiner fast dreißig Jahre langen Karriere bei der Polizei getan hatte. 202
»Wenn das Verbrechen entdeckt wird«, sagte er kurz. »Und?« »Und in der Zeit gleich danach«, sagte er zögernd. »Bevor der Tatort gesichert ist und die Aufgaben verteilt wurden. Während alles nur … Chaos ist.« Er schluckte. »Genau«, sagte Inger Johanne leise. »Verdammt«, sagte Yngvar. »Die Präsidentin muß nicht während der Nacht verschwunden sein. Es kann später passiert sein. Nach sieben Uhr, als alle schon glaubten, sie sei nicht mehr da.« »Aber … das war sie doch auch nicht! Das Zimmer war leer und da lag ein Zettel von den Entführern …« »Und auch von dem wußte Wencke Bencke. Und jetzt weiß es ganz Norwegen. Was glaubst du wohl, was der Zettel sollte?« »Mitteilen …« »Eine solche Mitteilung bringt das Gehirn dazu, seine Schlüsse zu ziehen«, fiel Inger Johanne ihm ins Wort, sie sprach jetzt schneller. »Sie läßt uns glauben, daß etwas bereits passiert ist. Ich stelle mir vor, daß die Secret Service-Jungs sich nur noch kurz umgesehen haben, nachdem sie ihn gelesen hatten. Das ist eine riesige Suite, Yngvar. Sie untersuchen vermutlich das Badezimmer und öffnen vielleicht zwei Schränke. Aber diese Mitteilung, die sollte sie vor allem verscheuchen. So rasch wie möglich. An einem normalen Tatort geht es ja schon chaotisch zu, und da kann ich mir vorstellen, wie es gestern morgen im Hotel Opera ausgesehen hat. Wo zwei Staaten damit zu tun haben und …« Es wurde ganz still in der Leitung. Jetzt konnte er endlich Ragnhild hören. Sie lachte glucksend, und jemand sprach mit ihr. Er konnte kein Wort verstehen. Es fiel ihm auch schwer, die Stimme einem Geschlecht 203
zuzuordnen. Sie klang grob und rauh, aber doch nicht ganz wie die eines Mannes. »Yngvar?« »Ich bin noch da.« »Du mußt sie dazu bringen, die Aufnahmen aus der Stunde nach dem Alarm zu überprüfen. Ich stelle mir vor, daß es innerhalb von fünfzehn bis zwanzig Minuten passiert ist.« Er gab keine Antwort. »Hast du gehört?« »Ja«, antwortete er. »Wo bist du?« »Ich rufe dich heute abend an. Versprochen.« Dann legte sie auf. Yngvar blieb einige Minuten stehen und starrte sein Telefon an. Der Hunger setzte ihm nicht mehr zu, er spürte ihn nicht mehr.
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14 Fayed Muffasa war vier Jahre älter als sein Bruder. Sie sahen sich bemerkenswert ähnlich. Der ältere Bruder hatte allerdings kürzere Haare und war gepflegter gekleidet als Al Muffet, der Jeans und ein Holzfällerhemd aus Flanell trug. Er wollte sich gerade ins Auto setzen, um seine jüngste Tochter zur Schule zu fahren, als sein Bruder eintraf. Fayed stieg mit strahlendem Lächeln aus dem Mietwagen. Er sieht mir so ähnlich, dachte Al und streckte die Hand aus. Ich vergesse immer wieder, wie ähnlich wir uns sehen. »Willkommen«, sagte er ernst. »Du kommst früher, als ich erwartet hatte.« »Macht ja nichts«, sagte Fayed, als habe er gerade eine Entschuldigung angenommen. »Ich warte einfach so lange, bis du zurück bist. Hallo, Louise!« Er beugte sich zum Wagenfenster und schaute hinein. »Du bist aber groß geworden«, rief er und bedeutete ihr, das Fenster zu öffnen. »Du bist doch Louise, oder?« Sie öffnete statt dessen die Tür und stieg aus. »Hallo«, sagte sie schüchtern. »Wie schön du bist«, rief Fayed und breitete die Arme aus. »Und wie schön habt ihr es hier. Wunderbare Luft!« Er atmete tief durch und grinste. »Wir fühlen uns wohl«, sagte Al. »Du kannst …« Er ging zum Haus. Schlüssel klirrten. Er schloß auf und ließ die Tür sperrangelweit offen. »Setz dich doch«, sagte er und zeigte einladend in Richtung Küche. »Mach dir was zu essen, wenn du Hunger hast. In der Thermoskanne ist noch Kaffee.« »Gut«, sagte Fayed lächelnd. »Ich suche mir einen Sessel und 205
mache es mir gemütlich. Wann bist du wieder da?« Al schaute kurz auf seine Armbanduhr und zögerte. »In einer knappen Stunde. Ich muß zuerst Louise fahren und dann habe ich in der Stadt noch etwas zu erledigen. Eine Dreiviertelstunde, denke ich.« »Dann bis nachher«, sagte Fayed und ging ins Haus. Die Tür mit dem Fliegengitter fiel hinter ihm ins Schloß. Louise saß schon wieder im Auto. Al Muffet fuhr langsam den Kiesweg hinunter und bog auf die Straße ab. »Der scheint aber richtig nett zu sein«, sagte Louise. »Sicher.« Es war eine schlechte Straße. Noch immer waren die vielen im Winter entstandenen Löcher nicht gefüllt worden. Al Muffet war das im Grunde recht. Die unebene Straßendecke zwang zufällig Vorüberfahrende dazu, ihr Tempo zu drosseln. Er bog einige hundert Meter von seinem Grundstück entfernt um eine Anhöhe und hielt an. »Was ist los, Papa?« »Muß nur schnell mal«, sagte er, lächelte kurz und stieg aus. Er sprang über den Straßengraben und näherte sich dem dichten Gestrüpp oben auf der Anhöhe. Langsam zwängte er sich hindurch und hielt sich dabei die ganze Zeit im Schutz der mächtigen Ahornbäume neben dem Findling, der am Rand eines kleinen Abhangs balancierte. Fayed hatte das Haus wieder verlassen. Er stand auf dem Kiesweg, mitten zwischen Haus und Straße, und schaute sich um. Er schien zu zögern, ehe er zum Gartentor weiterschlenderte. Der Wimpel neben dem Briefkasten zeigte nach unten, der Briefträger war noch nicht dagewesen. Fayed untersuchte den Kasten, den Louise im Vorjahr hatte anmalen dürfen. Er war jetzt knallrot und auf beiden Seiten prangte das Bild eines blauen galoppierenden Pferdes. 206
Fayed richtete sich auf und ging zurück zum Haus. Er wirkte jetzt zielstrebiger und lief schneller. Bei seinem Mietwagen blieb er stehen und setzte sich hinein. Dort blieb er sitzen, ohne den Motor anzulassen. Möglicherweise telefonierte er, aber auf diese Entfernung war das schwer zu sagen. »Papa! Kommst du?« Al wich zögernd zurück. »Komme«, murmelte er und mühte sich durch das Dickicht. »Bin schon unterwegs.« Er wischte Schmutz und kleine Zweige ab, ehe er wieder ins Auto stieg. »Ich komme zu spät«, jammerte Louise. »Zum zweiten Mal in diesem Monat, und du bist schuld!« »Sicher«, murmelte Al Muffet zerstreut und schaltete. Sein Bruder konnte ja einfach das Bedürfnis verspürt haben, sich die Beine zu vertreten. Natürlich wollte er nach der langen Autofahrt frische Luft schnappen. Aber warum hatte er sich wieder ins Auto gesetzt? Warum war der Bruder überhaupt gekommen und warum in aller Welt war er zum ersten Mal, seit Al sich überhaupt erinnern konnte, so freundlich gewesen? »Paß doch auf, wo du fährst!« Er riß das Lenkrad nach rechts und konnte sich gerade noch auf der Straße halten. Der Wagen schlingerte in die Gegenrichtung, und aus einem Reflex heraus trat er auf die Bremse. Das Hinterrad landete im tiefen Straßengraben. Al Muffet ließ die Bremse wieder los und das Auto schoß vorwärts, ehe es quer über der Straße zum Stehen kam. »Was machst du denn bloß«, schrie Louise. Nur ein kleiner Anfall von Paranoia, dachte Al Muffet und versuchte, das Auto wieder anfahren zu lassen, während er sagte: »Schon gut, Herzchen. Ganz ruhig bleiben. Jetzt ist alles in Ordnung.« 207
15 Die Präsidentin der USA war restlos verwirrt. Sie hatte versucht, sich auf die Zeit zu konzentrieren. Sie hatten ihr die Armbanduhr weggenommen und ihr eine Kapuze über den Kopf gestülpt, ehe sie sich ins Auto gesetzt hatten. Beides kam so überraschend, daß sie keinerlei Widerstand leistete. Erst als der Motor ansprang, faßte sie sich wieder, und sie rechnete aus, daß die Autofahrt etwas weniger als eine halbe Stunde gedauert hatte. Die Männer sprachen unterwegs kein Wort, deshalb hatte sie in Ruhe zählen können. Sie hatten ihr die Hände vorne gefesselt, nicht im Rücken. Und so saß sie da, allein auf dem Rücksitz des Wagens, und konnte die Finger zu Hilfe nehmen. Immer, wenn sie bei sechzig ankam, nahm sie den nächsten Finger. Als sie nach zehn Minuten keine Finger mehr hatte, kratzte sie sich mit einem gepflegten halblangen Nagel den Handrücken auf. Der Schmerz half ihr beim Erinnern. Drei Kratzer. Dreißig Minuten. Mehr oder weniger eine halbe Stunde. Oslo war nicht groß. Eine Million Einwohner? Mehr? Das Einzige, das ihr ermöglichte, in diesem Raum überhaupt etwas zu sehen, war eine trübe rötliche Glühbirne, die offenbar gleich neben der verschlossenen Tür an der Wand angebracht war. Sie richtete den Blick auf den roten Punkt und atmete tief durch. Sie war sicher schon sehr lange hier. Hatte sie geschlafen? Ihre Notdurft hatte sie in einer Ecke des Zimmers verrichtet. Es war schwer gewesen, mit gefesselten Händen die Hose nach unten zu streifen, aber sie hatte es geschafft. Es war noch schwieriger, die Hose wieder hochzuziehen. Wie oft war sie schon auf dem mit alten Zeitungen gefüllten Pappkarton gewesen? Sie 208
versuchte, sich zu erinnern, zu berechnen, einen Begriff von der Zeit zu bekommen. Sie hatte sicher geschlafen. Oslo war nicht groß. Nicht so groß. Keine Million Einwohner. Schweden war größer. Stockholm war größer. Konzentrier dich. Atmen und denken. Du kannst das hier. Du weißt. Oslo war klein. Eine halbe Million? Eine halbe Million. Sie glaubte nicht, daß sie im Auto geschlafen hatte. Aber danach? Ihr Körper kam ihr vor wie Blei. Jede Bewegung tat weh. Sie hatte sicher zu lange in derselben Haltung gesessen. Vorsichtig versuchte sie, die Oberschenkel auseinanderzuschieben. Überrascht merkte sie, daß sie sich naßgemacht hatte. Der Geruch war nicht störend, sie nahm ihn nicht wahr. Atmen. Ruhig. Du hast geschlafen. Konzentrier dich. Sie erinnerte sich an den Landeanflug. Die Stadt kroch über die Hügel, die sie umgaben. Der Fjord fraß sich bis zum Stadtkern vor. Helen Lardahl Bentley schloß die Augen, um das rote Zwielicht auszusperren. Sie versuchte, sich ihre Eindrücke vom Anflug der Air Force One auf den im Süden Oslos gelegenen Flughafen in Erinnerung zu rufen. Im Norden. Der lag im Norden der Stadt, fiel ihr endlich ein. Es half, die Augen zu schließen. Die Waldgebiete in der Nähe der Hauptstadt kamen ihr bei weitem nicht so wild und beängstigend vor, wie die Familienüberlieferung es wahrhaben wollte und wie sie es auf dem Schoß ihrer Großmutter gehört hatte. Die alte Frau hatte 209
niemals einen Fuß in die alte Heimat gesetzt, aber das Bild, das sie für Kinder und Enkelkinder gezeichnet hatte, war wirklich lebendig gewesen: Norwegen war schön, furchteinflößend und durchzogen von zerklüfteten Gebirgen. Aber das stimmte nicht. Durch das Fenster der Air Force One hatte Helen Bentley etwas ganz anderes gesehen. Eine freundliche Landschaft. Es gab Anhöhen und Hügel und an den Nordhängen noch einige Schneereste. Die Bäume wurden grün, in der hellen Färbung, die für diese Jahreszeit typisch war. Wie groß war Oslo? Sie konnten unmöglich weit gekommen sein. Das Hotel lag mitten in der Stadt, wenn sie das richtig verstanden hatte. Eine halbe Stunde konnte sie nicht weit gebracht haben. Sie waren mehrere Male abgebogen. Vielleicht waren das notwendige Manöver gewesen, aber es war auch möglich, daß sie das in Verwirrung hatte stürzen sollen. Sie konnte sich durchaus immer noch in der Osloer Innenstadt befinden. Aber sie konnte sich auch irren. Sie konnte sich verzählt haben. Hatte sie geschlafen? Hatte sie nicht überhaupt geschlafen? Im Auto war sie nicht eingeschlafen. Sie hatte kaltes Blut bewahrt und die Sekunden gezählt. Wenn sie die Hände bewegte, konnte sie mit der Fingerspitze drei Kratzer fühlen. Drei Kratzer bedeuteten dreißig Minuten. Die Kapuze, die sie ihr über den Kopf gestülpt hatten, war feucht gewesen und hatte seltsam gerochen. War sie unterwegs eingeschlafen? Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie riß sie auf. Durfte nicht weinen. Ein Tropfen löste sich aus dem Augenwinkel und wanderte an der Nase entlang zum Mund. 210
Nicht weinen. Denken. Die Augen öffnen und denken. »Du bist die Präsidentin der USA«, flüsterte sie und biß die Zähne zusammen. »Du bist die Präsidentin der USA, goddammit!« Es fiel ihr schwer, einen Gedanken festzuhalten. Alles schien ihr zu entgleiten, ihr Gehirn schien in einer sinnlosen Endlosschleife festzuhängen, mit zusammenhanglosen Bildern in einer zusehends verwirrenderen Collage. Verantwortung, dachte sie und biß sich in die Zunge, bis Blut herausquoll. Ich trage Verantwortung. Angst ist etwas, was ich kenne. Furcht ist mir vertraut. Ich habe es so weit gebracht, wie ein Mensch es überhaupt nur bringen kann, und ich bin oft ängstlich gewesen. Ich habe das niemals jemandem gezeigt, aber Feinde haben mir Angst eingejagt. Feinde haben alles bedroht, was ich bin und wofür ich stehe. Ich habe mich niemals unterkriegen lassen. Angst macht mich stark. Angst macht mich klar und klug. Das Blut schmeckte süßlich nach warmem Eisen. Helen Brentley hatte Übung im Umgang mit der Angst. Aber nicht im Umgang mit der Panik. Die Panik ließ sie abstumpfen. Nicht einmal die vertraute Eisenkralle, die jetzt ihren Hinterkopf in festem Griff hielt, konnte sie aus dem verwirrenden Zustand des lähmenden Schocks herausquälen, der sie seit dem Moment, in dem sie aus ihrer Hotelsuite geholt worden war, festhielt. Das Adrenalin hatte ihren Kopf nicht scharf und klar gemacht, wie es sonst bei einer herausfordernden Begegnung oder einer wichtigen Fernsehsendung geschah. Im Gegenteil. Als der Mann am Bettrand ihr seine kurze Mitteilung zugeflüstert hatte, war ihr Dasein in einem dermaßen überwältigenden Schmerz erstarrt, daß er ihr auf die Beine hatte helfen müssen. 211
Sie hatte das bisher in ihrem ganzen Leben nur einmal empfunden. Es war so lange her, und es hätte in Vergessenheit geraten sein sollen. Es hätte vergessen sein müssen. Ich hatte es endlich vergessen. Sie weinte jetzt, mit leisem Schluchzen. Ihre Tränen waren salzig und vermischten sich mit dem Blut der zerbissenen Zunge. Das Licht bei der Tür schien zu wachsen und überall drohende Schatten zu werfen. Sogar wenn sie die Augen zukniff, fühlte sie sich in rote, gefährliche Dunkelheit gehüllt. Ich muß denken. Ich muß klar denken. Hatte sie geschlafen? Das Gefühl, die Zeit ganz und gar aus dem Griff verloren zu haben, verwirrte sie mehr, als sie für möglich gehalten hätte. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, schon seit Tagen hier zu sein, dann verwarf sie diese Gedankenspinnerei und versuchte, sachlich zu argumentieren. Lauschen. Auf Geräusche lauschen. Sie gab sich große Mühe. Nichts. Alles war still. Der norwegische Ministerpräsident hatte ihr beim Abendessen erzählt, daß die Feiern sehr laut sein würden. Die gesamte Bevölkerung würde auf den Beinen sein. »This is a children’s day«, hatte er gesagt. Ein tatsächliches Geschehnis zu rekonstruieren, war etwas Greifbares. Etwas, an dem sie ihre Gedanken aufhängen konnte, so daß sie sich nicht losrissen und im Wind flatterten. Sie wollte sich erinnern. Sie öffnete die Augen und starrte in die rote Lampe. Der Ministerpräsident hatte gestottert und einen Spickzettel benutzt. »We don’t parade our military forces«, sagte er mit starkem Akzent. »As other nations do. We show the world our children.« 212
Keine Kinderrufe waren zu hören gewesen, seit sie in diesem leeren Bunker mit dem entsetzlichen roten Licht gelandet war. Keine Fanfaren. Nur vollständige Stille. Die Kopfschmerzen ließen sich nicht vertreiben. So, wie sie hier saß, die Hände gefesselt mit dünnen Plastikriemen, die sich in die Haut ihrer Handgelenke einschnitten, konnte sie ihr übliches Ritual nicht ausführen. Verzweifelt sah sie ein, daß ihr nur der Ausweg blieb, den Schmerz an sich heranzulassen und auf Gnade zu hoffen. Harren, dachte sie apathisch. Dann schlief sie ein, mitten in dem schlimmsten Anfall, den sie jemals durchgemacht hatte.
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16 Tom Patrick O’Reilly stand an der Ecke Madison Avenue und East 67th Street und sehnte sich nach Hause. Es war ein langer Flug gewesen, und er hatte keinen Schlaf gefunden. Von Riad nach Rom war er allein gewesen. Er hatte das Gefühl gehabt, von einem Roboter transportiert zu werden. Erst nach der Landung in Rom war der Pilot aus dem Cockpit gekommen und hatte ihn mit einem Nicken begrüßt, ehe er die Tür geöffnet hatte. Danach waren es genau zwanzig Minuten zum nächsten Abflug gewesen, einem Linienflug nach Newark. Tom O’Reilly war sicher, daß er das nicht schaffen würde. Aber dann erschien eine uniformierte Frau, ohne daß er so recht gewußt hätte, woher, und lotste ihn auf magische Weise durch alle Sicherheitskontrollen. Der Flug von Riad nach New York hatte fast genau vierzehn Stunden gedauert, und aufgrund des Zeitunterschiedes fühlte er sich benommen und unwohl. Er würde sich niemals daran gewöhnen. Sein Körper kam ihm schwerer vor als sonst, und er wußte schon gar nicht mehr, wann sein Knie zuletzt so wehgetan hatte. Er hatte vergeblich versucht, zwei Termine zu verschieben, die er an diesem Nachmittag in New York noch absolvieren mußte. Er wollte nur noch nach Hause. Die letzte Mahlzeit mit Abdallah war schweigend verzehrt worden. Das Essen war gut gewesen, wie immer. Abdallah hatte sein undeutbares Lächeln gelächelt und sich langsam und systematisch vom einen Ende des Tellers zum anderen gegessen. Seine Familie war wie üblich nicht dabei gewesen. Es gab nur sie, Abdallah und Tom, und eine wachsende Stille. Auch die Diener verschwanden, nachdem das Obst serviert worden war. Die Kerzen brannten herunter. Nur die großen Terrakottalampen 214
an den Wänden warfen einen Lichtschimmer durch den Raum. Am Ende erhob Abdallah sich und sagte nur noch leise »gute Nacht«. Am nächsten Morgen wurde Tom von einem Diener geweckt und von einer Limousine abgeholt. Als er ins Auto stieg, kam der Palast ihm menschenleer vor. Er hatte nicht zurückgeschaut. Und jetzt stand Tom O’Reilly an einer Straßenecke in der Upper East Side und schloß die Hände um einen Briefumschlag. Eine fremde Unentschlossenheit machte ihm Sorgen, fast schon Angst. Der furchteinflößende Adler auf dem Briefkasten sah angriffslustig aus. Er stellte seinen kleinen Koffer ab. Er könnte den Brief natürlich öffnen. Er versuchte, sich umzusehen, ohne dabei Aufsehen zu erregen. Auf dem Bürgersteig wimmelte es von Menschen. Die Autos hupten wütend. Eine alte Frau mit einem Schoßhund auf dem Arm streifte ihn im Vorübergehen. Sie trug eine Sonnenbrille, obwohl der Himmel grau war und Niesel in der Luft lag. Auf der anderen Straßenseite sah er drei eifrig ins Gespräch vertiefte Jugendliche. Sie sahen ihn an, glaubte Tom. Ihre Lippen bewegten sich, aber was sie sagten, war im Lärm der Großstadt nicht zu hören. Eine junge Frau lächelte ihn an, als er ihrem Blick begegnete, sie schob einen Kinderwagen und war trotz des kühlen Wetters leicht bekleidet. Ein Mann blieb gleich neben Tom stehen. Er schaute auf die Uhr und schlug eine Zeitung auf. Sei nicht paranoid, dachte Tom und strich sich übers Kinn. Das sind normale Menschen. Das sind keine, die dich überwachen. Das sind Amerikaner. Ganz normale Amerikaner, und ich bin in meinem eigenen Land. Das hier ist mein eigenes Land, und ich bin hier sicher. Sei nicht paranoid! Er könnte den Umschlag öffnen. Er könnte ihn wegwerfen. Vielleicht sollte er zur Polizei gehen. 215
Womit denn? Wenn diese Postsendung Verbotenes enthielt, würde er in unendliche Ermittlungen verwickelt und mit der Tatsache konfrontiert werden, daß er sie ja schließlich ins Land gebracht hatte. Wenn alles in Ordnung war und Abdallah die Wahrheit gesagt hatte, würde er den Mann im Stich gelassen haben, der so viele Jahre lang für ihn gesorgt hatte. Langsam öffnete er den äußeren Umschlag. Er zog den anderen mit der Rückseite nach oben heraus. Der Brief war nicht versiegelt, er war ganz normal zugeklebt. Es war kein Absender angegeben. Er wollte schon den Umschlag umdrehen, um sich die Adresse anzusehen, hielt jedoch inne. Was er nicht wußte, konnte ihm auch nicht schaden. Er konnte den Umschlag immer noch wegwerfen. Einige Meter weiter stand ein Papierkorb. Er konnte den Brief wegwerfen, zu seinen Terminen gehen und versuchen, das alles zu vergessen. Er würde es niemals vergessen können, denn er wußte, daß Abdallah ihn niemals vergessen würde. Entschlossen warf er den Brief in den blauen Briefkasten. Er hob seinen Koffer auf und ging los. Als er am Papierkorb vorbeiging, knüllte er den äußeren, unbeschrifteten Briefumschlag zusammen und ließ ihn hineinfallen. Es war nicht verboten, einen Brief einzuwerfen. Es war kein Verbrechen, einem Freund einen Gefallen zu tun. Tom straffte die Schultern und atmete tief durch. Er wollte seine Termine so schnell wie möglich hinter sich bringen und versuchen, am frühen Abend einen Flug nach Chicago zu erreichen. Er wollte nach Hause zu Judith und den Kindern, und er hatte sich wirklich nichts vorzuwerfen. Er war nur so entsetzlich müde. Bei der Ampel blieb er stehen, um auf Grün zu warten. Zwei Taxis hupten wütend, sie zankten sich um die innere 216
Fahrspur zur Madison Avenue. Ein Hund bellte laut und Reifen bremsten kreischend auf dem Asphalt. Ein kleines Mädchen heulte empört auf, als die Mutter es am Arm mit sich zog und dann neben Tom trat. Sie lächelte ihn verlegen an. Er lächelte zurück, voller Verständnis, und machte zwei Schritte auf die Straße. Als die Polizei nur wenige Minuten später am Unfallort eintraf, gingen die Zeugenaussagen ungeheuer weit auseinander. Die Mutter des kleinen Kindes war fast hysterisch und konnte nicht viel zur Aufklärung dessen beitragen, was passiert war, als ein grüner Taurus den hochgewachsenen Mann mittleren Alters umgemäht hatte. Sie klammerte sich einfach nur fest an ihr Kind und weinte. Der Mann im Taurus war ebenfalls total fertig und schluchzte nur etwas von »plötzlich« und »bei Rot losgegangen«. Einige Fußgänger zuckten mit den Schultern und murmelten, sie hätten nichts gesehen, während sie verstohlen auf die Uhr schauten und davonstürzten, sowie die Polizei sie nicht mehr brauchte. Zwei Aussagen waren jedoch ganz klar. Die eine stammte von einem Mann in den Vierzigern, er hatte auf derselben Straßenseite gestanden wie Tom O’Reilly. Er konnte beschwören, daß der Mann fast geschwankt hatte, ehe er, ohne auf Grün zu warten, auf die Straße getaumelt war. Ein plötzliches Unwohlsein, meinte der Zeuge und schnalzte vielsagend mit der Zunge. Er nannte der gestreßten Polizistin bereitwillig Name und Adresse und schielte zu der reglos mitten auf der Kreuzung liegenden Gestalt hinüber. »Ist er tot?« fragte er leise und erhielt ein Nicken als Antwort. Der zweite Zeuge, ein jüngerer Mann in Schlips und Anzug, hatte auf der anderen Seite der 67th Street gestanden. Seine Beschreibung des Vorfalls stimmte auf bemerkenswerte Weise mit der des anderen Mannes überein. Die Polizistin nahm auch seine Personalien auf und fühlte sich erleichtert, als sie den ziemlich verzweifelten Fahrer damit beruhigen konnte, daß alles 217
ein schreckliches Unglück gewesen sei. Der Fahrer atmete ruhiger und war einige Stunden darauf, was den aufmerksamen Zeugen zu verdanken war, wieder ein freier Mann. Eine gute Stunde nach Tom O’Reillys Tod war die Unfallstelle geräumt. Die Leiche konnte rasch identifiziert und fortgebracht werden. Der Verkehr floß wie zuvor. Die Blutreste auf der Straße ließen den einen oder anderen Passanten zwar für einen Moment innehalten, aber ein Wolkenbruch gegen sechs Uhr am selben Nachmittag befreite den Asphalt von den allerletzten Spuren dieses tragischen Ereignisses.
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17 »Wer hat dich auf diese Idee gebracht?« Der Polizist, der in der Turnhalle des Polizeigebäudes vor einem Monitor saß und seit anderthalb Tagen Filme durchsah, auf denen nur ein leerer Gang zu sehen war, starrte Yngvar Stubø skeptisch an. »Das ist doch nicht logisch«, fügte er in aggressivem Tonfall hinzu. »Kein Mensch würde doch auf die Idee kommen, daß es auch nach dem Verschwinden der Frau interessante Aufnahmen geben könnte.« »Doch«, sagte Polizeipräsident Bastesen. »Das ist sehr logisch und es ist ein Riesenpatzer, daß wir nicht daran gedacht haben. Aber das läßt sich jetzt ja nicht mehr ändern. Sehen wir also mal, was du uns zeigen kannst.« Warren Scifford war endlich wieder da. Yngvar hatte eine halbe Stunde gebraucht, um ihn zu erreichen. Der Amerikaner antwortete nicht auf seinem Mobiltelefon, und in der Botschaft meldete sich niemand. Als er dann kam, lächelte er und zuckte mit den Schultern, ohne sein Verschwinden weiter zu erklären. Er riß sich auf dem Weg in die Turnhalle, wo die Luft inzwischen unerträglich war, den Mantel von den Schultern. »Fill me in«, sagte er, griff sich einen freien Stuhl, schob ihn an den Tisch und setzte sich. Die Finger des Polizisten hasteten über die Tastatur. Der Schirm flimmerte in Grautönen, dann wurde das Bild klar. Sie hatten den Filmfetzen schon oft gesehen, zwei Secret ServiceAgenten kamen auf die Tür der Präsidentensuite zu. Einer klopfte an. Der digitale Zeitmesser oben links im Bildschirm zeigte 07:18:23. 219
Die Agenten standen einige Sekunden da, dann legte einer vorsichtig die Hand auf die Klinke. »Komisch, daß die Tür offen war«, murmelte der Polizist, dessen Finger über die Tastatur jagten. Niemand sagte etwas. Die Männer gingen ins Zimmer und waren nicht mehr zu sehen. »Laß den Film weiterlaufen«, sagte Yngvar rasch und notierte den Zeitpunkt. 07:19:02. 07:19:58. Die zwei Männer kamen wieder herausgestürzt. »Hier haben wir aufgehört«, sagte der Polizist resigniert. »Hier habe ich aufgehört und bin auf zwanzig nach zwölf zurückgegangen.« »Sechsundfünfzig Sekunden«, sagte Yngvar. »Sie bleiben sechsundfünfzig Sekunden in dem Zimmer, ehe sie herausstürzen und Alarm schlagen.« »Weniger als eine Minute für über hundert Quadratmeter«, sagte Bastesen und rieb sich das Kinn. »Keine tolle Durchsuchung.« »Would you please speak English«, sagte Warren Scifford, ohne den Bildschirm aus den Augen zu lassen. »Sorry«, sagte Yngvar. »Wie du siehst, sind keine sonderlich gründlichen Untersuchungen vorgenommen worden. Sie haben die scheinbar leere Suite gesehen, haben den Zettel gelesen und that’s about it. Aber wartet, seht … seht mal hier!« Er beugte sich zum Monitor vor und zeigte auf etwas. Der Polizist an der Tastatur spulte eilig zu einem Bild weiter, wo ganz unten auf dem Schirm eine Bewegung zu ahnen war. »Ein … ein Zimmermädchen?« 220
Warren kniff die Augen zusammen. »Zimmerknabe«, korrigierte Yngvar. »Wenn es so eine Bezeichnung gibt.« Es handelte sich um einen relativ jungen Mann. Er trug eine praktische Uniform und schob einen großen Wagen vor sich her. Im Wagen gab es Fächer für Shampoo und andere Kleinigkeiten und einen tiefen, offenbar leeren Korb für schmutzige Bettwäsche. Der Mann zögerte einen Moment, dann öffnete er die Tür zur Suite und schob den Wagen hinein. »07:23:41.« Yngvar las die Zahlen langsam vor. »Wissen wir, was sonst zu diesem Zeitpunkt geschehen ist? In den übrigen Teilen des Hotels?« »Nicht so ganz«, sagte Bastesen. »Aber ich kann schon sagen, daß es vor allem … chaotisch war. Das Wichtigste ist, daß niemand die Überwachungsbildschirme beobachtet hat. Es war Alarm gegeben worden und wir hatten Probleme mit …« »Nicht einmal eure Leute«, unterbrach Yngvar ihn und schaute Warren an. Der Amerikaner gab keine Antwort. Seine Augen klebten am Bildschirm. Der Zähler zeigte 07:25:32, als der Mann wieder zum Vorschein kam. Er konnte den Wagen nur mit Mühe über die Türschwelle bugsieren. Die Räder widersetzten sich und die Vorderseite des Wagens steckte einige Sekunden fest, ehe er sich endlich auf den Gang schieben ließ. Der Korb war voll. Oben lag ein Laken oder ein großes Badetuch, der eine Zipfel hing über den Rand. Der Wagen näherte sich der Kamera und das Gesicht des Mannes war deutlich zu sehen. »Arbeitet er da?« fragte Yngvar leise. »In Wirklichkeit, meine ich. Ist er dort angestellt?« Bastesen nickte. 221
»Unsere Leute holen ihn gerade«, flüsterte er. »Aber dieser Bursche da …« Er zeigte auf den Mann, der hinter dem jungen pakistanischen Hotelangestellten kam; eine kräftig gebaute Gestalt in Anzug und dunklen Schuhen. Er hatte dichte kurzgeschnittene Haare und legte die Hand auf die Schulter des anderen, wie um ihn zur Eile anzutreiben. Er trug etwas, das an eine zusammengeklappte kleine Trittleiter erinnerte. »… über den wissen wir bisher noch nichts. Aber wir haben das ja vor zwanzig Minuten erst zum ersten Mal gesehen, und deshalb dauert die Arbeit noch …« Yngvar hörte nicht zu. Er starrte Warren Scifford an. Das Gesicht des Amerikaners war graubleich und eine dünne Schweißschicht hatte seine Stirn überzogen. Er biß sich in einen Fingerknöchel und sagte noch immer nichts. »Stimmt was nicht?« fragte Yngvar. »Shit«, antwortete Warren verbissen und sprang so abrupt auf, daß sein Stuhl fast umgekippt wäre. Er riß den Mantel von der Armlehne und zögerte kurz, ehe er so laut wiederholte, daß alle im Raum ihn anstarrten: »Shit! Shit!« Er packte Yngvar am Arm. Der Schweiß ließ seine Locken jetzt auf seiner Stirn kleben. »Ich muß mir dieses Hotelzimmer noch einmal ansehen. Sofort!« Dann stürzte er in Richtung Tür davon. Yngvar und Bastesen tauschten einen Blick, dann zuckte Yngvar mit den Schultern und lief hinter dem Amerikaner her. »Er hat nicht gesagt, wie er auf diese Idee gekommen ist«, sagte der Polizist am Monitor sauer. »Die späteren Aufnahmen durchzusehen. Hast du rausgekriegt, wer das verdammte Genie war?« 222
Die Frau am Nachbartisch zuckte mit den Schultern. »Jetzt hab ich jedenfalls eine Pause verdient«, sagte der Mann und machte sich auf die Suche nach etwas, das Ähnlichkeit mit einem Bett hatte.
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18 Helen Lardahl Bentley hatte tief geschlafen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange, aber sie konnte sich erinnern, daß sie in dem schmalen Sessel vor der Wand gesessen hatte, als der Anfall kam. Jetzt lag sie seitlich auf dem Boden. Ihre Muskeln brannten und schmerzten. Als sie versuchte, sich aufzusetzen, merkte sie, daß sie sich den rechten Ann und die Schulter verletzt hatte. Eine kräftige Beule an der Schläfe machte es schwierig, das Auge zu öffnen. Sie hätte vom Sturz aufwachen müssen. Vielleicht hatte sie beim Aufprall auf den Boden das Bewußtsein verloren. Sie war sicher lange ohnmächtig gewesen. Sie konnte sich nicht aufrichten. Ihr Körper wollte ihr nicht gehorchen. Sie durfte das Atmen nicht vergessen. Ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander. Es war unmöglich, einen festzuhalten. Für einen Moment sah sie ihre Tochter vor sich – als Kind, als kleine blonde Dreijährige, die Schönste von allen –, dann war sie einfach verschwunden. Billie wurde ins Licht an der Wand hineingesaugt wie in ein tiefrotes Loch, und Helen Bentley dachte an die Beerdigung ihrer Großmutter und an eine Rose, die sie auf den Sarg gelegt hatte, die war rot und tot und das Licht brannte so schrecklich in ihren Augen. Atmen. Aus. Ein. Der Raum war so ungeheuer lautlos. Ganz unnormal still. Sie versuchte zu schreien. Aber sie brachte nur ein Wimmern heraus, und das verschwand, wie in einem dicken Kissen. Kein Echo kam von den Wänden. Sie mußte atmen. Sie mußte richtig atmen. Die Zeit wirbelte durcheinander. Sie glaubte, überall im Raum 224
Zahlen und Zifferblätter zu sehen, und schloß die Augen im Hagel der pfeilförmigen Zeiger. »Ich will hoch«, schrie sie heiser und schaffte es endlich, sich aufzusetzen. Das Stuhlbein bohrte sich in ihren Rücken. »I do solemnly swear«, sagte sie und legte das linke Bein über das rechte. »… that I will faithfully execute …« Sie drehte sich mühsam um. Die Muskeln in ihren Oberschenkeln schienen zu zerreißen, als sie endlich auf die Knie gekommen war. Sie stützte den Kopf gegen die Wand und registrierte träge, daß die Wand weich war. Sie preßte die Schulter dagegen und kam mit einer letzten Anstrengung auf die Beine. »… the office of President of the United States.« Sie mußte einen Schritt zur Seite machen, um nicht zu fallen. Die Plastikriemen hatten sich noch tiefer in die Haut ihrer Handgelenke geschnitten. Ihr Kopf kam ihr plötzlich leicht vor, als gebe es dort nur noch das Echo ihres eigenen Herzschlags. Da sie sich nur wenige Zentimeter von der Wand entfernt befand, blieb sie aufrecht stehen. Es gab nur eine Tür im Raum. Und zwar in der gegenüberliegenden Wand. Sie mußte das Zimmer durchqueren. Warren hatte sie im Stich gelassen. Sie mußte herausfinden, warum, aber ihr Kopf war leer; denken war unmöglich und sie mußte ein Zimmer durchqueren. Die Tür war verschlossen, das fiel ihr jetzt wieder ein, sie hatte es schon einmal überprüft. Die weichen Wände verschluckten die wenigen Geräusche, die sie hervorrufen konnte, und die Tür ließ sich einfach nicht öffnen. Die Tür war aber trotzdem ihre einzige Hoffnung, denn dahinter gab es immer die Möglichkeit von etwas anderem, von jemand anderem, und sie mußte hinaus 225
aus diesem lautlosen Kasten, der dabei war, ihr das Leben zu nehmen. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen und begann ihre Wanderung über den dunklen, wogenden Boden.
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19 Yngvar Stubø begann langsam zu verstehen, warum Warren Scifford The Chief genannt wurde. Er hatte keine große Ähnlichkeit mit Geronimo. Er hatte zwar hohe Wangenknochen, aber seine Augen lagen tief, die Nase war schmal und sein Bartwuchs so stark, daß sich schon ein kräftiger grauer Schatten abzeichnete. Der Mann war am Morgen noch frisch rasiert gewesen. Die stahlgrauen Haare fielen in weichen Locken ein wenig zu tief in die Stirn. »Nein«, sagte Warren Scifford und blieb vor der Tür der Präsidentensuite im Hotel Opera stehen. »Ich weiß nicht, wer dieser Mann im Überwachungsfilm ist.« Sein Gesicht war unbeweglich und sein Blick direkt, ohne jedoch irgend etwas zu verraten. In seiner Miene gab es keinen Ärger über diese Frage, keine gespielte oder echte Überraschung über Yngvars unerhörte Andeutung. »So hat es aber ausgesehen«, beharrte Yngvar und spielte am Schlüssel herum. »Es sah wirklich so aus, als ob er dir bekannt wäre.« »Dann habe ich einen falschen Eindruck vermittelt«, sagte Warren, ohne mit der Wimper zu zucken. »Gehen wir rein?« Der Gefühlsausbruch des Amerikaners in der Turnhalle war nicht sonderlich indianerhaft gewesen, aber inzwischen hatte er sich offenbar wieder unter Kontrolle. Mit den Händen in den Hosentaschen ging er in die Suite und blieb mitten im Raum stehen. So stand er lange da. »Wir nehmen an, daß sie im Schmutzwäschekorb hinausgebracht worden ist«, sagte er dann endlich, und er schien mit sich selbst zu sprechen. »Was also bedeutet, daß sie irgendwo versteckt war, als die beiden Agenten um kurz nach 227
sieben im Zimmer waren.« »Oder sie hat sich versteckt«, sagte Yngvar. »Was?« Warren drehte sich zu ihm um und lächelte verdutzt. »Sie kann versteckt gewesen sein«, sagte Yngvar. »Aber es ist auch möglich, daß sie sich versteckt hat. Das eine ist etwas passiver als das andere.« Warren schlenderte zum Fenster. Dort blieb er stehen und kehrte Yngvar den Rücken zu. Er lehnte seine Schulter gleichgültig gegen den Fensterrahmen und schien die Aussicht über den Oslofjord zu bewundern. »Du meinst also, sie kann daran beteiligt gewesen sein«, sagte er plötzlich, ohne sich umzudrehen. »Daß die Präsidentin der USA ihr eigenes Verschwinden in einem fremden Land inszeniert. So, so.« »Das habe ich nicht gesagt«, sagte Yngvar. »Ich wollte nur andeuten, daß es viele Erklärungen gibt. Und bei einer Ermittlung dieses Ausmaßes muß man alle Möglichkeiten offenhalten.« »Ausgeschlossen«, sagte Warren ruhig. »Helen würde ihr Land niemals in eine solche Situation bringen. Niemals.« »Helen«, wiederholte Yngvar überrascht. »Kennst du sie so gut?« »Ja.« Yngvar wartete auf eine nähere Erklärung. Die kam nicht. Statt dessen wanderte Warren jetzt durch die Suite, noch immer schlendernd, noch immer mit den Händen in den Hosentaschen. Es war schwer zu sagen, wonach er eigentlich suchte, seine Blicke aber waren überall. Yngvar schaute heimlich auf die Uhr. Es war zwanzig vor sechs. Er wollte nach Hause. Er wollte Inger Johanne anrufen und feststellen, worum es bei ihrer Eskapade eigentlich ging, 228
und nicht zuletzt, wo sie war. Wenn er bald aufbrach, konnte er sie und Ragnhild noch an diesem Abend nach Hause holen. »Wir können also davon ausgehen, daß die Agenten die Räume nur oberflächlich überprüft haben, ehe sie davongestürzt sind«, sagte Yngvar, in dem Versuch, dem Amerikaner weitere Mitteilungen zu entlocken. »Und da gibt es viele mögliche Verstecke. Die Schränke dahinten, zum Beispiel. Habt ihr übrigens die Männer vernommen? Sie gefragt, was sie hier drinnen gemacht haben?« Warren blieb vor der doppelten Schranktür aus heller Eiche stehen. Er öffnete sie nicht. »Das ist wirklich ein schön eingerichteter Raum«, sagte er. »Die skandinavische Holzverarbeitung gefällt mir gut. Und die Aussicht …« Er streckte den rechten Arm aus und ging wieder auf das Fenster zu. »Die ist großartig. Abgesehen von der Baustelle da unten. Was soll das werden?« »Eine Oper«, sagte Yngvar und trat einen Schritt auf ihn zu. »Deshalb der Hotelname. Aber hör jetzt her, Warren, mit dieser Geheimniskrämerei ist niemandem gedient. Ich sehe ja ein, daß dieser Fall Folgen für die USA haben kann, in die wir keinen Einblick nehmen können oder dürfen. Aber …« »Wir sagen euch, was ihr wissen müßt. Also immer mit der Ruhe.« »Cut the crap«, fauchte Yngvar. Waren fuhr herum. Er lächelte, als finde er Yngvars Ausbruch amüsant. »Unterschätz uns bloß nicht«, sagte Yngvar, die ungewohnte Wut färbte seine Wangen rot. »Das wäre eine Dummheit. Unterschätz mich nicht. Du solltest es besser wissen.« Warren zuckte mit den Schultern und öffnete den Mund, um 229
etwas zu sagen. »Du hast den Mann im Film erkannt«, sagte Yngvar wütend. »Keiner von uns, die dabei waren, hatte da irgendwelche Zweifel. Und man braucht nicht seit fast dreißig Jahren Polizist zu sein, um zu begreifen, daß dieser Bursche die ganze Nacht im Zimmer verbracht haben muß. Du suchst hier nicht in erster Linie das Versteck der Präsidentin. Sie kann überall gewesen sein. Unter dem Bett, im Schrank.« Yngvar zeigte auf die Wände des Zimmers. »Sie kann sich sogar hinter den Vorhängen versteckt haben«, sagte er. »Wenn wir bedenken, was für einen beschissenen …« Eine feine Speicheldusche traf Warrens Gesicht. Er verzog keine Miene, und Yngvar trat noch einen Schritt auf ihn zu, holte Atem und redete weiter: »… was für eine unvorstellbar miese Arbeit eure Superagenten am Tatort geleistet haben, hätte die Frau verdammt nochmal an der Deckenlampe hängen können, ohne entdeckt zu werden.« »Sie hatten Angst«, sagte Warren. »Wer?« »Die Agenten. Das haben sie natürlich nicht gesagt. Aber das hatten sie. Und Menschen, die Angst haben, leisten nur selten gute Arbeit.« »Angst? Angst? Willst du mir erzählen, daß die besten Sicherheitsagenten der Welt … daß deine Gurkhajungs Angst hatten?« Warren trat endlich einen Schritt zurück. Seine gleichgültige Miene mußte Platz machen für etwas, das an Skepsis erinnerte. Yngvar deutete es als Arroganz. »Das paßt nicht zu dir«, sagte der Amerikaner. »Du kennst mich nicht.« »Ich kenne deinen Ruf. Warum, glaubst du, habe ich gerade dich als Verbindungsmann haben wollen?« 230
»Da habe ich mich auch schon gefragt«, sagte Yngvar, jetzt ruhiger. »Die Gurkhas waren Soldaten. Der Secret Service ist keine Armee.« »Auch egal«, murmelte Yngvar. »Aber du hast recht. Ich will wissen, wo der Mann im Anzug sich versteckt haben kann.« »Dann laß uns doch suchen, um Himmelswillen!« Warren zuckte mit den Schultern und zeigte auf das Nachbarzimmer. Yngvar nickte und ging auf die offene Tür zu. Einen Moment lang blieb er stehen, um Warren den Vortritt zu lassen. Der Amerikaner stand mitten im Raum. Er starrte einen Punkt an der Decke an. »Die Belüftungsanlage ist überprüft worden«, sagte Yngvar ungeduldig. »Ein Metallgitter in der Röhre, zwei Meter vor der Deckenöffnung, versperrt den Weg. Und daran hat niemand sich zu schaffen gemacht.« »Aber dieses Ventil hier«, sagte Warren, seine Stimme klang heller, als er den Kopf weit in den Nacken legte. »Da sind deutliche Spuren an den Muttern. Siehst du?« »Natürlich sind da Spuren«, sagte Yngvar und blieb in der Tür zum Arbeitszimmer stehen. »Die Polizei hat es herausgenommen, um festzustellen, ob das Röhrensystem ein Fluchtweg sein könnte.« »Aber wir wissen jetzt mehr«, sagte Warren und zog einen Stuhl heran. »Jetzt suchen wir nicht nach einem Fluchtweg, sondern nach einem Versteck, oder?« Er stieg auf den Stuhl, setzte vorsichtig auf jede Armlehne einen Fuß und zog ein Schweizer Messer aus der Jackentasche. »Setzt der Secret Service keine Hunde ein?« fragte Yngvar. »Doch.« Warren hatte einen kleinen Schraubenzieher aus dem roten 231
Messer geklappt. »Hatten die Hunde denn nicht auf Menschengeruch unter der Decke reagiert?« »Madam President ist allergisch«, stöhnte Warren und löste eine der vier Schrauben, die eine durchlöcherte Metallplatte unter der Decke festhielten. »Der Secret Service setzt die Suchhunde ein, rechtzeitig bevor sie selber eintrifft. Dann kann man noch ausgiebig staubsaugen. Hilf mir bitte mal.« Er löste die letzte Schraube im Metallgitter. Das war quadratisch und knapp unter einem halben Meter breit. Warren konnte es gerade noch auffangen, als es plötzlich aus der Decke fiel. »Hier«, sagte er und reichte es Yngvar. »Ich nehme an, daß Fingerabdrücke und das alles längst überall gesichert wurden?« Yngvar nickte. Warren sprang bemerkenswert elegant auf den Boden. »Ich brauche etwas Höheres als das hier zum Stehen«, sagte er und schaute sich um. »Ich möchte da oben lieber nichts berühren.« »Schau mal«, sagte Yngvar leise, er hob die Metallplatte hoch und musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. »Sieh dir das an, Warren.« Der Amerikaner beugte sich zu ihm vor. Ihre Köpfe streiften sich leicht und Warren schaute über seinen Brillenrand. »Leim? Klebeband?« Er ließ den Schraubenzieher zurück ins Messer schnappen und klappte eine Ahle hervor. Vorsichtig kratzte er in der fast durchsichtigen, anscheinend klebrigen Masse herum; sie konnte unmöglich mehr als einen halben Millimeter breit sein und war vielleicht einen halben Zentimeter lang. »Vorsichtig«, mahnte Yngvar. »Ich schicke es zur Analyse.« »Leim«, wiederholte Warren und rückte seine Brille gerade. 232
»Vielleicht die Reste von doppelseitigem Klebeband?« Yngvar schaute unwillkürlich zur Decke hoch, wo eine Kante aus emailliertem Metall um das offene Loch lief. Das Licht im Zimmer machte es unmöglich, Details im Schacht zu erkennen. Nur der Reflex einer Tischlampe verriet, daß das Entlüftungsrohr aus mattem Aluminium bestand. Aber die zwei winzigen Flecken in dem weißen Rahmen interessierten ihn mehr als der Hohlraum dahinter. »Wir brauchen unbedingt etwas, um darauf zu stehen«, sagte Warren und ging auf die Tür zum Nebenzimmer zu. »Vielleicht können wir …« Der Rest erstarb in Gemurmel. »Ich rufe die Spurensicherung«, sagte Yngvar. »Das fällt in den Aufgabenbereich der Osloer Polizei und ich …« Warren gab keine Antwort. Yngvar folgte ihm in das kleinere Zimmer. Ein großer Schreibtisch stand schräg mitten im Raum. Die Platte war leer, abgesehen von einem Blumenarrangement und einer Ledermappe, die vermutlich Briefpapier enthielt. Vor den Glastüren zur Terrasse stand eine Chaiselongue mit Seidenkissen in Rosatönen. Sie paßten zu den Vorhängen und einer Wand mit einer Tapete in einem japanisch-inspirierten Muster. An der gegenüberliegenden Wand, hinter einer kleinen Sitzgruppe, stand ein solides hölzernes Bücherregal. Es mochte anderthalb Meter hoch sein. Der Amerikaner versuchte, es vorzuziehen. »Das ist nicht befestigt«, sagte er und riß ein Dutzend Bücher und ein Glasgefäß heraus. »Hilf mir mal kurz.« »Das ist nicht unsere Aufgabe«, sage Yngvar und zog sein Telefon heraus. »Hilf mir«, sagte Warren. »Ich will nur sehen. Nichts 233
anrühren.« »Nein. Ich rufe jetzt Verstärkung.« »Yngvar«, sagte Warren resigniert und breitete die Arme aus. »Du hast es selbst gesagt. Diese Suite ist kreuz und quer durchsucht worden, alle Spuren wurden gesichert. Trotzdem haben sie … hat irgendwer eine Kleinigkeit übersehen. Du und ich, wir sind beide erfahrene Polizisten. Wir werden nichts zerstören. Wir wollen uns nur mal umschauen. Okay? Dann können deine Leute kommen und ihre Arbeit tun.« »Das sind nicht meine Leute«, murmelte Yngvar. Warren lächelte und zog am Bücherregal. Yngvar zögerte noch einen Moment, ehe er widerwillig das andere Ende packte. Zusammen konnten sie das Regal ins größere Zimmer bugsieren und unter den offenen Schacht stellen. »Hältst du fest?« Yngvar nickte und Warren stellte den Fuß versuchsweise auf das zweite Regalbrett von unten. Das trug ihn problemlos, und mit der rechten Hand auf Yngvars Schulter kletterte er weiter, bis er ganz oben stand. Er mußte den Kopf einziehen, um sich die winzigen Flecke ansehen zu können. »Auch hier Klebstoff«, murmelte er, ohne die Flecken zu berühren. »Scheint derselbe Stoff zu sein wie auf der Platte.« Er schob den Kopf in den Schacht. »Platz genug«, stellte er fest, seine Stimme klang hohl und verzerrt im Echo der Metallwände. »Es ist durchaus möglich …« Der Rest war einfach nicht zu verstehen. »Was hast du gesagt?« Warren zog den Kopf aus dem Loch in der Decke. »Wie ich gedacht habe«, sagte er. »Das ist groß genug für einen erwachsenen Mann. Und deine Freunde …« 234
Er ging in die Knie und ließ sich auf den Boden fallen. »Ich hoffe, die haben im Schacht Spuren gesichert, ehe sie reingekrochen sind, um das Gitter zu untersuchen.« »Das haben sie bestimmt.« »Aber das hier haben sie übersehen«, sagte Warren und beugte sich wieder über die Platte. »Das wissen wir eigentlich nicht.« »Wären denn noch Reste vorhanden, wenn sie das entdeckt hätten? Hätten sie dann nicht die ganze Platte zur Untersuchung mitgenommen?« Yngvar gab keine Antwort. »Und das«, sagte Warren und zeigte mit dem Klappmesser auf einen Punkt mitten auf der Platte. »Siehst du das da? Die Kratzer?« Yngvar kniff die Augen zusammen und bemerkte einen fast unsichtbaren Strich in dem weißen Metall. Irgendwer hatte an der Emaillierung herumgekratzt, ohne sie wirklich zu durchbohren. »Genial in seiner ganzen Schlichtheit«, sagte er leise. »Ja«, sagte Warren. »Jemand hat die Platte losgeschraubt, hat durch das mittlere Loch einen Splint an einem Draht oder Band gezogen, hat die Ränder der Platte mit doppelseitigem Klebeband beklebt …« »Und ist reingeklettert«, vollendete Warren. »Und dann brauchte er die Platte nur noch hochzuziehen, und schon saß sie wieder fest. Da hat er gelegen. Das erklärt seine kleine Leiter.« Er zeigte mit dem Daumen an die Decke. »Er brauchte nur herauszusteigen, als …« »Aber wie zum Teufel ist er denn überhaupt hier reingekommen«, fiel Yngvar ihm ins Wort. »Kannst du mir erklären, wie irgendein Mensch sich in eine Suite schleichen 235
kann, die von der Präsidentin der USA benutzt werden soll, um dann das alles vorzubereiten …« Er zeigte auf die Decke und dann auf die Platte auf dem Tisch. »… in einen Belüftungskanal zu kriechen, herauszusteigen, sich die Präsidentin zu schnappen und damit einfach durchzukommen?« Er räusperte sich, ehe er leise und resigniert weitersprach. »Und das alles in einem Hotelzimmer, das von der norwegischen Polizei und dem amerikanischen Secret Service noch wenige Stunden, ehe die Präsidentin schlafengehen wollte, durchgekämmt worden ist? Wie ist das möglich? Wie kann das überhaupt angehen?« »Es gibt hier viele lose Enden«, sagte Warren und legte dem Norweger eine Hand auf die Schulter. Yngvar machte eine fast unmerkliche Bewegung, und Warren entfernte seine Hand. »Wir müssen feststellen, wann die Überwachungskameras eingeschaltet worden sind«, sagte er rasch. »Und ob sie jemals ausgeschaltet wurden. Wir müssen herausfinden, wann das Zimmer vor Madam Presidents Rückkehr vom Essen zuletzt durchsucht worden ist. Wir müssen …« »Nicht wir«, sagte Yngvar und zog abermals sein Telefon hervor. »Ich hätte schon längst jemanden rufen müssen. Das ist die Aufgabe der Ermittler. Nicht deine. Nicht meine.« Er ließ Warrens Blick nicht los, während er darauf wartete, daß sich am anderen Ende jemand meldete. Der Amerikaner sah noch immer so ausdruckslos aus wie eine knappe halbe Stunde zuvor, als sie die Suite betreten hatten. Als Yngvar Kontakt bekam, drehte er sich um und ging langsam an die Fenster zum Fjord, während er ein leises Gespräch führte. Warren Scifford ließ sich in einen Sessel sinken. Er starrte zu Boden. Seine Arme hingen schlaff nach unten, als wisse er nicht 236
so recht, wohin damit. Sein Anzug sah nicht mehr so elegant aus. Er hing schief, und der Schlipsknoten hatte sich gelockert. »Stimmt was nicht?« fragte Yngvar, als er sein Gespräch beendet hatte und sich umdrehte. Warren rückte eilig den Schlips zurecht und erhob sich. Seine Verwirrung war so rasch verflogen, daß Yngvar nicht sicher sein konnte, ob er richtig gesehen hatte. »Nichts«, sagte Warren und lachte kurz. »Im Moment stimmt gar nichts. Gehen wir?« »Nein. Ich warte hier auf meine Kollegen. Das dauert sicher nicht sehr lange.« »Dann«, sagte Warren und wischte sich etwas vom linken Jackenärmel, »… hoffe ich, daß du nichts dagegen hast, wenn ich mich jetzt zurückziehe.« »Durchaus nicht«, sagte Yngvar. »Ruf einfach an, wenn du mich brauchst.« Er hätte Warren gern gefragt, wo der hinwollte, aber etwas hielt ihn zurück. Wenn der Amerikaner vorhatte, hier den Geheimniskrämer zu spielen, wollte Yngvar nicht als Spielverderber auftreten. Yngvar hatte andere Sorgen.
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20 »Ich habe ganz andere Sorgen«, sagte er und nahm das Telefon von der rechten in die linke Hand, während er sich auf den Beifahrersitz eines Einsatzwagens der Osloer Polizei setzte. »Ich war seit heute morgen halb acht im Dienst und jetzt will ich nach Hause.« »Du bist der Beste«, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung. »Du bist der Beste, Yngvar, und das hier ist unser erster kleiner Erfolg.« »Nein.« Yngvar Stubø war ganz ruhig, als er für einen Moment die Hand auf den unteren Teil des Telefons legte und dem Fahrer zuflüsterte: »Hauges vei 4, bitte. Vom Maridalsvei aus, gleich vor der Abfahrt nach Nydalen.« »Hallo«, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Ich bin noch da. Ich will nach Hause. Ihr habt mich als Verbindungsmann eingesetzt, und ich bemühe mich, meinen Auftrag so gut es geht zu erfüllen. Es ist einfach … unprofessionell, mich plötzlich in andere …« »Das ist im Gegenteil ziemlich professionell«, sagte Polizeipräsident Bastesen. »Bei diesem Fall müssen wir die ganze Zeit die besten Kräfte im Land einsetzen. Ganz unabhängig von Dienstplänen, Rang und Überstunden.« »Aber …« »Wir haben das natürlich mit deinen Vorgesetzten abgeklärt. Du kannst das als Befehl betrachten. Komm also her.« Yngvar schloß die Augen und atmete langsam aus. Er öffnete sie wieder, als der Fahrer im Kreisverkehr am Einkaufszentrum Oslo City plötzlich bremste. Ein Junge in einem ramponierten Golf fädelte sich in viel zu hohem Tempo vor ihnen ein. 238
»Pläne geändert«, sagte Yngvar resigniert und beendete sein Telefonat. »Fahr zum Präsidium. Einigen ist dieser Tag offenbar noch nicht lang genug.« Ein lautes Knurren war zu hören. Yngvar klopfte sich auf den Bauch und lächelte den Fahrer verlegen an. »Und halt bei einer Tankstelle an«, fügte er hinzu. »Ich muß eine Wurst oder drei einwerfen.«
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21 Abdallah al-Rahman hatte Hunger, mußte aber noch einiges erledigen, ehe er die letzte Mahlzeit des Tages zu sich nehmen konnte. Vor allem wollte er nach seinem jüngsten Sohn sehen. Rashid schlief tief, mit einem weichen Spielzeugpferd unter dem Arm. Der Junge hatte endlich den erquengelten Film sehen dürfen und lag mit gespreizten Beinen und einem Ausdruck vollkommener Zufriedenheit auf dem Rücken. Die Decke hatte er längst weggestrampelt. Seine kohlschwarzen Haare waren zu lang. Die Locken sahen auf der weißen Seide aus wie Streifen aus fettem Öl. Abdallah sank in die Knie und deckte den Jungen vorsichtig zu. Er küßte ihn auf die Stirn und legte das Pferd neben ihn. Sie hatten sich Die hard mit Bruce Willis angesehen. Der fast zwanzig Jahre alte Hollywoodstreifen war Rashids Lieblingsfilm. Keiner der älteren Brüder begriff, warum. Für sie war Die hard längst veraltet, mit müden Spezialeffekten und einem Helden, der nicht einmal ein harter Hund war. Für den sechs Jahre alten Rashid waren die Actionszenen perfekt, wie im Comic und unwirklich und deshalb kein Grund, sich wirklich zu fürchten. Außerdem waren 1988 Terroristen Osteuropäer gewesen. Für Araber war es damals noch zu früh. Abdallah schaute zu dem großen Filmplakat über dem Bett hoch. Die Nachttischlampe, die Rashid noch immer brennen lassen durfte, weil er Angst vor der Dunkelheit hatte, warf ein schwaches rötliches Licht über Bruce Willis’ zerschundenes Gesicht. Es war halbwegs vom Nakatomi Plaza verdeckt, einem nach einer Explosion brennenden Turm. Der Mund des Schauspielers stand offen, fast verdutzt, und sein Blick richtete sich starr auf das Unvorstellbare: einen Terrorangriff auf einen 240
Wolkenkratzer. Abdallah stand auf und ging. Eine Weile blieb er in der Türöffnung stehen. Im Halbdunkel wurde Bruce Willis’ Mund zu einem großen schwarzen Loch. In seinen Augen glaubte Abdallah die gelbroten Reflexe der gewaltigen Explosion sehen zu können, die beginnende Wut. So haben sie reagiert, dachte er, genau so, dreizehn Jahre, nachdem der Film gedreht worden war. Schock und Ungläubigkeit, Ohnmacht und Entsetzen. Und dann, nachdem die Gesellschaft in den USA eingesehen hatte, daß das Unvorstellbare zur Wirklichkeit geworden war, kam die Wut. Der Terrorangriff am 11. September 2001 war das Werk von Verrückten gewesen. Abdallah hatte das sofort begriffen. Ein Kontakt in Europa hatte ihn aufgebracht angerufen, und er sah gerade noch, wie Flug 175 der United Airlines den Südturm traf. Der Nordturm stand bereits in Flammen. Es war kurz nach sechs Uhr abends in Riad, und Abdallah hatte es nicht geschafft, sich hinzusetzen. Zwei Stunden lang hatte er vor dem Fernseher gestanden. Als er sich endlich losriß, um einige der eingegangenen Anrufe zu beantworten, war ihm aufgegangen, daß der Angriff auf das World Trade Center für die arabische Welt ebenso schicksalhaft sein könnte wie der auf Pearl Harbor es für die Japaner gewesen war. Abdallah schloß die Zimmertür seines Sohnes. Er hatte vor dem Essen noch etwas zu erledigen. Er ging auf den Büroteil des Palastes zu, auf den Ostflügel, wo die Morgensonne, ehe sie zu warm wurde, den Beginn des Arbeitstages überfluten konnte. Jetzt war das Gebäude dunkel und still. Die wenigen Angestellten, die er hier draußen benötigte, wohnten in einem kleinen Häuserkomplex, den er zwei Kilometer weiter in Richtung Riad hatte bauen lassen. Nur wenige Diener hielten sich nach Feierabend noch im Palast auf. Aber auch sie schliefen 241
ein gutes Stück vom Haupthaus entfernt, in den niedrigen, sandfarbenen Unterkünften beim Tor. Abdallah überquerte den Hof zwischen den Gebäuden. Die Nacht war klar, und er blieb wie immer am Karpfenteich stehen, um die Sterne zu betrachten. Der Palast war weit genug von den Lichtern der Großstadt entfernt, und der Himmel schien von Millionen weißer Punkte durchbohrt zu sein; einige winzig und blinkend, andere große, leuchtende Sterne. Er setzte sich auf eine niedrige Bank und spürte die Abendbrise im Gesicht. Abdallah war Pragmatiker, wenn es um Religion ging. Seine Familie ehrte die muslimischen Traditionen, und er ließ die Söhne zusätzlich zur anstrengenden akademischen Ausbildung im Koran unterrichten. Er glaubte an die Worte des Propheten, er hatte seine Hadsch hinter sich und bezahlte stolz zakah. Für ihn war das aber trotzdem eine persönliche Angelegenheit, etwas, was nur ihn und Allah anging. Er betete fünfmal täglich, aber nicht, wenn die Zeit knapp war. Das war sie immer häufiger, was ihm aber keine Sorgen machte. Abdallah alRahman war überzeugt davon, daß Allah, falls Er sich überhaupt dafür interessierte, größtes Verständnis dafür hatte, daß Geschäfte wichtiger sein konnten, als die salah-Regeln bis ins ITüpfelchen einzuhalten. Und er hatte sehr viel dagegen, Politik und Religion zu mischen. Allah als einzigen Gott und den Propheten Mohammed als Seinen Boten zu ehren, war eine geistige Übung. Politik, und damit auch Geschäfte, hatten nichts mit Geist zu tun, sondern mit Realitäten. Abdallah hielt die Trennung zwischen Religion und Politik nicht nur um der Politik willen für wichtig. Noch wichtiger war es ihm, das Reine, Erhabene des Glaubens vor dem oft brutalen Zynismus der notwendigen politischen Prozesse zu schützen. Im Geschäftsleben war er ein Ungläubiger, ohne andere Götter als er selbst. 242
Als Al-Qaida im September 2001 die USA angriff, war er ebenso empört gewesen wie die meisten der sechs Milliarden Menschen auf der Welt. Er fand den Angriff entsetzlich. Abdallah al-Rahman sah sich selbst als Krieger. Seine Verachtung für die USA war so groß wie der Haß der Terroristen auf dieses Land. Mord war außerdem ein Mittel, das Abdallah akzeptierte und bisweilen auch anwandte. Aber es mußte präzise benutzt werden, und nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Blind zuzuschlagen war immer von Übel. Er selbst hatte mehrere der in Manhattan umgekommenen Menschen gekannt. Drei hatten auf seiner Gehaltsliste gestanden. Ohne das zu wissen, natürlich. Die meisten seiner Firmen in den USA befanden sich im Besitz von Holding-Gesellschaften, die wiederum mit internationalen Konglomeraten verbunden waren, was die tatsächlichen Besitzverhältnisse wirkungsvoll verschleierte. Über die üblichen Umwege sorgte Abdallah dafür, daß die Familien der Umgekommenen keinen finanziellen Schaden litten. Sie waren allesamt Amerikaner und ahnten nicht, daß die großzügigen Schecks, die die Arbeitgeber der Toten ausstellten, von einem Mann mit demselben Heimatland wie Osama bin Laden stammten. Blind zuzuschlagen war nicht nur von Übel, sondern außerdem unvorstellbar töricht. Abdallah fiel es schwer zu begreifen, daß ein intelligenter und gebildeter junger Mann sich auf stupiden Terror verlegen konnte. Abdallah kannte den Al-Qaida-Anführer gut. Sie waren ungefähr gleich alt und beide in Riad geboren. In ihrer Jugend hatten sie in denselben Kreisen verkehrt, einer Clique von Söhnen aus reichen Familien, die die zahllosen Prinzen aus dem Hause Saud umgab. Abdallah hatte Osama gemocht. Er war ein 243
freundlicher Junge gewesen, sanft, aufmerksam und viel weniger prahlerisch als die anderen Jugendlichen, die sich in ihrem Reichtum suhlten und nur selten versuchten, die aus den riesigen Wüsten des Landes hochgepumpten Familienvermögen zu hüten. Osama war ein guter, intelligenter Schüler, und die beiden Jungen hatten oft zusammen in einer Ecke gesessen, um leise über Philosophie und Politik, über Religion und Geschichte zu sprechen. Als durch den Tod von Abdallahs Bruder das verantwortungslose Leben als jüngster Sohn ein Ende nahm, hatte Abdallah den Kontakt zu Osama verloren. Der spätere Terroristenführer erlebte gegen Ende der 70er Jahre eine politisch-religiöse Erweckung, ein Prozeß, der an Tempo gewann, als die Sowjetunion sich zur Invasion in Afghanistan entschloß. Ihre Wege trennten sich, und sie hatten sich niemals wiedergesehen. Abdallah stand von der Bank auf. Er reckte die Arme gen Himmel und spürte, wie seine Muskeln bis zum Zerreißpunkt gedehnt wurden. Die kühle Abendluft tat ihm gut. Langsam schlenderte er zum Ostflügel. Al-Qaidas Angriff auf die USA war eine Handlung, die auf purem Haß basierte, dachte er, so wie er in Gedanken immer wieder zu seiner Verwunderung über das fehlende Verständnis seines Jugendfreundes für westliche Verhältnisse zurückkehrte. Abdallah kannte die Grenzen, die der Haß zieht. Als er sich nach dem Tod des Bruders in der Schweiz erholte, hatte er begriffen, daß Haß ein Gefühl war, das er sich niemals gestatten durfte. Schon damals, mit sechzehn Jahren, hatte er eingesehen, daß die Rationalität die wichtigste Waffe eines jeden Kriegers war und Vernunft sich mit Haß nicht vereinen ließ. Haß erzeugte noch dazu immer neuen Haß. Drei Gebäude zu treffen, vier Flugzeuge abstürzen zu lassen 244
und etwa dreitausend Menschen zu töten, hatte ausgereicht, um einen so gewaltigen Gegenhaß und eine solche Furcht auszulösen, daß die Menschen sich von ihren eigenen Regierungen ungeheure Zumutungen gefallen ließen. In der Hoffnung, niemals wieder derart getroffen zu werden, war die Bevölkerung der USA bereit, ihre eigene Verfassung zu unterhöhlen, überlegte Abdallah. Sie fanden sich mit Telefonüberwachung und willkürlichen Verhaftungen ab, mit Durchsuchungen und Bespitzelungen, in einem Ausmaß, das mehr als zwei Jahrhunderte hindurch unvorstellbar gewesen wäre. Die Amerikaner hatten ihre Reihen geschlossen, dachte Abdallah, so wie alle Völker zu allen Zeiten ihre Reihen gegen äußere Feinde geschlossen haben. Er öffnete die große, mit schönem Schnitzwerk verzierte Tür zu seinem Büro. Die Schreibtischlampe brannte und warf einen gelben Lichtschein auf die vielen Teppiche auf dem Boden. Die Computeranlage summte leise, und ein schwacher Zimtduft ließ ihn einen Schrank neben dem Fenster öffnen. Eine dampfend heiße Kanne Tee stand auf einem Silbergestell bereit, dafür sorgte der letzte Diener immer, ehe er sich aus dem Büroflügel zurückzog und Abdallah seine abendlichen Verpflichtungen in Einsamkeit absolvieren ließ. Er goß sich Tee ein. Diesmal würden sie ihre Reihen nicht schließen. Er lächelte kurz bei diesem Gedanken und leerte das halbe Glas, ehe er sich an seinen Rechner setzte. Er brauchte nur wenige Sekunden, um sich zur Homepage von Colonel-Cars durchzuklicken. Dort las er, die Firmenleitung müsse voller Trauer mitteilen, daß der Geschäftsführende Direktor der Gesellschaft, Tom Patrick O’Reilly, bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen sei. Die Firmenleitung sprach der Familie des Verstorbenen ihr tiefempfundenes Mitgefühl aus und konnte versichern, daß die Gesellschaft ihr umfangreiches internationales Engagement in seinem Sinne weiterführen 245
werde, und daß 2005 schon jetzt ein Rekordjahr zu werden schien. Abdallah hatte seine Bestätigung erhalten und loggte sich hinaus. Er dachte nie wieder an seinen alten Kommilitonen Tom O’Reilly.
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22 Der Mann, der soeben die Habseligkeiten seiner toten Mutter aus dem Krankenhaus geholt hatte, schloß die Tür hinter sich ab und ging in sein Wohnzimmer. Einen Moment blieb er unschlüssig stehen und starrte die nichtssagende Tüte an, die Kleider und Rucksack seiner Mutter enthielt. Er hielt sie noch immer in der Hand und wußte nicht so recht, was er damit anfangen sollte. Der Arzt hatte sich Zeit genommen, um mit ihm zu sprechen. Es sei so schnell gegangen, sagte er tröstend, und die Mutter habe kaum mitbekommen, daß etwas nicht stimmte, ehe sie zusammenbrach. Sie sei von einem anderen Waldwanderer gefunden worden, hatte der Arzt berichten können. Aber die alte Dame sei trotzdem unmittelbar vor Eintreffen im Krankenhaus gestorben. Der Arzt hatte warm und offen gelächelt und so ungefähr gesagt, er wünsche sich ebenfalls, dem Tod auf solche Weise gegenüberzutreten, bei vollem Verstand im Wald an einem Maitag und als rüstiger Achtzigjähriger. Achtzig Jahre und fünf Tage, dachte der Sohn und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Niemand konnte sich über ein solches Alter beklagen. Er legte die Tüte auf den Eßtisch. Es kam ihm auf irgendeine Weise nicht richtig vor, sie zu leeren. Er versuchte, seinen Widerwillen zu überwinden, die privaten Habseligkeiten seiner Mutter durchzusehen; es kam ihm vor wie ein Verstoß gegen die Regel Nummer eins seiner Kindheit: Finger weg von anderer Leute Sachen. Der Rucksack lag ganz oben. Vorsichtig öffnete er den Deckel. Da lag eine Proviantdose aus Blech. Die nahm er heraus. Vor langer Zeit hatte auf dem Deckel ein Bild des Geirangerfjords in strahlendem Sonnenschein mit einem alten 247
Luxusdampfer mitten auf dem Fjord geprangt. Jetzt gab es nur noch Überreste von schmutzigblauem Meer und gräulichem Himmel. Er hatte ihr einige Jahre zuvor eine neue Proviantdose aus knallrotem Kunststoff geschenkt. Die hatte sie sofort gegen einen Quirl eingetauscht, denn es hatte doch keinen Sinn, eine absolut brauchbare Proviantdose zu ersetzen. Er lächelte beim Gedanken an die mürrische Miene seiner Mutter, wenn er versucht hatte, ihr etwas Neues aufzudrängen, als er den restlichen Inhalt des alten grauen Rucksacks auf den Tisch kippte. Eine Thermoskanne, ein Stück Schokoladenpapier. Eine abgegriffene Karte von Nordmarka. Einen Kompaß, der jedenfalls nicht wußte, wo Norden war; der rote Pfeil irrte hin und her, als habe er von dem Alkohol getrunken, in dem er lag. Ihr Wanderanorak lag unter dem Rucksack. Er zog ihn hervor und schmiegte sein Gesicht hinein. Der Geruch von alter Frau und Wald trieb ihm wieder die Tränen in die Augen. Er hielt die Jacke von sich ab und wischte vorsichtig Zweige und Blätter weg, die an dem einen Ärmel festklebten. Etwas fiel aus der Tasche. Er faltete die Jacke sorgfältig zusammen und legte sie neben die Gegenstände, die er aus dem Rucksack genommen hatte. Dann bückte er sich nach dem, was auf den Boden gefallen war. Eine Brieftasche? Sie war aus Leder und ziemlich klein. Trotzdem fühlte sie sich in seiner Hand überraschend schwer an. Er öffnete sie und ertappte sich bei einem lauten Lachen. Er durfte nicht lachen, und er schluchzte und schniefte und riß die Augen auf, um nicht zu weinen. Das Lachen wollte ihn nicht loslassen und das Atmen machte ihm Probleme. Seine achtzig Jahre alte, widerspenstige Mutter war dem Tod mit einem Ausweis des Secret Service in der Tasche gegenübergetreten. 248
Die Brieftasche ließ sich wie ein kleines Buch öffnen. Auf der rechten Seite saß ein gelbes Metallschild, auf dem ein Adler über einem Wappen mit einem Stern in der Mitte die Schwingen ausbreitete. Dieses Bild erinnerte ihn an den Sheriffstern, den er mit acht Jahren von seinem Vater bekommen hatte, und jetzt lachte er nicht mehr. Auf der linken Seite, in einer durchsichtigen Plastiktasche, steckte ein Ausweis. Der gehörte einem Mann namens Jeffrey William Hunter. Einem gutaussehenden Mann, dem Foto nach zu urteilen. Er hatte kurzgeschnittenes volles Haar und einen ernsten Ausdruck in den großen Augen. Der Mann mittleren Alters, der soeben seinen letzten Elternteil verloren hatte, war Taxifahrer. Sein Dienst hatte längst begonnen, und der Wagen stand ungenutzt vor dem Haus. Er hatte sich nicht krankgemeldet. Durch die Stadt zu fahren, war sicher auch nicht schlechter, als allein zu Hause zu sitzen und der Trauer ihren Lauf zu lassen, hatte er gedacht. Jetzt war er sich nicht mehr sicher. Er musterte das goldene Abzeichen mit seinen vielen Details. Aber wie er die Sache auch drehte und wendete, er konnte nicht begreifen, wieso seine Mutter ein solches Teil bei sich trug. Die einzige Antwort, die ihm einfiel, war, daß sie es sicher im Wald gefunden hatte. Irgendwer mußte es dort verloren haben. In der Stadt wimmelte es doch von solchen Agenten. Er hatte sie selbst gesehen, während des Essens am Abend vor dem Nationalfeiertag in der Umgebung der Festung Akershus. Wieder betrachtete er das Gesicht des fremden Mannes. Er war so ernst, er sah fast ein wenig traurig aus. Der Taxifahrer sprang auf. Er ließ die Habseligkeiten seiner Mutter auf dem Eßzimmertisch liegen und riß die Autoschlüssel vom Haken neben der Wohnungstür. Einen Secret Service-Ausweis durfte man nicht mit der Post schicken. Der konnte doch wichtig sein. Er wollte ihn direkt zur Polizei bringen. Und zwar sofort. 249
23 »Du bist wirklich ein seltenes Exemplar«, sagte Yngvar Stubø. Gerhard Skrøder hing auf seinem Stuhl. Die Beine weit gespreizt, den Kopf gleichgültig in den Nacken gelegt, den Blick auf einen Punkt an der Decke gerichtet. Die dunklen Ringe unter seinen Augen standen in scharfem Kontrast zur übrigen Haut und ließen seine Nase noch größer wirken. Der Mann, der »Kanzler« genannt wurde, hatte weder die Tasse Kaffee noch die Mineralwasserflasche angerührt, die Yngvar Stubø ihm hingestellt hatte. »Ich frage mich«, sagte Stubø und zupfte sich langsam am Ohrläppchen. »Ich frage mich ernsthaft, ob ihr Jungs eigentlich wißt, wie idiotisch dieser Rat wirklich ist. Hör auf zu kippeln!« Die Stuhlbeine knallten auf den Boden. »Welcher Rat?« fragte der Mann widerwillig, verschränkte die Arme vor dem Brustkasten und schielte zu Boden, die beiden hatten noch keinen Blickkontakt gehabt. »Dieser Unsinn, mit dem eure Anwälte euch füttern, daß ihr bei polizeilichen Vernehmungen immer den Mund halten sollt. Kapierst du nicht, wie dumm das ist?« »Voriges Jahr hat’s gewirkt.« Der Mann grinste und zuckte mit den Schultern, ohne sich geradezusetzen. »Außerdem hab ich nix verbrochen, verdammte Scheiße. Ist ja nicht verboten, durch Norwegen zu fahren.« »Da siehst du’s!« Yngvar schmunzelte. Zum ersten Mal blitzte in Gerhard Skrøders Augen etwas auf, das entfernte Ähnlichkeit mit Interesse hatte. 250
»Was zum Teufel meinst du«, fragte er und griff nach der Wasserflasche. Jetzt sah er Yngvar Stubø voll in die Augen. »Ihr haltet immer total die Klappe. Dann wissen wir, daß ihr schuldig seid. Aber damit feuert ihr uns nur an, verstehst du. Wir kriegen von euch Jungs nichts gratis, und umso mehr haben wir Lust, euch eine Breitseite zu verpassen. Und weißt du …« Er beugte sich über den alten, abgenutzten Schreibtisch, der sie trennte. »In Fällen wie diesem, wo du dir einbildest, daß du dich nicht strafbar gemacht hast, kannst du nicht durchhalten. Nicht lange. Es hat …« Er schaute zur Wanduhr hoch. »Dreiundzwanzig Minuten gedauert, und schon hab ich dich zum Reden gebracht. Kapierst du nicht, daß wir euren bescheuerten Code schon längst geknackt haben? Unschuldige reden immer. Wer redet, ist oft schuldig. Wer schweigt, ist immer schuldig. Ich weiß, welche Strategie ich mir aussuchen würde, um das mal so zu sagen.« Gerhard Skrøder fuhr sich mit einem schmutzigen Zeigefinger über den Nasenrücken. Sein Nagel war blau und brüchig. Wieder fing er an, mit dem Stuhl hin und her zu wippen. Er war jetzt nervöser und zog sich die Schirmmütze über die Augen. Yngvar streckte die Hand nach einem A4-Block aus, griff zu einem Filzstift und fing wortlos an zu kritzeln. Gerhard Skrøder war nicht schwer zu finden gewesen. Er amüsierte sich mit einer litauischen Nutte in einem Mietshaus in Grünerløkka. Die Wohnung stand im polizeilichen Register von Zufluchtsorten für Oslos Kriminelle, und die ausgesandte Streife traf gleich beim ersten Versuch ins Schwarze. Wenige Stunden, nachdem Yngvar ihn auf einem verschwommenen Überwachungsfilm von einer rund um die Uhr geöffneten Tankstelle wiedererkannt hatte, saß er im Arrest. Dort hatte er 251
eine oder zwei Stunden schmoren dürfen, bis er beim Anblick von Yngvar Stubø, der ihn abholen kam, laut geflucht hatte. Seither hatte er geschwiegen. Bis jetzt. Die Stille war offenbar schwerer auszuhalten als alle Fragen und Anklagen und Verweise auf fotografisches Beweismaterial, die Yngvar vorbringen konnte. Gerhard Skrøder nagte an seinem Daumennagel, von dem fast nichts mehr übrig war. Sein einer Oberschenkel zitterte. Er räusperte sich und öffnete die Wasserflasche. Yngvar zeichnete weiter, ein psychedelisches Muster mit blutroten Streifen und Sternen. »Ich will jedenfalls auf meinen Anwalt warten«, sagte Gerhard endlich und setzte sich auf. »Und ich habe das Recht zu erfahren, was ihr mir vorwerft. Ich bin nur rumgefahren, mit zwei anderen Leuten. Seit wann ist das denn verboten, hä?« Yngvar steckte sorgfältig die Kappe auf den Filzstift und legte ihn weg. Er schwieg noch immer. »Und wo zum Teufel bleibt Ove Rønbeck«, klagte Gerhard, der seine ursprüngliche Strategie offenbar an den Nagel gehängt hatte. »Du darfst nicht mit mir reden, wenn mein Anwalt nicht dabei ist, das weißt du.« »O doch«, sagte Yngvar. »Das darf ich sehr wohl. Ich darf dich zum Beispiel fragen, ob du neuen Kaffee willst. Den da hast du nicht angerührt, und jetzt ist er kalt.« Gerhard schüttelte vergrätzt den Kopf. »Und ich kann dir auch noch einen anderen Gefallen tun«, sagte Yngvar und erhob sich. Er ging langsam einige Schritte am Tisch entlang, dann setzte er sich, halb von Gerhard abgewandt, auf die Tischkante. »Was denn«, murmelte der Beschuldigte in seine Flasche. »Ist es dir recht, wenn ich dir einen Gefallen tue, ehe dein Anwalt kommt?« 252
»Verdammt, Stubø! Wovon redest du hier eigentlich?« Yngvar schniefte und fuhr sich mit dem Hemdsärmel über die Nase. Es war überraschend kalt im Zimmer. Sicher war die Klimaanlage falsch eingestellt. Vielleicht war das auch so gewollt, damit die ungewöhnlich vielen Beamten im Haus, die rund um die Uhr mit Volldampf an der Arbeit waren, einen kühlen Kopf behielten. Noch jetzt, gegen halb acht, wo die Gänge für gewöhnlich menschenleer und die Türen verschlossen waren, hörte man Türenknallen und Schritte, Stimmen und das Klirren von Schlüsseln, wie an einem hektischen Freitagmorgen im Juni. Seine Jacke hing über der Stuhllehne. Er ließ sich vom Tisch rutschen und griff danach. Als er sie anzog, lächelte er und sagte freundlich: »Ich hab dich noch nie leiden können, Gerhard.« Der Mann kratzte sich an einer verkrusteten Wunde, ohne zu antworten. »Und daran liegt es vielleicht«, sagte Yngvar jetzt und strich sein Revers glatt, »daß ich es ausnahmsweise mal ziemlich gut finde, daß du die Klappe hältst.« Gerhard öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Er überlegte es sich anders, aber ein wenig zu spät, und das Wort wurde zu einem komischen Grunzen, ehe er die Zähne zusammenbiß. Wieder ließ er sich im Stuhl zurücksinken, während er sich wütend im Schritt kratzte. »Ziemlich gut«, wiederholte Yngvar und nickte. Er hatte dem anderen jetzt den Rücken zugekehrt und schien zu einer fiktiven dritten Person zu reden. »Denn ich mag dich nicht. Und so, wie du dich aufführst, kann ich dich auch gleich laufen lassen.« Er fuhr herum und zeigte gebieterisch auf die geschlossene Tür. »Ich kann dich laufenlassen«, sagte er. »Denn die da draußen 253
haben ganz andere Mittel, als ich sie benutzen kann. Ganz andere.« Er lachte leise, als finde er die Vorstellung, Gerhard Skrøder laufenzulassen, wahnsinnig komisch. »Wie meinst du das?« »Ich denke, ich habe mich entschieden«, sagte Yngvar und wieder schien er sich nicht an Gerhard zu richten. »Dann bleibt mir dieser Quatsch erspart. Dann kann ich nach Hause gehen. Feierabend machen.« Er klopfte sich auf die Jacke, wie um sich davon zu überzeugen, daß er Brieftasche und Schlüssel bei sich hatte. »Und dann brauche ich dich nie mehr wiederzusehen. Ein Gauner weniger, für den wir bei der Polizei unsere Mittel verschwenden müssen.« »Was redest du da eigentlich, zum Teufel?« Gerhard schlug mit der Faust auf den Tisch. »Du wolltest doch auf deinen Anwalt warten«, sagte Yngvar lächelnd. »Und da kannst du doch einfach hier sitzen bleiben. Allein. Ich sorge dafür, daß er nicht viel zu tun hat. Du wirst auf freien Fuß gesetzt, sowie der Papierkram geregelt ist. Ich wünsche dir noch einen richtig schönen Abend, Gerhard.« Er ging auf die Tür zu, schloß auf und wollte sie schon öffnen. »Warte! Warte!« Yngvar ließ die Hand auf der Klinke ruhen. »Was ist?« fragte er. »Von wem redest du da eigentlich? Wer kann denn, was meinst du … was zum Teufel redest du da?« »Aber Gerhard … du wirst doch ›Kanzler‹ genannt, oder nicht? Da könnte man doch meinen, bei dem Titel hättest du ein bißchen Ahnung von internationalen Beziehungen.« »Scheiße, ich …« 254
Eine dünne Schweißschicht überzog jetzt das fahle Gesicht und Gerhard riß sich endlich die Mütze vom Kopf. Seine fettigen Haare klebten platt an der Kopfhaut und eine Strähne fiel ihm in die Augen. Er versuchte, sie wegzupusten. »Denkst du an die Amerikaner?« fragte er. »Alle neune!« sagte Yngvar lächelnd. »Viel Glück.« Er drückte die Klinke nach unten. »Warte! Jetzt warte doch, Stubø! Die Amis dürfen doch hier wohl nicht …« Yngvar lachte laut. Er legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend los. Die nackten Wände des kahlen Zimmers ließen das Lachen scharf und kantig klingen. »Die Amis dürfen? Die Amis?« Er lachte dermaßen, daß er fast nicht sprechen konnte. Er ließ die Klinke los und hielt sich den Bauch, er schüttelte den Kopf und keuchte. Gerhard Skrøder saß mit offenem Mund da und starrte ihn an. Er hatte lange Erfahrung mit der Polizei und wußte schon gar nicht mehr, wie oft er schon von irgendeinem Idioten vernommen worden war. Aber so etwas war ihm noch nie passiert. Sein Puls wurde schneller. Er spürte, wie das Blut in seinen Ohren pochte und sein Hals sich zusammenschnürte. Rote Flecken wuchsen unter seinen Augen. Er zerknüllte die Schirmmütze zwischen den Händen. Als Yngvar Stubø sich mit der Hand gegen die Wand stützen mußte, um nicht vor Lachen zusammenzubrechen, wühlte Gerhard Skrøder fieberhaft in seinen Taschen nach dem Inhalator. Er war das einzige, was er hatte behalten dürfen, nachdem er durchsucht und aller persönlicher Gegenstände beraubt worden war. Er setzte ihn an den Mund. Seine Hände zitterten. »Ich hab mich schon lange nicht mehr so köstlich amüsiert«, keuchte Yngvar und wischte sich die Tränen aus den Augen. 255
»Aber was könnten die Amis mir schon tun«, sagte Gerhard Skrøder, seine Stimme klang kleinlaut und hell wie die eines Kindes. »Wir sind doch in Norwegen …« Er versuchte, den Inhalator wieder in die Tasche zu stecken, verfehlte sie aber. Er fiel auf den Boden und Gerhard bückte sich danach. Als er wieder hochkam, hatte Yngvar Stubø die Fäuste auf den Tisch gestützt und sein Gesicht war nur zehn Zentimeter von Gerhards entfernt. Durch seinen Schmerbauch und die ungewöhnlich breiten Schultern erinnerte er an einen blonden Gorilla, und in seinen blaßblauen Augen lag nicht der geringste Anflug von Humor. »Du hältst dich für einen Weltmeister«, keuchte Yngvar. »Du glaubst, du hast da draußen einen Stern. Du bildest dir ein, daß du einer von den großen Jungs bist, bloß weil du dich im Randbereich der Russenmafia bewegst. Du glaubst, du kommst zurecht. Du glaubst, du bist hart genug, um dich mit verbrecherischen Scheißalbanern und anderem Balkanpack zu messen. Vergiß es. Denn jetzt … jetzt …« Er hob den Zeigefinger und hielt ihn dem anderen unter die Nase. Seine Stimme war viel lauter geworden. »Jetzt wirst du einsehen, daß du ein kleiner Scheiß bist. Wenn du dir auch nur für einen Moment einbildest, daß die Amerikaner einfach tatenlos zusehen, wie wir einen Mistkerl wie dich freilassen, dann bist du verdammt schief gewickelt! Jeden Tag, viele Male jeden Tag, informieren wir sie über den Stand der Ermittlungen. Sie wissen, daß du jetzt hier bist. Sie wissen, was du getan hast, und sie werden …« »Aber ich hab doch gar nichts getan«, sagte Gerhard Skrøder. Sein Atem zischte und das Sprechen machte ihm deutliche Probleme. »Ich … hab … doch bloß …« »Ruhiger atmen«, sagte Yngvar schroff. »Und nimm deine Medizin.« Er wich ein kleines Stück zurück und ließ den Zeigefinger 256
sinken. »Ich will alles wissen«, sagte er, während der andere den runden blauen Inhalator ansetzte. »Ich will wissen, wer dir diesen Auftrag erteilt hat. Wann, wie und wo. Ich will wissen, wieviel du dafür bekommen hast, wo das Geld jetzt ist, mit wem du darüber gesprochen hast. Ich will Namen und Beschreibungen. Alles.« »Sie können mich doch nicht«, keuchte Gerhard, »nach Guantomo bringen?« »Guantánamo«, korrigierte Yngvar und biß sich auf die Lippe, um nicht wieder in ein Gelächter auszubrechen, das diesmal echt gewesen wäre. »Wer weiß. Wer weiß, in diesen verdammten Zeiten. Sie haben ihre Präsidentin verloren, Gerhard. Und rein praktisch bist du für sie ein … Terrorist.« Yngvar hätte schwören können, daß Gerhards Pupillen sich weiteten. Einen Moment lang glaubte er, daß der andere überhaupt nicht mehr atmete. Aber dann schluchzte der auf und holte tief Atem. Er fuhr sich immer wieder mit dem Handrücken über die Stirn, als glaubte er, das schicksalhafte Wort stehe darauf mit großen Buchstaben geschrieben. »Terrorist«, wiederholte Yngvar und schnalzte mit der Zunge. »Ein wunderbarer Stempel, wenn man den von den USA verpaßt kriegt.« »Ich werde reden«, sagte Gerhard Skrøder atemlos. »Ich werde alles erzählen. Aber dann will ich hier sitzen bleiben. Ich bleibe hier, nicht wahr? Bei euch?« »Aber sicher doch«, sagte Yngvar freundlich und klopfte ihm auf die Schulter. »Auf unsere Leute passen wir natürlich auf. So lange ihr uns helft. Und jetzt machen wir eine Pause.« Die Uhr an der Wand zeigte elf Minuten nach halb acht. »Bis acht«, sagte Yngvar und lächelte. »Dann ist dein Anwalt sicher da. Und dann unterhalten wir uns in aller Ruhe. Okay?« 257
»Alles klar«, murmelte Gerhard Skrøder, der jetzt leichter atmete. »Alles klar. Aber ich bleibe hier sitzen. Bei euch.« Yngvar nickte, öffnete die Tür und ging hinaus. Langsam zog er sie hinter sich zu. »Was ist passiert?« fragte Polizeipräsident Bastesen, der an der Wand lehnte und in einem Ordner las, den er bei Yngvars Auftauchen sofort zuklappte. »Dasselbe wie immer? Er sagt nichts?« »Doch, doch«, sagte Yngvar. »Der wird gleich singen. Um acht kriegen wir alles serviert.« Bastesen schmunzelte und hob die Faust zu einem Siegeszeichen. »Du bist der Beste, Yngvar. Du bist wirklich der Beste!« »Ja, glaub ich auch«, murmelte Yngvar. »Zumindest als Schauspieler. Aber jetzt braucht dieser Oscar-Kandidat was zu essen.« Und als er über den Gang trottete, auf der Suche nach etwas Eßbarem, fiel ihm nicht einmal auf, daß die Kollegen applaudierten, sowie die Nachricht, daß Gerhard Skrøder geplatzt war, sich ausbreitete.
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24 Die Frau hinkte durch einen langen Kellergang, während sie Flüche und Verwünschungen murmelte und mit einem Schlüsselbund klirrte, um sich Gespenster vom Leib zu halten. Früher einmal war sie Oslo älteste Straßennutte gewesen, sie hatte Harrymarry geheißen und auf wundersame Weise mehr als ein halbes Jahrhundert überlebt. »Alle guten Mächte mögen mir beistehen«, murmelte sie und zog das wehe Bein hinter sich her, sie mußte ganz bis zum Ende des ewig langen Gangs. »Und alles, was von Übel ist: Weichet von mir. Pfui und Vogeldreck!« Seitdem sie in einer Januarnacht des Jahres 1945 in der vom Krieg verwüsteten Finnmark auf der Ladefläche eines Lastwagens geboren worden war, hatte Harrymarry den vielen eifrigen Versuchen des Schicksals getrotzt, ihr den Garaus zu machen. Sie hatte keine Eltern und war bei den Pflegefamilien, die sie hatten aufnehmen müssen, nie zur Ruhe gekommen. Zwei Jahre hatte sie in einem Waisenhaus verbracht, dann war sie nach Oslo ausgerissen, um sich auf eigene Faust durchzuschlagen. Damals war sie zwölf Jahre alt gewesen. Ohne Ausbildung, mit den Lesekenntnissen einer Sechsjährigen und einem Aussehen, das den meisten Leuten einen Schreck einjagen konnte, lag ihre Laufbahn auf der Hand. Viermal hatte sie ein Kind in die Welt gesetzt. Allesamt pure Betriebsunfälle, die ihr gleich nach der Geburt weggenommen wurden. Um die Jahrtausendwende war das Glück Harrymarry zum ersten Mal hold. Sie begegnete Hanne Wilhelmsen. Harrymarry war die wichtigste Zeugin in einem Mordfall, und aus Gründen, die keine der beiden später erklären konnte, zog 259
sie bei der Ermittlerin ein. Seither hatte sie sich nicht von dort vertreiben lassen. Sie nannte sich wieder bei ihrem ursprünglichen Namen und wurde zu einer hart arbeitenden Haushälterin und Köchin. Nur drei Dinge wollte sie als Lohn: Methadon, ein sauberes Bett und jede Woche eine Packung Drehtabak. Nichts anderes und nicht mehr. Das änderte sich erst, als Nefis’ und Hannes Tochter auf die Welt kam. Marry hörte mit dem Rauchen auf und verlangte statt der Packung Tabak eine Schachtel Visitenkarten. Auf gelbem Karton mit Flauschkante stand: Marry Olsen. Gouvernante. Sie hatte sich die Schrifttype selbst ausgesucht. Keine Telefonnummer, keine Adresse. Sie brauchte die Karten auch nicht, da sie nie ausging und niemals Besuch bekam. Die Visitenkarten lagen in ihrem Nachttisch, und jeden Abend nahm sie die oberste, küßte sie kurz und schloß die Augen, preßte sie mit flacher Hand an ihr Herz und murmelte ihr festes Abendgebet: »Danke, du lieber Herr im Himmel. Danke für Hanne und Nefis und meine kleine Ida-Prinzessin. Jemand braucht mich. Dafür dank ich dir sehr. Gute Nacht, Gott.« Dann schlief sie acht Stunden lang tief, immer. Jetzt näherte Marry sich endlich dem richtigen Kellerraum. Sie hatte den Schlüssel schon bereit. »Was für ein Unfug«, schimpfte sie sich selber aus. »Altes Weib, und dann Schiß vor einem blöden Keller, du meine Güte.« Sie fuchtelte mit dem mageren Arm, wie um ihre Angst zu vertreiben. »Jetzt nur noch kurz da rein«, sagte sie mit schriller Stimme. »Und Decken und Kram für Inger Johanne holen. Hier ist nichts gefährlich, das ist doch klar. Herrjemine, Marry! Du hast doch schon schlimmere Gespenster erlebt, als sich hier vielleicht niedergelassen haben.« 260
Endlich traf sie das Schlüsselloch. »Vornehm musses sein«, sagte Marry und öffnete die Tür. »Können sich hier im Westend ja nich mit normalen Kellerverschlägen begnügen. Aber nich doch …« Sie tastete sich zum Lichtschalter vor. »Hier wollnse Zimmer mit richtiger Tür und Wänden und so. Kein Maschendraht mit Hängeschloß, nix.« Der Kellerraum war über zwanzig Quadratmeter groß. Er war rechteckig und an den Längswänden zogen sich vom Boden bis zur Decke Regale hin. Sie waren vollgestopft mit Kartons, Koffern und bunten Behältern von Ikea. Alle waren sorgfältig beschriftet. Marry hatte das alles systematisiert. Buchstaben waren nicht Marrys Stärke, aber in Zahlen und Logik fand sie immer einen Sinn. Da sie sich im Alphabet meistens verirrte, waren die Gegenstände deshalb nach ihrer Wichtigkeit sortiert. Gleich bei der Tür standen Kartons mit Konservendosen und lagerungsfähigen Lebensmitteln. Für den Fall eines Atomkriegs. Dann kam Winterkleidung in Kartons mit großen Luftlöchern. Klein Idas Babykleidung lag in einem rosa Karton, auf den ein Teddy gemalt war, und es roch nach Lavendel, als Marry den Deckel ein wenig anhob und die Finger in die weichen Textilien schob. »Das ist Marrys Mädel. Mein Wuschelkind.« Jetzt flüsterte sie. Der Duft von Idas abgelegter Kleidung ließ sie ruhiger werden. Sie humpelte durch den Raum und blieb ganz hinten bei der Querwand stehen, wo Nefis’ Skier neben Idas Schlitten festgeschnallt waren. JÄSTEDECKEN. Sie zog den großen Karton aus dem Regal und hob den Deckel herunter. Die Bettdecke war aufgerollt und mit zwei breiten roten Gummis umwunden. Marry klemmte sie unter den Arm, legte den Deckel wieder auf den Karton, schob ihn zurück ins Regal und schlurfte zur Tür. 261
»So«, sagte sie erleichtert. »Und jetzt müssen wir nur noch ins traute Heim nach oben.« Sie wollte schon abschließen, als sie glaubte, ein Geräusch zu hören. Ein Adrenalinstoß verschlug ihr den Atem. Nichts. Da war es wieder. Ein dumpfes Dröhnen oder ein Schlag. Weit weg, jetzt aber deutlich, und Marry ließ die Decke fallen und faltete ängstlich die Hände. »O Gott mein Schöpfer und Jesu Namen«, rief sie. Da, schon wieder. Tief in Marrys Gehirn lag ein letzter Rest des Daseins, das sie fast fünfundfünfzig Jahre ihres Lebens durchgemacht hatte, ehe das Leben eine so seltsame Wendung genommen hatte und alles leicht und gut geworden war. Das schmächtige, häßliche, uneheliche Kind Marry hatte entgegen aller Wahrscheinlichkeit überlebt, weil es gescheit war. Die junge, freche Marry hatte in den sechziger Jahren das Leben als Prostituierte in Oslos Straßen überlebt, weil sie schlau war. Die alte Nutte Harrymarry hatte ein Leben in Erniedrigung und schwerem Rausch aus einem einzigen Grund überstanden: Sie ließ sich ganz einfach nicht fertigmachen. Jetzt hatte sie solche Angst, daß sie glaubte, ihr Herz müsse zerspringen. Ihr wurde schwindlig. Am liebsten hätte sie sich hingesetzt und sich den Gespenstern ergeben, sollte der Teufel sie doch holen, wie sie es im tiefsten Herzen verdient zu haben glaubte. »Verdammt nochmal. Noch nicht!« Sie schluckte und biß die Zähne zusammen. Da war das Geräusch wieder. Es war, als versuchte jemand, an eine Tür zu klopfen, schaffte das aber nicht so recht. Das Ganze hatte etwas Unrhythmisches 262
und Holpriges, und aggressiv wirkte es jedenfalls nicht. Marry hob die Decke vom Betonboden auf. »Jetzt habe ich endlich das Glück gefunden«, sagte sie zu sich. »Und dann soll hier niemand kommen und einer alten Haut wie mir eine Scheißangst einjagen!« Sie ging auf die Kellertreppe zu. Bumm, bummbumm. Jetzt war Marry sicher. Das Geräusch kam von der Tür, neben der sie stand. Die war rot angestrichen, anders als die übrigen weißen Türen in diesem Gang. Eine dicke Pappe war mit vergilbtem Klebeband in Gesichtshöhe befestigt. Sie war halb abgerissen und die Schrift kaum noch zu lesen. Jedenfalls für Marry. Sie glaubte, eine Stimme zu hören, ganz schwach und vielleicht war es nur Einbildung. Seltsamerweise hatte sie keine Angst mehr. Ein wütender Trotz hatte die Angst verdrängt. Das hier war ihr Haus, ihr Keller. Sie hatte sich für ein Dasein in der Isolation der Kruses gate entschieden, um sich alte Dämonen vom Leib zu halten, und weder Lebende noch Tote sollte ihr irgend etwas stehlen dürfen. Nicht jetzt und nie wieder. »Hallo«, sagte sie laut und klopfte an die Tür. »Hallo, ist da jemand?« Ihre knochenmagere Hand schlug gegen die Tür. Es wurde ganz still, dann war das Klopfen wieder da, so plötzlich, daß Marry einen Schritt zurücktrat. Dann schien eine Stimme von entsetzlich weit her zu kommen. Es war unmöglich, auch nur ein Wort zu verstehen. »Also echt«, murmelte Marry und kratzte sich am Kinn, ehe sie ihr Ohr an die Tür preßte. »Das ist ja wohl die komischste Tür in der ganzen Stadt. – Komm doch raus«, schrie sie dann die 263
Türfläche an. »Brauchst doch bloß umzudrehen, Mensch!« Das Pochen hielt an. Marry musterte das Schloß aus zusammengekniffenen Augen. Wie bei den anderen Türen brauchte man von außen einen Schlüssel zum Öffnen. Innen müßte ein Drehknauf sitzen, der es unmöglich machte, sich im Keller einzusperren. Oder eingesperrt zu werden. Diese Tür war offenbar auf irgendeine Weise manipuliert worden. Marry zweifelte nicht mehr daran, daß jemand sich im Kellerraum aufhielt. Weit hinten in ihrem Gedächtnis drängten Erinnerungen sich auf, Erlebnisse, die sie versucht hatte, in der Welt dort draußen zurückzulassen, der Welt, die sie nie mehr aufsuchte und zu der sie niemals wieder gehören wollte. Eine Straßennutte war nicht einfach nur eine Nutte. Schlimmer war es, der Straße ausgeliefert zu sein. Marry schloß die Augen, um die Bilder von Müllhütten und Kellerverschlägen auszusperren, von verdreckten Matratzen in Durchgängen und Holzschuppen, schnellen Blowjobs in schmutzigen Autos, die nach Tabak, fettem Essen und alten Schweinen stanken. Marry hatte aufgehört zu zählen, wie oft sie vergewaltigt worden war. Während sie auf der Rangleiter der Nutten langsam nach unten abstieg, wurde sie aus ihrer Ecke verdrängt, ihre Freier wurden ihr gestohlen, sie wurde von den Importnutten angespuckt, von diesen verdammten Russinnen, sie wurde von jungen Knaben verhöhnt und von ihren Altersgenossinnen verlassen. Die starben um sie herum, eine nach der anderen, und 1999 war Harrymarry eine wandelnde Tote. Sie übernahm die Jobs, die keine andere machen wollte, nicht einmal die Litauerinnen, die jetzt den Markt sprengten, indem sie mit einem Fünfziger für einen Fick ohne Gummi zufrieden waren. Harrymarry erinnerte sich an einen Keller. Sie erinnerte sich an einen Mann. »Scheiße, ich will mich an nichts erinnern«, schrie Marry und 264
hämmerte mit den Händen gegen die rote Tür. »Ich hol dich raus, Schwester! Moment noch, dann wird die Marry dir helfen!« Sie trottete zu ihrem eigenen Kellerraum, öffnete die Tür und packte den gutgefüllten Werkzeugkasten, den Nefis immer wieder mit neuen Geräten bestückte, von denen niemand wußte, wozu sie die brauchte. »Ich komme!« brüllte Marry und schleppte den Kasten zur roten Tür. »Bin gleich da, Schätzchen!« Marry Olsen war nur noch Haut und Knochen. Aber sie war stark. Und jetzt war sie außerdem wütend. Zuerst entfernte sie den Rahmen mit einem Stemmeisen und warf das zerstörte Holz auf den Boden. Dann schnappte sie sich einen Hammer und schlug auf die Klinke ein, als rechne sie auf diese Weise mit ihrer eigenen Vergangenheit ab. Die Klinke zersprang, aber die Tür war noch immer verschlossen. »Verdammt«, fauchte Marry und schneuzte sich in die Hand, die sie anschließend an ihrem geblümten Rock abwischte. »Hier brauchen wir stärkeren Tobak!« Marry leerte den Werkzeugkasten. Das Klirren von Metall auf Betonboden war ohrenbetäubend. Als es still wurde, war hinter der Tür ein leises Klopfen zu hören. »Komme gleich!« rief Marry wieder und schnappte sich ein riesiges Brecheisen, das ganz unten im Kasten gelegen hatte. Mit aller Kraft stieß sie das gespaltene Ende ins Schloß. Sie nahm den Hammer, um sich noch einige Millimeter Hebelkraft mehr zu ertricksen, ehe sie der Treppe den Rücken kehrte, das Eisen mit beiden Händen packte und daran zog. Das Holz knackte. Nichts passierte. »Noch einmal«, keuchte Marry. Das Holz gab nach. Die Tür hielt stand. 265
»Vielleicht andersrum«, sagte Marry und wiederholte das Manöver von der entgegengesetzten Seite. Das Schloß gab nach. Die Tür verkeilte sich. Sie war schief, und Marry zwang das Brecheisen noch einmal in den Spalt. Der war jetzt größer und sie fand besseren Halt. »Und dann ziiiiiehen wir«, heulte sie und fuhr zusammen, als die Tür plötzlich eine Öffnung von zehn bis fünfzehn Zentimetern aufwies. Sie ließ das Brecheisen fallen. Ihre Ohren sangen, als es auf den Boden knallte. Energisch packte sie das Türblatt und vergrößerte die Öffnung. »Ganz ruhig«, sagte sie zu dem Menschen, der drinnen auf dem Boden saß und sie ansah. »Ich weiß, wie so was ist. Jetzt werden …« »Help«, sagte die Frau mit heiserer Stimme. Russennutte, dachte Marry und schüttelte den Kopf. »Ich helf dir trotzdem«, sagte sie, bückte sich und legte einen Arm um die mißhandelte Gestalt. »Die Männer dürfen nicht einfach alles machen, was ihnen gerade in den Kram paßt. Der war sicher übel, was? Und dann hat er dich auch noch gefesselt. Schau her …« Sie fand im Werkzeughaufen ein Messer und zerschnitt die Plastikriemen, mit denen die Hände der Frau zusammengebunden waren. Mit großer Kraftanstrengung gelang es ihr, sie auf die Beine zu ziehen. Der Gestank von Exkrementen und Urin stach ihr in die Nase. Marry warf einen Blick in den Kellerraum. Der Drehknauf war entfernt worden. »Schlau, diese Scheißkerle«, murmelte sie mit tröstender Stimme und streichelte vorsichtig das blutverschmierte Gesicht der Frau. »Jetzt kriegst du erst mal ein schönes Bad, Herzchen. Komm mit mir.« Die Frau wollte gehen, aber ihre Knie gaben unter ihr nach. 266
»Du stinkst wie die Pest, Mädel. Also komm jetzt mit Marry, du.« »Help«, flüsterte die Frau. »Help me!« »Sicher, sicher. Mach ich doch gerade. Du verstehst sicher nich, was ich sag. Aber ich war auch schon mal da, wo du jetzt bist, weißte, und …« So plapperte Marry auf dem ganzen Weg zur Treppe, wo sie die andere fünf Stufen mehr oder weniger hinauftragen mußte, bis sie dann vor dem Fahrstuhl standen. Als der kam, lächelte Marry glücklich und schob die Frau hinein. »Lehn dich hier an«, sagte sie und zeigte auf ein stählernes Geländer. »Jetzt sind wir gleich da, Herzchen. Meine Fresse, du siehst ja vielleicht aus!« Erst jetzt, im grellen Licht der Neonröhren, konnte Marry sich das Gesicht der Frau richtig ansehen. Eine riesige Beule auf der einen Schläfe hatte das halbe Gesicht bläulich verfärbt, und das Auge war zugeschwollen. Geronnenes Blut klebte überall am Hals. »Aber feine Kleider hamse immerhin«, sagte Marry leicht skeptisch und betastete die rote Jacke. »Die ist ja wohl nicht bei der Heilsarmee gekauft worden.« Die Fahrstuhltüren öffneten sich. »Jetzt mußt du ein braves Mädchen sein und dich bei Marry ganz doll festhalten.« Die Frau stand apathisch und mit offenem Mund da. Ihre Augen waren vollkommen leblos, und Marry hielt ihr die schmutzigen Finger vors Gesicht und schnippte. »Hallo! Biste noch da? Komm jetzt!« Sie legte den linken Arm um die Taille der Frau und die rechte Hand auf ihren Unterarm und schleppte sie auf diese Weise zur Wohnungstür. Sie wollte sie nicht loslassen, um die Schlüssel aus ihrer Tasche zu fischen, und deshalb drückte sie den 267
Ellbogen auf den Klingelknopf. Viele Sekunden vergingen. »Help«, stöhnte die Frau. »Ja doch«, murmelte Marry ungeduldig und klingelte noch einmal. »Marry«, sagte Inger Johanne, als die Tür geöffnet wurde, »du bist so lange unten geblieben, daß …« »Ich hab im Keller ’ne Nutte gefunden«, sagte Marry schroff. »Ich glaub, ’ne Russin oder von da aus der Gegend, aber wir müssen ihr trotzdem helfen. Arme Kleine. Irgendein Arsch hat sich da lauter Gemeinheiten erlaubt.« Inger Johanne stand wie erstarrt. »Jetzt mach schon Platz!« »Hanne«, sagte Inger Johanne leise, sie ließ die Frau nicht aus den Augen. »Du mußt kommen.« »Hanne ist keine, die ’ne mißhandelte Nutte wegjagt«, sagte Marry wütend. »Jetzt mach endlich Platz! Los!« »Hanne«, sagte Inger Johanne, jetzt wesentlich lauter. »Komm her!« Hinten in der Diele tauchte der Rollstuhl vor der großen Glaswand auf, durch die die Bäume draußen Abendschatten ins Haus warfen. Langsam kam sie auf die anderen zugerollt. Die Gummiräder fuhren fast unhörbar über den Holzboden. »Die braucht doch bloß ’n Bad«, flehte Marry. »Und was zu essen, vielleicht. Sei nich gemein, Hanne. Du bist doch die Güte selbst, Liebes.« Hanne Wilhelmsen kam näher. »Madam President«, sagte sie und senkte den Kopf, dann schaute sie wieder auf und legte eine unmerkliche Pause ein. »Come in, please. Let’s see what we can do to help you.«
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25 »Laß mich das also zusammenfassen«, sagte Yngvar. »Damit erst gar keine Mißverständnisse aufkommen.« Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, dann setzte er sich verkehrt herum auf den Stuhl und legte die Arme auf die Rücklehne. Ein roter Filzstift balancierte zwischen Zeigefinger und Daumen. »Dich hat also ein Mann angerufen, den du noch nie vorher getroffen hattest.« Gerhard Skrøder nickte. »Und du weißt nicht, woher er kommt oder wie er heißt.« Gerhard schüttelte den Kopf. »Und natürlich auch nicht, wie er aussieht.« Gerhard kratzte sich den Nacken und starrte verlegen auf den Tisch. »Hab ja kein Bildtelefon.« »Du sitzt also da«, sagte Yngvar übertrieben langsam und legte die Hände vors Gesicht, »… und sagst, daß du einen Auftrag angenommen hast, von einem Typen, mit dem du nur telefoniert hast und dessen Namen du nicht kennst. Der dir nie begegnet ist.« »Ist ja nicht ungewöhnlich.« Rechtsanwalt Ove Rønbeck hob fast unmerklich die Hand, um seinen Mandanten zu warnen. »Ich meine, so merkwürdig ist das wohl nicht …« »Doch. Finde ich schon. Wie hat er sich angehört?« »Angehört …« Gerhard rutschte auf seinem Stuhl hin und her, wie ein Teenie, 269
der auf frischer Tat beim Belästigen eines unwilligen Mädels ertappt worden ist. »Welcher Sprache hat er gesprochen?« fragte Yngvar. »Er war Norweger, glaube ich.« »Ach«, sagte Yngvar und atmete sehr langsam aus. »Er hat also Norwegisch gesprochen?« »Nein.« »Nein? Und wie kommst du dann darauf, daß er Norweger ist?« Anwalt Rønbeck hob die Hand und öffnete den Mund, aber er sank blitzschnell wieder zurück auf den Stuhl, als Yngvar zu ihm herumfuhr. »Sie haben das Recht, dabeizusein«, sagte Yngvar. »Aber unterbrechen Sie uns nicht. Ich brauche Sie ja wohl nicht daran zu erinnern, wie ernst die Sache für Ihren Mandanten aussieht. Und ausnahmsweise habe ich jetzt kein Interesse an Gerhard Skrøder. Ich will nur soviel wie möglich über deinen anonymen Auftraggeber wissen!« Das letzte brüllte er Gerhard ins Gesicht, und der fuhr noch weiter zurück. Jetzt stand sein Stuhl ganz dicht vor der Wand, und es war kein Platz mehr für seine ewige Wipperei. Seine Augen flackerten, und Yngvar beugte sich vor und riß ihm die Schirmmütze vom Kopf. »Hat deine Mutter dir nicht beigebracht, daß ein braver Junge im Haus die Mütze abnimmt?« fragte er. »Warum hältst du den Mann für einen Norweger?« »Er hat nicht richtig Englisch gesprochen. Mehr so mit … Akzent.« Gerhard kratzte sich immer hektischer im Schritt. »Du solltest mal zum Arzt gehen«, sagte Yngvar. »Hör auf damit.« Er erhob sich und ging zu einem Beistelltisch neben der Tür. 270
Er griff nach der letzten Mineralwasserflasche, öffnete sie und leerte die halbe Flasche auf einen Zug. »Weißt du«, sagte er plötzlich mit einem kurzen Lachen. »Du bist so ans Lügen gewöhnt, daß du nicht mal dann eine zusammenhängende wahre Geschichte erzählen kannst, wenn du das selbst willst. Großartige Berufskrankheit!« Er stellte die Flasche hin und setzte sich wieder auf den Stuhl. Dann verschränkte er die Hände im Nacken, ließ sich zurücksinken und schloß die Augen. »Erzähl«, sagte er ruhig. »Ungefähr so, als ob du ein Märchen erzählen solltest. Einem Kind, falls du dir so etwas vorstellen kannst.« »Ich hab zwei Neffen«, sagte Gerhard beleidigt. »Ich weiß verdammt nochmal, was Kinder sind.« »Schön. Spitze. Wie heißen sie?« »Hä?« »Wie heißen deine Neffen«, wiederholte Yngvar, noch immer mit geschlossenen Augen. »Atle und Oskar.« »Ich bin Atle und Rønbeck da hinten ist Oskar. Jetzt erzählst du davon, wie Onkel Gerhard einen Auftrag von einem Mann bekam, den er noch nie gesehen hatte.« Gerhard sagte nichts. Sein Zeigefinger riß ein Loch in die Tarnhose. »Es war einmal«, schlug Yngvar aufmunternd vor. »Na los. Es war einmal, als Onkel Gerhard …« »… angerufen wurde«, sagte Gerhard. Schweigen. Yngvar beschrieb mit seiner Hand eine Kreisbewegung. »… von einer anonymen Nummer«, sagte Gerhard. »Die tauchte im Display nicht auf. Und ich habe mich gemeldet. Es 271
war ein Typ, der Englisch sprach. Aber es war so, als ob … als ob der überhaupt kein Engländer wäre. Er hörte sich fast … norwegisch an, irgendwie.« »Mmm«, Yngvar nickte. »Die Sprache war … jedenfalls irgendwie komisch. Er hat gesagt, er könnte mir einen verdammt einfachen Deal anbieten, und ich könnte jede Menge Kohle rausholen.« »Weißt du noch, welches Wort er für Kohle benutzt hat?« »Money, glaub ich. Ja. Money.« »Und das war am …« Yngvar blätterte in seinen Notizen. »Am 3. Mai«, sagte er und schaute Gerhard fragend an. Gerhard nickte leicht und zupfte an dem wachsenden Loch in seiner Hose. »Dienstag, den 3. Mai, nachmittags. Wir lassen uns eine Aufstellung deiner Telefonate schicken, dann wird der Zeitpunkt sich ja bestätigen.« »Aber das ist …« »Sie können nicht …« Anwalt Rønbeck und sein Mandant protestierten wie aus einem Munde. »Regt euch ab! Regt euch ab!« Yngvar stöhnte verzweifelt. »Die Liste über die Gesprächsverbindungen ist im Moment dein kleinstes Problem. Wir werden noch darauf zurückkommen. Erzähl weiter. Du bist kein besonders guter Märchenerzähler. Reiß dich mal zusammen.« Der Anwalt und Gerhard wechselten einen Blick. Rønbeck nickte. »Er hat gesagt, ich sollte mir den 16. und den 17. Mai freihalten«, murmelte sein Mandant. »Freihalten?« 272
»Ja. Keine Pläne machen. Nüchtern bleiben. In Oslo sein. Verfügbar, sozusagen.« »Und du hast diesen Anrufer nicht gekannt?« »Nein.« »Trotzdem hast du den Auftrag angenommen. Du wolltest den großen Festtag im Jahr verpassen, bloß weil ein fremder Anrufer dich darum gebeten hat. Na gut.« »Es ging doch um Geld. Um verdammt viel Geld!« »Wieviel?« Eine lange Pause folgte. Gerhard nahm die Schirmmütze vom Tisch und wollte sie schon wie aus einem Reflex heraus aufsetzen, dann überlegte er sich die Sache anders und legte sie wieder hin. Er schwieg noch immer. Seine Augen klebten an seinem durchlöcherten Hosenbein. »Dann nicht«, sagte Yngvar endlich. »Über den Betrag können wir immer noch reden. Aber was hast du sonst noch erfahren?« »Nichts. Ich sollte einfach warten.« »Worauf?« »Auf einen Anruf. Am 16. Mai.« »Und der kam auch?« »Ja.« »Wann?« »Am Nachmittag. Weiß nicht mehr so genau. Gegen vier, vielleicht. Ja. Kurz nach vier. Ich war mit ein paar Kumpels verabredet, um vor dem Spiel noch ein Bier zu trinken. Enga gegen Fredrikstad im Ullevålstadion. Der Typ rief an, als ich gerade los wollte.« »Was hat er gesagt?« »Eigentlich nichts. Er wollte nur wissen, was ich vorhatte.« »Was du vorhattest?« »Ja … welche Pläne ich für den Abend hatte, meine ich. Ob 273
ich unsere Verabredung einhalte. Nichts trinken und so. Und dann hat er gesagt, ich müßte spätestens um elf wieder zu Hause sein. Und er hat gesagt, es würde sich lohnen. Es würde sich richtig lohnen. Also habe ich …« Er zuckte mit den Schultern, und Yngvar hätte schwören können, daß der Mann rot wurde. »Ich hab mit den Jungs ein Bier oder drei getrunken, hab mir das Spiel angesehen und bin nach Hause gegangen. Es ging 0:0 aus, da gab’s ja ohnehin nicht gerade was zu feiern. War noch vor elf zu Hause. Und …« Seine Nervosität war jetzt unverkennbar. Er kratzte sich unter dem Pullover an der Schulter und rutschte auf dem Stuhl hin und her. Sein rechter Oberschenkel zitterte heftig, und immer wieder kniff er die Augen zu. »Dann hat er angerufen. So gegen elf.« »Was hat er gesagt?« »Das hab ich doch schon eine Million mal erzählt. Wie oft soll ich das noch wiederholen?« »Du hast es erst zwei mal gesagt. Und jetzt will ich es ein drittes Mal hören. Was hat er gesagt?« »Daß ich ein paar Stunden später am Uhrenturm vor dem Hauptbahnhof stehen sollte. Um vier Uhr morgens. Dann würden ein Typ und eine Frau kommen, und dann sollten wir zusammen zu einem Auto gehen und losfahren. Im Handschuhfach würde die Reiseroute liegen. Und die Hälfte vom Geld. Und da kam eine Maus und das Märchen ist aus.« »Noch nicht so ganz«, sagte Yngvar. »Kam dir der Auftrag nicht ein bißchen seltsam vor?« »Nein.« »Du sollst mit zwei Unbekannten durch Südnorwegen fahren und dich auf allerlei Tankstellen vom Personal sehen lassen, aber um Überwachungskameras einen Bogen machen. Du sollst 274
nichts tun, nichts stehlen, einfach nur durch die Gegend gurken. Und dann sollst du den Wagen bei Lillehammer in einem Wald abstellen, mit dem Zug zurück nach Oslo fahren und die ganze Kiste vergessen. Und das alles hast du völlig in Ordnung gefunden.« »Jepp.« »Jepp hier nicht rum, Gerhard. Reiß dich zusammen. Hast du die beiden anderen gekannt? Die Frau oder den Typen?« »Nein.« »Waren das Norweger?« »Keine Ahnung.« »Du hast keine Ahnung?« »Nein! Wir habe nicht miteinander geredet.« »Vier Stunden lang?« »Ja! Ich meine, nein! Wir haben die ganze Zeit die Klappe gehalten.« »Das glaube ich nicht. Das ist nicht möglich.« Gerhard beugte sich über den Tisch. »Ich schwör’s! Ich hab vielleicht ein oder zwei Worte zu denen gesagt, aber der Typ hat bloß auf das Handschuhfach gezeigt. Das hab ich aufgemacht, und da lag die Wegbeschreibung, wie der Mann am Telefon das gesagt hatte. Wie ich fahren sollte und so. Und da stand auch, daß wir nicht miteinander reden sollten. Gut, hab ich gedacht. Verdammt, Stubø, ich hab doch gesagt, daß ich alles erzähle. Jetzt glaub mir doch endlich!« Yngvar verschränkte die Arme vor der Brust und leckte sich die Lippen. Er ließ Gerhard nicht aus den Augen. »Wo ist diese Mitteilung jetzt?« »Die liegt im Auto.« »Und wo ist das Auto?« »Das hab ich doch schon eine Trillion mal gesagt: in 275
Lillehammer. Gleich bei der Sprungschanze, da geht ein …« »Da ist es nicht. Da haben wir nachgesehen.« Yngvar zeigte auf einen Zettel, den ein Beamter zehn Minuten zuvor gebracht hatte. Gerhard zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Dann hat es jemand abgeholt«, meinte er. »Wieviel hast du für den Job bekommen?« Yngvar hatte die Zigarrenhülse aus der Hemdtasche gefischt und rollte sie langsam zwischen seinen Handflächen hin und her. Gerhard blieb stumm. »Wieviel hast du bekommen«, wiederholte Yngvar. »Ist doch egal«, sagte Gerhard sauer. »Ich hab die Kohle nicht mehr.« »Wieviel«, wiederholte Yngvar. Als Gerhard weiterhin trotzig die Tischplatte anstarrte, ohne antworten zu wollen, stand Yngvar auf. Er ging zum Fenster. Draußen wurde es jetzt dunkel. Das Fenster war schmutzig. Der Rahmen war eingestaubt. Hier und dort lagen tote Insekten herum wie Pfefferkörner. Auf dem Rasen zwischen Polizeigebäude und Gefängnis war ein regelrechtes kleines Dorf aus dem Boden geschossen. Zwei ausländische Fernsehgesellschaften waren mit ihren Ü-Wagen auf den Rasen gefahren, und Yngvar zählte acht Partyzelte und sechzehn verschiedene Medienlogos, ehe er das Zählen aufgab. Er hob die Hand zu einem freundlichen Winken, als habe er Bekannte entdeckt. Er lächelte und nickte. Dann drehte er sich um, noch immer mit einem strahlenden Lächeln, trat neben Gerhard an den Tisch und beugte sich über ihn. Er hielt seinen Mund so dicht an Gerhards Ohr, daß der zusammenzuckte. Yngvar fing an zu flüstern, rasch und zischend. »Das ist total gegen die Vorschriften«, begann Anwalt Rønbeck und richtete sich halbwegs auf. 276
»Hunderttausend Dollar«, sagte Gerhard, er schrie es fast. »Ich hab hunderttausend Dollar gekriegt!« Yngvar schlug ihm auf die Schulter. »Hunderttausend Dollar«, sagt er langsam. »Ich sehe schon, ich bin in der falschen Branche gelandet.« »Fünfzigtausend lagen im Handschuhfach, und den Rest hat dieser Typ mir in einem Briefumschlag gegeben, als wir fertig waren. Der, der mitgefahren ist, meine ich.« Sogar der Anwalt konnte seine Überraschung nur schwer verbergen. Er ließ sich auf dem Stuhl zurücksinken und rieb sich hektisch die Wangen. Er schien nach einer vernünftigen Bemerkung zu suchen, was ihm aber nicht gelang. Statt dessen wühlte er in seinen Taschen und fischte eine Pastille heraus. Er stopfte sie in den Mund, als ob es sich um eine Beruhigungspille handelte. »Und wo ist das Geld jetzt?« fragte Yngvar und ließ die Hand schwer auf Gerhards Schulter liegen. »Das ist in Schweden.« »Ach. In Schweden. Und wo in Schweden?« »Weiß nicht. Ich hab es einem Typen gegeben, dem ich Geld schuldete.« »Du hast jemandem hunderttausend Dollar geschuldet«, faßte Yngvar übertrieben langsam die Lage zusammen. Der Zugriff um Gerhards Schulter wurde immer fester. »Und diesen Gläubiger hast du also schon bezahlt. Wann ist das passiert?« »Heute morgen. Da ist er bei mir aufgetaucht. Verdammt früh, und die Jungs da, die aus Göteborg, mit denen ist nicht zu …« »Moment mal«, sagte Yngvar und hob die Hände zu einer plötzlichen resignierten Geste. »Halt! Du hast recht, Gerhard!« Gerhard blickte auf. Er sah jetzt kleiner aus, 277
zusammengesunken und sichtlich müde. Seine Unruhe war in ein deutliches Zittern übergegangen, und er hatte Wasser in den Augen, als er aufschaute und mit dünner Stimme fragte: »Wieso denn recht?« »Daß wir dich hier bei uns behalten müssen. Wie es aussieht, ist bei dir noch mehr zu holen. Aber das können andere übernehmen. Du brauchst eine Ruhepause, und eins sag ich dir, die …« Die Uhr an der Wand zeigte Viertel vor neun. »… brauche ich auch.« Er suchte seine Notizen zusammen und klemmte sie sich unter den Arm. Die Zigarrenhülse war auf den Boden gefallen. Yngvar warf einen Blick darauf, zögerte kurz und ließ sie liegen. Gerhard Skrøder erhob sich mit steifen Bewegungen und ließ sich willig von dem herbeigerufenen Polizisten in eine Kellerzelle fuhren. »Wer bezahlt denn hunderttausend Dollar für so einen Job?« fragte Anwalt Rønbeck leise, während er seine Sachen zusammenpackte. Er schien mit sich selbst zu reden. »Einer, der unbegrenzt Geld hat und ganz sichergehen will, daß der Auftrag ausgeführt wird«, sagte Yngvar. »Einer, der soviel Kapital besitzt, daß es ihm egal sein kann, was etwas kostet.« »Erschreckend«, sagte Rønbeck, sein Mund war schmal wie der Schlitz in einer Spardose. Yngvar Stubø gab keine Antwort. Er hatte sein Mobiltelefon hervorgezogen, um nachzusehen, ob ihm ein Anruf entgangen war. Aber das war nicht der Fall.
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26 »Willst du die Polizei anrufen, oder soll ich das machen?« flüsterte Inger Johanne Vik und hielt ihr Telefon hoch. »Keine von uns«, sagte Hanne Wilhelmsen leise. »Bis auf weiteres.« Die Präsidentin der USA saß auf einem knallroten Sofa und hielt ein Glas Wasser in der Hand. Der Gestank von Exkrementen, Urin und Angstschweiß war so stark, daß Marry ohne aufdringliche Diskretion das Wohnzimmerfenster sperrangelweit aufriß. »Die Frau braucht ein Bad«, schimpfte sie. »Begreif ja nich, wieso sie hier in ihrem Scheißduft blühen soll. Präsidentin und alles, und dann so was Demütigendes!« »Jetzt sei du mal ganz ruhig«, sagte Hanne energisch. »Natürlich wird sie gleich baden. Und bestimmt hat sie auch Hunger. Bitte, mach doch was für sie warm. Eine Suppe. Meinst du nicht, daß das das Beste wäre? Eine schöne Suppe?« Marry schlurfte aus dem Wohnzimmer. Sie schimpfte auf dem ganzen Weg in die Küche vor sich hin. Sogar, nachdem sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, konnten sie zwischen dem Klappern von Geschirr und wütend gegen den Stahltisch geschlagenen Töpfen ihre kläffende Stimme hören. »Wir müssen doch anrufen«, sagte Inger Johanne. »Herrgott … die ganze Welt wartet doch auf …« »Zehn Minuten mehr oder weniger spielen da auch keine Rolle«, sagte Hanne und rollte zum Sofa hinüber. »Sie war jetzt über anderthalb Tage verschwunden. Ich finde, daß eine Präsidentin ein gewisses Mitbestimmungsrecht haben sollte. Es wäre doch zum Beispiel möglich, daß sie in diesem Zustand nicht gesehen werden möchte. Von anderen als uns, meine ich.« 279
»Hanne!« Inger Johanne legte die Hand auf die Lehne des Rollstuhls, um sie zurückzuhalten. »Du warst doch bei der Polizei«, sagte sie wütend und versuchte zugleich, ihre Stimme zu dämpfen. »Sie darf sich nicht waschen oder umziehen, so lange sie nicht untersucht worden ist. Sie ist ein einziger wandelnder Haufen Beweismaterial. Sie kann doch sogar …« »Ich scheiße auf die Polizei«, fiel Hanne ihr ins Wort. »Aber auf sie scheiße ich nicht. Und ich werde nicht die geringste Spur eines Beweises verderben.« Sie schaute auf. Ihre Augen waren blauer als je zuvor in Inger Johannes Erinnerung. Durch den schwarzen Ring um die Iris wirkten sie zu groß für das schmale Gesicht. Ihre Entschiedenheit tilgte die Fältchen um ihren Mund und machte sie jünger. Sie ließ Inger Johannes Blick nicht los, und mit einer kleinen Bewegung der rechten Augenbraue zwang sie Inger Johanne dazu, die Hand vom Rollstuhl zurückzuziehen, als ob sie sich verbrannt hätte. Zum ersten Mal seit ihrer ersten Begegnung ein knappes halbes Jahr zuvor sah Inger Johanne etwas von der Hanne, über die sie Geschichten gehört, die sie aber nie erlebt hatte, die strahlende, zynisch analysierende und durch und durch eigensinnige Ermittlerin. »Danke«, sagte Hanne und rollte weiter zum Sofa. Die Präsidentin saß ganz still da. Das Glas, an dem sie bisher nur genippt hatte, stand vor ihr auf dem Tisch. Sie hielt sich kerzengerade, ihre Hände ruhten auf dem Schoß, und ihr Blick haftete an einem riesigen Bild an der Wand. »Who are you«, fragte sie plötzlich, als Hanne sich näherte. Es waren ihre ersten Worte, seit Marry sie in die Wohnung geschafft hatte. »I’m Hanne Wilhelmsen, Madam President. I’m a retired police officer. Und das hier ist Inger Johanne Vik. Auf sie ist Verlaß. Die Frau, die Sie im Keller gefunden hat, ist Marry 280
Olsen, meine Haushälterin. Wir wollen nur Ihr Bestes, Madam President.« Inger Johanne wußte nicht, ob sie mehr darüber staunte, daß die Präsidentin in diesem Zustand überhaupt sprechen konnte, daß Hanne behauptete, auf Inger Johanne sei Verlaß, oder daß ihre Sprache so ungewohnt feierlich klang. Sogar Hanne Wilhelmsen schien große Achtung vor der Präsidentin der USA zu haben, so heruntergekommen Helen Bentley gerade auch wirken mochte. Inger Johanne wußte auch nicht so recht, wie sie sich verhalten sollte. Sich zu setzen, fand sie nicht richtig, sie kam sich aber auch albern vor, wie sie da mitten im Zimmer stand, wie eine ungebetene Lauscherin bei einem vertraulichen Gespräch. Die Situation war so absurd, daß sie ihre Gedanken einfach nicht sammeln konnte. »Wir werden natürlich die zuständigen Stellen informieren«, sagte Hanne leise. »Aber ich dachte, Sie wollten sich vielleicht vorher ein bißchen zurechtmachen. Ich habe sicher Kleider, die Ihnen passen. Falls Ihnen das recht ist, meine ich. Wenn Sie lieber …« »Tun Sie das nicht«, fiel Helen Bentley ihr ins Wort, noch immer, ohne sich zu bewegen, noch immer den einäugigen Blick fest auf das abstrakte Bild an der gegenüberliegenden Wand gerichtet. »Rufen Sie niemanden an. Was ist mit meiner Familie? Meine Tochter … wie …« »Ihrer Familie geht es gut«, sagte Hanne Wilhelmsen ruhig. »Nach allem, was in den Nachrichten gesagt wird, sind sie unter besonders starkem Schutz an einem geheimen Ort, aber es geht ihnen den Umständen entsprechend gut.« Inger Johanne stand wie angefroren da. Die Frau auf dem Sofa trug verdreckte Kleidung, hatte ein blaues Auge und stank. Die groteske Beule an der Schläfe, das geronnene Blut, das die Haare zu harten Strähnen verklebte, das 281
alles ließ sie aussehen wie die geschundenen Frauen, von denen Hanne und Inger schon zu viele erlebt hatten. Die Präsidentin erinnerte Inger Johanne an etwas, woran sie niemals dachte, woran sie niemals denken wollte, und für einen Moment wurde ihr schwindlig. Nach fast zehn Jahren Gewaltforschung hatte sie fast vergessen, warum sie überhaupt damit angefangen hatte. Die Triebkraft war die ganze Zeit der tiefe Wunsch nach Verständnis gewesen, ein heftiger Drang danach, Einsicht in etwas zu gewinnen, das sie im Grunde unerklärlich fand. Noch jetzt, nach einer Doktorarbeit, zwei Büchern und einem guten Dutzend wissenschaftlicher Artikel, fühlte sie sich der Wahrheit, warum manche Männer ihre körperliche Übermacht gegen Frauen und Kinder einsetzen, nicht nähergekommen. Und als sie sich für eine Verlängerung des Erziehungsurlaubs entschied, hatte sie diese Entscheidung hinter einer unbewußten Lüge versteckt: Rücksicht auf die Familie. Den Kindern zuliebe wollte sie noch ein Jahr zu Hause bleiben. Die Wahrheit war, daß sie vor der Wand stand. Sie stand am Ende einer wissenschaftlichen Sackgasse und wußte nicht, was sie jetzt tun sollte. Sie hatte ihr erwachsenes Leben damit verbracht, zu versuchen, Verbrecher zu verstehen, weil sie sich den Konsequenzen des Opferseins nicht stellen wollte. Sie konnte die Scham nicht ertragen, die treue Kampfgefährtin der Gewalt, weder ihre eigene noch die der anderen. Helen Bentley schien sich nicht zu schämen, und das konnte Inger Johanne nicht verstehen. Niemals hatte sie eine mißhandelte Frau gesehen, die so stolz gewesen wäre. Ihr Kinn war erhoben, diese Frau beugte den Nacken nicht. Ihre Schultern waren gerade, wie mit dem Lineal gezeichnet. Sie wirkte nicht im geringsten peinlich berührt. Im Gegenteil. Als ihr gesundes Auge plötzlich zu Inger Johanne 282
weiterwanderte, verspürte diese wieder einen Stich. Der Blick war so stark und direkt, und die Präsidentin schien auf unerklärliche Weise verstanden zu haben, daß Inger Johanne diejenige war, die Hilfe holen wollte. »Ich bestehe darauf«, sagte die Präsidentin. »Ich habe Gründe, warum ich nicht gefunden werden will. Noch nicht. Ich würde ein Bad wirklich zu schätzen wissen …« Der Versuch eines höflichen Lächelns ließ die geschwollene Unterlippe platzen, als sie sich nun an Hanne wandte. »… und saubere Kleider nehme ich auch dankend an.« Hanne nickte. »Wird sofort in die Wege geleitet, Madam President. Ich hoffe aber, Sie verstehen, daß ich einen Grund wissen muß, aus dem ich nicht verraten darf, daß Sie hier sind. Streng genommen mache ich mich strafbar, wenn ich nicht die Polizei anrufe …« Inger Johanne runzelte die Stirn. Sie konnte sich auf die Schnelle nicht an einen einzigen Paragraphen erinnerte, der es untersagte, mißhandelte Frauen in Ruhe zu lassen. Sie sagte aber nichts. »… und deshalb muß ich auf einer Erklärung bestehen.« Hanne lächelte kurz, ehe sie hinzufügte: »Jedenfalls auf einem kleinen Teil einer Erklärung.« Die Präsidentin versuchte, sich zu erheben. Sie schwankte, und Inger Johanne stürzte hinüber, um sie am Fallen zu hindern. Auf halbem Weg blieb sie stehen. »No thanks. I’m fine.« Helen Bentley stand überraschend sicher auf den Beinen, als sie ihre Schläfe berührte und versuchte, eine blutige Haarsträhne von der Haut zu lösen. Eine schmerzhafte Grimasse verschwand ebenso rasch, wie sie gekommen war. Sie räusperte sich und ließ ihren Blick von Hanne zu Inger Johanne und zurück wandern. »Bin ich hier sicher?« 283
»Ganz und gar.« Hanne nickte. »Sie hätten in der ganzen Osloer Innenstadt keinen isolierteren Ort finden können.« »Hier bin ich also«, fragte die Präsidentin. »In Oslo?« »Ja.« Die Präsidentin strich ihre besudelte Jacke glatt. Zum ersten Mal, seit sie hier war, umspielte ein Hauch von Verlegenheit ihren Mund, als sie sagte: »Ich werde natürlich dafür sorgen, daß die Schäden erstattet werden. Hier und …« Ihre Hand zeigte auf die feuchten Flecken auf dem Sofa. »… und … im Keller?« »Ja. Sie waren im Keller. In einem nicht mehr benutzten Tonstudio.« »Das erklärt die Wände. Die waren irgendwie weich. Könnten Sie mir den Weg zum Badezimmer zeigen? Ich muß mich jetzt wirklich ein bißchen zurechtmachen.« Wieder huschte ein Lächeln über ihr geschundenes Gesicht. Hanne lächelte zurück. Inger Johanne war verzweifelt. Sie konnte nicht an die scheinbare Selbstkontrolle der Präsidentin glauben. Der Kontrast zwischen dem jämmerlichen Äußeren der Frau und ihrem höflichen, resoluten Tonfall war zu groß. Vor allem hätte sie gern ihre Hände genommen. Sie festgehalten und ihr mit einem warmen Lappen das Blut von der Stirn gewischt. Sie wollte ihr helfen, hatte aber keine Ahnung, wie eine Frau wie Helen Lardahl Bentley getröstet werden könnte. »Eigentlich hat niemand mich mißhandelt«, sagte die Präsidentin, als ob sie Inger Johannes Gedanken gelesen hätte. »Ich war wohl auf irgendeine Art betäubt, und meine Hände waren gefesselt. Ich weiß das alles nicht so genau. Aber jedenfalls bin ich von einem Stuhl gefallen. Ziemlich hart. Und ich habe nicht …« Sie unterbrach sich. 284
»Welcher Tag ist heute?« »Der 18. Mai«, sagte Hanne. »Und es ist halb zehn Uhr abends.« »Fast zwei Tage«, sagte die Präsidentin, die jetzt eher mit sich selbst zu reden schien. »Ich hab allerlei zu erledigen. Gibt es hier einen Internetzugang?« »Ja«, Hanne nickte. »Aber wie schon gesagt, muß ich um eine Erklärung für …« »Wird angenommen, daß ich tot bin?« »Nein. Bisher wird offenbar gar nichts angenommen. Es herrscht eher … Verwirrung. In den USA glauben sie wohl vor allem …« »Sie haben mein Wort«, sagte die Präsidentin und hielt ihr eine schmale Hand hin. Sie geriet ein wenig ins Taumeln und mußte einen kleinen Schritt zur Seite machen, um ihr Gleichgewicht zurückzugewinnen. »Sie haben mein Wort darauf, daß es von allergrößter Wichtigkeit ist, daß mein Auftauchen nicht bekannt wird. Mein Wort müßte doch mehr als gut genug sein.« Hanne ergriff die Hand der Präsidentin. Sie war eiskalt. Sie sahen einander an. Die Präsidentin taumelte wieder einen Schritt zur Seite. Ihr eines Knie schien unter ihr nachzugeben, sie versuchte, sich nach einem komischen Knicks aufzurichten, dann ließ sie Hannes Hand los und flüsterte: »Rufen Sie niemanden an. Es darf um Himmels willen niemand wissen!« Langsam ließ sie sich aufs Sofa sinken. Sie fiel seitwärts, schlaff wie eine ausrangierte Stoffpuppe. Ihr Kopf traf auf ein Kissen auf. So blieb sie liegen, die eine Hand auf der Hüfte, die andere unters Kinn geklemmt, und sie sah aus, als habe sie sich ganz plötzlich zu einem Nickerchen entschlossen. 285
»Hier ist die Suppe«, sagte Marry. Sie blieb mit einer dampfenden Schale in den Händen mitten im Zimmer stehen. »Die Arme war sicher todmüde«, sagte sie und drehte sich um. »Wer sonst was will, muß in die Küche kommen.« »Jetzt müssen wir anrufen«, sagte Inger Johanne verzweifelt und ging neben der bewußtlosen Präsidentin in die Hocke. »Wir müssen wenigstens einen Arzt holen.«
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27 Die Mainacht hatte sich über Oslo ausgebreitet. Die Wolken waren grauschwarz und hingen so tief über der Stadt, daß die obersten Etagen des Plaza-Hotels darin verschwanden. Der markante schmale Hotelturm schien sich dort oben in Nichts aufzulösen. Die Luft war kühl, aber Streifwinde mit wärmerer Luft verhießen einen besseren morgigen Tag. Yngvar Stubø konnte sich mit dem Frühling niemals ganz anfreunden. Die Kontraste im Wetter gefielen ihm nicht, von stechender Sommerhitze zu fröstelnden drei Grad, von Eisregen zu Badetemperatur, alles in jähen Sprüngen und unvorhersagbaren Wendungen. Es war unmöglich, sich passend anzuziehen. Er ging mit einem Pullover gegen die Morgenkühle ins Büro und war noch vor der Mittagspause durchgeschwitzt. Ein impulsives Grillfest, das vormittags eine gute Idee zu sein schien, konnte bis zum Abend in einen zähneklappernden Alptraum ausarten. Der Frühling roch zudem nicht gut, fand er. In der Innenstadt schon gar nicht. Das milde Wetter legte den Abfall des Winters bloß, die Fäule des vergangenen Herbstes und den Kot zahlloser Hunde, die allesamt eigentlich gar nicht in der Stadt wohnen dürften. Yngvar war ein Herbstmensch. Am allerliebsten war ihm der November. Regen von Anfang bis Ende, mit einem gleichmäßig sinkenden Temperaturniveau, das bestenfalls noch vor Beginn der Adventszeit Schnee lieferte. Der November roch einfach nur naß und kalt und war ein vorhersagbarer, durch und durch trauriger Monat, der ihn immer in gute Laune versetzte. Der Mai dagegen war eine ganz andere Geschichte. 287
Er setzte sich auf eine Bank und atmete tief durch. Der Wasserspiegel im Mittelalterpark kräuselte sich vorsichtig im schwachen Wind. Keine Menschenseele war zu sehen. Sogar die Vögel, die um diese Jahreszeit sonst von morgens bis abends Krach schlugen, hatten schon Feierabend gemacht. Eine kleine Gruppe von Stockenten lag am Ufer und ruhte sich mit dem Schnabel unter dem Flügel aus. Nur ein kugelrunder Erpel watschelte zufrieden hin und her und wachte über seiner Familie. Die Ereignisse der vergangenen vierundzwanzig Stunden schienen nicht nur Oslo, sondern die gesamte westliche Welt entkräftet zu haben. Yngvar hatte früher an diesem Abend eine Nachrichtensendung sehen können. Seit Menschengedenken waren die Straßen von New York noch nicht so verödet gewesen. Die Stadt, die niemals schläft, schien in Schlaf gesunken zu sein, in einen betäubten Zustand unerlösten Wartens. In Washington und Lillesand, in Kleinstädten und Metropolen, überall schien das Verschwinden der Präsidentin noch Schlimmeres anzukündigen, entsetzliche Dinge, die kommen würden und die es anzuraten schienen, sich zu Hause hinter verschlossenen Türen und herabgelassenen Rollos zu verstecken. Er schloß die Augen. Das unveränderliche Rauschen der Großstadt und der eine oder andere Schwerlastzug auf der Schnellstraße hinter dem anderen Seeufer erinnerten ihn daran, daß er sich mitten in einer Hauptstadt befand. Aber er hätte durchaus auch anderswo sein können. Er kam sich vor, als sei er allein auf der Welt. Seit über einer Stunde versuchte er schon, Warren Scifford zu erreichen. Es hatte keinen Sinn, nach Hause zu fahren, solange dieses Gespräch noch ausstand. Zweimal hatte er eine Nachricht hinterlassen, auf dem Anrufbeantworter und in der Botschaft. Im Hotel hieß es, seit dem frühen Nachmittag sei Mr. Scifford nicht mehr gesichtet worden. 288
Nur eine Stunde, nachdem ein aufgeregter Taxifahrer auf der Wache einen in der Jackentasche seiner verstorbenen Mutter entdeckten Dienstausweis abgeliefert hatte, war der tote Secret Service-Agent Jeffrey William Hunter gefunden worden. Da die Stelle, an der die vom Schlag getroffene Frau gelegen hatte, sofort zu ermitteln war, konnten sie die Suche dort beginnen lassen. Der Mann wurde zwölf Meter von dieser Stelle entfernt entdeckt. Er lag in einem Graben gleich neben dem Weg. Sein Schädel war durchlöchert von einer 9 mm-Kugel aus der SIG Sauer P 229, die er in der Hand hielt. Die Techniker am Tatort hatten zuerst gestutzt, weil sein rechter Arm teilweise verborgen war, er klemmte in einem Spalt zwischen zwei Felsbrocken, was auf den ersten Blick für einen Toten doch eine Leistung wäre. Eine rasche und nicht offizielle Rekonstruktion des Sturzes hatte sie jedoch davon überzeugt, daß hier ein Selbstmord vorlag. Das meinte auch der Pathologe, mit allen Vorbehalten, die sich daraus ergaben, daß ein zuverlässiges Ergebnis der Untersuchung erst in einigen Tagen zu erwarten war. Es war fast halb elf, und Yngvar gähnte ausgiebig. Er war müde und wach zugleich. Einerseits sehnte er sich nach seinem Bett. Sein Körper war schwer und erschöpft. Andererseits quälte ihn eine Unruhe, die das Schlafen unmöglich machen würde. Das Polizeipräsidium war zu einem unerträglichen Aufenthaltsort geworden. Niemand sprach noch von unzulässigen Überstunden oder darüber, wann die endlosen Schichten vorbei sein würden. Alle liefen herum wie in einem Ameisenhaufen. Immer mehr Leute schienen sich in dem riesigen Gebäude einzufinden, ohne es jemals wieder zu verlassen. Auf den Gängen wimmelte es von Menschen. Alle Büros waren belegt. Hier und da wurde sogar eine Besenkammer als Aufenthaltsraum für gemietetes Büropersonal requiriert. Und das Haus war wie eine belagerte Festung. Das Dorf auf 289
der großen Rasenfläche am Hang zum Grønlandsleiret wuchs immer weiter an. Zwei schwedische Fernsehsender hatten sich auf der anderen Seite des Polizeigebäudes häuslich niedergelassen. Eine Zeitlang hatten sie mit zwei Bussen den Åkebergsvei versperrt. Jetzt waren sie in die Borggate verbannt worden, gleich neben die Kirche von Grønland, aber diese Stichstraße war so eng, daß die Streifenwagen nicht an den Bussen vorbei aus ihrem Hinterhof fahren konnten. Die Schweden hatten sich schon eine Dreiviertelstunde mit der Ordnungsabteilung gestritten, als Yngvar erkannt hatte, daß er nicht mehr konnte. Er brauchte Luft. Er hatte den ganzen Nachmittag hindurch bei jeder Gelegenheit Essen eingeworfen. Ehe er das Polizeigebäude verließ, hatte er gierig eine lauwarme Pizza von Peppe’s verschlungen. Die flachen Schachteln lagen überall herum. Innerhalb von zwei Tagen war die Osloer Polizei die größte Abnehmerin aller Zeiten bei dieser Fastfood-Kette geworden. Er hatte noch immer Hunger. Yngvar fuhr sich mit der Hand über den Bauch. Es war schon lange her, daß er sich als stämmig hatte bezeichnen können. Ohne zu merken, wann es passierte, aber ungefähr auf dieselbe Weise, wie seine Haare dünner geworden waren, war Yngvar fett geworden. Sein Bauch hing schwer über dem Gürtel, den er öffnete, sowie er sich unbeobachtet wähnte. Den letzten Termin beim Betriebsarzt hatte er mit dem Vorwand der Zeitnot geschwänzt. Er traute sich nicht hin. Statt dessen dachte er dankbar an die elende Überbeanspruchung des Arztes, die dafür sorgte, daß er erst im nächsten Jahr wieder hinbestellt werden würde. Ab und an, wenn er nachts aufwachte, weil er zur Toilette mußte, spürte er geradezu, wie das Cholesterin sich als widerlicher, lebensgefährlicher Schleim an die Gefäßwände klebte. Er glaubte, im Herzen und im linken Arm Doppelschläge und vage Stiche zu spüren, und zum ersten Mal in seinem Leben lag er nachts wach und machte sich wegen seiner Gesundheit 290
Sorgen. Wenn endlich der Morgen kam, erkannte er erleichtert, daß alles nur Einbildung war, und er verzehrte zum Frühstück wie immer Eier mit Speck. Er war ein stämmiges Mannsbild und brauchte solide Kost. Bald würde er außerdem wieder mit dem Training anfangen. Sowie er etwas mehr Zeit hatte. Sein Telefon piepste. »Inger Johanne«, flüsterte er und ließ es fallen. Das Display schaute auf den Boden, und er sah nicht hin, als er sich das Telefon schnappte und sagte: »Hallo?« »Hallo. Hier ist Warren.« »Ach. Hallo. Ich hab versucht, dich zu erreichen.« »Deshalb rufe ich ja an.« »Du hast gelogen, was den Mann auf dem Überwachungsfilm angeht.« »So?« »Ja. Du hast gewußt, wer das ist. Der Mann im Anzug war ein Secret Service-Agent. Du hast gelogen. Und das gefällt uns überhaupt nicht.« »Das kann ich verstehen.« »Wir haben ihn gefunden. Jeffrey Hunter.« Am anderen Ende der Leitung wurde es sehr still. Yngvars Blick ruhte auf dem Erpel. Der wackelte einige Male mit seinem Bürzel, ehe er sich zwei Meter von seiner Familie entfernt auf einen großen Grasbüschel legte, wie auf einen Wachtturm. Ein Lichtreflex traf das kohlschwarze Auge. Yngvar versuchte, den Mantel fester um sich zu schließen, aber der war zu eng. Er ließ Warren die Zeit, die dieser brauchte. »Shit«, sagte der Amerikaner endlich. »Das kannst du wohl sagen. Der Mann ist tot. Selbstmord, vermuten wir. Aber das hast du dir wohl schon gedacht.« 291
Wieder war es ganz still. Der Erpel ließ Yngvar nicht aus den Augen. Er schnatterte leise und wiederholt, wie um klarzustellen, daß er weiterhin Wache hielt. »Ich glaube, wir sollten uns treffen«, sagte Warren plötzlich. »Es ist fast elf.« »Tage wie heute nehmen nie ein Ende.« Jetzt war Yngvar derjenige, der schwieg. »Wir treffen uns in zehn Minuten«, beharrte Warren. »Salhus, du und ich. Sonst niemand.« »Ich weiß nicht, wie oft ich noch erklären muß, daß das hier eine polizeiliche Ermittlung ist«, sagte Yngvar resigniert. »Und da müssen der Polizeipräsident oder jemand von seinen Leuten zugegen sein.« »Wenn du meinst«, sagte Warren kühl, und Yngvar sah ihn vor sich, wie er in gleichgültiger Arroganz mit den Schultern zuckte. »Sagen wir um Viertel nach elf?« »Komm zum Präsidium. Ich bin in zehn Minuten da. Dann werden wir sehen, ob der Polizeipräsident und Peter Salhus zu erreichen sind.« »Das sollten sie sein«, sagte Warren und beendete das Gespräch. Yngvar blieb sitzen und starrte sein Telefon an. Nach einigen Sekunden wurde das Display dunkel. Er verspürte einen seltsamen Zorn. Sein Magen krampfte sich für einen Moment zusammen. Er hatte einen Bärenhunger und war wütend. Anfangs hatte er Grund gehabt, auf Warren sauer zu sein. Trotzdem hatte der Amerikaner auf unerklärliche Weise die Situation auf den Kopf stellen können. Wieder war Yngvar zum Befehlsempfänger geworden. Warren schien die Lage so zu sehen, als sei er auf niemanden angewiesen, genau wie das 292
Land, aus dem er stammte, weshalb er sich auch nicht zu schämen brauchte, wenn er bei einer klaren, frechen Lüge erwischt wurde. Wieder klingelte das Telefon. Yngvar schluckte, als er Inger Johannes blau leuchtenden Namen sah. Er ließ es viermal klingeln. In seinen Ohren sauste es, er konnte geradezu spüren, wie sein Blutdruck stieg. Er versuchte, ruhig durchzuatmen, und drückte auf die grüne Taste. »Hallo«, sagte er leise. »Du rufst spät an.« »Hallo«, sagte sie ebenso leise. »Wie geht es dir?« »Geht so. Bin natürlich kaputt, aber das sind wir sicher alle.« »Wo bist du?« »Wo bist du?« »Yngvar«, sagte sie leise. »Das mit heute morgen tut mir leid. Ich war so verletzt und unglücklich und wütend und …« »Schon gut. Das Wichtigste ist, daß ich jetzt erfahre, wo ihr steckt. Und wann du nach Hause kommst. Ich kann dich abholen … in einer Stunde vielleicht. Oder zwei.« »Das kannst du nicht.« »Ich will …« »Es ist schon elf, Yngvar. Du mußt doch begreifen, wie falsch es wäre, Ragnhild mitten in der Nacht zu wecken.« Yngvar legte den Daumen an sein eines Auge und den Zeigefinger an das andere und drückte zu. Er sagte nichts. Rote Ringe und Punkte tanzten vor der leeren Dunkelheit hinter seinen Augenlidern. Er kam sich schwerer vor denn je, alles überflüssige Fett an seinem Körper schien sich in Blei verwandelt zu haben. Die Bank bohrte sich in seinen Rücken und sein rechtes Bein war schon fast eingeschlafen. »Ich muß wenigstens wissen, wo ihr steckt«, sagte er. »Das kann ich dir ganz einfach nicht sagen.« 293
»Ragnhild ist mein Kind. Ich habe das Recht und die Pflicht, zu wissen, wo sie ist. Jederzeit.« »Yngvar …« »Nein! Ich kann dich nicht zwingen, nach Hause zu kommen, Inger Johanne. Du hast auch recht, es wäre falsch, Ragnhild mitten in der Nacht zu wecken. Aber ich will … Ich will wissen, wo ihr seid!« Der Erpel schnatterte ein wenig und bewegte die Flügel. Zwei Enten erwachten und stimmten ins Geschnatter ein. »Es ist etwas passiert«, sagte Inger Johanne. »Und das …« »Ist mit euch alles in Ordnung?« »Ja«, sagte sie schnell und laut. »Mit uns beiden ist alles in Ordnung, aber ich kann dir nicht sagen, wo wir sind, so gern ich das auch tun würde. Okay?« »Nein.« »Yngvar …« »Kommt nicht in Frage, Inger Johanne. Du und ich, wir sind nicht so. Wir hauen nicht mit den Kindern ab und weigern uns, einander zu erzählen, wo wir stecken. Das tun wir ganz einfach nicht.« Am anderen Ende wurde es still. »Wenn ich dir sage, wo wir sind«, sagte sie endlich. »Kannst du mir dann auf Ehre und Gewissen versprechen, erst herzukommen, wenn ich Bescheid sage?« »Ich habe diese Versprechen, die du dauernd von mir verlangst, ehrlich gesagt ganz schön satt«, sagte er und versuchte, ruhig zu atmen. »Im Leben von Erwachsenen geht das nicht so. Dinge passieren und ändern sich. Man kann nicht dauernd irgendwas schwören und …« Er verstummte, als ihm aufging, daß Inger Johanne weinte. Ihr leises Schluchzen wurde im Telefon zu einem scharrenden Geräusch, und er spürte, wie ihm ein eiskalter Schauer über den 294
Rücken lief. »Stimmt denn etwas nicht?« fragte er keuchend. »Etwas ist passiert«, schluchzte sie. »Aber ich habe versprochen, nichts zu sagen. Es hat nichts mit Ragnhild oder mir zu tun, deshalb kannst du …« Das Weinen überwältigte sie. Yngvar versuchte, von der Bank aufzustehen, aber sein rechter Fuß war endgültig eingeschlafen. Er schnitt eine Grimasse, stützte sich auf die Rücklehne und richtete sich so weit auf, daß er das tote Bein ins Leben zurückschütteln konnte. »Liebes«, sagte er mit sanfter Stimme. »Ich verspreche es. Ich komme erst, wenn du mich rufst, und ich werde keine weiteren Fragen stellen. Aber wo bist du?« »Ich bin bei Hanne Wilhelmsen«, sagte sie und schluchzte wieder auf. »In der Kruses gate. Ich weiß die Hausnummer nicht, aber die kannst du sicher feststellen.« »Was … was zum Teufel machst du bei …« »Du hast es versprochen, Yngvar. Du hast versprochen, daß du …« »Schon gut«, sagte er rasch. »Schon gut.« »Gute Nacht.« »Mach’s gut.« »Du auch.« »Ich liebe dich.« »Mmmm.« Er stand noch mit dem Telefon am Ohr da, als sie schon längst aufgelegt hatte. Ein leichter Nieselregen setzte ein. Noch immer hatte er das Gefühl, daß es in seinem Bein von Ameisen nur so wimmelte. Die Entenfamilie schwamm jetzt, sie wagten nicht mehr, sich in seiner Nähe aufzuhalten. Warum lasse ich mich immer an der Nase herumführen, fragte 295
er sich und hinkte über den feuchten, frischgemähten Rasen auf die Ruine der Marienkirche zu. Warum bin immer ich derjenige, der nachgeben muß? Immer und bei allen?
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28 »Hier? Diese Tür?« Kommissarin Silje Sørensen starrte den verängstigten Dreißigjährigen an und versuchte, ihre Verärgerung zu unterdrücken. »Sie sind sicher, daß es diese Tür war?« Er nickte heftig. Natürlich konnte sie die Angst des Mannes verstehen. Er war pakistanischer Herkunft und besaß die norwegische Staatsbürgerschaft. Seine Papiere waren also in Ordnung. Seine Papiere schon. Bei der jungen Pakistanerin, die er vor kurzem geheiratet hatte, sah es nicht so gut aus. Vor Jahren war sie nach einem unerlaubten Aufenthalt im Land aus Norwegen ausgewiesen worden. Ein Jahr darauf war sie auf dem Flughafen Gardermoen verhaftet worden, mit falschen Papieren und einer hübschen kleinen Partie Heroin im Gepäck. Sie beteuerte, von Hintermännern gezwungen worden zu sein, die sie töten würden, und seltsamerweise war sie mit einer weiteren Ausweisung davongekommen. Diesmal für immer und ewig. Das hinderte ihren Vater jedoch nicht daran, sie mit einem Vetter zweiten Grades und norwegischem Paß zu verheiraten. Sie hatte sich einige Wochen zuvor, versteckt hinter vier Paletten Tomatensaft auf einem spanischen Lastwagen, wieder nach Norwegen eingeschmuggelt. Ali Khurram liebt sie offenbar wirklich, dachte Silje Sørensen und musterte die Tür, die er ihr gezeigt hatte. Andererseits konnte die extreme Angst, die er in bezug auf das Schicksal seiner Frau zeigte, auch damit zusammenhängen, was ihr Vater unternehmen würde. Obwohl der in Karatschi wohnte, fast 297
sechstausend Kilometer von Oslo entfernt, hatte Ali Khurrams Schwiegervater Kommissarin Sørensen schon zwei Anwälte auf den Hals gehetzt. Überraschenderweise waren die von der verständnisvollen Sorte gewesen. Sie hatten eingesehen, daß man von einem Mann, der die Präsidentin der USA in einem Korb für schmutzige Wäsche aus einem Hotelzimmer schmuggelt, durchaus eine Erklärung verlangen kann. Sie nickten ernsthaft, als sie unter strengen Erinnerungen an ihre Schweigepflicht Einblick in einen winzigen Teil der Ermittlungsunterlagen nehmen durften. Der eine Anwalt, der selbst pakistanischer Herkunft war, hatte danach mit Ali Khurram ein kurzes und leises Gespräch auf Urdu geführt. Das Gespräch hatte seine Wirkung gezeigt. Ali Khurram hatte sich die Tränen abgewischt und war bereit gewesen, die Stelle im Keller zu zeigen, wo er den Putzwagen abgestellt hatte. Silje Sørensen sah sich noch einmal den Bauplan an. Es war gar nicht so einfach, mit den riesigen Bögen zu hantieren. Der Kollege, der sie begleitete, versuchte das eine Ende zu halten, aber das steife Papier wölbte sich unwillig zwischen ihnen. »Die ist nicht da«, sagte der Kollege und versuchte, die nicht notwendigen Teile der Zeichnung wegzufalten. »Aber wir sind im richtigen Gang?« Silje schaute sich um. Das Neonlicht der Röhren an der Decke war scharf und unangenehm. Der lange Gang endete im Westen vor einer Tür zu einer Hintertreppe, die ins zwei Stockwerke über ihnen gelegene Erdgeschoß hinaufführte. »Es gibt zwei Kellerebenen«, sagte ein Mann mittleren Alters, der nervös an seinem dünnen Schnurrbart nagte. »Das hier ist die unterste. Und ja … wir sind im richtigen Gang.« Er war der technische Leiter des Hotels und schien kurz davor, sich in die Hose zu machen. Er trat von einem Fuß auf den anderen und konnte seinen Schnurrbart nicht in Ruhe lassen. »Aber auf dem Bauplan ist sie nicht eingetragen«, sagte Silje 298
und musterte die Tür so skeptisch, als habe die gegen alle Gesetze und Vorschriften verstoßen. »Welchen Plan haben Sie da eigentlich«, sagte der Betriebsleiter und versuchte, auf der Zeichnung ein Datum zu finden. »Wie meinen Sie das?« fragte der Polizist und machte noch einen Versuch, die riesigen Bögen unter Kontrolle zu bekommen. »Er hat gesagt, daß er vom Secret Service kommt, als er meine Handynummer bekommen hat«, jammerte Ali Khurram. »Ich konnte doch nicht wissen … Er hat mir seinen Ausweis gezeigt und alles. So ein Dings wie im Fernsehen, mit Bild und Stern und … Das hat er mir gesagt, früher an dem Tag, daß ich kommen sollte, sowie er mich angerufen hätte. Sofort, hat er gesagt! Und daß er vom Secret Service kommt und überhaupt, echt! Ich konnte doch nicht wissen, daß er …« »Sie hätten uns sofort Bescheid sagen müssen, als Sie gehört haben, was passiert ist«, sagte Silje eiskalt und drehte sich zu ihm um. »Sie hätten sofort Alarm schlagen müssen. Können Sie das erklären?« Diese Frage galt dem Betriebsleiter. »Aber meine Frau«, sagte Ali Khurram. »Ich hatte schreckliche Angst, weil … was wird jetzt aus meiner Frau? Muß sie jetzt ausreisen? Kann sie nicht …« »Das brauchen wir jetzt nicht noch mal«, sagte Silje und hob die Hand. »Das erzählen Sie uns jetzt schon seit Stunden. Die Lage wird nicht besser dadurch, daß Sie hier noch weiter herumquengeln, weder für Sie noch für Ihre Frau. Stellen Sie sich da hinten hin. Und halten Sie den Mund!« Sie zeigte gebieterisch auf einen Punkt auf dem Boden, der einige Meter von der Tür entfernt war. Ali Khurram trottete den Gang hinunter. Er schlug die Hände vors Gesicht und murmelte auf Urdu vor sich hin. Der uniformierte Polizist folgte ihm. 299
»Sie haben die falschen Pläne«, sagte endlich der Betriebsleiter. »Das sind die ursprünglichen. Aus der Zeit, als das Hotel erbaut wurde, meine ich. Es war 2001 fertig. Und da gab es die Tür noch nicht.« Er ließ dieser Mitteilung ein Lächeln folgen, das vermutlich verbindlich wirken sollte, als sei die Tür nicht mehr der Rede wert, da das Geheimnis der unkorrekten Zeichnungen nun geklärt war. »Falsche Zeichnungen«, wiederholte Silje Sørensen tonlos. »Ja«, sagte der Betriebsleiter eifrig. »Oder … diese Tür ist streng genommen wohl auf gar keiner Zeichnung zu finden. In Verbindung mit den Bauarbeiten für die Oper, den Sprengungen und solchen Dingen, wurde uns aufgetragen, von hier aus einen Zugang zum Parkhaus zu schaffen. Für den Fall irgendeiner …« »Welches Parkhaus?« fragte Silje Sørensen resigniert. »Das da«, sagte der Betriebsleiter und zeigte auf die Wand. »Das? Das?« Silje Sørensen war der seltene Fall einer schwerreichen Polizistin. Sie gab sich stets alle Mühe, ihre größte Schwäche zu verbergen: die Arroganz, die eine behütete Kindheit und geerbter Reichtum mit sich bringen. Jetzt fiel ihr das schwer. Der Betriebsleiter war ein Idiot. Seine Jacke war geschmacklos. Weinrot und mit schlechtem Sitz. Seine Hose war über den Knien speckig. Sein Schnurrbart war lächerlich. Seine Nase war schmal und krumm und sah eher aus wie ein Schnabel. Außerdem kroch er vor ihr. Trotz der ernsten Lage lächelte er die ganze Zeit. Silje Sørensen empfand fast Abscheu diesem Mann gegenüber, und als er als freundliche Geste die Hand auf ihren Unterarm legte, riß sie den Arm weg. »Das«, wiederholte sie und versuchte, ihr Temperament zu zügeln. »Ein bißchen unpräzise, vielleicht? Was meinen Sie eigentlich?« 300
»Das Parkhaus, das zum Hauptbahnhof gehört«, erklärte er. »Ein öffentliches Parkhaus. Es gibt keinen Zugang vom Hotel aus. Man muß um das Haus herumgehen. Falls die Gäste …« »Sie haben eben erst gesagt, daß diese Tür dorthin führt«, unterbrach sie ihn und schluckte. »Sicher«, er lächelte. »Diese Tür, ja. Aber die wird nicht benutzt. Das war nur so eine Auflage. Als bei den Bauarbeiten gesprengt werden mußte und …« »Das haben Sie schon gesagt«, fiel sie ihm abermals ins Wort und fuhr mit der Hand über den grob eingepaßten Türrahmen. »Warum gibt es hier keine Klinke?« »Wie gesagt, diese Tür soll nicht benutzt werden. Wir mußten nur einfach einen Zugang zum Parkhaus anlegen. Aus Sicherheitsgründen haben wir die Klinke entfernt. Und soviel ich weiß, ist die Tür nie in die Baupläne eingezeichnet worden.« Er kratzte sich im Nacken und bückte sich. Silje konnte nicht begreifen, wie diese Tür bei einem Sprengunfall als Notausgang dienen sollte, wenn sie nicht geöffnet werden konnte, aber sie wollte darauf nicht näher eingehen. Statt dessen streckte sie die Hand nach der Klinke aus, die der Betriebsleiter einer umfangreichen Tasche mit dem Hotellogo auf der Seite entnommen hatte. »Den Schlüssel«, befahl sie und schob die Klinke in die Tür. Der Betriebsleiter gehorchte. Es dauerte nur Sekunden, die Tür aufzuschließen. Silje achtete darauf, keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Die Techniker waren schon unterwegs, um eventuelle Spuren zu sichern. Sie öffnete die Tür. Der stickige Geruch von geparkten Autos und alten Abgasen schlug ihr entgegen. Silje Sørensen blieb stehen, statt die Tiefgarage zu betreten. »Die Ausfahrt ist da hinten, oder?« Sie zeigte nach rechts, gen Osten. 301
»Ja. Und ich muß dazu sagen …« Er lächelte noch breiter und seine Nervosität schien abzunehmen, als er hinzufügte: »… daß der Secret Service die Umgebung persönlich inspiziert hat. Alles ist in schönster Ordnung. Sie haben sogar eine eigene Klinke und einen Schlüssel bekommen. Für die Tür und für den Fahrstuhl. Sie haben überhaupt beeindruckende Arbeit geleistet. Vor Eintreffen der Präsidentin haben sie mehrere Tage lang das Hotel vom Keller bis zum Dach untersucht.« »Wer hat Schlüssel und Klinke bekommen, sagten Sie?« Silje fragte, ohne sich umzudrehen. »Der Secret Service.« »Wer vom Secret Service?« »Na ja, wer …« Der Betriebsleiter lachte kurz. »Von denen hat es hier im Haus doch nur so gewimmelt. Ich habe mir natürlich nicht alle Namen merken können.« Endlich drehte Silje Sørensen sich um. Sie zog die schwere Tür zu, schloß ab, nahm die Klinke heraus und legte sie und den Schlüssel in ihre eigene Tasche. Aus einem Seitenfach zog sie ein Blatt Papier und hielt es dem Betriebsleiter hin. »Wie ist es mit dem hier?« Der Mann kniff ein wenig die Augen zu und schob den Kopf dem Papier entgegen, ohne seinen Körper zu bewegen. Er sah aus wie ein Geier. »Das ist er! Namen kann ich mir nicht immer merken, aber Gesichter vergesse ich nie. Berufskrankheit, vielleicht. In der Hotelbranche …« »Sind Sie ganz sicher?« »Natürlich.« Der Betriebsleiter lachte. 302
»Ich kann mich gut an ihn erinnern. Sehr sympathischer Mann. Er war sogar zweimal hier unten.« »Allein?« Der Mann überlegte. »Jaaa …« Er zögerte mit der Antwort. »Sie waren so viele. Aber ich bin fast sicher, daß er diesen Teil des Kellers allein untersucht hat. Abgesehen davon, daß ich dabei war, natürlich. Ich habe eigenhändig …« »Schon gut«, sagte Silje und verstaute das Bild von Jeffrey Hunter wieder in der Tasche. »War danach noch jemand hier unten?« »Was meinen Sie mit danach? Nach dem Verschwinden?« »Ja.« »Nein«, sagte der Betriebsleiter und zögerte wieder. »In den Stunden, nachdem das Verschwinden der Präsidentin entdeckt worden war, wurde doch das gesamte Gebäude durchgekämmt. Ich bin natürlich nicht ganz sicher, weil ich doch zusammen mit einem Polizisten im Büro saß und alles anhand der Baupläne überprüft habe …« Seine Hand deutete auf die Zeichnungen, die aus Siljes Tasche lugten. »… und auch allerlei Anordnungen treffen mußte. Außerdem war das Kellergeschoß doch abgesperrt.« »Abgesperrt? Der Keller?« »Ja, natürlich.« Er lächelte vielsagend. »Aus Gründen der Sicherheit …« Dieser Ausdruck klang wie ein Mantra, wie etwas, das er jeden Tag hundertmal sagte, und das deshalb seinen Inhalt vollständig eingebüßt hatte. 303
»… wurde der untere Keller schon geraume Zeit vor der Ankunft der Präsidentin abgesperrt. Ich hatte das so verstanden, daß der Secret Service alle Risiken … minimieren wollte. Sie haben auch Teile des Westflügels abgeriegelt. Sowie Teile des siebten und achten Stocks. Das ist das, was sie minimal risk nennen … minimizing risk …« Er suchte vergeblich nach den englischen Wörtern, die er erst kürzlich gelernt hatte. »Minimierte Risikozone«, sagte er dann zufrieden auf Norwegisch. »Ganz normal. In diesen Kreisen. Überaus vernünftig.« »Die Polizei muß also nicht hier unten gewesen sein«, sagte Silje langsam. »In den Stunden nach der Entführung, meine ich.« »Nein …« Wieder schien er nicht so recht zu wissen, was sie eigentlich hören wollte. Er starrte sie an, ohne eine Antwort zu finden. »Also, das ganze Geschoß war abgesperrt. Verschlossen. Der Fahrstuhl kann nur mit einem Schlüssel nach hier unten in Bewegung gesetzt werden. Hier unten sollen die Gäste sich nicht herumtreiben, das können Sie sicher verstehen. Technische Geräte und … ja, Sie wissen schon. Der Secret Service hatte natürlich Schlüssel, sonst aber niemand. Außer mir, selbstverständlich, und denjenigen meiner Angestellten, die …« »Wurde die Untersuchung aufgrund dieses Bauplans durchgeführt?« fragte Silje Sørensen und griff nach den Zeichnungen, die in ihrer Tasche steckten. »Nein. Das da sind wie gesagt die Originalpläne. Wir haben die neueren benutzt, auf denen auch die Umbauten der Präsidentensuite eingezeichnet sind. Aber die vom Keller sind ja dieselben geblieben, das Geschoß, das Sie da haben …« Er zeigte auf ihre Tasche. 304
»Das ist ja identisch. Der Keller. In beiden Ausgaben.« »Und auf keiner ist diese Tür eingezeichnet«, sagte Silje noch einmal, als sei diese Tatsache zu schrecklich, um wahr zu sein. »Wir haben sehr eng mit der Polizei zusammengearbeitet«, beteuerte der Betriebsleiter. »Es war eine enge und gute Zusammenarbeit, vor wie nach der Entführung.« Herrgott, dachte Silje und schluckte. Wir waren zu viele. Zahllose Köche und ein schrecklich verdorbener Brei. Der Keller war abgesperrt und abgeschlossen. Den Zeichnungen nach gibt es keinen Ausgang. Sie haben einen Fluchtweg gesucht, und es herrschte das totale Chaos. Wir haben diese Tür nicht gefunden, weil wir nicht danach gesucht haben. »Kann ich jetzt nach Hause gehen«, fragte Ali Khurram, der noch immer einige Meter entfernt stand, dicht vor der Mauer. »Jetzt kann ich doch sicher gehen?« »Über Leute wie Sie staune ich immer wieder«, sagte Silje Sørensen verbissen, ohne den verzweifelten Mann aus den Augen zu lassen. »Ihr begreift nichts, was? Glauben Sie wirklich, Sie könnten nach Lust und Laune Verbrechen begehen und dann zur Madame nach Hause laufen, als ob nichts passiert wäre? Glauben Sie das wirklich?« Sie machte einen Schritt auf ihn zu. Ali Khurram sagte nichts. Statt dessen schaute er zu Siljes Kollegen hinüber. Der hochgewachsene Polizist hieß Khalid Mushtak und hatte zwei Jahre zuvor als Jahrgangsbester die Polizeischule beendet. Seine Augen wurden schmal und sein Adamsapfel verriet, daß er heftig schlucken mußte. Aber er sagte nichts. »Mit ›Leute wie Sie‹«, sagte Silje rasch und zeichnete riesige Gänsefüßchen in die Luft, »habe ich nicht Leute wie Sie gemeint. Ich meinte Leute, die unser System nicht begreifen. Die nicht verstehen, wie …« Sie unterbrach sich. Das gleichmäßige Brummen der riesigen, 305
nackten Entlüftungsrohre unter der Decke war das einzige Geräusch, das hier zu hören war. Der Betriebsleiter hatte endlich mit aufgehört zu lächeln. Ali Khurram schluchzte nicht mehr. Khalid Mushtak starrte die Kommissarin schweigend an. »Tut mir leid«, sagte Silje Sørensen schließlich. »Das tut mir wirklich leid. Das war ein schrecklich blöder Spruch.« Sie hielt dem Kollegen die Hand hin. Der nahm sie nicht. »Mich brauchst du nicht um Entschuldigung zu bitten«, sagte er und legte Ali Khurram Handschellen an. »Sondern diesen Burschen hier. Aber dazu wirst du ja noch Gelegenheit genug haben. Ich gehe mal davon aus, daß er eine ganze Weile bei uns bleiben wird.« Das Lächeln, mit dem er sie bedachte, während er die Handschellen zuschnappen ließ, war weder kalt noch spöttisch. Es war mitleidig. Silje Sørensen konnte sich nicht erinnern, wann sie sich zuletzt dermaßen dumm vorgekommen war. Noch schlimmer aber war, daß es aus dem Hotel Opera einen Fluchtweg gab, von dem außer dem Secret Service-Agenten, der Selbstmord begangen hatte, niemand gewußt hatte. Vermutlich hat er sich geschämt, dachte sie und merkte, wie sie selbst rot wurde. Das Allerschlimmste war jedoch, daß sie mehr als anderthalb Tage gebraucht hatten, um diesen Fluchtweg zu finden. »Eine Scheißtür«, murmelte die Frau, die sonst niemals fluchte. Sie ging hinter Khalid Mushtaks breitem Rücken die Treppe hoch. »Wir haben vierzig Stunden gebraucht, um eine verdammte Tür zu finden. Was haben wir sonst noch bisher nicht gefunden?« 306
29 »Eine Tür. Sie haben eine Tür gefunden.« Warren Scifford legte sich die Hand über die Augen. Seine Haare sahen feucht aus, wie eben erst gewaschen. Er hatte seinen Anzug gegen Jeans und einen weiten, dunkelblauen Pullover getauscht. Über der Brust stand in Großbuchstaben YALE geschrieben. Seine Stiefel schienen aus echtem Schlangenleder zu sein. In dieser Kleidung wirkte er älter als im Anzug. Der Anflug von schlaffer Haut am Hals wurde über dem legeren Pullover deutlicher. Die sonnengebräunte Haut machte keinen frischen, sportlichen Eindruck mehr. Im Gegenteil, der jugendliche Aufzug gab der ganzen Gestalt etwas Verkrampftes und betonte nur, daß seine Haut für diese Jahreszeit unnatürlich dunkel war. Er hatte die Beine übereinander geschlagen, und die obere Stiefelspitze wippte nervös. Ansonsten schien er kurz vor dem Einschlafen zu sein. Er hatte den Ellbogen auf die Armlehne gestützt und hing mehr im Sessel, als daß er saß. »Eine Tür, die der Secret Service nachweislich überprüft hatte«, sagte Yngvar Stubø. »Durch Jeffrey Hunter. Wann habt ihr sein Verschwinden entdeckt?« Warren Scifford setzte sich langsam auf. Erst jetzt bemerkte Yngvar, daß der Mann sich übel geschnitten hatte. Das Blut drang durch ein Pflaster neben dem linken Ohr. Der Duft des Rasierwassers war ein wenig zu stark. »Er hatte sich krankgemeldet«, sagte der Amerikaner endlich. »Wann?« »Am Morgen des 16. Mai.« »Er war also schon hier, als die Präsidentin in Norwegen eintraf?« »Ja. Er war der Hauptverantwortliche für die Sicherung des 307
Hotels. Er ist am 13. gekommen.« Polizeipräsident Bastesen rührte in einer Kaffeetasse. Fasziniert starrte er den dabei entstandenen Mahlstrom an. »Ich dachte, diese Jungs wären total unbestechlich«, murmelte er auf Norwegisch. »Kein Wunder, daß wir nicht weitergekommen sind.« »Pardon me«, sagte Warren Scifford sichtlich irritiert. »Er hat sich also krankgemeldet«, sagte Yngvar eilig. »Muß was ziemlich Ernstes gewesen sein, oder? Daß der Hauptzuständige für die Hotelsicherheit der Präsidentin sich zwölf Stunden vor Eintreffen des Objektes krankmeldet, kommt doch sicher eher selten vor? Ich möchte annehmen, daß …« »Der Secret Service hatte Leute genug«, fiel Warren ihm ins Wort. »Außerdem ging alles nach Plan. Das Hotel war durchsucht worden, die Pläne waren ausgearbeitet, Teile der Umgebung waren abgesperrt, das System festgelegt. Der Secret Service geht immer sorgfältig vor. Sie haben für fast alles eine Notlösung, so unvorstellbar das auch klingen mag.« »Hier waren sie aber nicht so sorgfältig«, sagte Yngvar. »Wenn einer von euren eigenen Spezialagenten sich an der Entführung der Präsidentin beteiligt.« Schweigen senkte sich über den Raum. Überwachungschef Peter Salhus drehte den Verschluß von einer Colaflasche. Terje Bastesen hatte sich endlich von seiner Kaffeetasse losgerissen. »Wir nehmen das wirklich nicht auf die leichte Schulter«, sagte er endlich und versuchte, den Blick des Amerikaners einzufangen. »Ihr müßt sehr früh begriffen haben, daß einer von euren Leuten damit zu tun hatte. Und daß ihr dann nicht …« »Nein«, fiel Warren ihm schroff ins Wort. »Wir haben nicht …« Er verstummte. Wieder fuhr er sich mit der Hand über die Augen. Er schien sie verbergen zu wollen. 308
»Der Secret Service hat gestern erst sehr spät bemerkt, daß Jeffrey Hunter verschwunden war«, sagte er nach einer Pause, die so lang war, daß inzwischen eine Schreibkraft eine weitere lauwarme Pizza und einen Kasten Mineralwasser gebracht hatte. »Sie hatten an anderes zu denken. Und ja, die Krankheit schien wirklich ernst zu sein. Bandscheibenvorfall. Der Mann konnte sich nicht bewegen. Am Morgen des 16. Mai wurde er mit Schmerzmitteln vollgepumpt, aber danach konnte er nur im Bett vor sich hindösen.« »Hat er jedenfalls behauptet.« Warren sah Yngvar an und nickte kurz. »Das hat er gesagt.« »Ist er von einem Arzt untersucht worden?« »Nein. Unsere Leute verfügen über umfassende medizinische Kenntnisse. Ein Bandscheibenvorfall ist ein Bandscheibenvorfall, dagegen hilft kaum etwas, außer Ruhe und eventuell einer Operation. Und die mußte bis nach dem Besuch der Präsidentin warten.« »Eine Röntgenuntersuchung hätte ihn entlarvt.« Warren ließ sich nicht zu einer Antwort herab. Er beugte sich über die Pizza, rümpfte unmerklich die Nase und verzichtete. »Und was uns vom FBI angeht«, sagte er und nahm sich lieber eine Flasche Wasser. »So wußten wir nichts, bis ihr mir den Film gezeigt habt. Heute nachmittag. Seither haben wir natürlich unsere Untersuchungen vorgenommen. Haben sie mit den Recherchen des Secret Service verglichen …« Warren erhob sich und ging zum Fenster. Sie saßen im Büro des Polizeichefs im sechsten Stock des Präsidiums und hatten einen großartigen Blick in die graue Mainacht. Die Lichter des Mediendorfes unten auf dem Rasen waren jetzt stärker, und es wurden immer mehr. Der dunkelste Zeitpunkt der Nacht war nur noch eine Stunde entfernt, aber der Rasen war in künstliches 309
Licht gebadet. Die Bäume an der Allee zum Gefängnis wurden zu einer Mauer vor dem Dunkel auf der anderen Seite des Parks. Er trank einen Schluck Wasser, sagte aber nichts. »Könnte es um etwas so einfaches wie Geld gegangen sein?« fragte Peter Salhus leise. »Geld für die Familie?« »Wenn es doch nur so einfach wäre«, sagte Warren zu seinem Spiegelbild. »Es ging um die Kinder. In einer Wohngegend zwischen Baltimore und Washington DC sitzt jetzt eine zutiefst verzweifelte Witwe und muß damit leben, daß sie und ihr Mann etwas Entsetzliches getan haben. Sie haben drei Kinder. Der Jüngste ist Autist. Es geht ihm verhältnismäßig gut. Er bekommt Spezialunterricht. Der ist teuer, und Jeffrey Hunter mußte vermutlich jeden Cent umdrehen, um über die Runden zu kommen. Aber er hat sich nie bestechen lassen. Dafür gibt es keine Anzeichen. Allerdings ist der Junge in den vergangenen zwei Monaten zweimal still und friedlich entführt worden. Jedesmal tauchte er wieder auf, ehe Alarm gegeben wurde, aber lange nachdem die Eltern in Panik geraten waren. Die Botschaft war eindeutig: Mach in Oslo, was dir gesagt wird, sonst verschwindet der Kleine für immer.« Peter Salhus wirkte aufrichtig geschockt, als er fragte: »Aber würde ein erfahrener Secret Service-Agent sich dermaßen erpressen lassen? Hätte er nicht einfach dafür sorgen können, daß seine Familie beschützt wurde? Wenn jemand sich gegen eine solche Drohung wehren kann, dann doch sicher ein staatlicher Agent?« Warren kehrte ihnen noch immer den Rücken zu. Seine Stimme war tonlos, als wolle er diese Geschichte nicht richtig an sich heranlassen. »Beim ersten Mal wurde der Junge von der Schule weggeholt. Das sollte eigentlich schon unmöglich sein. Öffentliche und auch, wie in diesem Fall, private Schulen sind ziemlich hysterisch, wenn es um die Sicherheit der Kinder geht. Aber es 310
war eben doch möglich. Nach dieser Entführung wurde der Junge zu einer alten Schulfreundin der Mutter nach Kalifornien gebracht. Dort wurde er zu Hause unterrichtet und niemand, nicht einmal die Geschwister, durften erfahren, wo er war. Eines Nachmittags verschwand er auch von dort. Er blieb nur vier Stunden verschwunden, und weder die Schulfreundin noch irgend jemand sonst konnten erklären, wie das möglich gewesen war. Aber die Botschaft war immerhin kristallklar.« Mit einem kurzen, trockenen Lachen drehte Warren sich endlich um und kehrte zu seinem Sessel zurück. »Sie hätten den Jungen immer und überall gefunden. Jeffrey Hunter hatte das Gefühl, keine Wahl zu haben. Aber mit diesem Verrat konnte er natürlich nicht leben. Mit der Schande. Ihm war doch vollständig klar, daß seine Mitwirkung früher oder später auffliegen mußte. Irgendwann würde der Überwachungsfilm aus der Zeit nach der Entführung überprüft werden.« »Und dann ist er durch Oslo geirrt, bis es spät genug war, sich in einen Bus Pachtung Wald zu setzen«, folgerte Bastesen. »Dort ging er ein Stück weiter, versteckte sich in einem Graben und nahm sich mit seiner eigenen Dienstpistole das Leben. Es kann ihm nicht besonders gut gegangen sein, dem Armen. Ging nach Skar und wußte, daß ihm nur noch wenige Minuten zu leben blieben. Daß er nie wieder …« Yngvar spürte, wie er bei dieser Trauerrede leicht errötete, und fiel dem Polizeipräsidenten ins Wort: »Kann Jeffrey Hunters Selbstmord die Erklärung dafür sein, daß wir von den Kidnappern noch nichts gehört haben? Sie haben doch auf dem Zettel in der Suite angekündigt, daß sie sich wieder melden würden.« »Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Warren. »Wo Jeffrey Hunter doch eigentlich nur ein Werkzeug war. Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, daß er mehr getan haben 311
könnte, als bei der Entführung der Präsidentin aus dem Hotel zu helfen.« »Ich muß dir ein wenig widersprechen«, sagte Yngvar. »Ich kann mir nur vorstellen, daß die Informationen über die Kleidung der Präsidentin von drinnen gekommen sind.« »Wie meinst du das? Die Kleidung?« »Diese beiden Autos, die durch die Gegend gefahren sind …« Yngvar hob zwei Finger und beendete diesen Satz nicht. »Wir haben übrigens auch den Fahrer des zweiten Wagens gefunden. Aus dem ist ebensowenig herauszuholen wie aus Gerhard Skrøder. Derselbe Typ von kleinem Gauner, dieselbe Vorgehensweise, dieselbe umwerfende Bezahlung.« »Aber die Kleidung«, wiederholte Warren. »Was ist damit?« »Die rote Jacke, die elegante blaue Hose. Weiße Seidenbluse. Die Nationalfarben Norwegens und der USA. Wer immer hinter der Entführung steckt, muß gewußt haben, was sie anziehen wollte. Die Doppelgängerinnen trugen die gleiche Kleidung. Nicht völlig identisch, aber doch so ähnlich, daß diese Ablenknummer funktioniert hat. Wir haben unbegreiflich viel Zeit und Energie damit vergeudet, nach Schatten zu suchen.« Yngvar holte Luft, zögerte und fügte dann hinzu: »Ich gehe davon aus, daß Madam President auf dieser Reise Friseur und Ankleidedame bei sich hatte. Was sagen die?« Warren Scifford hatte sichtliche Probleme. Sein Pokergesicht, das es ihm normalerweise ermöglichte, zu lügen, ohne mit der Wimper zu zucken, hatte sich zu einer müden Miene der Resignation aufgelöst. Sein Mund sah schmaler aus und Yngvar konnte sehen, wie seine Gesichtsmuskeln sich anspannten. »Ich bin eigentlich ziemlich beeindruckt davon, wie es dir gelingt, uns permanent zu unterschätzen«, sagte Yngvar leise. »Glaubst du nicht, daß wir uns diese Frage schon längst überlegt haben? Glaubst du nicht, daß wir schon ziemlich früh 312
befürchtet haben, daß es sich um einen inside job handelt? Begreifst du nicht, daß du durch deine Mr Secret-Nummer in dieses Feuer auch noch Öl gegossen hast?« »Die Kleidung der Präsidentin ist in einer Computerdatenbank verzeichnet.« »Zu der alle Welt Zugang hat?« »Nein. Aber ihre Sekretärin hat den Überblick. Sie versteht sich sehr gut mit Jeffrey Hunter. Sie sind … waren ganz einfach befreundet. Anfang Mai, bei einem informellen Mittagessen im Weißen Haus, haben sie über euren … Nationalfeiertag gesprochen und wie er hierzulande begangen wird. Wir haben die Sekretärin natürlich vernommen, und sie kann sich um nichts in der Welt daran erinnern, wer dieses Thema zur Sprache gebracht hat. Aber dabei ist jedenfalls erwähnt worden, daß die Präsidentin sich für ihren ersten Auslandsbesuch neu eingekleidet hat. Unter anderem hat sie für den Nationalfeiertag eine Jacke angeschafft. Die sollte exakt den Rotton der norwegischen Flagge haben. Irgendwer hatte gesagt, daß ihr in dieser Hinsicht ziemlich … empfindlich seid.« Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht, ohne von den anderen erwidert zu werden. »Und ihr seid hundertprozentig sicher, daß nicht noch mehr von euren Leuten damit zu tun haben? Daß Jeffrey Hunter allein operiert hat?« »So sicher, wie man überhaupt sein kann«, sagte Warren Scifford. »Aber ich muß, bei allem Respekt, sagen dürfen, daß mir die Wendung, die diese Besprechung genommen hat, nicht gefällt. Ich bin nicht hier, um mir von euch die Leviten lesen zu lassen. Ich bin hier, um euch die Informationen zu liefern, die ihr braucht, um Präsidentin Bentley zu finden. Und um mich zu erkundigen, wie weit ihr mit den Ermittlungen gekommen seid, natürlich.« In seine Stimme lag ein Hauch von Ironie, als er sich 313
aufrichtete. Terje Bastesen räusperte sich und stellte seine Kaffeetasse weg, um etwas zu sagen. Yngvar kam ihm zuvor. »Versuch das bloß nicht«, sagte er. Seine Stimme klang durchaus freundlich, aber seine Augen wurden so schmal, daß Warren blinzeln mußte. »Du erfährst alles von uns«, sagte Yngvar. »Wir informieren dich, sowie wir dich erreichen können. Was sich übrigens schon einige Male als schwierig erwiesen hat. Wir haben zweitausend Leute …« Er verstummte, als gehe ihm diese ungeheure Anzahl erst jetzt auf. »… die allein in den unterschiedlichen Polizeiorganisationen an diesem Fall arbeiten. Dazu kommen natürlich die Ministerien, die Abteilungen, bis zu einem gewissen Grad das Mili…« »Wir haben insgesamt zweiundsechzigtausend Amerikaner«, unterbrach Warren ihn, ohne die Stimme zu heben, »… die in diesem Moment festzustellen versuchen, wer die Präsidentin entführt hat. Dazu …« »Das hier ist kein Wettbewerb.« Alle schauten Peter Salhus an. Jetzt war er es, der sich erhoben hatte. Yngvar und Warren wechselten einen Blick, wie zwei Knaben, die bei einer Rauferei auf dem Schulhof vom Rektor erwischt worden sind. »Niemand bezweifelt, daß diese Sache in beiden Ländern höchste Priorität genießt«, sagte Salhus jetzt, seine Stimme klang noch dunkler als sonst. »Und daß ihr in den USA sicher nach einer größeren Konspiration und weitergehenden Zusammenhängen sucht. CIA, FBI und NSA haben in den vergangenen vierundzwanzig Stunden eine ganz neue … Haltung eingenommen, so kann ich das vielleicht nennen, wenn es um Austausch von Informationen und Nachrichten geht. Das 314
ist gelinde gesagt kontraproduktiv, aber wir können doch immerhin sehen, in welche Richtung ihr arbeitet. Die Nachrichtendienste in ganz Europa haben die Entwicklung im Auge. Auch wir haben unsere Quellen, wie ihr vermutlich wißt. Und es ist natürlich nur eine Frage der Zeit, bis die Presse in den USA erfährt, welche Methoden ihr neuerdings verwendet.« Warren blinzelte nicht mehr. »Das ist dann euer Problem«, sagte Salhus und zuckte mit den Schultern. »So, wie ich die Daten interpretiere, die wir hereinbekommen haben, verglichen mit dem, was ihr der Öffentlichkeit nicht vorenthalten könnt …« Er bückte sich und zog ein Dokument aus der Tasche neben dem Sessel, aus dem er sich eben erhoben hatte. »Starke Einschränkung des Flugverkehrs«, las er vor. »Völlige Einstellung der Flüge in bestimmte Länder, die allermeisten davon muslimische. Umfassende Verringerung des Personals in öffentlichen Behörden. Schulen bis auf weiteres geschlossen.« Er schwenkte das Blatt, ehe er es wieder in die Aktentasche steckte. »So könnte ich noch lange weitermachen. Die Summe des Ganzen liegt auf der Hand. Ihr rechnet mit weiteren Angriffen. Mit viel umfassenderen als dem Diebstahl einer Präsidentin.« Warren Scifford öffnete den Mund und hob die Handflächen. »Die Proteste kannst du dir sparen«, sagte der norwegische Überwachungschef, seine Baßstimme zitterte vor unterdrückter Wut. »Ich muß Stubø beipflichten: Unterschätz uns nicht.« Sein riesiger Zeigefinger war nur wenige Zentimeter von der Nase des Amerikaners entfernt. »Was du dir merken mußt, was du dir merken mußt …« Warren runzelte die Stirn und zog seinen Kopf zurück. Salhus trat noch näher. Sein Finger zitterte. »… ist, daß wir, die norwegische Polizei, die Möglichkeit 315
haben, diesen Fall zu lösen. Diesen konkreten Fall. Wir, und nur wir, haben die Möglichkeit, festzustellen, wie eine ganz konkrete Handlung, eben die Entführung der Präsidentin aus ihrem Hotelzimmer in Oslo … wie so etwas überhaupt möglich sein konnte. Klar?« Warren saß ganz ruhig da. »Und dann könnt ihr euch ungestört von uns damit abmühen, diese Handlung in eine größere Perspektive zu setzen. Klar?« Warren nickte fast unmerklich. Salhus atmete schwer, zog die Hand zurück und sagte dann: »Es ist unfaßbar, daß ihr euch nicht nur weigert, uns zu helfen, sondern daß ihr zu allem Überfluß die Ermittlungen auch noch sabotiert, indem ihr uns so zentrale Informationen vorenthaltet wie die, daß ein Secret Service-Agent auf unerklärliche Weise verschwunden ist.« Er blieb dicht vor dem Amerikaner stehen. »Falls eine alte Frau sich nicht bei einer Wanderung durch Nordmarka in einen Graben verirrt hätte und einige Meter weiter bewußtlos zusammengebrochen wäre, würden wir noch immer ohne Spur nach dem Mann im Anzug suchen. Noch immer hätten wir keine Ahnung davon, daß …« Peter Salhus räusperte sich und legte noch eine Pause ein, als müsse er sich zusammenreißen, um nicht wirklich wütend zu werden. »Ich arbeite mit Polizeipräsident Bastesen zusammen, unser Justizminister und unser Außenminister haben sich bereits offiziell bei deiner Regierung beschwert«, sagte Peter Salhus jetzt, ohne sich zu setzen. »Mit Kopie an Secret Service und FBI.« »Ich fürchte«, sagte Warren tonlos, »daß meine Regierung, das FBI und der Secret Service Wichtigeres zu tun haben, als sich für eine solche Beschwerde zu interessieren. Aber von mir aus … Be my guest. Ich kann euch nicht verbieten, Korrespondenzen zu führen, wenn ihr für solche Dinge Zeit habt.« 316
Er erhob sich plötzlich und griff nach dem militärgrünen Anorak, den er über die Armlehne gelegt hatte. »Und dann bin ich hier eigentlich fertig«, sagte er mit einem Lächeln. »Ich habe, was ich brauche. Und ihr habt ja auch etwas bekommen. Eine fruchtbare Besprechung, mit anderen Worten.« Die drei anderen Männer waren über diesen plötzlichen Aufbruch so überrascht, daß keiner ein Wort herausbrachte. Warren Scifford mußte die Hand auf Salhus’ Oberarm legen, damit der ihm den Weg freimachte. »Übrigens«, sagte der Amerikaner und drehte sich um, als er das Zimmer durchquert hatte, während den anderen noch immer keine sinnvolle Bemerkung eingefallen war. »Du irrst dich darin, wer diesen Fall lösen kann. Diesen konkreten Fall, wie du es nennst. Als ließe die Entführung sich überhaupt von Motiven, Planung, Konsequenzen und Kontext lösen.« Sein Mund lächelte breit. Seine Augen waren alles andere als freundlich. »Wer immer die Präsidentin findet«, fügte er hinzu. »Diese Person wird den Fall lösen können. Den ganzen Fall. Und leider kommen mir immer größere Zweifel daran, daß ihr das sein werdet. Das beunruhigt …« Er starrte Salhus ins Gesicht. »… meine Regierung, das FBI und den Secret Service. Aber ich wünsche euch jedenfalls viel Glück. Gute Nacht.« Die Tür fiel hinter ihm zu, eine winzige Idee zu hart.
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30 »Wir haben die Präsidentin gefunden«, flüsterte Inger Johanne Vik. »Das ist total …« Sie wußte nicht so recht, was sie sagen sollte, und sie ertappte sich bei dem Wunsch, einfach loszukichern. Aber da das ungefähr so passend wäre, wie bei einer Beerdigung zu lachen, riß sie sich zusammen. Und dann fingen ihre Tränen an zu strömen. Sie fühlte sich vollkommen erschöpft, und die Absurdität der Situation wurde nicht dadurch geringer, daß Hanne sich in ihrer Entscheidung, keinen Alarm zu schlagen, nicht beirren ließ. Inger Johanne hatte alles versucht, von Vernunft und Argumentation über Flehen bis zu offenen Drohungen. Nichts hatte gewirkt. »Eine Frau wie Helen Bentley weiß es selbst am besten«, sagte Hanne leise und deckte die Präsidentin vorsichtig zu. »Hilf mir doch bitte mal kurz.« Helen Bentley atmete regelmäßig und rief. Hanne hielt ihr zwei Finger an das Handgelenk und schaute auf ihre Armbanduhr. Ihr Mund bewegte sich, während sie stumm zählte, dann legte sie vorsichtig die Hand wieder auf die Hüfte der Präsidentin. »Gleichmäßiger, schöner Ruhepuls«, flüsterte sie. »Ich glaube eigentlich nicht, daß sie in Ohnmacht gefallen ist. Sie ist eingeschlafen. Weggesackt. Total erschöpft, geistig und körperlich.« Lautlos fuhr sie ins Nachbarzimmer. Unterwegs dämpfte sie das auf Sprachsignale reagierende Licht: »Dunkel!« Die Lampen verloschen langsam. Inger Johanne folgte Hanne und schloß die Tür hinter sich. Das Nachbarzimmer war kleiner. Ein riesiger gasbefeuerter Kamin mit einer Einfassung aus 318
gebürstetem Stahl war voll aufgedreht und ließ die Schatten im Zimmer flackern. Inger Johanne setzte sich auf eine Chaiselongue und legte den Kopf an die weiche Rückenlehne. »Helen Bentley braucht nicht sofort einen Arzt«, sagte Hanne und fuhr neben die Chaiselongue. »Aber sicherheitshalber sollten wir einmal pro Stunde nach ihr sehen. Sie könnte sich doch eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen haben. Ich übernehme die erste Wache. Wann meldet Ragnhild sich normalerweise?« »Gegen sechs«, sagte Inger Johanne und gähnte. »Gut, dann kannst du dich wenigstens ein paar Stunden aufs Ohr legen.« »Schön. Danke.« Aber Inger Johanne stand nicht auf. Sie starrte in die Flammen hinter den künstlichen Holzscheiten. Die wirkten fast hypnotisierend auf sie, luftiger blauer Hintergrund wurde zu gelborangem Feuer. »Weißt du«, sagte sie und nahm für einen Moment Hannes Parfüm wahr. »Ich glaube nicht, daß mir jemals so ein Mensch begegnet ist.« »Wie ich«, sagte Hanne und lächelte sie an. Inger Johanne lachte kurz, dann zuckte sie mit den Schultern und antwortete: »Wie du auch, das schon. Aber im Moment hatte ich an Helen Bentley gedacht. Ich kann mich so gut an den Wahlkampf erinnern. Ich meine, ich informiere mich immer so einigermaßen über …« »Einigermaßen, du«, fiel Hanne Wilhelmsen ihr mit kurzem Lachen ins Wort. »Du bist krankhaft fasziniert von der Politik der USA! Ich dachte, ich wäre mit meiner Begeisterung für dieses Land schon schlimm genug, aber du bist noch viel schlimmer. Möchtest du …« Sie legte den Kopf schräg. Sie schien zu überlegen, ob diese 319
Frage die wichtige Grenze zwischen Freundlichkeit und Freundschaft überschreiten würde. »Würde uns jetzt ein Glas Wein nicht guttun?« fragte sie statt dessen, bereute das aber gleich. »Nein, das ist sicher dumm. Zu so später Stunde, meine ich. Vergiß es.« »Mir bestimmt«, sagte Inger Johanne und gähnte. »Ja, danke.« Hanne fuhr zu einem Schrank, der in die Wand eingelassen war. Sie öffnete ihn, indem sie kurz auf die Tür drückte, und zog ohne zu zögern eine Rotweinflasche heraus, bei dessen Etikett Inger Johanne das Kinn herunterklappte. »Den doch nicht«, sagte sie schnell. »Wir wollen doch nur ein Glas!« »Diese Weine sind Nefis’ Projekt. Sie freut sich nur, wenn sie sieht, daß ich mir auch etwas Gutes gegönnt habe.« Sie öffnete die Flasche, klemmte sie zwischen die Oberschenkel, griff nach zwei Weingläsern, die sie sich vorsichtig auf den Schoß legte, schloß die Tür und fuhr zurück. Dann schenkte sie für beide großzügig ein. »Es war doch eigentlich ein Wunder, daß sie gewählt worden ist«, sagte Inger Johanne und kostete. »Phantastisch. Der Wein, meine ich.« Sie hob ihr Glas zu einem diskreten Prosit und trank noch einmal. »Was glaubst du, womit sie gewonnen hat?« fragte Hanne. »Wie hat sie das geschafft? Wo doch wirklich alle Kommentatoren meinten, die Zeit sei noch nicht reif für eine Präsidentin?« Inger Johanne zögerte. »Vor allem durch den X-Faktor.« »Den X-Faktor?« »Das, was sich nicht erklären läßt. Die Summe der Vorzüge, die man eigentlich nicht genau greifen kann. Sie hatte alles. 320
Wenn überhaupt eine Frau eine Chance haben konnte, dann sie. Und nur sie.« »Und was ist mit Hillary Clinton?« Inger Johanne schmatzte und schluckte den Tropfen hinunter, der ihr auf der Zunge gelegen hatte. »Ich glaube, so einen guten Wein hab ich noch nie getrunken«, sagte sie und starrte ihr Glas an. »Für Hillary war es zu früh. Das hat sie ja auch selbst begriffen. Aber sie kann noch an die Reihe kommen. Später. Sie ist gesund genug und kann auch mit fast siebzig noch aktuell sein, stelle ich mir vor. Und bis dahin ist es noch eine ganze Weile. Der Vorteil bei Hillary ist, daß aller Dreck bekannt ist. Auf ihrem Weg zur First Lady wurde ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Ganz zu schweigen von den acht Jahren im Weißen Haus. Aller Schmutz ist längst an die Öffentlichkeit gebracht worden. Aber sie muß sicher ein wenig Distanz dazu gewinnen.« »Aber Helen Bentleys Leben ist doch auch durch die Mangel gedreht worden«, sagte Hanne und versuchte, sich aufrecht hinzusetzen. »Sie haben sie gejagt wie blutrünstige Köter.« »Sicher. Aber sie haben nichts gefunden. Nichts von Bedeutung. Sie war klug genug, einzugestehen, daß sie während des Studiums nicht gerade wie eine Nonne gelebt hat. Und das, noch ehe irgend jemand sie fragen konnte. Außerdem hat sie es mit einem breiten Lächeln erzählt. Bei Larry King, in einer Livesendung. Ball ins Aus. Genial.« Als sie ihr Weinglas vor den Kamin hielt, konnte sie das Farbenspiel sehen, bei dem die Flüssigkeit sich von intensivem Tiefrot zu heller Ziegelfarbe am Rand verfärbte. »Helen Bentley war zu allem Überfluß auch noch in Vietnam«, sagte Inger Johanne und mußte wieder lächeln. »1972. Da war sie zweiundzwanzig. Klugerweise hat sie das nicht erwähnt, bis irgend so ein komischer Vogel, oder sollte ich lieber Habicht sagen, ziemlich früh im Nominierungsprozeß 321
darauf hingewiesen hat, daß die USA sich mit dem Irak doch im Kriegszustand befinden. Und daß eine Oberkommandierende notwendigerweise über Kriegserfahrung verfügen muß. Was natürlich der pure Unsinn ist. Sieh dir doch Bush an. Hat als junger Spund kurz mit seiner Fliegeruniform geprotzt und doch nie auch nur mit einem Bein oder einem Flügel die USA verlassen. Aber du weißt …« Der Wein sorgte schon dafür, daß ihr leichter zumute war. »Helen Bentley hat die ganze Situation umgedreht. Ist im Fernsehen aufgetreten und hat mit ernster Miene gesagt, daß sie ihre zwölf Monate in Nam nie an die große Glocke gehängt hat, weil sie aus Respekt vor den Versehrten und psychisch geschädigten Veteranen aus einem Einsatz, bei dem sie vor allem hinter einer Schreibmaschine gesessen hatte, keinen Gewinn ziehen wollte. Sie sei in den Krieg gegangen, nicht, weil sie dazu gezwungen gewesen wäre, sondern weil sie das für ihre Pflicht hielt. Sie sei zurückgekommen, sagte sie, als erwachsene und klügere Frau, die diesen ganzen Krieg für einen fatalen Fehler hielt. Und so war es auch mit dem Irakkrieg, den sie zuerst befürwortet hatte, doch der habe sich zu einem Alptraum entwickelt, und man müsse nun alle Kräfte einsetzen, um einen verantwortungsbewußten und redlichen Abschluß zu finden. So schnell wie möglich.« Blitzschnell legte sie die Hand über ihr Glas, als Hanne nachschenken wollte. »Nein, danke. Das war köstlich, aber ich muß jetzt bald ins Bett.« Hanne nötigte sie nicht, sondern steckte den Korken in die Flasche. »Weißt du noch, wie wir hier zusammen ihre Amtseinführung gesehen haben?« fragte sie. »Und wir haben darüber gesprochen, wie ungeheuer fähig sie sein müssen, wenn sie ihr Leben planen? Weißt du das noch?« 322
»Ja«, antwortete Inger Johanne. »Ich war wohl mehr … ergriffen, eigentlich. Als du das warst.« »Das liegt daran, daß du nicht so zynisch bist wie ich. Du läßt dich noch immer beeindrucken.« »Das läßt sich doch nicht vermeiden«, sagte Inger Johanne. »Während Hillary Clinton mit einem Image als hart, stur und eigensinnig kämpft, wird …« »Sie gibt sich aber alle Mühe, das zu ändern, will mir scheinen.« »Ja. Unbedingt. Aber das dauert. Helen Bentley hat etwas …« Sie legte den Kopf schräg und schob sich die Haare hinter die Ohren. Erst jetzt fiel ihr auf, daß ihre Brillengläser mit Ragnhilds Fingerabdrücken beschmiert waren. Sie nahm die Brille ab und putzte sie mit dem Hemdenzipfel. »… Undefinierbares«, sagte sie nach einer Weile. »Den XFaktor. Warm, schön und weiblich, zugleich hat sie durch ihre Karriere und ihren Kriegseinsatz ihre Stärke unter Beweis gestellt. Sie ist mit ziemlicher Sicherheit ein harter Brocken und hat viele Feinde. Aber sie behandelt sie … anders?« Sie setzte die Brille auf die Nase und sah Hanne an. »Verstehst du, was ich meine?« »Ja.« Hanne nickte. »Sie führt die Leute geschickt hinters Licht, mit anderen Worten. Bis sogar erbitterte Gegner glauben, von ihr mit gehörigem Respekt behandelt zu werden. Aber ich frage mich, was mit ihr los ist.« »Mit ihr los? Wie meinst du das?« »Hör auf«, sagte Hanne lächelnd. »Du glaubst doch wohl selbst nicht, daß sie so strahlend sauber ist, wie sie sich gibt?« »Sie hat doch … wenn da etwas wäre, hätte irgendjemand das bestimmt herausgefunden. In der Hinsicht ist die amerikanische Presse die beste … die schlimmste auf der Welt.« 323
Hanne wirkte seltsamerweise richtig munter, zum ersten Mal in der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft. Daß eine geschundene amerikanische Präsidentin im Erschöpfungsschlaf auf ihrem Sofa lag, schien sie aus dem undurchdringlichen Panzer aus freundlicher Gleichgültigkeit herauszureißen, mit dem sie sich ansonsten immer umgab. Eine ganze Welt hielt den Atem an, in der ständig wachsenden Angst davor, was Helen Lardahl Bentley widerfahren sein mochte. Hanne Wilhelmsen genoß es offenbar, die Welt auf die Folter zu spannen. Inger Johanne wußte nicht so recht, was sie davon halten sollte. Oder ob es ihr gefiel. »Dussel«, sagte Hanne lachend und streckte den Arm aus, um Inger Johanne einen Rippenstoß zu versetzen. »Es gibt keinen Menschen, keinen einzigen Menschen auf dieser Welt, der sich nicht aus irgendeinem Grund schämt. Der etwas hat, was andere nicht erfahren dürfen. Je höher du auf der Rangleiter stehst, um so schwerer wiegen sogar belanglose Fehler in der Vergangenheit. Unsere Freundin nebenan kann da bestimmt mitreden.« »Ich geh jetzt schlafen«, sagte Inger Johanne. »Bleibst du auf?« »Ja«, sagte Hanne. »Jedenfalls, bis du aufwachst. Bestimmt werde ich zwischendurch hier im Stuhl einnicken, aber ich habe ja genug zu lesen.« »Bis Ragnhild aufwacht«, korrigierte Inger Johanne und gähnte noch einmal, während sie in den geliehenen Pantoffeln in die Küche schlurfte, um sich ein Glas Wasser zu holen. In der Türöffnung drehte sie sich um. »Hanne«, sagte sie leise. »Ja?« Hanne drehte ihren Stuhl nicht um. Noch immer starrte sie in die züngelnden Flammen. Sie hatte sich neuen Wein eingeschenkt und hob ihr Glas. 324
»Warum bestehst du so darauf, daß wir niemandem sagen dürfen, daß sie hier ist?« Hanne stellte ihr Glas ab. Langsam drehte sie den Rollstuhl zu Inger Johanne um. Das Zimmer lag im Dunkel, abgesehen vom Feuer und dem kleinen Rest des Maiabends, der noch immer halsstarrig vor den Fenstern lauerte. Ihr Gesicht wirkte in den tiefen Schatten noch magerer, und ihre Augen verschwanden. »Weil ich es ihr versprochen habe«, sagte Hanne. »Weißt du das nicht mehr? Ich habe ihr die Hand darauf gegeben. Dann ist sie umgekippt. Was man verspricht, hält man auch. Einverstanden?« Inger Johanne lächelte. »Ja«, sagte sie. »Damit bin ich immerhin einverstanden.«
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31 An der Ostküste der USA war es genau sechs Uhr nachmittags. Al Muffets jüngste Tochter Louise durfte kochen. Der Besuch des Onkels müsse gefeiert werden, fand sie. Nach dem Tod der Großmutter hatten sie zu den Verwandten des Vaters fast keinen Kontakt mehr gehabt, und deshalb bestand Louise auf dem Festmahl. Al schloß die Augen, im stillen Gebet zu allen Küchengottheiten, als er sah, wie sie immer wieder den Schrank mit den Leckerbissen öffnete. Weg war die Gänseleber. Nun nahm sie eine Dose russischen Kaviar, die letzte einer ganzen Partie, die er von einer Urlauberfamilie bekommen hatte, weil er ihren kleinen Hund von seiner Verstopfung befreite. »Louise«, sagte er leise. »Du mußt nicht alles aufbrauchen, was wir haben. Halt dich bitte ein bißchen zurück.« Die Kleine zog einen verärgerten Schmollmund. »Du findest es ja zwar nicht so toll, Verwandtschaft zu haben, aber ich möchte hier richtig auf die Pauke hauen, Papa. Und wem sollen wir diese Sachen denn servieren, wenn wir sie nicht einmal dann essen dürfen, wenn mein Onkel hier ist? Mein Onkel, Papa! Mein eigener leiblicher Onkel!« Al Muffet blies die Wangen auf und ließ die Luft langsam wieder entweichen. »Denk daran, daß er Muslim ist«, murmelte er. »Nimm nichts, was Schweinefleisch enthält.« »Und dabei liebst du doch Spareribs. Pfui, schäm dich.« Er fand es wunderbar, wenn sie lachte. Sie hatte das Lachen ihrer Mutter, das letzte, was noch von ihr übrig war, wenn Al Muffet die Augen schloß und versuchte, seine Frau vor sich zu 326
sehen, nicht den mageren Schatten, zu dem sie in den letzten Monaten ihres Lebens geworden war. Aber das gelang ihm nie. Ihr Gesicht war verschwunden. Das einzige, was er wahrnahm, war die Erinnerung an den schwachen Duft eines Parfüms, das er ihr zur Verlobung geschenkt und das sie seither immer benutzt hatte. Und dann ihr Lachen. Es war melodiös und perlend, wie ein Glockenspiel. Louise hatte es geerbt, und ab und zu spielte er den Clown oder erzählte einen Witz, nur um danach die Augen schließen und lauschen zu dürfen. »Was ist denn hier los?« fragte Fayed in der Türöffnung. »Bist du die Küchenchefin in der Familie?« Er ging zur Anrichte und fuhr Louise durch die Haare. Sie lächelte und griff zu einer Aubergine, die sie dann mit geübten Handbewegungen zerschnitt. Ich darf ihr nie durch die Haare fahren, dachte Al Muffet. Du behandelst eine altkluge Zwölfjährige nicht so, Fayed. Jedenfalls keine, die du eben erst kennengelernt hast. »Feine Mädchen hast du«, sagte Fayed und stellte eine Weinflasche auf den grob behauenen Eichentisch, der mitten im Raum stand. »Ich dachte, der könnte schmecken. Wo sind Sheryl und Catherine?« »Sheryl ist zwanzig«, murmelte Al. »Sie ist voriges Jahr von zu Hause ausgezogen.« »Ach«, sagte Fayed leichthin und mußte einen kleinen Schritt zur Seite machen, um das Gleichgewicht zu halten, als er eine Schublade öffnete. »Gibt’s hier einen Korkenzieher?« Al glaubte, schon eine leichte Fahne wahrzunehmen. Als Fayed sich zu ihm umdrehte, hätte Al schwören können, daß die Augen des Bruders feucht waren und sein Mund schlaff wirkte. »Trinkst du?« fragte er. »Ich dachte …« »Fast nie«, fiel Fayed ihm ins Wort und räusperte sich, wie um sich zusammenzureißen. »Aber an einem Tag wie heute …« 327
Wieder prustete er los und stupste seine Nichte an. »Ich sehe, du willst richtig feiern«, sagte er. »Und ich finde, da hast du recht. Ich hab Geschenke für euch Mädchen mitgebracht. Wir können sie nach dem Essen aufmachen. Es ist wirklich unglaublich schön, euch alle zu sehen.« »Genau genommen hast du bisher erst uns beide gesehen«, sagte Al und öffnete eine Schublade. »Aber Catherine kommt bald. Ich habe ihr gesagt, daß wir gegen halb sieben essen. Sie hatte heute nachmittag ein Spiel. Aber das müßte jetzt zu Ende sein.« Der Korkenzieher hatte sich in einem Schneebesen verfangen. Mit einiger Mühe konnte er die Geräte voneinander lösen und reichte den Korkenzieher seinem Bruder. »Was sagst du da«, fragte Fayed fröhlich und nahm ihn entgegen. »Meine Nichte hat ein Spiel, und du hast mir nichts gesagt? Wir hätten doch zusehen können. Meine Kinder interessieren sich nicht für sowas.« Er schüttelte den Kopf und schnitt eine unzufriedene Grimasse. »Alle nicht. Die haben einfach keinen Kampfgeist.« Louise lächelte betreten. Fayed öffnete die Flasche und hielt Ausschau nach Gläsern. Al ging zu einem Schrank, holte ein Glas und stellte es auf den Eichentisch. »Willst du nichts trinken?« fragte Fayed überrascht. »Es ist Mittwoch. Ich muß morgen früh raus.« »Nur ein Glas«, bettelte Fayed. »Meine Güte, ein Glas mußt du doch vertragen können. Freust du dich denn nicht, mich zu sehen?« Al holte tief Luft. Dann nahm er noch ein Glas und stellte es neben das erste. »So viel«, sagte er und zeigte zwei Zentimeter vom 328
Glasboden. »Halt!« Fayed schenkte für sich großzügig ein und erhob sein Glas. »Ein Prost auf uns«, sagte er. »Auf die Wiedervereinigung der Familie Muffasa!« »Wir heißen Muffet«, sagte Louise leise und ohne den Onkel anzusehen. »Muffet, Muffasa. Same thing.« Er trank. Du bist betrunken, dachte Al überrascht. Du, der Fromme unter uns, den ich nie auch nur ein Bier mit seinen Kumpels habe trinken sehen. Du tauchst hier auf wie ein Springteufelchen, nachdem du dich drei Jahre nicht gemeldet hast, und dann läßt du dich mit irgendwas volllaufen, das ich dir nicht einmal serviert habe. »Jetzt können wir Platz nehmen«, sagte Louise. Sie wirkte schüchtern, was sie sonst niemals war. Sie schien plötzlich begriffen zu haben, daß der Onkel nicht klar bei Verstand war. Als er sich vorbeugte, um ihren Rücken zu streicheln, wich sie mit einem verlegenen Lächeln zurück. »Bitte sehr«, sagte sie und zeigte zum Eßzimmer hinüber. »Wollen wir nicht auf Catherine warten?« fragte Al und nickte seiner Tochter beruhigend zu. »Sie muß jeden Moment kommen.« »Hier bin ich«, rief jemand und eine Tür knallte. »Wir haben gewonnen! Ich hab einen home run gemacht!« Fayed nahm sein Glas mit ins Eßzimmer. »Catherine«, sagte er liebevoll und blieb stehen, um die Nichte in Augenschein zu nehmen. Die Fünfzehnjährige zuckte zurück. Sie schaute skeptisch den Mann an, der ihrem Vater zum Verwechseln ähnlich sah, 329
abgesehen von dem feuchten und schwer zu deutenden Blick. Außerdem hatte er einen Schnurrbart, der ihr nicht gefiel, einen kräftigen Schnauzer mit nassen Spitzen. Sie zeigten wie zwei kleine Pfeile auf den Mund und verbargen die Oberlippe. »Hallo«, sagte sie leise. »Ich hab doch erzählt, daß Onkel Fayed heute vielleicht vorbeischauen wollte«, sagte Al mit aufgesetzter Munterkeit. »Und hier ist er! Aber setzen wir uns. Louise hat gekocht, und entsprechend wird es auch schmecken.« Catherine lächelte vorsichtig. »Ich bring nur schnell meine Sachen nach oben und wasch mir die Hände«, sagte sie und sprang die Treppe in den ersten Stock hinauf. Louise kam mit zwei Tellern in den Händen aus der Küche, zwei weitere balancierten auf ihren dünnen Unterarmen. »Sieh an«, sagte Fayed. »So richtig professionell.« Sie setzten sich. Catherine kam wieder nach unten, ebenso schnell, wie sie hochgerannt war. Sie hatte kurze Haare, ein schönes, kräftiges Gesicht und breite Schultern. »Du spielst also Softball«, sagte Fayed überflüssigerweise und schob das erste Stück Gänseleber in den Mund. »Dein Vater hat Baseball gespielt. Damals. Das ist lange her! Nicht wahr, Ali?« Seit dem Tod der Großmutter hatte niemand den Vater mehr Ali genannt. Die Mädchen wechselten einen Blick, Louise erstickte mit der flachen Hand ein Kichern. Al Muffet murmelte etwas Unverständliches, das dem Gerede über seine miserable sportliche Karriere ein Ende setzen sollte. Fayed leerte sein Glas. Louise wollte schon aufspringen, um die Flasche aus der Küche zu holen, wurde aber von ihrem Vater zurückgehalten, der eine Hand ausstreckte und auf ihren Oberschenkel legte. »Onkel Fayed ist jetzt fertig mit dem Wein«, sagte er gelassen. 330
»Hier ist kaltes frisches Wasser.« Er füllte ein großes Glas und schob es dem Bruder hin, der ihm gegenüber am Tisch saß. »Ein bißchen mehr Wein kann ich doch trinken«, sagte Fayed lächelnd und rührte das Wasser nicht an. »Glaub ich nicht«, sagte Al und starrte ihm ins Gesicht. Etwas stimmte ganz einfach nicht. Daß Fayed trank, konnte natürlich daran liegen, daß er sich in den Jahren, in denen sie sich nicht gesehen hatten, verändert hatte. Aber das war unwahrscheinlich. Außerdem hatte er ja schon etwas getrunken, ehe er in die Küche gekommen war, und das eine, großzügig eingeschenkte Glas hatte ihn sichtlich betrunkener werden lassen. Fayed war Alkohol nicht gewöhnt. Al konnte nicht begreifen, warum er jetzt trank. »Nein«, sagte Fayed laut und machte der peinlichen Situation ein Ende. »Du hast ganz recht. Für mich keinen Wein mehr. Kleine Portionen sind gut, große gefäääährlich.« Als er »gefährlich« sagte, fuchtelte er übertrieben mit dem Zeigefinger in Richtung seiner beiden Nichten, die an den Stirnseiten des Eßtisches saßen. »Wie geht es deiner Familie?« fragte Al mit vollem Mund. »Na ja, wie geht es meiner Familie …« Fayed aß jetzt wieder. Er kaute langsam, als müsse er sich darauf konzentrieren, den Bissen mit den Zähnen zu treffen. »Gut, nehme ich an. Doch, sicher. Wenn man überhaupt sagen kann, daß es in diesem Land irgendwem gut geht. Bei unserer ethnischen Herkunft, meine ich.« Als Mißtrauen war sofort geweckt. Er legte Messer und Gabel hin und stützte die Ellbogen auf den Tisch, während er sich vorbeugte. »Wir haben keine Probleme«, sagte er und lächelte seine Töchter an. 331
»Ich rede auch nicht über Leute wie dich«, sagte Fayed und nuschelte jetzt merklich weniger. Al hätte gern widersprochen, aber nicht in Anwesenheit der Mädchen. Er fragte, ob alle mit ihrer Vorspeise fertig seien, und begann, die benutzten Teller wegzuräumen. Louise folgte ihm in die Küche. »Ist er krank?« flüsterte sie. »Er war vorhin so komisch. Irgendwie … unrechenbar.« »Unberechenbar«, korrigierte der Vater leise. »So war er immer schon. Aber urteile nicht zu hart über ihn, Louise. Er hat es nicht so leicht gehabt wie wir.« Fayed ist über den 11. September nie hinweggekommen, dachte er. Er war in einem anspruchsvollen System, das gut belohnt, auf dem Weg nach oben. Nach der Katastrophe war plötzlich Schluß. Er konnte mit Müh und Not seinen Posten auf der mittleren Führungsebene behalten. Fayed ist ein verbitterter Mann, Louise, und du bist zu jung, um Verbitterung ausgesetzt zu werden. »Eigentlich ist er nett«, sagte er und lächelte seine Tochter an. »Und wie du ja selbst gesagt hast, er ist dein leiblicher Onkel.« Sie gingen zurück ins Eßzimmer und servierten das köstliche Zwischengericht aus russischem Kaviar und selbstgezogenen Schalotten. »… und an dieser Ungerechtigkeit haben sie niemals etwas ändern können. Und das werden sie auch niemals schaffen.« Fayed schüttelte den Kopf und tippte sich mit einem Finger an die Schläfe. »Worüber redet ihr?« fragte Al. »Über die Schwarzen«, sagte Fayed. »Die Afroamerikaner«, sagte Al. »Du meinst die Afroamerikaner.« »Nenn sie, wie du willst. Sie lassen sich ausnutzen. So sind sie 332
eben. Sie werden sich niemals erheben können.« »Solches Gerede ist in diesem Haus nicht erlaubt«, sagte Al ruhig und stellte dem Gast einen Teller hin. »Ich schlage vor, daß wir das Thema wechseln.« »Das ist genetisch bedingt«, sagte Fayed unbeeindruckt. »Die Sklaven sollten fleißig und stark sein, aber nicht sonderlich gut denken können. Wenn da drüben in Afrika vielleicht doch mal ein paar Schlaue dabei waren, wurden die freigelassen. Das genetische Material, das über das Meer geschafft wurde, macht sie zu allem ungeeignet, außer zum Sport. Und zum Verbrechen. Bei uns ist das etwas anderes. Wir brauchen uns diesen Dreck nicht gefallen zu lassen.« Peng! Al Muffet knallte seinen Teller so wütend auf den Tisch, daß der zerbrach. »Jetzt hältst du die Klappe«, fauchte er. »Niemand, nicht einmal mein eigener Bruder, darf hier solchen Blödsinn reden. Nicht hier. Und auch sonst nirgends. Verstehst du? Verstehst du?« Die Mädchen saßen starr wie Salzsäulen da, nur ihre Augen bewegten sich vom Onkel zum Vater und zurück. Sogar Freddy, der kleine Terrier, der auf dem Hofplatz angebunden war und sich durch jede Mahlzeit, an der er nicht teilnehmen durfte, hindurchbellte, war still. »Wollen wir nicht lieber essen?« sagte Louise endlich, ihre Stimme klang dünner als sonst. »Papa, du kannst meine Portion haben. Eigentlich esse ich gar nicht so gern Kaviar. Außerdem halte ich Condoleezza Rice und Colin Powell für sehr intelligent. Auch wenn ich nicht mit ihnen übereinstimme. Ich bin nämlich Demokratin.« Die Zwölfjährige lächelte vorsichtig. Keiner der Männer sagte etwas. 333
»Du hast recht«, sagte Fayed endlich; er zuckte mit den Schultern, eine Geste, die fast einer Entschuldigung ähnelte. »Wechseln wir das Thema.« Das erwies sich als schwierig. Lange aßen sie schweigend. Wenn der Vater zu Louise hinübergesehen hätte, wären ihm die Tränen in ihren Wimpern und das leichte Zittern ihrer Unterlippe aufgefallen. Catherine dagegen fand die Situation wohl überaus interessant. Sie starrte ihren Onkel ununterbrochen an und schien nicht so recht zu begreifen, was er eigentlich bei ihnen wollte. »Ihr seht euch ungeheuer ähnlich«, sagte sie plötzlich. »Bis auf den Schnurrbart, meine ich.« Die beiden Männer blickten endlich von ihren Tellern hoch. »Das haben wir schon als kleine Kinder hören müssen«, sagte der Vater und nahm sich ein Stück Brot, um die Reste des Zwischengerichts aufzusammeln. »Und das trotz des Altersunterschiedes.« »Sogar Mutter konnte sich irren«, sagte Fayed. Al sah ihn skeptisch an. »Mutter? Die hat uns doch nie verwechselt! Du bist vier Jahre älter als ich, Fayed!« »Auf dem Sterbebett«, sagte Fayed, seine Stimme hatte einen Beiklang, den Al nie gehört hatte und einfach nicht deuten konnte, »… glaubte sie tatsächlich, ich sei du. Vermutlich, weil sie dich immer mehr geliebt hat. Sie hat es sich so gewünscht. Daß ihr Lieblingssohn in ihren letzten klaren Momenten bei ihr saß und mit ihr redete. Aber du … du hast es ja nicht rechtzeitig geschafft.« Sein Lächeln war beredt. Al Muffet legte sein Besteck weg. Langsam fing das Zimmer an, sich vor seinen Augen zu drehen. Er spürte, wie ihm das Blut aus dem Kopf wich und das Adrenalin in jeden Muskel, jeden 334
Nerv seines Körpers strömte. Seine Handflächen klebten am Tisch. Er mußte sich festhalten, um nicht vom Stuhl zu fallen. »Ach«, sagte er tonlos und versuchte, seinen Kindern, die ihn anstarrten, als ob Papa plötzlich eine rote Clownsnase im Gesicht sitzen hätte, keine Angst zu machen. »Sie glaubte …« »Du bist so komisch, Papa! Was ist los mit dir?« Louise beugte sich über den Tisch und legte ihre schmale Mädchenhand auf die grobe Pranke des Vaters. »Ich … mir geht’s gut. Sehr gut.« Er zwang sich zu einer Grimasse, die ein beruhigendes Lächeln sein sollte, aber er wußte, daß er auch noch eine Erklärung folgen lassen mußte. »Ich hatte nur einen Moment lang arge Bauchschmerzen«, sagte er. »Vielleicht habe ich den Kaviar nicht vertragen. Ist gleich wieder vorbei.« Fayed blickte ihn an. Seine Augen sahen noch dunkler aus als sonst. Der ganze Mann schien über eine übernatürliche Fähigkeit zu verfügen, die Augen in den Kopf zu ziehen oder die Stirn weiter vorzuschieben und sein Gesicht düsterer, beängstigender aussehen zu lassen. Al erinnerte sich, daß der Bruder ihn in ihrer Kindheit so angesehen hatte, genau so, wenn Fayed etwas ausgefressen hatte und glatt heraus log, während das Donnerwetter des Vaters, das mit den Jahren immer wütender wurde, über sie hereinbrach. Al wußte, was diese Miene bedeuten konnte. Und er begriff auch, ohne so recht zu wissen, warum, was es bedeuten konnte, daß die Mutter auf dem Totenbett ihre Söhne verwechselt hatte. Was er aber um nichts in der Welt begreifen konnte, war, warum sein Bruder gerade jetzt hergekommen war, drei Jahre später, einfach so, warum er sich wie ein Fremder benahm und das vertraute, zufriedene Dasein störte, das Al Muffet mit seinen 335
Töchtern in einem Kaff im Nordwesten der USA aufgebaut hatte. »Ich glaube, ich lege mich einen Moment hin. Nur für einen Moment.« Hier stimmt etwas nicht, dachte er, als er zur Treppe in den ersten Stock ging. Etwas ist schrecklich verkehrt, und ich muß mich zusammenreißen. Ali Shaeed Muffasa, du mußt denken!
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32 Abdallah al-Rahman wurde von seinem eigenen Lachen geweckt. In der Regel schlief er sieben Stunden lang tief, von elf Uhr abends bis sechs Uhr morgens. Ein seltenes Mal konnte er jedoch von Unruhe geweckt werden, einem jagenden Gefühl, nicht ausgiebig genug trainiert zu haben. Bisweilen war sein Leben zu hektisch, sogar für einen Mann, der in den vergangenen zehn Jahren gelernt hatte, soviel wie überhaupt möglich zu delegieren. Er besaß insgesamt über dreihundert Firmen überall auf der Welt, in unterschiedlicher Größe und mit wechselndem Bedarf an persönlicher Betreuung. Die allermeisten wurden von Menschen geleitet, die keine Ahnung von seiner Existenz hatten, so wie auch er es längst schon als sinnvoll erkannt hatte, den größeren Teil seiner Firmen mit Hilfe eines Heers von Juristen zu verstecken; die meisten von ihnen waren Amerikaner oder Briten und lebten auf den CaymanInseln, mit beeindruckenden Büros, luxuriösen Häusern und überaus magersüchtigen Gattinnen, denen er nur voller Widerwillen die Hand geben mochte. Ab und zu war natürlich zuviel zu tun. Abdallah al-Rahman ging auf die fünfzig zu, und er brauchte jeden Tag zwei Stunden hartes Training, um in der Form zu bleiben, in der ein Mann wie er seiner Meinung nach sein mußte, und die ihm außerdem einen tiefen, wirkungsvollen Schlaf schenkten. Ohne Training wurde die Nacht unruhig. Zum Glück kam das aber nur selten vor. Er war noch nie von seinem Lachen geweckt worden. Verwundert setzte er sich im Bett auf. Er schlief allein. Seine dreizehn Jahre jüngere Frau, die Mutter aller seiner 337
Söhne, hatte im Palast ihre eigene Suite. Er besuchte sie oft, am liebsten am frühen Morgen, wenn die Kälte der Nacht noch in den Wänden saß und ihr Bett noch einladender wirken ließ. Aber nachts schlief er allein. Die Digitalziffern einer Uhr an seinem Bett zeigten 03.00. Punkt drei. Er setzte sich auf und rieb sich das Gesicht. Mitternacht in Norwegen, dachte er. Jetzt beginnen sie den Tag, der Donnerstag, 19. Mai heißen wird. Den Tag vor dem Tag. Er saß ganz still und versuchte, sich an den Traum zu erinnern, der ihn geweckt hatte. Es war unmöglich. Er konnte sich an nichts erinnern. Aber er war ungewöhnlich guter Laune. Zum einen war alles so gelaufen, wie es sollte. Nicht nur, daß die Entführung wie geplant vonstatten gegangen war. Auch alle kleinen Details hatten gestimmt. Sie hatten Geld gekostet, viel Geld, was ihm aber nicht die geringsten Sorgen machte. Schwerer wog da schon, daß so viele aus dem System geopfert werden mußten. Aber auch das spielte nur eine kleine Rolle. Es mußte so sein. Es lag in der Natur der Sache, daß die sorgfältig herangezogenen und behutsam gepflegten Objekte nur einmal benutzt werden konnten. Manche waren natürlich viel wertvoller als andere. Die meisten, wie die, die er in Norwegen angeheuert hatte, waren einfach kleine Gauner. Gekauft und bezahlt für einen Job gleich nebenan, danach konnte man sie vergessen. Bei anderen hatte er Jahre gebraucht, um sie zu veredeln und vorzubereiten. Um einzelne, wie Tom O’Reilly, hatte er sich persönlich gekümmert. Aber alle waren sie ersetzbar. Er erinnerte sich an einen Witz, den einmal ein lärmender, rotangelaufener Schweizer bei einer geschäftlichen Besprechung 338
in Houston erzählt hatte. Sie saßen ganz oben in einem Hochhaus, als ein Fensterputzer in einem Korb vor den riesigen Panoramafenstern heruntergelassen wurde. Der korpulente Mann aus Genf hatte etwas in der Richtung gesagt, daß EinmalMexikaner sicher besser wären. Die anderen Anwesenden hatte den Mann fragend angeblickt. Der lachte und beschrieb eine Schlange von Mexikanern auf dem Dach, jeder mit einem Putzlappen in der Faust, und man könnte doch einfach einen nach dem anderen vom Dach schieben. Jeder würde einen Streifen säubern, und dann wäre man mit ihnen und den Fenstern fertig. Niemand hatte gelacht. Das mußte man ihnen lassen, den anwesenden Amerikanern. Sie fanden den Witz überhaupt nicht komisch, und der Schweizer hatte sich anschließend eine halbe Stunde lang geschämt. Wenn man Menschen verbrauchte, mußte der Nutzen größer sein als ein sauberes Fenster, dachte Abdallah. Er stand auf. Der Teppich, der phantastische Teppich, den seine Mutter für ihn geknüpft hatte und der das einzige Besitztum war, das er niemals, unter gar keinen Umständen, verkaufen würde, fühlte sich unter seinen nackten Füßen weich an. Er blieb einige Sekunden stehen und bohrte die Zehen in die kühle, fette Seide. Das Farbenspiel war wunderbar, auch in dem fast dunklen Zimmer. Das Leuchten der Uhr und eine schmale Leiste mit gedimmten Lampen am Fenster sorgten dafür, daß die goldenen Töne sich veränderten, als er langsam über den Teppich zu dem großen Plasmabildschirm ging, dessen Fernbedienung auf einem handgeschmiedeten, kleinen ziselierten Goldtisch lag. Als er den Fernseher eingeschaltet hatte, öffnete er einen Kühlschrank und nahm eine Flasche Mineralwasser heraus. Er legte sich wieder ins Bett, gestützt von einem Meer aus Kissen. Er war erregt und fast glücklich. 339
Die Göttin des Glücks steht immer den Siegern bei, dachte Abdallah und öffnete die Flasche. Damit, daß Warren Scifford nach Norwegen geschickt werden würde, hatte er zum Beispiel nicht rechnen können. Obwohl er das zuerst als schwerwiegenden Strich durch die Rechnung betrachtet hatte, sah es jetzt so aus, als hätte gar nichts Besseres passieren können. Es hatte sich als viel einfacher erwiesen, in norwegische Hotelzimmer einzubrechen, als in die Wohnung eines FBI-Chefs in Washington DC. Natürlich wäre es nicht nötig gewesen, die Uhr zurückzubringen, nachdem die Rothaarige vom EscortService herausgefunden hatte, wofür sie so gut bezahlt wurde. Aber das war einfach ein nettes kleines Detail. Wie auch das Tonstudio in Oslos vornehmem Westend. Sie hatten lange gebraucht, um es zu finden, aber es war perfekt. In doppelter Hinsicht isoliert und verlassen, ein Kellerraum in einer Gegend, wo die Menschen kaum registrierten, was die Nachbarn machten, so lange die nicht auffielen und es sich leisten konnten, hier zu wohnen. Das Beste wäre natürlich gewesen, wenn Jeffrey Hunter die Präsidentin umgebracht hätte, ehe er sie dort einschloß. Aber daran hatte Abdallah nicht einmal gedacht. Es waren schon so harte Mittel nötig gewesen, um den Secret Service-Agenten dazu zu bringen, daß er an der Entführung eines Objekts mitwirkte, dessen Schutz er sein Leben gewidmet hatte, daß es schlicht unmöglich gewesen wäre, ihn zum Mord an seiner eigenen Präsidentin zu zwingen. Das Mögliche ist immer das beste, dachte Abdallah, und das Tonstudio erschien ihm als richtige Entscheidung. Weit hinaus aufs Land zu fahren, wäre riskant gewesen; je länger es dauerte, bis die Präsidentin eingeschlossen war, um so gefährdeter war das gesamte Projekt. Aber jetzt lief alles nach Wunsch. CNN berichtete noch immer rund um die Uhr von der Entführung und ihren vielen Konsequenzen, unterbrochen nur 340
durch die stündlichen Kurznachrichten, die eigentlich keinen Menschen interessierten. Im Moment ging es bei der Diskussion um die New Yorker Börse, die während der beiden vergangenen Tage wie ein Bleigewicht nach unten gesackt war. Obwohl die meisten Analytiker diesen Absturz für eine hypernervöse Reaktion auf eine akute Krise hielten, die nicht von Dauer sein würde, machten alle sich große Sorgen. Vor allem, weil die Ölpreise in einer steilen Kurve nach oben gingen. In politischen Kreisen schwirrten Gerüchte über eine superrasche Abkühlung der ohnehin schon gespannten Beziehungen zwischen den USA und den wichtigsten Ölförderstaaten im Nahen Osten. Man brauchte politisch nicht sonderlich gut orientiert zu sein, um zu begreifen, daß die Regierung der USA bei den Ermittlungen zur Entführung der Präsidentin ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die arabischen Länder richtete. Hartnäckige Behauptungen, man habe dabei vor allem Saudi-Arabien und den Iran ins Visier genommen, hatten zu hektischer Aktivität bei den Diplomaten dieser Länder geführt. Drei Tage zuvor, vor Helen Bentleys Verschwinden, hatte der Ölpreis bei 47 Dollar pro Barrel gelegen. Ein älterer Mann mit Adlernase und Professorentitel richtete seinen wütenden Blick auf den Moderator und erklärte: »75 dollars within a few days. That’s my prediction. A hundred in a couple of weeks if this doesn’t cool down.« Abdallah trank mehr Wasser. Er schlabberte, und etwas eiskalte Flüssigkeit tropfte auf seine nackte Brust. Ihn schauderte, dann lächelte er noch breiter. Ein weitaus jüngerer Mann im Studio versuchte nervös, darauf hinzuweisen, daß auch Norwegen Öl förderte. Und damit würde dieses winzige Land am Rande Europa am Verschwinden der Präsidentin Milliarden verdienen. Abdallahs Laune verschlechterte sich durchaus nicht durch die peinliche Situation, die sich da im Studio ergeben hatte. Ein hoher Berater der Zentralbank der USA verpaßte dem Jüngling eine dreißig Sekunden lange Lektion. Norwegen würde zwar, 341
isoliert gesehen, von einem höheren Ölpreis profitieren. Aber die norwegische Ökonomie sei dermaßen abhängig von der Weltwirtschaft und so eng mit dieser verflochten, daß der Börsenabsturz in New York, der natürlich längst die Börsen anderswo auf der Welt in Mitleidenschaft gezogen hatte, auch für dieses Land eine absolute Katastrophe bedeutete. Der junge Mann lächelte steif und schaute auf seine Notizen. Das sind die wahren amerikanischen Werte, dachte Abdallah. Konsum. Jetzt kommen wir der Sache näher. Nach sechzehn Jahren im Westen, sechs in England und zehn in den USA, staunte er noch immer, wenn sich ansonsten gebildete Menschen über amerikanische Werte verbreiteten, in dem Glauben, es gehe dabei um Familie, Frieden und Demokratie. Während des Wahlkampfes im Vorjahr hatten diese Themen im Zentrum gestanden, die Wertefrage war Bushs einzige Hoffnung auf Wiederwahl gewesen. Bei einer Bevölkerung, die im Grunde schon kriegsmüde war und eigentlich offen für eine Präsidentin, die den Rückzug aus dem Irak schaffen könnte, wenn das nur mit unversehrter Würde passierte, versuchte George W. Bush, sogar den blutigen, fehlgeschlagenen und scheinbar endlosen Kriegseinsatz im Irak zu einer Frage der Werte umzuinterpretieren. Daß immer mehr junge Amerikaner in einem Sarg mit einer Flagge auf dem Deckel in ihrer Heimat eintrafen, wurde zu einem nötigen Opfer zum Schutz der amerikanischen Idee. Der andauernde Kampf für Frieden, Freiheit und Demokratie in einem Land, das die meisten Amerikaner so gut wie nicht interessierte und das über zehntausend Kilometer von der nächsten amerikanischen Küste entfernt lag, wurde in Bushs Rhetorik zu einem Kampf um die Bewahrung der grundlegendsten amerikanischen Werte. Lange hatten die Leute ihm geglaubt. Zu lange, wie sie langsam zu ahnen begannen, als Helen Lardahl Bentley in den Wahlkampf eintrat und ihnen bessere Alternativen anbot. Daß es sich später als weitaus schwieriger erweisen sollte, aus dem 342
Inferno zu verschwinden, zu dem der Irak für die Amerikaner geworden war, als Kandidatin Bentley geglaubt und behauptet hatte, stand auf einem anderen Blatt. Die USA waren im Irak noch immer in voller Truppenstärke vertreten, aber Bentley war inzwischen gewählt. Abdallah reckte sich im Bett. Er griff zur Fernbedienung und stellte den Ton ein wenig leiser. Jetzt hatte der CNN-Stab in Oslo die Bühne übernommen, sie schienen sich in einer Art Garten niedergelassen zu haben, mit einem langgestreckten, osteuropäisch aussehenden Gebäude im Hintergrund. Er schloß die Augen und dachte zurück. Abdallah erinnerte sich an diese schicksalhafte Diskussion, als habe sie erst in der vergangenen Woche stattgefunden. Es war zu seiner Stanford-Zeit gewesen, auf einem Fest, wo er wie üblich mit einer Flasche Mineralwasser am Rand der Ereignisse gestanden und die lärmenden, lachenden, tanzenden und trinkenden Amerikaner aus halbgeschlossenen Augen beobachtet hatte. Vier Jungs an einem mit leeren und halbvollen Bierflaschen übersäten Tisch winkten ihn zu sich. Zögernd schlenderte er zu ihnen hinüber. »Abdallah«, sagte der eine grinsend. »Du bist doch so verdammt clever. Und nicht von hier. Setz dich, Mann. Trink ein Bier!« »Nein, danke«, sagte Abdallah. »Aber hör mal«, sagte der Junge. »Danny hier, der übrigens ein verdammter Kommunist ist, wenn du mich fragst …« Die anderen brüllten vor Lachen. Sogar Danny lächelte und schob sich die langen ungepflegten Haare hinter die Ohren, während er die Bierflasche zu einem schlaffen Prosit hob. »Er bezeichnet das Gerede über amerikanische Werte als totalen bullshit. Er sagt, wir scheißen auf Frieden, Familie, Demokratie, das Recht, uns mit der Waffe zu verteidigen …« 343
Hier lieferte sein Gedächtnis keine weiteren Werte mehr, und er zögerte einen Moment, dann schwenkte er die Bierflasche. »Whatever. So sieht Dannyboy das, und er meint …« Der Junge hickste, und Abdallah wußte noch, daß er sich nur weggesehnt hatte. Fort von dort. Er gehörte nicht dorthin, so, wie er auf dem Boden der USA im Grunde nie zu etwas gehört hatte. »Er sagt, daß wir Amerikaner eigentlich nur drei Bedürfnisse haben«, nuschelte der Junge und zog Abdallah am Ärmel. »Und zwar das Recht, Auto zu fahren, wo immer wir wollen, wann wir wollen und für billiges Geld …« Die anderen lachten so laut und lärmend, daß weitere dazutraten und wissen wollten, was hier vor sich ging. »Und dann das Recht, einzukaufen, wo wir wollen, wann wir wollen und für billiges Geld …« Jetzt lagen zwei Jungen auf dem Boden und hielten sich den Bauch vor Lachen. Irgendwer hatte die Musik ein wenig leiser gedreht, und eine ganze kleine Menschenschar umstand Abdallah und versuchte herauszufinden, warum diese Studenten im zweiten Jahr sich hier fast totlachten. »Und das dritte ist«, rief der Junge und versuchte, die beiden anderen mitzureißen: »Fernzusehen, wann wir wollen, was wir wollen, und das für billiges Geld«, johlten alle im Chor. Einige lachten. Jemand drehte die Musik wieder auf, jetzt noch lauter. Danny war aufgestanden. Er verbeugte sich demonstrativ und tief, eine Hand auf den Bauch gelegt und mit der linken die Bierflasche zu einem schwungvollen, galanten Gruß erhoben. »Was sagst du, Abdallah? Sind wir so, oder was?« Aber Abdallah war nicht mehr da. Er hatte sich unbemerkt zurückgezogen, zwischen den kichernden, trinkenden Mädchen, die seinen Körper mit neugierigen Blicken musterten und ihn dazu brachten, weit eher, als er das vorgehabt hatte, nach Hause 344
zu gehen. Das war 1979 gewesen, und er hatte es nie vergessen. Danny hatte ganz recht gehabt. Abdallah merkte, daß er Hunger hatte. Er aß nachts niemals etwas, das war nicht gut für die Verdauung. Jetzt mußte er aber etwas in den Magen bekommen, wenn er überhaupt noch einmal einschlafen wollte. Er griff zu einem ins Bett eingebauten Telefon. Nach zweimaligem Klingeln hörte er am anderen Ende eine verschlafene Stimme. Abdallah erteilte mit leiser Stimme einen Befehl und legte auf. Er ließ sich im Bett zurücksinken und verschränkte die Hände im Nacken. Dannyboy, ein langhaariger, ungepflegter und intelligenter Student in Stanford, hatte die Wirklichkeit so klar gesehen, daß er ohne es zu wissen Abdallah ein Rezept verraten hatte, das dieser sich über ein Vierteljahrhundert später zunutze machen sollte. Abdallah al-Rahman verstand etwas vom Krieg. Da er schon früh ins umfassende Geschäftsimperium seines Vaters hatte eintreten müssen, war eine militärische Karriere ausgeschlossen gewesen. Aber er hatte weiter vom Soldatenleben geträumt, vor allem in jüngeren Jahren. Eine Zeitlang hatte er nur die Schriften der alten Generäle gelesen. Vor allem chinesische Kriegskunst faszinierte ihn. Und der Größte dieser Größen war Sun Zi. Ein schön eingebundenes Exemplar dieses 2500 Jahre alten Buches, »Die Kunst des Krieges«, lag immer neben seinem Bett bereit. Jetzt griff er danach und fing an zu blättern. Er hatte eine neue Übersetzung ins Arabische anfertigen lassen, und das Buch, das er jetzt in der Hand hielt, war eins von nur drei Exemplaren, die er hatte herstellen lassen. Er besaß sie alle. Es ist besser, den Staat des Feindes intakt zu bewahren, las er. 345
Ihn zu zerstören, ist nur das zweitbeste. Hundert Schlachten zu schlagen und hundert Siege zu gewinnen, ist nicht der Gipfel der Tüchtigkeit. Nicht zu kämpfen und sich doch die Truppen des Feindes Untertan zu machen, ist das Werk des Tüchtigsten. Er strich über das dicke, handgeschöpfte Papier. Dann schloß er das Buch und legte es vorsichtig zurück an seinen Platz. Osama, sein alter Jugendfreund, wollte nur zerstören. Bin Laden glaubte, am 11. September gesiegt zu haben. Aber Abdallah wußte es besser. Die Katastrophe von Manhattan war eine gewaltige Niederlage. Sie hatte die USA nicht zerstört, sie hatte die USA nur verwandelt. Zum Schlechteren. Das hatte Abdallah bitter erfahren müssen. Mehr als zwei Milliarden Dollar seines Vermögens waren sofort bei Banken in den USA eingefroren worden. Er hatte mehrere Jahre und unvorstellbare Summen gebraucht, um das meiste dieses Kapitals zu befreien, aber die Ringwirkungen des vollständigen, langwierigen Stillstands seiner dynamischen Gesellschaften war katastrophal gewesen. Trotzdem hatte er überlebt. Seine Geschäftsdynastie war weit verschlungen. Er stand auf vielen Beinen. Die Verluste in den USA hatte er bis zu einem gewissen Grad durch gestiegene Ölpreise und erfolgreiche Investitionen anderswo auf der Welt ausgleichen können. Abdallah war eine geduldige Seele und ein Mann, für den seine Geschäfte wichtiger waren als alles andere, abgesehen von seinen Söhnen. Die Zeit verging. Die Wirtschaft der USA konnte nicht ewig von arabischen Interessen isoliert bleiben. Das verkraftete sie nicht. Obwohl er die Jahre seit 2001 benutzt hatte, um sich aus dem US-Markt hinauszubewegen, hatte er vor einem knappen Jahr befunden, daß die Zeit reif für einen weiteren Einsatz sei. Und dieser Einsatz war größer, wichtiger und kühner als alle anderen. 346
Helen Bentley war seine Chance. Zwar hatte er keinem Menschen der westlichen Welt jemals wirklich vertraut, aber auf irgendeine Weise hatte er eine Stärke in ihren Augen gesehen, etwas anderes, den Funken einer Redlichkeit, auf die er zu setzen beschloß. Sie schien im November 2004 mit einem Sieg rechnen zu können, und sie wirkte vernünftig. Daß sie eine Frau war, machte ihm keine Probleme. Im Gegenteil, als er die Besprechung verließ, hatte er der starken, hochintelligenten Frau eine widerwillige Bewunderung entgegengebracht. Eine Woche vor der Wahl hatte sie ihn im Stich gelassen, denn sie hatte erkannt, daß das für ihren Sieg notwendig war. Die Kriegskunst lag darin, zu zerschmettern, ohne zu kämpfen. Auf herkömmliche Weise gegen die USA zu kämpfen, wäre sinnlos. Abdallah hatte erkannt, daß die Amerikaner nur einen wirklichen Feind hatten: sich selbst. Nehmt dem Durchschnittsamerikaner Auto, Shopping und Fernsehen, und ihr nehmt ihm die Lebenslust, dachte er und schaltete den Plasmabildschirm aus. Für einen Moment sah er Danny in Stanford vor sich, mit schrägem Grinsen und der Bierflasche in der Faust, ein Amerikaner mit Selbsterkenntnis. Wenn man einem Amerikaner die Lebenslust nimmt, wird er wütend. Und die Wut steigt von unten auf, von den einfachen Leuten, den Malochern, von denen, die in der Woche fünfzig Stunden schuften und sich doch keine anderen Träume leisten können als die, die aus dem Fernsehschirm sickern. So dachte Abdallah und machte die Augen zu. Dann schließen sie die Reihen nicht, dann richten sie ihre Wut nicht gegen die anderen, gegen die da draußen, die nicht so sind wie wir und die uns schaden wollen. Dann beißen sie nach oben. Dann erheben sie sich gegen ihre eigenen Leute. Sie richten die Aggression gegen die, die für alles verantwortlich sind, für das System, dafür, daß alles funktioniert und die Autos fahren und es noch immer Träume 347
gibt, an die man sich in einem ansonsten tristen Leben klammern kann. Und da oben herrscht das Chaos. Die oberste Generalin ist weg und ihre Soldaten irren ziellos umher, ohne Führung, in dem Vakuum, das entsteht, wenn die Anführerin weder am Leben ist noch tot. Sondern nur verschwunden. Ein verwirrender Schlag auf den Kopf. Danach ein tödlicher Schlag gegen den Leib. Elementar und effektiv. Abdallah schaute auf. Der Diener trat leise mit einem Tablett ins Zimmer. Er stellte neben dem Bett Obst, Käse, ein rundes Brot und eine große Saftkaraffe ab. Bevor er zur Tür hinausging, verbeugte er sich leicht, dann war er verschwunden. Er hatte nichts gesagt, und Abdallah hatte sich nicht bei ihm bedankt. Es blieben noch anderthalb Tage.
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DONNERSTAG, 19. MAI 2005
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1 Helen Lardahl Bentley öffnete die Augen und begriff zuerst nicht, wo sie war. Sie lag nicht gut. Ihre rechte Hand klemmte unter ihrem Kinn und war eingeschlafen. Vorsichtig richtete sie sich auf. Ihr Körper fühlte sich steif an, und sie mußte Leben in ihren Arm schütteln. Als sie in einem plötzlichen Schwindelanfall die Augen schloß, fiel ihr alles wieder ein. Der Schwindel legte sich. Ihr Kopf fühlte sich noch immer seltsam leicht an, aber als sie vorsichtig Arme und Beine ausstreckte, erkannte sie, daß sie sich nicht ernstlich verletzt haben konnte. Sogar die Wunde an ihrer Schläfe schien schon zu heilen. Als sie die Beule betastete, merkte sie, daß die kleiner war als vor dem Einschlafen. Dem Einschlafen? Das letzte, woran sie sich erinnerte, war, daß sie der gelähmten Frau die Hand gegeben hatte. Sie hatte versprochen … Bin ich im Stehen eingeschlafen? Bin ich in Ohnmacht gefallen? Erst jetzt fiel ihr auf, daß sie noch immer übel verschmutzt war. Der Gestank wurde plötzlich unerträglich. Langsam, die linke Hand auf die Sofalehne gestützt, erhob sie sich. Sie mußte sich waschen. »Guten Morgen, Madam President«, sagte eine leise Frauenstimme von der Tür her. »Guten Morgen«, sagte Helen Bentley verdutzt. »Ich war nur zum Kaffeekochen in der Küche.« »Haben Sie … haben Sie die ganze Nacht hier gesessen?« »Ja.« 350
Die Frau im Rollstuhl lächelte. »Ich dachte, Sie hätten vielleicht eine Gehirnerschütterung, deshalb habe ich Sie zweimal geweckt. Da waren Sie ziemlich sauer. Möchten Sie?« Sie hielt ihr die dampfende Tasse hin. Madam President winkte abwehrend mit der freien Hand. »Ich muß duschen«, sagte sie. »Und wenn ich nicht …« Für einen Moment wirkte sie verwirrt und fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Wenn ich mich nicht irre, hatten Sie mir saubere Kleider angeboten.« »Natürlich. Können Sie allein gehen, oder soll ich Marry wecken?« »Marry«, murmelte die Präsidentin. »Das war … die Haushälterin?« »Ja. Und ich heiße Hanne Wilhelmsen. Das haben Sie sicher vergessen. Sie können mich Hanne nennen.« »Hannah«, wiederholte die Präsidentin. »Das geht auch.« Helen Bentley machte einige vorsichtige Schritte. Ihre Knie zitterten, aber ihre Beine trugen sie. Sie schaute die andere fragend an. »Wohin?« »Kommen Sie«, sagte Hanne Wilhelmsen freundlich und rollte auf eine Tür zu. »Haben Sie …« Die Präsidentin verstummte und ging hinterher. Die Dämmerung vor den Fenstern sagte ihr, daß es sehr früh sein mußte. Trotzdem war sie schon lange hier. Es mußte sich um mehrere Stunden handeln. Die Frau im Rollstuhl hatte ihr Versprechen offenbar gehalten. Sie hatte niemanden informiert. Helen Bentley konnte noch immer das tun, was sie tun mußte, 351
ehe sie sich zu erkennen gab. Noch immer hatte sie eine Möglichkeit, eine Lösung zu finden, nur durfte vorerst niemand erfahren, daß sie am Leben war. »Wie spät ist es?« fragte sie, als Hanne Wilhelmsen die Badezimmertür öffnete. »Wie lange habe ich …« Sie mußte sich an den Türrahmen lehnen. »Viertel nach vier«, sagte Hanne. »Sie haben etwas über sechs Stunden geschlafen. Sicher nicht genug.« »Das ist viel mehr als sonst«, sagte die Präsidentin und rang sich ein Lächeln ab. Das Bad war großartig. Eine Badewanne in doppelter Breite dominierte den Raum. Sie war in den Boden eingelassen und erinnerte an ein kleines Schwimmbecken. In einer ungewöhnlich geräumigen Duschnische neben der Badewanne bemerkte die Präsidentin etwas, das an ein Radio erinnerte, und etwas, bei dem es sich zweifellos um einen kleinen Fernseher handelte. Der Boden war von Mosaiksteinen in einem orientalischen Muster bedeckt, und ein gigantischer Spiegel über zwei Waschbecken aus Marmor war in schweres, vergoldetes Holz gerahmt. Helen Bentley glaubte sich zu erinnern, daß die Frau sich als ehemalige Polizistin ausgegeben hatte. Aber in dieser Wohnung wies nicht viel auf ein Polizistinnengehalt hin. Falls dieses Land nicht das einzige auf der Welt war, das seine Polizei so bezahlte, wie sie es eigentlich verdiente. »Nur zu«, sagte Hanne Wilhelmsen. »In dem Schrank dahinten liegen Handtücher. Ich lege die Kleider vor die Tür, dann können Sie sie holen, wenn Sie fertig sind. Lassen Sie sich ruhig Zeit.« Sie fuhr aus dem Badezimmer und schloß die Tür. Madam President zog sich langsam aus. Noch immer tat ihr jeder Muskel weh. Für einen Moment überlegte sie, was sie mit 352
ihren besudelten Kleidungsstücken machen sollte, dann fiel ihr Blick auf einen zusammengefalteten Müllsack, den Hanne neben das eine Waschbecken gelegt hatte. Eine seltsame Frau, dachte sie. Aber waren es nicht zwei? Oder drei, mit der Haushälterin? Sie war jetzt nackt. Sie stopfte die Kleider in den Müllsack und band ihn sorgfältig zu. Am liebsten hätte sie gebadet, aber so schmutzig, wie sie war, wirkte eine Dusche wie die sinnvollere Lösung. Heißes Wasser schäumte aus einem Duschkopf von der Größe eines Eßtellers. Helen Bentley stöhnte, teils vor Wohlbehagen, teils vor Schmerz, der durch ihren Körper jagte, als sie den Kopf in den Nacken legte, um den Wasserfall mit dem Gesicht aufzufangen. Am Vorabend war noch eine weitere Frau dabei gewesen. Helen Bentley konnte sich jetzt deutlich erinnern. Eine, die die Polizei verständigen wollte. Die beiden Frauen hatten auf Norwegisch miteinander gesprochen, und sie hatte nur ein Wort verstanden, das sich ähnlich wie police angehört hatte. Die Frau im Rollstuhl hatte bei dieser Auseinandersetzung offenbar den Sieg davongetragen. Das hier half. Es war wie eine Läuterung, in doppelter Hinsicht. Sie drehte den Wasserfall voll auf. Der Druck nahm deutlich zu. Die Wasserstrahlen wurden auf ihrer Haut zu massierenden Pfeilen. Sie keuchte auf. Füllte ihren Mund, bis sie fast keine Luft mehr bekam, spuckte das Wasser aus, ließ alles fließen und schrubbte sich mit einem Handschuh aus Hanf ab, der sich an ihrer Hand angenehm rauh anfühlte. Ihre Haut wurde rot. Wütendrot, durch das zu heiße Wasser, flammendrot und streifig durch den harten Hanf. Es brannte, wenn das Wasser offene Wunden traf. So hatte sie an jenem späten Herbstabend im Jahre 1984 dagestanden, dem Abend, über den sie mit niemandem 353
gesprochen hatte und von dem deshalb niemand etwas wissen konnte. Sie hatte fast vierzig Minuten lang geduscht, als sie nach Hause gekommen war. Es war Mitternacht gewesen, das wußte sie noch genau. Sie hatte sich mit einem Schwamm bis aufs Blut abgerieben, als wäre es möglich, einen Anblick aus der Haut zu schrubben und ihn für immer verschwinden zu lassen. Das heiße Wasser war zu Ende, aber sie blieb unter der eiskalten Flut stehen, bis ein erstaunter Christopher dazugekommen war und gefragt hatte, ob sie denn Billie nicht für die Nacht fertigmachen wollte. Draußen hatte es geregnet. Das Wasser stürzte geradezu vom Himmel, mit einem ohrenbetäubenden Lärm prasselte es auf den Asphalt, auf das Auto, auf Dächer und Bäume und Spielgeräte auf dem kleinen Platz gegenüber, wo eine Schaukel vom Sturm hin- und hergeworfen wurde und eine Frau gewartet hatte. Sie hatte Billie zurückhaben wollen. Helens Tochter war von einer anderen geboren worden. Aber amtlich war alles geregelt. Sie erinnerte sich an ihren eigenen Schrei, amtlich ist alles geregelt, und sie erinnerte sich an die Brieftasche, die sie hervorgezogen und unter dem bleichen, entschlossenen Gesicht der anderen geschwenkt hatte, wieviel willst du? Was willst du, damit du mir das nicht antust? Es gehe hier nicht um Geld, hatte Billies leibliche Mutter gesagt. Sie wisse, daß die Papiere gültig seien, sagte sie, aber in den Papieren stehe nichts über Billies Vater. Der jetzt eben wieder da sei. Sie sagte das mit einem kleinen Lächeln, mit einer leicht triumphierenden Miene, als habe sie einen Wettkampf gewonnen und müsse einfach ein wenig damit prahlen. 354
Vater. Vater! Du hast keinen Vater angegeben. Du hast gesagt, du seist nicht sicher, und außerdem war der Kerl doch über alle Berge und ein verantwortungsloser Schuft, dem du Billie nicht aussetzen wolltest. Du hast gesagt, du wolltest Billies Bestes, und Billies Bestes sei es, zu uns zu kommen, zu Christopher und mir, und amtlich ist alles geregelt. Du hast die Verzichterklärung unterschrieben! Du hast zugestimmt, und Billie hat jetzt ihr eigenes Zimmer, ein Zimmer mit rosa Tapeten und einem weißen Bettchen und einem Mobile, nach dem sie die Hand ausstreckt und das sie anlächelt. Der Vater wolle sie beide zu sich nehmen, hatte die Frau gesagt. Sie mußte gegen das tosende Unwetter anschreien. Er wolle für Billie und für Billies richtige Mama sorgen. Die Väter von Kindern hätten auch ihre Rechte. Es sei dumm von ihr gewesen, nicht schon bei der Geburt den Namen anzugeben, denn dann hätte diese unangenehme Situation sich vermeiden lassen. Das tue ihr leid. Aber so sei es nun einmal. Ihr Freund sei aus dem Gefängnis entlassen und zu ihr zurückgekehrt. Die Lage habe sich geändert. Das müsse eine Anwältin wie Helen Bentley doch wissen und verstehen. Jetzt müsse sie Billie leider zurückholen. Madam President legte die Handflächen gegen die Wand der Dusche. Sie brachte es nicht über sich, sich zu erinnern. Seit über zwanzig Jahren hatte sie versucht, die Erinnerung an ihre Panik zu verdrängen, als sie sich von der Frau abgewandt hatte und zu dem Auto auf der anderen Straßenseite gelaufen war. Sie wollte ein Diamantcollier holen, das sie an diesem Abend von ihrem Vater bekommen hatte. Sie hatten Billie gefeiert, und das Gesicht des Vaters war rot und schweißnaß gewesen, als er über seine kleine Enkelin gelacht hatte, während alle begeistert übereinstimmten, wie wunderbar und hübsch sie sei, die kleine Billie Lardahl Bentley. 355
Das Collier lag noch immer im Handschuhfach, und vielleicht konnte Helen ihr Kind ein zweites Mal kaufen, mit Diamanten und einer Kreditkarte. Zwei Kreditkarten. Drei. Nimm alle! Während sie mit dem Autoschlüssel kämpfte und versuchte, Tränen und Panik, die sie zu ersticken drohten, zurückzudrängen, hörte sie den heftigen Aufprall. Ein beängstigender Knall, wie von Fleisch auf Metall, ließ sie gerade rechtzeitig herumfahren, um eine Gestalt in einem roten Regenmantel durch die Luft segeln zu sehen. Ein weiterer Knall war durch das Unwetter zu hören, als die Frau auf den Asphalt aufschlug. Ein kleiner Sportwagen jagte um eine Straßenecke. Helen Bentley registrierte nicht einmal die Farbe. Es wurde still. Helen hörte den Regen nicht mehr. Sie hörte gar nichts. Langsam und mechanisch ging sie über die Straße. Erst einen Meter von der rotgekleideten Frau entfernt blieb sie stehen. Sie lag so seltsam da. So verzerrt und unnatürlich, und sogar in dem trüben Licht der Straßenlaterne konnte Helen das aus einer Kopfwunde strömende Blut sehen. Rasch vermischte es sich mit dem Regenwasser und wurde zu einem dunklen Bach, der sich auf die Gosse zu schlängelte. Die Augen der Frau waren weit offen, und ihr Mund bewegte sich. Hilf mir! Helen Lardahl Bentley wich zwei Schritte zurück. Sie drehte sich um und lief zu ihrem Auto, riß die Tür auf, stieg ein und fuhr los. Sie fuhr nach Hause und duschte vierzig Minuten lang, während sie sich mit einem Schwamm die Haut blutig schrubbte. Sie hörten nie wieder von Billies leiblicher Mutter. Und fast genau zwanzig Jahre später, in einer Novembernacht des Jahres 2004, wurde Helen Lardahl Bentley zur Siegerin bei den 356
Präsidentschaftswahlen der USA erklärt. Ihre Tochter stand neben ihr auf der Tribüne, eine große, blonde junge Frau, die ihre Eltern immer nur stolz gemacht hatte. Madam President streifte den Hanfhandschuh ab, griff zu einer Shampooflasche und seifte sich die Haare ein. Ihre Augen brannten. Das tat gut. Es zerfraß das Bild der verletzten Frau auf dem regennassen Asphalt, deren Kopf in Blut und Regenwasser lag. Jeffrey Hunter hatte ihr einen Brief gezeigt, als er sie im Hotel geweckt hatte, leise und viel zu früh. Sie war verwirrt gewesen, und er hatte in einer unangebracht intimen Geste den Zeigefinger auf ihren Mund gelegt. Sie wüßten von dem Kind, hieß es in dem Brief. Sie wollten ihr Geheimnis ans Licht bringen. Sie müsse mit Jeffrey gehen. Troja habe begonnen und sie wollten das Geheimnis lüften, das Helen zerstören würde. Der Brief war von Warren Scifford unterschrieben. Helen Bentley packte in Gedanken diesen Namen und klammerte sich daran. Sie biß die Zähne zusammen. Warren Scifford. Nicht mehr an die Frau im roten Regenmantel denken. Sondern an Warren. Nur an ihn. Sie mußte sich konzentrieren. Langsam drehte sie sich in der Duschkabine um und ließ das Wasser auf ihren schmerzenden Rücken prasseln. Sie senkte den Kopf und atmete tief. Ein und aus. Verus amicus rara avis. Ein wahrer Freund ist ein seltener Vogel. Und das hatte sie überzeugt. Nur Warren kannte die Inschrift auf der Rückseite der Armbanduhr, die sie ihm gleich nach der Wahl geschenkt hatte. Er war ein guter alter Freund und hatte sich vor der letzten Fernsehdiskussion zwischen ihr und George W. Bush bei ihr gemeldet. Die Umfragen hatten an den letzten 357
Tagen vor der Sendung einen Zuwachs für den amtierenden Präsidenten ergeben. Sie lag zwar noch immer vorn, aber der Texaner holte auf. Seine Sicherheitsrhetorik kam nun doch bei der Bevölkerung an. Er erschien als tatkräftiger, ausgeglichener Mann mit genau der Erfahrung und den Kenntnissen, wie sie ein Land in Krieg und Krise brauchte. Er stand für Kontinuität. Man wußte, was man an ihm hatte, aber man wußte kaum, was diese Bentley bringen würde, so unerfahren im Bereich der Außenpolitik, wie sie war. »Du mußt das Arabian Port Management aufgeben«, hatte Warren gesagt und ihre Hände genommen. Dasselbe hatten alle ihre Berater gesagt, die internen wie die externen. Sie hatten darauf bestanden. Sie hatten getobt und gefleht. Die Zeit sei noch nicht reif. Vielleicht später, wenn seit dem 11. September mehr Wasser ins Meer geflossen sei. Aber jetzt nicht. Sie weigerte sich, nachzugeben. Die in Dubai basierte Firma in saudiarabischem Besitz war seriös und leistungsstark und betrieb in aller Welt wichtige Hafenanlagen, von Ottawa bis London. Zwei der Gesellschaften, eine davon britisch, die bisher die größten Häfen der USA bewirtschaftet hatten, waren an einem Verkauf interessiert. Das Arabian Port Management wollte beide kaufen. Der eine Einkauf würde ihnen die Verantwortung für die Häfen von New York, New Jersey, Baltimore, New Orleans, Miami und Philadelphia einbringen. Der andere umfaßte Charleston, Savannah, Houston und Mobile. Mit anderen Worten würde eine arabische Gesellschaft die Kontrolle über die wichtigsten Häfen an der Ostküste und am Golf gewinnen. Helen Lardahl Bentley hielt das für eine gute Idee. Denn erstens war diese Gesellschaft die beste. Die tüchtigste und die eindeutig ertragreichste. Ein solcher Verkauf wäre außerdem ein wichtiger Schritt hin zu einer Normalisierung der 358
Beziehungen zu den Kräften im Nahen Osten, mit denen die USA sich sinnvollerweise auf guten Fuß stellen sollten. Schließlich, und das war für Helen Bentley vielleicht das Wichtigste, würde ein solcher Verkauf dazu beitragen, die Achtung vor den guten arabischstämmigen Amerikanern wieder steigen zu lassen. Denn die hatten lange genug gelitten, meinte sie, und darin ließ sie sich nicht beirren. Sie hatte sich mit der Geschäftsführung der arabischen Gesellschaft getroffen, und auch wenn sie nicht so dumm gewesen war, etwas zu versprechen, hatte sie doch recht deutlich ihre positive Einstellung signalisiert. Besonders freute es sie, daß die Gesellschaft, trotz der Unsicherheit, was die Durchführbarkeit der Verkäufe anging, bereits enorme Investitionen auf amerikanischem Boden getätigt hatte, um für eine spätere Übernahme so gut wie möglich gerüstet zu sein. Warrens Stimme war leise gewesen. Er hatte ihre Hände nicht losgelassen. Sein Blick hatte sich in ihre Augen gebohrt, als er sagte: »Ich unterstütze dein Ziel. Voll und ganz. Aber du wirst es niemals erreichen, wenn du jetzt alles verspielst, Helen. Du mußt kontra geben. Du mußt gegen Bush an einem Punkt zurückschlagen, wo er es am wenigsten erwartet. Ich habe Jahre damit verbracht, diesen Mann zu analysieren, Helen. Ich kenne ihn so gut, wie man jemanden kennen kann, dem man nie begegnet ist. Er will diesen Verkauf doch auch! Er ist nur erfahren genug, das noch nicht bekanntzugeben. Er begreift, daß das in der Bevölkerung Gefühle auslösen würde, mit denen nicht zu spaßen ist. Du mußt den Mann entlarven. Du mußt ihn fertigmachen. Und jetzt sage ich dir, was du tun solltest …« Endlich fühlte sie sich sauber. Ihre Haut brannte, und das Badezimmer war erfüllt von heißem Dampf. Sie verließ die Duschkabine und griff nach einem Frotteebadetuch. Als sie sich hineingewickelt hatte, nahm sie sich ein Handtuch und schlang es um ihre Haare. Mit der 359
linken Hand malte sie ein großes Loch auf das beschlagene Spiegelglas. Das Blut in ihrem Gesicht war verschwunden. Die Beule war noch immer zu sehen, aber ihr Auge hatte sich wieder geöffnet. Das Schlimmste waren eigentlich die Handgelenke. Die schmalen Plastikriemen hatten sich so tief in das Fleisch gefressen, daß an einigen Stellen tiefe, offene Wunden klafften. Sie mußte um Desinfektionsmittel und am besten auch um einen soliden Verband bitten. Damals hatte sie Warrens Rat befolgt. Unter starken Zweifeln. Auf die Frage des Moderators, wie sie die Bedrohung der Sicherheit beim Verkauf zentraler amerikanischer Infrastruktur sehe, hatte sie in die Kamera geschaut und einen fünfundvierzig Sekunden langen flammenden, fast leidenschaftlichen Appell für die Versöhnung mit »unseren arabischen Freunden« und nicht zuletzt über die Wichtigkeit gehalten, den ganz grundlegenden amerikanischen Wert zu bewahren, nämlich die Gleichwertigkeit aller, egal, woher auf der Welt die Vorfahren eines guten Amerikaners auch gekommen sein mochten und welche Religion sie vertraten. Dann hatte sie Atem geholt. Ein Blick auf den amtierenden Präsidenten hatte ihr klargemacht, daß Warren absolut recht hatte. Präsident Bush lächelte siegessicher. Er hob die Schultern in seiner seltsamen Geste, die Hände einladend ausgestreckt. Er glaubte, ganz sicher zu wissen, was jetzt kommen würde. Es kam etwas ganz anderes. Was die Infrastruktur anging, hatte Helen Bentley gelassen gesagt, stelle sich die Lage hingegen ganz anders dar. Sie sei der Meinung, daß niemand anderer als die USA oder ihre engsten Verbündeten Zugriff darauf haben sollten. Ziel müsse es sein, sagte sie, daß alles, ob Hauptstraßen oder Flughäfen, ob Hafenanlagen, Zollstationen, Grenzübergänge oder Eisenbahnen, für immer und alle Zeit von amerikanischen 360
Interessen betrieben und geleitet werde. Aus Rücksicht auf die nationale Sicherheit. Am Ende fügte sie mit einem kleinen Lächeln hinzu, daß es natürlich seine Zeit und großen politischen Willen erfordern werde, ein solches Ziel zu erreichen. Nicht zuletzt, weil George W. Bush sich ja mit Wärme für den Verkauf an arabische Interessenten eingesetzt habe, in einem internen Dokument, das sie für einige Sekunden in die Kamera hielt, ehe sie es auf das Rednerpult zurücklegte und auffordernd auf den Moderator zeigte. Sie war fertig. Helen Lardahl gewann die Diskussion mit elf Prozentpunkten. Eine Woche darauf wurde sie Madam President, wie sie es sich seit zehn Jahren erträumt hatte. Warren Scifford wurde sofort danach zum Leiter der frischgegründeten BS-Unit ernannt. Dieser Posten war keine Belohnung. Die Armbanduhr wohl. Und er hatte ihr Vertrauen mißbraucht. Er hatte sie mit ihrer eigenen Erklärung ewiger Freundschaft hinters Licht geführt. Verus amicus rara avis. Dieser Spruch hatte sich als wahrer erwiesen, als sie geahnt hatte. Sie ging zur Tür und öffnete sie vorsichtig. Davor lag wirklich ein Stapel zusammengefalteter Kleidungsstücke. So schnell ihr schmerzender Körper das gestattete, bückte sie sich, hob den Stapel hoch und ließ die Tür zufallen. Dann schloß sie sie ab. Die Unterwäsche war ganz neu. Die Etiketten hingen noch daran. Sie registrierte diese rücksichtsvolle Geste, ehe sie Unterhose und BH anzog. Die Jeans schienen auch neu zu sein und paßten perfekt. Als sie den blaßrosa Kaschmirpullover mit V-Ausschnitt über den Kopf zog, spürte sie ein Stechen in den Wunden an ihrem Handgelenk. Sie blieb stehen und betrachtete ihr Spiegelbild. Die Lüftungsanlage hatte inzwischen die meiste Feuchtigkeit 361
abgesaugt und das Badezimmer war schon um viele Grade kühler als fünf Minuten zuvor, als sie die Duschkabine verlassen hatte. Einen Augenblick lang dachte sie daran, sich zu schminken, aus alter Gewohnheit. Eine japanische Lackschachtel voller Kosmetikartikel stand offen neben dem Waschbecken. Sie gab diesen Gedanken auf. Ihr Mund war noch immer geschwollen und die geplatzte Unterlippe würde mit Lippenstift einfach unmöglich aussehen. Viele Jahre zuvor, während Bill Clintons erster Amtsperiode, hatte Hillary Rodham Clinton Helen Bentley zum Mittagessen eingeladen. Es war ihre erste Begegnung unter eher persönlichen Bedingungen, und Helen erinnerte sich daran, wie ungeheuer nervös sie gewesen war. Erst wenige Wochen zuvor hatte sie ihren Senatorinnensessel eingenommen, und bislang hatte sie mehr als genug damit zu tun, Sitte, Brauch und Benimm zu lernen, die eine unbedeutende junge Senatorin sich blitzschnell aneignen mußte, wenn sie auf dem Capitol Hill mehr als nur einige Stunden überleben wollte. Das Essen mit der First Lady wurde zu einem Abenteuer. Hillary war so aufmerksam, verbindlich und interessant gewesen, wie ihre Anhänger sie schilderten. Die Arroganz, die Kälte und das berechnende Wesen, jene Eigenschaften, die ihre Gegner ihr zuschrieben, waren einfach nicht zu bemerken. Sie wollte natürlich etwas, schließlich wollten alle in Washington jederzeit irgend etwas, aber vor allem hatte Helen Bentley den Eindruck, daß Hillary Rodham Clinton ihr wohlgesonnen war. Sie wollte Helen helfen, sich in ihrem neuen Dasein sicher zu fühlen. Falls Senatorin Bentley außerdem noch freundlicherweise die Unterlagen für eine Gesundheitsreform durchlesen wollte, die zum Besten der breiten Bevölkerungsschichten der USA wäre, würde sie der First Lady eine große Freude machen. Das wußte Helen Bentley noch genau. Sie hatten sich nach dem Essen erhoben. Hillary Clinton 362
schaute diskret auf die Uhr, küßte Helen wie es sich gehörte auf die Wange und hielt ihre Hand fest. »Noch etwas«, sagte sie, ohne die Hand loszulassen. »Auf dieser Welt kannst du dich auf niemanden verlassen. Mit einer Ausnahme. Dein Mann. So lange er dein Mann ist, ist er der einzige, der immer dein Bestes will. Der einzige, auf den du dich verlassen kannst. Vergiß das niemals.« Helen hatte es niemals vergessen. Am 19. August 1998 gab Bill Clinton nicht nur zu, eine ganze Welt, sondern auch seine Frau betrogen zu haben. Zwei Wochen darauf lief Helen Hillary Clinton zufällig über den Weg, in einem Korridor des Westflügels, als sie von einer Besprechung im Weißen Haus kam. Die First Lady war soeben aus Martha’s Vineyard zurückgekehrt, wo die Familie in dieser schrecklichen Zeit Zuflucht gesucht hatte. Sie war stehengeblieben, hatte ihre Hand genommen und sie festgehalten, wie bei ihrer ersten Begegnung viele Jahre zuvor, Helen hatte nur sagen können: »I’m sorry, Hillary, I’m truly sorry for you and Chelsea.« Mrs Clinton schwieg. Ihre Augen waren rotgerändert. Ihr Mund zitterte. Sie rang sich ein Lächeln ab, nickte und ließ Helens Hand los, dann ging sie weiter, stolz und gerade und mit einem Blick, der allen standhielt, die es wagten, ihr in die Augen zu sehen. Helen Lardahl Bentley hatte den Rat der Präsidentengattin zwar niemals vergessen, hatte ihn aber auch nicht befolgt. Helen konnte nicht leben, ohne Vertrauen zu anderen zu haben. Und noch viel weniger konnte sie ohne volles Vertrauen zu einer Handvoll treuer Mitarbeiter, einer verschworenen Gruppe guter Freunde, die nur ihr Bestes wollten, den langen Weg zum höchsten Amt der USA antreten. Warren Scifford hatte zu dieser Gruppe gehört. Das hatte sie immer geglaubt. Aber er hatte gelogen. Er hatte sie im Stich gelassen, und die Lüge hatte ungeheure Ausmaße 363
angenommen. Er hatte nämlich das, was seinem Brief nach die Trojaner angeblich herausgefunden hatten, gar nicht wissen können. Niemand wußte das. Nicht einmal Christopher. Es war ihr Geheimnis, ihre Last, und sie trug sie jetzt allein schon seit über zwanzig Jahren. Das Ganze war durch und durch unbegreiflich, und nur die Panik, die lähmende, erstickende Angst, die sie überwältigte, als Jeffrey Hunter ihr den Brief zeigte, hatte sie daran gehindert, es bereits damals zu durchschauen. Warren log. Etwas stimmte hier nicht. Niemand konnte es wissen. Ihre Zähne waren wie mit einem samtigen Fell überzogen, und sie hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Zögernd schaute sie sich im Badezimmer um. Und dann sah sie es, beim Spiegel. Hanne Wilhelmsen hatte ein Glas für sie hingestellt, mit einer neuen Zahnbürste und einer halbverbrauchten Tube Zahnpasta. Sie kämpfte mit der widerspenstigen Verpackung und schnitt sich an dem harten Kunststoff, ehe sie die Zahnbürste herausziehen konnte. Präsidentin Bentley bleckte vor dem Spiegel die Zähne. »You bastard«, flüsterte sie. »Der Teufel soll dich holen, Warren Scifford. In der Hölle gibt es eine besondere Abteilung für Leute wie dich!«
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2 Warren Scifford fühlte sich einfach elend. Im Halbdunkel tastete er nach seinem Mobiltelefon, das die mechanische Nachahmung eines Hahnenschreis von sich gab. Der Lärm wollte nicht verstummen. Verschlafen setzte er sich im Bett auf. Er hatte schon wieder vergessen, vor dem Schlafengehen die Rollos herunterzulassen, und das graue Licht hinter den leichten Gardinen verriet ihm nicht, wie spät es wohl sein mochte. Das Hahnengeschrei wurde immer lauter, und Warren stieß einen saftigen Fluch aus, während er auf dem Nachttisch herumsuchte. Am Ende entdeckte er das Telefon. Das Display zeigte 05.07. Das Telefon mußte irgendwann in den knapp drei Stunden mit unruhigem Schlaf, die ihm gegönnt gewesen waren, auf den Boden gefallen sein. Er konnte nicht begreifen, wieso er sich so geirrt hatte, als er den Wecker einstellte. Es hatte um fünf nach sieben geweckt werden wollen. Er griff zweimal daneben, bis er sein Handy endlich zum Schweigen gebracht hatte. Resigniert ließ er sich im Bett zurücksinken. Er schloß die Augen, merkte aber sofort, daß das nichts half. Seine Gedanken kollidierten und rumorten und schufen ein Chaos, von dem er sich unmöglich wegschlafen konnte. Resigniert stand er auf, trottete unter die Dusche und blieb fast eine Viertelstunde dort stehen. Wenn er schon nicht ausgeruht sein konnte, dann half es doch immerhin, sich in eine Art Wachzustand zu schrubben. Er trocknete sich ab und zog Boxershorts und ein T-Shirt an. Es dauerte nicht lange, das transportable Büro aufzubauen. Er ließ die Deckenlampe brennen und zog die Rollos herunter. Die Nachttischlampe und das Licht auf dem Schreibtisch reichten 365
für seine Arbeit. Als er mit den Vorbereitungen fertig war, füllte er den Wasserkocher und lehnte sich ans Regal, während das Wasser heiß wurde. Für einen Moment musterte er den Kaffee. Das Pulver kam ihm so alt und aromalos vor, daß er lieber zu einem Teebeutel griff und den in eine Tasse fallen ließ, die er dann bis zum Rand mit kochendem Wasser füllte. Keine neuen E-Mails. Er versuchte, zurückzurechnen. Er war gegen zwei Uhr nachts zu Bett gegangen. Also nach Washingtoner Zeit etwa gegen acht Uhr abends. Jetzt war es zu Hause elf. Alle saßen an der Arbeit. Und in mehr als vier Stunden hatte niemand ihm eine Nachricht geschickt. Er versuchte sich damit zu beruhigen, daß sicher alle glaubten, er schlafe. Das half nichts. Es wurde immer deutlicher, daß er in Ungnade gefallen war. Je mehr Zeit verging, ohne daß die Präsidentin gefunden wurde, um so schwächer wurde Warren Sciffords Position. Obwohl noch immer er für den Kontakt mit der lokalen Polizei zuständig war, hatten die Aktivitäten in der Botschaft am Drammensvei doch an Stärke und Umfang zugenommen, ohne daß er darüber informiert worden wäre. Die operativen Ermittler, die das FBI einige Stunden später als ihn selbst nach Norwegen geschickt hatte, spielten sich auf wie die Könige. Sie wohnten in der Botschaft. Sie waren mit einer Kommunikationstechnologie ausgerüstet worden, die sein kleines Büro mit einer Auswahl an Mobiltelefonen und einem paßwortgeschützten Rechner aussehen ließen wie archaische Ausstellungsstücke in einem Technik-Museum. Die anderen pfiffen auf die norwegische Polizei. Einige nahmen zwar weiterhin an den Besprechungen teil, die er mehrere Male am Tag abhielt, in dem Versuch, den Einsatz der Amerikaner mit dem zu koordinieren, was die norwegische Polizei eventuell an Spuren, Fundstücken und Theorien lieferte. 366
Als er mitteilen konnte, daß man Jeffrey Hunters Leichnam gefunden hatte, war ihm immerhin so etwas wie Aufmerksamkeit entgegengebracht worden. Wenn er den Botschafter richtig verstanden hatte, war es danach zu einer kleinen diplomatischen Krise wegen der Auslieferung der sterblichen Überreste des Mannes gekommen. Die Norweger wollten ihn zu genaueren Untersuchungen hierbehalten. Womit die USA ganz und gar nicht einverstanden waren. »Mir doch scheißegal«, flüsterte Warren Scifford und rieb sich das Gesicht. Er hatte Botschafter Wells gewarnt. »Sie werden an die Decke gehen, wenn sie begreifen, was ihr hier treibt«, hatte Warren am Vortag resigniert bei einem Besuch in der Botschaft gesagt. »Sie haben zwar eine USAfreundliche Regierung, aber ich habe auch gehört, daß dieses Land eine starke Opposition besitzt. Sie mögen vielleicht stur sein, wie du mir ja bei meiner Ankunft schon gesagt hast, aber sie sind alles andere als Idioten. Wir können ganz einfach nicht …« Der Botschafter hatte ihn mit einem eiskalten Blick und einer Stimme unterbrochen, bei der Warren einfach verstummt war. »Ich kenne mich in diesem Land aus, Warren. Ich bin der Gesandte der USA in Norwegen. Ich treffe mich jeden Tag dreimal mit dem norwegischen Außenminister. Die Regierung dieses Landes wird über unsere Unternehmungen fortlaufend informiert. Über alle unsere Unternehmungen.« Das war eine glatte Lüge, und sie wußten es beide. Warren trank einen Schluck Tee. Der hatte kaum Geschmack, aber immerhin war er heiß. Das war das Zimmer auch. Viel zu warm. Er ging zu einem Kästchen an der Wand und versuchte, die Temperatur herunter zu drehen. Dieses Celsius-System hatte er noch nie so recht durchschaut. Jetzt zeigte der Thermostat 25 Grad, und das war jedenfalls zu heiß. Vielleicht wären 15 367
besser. Er hielt die Hand vor den Filter in der Wand. Sofort wurde der Luftzug kälter. Er zögerte einen Moment, dann schaltete er den Rechner wieder aus. Auf seinem Schreibtisch lagen zwei Ordner. Der eine war dick wie ein Telefonbuch. Der andere enthielt knapp zwanzig Seiten. Er griff nach beiden, stapelte alle vorhandenen Kissen am Kopfende des Bettes auf und legte sich hin. Er blätterte in der streng geheimen Zusammenfassung der bisherigen Ermittlungen. Die bestand aus über zweihundert Seiten, und er hatte sie nicht als verschlüsselte E-Mail bekommen, wie es verabredet gewesen war. Er hatte zufällig von der Existenz dieser Zusammenfassung erfahren, als er bei einem Gespräch in der Botschaft einige Wortfetzen aufschnappte, und er hatte sich den Einblick regelrecht ertrotzen müssen. Conrad Victory, ein sechzig Jahre alter Spezialagent, der das Kommando über die Ermittlungstruppe in der Botschaft hatte, fand, daß Warren diese Unterlagen überhaupt nicht brauche. In Fällen wie diesen arbeite man streng nach einer need-to-know-Politik, was Warren bei seiner Erfahrung doch verstehen müsse. Seine Rolle sei die des Bindegliedes zwischen norwegischer und amerikanischer Polizei. Er habe sich doch selbst darüber beklagt, wie schwer es ihm falle, dem Druck zu widerstehen, den die Norweger im Hinblick auf Informationspolitik und Ermittlungen der Amerikaner auf ihn ausübten. Je weniger er wisse, um so weniger könne die Osloer Polizei ihm zusetzen. Aber Warren ließ nicht locker. Als sonst nichts half, war es ihm nicht einmal peinlich, seine enge persönliche Beziehung zur Präsidentin geltend zu machen. Zwischen den Zeilen, natürlich. Und damit hatte er Erfolg. Endlich. Um zwei Uhr war er ins Bett gefallen und hatte bisher kaum einen Blick auf diese Unterlagen geworden. Es war eine beängstigende Lektüre. 368
Im Laufe der intensiven Jagd nach den Entführern zeichnete es sich immer deutlicher ab, daß auf das Verschwinden ein Terrorangriff folgen sollte. Weder FBI, CIA noch eine der anderen zahlreichen Organisationen unter dem Dachbegriff Homeland Security waren bereit, den Namen zu verwenden, mit dem Warren Sciffords BS-Unit den potentiellen Angriff belegt hatte: Troja. Sie wagten noch nicht, ihn überhaupt irgendwie zu benennen. Sie wagten nicht einmal, sicher zu sein, daß es dazu kommen würde. Das Problem war, daß niemand wußte, gegen was oder wen dieser Angriff sich eventuell richten würde. Es gab Unmengen von Informationen, die Anzahl der eingelaufenen Berichte, Tips, Spekulationen und Theorien war überwältigend. Trotzdem war die Information fragmentarisch, verwirrend und außerdem weitgehend widersprüchlich. Es könnte sich um eine islamistische Konspiration handeln. Es handelte sich vermutlich um eine islamistische Konspiration. Es mußte sich ganz einfach um die Muslime handeln. Die Berichte deuteten daraufhin, daß die Behörden alle anderen potentiellen Verbrecher, Angreifer und aktuellen Terroristen unter Kontrolle hatten, so weit in solchen Zusammenhängen überhaupt jemals von Kontrolle die Rede sein konnte. Was die Gruppe von verdrehten, fanatischen USBürgern anging, stellten die immer eine latente Bedrohung dar. Das hatte nicht zuletzt der Bombenleger, Golfkriegsveteran und Waffenfanatiker Timothy McVeigh bewiesen, der 1995 in Oklahoma City 168 Menschen umgebracht hatte. Das Problem war, daß es bei den vielen ultrareaktionären Gruppen in den USA keinerlei Anzeichen von außergewöhnlichen Aktivitäten gab. Sie standen ohnehin schon unter dauernder Überwachung, sogar noch nach dem 11. September, als sich fast alle 369
Aufmerksamkeit auf ein anderes Ziel richtete. Auch bei militanten Tierrechtlern oder extremen Umweltaktivisten wies nichts daraufhin, daß sie den Schritt von ungesetzlichen, störenden Aktionen zu handfesten Terrorangriffen vollzogen hätten. Religiöse Gruppen fanatischen Charakters gab es in den USA überall, aber in der Regel waren die vor allem eine Gefahr für sich selbst. Außerdem war auch bei ihnen nichts Außergewöhnliches zu beobachten gewesen. Die Präsidentin der USA aus ihrem Hotelzimmer in Norwegen zu entführen, lag außerdem Lichtjahre von dem entfernt, was die bekannten Gruppen in den USA an Kompetenzen oder Mitteln aufbringen konnten. Es mußte sich also um eine islamistische Konspiration handeln. Warren rückte seine Brille gerade. Der Bericht war auf faszinierende Weise von Angst durchsäuert. Nach über dreißig Jahren beim FBI hatte Warren noch nie eine professionelle Analyse gelesen, die dermaßen von Katastrophendenken geprägt gewesen wäre. Offenbar schien dem gesamten Homeland-Security-System endlich die Erkenntnis gekommen zu sein: Jemand hatte das Unmögliche geschafft. Das Unvorstellbare. Jemand hatte die Oberbefehlshaberin gestohlen, und es war schwer, sich vorzustellen, daß den Unternehmungen dieser finsteren Kräfte jetzt noch irgendwie Einhalt geboten werden könnte. Die Furcht galt einem Angriff auf verschiedene, nicht weiter identifizierte Einrichtungen auf amerikanischem Boden. Sie baute auf etlichen Berichten und Ereignissen auf, aber die Berichte waren unvollständig, die Ereignisse mehrdeutig. Das Allerbesorgniserregendste und Verwirrendste waren die Tips. Die US-Behörden bekamen immer wieder solche Hinweise, und fast nie waren die von irgendeiner Substanz. Villenbewohner, die ihren Nachbarn unangenehme 370
Untersuchungen durch uniformierte Polizei bescheren wollten, konnten sich phantastische Schilderungen aus den Fingern saugen, was sie auf der anderen Seite des Gartenzauns gesehen haben wollten. Verdächtige Besuche, seltsame Geräusche zu nächtlicher Stunde, unnormales Verhalten und Aufbewahrung von etwas, bei dem es sich ganz bestimmt um Sprengstoff handelte. Oder vielleicht auch um eine Bombe. Manche Hausbesitzer hielten es für eine leichte und effektive Methode, sich mit Hilfe des FBI von störenden Mietern zu befreien. Es gab keine Grenzen dafür, was die Leute gesehen haben wollten. Araber, die rund um die Uhr im Haus ein- und ausgingen, Unterhaltungen in fremden Sprachen und Transporte von Kisten, bei denen nur Gott allein wußte, was sie enthielten. Sogar Jugendliche in den Flegeljahren konnten auf die Idee verfallen, einen Schulkameraden des Terrors zu bezichtigen, ohne einen anderen Grund, als daß dieser Knabe frech genug gewesen war, ein Mädel anzufassen, um das er besser einen großen Bogen gemacht hätte. Diesmal aber wirkten die Tips eher wie Warnungen. Eine ungewöhnliche Menge anonymer Meldungen war während der letzten Tage bei den field offices des FBI eingelaufen. Die einen riefen an, die anderen schickten eine EMail. Der Inhalt war selten genau derselbe, aber alle liefen darauf hinaus, daß etwas bevorstand, gegen das der 11. September wie ein Scherz aussehen würde. Die meisten wiesen daraufhin, daß die USA eine schwache Nation seien, die nicht einmal ihre eigene Präsidentin beschützen könne. Sie hätten es sich selbst zu verdanken, daß ihre Flanke offen lag. Diesmal werde sich die Katastrophe nicht auf einen begrenzten Bereich richten. Diesmal würden die USA leiden, so, wie die USA auf der ganzen Welt Leid verbreitet hatten. It was payback time. Das Besorgniserregendste war, daß die Herkunft dieser Anrufe sich nicht feststellen ließ. 371
Das war nicht zu begreifen. Die vielen Organisationen, die sich mit Homeland Security befaßten, besaßen einen technologischen Vorsprung, den sie für absolut hielten und der es ermöglichte, jedes Telefongespräch nach, von oder innerhalb der USA zu verfolgen. In der Regel brauchte man auch nur Minuten, um den Computer eines Absenders zu identifizieren. Im Schatten der weitreichenden Vollmachten, die George W. Bush sich in den Jahren nach 2001 sicherte, hatte die National Security Agency das aufgebaut, was sie für eine fast totale Kontrolle über telefonische und elektronische Kommunikation hielt. Daß sie bei ihrem Streben nach vollkommener Effektivität jede Vollmacht überschritt, fand sie ziemlich unproblematisch. Sie mußte ihren Job machen. Sie sollte für die Sicherheit ihres Landes sorgen. Die wenigen, die die Möglichkeit hatten, solche Überschreitungen zu entdecken oder gar zu beenden, schauten lieber in eine andere Richtung. Der Feind war mächtig und gefährlich. Die USA mußten um jeden Preis beschützt werden. Die beängstigenden Meldungen aber ließen sich nicht eindeutig zurückverfolgen. Ihre wahren Urheber konnten nicht aufgespürt werden. Die souveräne Technologie lieferte blitzschnell IP-Adresse oder Telefonnummer des Absenders, aber bei genauerer Untersuchung entpuppten die Informationen sich als falsch. Ein Anruf, bei dem eine tiefe Männerstimme die Behörden vor Arroganz und Schikanen gegen anständige Bürger warnte, denen nichts Schlimmeres vorgeworfen werden konnte als ein palästinensischer Vater, stammten zum Beispiel vom Telefon einer siebzig Jahre alten Dame in Lake Placid, New York. Und zu dem Zeitpunkt, an dem ein FBI-Büro in Manhattan den Anruf erhielt, hatte die gebrechliche Frau mit vier ebenso liebenswürdigen Freundinnen beim Tee gesessen. Keine hatte das Telefon auch nur angerührt, das konnten sie bei Gott beschwören, und die Aufzeichnungen der lokalen Telefongesellschaft zeigten dann auch, daß die Witwe die 372
Wahrheit sprach: Zum aktuellen Zeitpunkt war ihr Apparat nicht benutzt worden. Der Tee war nicht mehr glühendheiß. Warren trank. Für einen Moment beschlug seine Brille, dann war alles wieder deutlich. Rasch durchblätterte er den eher technischen Teil des Berichts. Er begriff nicht viel davon, und die Details interessierten ihn auch nicht so sehr. Ihm ging es um die Schlußfolgerung, und die fand er auf Seite 173: Es war absolut möglich, Adressen so zu manipulieren, wie es geschehen war. Ziemlich überflüssige Erkenntnis, dachte Warren. Ihr habt ja schon mehr als 130 Fälle dieses Phänomens dokumentiert. Er versuchte, sich ein Kissen besser hinter dem Kopf zurechtzurücken, ehe er weiterlas: Eine Manipulation dieser Art verlangte gewaltige Mittel. Sieh an. Hat ja wohl auch niemand für Bettlerarbeit gehalten. Und vermutlich einen eigenen Telekommunikationssatelliten. Oder den Zugang zu einem solchen. Gemietet oder gestohlen. Einen Satelliten? Ein verdammtes Raumschiff? Warren fror jetzt. 15 Grad Celsius waren offenbar ziemlich wenig. Wieder erhob er sich, um den Temperaturregler an der Wand zu korrigieren. Er versuchte es diesmal mit 20 Grad, legte sich dann wieder ins Bett und las weiter. Da Satelliten dieser Art vierzigtausend Kilometer von der Erdoberfläche entfernt ihre festen Bahnen durchs Ali zogen, waren diese Ereignisse mit der Verwendung eines arabischen Satelliten vereinbar. Alle Anrufe und elektronischen Mitteilungen liefen über Telefone und Computer an der Ostküste der USA. Ein arabischer Satellit würde wohl kaum weiter ins Land hinein senden können. Aber die Ostküste würde er schaffen. 373
Nachverfolgen, dachte Warren. Bei den vielen Milliarden, all den Vollmächten, der gewaltigen Technologie, die uns zur Verfügung steht, was ist mit der Nachverfolgung und Rekonstruktion der Anrufe und Mitteilungen? Warren Scifford war Profiler. Er hatte Respekt vor Technik. Nicht zuletzt hatte er in all den Jahren seiner Jagd auf Serienmörder und sadistische Sexualverbrecher eine hohe Achtung vor Gerichtspathologen und ihren Zauberkünsten in Chemie, Physik, Elektronik und Technologie entwickelt. Es kam sogar vor, daß er ab und zu voller Bewunderung für solche Sachkenntnisse eine Folge von C.S.I. sah. Aber er verstand das alles nicht. Er konnte einen Computer aufbauen, ein paar Codes lernen und sich ansonsten damit zufriedengeben, daß andere sich um die Technologie kümmerten. Sein Fach war die Seele. Und das hier konnte er nicht begreifen. Er las weiter. Um 09.14 morgens, Eastern time, hatten die Tips ein jähes Ende genommen. Auf die Minute genau zu dem Zeitpunkt, an dem das FBI die erste Adresse aufsuchte, die sie ermittelt hatten. Jemand hatte aus einem kleinen Haus am Rand der Everglades, Florida, beim Hauptquartier des FBI in Quantico angerufen und den bevorstehenden Zusammenbruch der USA angekündigt. In diesem Haus wohnte ein alter Mann, der kaum sehen konnte und fast taub war. Sein Telefon war nicht einmal mehr eingestöpselt. Es lag verstaubt im Keller, wurde aber noch bezahlt, weil der Sohn in Miami das für seinen Vater übernommen hatte. Offenbar dachte er nicht weiter darüber nach, welchen Sinn das haben sollte. Vermutlich hatte er den Alten seit Jahren nicht mehr besucht. 374
Und im selben Moment versiegte der Strom der Tips. Seither war alles still. Die Arbeit an der Stimm- und Sprachanalyse der Aufnahmen laufe auf Hochtouren, teilte der Verfasser des Berichts abschließend mit. Vorläufig könne man noch keine für die Ermittlungen brauchbaren Ergebnisse melden, weder, was die fast sechzig E-Mails noch was die Tonbandaufnahmen der Drohanrufe anging. Die Stimmen waren zerhackt und verzerrt, man durfte sich also nicht zu große Hoffnungen machen. Mit einer gewissen Sicherheit ließ sich nur sagen, daß alle Anrufer Männer waren. Die E-Mails waren aus naheliegenden Gründen geschlechtsspezifisch deutlich schwieriger einzuordnen. Ende des Berichts. Warren hatte Hunger. Er holte sich einen Schokoriegel aus der Minibar und öffnete eine Flasche Cola. Nichts davon schmeckte ihm, aber es half seinem Blutzucker auf die Sprünge. Die leichten Kopfschmerzen, die sich bei Schlafmangel einstellten, verschwanden. Er ließ sich im Bett zurücksinken. Der umfangreiche Ordner fiel auf den Boden. Nach den Vorschriften hätte er sofort vernichtet werden müssen. Aber das konnte warten. Er griff nach dem dünneren Ordner und hielt ihn für einige Sekunden auf Armeslänge entfernt. Dann ließ er den Arm auf die Decke sinken. Dieser kleine Bericht war ein Meisterwerk. Das Problem war, daß niemand ein besonderes Interesse daran zu haben schien, ihn zu lesen oder sich gar entsprechend zu verhalten. Warren konnte ihn fast auswendig, obwohl er ihn erst zweimal gelesen hatte. Der Bericht war von der BS-Unit zu Hause in DC ausgearbeitet worden, und er hatte selbst dazu beigetragen, so 375
gut es von diesem gottverlassenen Flecken namens Norwegen aus möglich war. Warren hatte Heimweh. Er schloß die Augen. In letzter Zeit kam er sich immer häufiger alt vor. Nicht nur älter, sondern richtig alt. Er war erschöpft, und mit dem neuen Posten hatte er sich übernommen. Er wollte zurück nach Quantico, nach Virginia, zu seiner Familie. Zu Kathleen, die es seit so vielen Jahren mit ihm und seinen zahllosen, sie zutiefst verletzenden Seitensprüngen aushielt. Zu den erwachsenen Kindern, die sich alle in der Nähe des Elternhauses niedergelassen hatten. Zu seinem Haus und seinem Garten. Er wollte nach Hause und verspürte einen schweren Druck unter den Rippen, der auch nach mehrmaligem Schlucken nicht verschwand. Der dünne Ordner enthielt ein Profil. Wie immer hatten sie als erstes die Ereignisse und Handlungen aufgeführt. Die BS-Unit bewegte sich entlang von Zeitlinien und in die Tiefe hinein, sie setzte Ereignisse miteinander in Zusammenhang und analysierte Ursache und Wirkung. Sie untersuchte Kosten und Komplexität. Jedes Detail eines Handlungsverlaufs wurde alternativen Lösungen gegenübergestellt, denn nur so konnte sie sich den Beweggründen und Einstellungen der Menschen nähern, die hinter der Entführung von Madam President steckten. Das Bild, das auf diesen zwanzig Seiten langsam entstand, machte Warren und seinen treuen Mitarbeitern von der BS-Unit mindestens ebenso große Sorgen, wie der dicke Ordner dem Rest des FBI zu Schweißausbrüchen verhalf. Sie hatten geglaubt, das Profil einer Organisation zu entwerfen. Einer Gruppe von Menschen, einer Terrorzelle. Möglicherweise einer kleinen Armee, eines Heeres im Heiligen Krieg gegen die USA, das Bollwerk Satans. Statt dessen ahnten sie jetzt die Konturen eines Mannes. 376
Eines einzigen Mannes. Natürlich konnte er nicht allein vorgehen. Alles, was geschehen war, seit die BS-Unit etwa sechs Wochen zuvor die ersten vagen Anzeichen für Troja gesehen hatte, zeigte, daß es ungeheuer viele Beteiligte geben mußte. Das Problem war, daß sie alle nicht zueinander zu gehören schienen. Statt sich einer Schilderung einer Terrororganisation zu nähern, hatte die BS-Unit einen einzelnen Akteur entdeckt, der Menschen wie Werkzeuge benutzte, mit demselben Mangel an Loyalität oder anderen menschlichen Gefühlen seinen Helfern gegenüber, wie andere sie einem Werkzeugkasten entgegenbrachten. Nichts war unternommen worden, um in der Folgezeit die verschiedenen Täter zu beschützen. Wenn sie ihre Rolle gespielt hatten, gab es keinen Apparat zu ihrem Schutz. Gerhard Skrøder wurde ebenso den Wölfen vorgeworfen wie der pakistanische Putzmann und alle anderen Teile des großen Puzzlespiels. Was natürlich bedeuten mußte, daß sie keine Ahnung hatten, für wen sie arbeiteten. Warren gähnte, schüttelte heftig den Kopf und riß die Augen auf, um seine Tränen zurückzudrängen. Die Hand, die noch immer den Bericht hielt, kam ihm bleischwer vor. Er nahm sich zusammen, öffnete ihn und ließ die Augen über die erste Seite wandern. Oben auf dem Bogen stand eine bescheidene Überschrift, in der gleichen Größe wie das restliche Dokument, allerdings in halbfetter Schrift: The Guilty. A Profile of the Abductor. Der Schuldige. Warren war nicht sicher, ob ihm diese Bezeichnung gefiel. Andererseits war sie ja durchaus neutral, ohne ethnische oder andere Hinweise. Er versuchte noch einmal, sich bequemer 377
zurechtzulegen, und las weiter. I.i. The abduction. Wie immer begannen sie ausgehend von der eigentlichen Kernhandlung. Schon die Entführung der Präsidentin an sich gab allerlei Hinweise auf das Täterprofil. Seit dem unchristlichen Zeitpunkt, an dem er in seiner Wohnung in Washington DC von einem Agenten geweckt wurde, der aufgeregt berichtete, daß die Präsidentin in Norwegen offenbar entfuhrt worden sei, war Warren ernstlich verwirrt gewesen. Auf dem Flug nach Europa hatte er damit gerechnet und auf absurde Weise fast gehofft, bei seinem Eintreffen zu erfahren, daß Madam President tot aufgefunden worden sei. Daß sie auch lebendig aufgefunden werden könnte, hatte er nicht einmal in Betracht gezogen. Die Kernfrage war die ganze Zeit gewesen: Warum eine Entführung? Warum war Helen Bentley nicht ermordet worden? Ein Attentat wäre aller Wahrscheinlichkeit nach viel leichter durchzuführen und viel weniger riskant gewesen. Als Commander in Chief der USA stand sie an überaus gefährdeter Stelle, weil es ganz einfach unmöglich war, einen einzelnen Menschen vollständig vor plötzlichen, tödlichen Angriffen zu beschützen, ohne diesen Menschen in eine Isolierzelle zu sperren. Die Entführung mußte einen eigenen Wert haben. Es mußte ein bedeutender Mehrgewinn darin liegen, die USA im Ungewissen schweben zu lassen, statt hinzunehmen, daß die Amerikaner sich in gemeinsamer Bestürzung und Trauer um eine ermordete Präsidentin sammelten. Eine offenbare Folge des Verschwindens war, daß das Land jetzt für neue Angriffe verletzlicher war. Beim bloßen Gedanken bekam Warren eine Gänsehaut. 378
Er blätterte auf die nächste Seite weiter, dann griff er zur Colaflasche und trank. Noch immer verspürte er ein Ziehen im Magen, das er nicht so ganz deuten konnte, und er spielte für einen Moment mit dem Gedanken, etwas zu essen zu bestellen, um herauszufinden, ob das half. Die Uhr auf seinem Mobiltelefon zeigte drei Minuten vor sechs, deshalb ließ er diese Idee wieder fallen. In einer guten Stunde würde das Frühstück serviert werden. Sich des Secret Service-Agenten Jeffrey Hunter zu bedienen, war ebenso genial wie einfach. Obwohl es vielleicht theoretisch möglich gewesen wäre, die Präsidentin auch ohne Hilfe von innen zu entführen, war es fast unmöglich, sich die praktische Durchführung vorzustellen. Daß »Der Schuldige« über einen Apparat in den USA verfügte, der zweimal einen autistischen Jungen entführen konnte, um einen professionellen Sicherheitsagenten zur Zusammenarbeit zu zwingen, fügte sich in die Reihe von Elementen ein, die das Profil immer deutlicher werden ließen. Und immer überwältigender. Das Telefon klingelte. Das kam so überraschend, daß Warren die Colaflasche umstieß, die er zwischen seinen Oberschenkeln eingeklemmt hatte. Er fauchte eine Verwünschung, rettete die Reste der klebrigen schwarzen Flüssigkeit und griff zum Telefon. »Hallo«, stöhnte er und wischte die freie Hand an der Bettdecke ab. »Warren«, sagte eine Stimme weit weg. »Ja?« »Hier ist Colin.« »Ach, hallo, Colin. Du bist schrecklich weit weg.« »Ich muß mich kurzfassen.« »Das klingt, als ob du flüsterst. Sprich lauter.« »Verdammt, Warren, hör doch zu. Wir stehen im Moment 379
nicht gerade hoch im Kurs.« »Ja, das merke ich auch hier.« Colin Wolf und Warren Scifford arbeiteten seit fast zehn Jahren zusammen. Der gleichaltrige Spezialagent war bei der Zusammensetzung der BS-Unit Warrens erste Wahl gewesen. Colin war von der alten Schule. Er hieß Wolf, sah aus wie ein Bär und war gründlich, ruhig und zuverlässig. Jetzt war seine Stimme ein wenig höher als sonst und klang deutlich gestreßt. »Sie wollen nicht auf uns hören«, sagte Colin. »Sie haben sich entschieden.« »Wofür?« fragte Warren, obwohl er die Antwort schon kannte. »Dafür, daß hinter allem irgendeine islamistische Organisation steckt. Jetzt sind sie schon wieder auf der Al-Qaida-Schiene gelandet. Al-Qaida! Die haben mit der Sache doch verdammt noch mal auch nicht mehr zu tun als die IRA. Oder meinetwegen als die Pfadfinder. Aber jetzt haben sie Blut geleckt. Deshalb ruf ich an.« »Was ist passiert?« »Ein Konto ist aufgetaucht.« »Konto?« »Jeffrey Hunter. Geld für seine Frau.« Warren schluckte. Der braune Fleck in seinem Schritt sah widerlich aus. Er zog mit der klebrigen Hand die Decke über sich. »Hallo?« »Ich bin noch da«, sagte Warren. »Das ist ja ziemlich beschissen.« »Ja. Und es ist auch zu schön, um wahr zu sein.« »Wie meinst du das?« »Hör mal, ich muß mich beeilen. Aber ich wollte es dir schnell sagen. Es geht um 200000 Dollar. Das Geld ist natürlich durch 380
die üblichen Kanäle geschleust worden, um seine Herkunft zu verdecken, aber wir haben es doch den ganzen Weg bis zum edlen Spender zurückverfolgen können. Dazu haben die Jungs in der Pennsylvania Avenue nur fünf Stunden gebraucht.« »Und was ist dabei herausgekommen?« »Halt dich fest.« »Ich liege im Bett.« »Der Vetter des saudiarabischen Ölministers. Er lebt im Iran.« »Shit!« »Das kannst du wohl sagen.« Warren griff zum Bericht der BS-Unit. Das Papier klebte an seiner Hand. Das konnte nicht stimmen. Es konnte einfach nicht stimmen. Sie waren es doch, die recht hatten, Colin und Warren und die anderen der kleinen ausgestoßenen Gruppe von Profilern, auf die niemand hören wollte. »Das kann einfach nicht stimmen«, sagte Warren leise. »Der ›Schuldige‹ würde niemals einen dermaßen dilettantischen Patzer begehen, wie das Geld aufspüren zu lassen.« »Was?« »Das kann nicht stimmen.« »Nein, deshalb ruf ich doch an. Das ist zu einfach, Warren! Aber was, wenn wir die ganze Kiste auf den Kopf stellen?« »Was? Ich höre nicht, bist du …« »Die ganze Kiste auf den Kopf stellen«, rief Colin. »Mal angenommen, daß die Spur nach Saudi-Arabien bewußt ausgelegt worden ist … wenn wir recht haben und wenn es Absicht war, daß wir das Geld finden und seine Herkunft ausfindig machen sollten …« … dann fügt das Puzzle sich zusammen, dachte Warren und holte tief Luft. So arbeitet Der Schuldige. Er will das so. Er wünscht sich Chaos, will die Krise schüren, er ist … 381
»Verstehst du? Meinst du nicht auch?« Colins Stimme war so weit weg. Warren hörte nicht richtig zu. »Es wird nicht lange dauern, bis das durchsickert«, sagte Colin, die Verbindung wurde immer schlechter. »Hast du die Börse beobachtet?« »Ein bißchen.« »Wenn die Verbindung zu Saudi-Arabien und dem Iran bekannt wird …« Die Ölpreise, dachte Warren. Die werden wie nie zuvor in der Weltgeschichte in die Höhe jagen. »… dramatischer Absturz im Dow Jones und es geht dermaßen steil weiter und …« »Hallo«, rief Warren. »Hallo! Bist du noch da? Ich muß aufhören, Warren. Ich muß laufen, um …« Das Knistern war unangenehm. Warren hielt das Telefon einige Zentimeter von seinem Ohr weg. Plötzlich war Colin wieder da. Und zum ersten Mal war die Verbindung kristallklar. »Es ist von hundert Dollar pro Barrel die Rede«, sagte er düster. »Vor Ende nächster Woche. Und das will er auch. Das stimmt, Warren. Alles stimmt. Ich muß los. Ruf mich an.« Die Verbindung wurde unterbrochen. Warren stand aus dem Bett auf. Er mußte schon wieder duschen. Mit gespreizten Beinen, damit die klebrigen Oberschenkel sich nicht berührten, ging er zu seinem Koffer. Er hatte noch immer nicht richtig ausgepackt. Der ›Schuldige‹ ist ein Mann mit gewaltigem Kapital und umfassender Kenntnis des Westens, erinnerte er sich aus dem Profil. Er ist überdurchschnittlich intelligent und geprägt von 382
einer seltenen Geduld und einer Fähigkeit zu extrem langfristiger Planung und Überlegung. Er hat ein beeindruckendes internationales, überaus kompliziertes Netzwerk aus Helfern aufgebaut, vermutlich durch Drohungen, Kapital und kostenintensive Pflege. Es besteht aller Grund zu der Annahme, daß nur wenige dieser Helfer wissen, wer er ist. Falls überhaupt jemand das weiß. Warren fand keine sauberen Boxershorts. Resigniert durchsuchte er die Seitenfächer des Koffers. Seine Finger berührten etwas Schweres. Er zögerte einen Moment, ehe er den Gegenstand durch die enge Öffnung bugsierte. Die Uhr? Verus amicus rara avis. Er hatte die Uhr schon verloren geglaubt. Das hatte ihm mehr ausgemacht, als er es sich eingestehen mochte. Er liebte seine Armbanduhr und war stolz, weil er sie von Madam President bekommen hatte. Er nahm sie nie ab. Außer beim Sex. Sex und Zeit hatten nichts miteinander zu tun, deshalb legte er die Uhr dann immer ab. Insgeheim hatte er befürchtet, daß die Rothaarige sie ihm gestohlen hatte. Er konnte sich nicht mehr an den Namen der Frau erinnern, auch wenn ihre Begegnung erst eine Woche zurücklag. Es war in einer Bar gewesen. Sie hatte irgend etwas mit Werbung gemacht, das glaubte er noch zu wissen. Oder vielleicht war das auch aus einem Film. Egal, dachte er und ließ die Uhr um sein Handgelenk zuschnappen. Im Koffer gab es keine sauberen Boxershorts mehr. Er mußte eben ohne zurechtkommen. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist er kein Amerikaner, glaubte Warren eine Stimme sagen zu hören, als laufe das 383
Profildokument in seinem Kopf wie ein Tonband ab. Falls er Muslim ist, dann ist er eher säkularisiert als fanatisch. Vermutlich lebt er im Nahen Osten, aber er kann sich auch vorübergehend in Europa niedergelassen haben. Es war inzwischen drei Minuten nach halb sieben, und Warren Scifford war nicht im geringsten mehr schläfrig.
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3 Als er sich dem Gästezimmer näherte, warf Al Muffet über das Geländer im ersten Stock einen Blick auf die Standuhr in der Diele. Die zeigte drei Minuten nach halb eins. Er glaubte gelesen zu haben, daß die Menschen zwischen drei und fünf Uhr nachts am tiefsten schlafen. Da sein Bruder am Vorabend reichlich angetrunken gewesen war, rechnete Al jedoch damit, daß er auch jetzt schon tief schlief. Er hatte einfach nicht die Geduld, noch länger zu warten. Vorsichtig versuchte er, den knarrenden Bodenbrettern auszuweichen. Er war barfuß und bereute, keine Socken angezogen zu haben. Die Feuchtigkeit unter seinen Fußsohlen verursachte ein leises, schmatzendes Geräusch. Selbst wenn Fayed sich davon nicht stören ließ, so hatten die Mädchen, vor allem Louise, doch einen ungewöhnlich leichten Schlaf. Das war so, seit ihre Mutter gestorben war, um zehn nach drei in einer Novembernacht. Glücklicherweise hatte er sich am Abend zusammenreißen können, nachdem Fayeds Bemerkung über das Sterbebett der Mutter ihn für einen Moment einfach umgeworfen hatte. Nach einem Ausflug ins Badezimmer, wo er sich Hände und Gesicht mit eiskaltem Wasser wusch, hatte er wieder zu Bruder und Töchtern zurückkehren und den Abend einigermaßen gefaßt hinter sich bringen können. Er schickte die Mädchen um zehn Uhr ins Bett, was argen Protest hervorrief, und war froh, als Fayed bereits eine halbe Stunde später erklärte, ebenfalls Schlafengehen zu wollen. Al Muffet näherte sich der Tür, hinter der sein Bruder schlief. Die Mutter hätte ihre beiden Söhne niemals verwechselt. Der Altersunterschied war das eine. Ali und Fayed hatten 385
außerdem absolut unterschiedliche Persönlichkeiten. Al Muffet wußte, daß seine Mutter in ihm viel größere Ähnlichkeit mit sich selbst entdeckte, mit seinem freundlichen Wesen, offen für fast alles und fast jeden. Fayed war ein Fremder. Er war ein besserer Schüler als sein Bruder, er gehörte sogar zu den allerbesten auf der ganzen Schule. Als Handwerker war er dagegen hoffnungslos. Der Vater hatte bald erkannt, daß es kaum etwas nutzte, Fayed zur Hilfe bei den in der Werkstatt anfallenden Arbeiten zu zwingen. Der kleine Ali dagegen war noch keine acht, da hatte er schon das Prinzip eines Automotors durchschaut. Als er mit sechzehn den Führerschein gemacht hatte, baute er sich aus Wrackteilen, die der Vater ihm überlassen hatte, sein eigenes Auto. Das skeptische, mürrische Wesen des Bruders prägte auch sein Äußeres. Er betrachtete die Welt mit scheelem Blick, und diese Haltung ließ die Leute daran zweifeln, ob er ihnen überhaupt jemals richtig zuhörte. Außerdem ging er ein wenig gebückt, als rechnete er immer mit irgendeinem Angriff und wollte sich lieber gleich mit einer Schulter dagegen wehren. Vom Gesicht her sahen sich die Brüder jedoch ungewöhnlich ähnlich. Ohne daß die Mutter sie deshalb jemals verwechselt hatte. Das wäre ihr nie passiert, dachte Al Muffet und drückte vorsichtig auf die Türklinke. Falls sie es wirklich getan hatte, weil der Tod nur noch wenige Minuten entfernt war und sie nicht mehr klar dachte oder hörte, konnte das eine Katastrophe bedeuten. Das Zimmer lag in tiefem Dunkel. Al blieb einige Sekunden stehen, damit seine Augen sich daran gewöhnen konnten. Die Umrisse des Bettes zeichneten sich vor der Wand ab. Fayed lag auf dem Bauch, das eine Bein halb über die Bettkante geschoben, die linke Hand unter den Kopf geklemmt. Er schnarchte leise und regelmäßig. 386
Al zog eine kleine Taschenlampe aus der Brusttasche. Ehe er sie einschaltete, überzeugte er sich davon, daß der Koffer des Bruders auf einer niedrigen Kommode neben der Tür zum kleinsten Badezimmer des Hauses stand. Er schirmte den Strahl mit seinen Fingern ab. Nur ein kleiner Lichtstreifen fiel über den Boden und ermöglichte es Al, sich ohne zu stolpern dem Koffer zu nähern. Der war abgeschlossen. Er machte noch einen Versuch. Das Zahlenschloß ließ sich nicht öffnen. Fayed schnarchte jetzt lauter und drehte sich im Bett um. Al blieb ganz still stehen. Er wagte nicht einmal, die Taschenlampe auszuschalten. Einige Minuten stand er so da und horchte auf den Atem des Bruders, der sich wieder rhythmisch und langsam anhörte. Es war ein ganz normaler mittelgroßer Samsonitekoffer. Ein ganz normales Zahlenschloß, dachte Al und versuchte es mit dem Geburtsdatum seines Bruders. Ein normales Schloß kann den allernormalsten Code haben. Klick. Er wiederholte die Ziffernfolge beim linken Schloß. Der Deckel ließ sich öffnen. Langsam und lautlos hob er ihn an. Der Koffer enthielt Kleider. Oben zwei Pullover, dann eine Hose, mehrere Unterhosen und drei Paar Socken. Alles war sorgfältig zusammengefaltet. Al schob langsam die Hand unter die Kleider und hob sie zur Seite. Auf dem Boden des Koffers lagen acht Telefone, ein Laptop und ein Terminkalender. Niemand braucht acht Telefone, falls er sie nicht verkaufen will, dachte Al. Er spürte, wie sein Puls noch schneller wurde. Alle Telefone waren ausgeschaltet. Für einen Moment fühlte er sich versucht, den Laptop mitzunehmen, um ihn sich genauer 387
anzusehen. Aber diesen Gedanken gab er rasch wieder auf. Vermutlich wimmelte es auch darin von Codes, die er nicht durchschauen würde, und das Risiko, daß der Bruder erwachte, ehe er den Laptop zurückgelegt hatte, war zu groß. Der Terminkalender war aus schwarzem Leder. Er war mit einer Klappe mit einem Druckknopf verschlossen, die zugleich als Halter für einen exklusiven Kugelschreiber diente. Al steckte die Taschenlampe in den Mund, richtete den Strahl auf den Kalender und öffnete ihn. Es war ein ganz normaler Fil-o-fax. Die linke Seite war in Felder für die ersten drei Wochentage eingeteilt. Die vier anderen waren auf der rechten Seite untergebracht. Das Sonntagsfeld war kleiner als die anderen, und soweit Al sehen konnte, ging sein Bruder für Sonntage niemals Verabredungen ein. Lautlos blätterte er hin und her. Die Termine sagten ihm wenig, nur, daß sein Bruder viel zu tun hatte. Aber das hatte er ja schon gewußt. Auf eine plötzliche Eingebung hin schlug er den komprimierten Kalender auf, je eine Zeile pro Tag, das ganze Jahr auf einem großen, ausklappbaren Bogen. In seinem eigenen Kalender kam das hinten, aber sein Bruder hatte dieses Blatt ganz vorn abgeheftet. Fayed hatte die Übersichten der letzten fünf Jahre aufbewahrt. Merktage waren sorgfältig gekennzeichnet. 2003 hatte Fayeds Familie den 4. Juli in Sandy Hook gefeiert. Der Labor Day 2004 wurde bei Leuten namens Collies auf Cape Cod verbracht. Der 11. September 2001 war mit einem tiefschwarzen Stern markiert. Al merkte, daß er schwitzte, obwohl es kühl im Zimmer war. Der Bruder schlief noch immer tief und fest. Seine Finger zitterten, als er zum Todestag der Mutter weiterblätterte. Als er sah, was sein Bruder dort geschrieben hatte, bekam er endgültig 388
Gewißheit. Seine Augen ruhten einige Sekunden auf dieser Eintragung. Dann klappte er den Kalender zu und legte ihn zurück in den Koffer. Seine Hände waren jetzt ruhig und bewegten sich rasch. Er schloß den Deckel und ließ die Schlösser zuschnappen. So still, wie er gekommen war, schlich er sich zur Tür zurück. Dort blieb er stehen. Er sah die schlafende Gestalt im Bett an, so wie er in seiner Kindheit so oft den Bruder von seinem eigenen Bett aus betrachtet hatte, nachts, wenn er nicht schlafen konnte. Er erinnerte sich noch deutlich daran. Manchmal, nach langen, erschöpfenden Tagen in der Kriegszone zwischen den Eltern und Fayed, setzte Al sich auf und starrte den Rücken an, der sich vor der gegenüberliegenden Wand des Jungenzimmers langsam hob und senkte. Ab und zu war er stundenlang wach. Im Grunde wollte er den trotzigen, beleidigten großen Bruder nur verstehen, den mürrischen, unlenkbaren Teenager, der den Vater in kochende Wut und die Mutter in bodenlose Verzweiflung trieb. Al Muffet war so traurig wie damals, als er jetzt in der Zimmertür seines Bruders stand. Vor langer Zeit einmal hatte er Fayed geliebt. Erst jetzt begriff er, daß ihn nichts mehr mit dem Bruder verband. Er wußte nicht, wann es passiert war – wann genau alles zerbrach. Vielleicht beim Tod der Mutter. Vorsichtig zog er die Tür hinter sich zu. Er mußte nachdenken. Er mußte herausfinden, was sein Bruder über die Entführung von Helen Lardahl Bentley wußte.
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4 »Gibt’s was Neues?« Inger Johanne Vik drehte sich zu Helen Lardahl Bentley um und lächelte, während sie den Fernseher leiser stellte. »Ich habe eben erst eingeschaltet. Hanne mußte sich ein bißchen hinlegen. Guten Morgen, übrigens. Sie sehen sehr …« Inger Johanne verstummte, wurde tiefrot und stand auf. Sie fuhr sich rasch mit den Händen über die Brust. Die Krümel von Ragnhilds Frühstück rieselten zu Boden. »Madam President«, sagte sie und ertappte sich bei einem Knicks. »Vergessen Sie die Formalitäten«, sagte Helen Bentley rasch. »Das hier können wir doch wohl als ganz besonderen Fall bezeichnen, oder? Nennen Sie mich Helen.« Ihre Lippen waren nicht mehr geschwollen, und sie brachte ein Lächeln zustande. Noch immer sah sie mißhandelt aus, aber die Dusche und die saubere Kleidung hatten Wunder gewirkt. »Gibt es irgendwo einen Eimer und Waschmittel?« fragte Helen Bentley und sah sich um. »Ich würde gern versuchen, die … Schäden da drinnen ein wenig zu begrenzen.« Mit einer schmalen Hand zeigte sie auf das Wohnzimmer und das rote Sofa. »Ach, das«, sagte Inger Johanne leichthin. »Keine Sorge. Das hat Marry schon erledigt. Es muß zwar teilweise in die Reinigung, aber es ist …« »Marry«, wiederholte Helen Bentley mechanisch. »Das ist die Haushälterin.« Inger Johanne nickte. Die Präsidentin kam auf sie zu. »Und Sie sind …? Es tut mir leid, aber gestern abend war ich 390
nicht ganz …« »Inger Johanne. Vik. Inger Johanne Vik.« »Inger«, wiederholte Helen Bentley und streckte die Hand aus. »Und das Kleine da ist …« Ragnhild saß auf dem Boden, mit einem Topfdeckel, einem Kochlöffel und einem Kasten voller Bauklötze. Sie plapperte zufrieden vor sich hin. »Meine Tochter«, sagte Inger Johanne lächelnd. »Sie heißt Ragnhild. Wir nennen sie meistens Agni, das macht sie selber nämlich auch.« Die Hand der Präsidentin war trocken und warm, und Inger Johanne hielt sie einen Augenblick zu lange fest. »Ist das eine Art …« Helen Bentley schien Angst zu haben, jemanden zu beleidigen, und zögerte. »… Wohngemeinschaft?« »Nein, nein. Ich wohne nicht hier. Meine Tochter und ich sind nur zu Besuch. Für ein paar Tage.« »Ach … Sie wohnen also nicht in Oslo?« »Doch. Ich wohne … diese Wohnung gehörte Hanne Wilhelmsen. Und Nefis. Hannes Partnerin. Ihrer Lebenspartnerin, meine ich. Sie ist Türkin, und sie ist mit Ida, der Tochter der beiden, in die Türkei gefahren, um die Großeltern zu besuchen. Sie wohnen sonst hier. Ich bin nur …« Die Präsidentin hob die Hände, und Inger Johanne verstummte plötzlich. »Gut«, sagte Helen Bentley. »Schon verstanden. Kann ich mit Ihnen zusammen fernsehen? Kriegt ihr hier CNN?« »Wollen Sie nicht … etwas essen? Ich weiß, daß Marry schon …« »Sind Sie Amerikanerin?« fragte die Präsidentin überrascht. 391
In ihre Augen trat ein neuer Ausdruck. Bisher war ihr Blick wachsam neutral gewesen, als unterdrücke sie die ganze Zeit etwas, um die Kontrolle über ihre Umgebung zu haben. Sogar am Vorabend, als Marry sie aus dem Keller nach oben geschleppt und sie nicht einmal aufrecht hatte stehen können, war ihr Blick stark und stolz gewesen. Jetzt blitzte etwas darin auf, das Ähnlichkeit mit Furcht hatte, und Inger Johanne begriff nicht, warum. »Nein«, versicherte sie eifrig. »Ich bin Norwegerin. Durch und durch.« »Sie sprechen ein amerikanisches Englisch.« »Ich habe in den USA studiert. Soll ich Ihnen etwas holen? Etwas zu essen?« »Lassen Sie mich raten«, sagte die Präsidentin und der Hauch von Angst war verschwunden. »Boston.« Sie dehnte das O zu einem langen Laut, der eher wie ein A klang. Inger Johanne deutete ein Lächeln an. »Sieh an, hier ist ja was los«, murmelte Marry und kam mit einem überfüllten Tablett hereingehumpelt. »Ist noch keine sieben und schon ist volle Rolle. In meinen Papieren steht aber nix von Nachtschicht.« Die Präsidentin starrte Marry fasziniert an, als die das Tablett auf den Tisch stellte. »Koffie«, sagte die Haushälterin und zeigte darauf. »Penkeks. Egg. Behken. Milk. Äppelsiendschus. Bitte sehr.« Sie legte die Hand an den Mund und flüsterte Inger Johanne zu: »Das mit den Pfannekuchen hab ich aus dem Fernsehen. Die essen immer Pfannekuchen zum Frühstück. Komische Leute.« Sie schüttelte den Kopf, streichelte Ragnhilds Haare und stapfte zurück in die Küche. »Ist das für mich oder für Sie?« fragte die Präsidentin und 392
setzte sich an den Tisch. »Aber das ist sicher auch genug für drei.« »Greifen Sie zu«, sagte Inger Johanne. »Sie ist beleidigt, wenn nachher nicht alles aufgegessen ist.« Die Präsidentin hob Messer und Gabel. Sie schien nicht recht zu wissen, wie sie die mächtige Mahlzeit angehen sollte. Vorsichtig stocherte sie im Pfannkuchen, der um jede Menge Marmelade und Sauerrahm gewickelt war. Der Zucker lag wie ein Streifen Schnee ganz oben. »Was ist das«, fragte sie leise. »Eine Art Crêpe Suzette?« »Wir nennen das Pfannkuchen«, flüsterte Inger Johanne. »Marry glaubt, daß das in den USA zum Frühstück gegessen wird.« »Hmm. Lecker. Wirklich. Aber sehr süß. Wer ist das?« Helen Bentley nickte zum Fernseher hinüber, wo eine Nachrichtensendung vom Vortag wiederholt wurde. Noch immer brachten die norwegischen Fernsehsender rund um die Uhr Sondersendungen. Nach ein Uhr nachts drehten sie den Stapel einfach um und strahlten die Sendungen des Abends noch einmal aus, bis es dann um halb acht die ersten neuen Nachrichten gab. Wencke Bencke saß wieder im Studio. Sie diskutierte heftig mit einem pensionierten Polizisten. Er hatte es nach einer nicht ganz erfolgreichen Karriere als Privatdetektiv zum Experten für Kriminalkommentare gebracht. Während der vergangenen Tage waren die beiden zwischen den Funkhäusern hin und her gelaufen. Auf sie war immer Verlaß. Sie konnten einander nicht ausstehen. »Sie ist … Schriftstellerin. Eigentlich.« Inger Johanne griff zur Fernbedienung. »Ich schalte um auf CNN«, murmelte sie. Die Präsidentin erstarrte. 393
»Warten Sie! Wait!« Inger Johanne hielt verdutzt mit der Fernbedienung in der Hand inne. Sie ließ ihren Blick von der Präsidentin zum Bildschirm und wieder zurück wandern. Helen Bentley hatte den Mund halb geöffnet und in tiefer Konzentration den Kopf schräg gelegt. »Hat die Frau Warren Scifford gesagt?« flüsterte die Präsidentin. »Was?« Inger Johanne drehte lauter und hörte jetzt zu. »… und es besteht überhaupt kein Grund, dem FBI die Anwendung ungesetzlicher Methoden vorzuwerfen«, sagte Wencke Bencke. »Wie gesagt kenne ich den Leiter der FBIAgenten, die jetzt mit der norwegischen Polizei zusammenarbeiten, persönlich. Warren Scifford. Er hat …« »Da«, flüsterte die Präsidentin. »Was sagt sie?« Der Sechzigjährige mit der Pilotenbrille und dem hellrosa Hemd beugte sich zum Moderator vor. »Zusammenarbeiten? Zusammenarbeiten? Wenn die Frau Kriminalschriftstellerin …« Er spuckte diese Berufsbezeichnung aus wie saure Milch. »… auch nur die geringste Vorstellung davon hätte, was sich hier im Land ankündigt, wo eine fremde Polizeitruppe macht, was sie will …« »Was sagen sie?« fragte die Präsidentin ungeduldig. »Worüber reden sie?« »Sie streiten sich«, flüsterte Inger Johanne und versuchte, weiter zuzuhören. »Worüber?« »Moment.« Sie hob abwehrend die Hand. 394
»Und da muß ich …« Der Moderator hatte große Mühe, sich Gehör zu verschaffen. »Dann machen wir für diesmal Schluß, da wir die Sendezeit ohnehin schon überzogen haben. Ich bin sicher, daß diese Diskussion in den kommenden Tagen und Wochen weitergehen wird. Vielen Dank für Ihren Besuch.« Die Erkennungsmelodie ertönte. Die Präsidentin hielt die Gabel noch immer erhoben. Von einem Stück Pfannkuchen tropfte Marmelade auf den Tisch. Sie bemerkte es nicht. »Die Frau hat über Warren Scifford geredet«, sagte sie noch einmal. Inger Johanne nahm eine Serviette und wischte den Tisch vor der Präsidentin ab. »Ja«, sagte sie leise. »Ich habe ja nicht viel von der Diskussion mitbekommen, aber es hörte sich so an, als ob sie sich nicht einig wären, inwieweit das FBI … Sie haben gestritten über … ja, ob das FBI sich auf norwegischem Boden Freiheiten herausnimmt, wenn ich das richtig verstanden habe. Das ist … seit gestern wirklich ein Thema.« »Aber … ist Warren hier? In Norwegen?« Inger Johannes Hand erstarrte mitten in einer Bewegung. Die Präsidentin wirkte jetzt weder gefaßt noch sonderlich majestätisch. Sie stutzte. »Ja …« Inger Johanne wußte nicht, was sie tun sollte, deshalb hob sie Ragnhild hoch und nahm sie auf den Schoß. Die Kleine wand sich wie ein Aal. Die Mutter wollte nicht loslassen. »Runter«, heulte Ragnhild. »Mama! Agni will runter!« »Kennen Sie ihn?« fragte Inger Johanne, weil ihr nichts anderes einfiel. »Persönlich, meine ich …« Die Präsidentin gab keine Antwort. Sie atmete zweimal tief durch, dann aß sie weiter. Langsam und vorsichtig, als bereite 395
ihr das Kauen Schmerzen, verzehrte sie den halben Pfannkuchen und ein wenig Bacon. Inger Johanne konnte Ragnhild nicht mehr festhalten. Sie durfte wieder zu ihrem Spielzeug krabbeln. Helen Bentley trank den Saft in einem Zug und goß sich Milch aus dem Glas in die Kaffeetasse. »Ich hatte geglaubt, ihn zu kennen«, sagte sie und hob die Tasse an den Mund. Ihre Stimme klang bemerkenswert ruhig, angesichts der Tatsache, daß sie eben noch unter Schock gestanden hatte. Inger Johanne glaubte, in der Stimme ein Zittern zu hören, als Helen Bentley sich vorsichtig durch die Haare fuhr und hinzufügte: »Wenn ich mich recht erinnere, ist mir hier ein Internetzugang angeboten worden. Und einen Computer brauche ich natürlich auch. Höchste Zeit, daß ich anfange, in dieser elenden Affäre für Ordnung zu sorgen.« Inger Johanne schluckte. Und schluckte noch einmal. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber keinen Ton heraus. Die Präsidentin sah sie an. Vorsichtig legte sie die Hand auf Inger Johannes Unterarm. »Ich habe ihn auch einmal gekannt«, flüsterte Inger Johanne. »Ich habe geglaubt, Warren Scifford zu kennen.« Vielleicht war es, weil Helen Bentley eine Fremde war. Vielleicht lag es an der Gewißheit, daß diese Frau nicht hierher gehörte, weder in Inger Johannes Leben noch nach Oslo oder Norwegen. Madam President würde wieder nach Hause fahren. Heute, morgen, bald jedenfalls. Sie würden sich niemals wiedersehen. In einem Jahr oder zwei würde die Präsidentin sich an Inger Johanne Vik kaum noch erinnern können. Vielleicht war es der enorme Abgrund zwischen ihnen, in Rang und Leben und Geographie, der Inger Johanne dazu brachte, endlich, nach dreizehn stummen Jahren, zu erzählen, wie grausam Warren sie im Stich gelassen und wie sie das gemeinsam erwartete Kind verloren hatte. 396
Und als sie die Geschichte endlich zu Ende erzählt hatte, ließ Helen Bentley den letzten Rest Skepsis fallen. Sie zog Inger Johanne vorsichtig an sich. Legte die Arme um sie und streichelte ihren Rücken. Als Inger Johannes Weinen endlich aufhörte, erhob Helen Bentley sich und bat leise, sich an einen Computer setzen zu dürfen.
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5 Es war Abdallah al-Rahman selbst, der sich den Namen Troja ausgedacht hatte. Er fand das ungeheuer komisch. Es wäre genau genommen nicht nötig gewesen, diesen Namen zu wählen, aber das hatte es doch um einiges leichter gemacht, Madam President aus ihrem Hotelzimmer zu locken. Seit bekanntgeworden war, daß die Präsidentin Mitte Mai Norwegen besuchen wollte, hatte er die Nachrichtendienste der USA wochenlang mit Guerillataktik bearbeitet. Blitzschnell rein. Ebenso schnell wieder raus. Die Informationen, die er dort gesät hatte, waren fragmentarisch und eigentlich nichtssagend gewesen. Trotzdem bargen sie Anhaltspunkte, daß etwas im Gange war, und durch vorsichtigen Gebrauch der Ausdrücke »von innen« und »unerwarteter innerer Angriff« und, zu allem Überfluß, die Erwähnung des Wortes »Pferd« in einer Notiz, die vom CIA bei einer in Italien angeschwemmten Leiche gefunden wurde, brachte er sie genau dorthin, wo er sie haben wollte. Als diese Information Warren Scifford und seine Männer erreichte, bissen sie an. Sie nannten es Troja, wie er es sich gewünscht hatte. Abdallah war nach einem Ausritt soeben zurück ins Büro gekommen. Der Morgen in der Wüste gehörte zu den schönsten Dingen, die er kannte. Das Pferd hatte ordentlich Auslauf bekommen, und danach hatten er und der Hengst unter den Palmen bei den Stallungen gearbeitet. Das Tier war alt, eines seiner ältesten, und es tat gut, zu spüren, daß es noch immer Tempo, Geschmeidigkeit und Lebensfreude besaß. Der Tag hatte gut angefangen. Er hatte schon eine ganze Reihe 398
der üblichen Pflichten erledigt. Hatte Mails beantwortet, eine Telefonkonferenz durchgeführt. Hatte einen Vorstandsbericht gelesen, in dem nichts von Interesse stand. Als der Morgen in den Vormittag überging, merkte er, daß seine Konzentration nachließ. Er gab dem Vorzimmer kurz Bescheid, daß er nicht gestört werden wollte, dann machte er den PC aus. An der einen Wand zeigte der Plasmabildschirm lautlos die Sendungen von CNN. An der anderen hing eine riesige Karte der USA. Etliche Nadeln mit bunten Köpfen waren über das ganze Land verteilt. Er schlenderte zu der Karte und ließ seine Finger im Zickzack dazwischen herumwandern. Bei Los Angeles hielt seine Hand inne. Das war vielleicht Eric Ariyoshi, dachte Abdallah al-Rahman und liebkoste mit seinem Finger den gelben Nadelkopf. Eric war Sansei, Angehöriger der dritten Generation Amerikaner japanischer Herkunft. Er ging auf die fünfundvierzig zu und hatte keine Familie. Seine Frau hatte ihn nach vierwöchiger Ehe verlassen, als er 1983 seine Arbeit verlor, und seitdem wohnte er bei seinen Eltern. Eric Ariyoshi hatte sich aber trotzdem nicht unterkriegen lassen. Er nahm jeden Job an, den er finden konnte, bis er dann mit dreißig die Abendschule beendete und fertiger Kabelmonteur war. Der wirkliche Knall war mit dem Tod seines Vaters gekommen. Erics Vater war während des Zweiten Weltkriegs an der Westküste interniert gewesen. Damals war er noch ein Kind. Zusammen mit den Eltern und zwei kleinen Schwestern hatte er drei Jahre in einem Gefangenenlager verbracht. Alle waren seit ihrer Geburt gute Amerikaner gewesen. Die Mutter, Erics Großmutter, war im Lager gestorben. Erics Vater war niemals darüber hinweggekommen. Als er erwachsen wurde und sich am Stadtrand von Los Angeles mit einem kleinen Blumenladen 399
niederließ, der ihn, seine Frau und die beiden Kinder nur mit Mühe am Leben erhielt, reichte er Klage gegen die USA ein. Der Prozeß zog sich dahin. Und kostete. Als Erics Vater 1994 starb, stellte sich heraus, daß das Erbe aus erdrückenden Schulden bestand. Das kleine Haus, in das der Sohn fast fünfzehn Jahre lang sein ganzes Einkommen gesteckt hatte, war noch immer auf den Vater eingetragen. Die Bank nahm ihnen das Haus, und wieder mußte Eric ganz von vorn anfangen. Die Klage, die der Vater wegen unrechtmäßiger Internierung gegen den Staat erhoben hatte, war im Nichts verlaufen. Alles, was der alte Daniel Ariyoshi davon gehabt hatte, sich an die Regeln zu halten und auf seine immer teureren Anwälte zu hören, waren ein Leben in Verbitterung und ein Tod in vollständigem Ruin. Es war einfach gewesen, Eric zu überreden. Er wollte natürlich Geld, viel Geld nach seinen armseligen Maßstäben, aber das hatte er ja auch verdient. Abdallah ließ seinen Finger weiterwandern, von einem Nadelkopf zum anderen. Er wollte nicht, wie Osama bin Laden, Selbstmordattentäter und Fanatiker dazu benutzen, einen Staat anzugreifen, den sie haßten und den sie nie verstanden hatten. Statt dessen hatte er ein schlafendes Heer aus Amerikanern rekrutiert. Aus unzufriedenen, betrogenen, unterdrückten, an der Nase herumgeführten Amerikanern. Viele von ihnen waren in den USA geboren, alle lebten dort, es war ihr Land. Sie waren Bürger der USA, aber die USA hatte sie nur mit Verrat und Niederlagen belohnt. »The spring of our discontent«, flüsterte Abdallah. Sein Finger war an einem grünen Stecknadelkopf bei Tucson, Arizona angekommen. Vielleicht repräsentierte er Jorge Gonzales, dessen jüngster Sohn bei einem Banküberfall von einem Hilfssheriff getötet wurde. Der damals sechs Jahre alte 400
Junge war zufällig mit dem Fahrrad vorbeigekommen. Der Sheriff teilte der Lokalpresse kurz und bündig mit, sein hervorragender Assistent habe den Jungen eben für einen der Bankräuber gehalten. Außerdem sei alles sehr schnell gegangen. Der kleine Antonio war einssechsundzwanzig groß und hatte sich sechs Meter von dem Polizisten entfernt befunden, als er erschossen wurde. Er saß auf einem grünen Kinderfahrrad und trug ein etwas zu großes T-Shirt mit einem Spiderman-Bild auf dem Rücken. Niemand wurde nach diesem Zwischenfall jemals zur Rechenschaft gezogen. Es wurde nicht einmal Anklage erhoben. Der Vater, der mit dreizehn Jahren aus Mexiko ins Land seiner Träume gekommen war und seitdem bei Wal-Mart gearbeitet hatte, konnte den Tod seines Sohnes und den Mangel an Respekt von selten derjenigen, die doch ihn und seine Familie beschützen sollten, nie verwinden. Als er eine Summe angeboten bekam, die ihm für eine wirklich nicht abschreckend wirkende Gefälligkeit die Rückkehr in seine Heimat als wohlhabender Mann ermöglichen würde, griff er begierig zu. So hätte Abdallah weitermachen können. Jede Nadel stand für ein weiteres Schicksal, ein weiteres Leben. Natürlich war er diesen Menschen niemals begegnet. Sie hatten keine Ahnung, wer er war, und würden es auch nie erfahren. Das galt auch für die rund dreißig Männer, die seit dem Beginn des Jahres 2002 diese Armee aus zerbrochenen Träumen rekrutiert hatten, auch sie wußten nicht, woher Befehle und Geld kamen. Rote Reflexe auf dem Plasmaschirm ließen Abdallah herumfahren. Die Fernsehbilder zeigten einen Brand. Er ging zurück zum Schreibtisch und stellte den Ton lauter. 401
»… in dieser Scheune bei Fargo. Zum zweiten Mal in weniger als zwölf Monaten führt unerlaubte Benzinlagerung in dieser Gegend zu einem Brand. Die lokalen Behörden behaupten …« Die Amerikaner hatten angefangen zu hamstern. Abdallah setzte sich. Er legte die Füße auf den riesigen Schreibtisch und griff zu einer Wasserflasche. Bei Benzinpreisen, die alle paar Stunden stiegen, und bei den düsteren Nachrichtensendungen, die nur über immer schärfer werdende diplomatische Äußerungen aus dem Nahen Osten berichteten, versuchten alle verzweifelt, sich Treibstoff zu sichern. In den USA war es noch immer Nacht. Trotzdem zeigten die Bilder Schlangen von wütenden Fahrern, deren Autos mit Eimern, Kanistern, alten Ölfässern und Blechbehältern beladen waren. Ein Reporter, der einem sich endlich den Pumpen nähernden Pickup im Weg stand, mußte zur Seite springen, um nicht überfahren zu werden. »Sie können uns nicht verbieten, Benzin zu kaufen«, brüllte ein stark übergewichtiger Bauer in die Kamera. »Wenn die da oben nicht für anständige Benzinpreise sorgen können, dann haben wir das Recht, unsere Vorsorgemaßnahmen zu treffen!« »Was werden Sie jetzt machen?« fragte der Interviewer, während das Bild zwei junge Männer zeigte, die wegen eines Kanisters in ein Handgemenge verstrickt waren. »Zuerst werde ich diese hier füllen«, rief der Bauer und schlug mit der Hand auf eins der Ölfässer auf seiner Ladefläche. »Und dann leere ich sie in meinen neuen Silo aus. Und so werde ich die ganze Nacht weitermachen und morgen auch, und solange es in diesem Staat überhaupt noch einen Tropfen gibt, werde ich …« Der Ton war plötzlich weg und der Reporter schaute verwirrt in die Kamera. Blitzschnell wurde ins Studio zurückgeschaltet. Abdallah trank Wasser. Er leerte die Flasche und blickte zu der Karte mit den vielen Nadeln hinüber, all seinen Soldaten. 402
Sie hatten nichts mit Öl oder Benzin zu tun. Die meisten arbeiteten bei Kabelfernsehgesellschaften. Viele arbeiteten bei Sears oder Wal-Mart. Der Rest kannte sich mit Computern aus. Junge Hacker, die sich für billiges Geld zu allem verlocken ließen, aber auch erfahrenere Programmierer. Einige hatten ihren Job verloren, weil sie als zu alt galten. In der Industrie gab es keinen Platz mehr für tüchtige, treue Arbeitstiere, die EDV zu einer Zeit gelernt hatten, als noch Lochkarten verwendet wurden, und die sich fast zu Tode gehetzt hatten, um mit der Entwicklung Schritt halten zu können. Das Schönste von allem, dachte Abdallah und streckte die Hand nach einem Foto seines toten Bruders Rashid aus, war, daß die Stecknadelköpfe allesamt nichts voneinander wußten. Der Einsatz, den jeder von ihnen zu leisten hatte, war an sich gering. Eine Bagatelle fast, ein Versehen, das man fast bedenkenlos begehen konnte, wenn man an die Belohnung dachte, die darauf folgte. Insgesamt aber würde der Anschlag fatal sein. Nicht nur eine riesige Menge von headends, Verteilerstationen, die Kabelfernsehsignale empfingen und an die Abonnenten weiterleiteten, würde betroffen sein. Die zumeist unbemannten Einrichtungen waren viel einfachere Ziele gewesen, als Abdallah sich das hatte vorstellen können. Auch Signalverstärker und Kabel würden sabotiert werden, in einem Umfang, bei dem es Wochen, vielleicht Monate dauern konnte, den Schaden zu beheben. Inzwischen würde die Wut wachsen. Noch schlimmer würde es sein, wenn die Sicherheitssysteme und Kassen der großen Supermarktketten nicht mehr funktionierten. Der Angriff auf den Warenhandel sollte schrittweise erfolgen, mit raschen Attacken auf ausgesuchte Bereiche, gefolgt von neuen Ausfällen in anderen Bereichen, 403
nicht vorhersagbar und strategisch undeutbar, wie die Taktik einer effektiven Guerilla. Die unsichtbare Armee aus Amerikanern, verteilt über den ganzen Kontinent und nichts voneinander ahnend, wußte genau, was sie zu tun hatte, wenn das Signal kam. Und morgen würde es so weit sein. Abdallah hatte über eine Woche gebraucht, um seine endgültige Strategie festzulegen. Er hatte hier gesessen, in diesem Büro, vor sich die langen Listen seiner Rekruten. Sieben Tage lang hatte er sie auf der Karte verschoben, hatte berechnet und kalkuliert, hatte Schlagkraft und maximalen Effekt bewertet. Als er am Ende alles notiert hatte, brauchte er nur noch Tom O’Reilly nach Riad zu holen. Und William Smith. Und David Coach. Drei Kuriere hatte er geholt. Sie waren gleichzeitig im Palast gewesen, ohne voneinander zu wissen. Im Abstand von nur einer halben Stunde war jeder mit einem Flugzeug nach Europa zurückgeschickt worden. Abdallah lächelte bei dieser Erinnerung und fuhr vorsichtig mit der Hand über das Bild seines Bruders. Er konnte natürlich niemals ganz sicher sein, aber indem er drei seiner sichersten Karten verbrannt hatte, war die Chance doch sehr groß, daß wenigstens ein Brief in einem amerikanischen Briefkasten gelandet war. Drei Kuriere hatte er eingesetzt und alle waren gestorben, unmittelbar nachdem sie die gleichlautenden Briefe eingeworfen hatten. Die Briefumschläge hatten dieselbe Adresse gehabt, und der Inhalt war für alle außer dem Empfänger nichtssagend gewesen, falls sie wider alle Vermutung auf Abwege gerieten. Und das war der schwächste Punkt des Plans: Alle waren an denselben Adressaten gerichtet. Wie jeder gute General kannte Abdallah seine Stärken und 404
Schwächen. Seine Stärken waren vor allem seine Geduld, sein gewaltiges Vermögen und die Tatsache, daß er unsichtbar war. Aber das war auch seine Achillesferse. Er war darauf angewiesen, über viele Glieder hinweg zu operieren, über Strohmänner und elektronische Umwege, über Deckmanöver und ein seltenes Mal über falsche Identitäten. Abdallah al-Rahman war ein angesehener Geschäftsmann. Die allermeisten seiner Aktivitäten waren legal, und er setzte die besten Makler in Europa und den USA ein. Er war zwar umgeben von einer legendären Unzugänglichkeit, aber niemals hatte irgendjemand Risse in sein Renommee als ehrsamer Kapitalist, Investor und Aktienspekulant kratzen können. So sollte es auch bleiben. Aber er hatte einen Verbündeten gebraucht. Einen Eingeweihten. Die Operation Troja war zu kompliziert, um ferngesteuert zu werden. Da sichergestellt sein mußte, daß sich nichts bis in Abdallahs Nähe zurückverfolgen ließ, war er seit über zehn Monaten nicht mehr in den USA gewesen. Ende Juni 2004 hatte er sich mit der demokratischen Präsidentschaftskandidatin getroffen. Sie hatte einen positiven Eindruck auf ihn gemacht. Sie war beeindruckt vom Arabian Port Management. Das hatte er ihr angesehen. Ihre Besprechung hatte eine halbe Stunde länger gedauert als geplant, weil sie mehr hatte wissen wollen. Auf dem Rückflug nach SaudiArabien hatte er zum ersten Mal seit dem Tod seines Bruders gedacht, daß es vielleicht doch nicht nötig sein würde, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Daß der dreißig Jahre währende planmäßige Aufbau eines Netzes aus Schläfern überall in den USA vielleicht vergeudete Mühe gewesen sein könnte. Er hatte in seinem Privatjet den Kopf ans Fenster gelegt und die Wolkendecke unter sich betrachtet, tiefrosa in der untergehenden Sonne, die sie nun hinter sich ließen. Es spielte 405
keine Rolle, hatte er gedacht. Im Leben gab es jede Menge Investitionen, die keinen Ertrag abwarfen. Den größeren Teil aller Häfen in den USA zu übernehmen, wäre das alles wert. Sie hatte ihm den Vertrag so gut wie versprochen. Und dann hatte sie ihn fallen lassen, um des Sieges willen. Es gab einen Empfänger der Briefe, einen Mann, der alles nach Abdallahs detaillierten Plänen in Gang setzen sollte. Nichts durfte schiefgehen, und Abdallah mußte einen direkten Kontakt riskieren. Er vertraute dem Helfer. Sie kannten sich schon lange. Es machte ihm ab und zu zu schaffen, wenn er daran dachte, daß auch das letzte dünne Band zwischen ihm und den USA nach der Operation Troja sofort eliminiert werden mußte. Abdallah rieb das Glas vor dem Bild vorsichtig mit seinem Hemdsärmel sauber, ehe er Rashids Foto wieder auf den Arbeitstisch stellte. Er hatte zwar Vertrauen zu Fayed Muffasa, aber andererseits fand er es unerträglich, sich auf einen lebenden Menschen verlassen zu müssen.
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6 »Well, isn’t this a Kodak moment?« Präsidentin Helen Bentley hatte Ragnhild auf dem Schoß. Die Kleine schlief. Ihr blonder Kopf hing schlaff nach hinten, ihr Mund stand weit offen und hinter den dünnen Augenlidern bewegten die Augäpfel sich eilig hin und her. In regelmäßigen Abständen stieß sie ein kurzes, grunzendes Schnarchen aus. »Sie müssen wirklich nicht …« Die Mutter streckte die Hände nach dem Kind aus. »Lassen Sie sie liegen«, sagte Helen Bentley lächelnd. »Ich brauche jetzt wirklich eine Pause.« Sie hatte drei Stunden vor dem Bildschirm gesessen. Die Lage war ernst, gelinde gesagt. Viel schlimmer, als sie sich das vorgestellt hatte. Die Angst davor, was passieren würde, wenn in wenigen Stunden die New Yorker Börse öffnete, war riesig, und die Medien schienen sich seit vierundzwanzig Stunden eher mit Wirtschaft als mit Politik zu befassen. Falls es überhaupt möglich war, so eine Trennungslinie zu ziehen, dachte Helen Bentley. Noch immer berichteten alle Fernsehsender und Internetzeitungen regelmäßig aus Oslo, um das Publikum in der Entführungssache auf dem neuesten Stand zu halten. Aber trotzdem schienen Helen Bentley und ihr Schicksal gewissermaßen in einen Randbereich des öffentlichen Bewußtseins geschoben worden zu sein. Jetzt ging es eher um die naheliegenden Dinge. Um Öl, Benzin und Arbeitsplätze. In mehreren Orten war es bereits zu krawallartigen Tumulten gekommen, und schon wurden aus der Wall Street zwei Selbstmorde gemeldet. Die saudi-arabische und die iranische Regierung waren gleichermaßen erbost. Helen Bentleys eigener Außenminister hatte die Welt mehrmals damit beruhigen 407
müssen, daß die Gerüchte, es gebe eine Verbindung zwischen diesen beiden Staaten und der Entführung der Präsidentin, keinerlei Verankerung in der Wirklichkeit hätten. Aber die Gerüchte lagen auch nach seiner Rede vom Vorabend noch in der Luft, und der Konflikt eskalierte immer weiter. Vorläufig hatte sie sich damit begnügt, im offenen Web zu surfen. Sie wußte, daß sie sich früher oder später auf Seiten einloggen mußte, bei denen im Weißen Haus die Alarmglocken schrillen würden, aber damit wollte sie so lange warten wie überhaupt nur möglich. Die Versuchung, eine Hotmail-Adresse einzurichten und eine beruhigende Nachricht an Christophers privates Postfach zu senden, hatte sie mehrere Male fast überwältigt. Zum Glück war sie stark genug gewesen, dieser Versuchung zu widerstehen. Noch immer gab es allzu viel, was sie nicht verstand. Daß Warren ein doppeltes Spiel getrieben hatte, war an sich schon unfaßbar genug. Ein langes Leben hatte sie jedoch gelehrt, daß die Menschen ab und zu seltsame Haken schlugen. Gottes Wege mochten ja unergründlich sein, konnten sie sich aber mit denen der Sterblichen nicht vergleichen. Was sie nicht begreifen konnte, war die Erwähnung des Kindes. In dem Brief, den Jeffrey Hunter ihr an jenem frühen Morgen zeigte, der jetzt schon eine Ewigkeit zurückzuliegen schien, hatte gestanden, daß sie es wüßten. Daß die Trojaner von dem Kind wüßten. So ungefähr. Sie konnte sich einfach nicht an den genauen Wortlaut erinnern. Als sie den Brief las, hatte sie für einen Moment die leibliche Mutter des Kindes vor sich gesehen, eine rotgekleidete Gestalt im Regen, mit weit aufgerissenen Augen und einer Bitte um Hilfe, die niemals beantwortet wurde. Die kleine Ragnhild versuchte, sich umzudrehen. Das Kind war reizend. Blonder Haarflaum und schneeweiße Zähne hinter den feuchten roten Lippen. Ihre Wimpern waren 408
lang und schön geschwungen. Sie hatte Ähnlichkeit mit Billie. Helen Bentley lächelte und legte das Mädchen bequemer zurecht. Das hier war ein seltsamer Ort. Es war so still. Aus der Ferne war das Rauschen der Welt zu hören, vor der sie sich versteckte. Hier in der Wohnung hielten sich fünf Menschen auf, die nicht miteinander sprachen. Die seltsame Haushälterin saß am Fenster. Sie häkelte. Ab und zu schnalzte sie wütend mit der Zunge und schaute zu einer riesigen Eiche hinaus. Und dann schien sie sich mit lautlosem Gemurmel zur Ordnung zu rufen, ehe sie sich wieder in ihre knallrosa Handarbeit vertiefte. Die Mutter des Kindes war eine faszinierende Frau. Als sie die Sache mit Warren erzählte, hatte sie so gewirkt, als habe sie diese Geschichte noch niemals mit irgendwem geteilt. Auf diese Weise gab sie Helen das Gefühl einer Schicksalsgemeinschaft. Paradoxerweise, dachte Helen, denn ihr eigenes Geheimnis hatte mit einem Verrat zu tun, den sie selbst begangen hatte. Inger Johanne dagegen war übel im Stich gelassen worden. Wir Frauen und unsere verdammten Geheimnisse, dachte sie. Warum ist das so? Warum schämen wir uns, ob wir nun einen Grund dazu haben oder nicht? Woher kommt es, dieses erdrückende Gefühl, immer schuldig zu sein? Aus der Frau im Rollstuhl wurde sie einfach nicht schlau. Jetzt saß sie da, auf der anderen Seite des Küchentisches, mit einer Zeitung auf den Knien und einer Kaffeetasse in der Hand. Sie schien aber nicht zu lesen. Es war noch dieselbe Seite aufgeschlagen wie eine Viertelstunde zuvor. Helen begriff noch immer nicht, wer in diesem Haushalt zu wem gehörte. Aus irgendeinem Grund erweckte das ihre Neugier. Normalerweise hätte ihr starkes Kontrollbedürfnis die Lage für sie unerträglich gemacht. Statt dessen war sie jetzt ruhig, als ließen die unklaren Konstellationen ihre eigene 409
absurde Anwesenheit um so natürlicher wirken. Sie hatten ihr keine Frage gestellt, seit sie in den frühen Morgenstunden aufgewacht war. Keine einzige. Es war nicht zu glauben. Das Kind auf ihrem Schoß setzte sich schlaftrunken auf. Für einen Moment nahm sie den Geruch von süßer Milch und Schlaf wahr, als das Kind sie skeptisch ansah und sagte: »Mama. Will zu Mama.« Die Haushälterin sprang schneller auf, als man es der mageren, hinkenden Gestalt zugetraut hatte. »Jetzt komm du mal mit Tante Marry, du. Und dann suchen wir uns Idas Spielzeug. Dann können die Madames hier sitzen und in aller Ruhe die Klappe halten.« Ragnhild lachte und streckte die Arme nach ihr aus. Sie sind jedenfalls oft hier, dachte Helen Bentley. Das Kind schien diese alte Vogelscheuche zu lieben. Sie verließen das Wohnzimmer. Das Geplapper des Kindes und das leise Schimpfen der Frau wurden immer schwächer, dann war es wieder ganz still. Offenbar waren sie in ein anderes Zimmer gegangen. Sie mußte sich wieder an den Computer setzen. Auf irgendeine Weise mußte sie die Antworten finden, die ihr noch fehlten. Sie mußte weitersuchen. Irgendwo in dem Chaos aus Informationen, die durch den Cyberspace wirbelten, mußte sie das Gesuchte finden, ehe sie sich zu erkennen gab und den Erdball wieder in die vertraute Bahn brachte. Natürlich würde sie die Antwort nicht im Computer finden, dachte sie. So lange sie nicht an ihre eigenen Dateien herankam, gab es da draußen nichts, was ihr helfen konnte. Sie ertappte sich dabei, daß sie ihre Hände anstarrte. Die Haut war trocken, und sie hatte sich einen Nagel abgebrochen. Der Trauring schien zu groß zu sein. Er saß lose und drohte 410
herunterzurutschen, als sie ihn mit zwei Fingern faßte und drehte. Langsam hob sie den Kopf. Die Frau im Rollstuhl sah sie an. Sie hatte die seltsamsten Augen, die Helen Bentley jemals gesehen hatte. Sie waren eisblau, fast farblos, aber trotzdem tief und dunkel. Es war unmöglich, aus diesem Blick etwas herauszulesen; keine Frage, keine Forderung. Nichts. Die Frau saß nur da und sah sie an, ihr wurde schwindlig davon, und sie versuchte, den Blick zu senken. Das ging aber nicht. »Sie haben mich an der Nase herumgeführt«, sagte Helen Bentley leise. »Sie haben gewußt, was sie zu tun hatten, um mich in Panik zu versetzen. Und ich habe mich brav darauf eingelassen.« Die Frau, die Hanne Wilhelmsen hieß, kniff die Augen zusammen. »Wollen Sie mir erzählen, was passiert ist?« fragte sie und faltete langsam die Zeitung zusammen. »Ich glaube, das muß ich«, sagte Helen Bentley und atmete so tief durch, wie sie nur konnte. »Ich habe keine andere Wahl.«
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7 »Und mehr kannst du nicht sagen?« Überwachungschef Peter Salhus verzog unzufrieden das Gesicht und kratzte sich an seinem kurzgeschorenen Schädel. Yngvar Stubø machte eine hilflose Handbewegung und versuchte, sich in dem unbequemen Sessel besser hinzusetzen. Der Fernseher auf dem Aktenschrank lief. Der Ton war leise und unsauber, und Yngvar hatte diesen Bericht nun schon viermal gesehen. »Ich gebe auf«, sagte er. »Nach dieser Episode gestern abend ist es unmöglich, aus Warren Scifford auch nur einen Mucks herauszubekommen. Ich glaube langsam schon fast an die Gerüchte, daß das FBI seine eigene Suppe kocht. In der Kantine hat sogar jemand behauptet, die seien heute nacht in eine Wohnung eingebrochen. In Huseby … oder eher in eine Villa.« »Nur Gerüchte«, murmelte Peter Salhus und öffnete eine Schublade. »Die machen sicher, was sie wollen, aber sie wissen immerhin, daß sie hier nicht Wildwest spielen können. Wir hätten auf jeden Fall einen Bericht über diese Sache bekommen, wenn etwas daran wäre.« »Weiß Gott. Ich finde das alles zusammen … total frustrierend.« »Was denn? Daß die Amerikaner auf dem Territorium eines fremden Staates machen, was sie wollen?« »Nein. Doch, natürlich. Aber … danke.« Er streckte die Hand nach der roten Kiste aus, die Peter Salhus ihm hinstreckte. Langsam, wie einen kostbaren Schatz, nahm er eine dicke Zigarre und starrte sie einige Sekunden an, ehe er sie unter seiner Nase hin und her zog. »CAO Maduro Nr. 4«, sagte er feierlich. »Die Sopranos412
Zigarre. Aber … aber dürfen wir hier denn rauchen?« »Ausnahmezustand«, sagte Salhus kurz und legte eine Zigarrenschere und eine Schachtel großer Streichhölzer auf den Tisch. »Mir ist das, mit Verlaub, scheißegal.« Yngvar lachte laut und schnitt die Zigarre mit geübten Handbewegungen ab, ehe er sich Feuer gab. »Du wolltest gerade etwas sagen«, erinnerte Peter Salhus ihn und ließ sich zurücksinken. Der Zigarrenrauch stieg in weichen Kräuseln zur Decke hoch. Es war noch am zeitigen Vormittag, aber Yngvar fühlte sich plötzlich so müde wie nach einem ausgedehnten Abendessen. »Alles«, murmelte er und blies einen Rauchring zur Decke. »Was?« »Mich frustriert einfach alles. Hier haben wir Gott weiß wieviele Leute, die nach der Lösung suchen, wer die Präsidentin entführt hat und wie sie das geschafft haben, aber im Grunde hat das keine Bedeutung.« »Natürlich hat es eine Bedeutung, es …« »Hast du in letzter Zeit mal in den Kasten da geschaut?« Yngvar nickte zum Fernseher hinüber. »Das ganze ist doch zur großen Politik geworden.« »Was hast du denn erwartet? Daß dieser Fall behandelt werden würde wie jedes andere kleine Verschwinden?« »Nein. Aber warum geben wir uns eigentlich soviel Mühe, um kleine Gauner wie Gerhard Skrøder und einen Pakistani zu finden, der sich vor Angst in die Hose scheißt, sobald wir ihn nur ansehen, wenn die Amis längst beschlossen haben, wer es war?« Salhus schien sich zu amüsieren. Ohne zu antworten, schob er die Zigarre in den Mund und legte die Beine auf den Tisch. 413
»Ich meine«, sagte Yngvar und hielt Ausschau nach etwas, was als Aschenbecher dienen könnte. »Gestern abend saßen drei Mann fünf Stunden zusammen, um das Puzzlespiel zu legen, das zeigt, wann Jeffrey Hunter es sich im Lüftungskanal gemütlich gemacht hat. Das war kompliziert. Jede Menge loser Steinchen. Wann wurde die Präsidentensuite durchsucht, wann waren die Spürhunde da, wann wurde staubgesaugt, aus Rücksicht auf die Allergie der Präsidentin, wann wurden die Kameras ein- und ausgeschaltet, wann ging … na ja, du weißt schon. Das haben sie dann endlich geschafft. Aber wozu das ganze?« »Weil wir einen Fall zu klären haben.« »Aber das ist den Amis doch schnuppe.« Er musterte skeptisch die Plastiktasse, die Salhus ihm anbot. Dann zuckte er mit den Schultern und streifte die Asche vorsichtig daran ab. »Die Osloer Polizei schnappt sich den einen Gauner nach dem anderen«, sagte er dann. »Und alle haben irgend etwas mit der Entführung zu tun. Sie haben den zweiten Fahrer gefunden. Sie haben sogar die Frauen erwischt, die die Präsidentin gespielt haben. Aber keine dieser Visagen kann uns mehr erzählen, als daß sie einen gutbezahlten Auftrag angenommen haben, ohne zu wissen, woher der kam. Heute abend werden wir den Keller voller verdammter Kidnapper haben.« Peter Salhus lachte laut und herzlich. »Aber interessiert sie das überhaupt?« fragte Yngvar, ohne auf Antwort zu warten, und beugte sich über den Schreibtisch vor. »Zeigt der Drammensvei auch nur einen Hauch von Interesse dafür, was wir hier machen? Wollen sie vielleicht eine Prise Information annehmen? Aber nicht doch. Sie pusseln vor sich hin und spielen Texas, während die Welt da draußen restlos aus den Angeln geht. Ich gebe auf. Ich gebe ganz einfach auf.« Wieder zog er an der Zigarre. 414
»Du giltst als Phlegmatiker«, sagte Salhus. »Du bist angeblich der besonnenste Mann bei der Kripo. Ich muß sagen, dieser Ruf scheint mir ein wenig unverdient. Was sagt übrigens deine Frau?« »Meine Frau? Inger Johanne?« »Hast du mehr als eine?« »Warum sollte sie etwas dazu sagen?« »Soviel ich weiß, hat sie einen Doktor in Kriminologie und eine Art Vergangenheit beim FBI«, sagte Salhus und hob abwehrend die Hände. »Allein deshalb sollte sie doch zu einer Meinung qualifiziert sein.« »Schon möglich«, sagte Yngvar und starrte die Zigarrenasche an, die langsam auf sein Hosenbein rieselte. »Aber ich weiß wirklich nicht, was sie meint. Ich habe keine Ahnung, wie sie diesen Fall vielleicht sieht.« »So ist das also«, sagte Peter Salhus gelassen und schob die Plastiktasse noch dichter an Yngvar heran. »Wir waren wohl alle in den letzten Tagen kaum zu Hause.« »So ist das«, wiederholte Yngvar tonlos und drückte die Zigarre aus, lange bevor sie fertig geraucht war, als sei die erschlichene Ungesetzlichkeit zu schön gewesen, um wahr zu sein. »So ist es wohl bei uns allen.« Es war zwanzig vor elf, und Inger Johanne hatte sich noch immer nicht gemeldet.
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8 Inger Johanne hatte keine Ahnung, wie spät es war. Sie kam sich vor wie in eine andere Wirklichkeit versetzt. Der Schock des gestrigen Abends, als Marry plötzlich mit der Präsidentin in den Armen auftauchte, war in einen Zustand übergegangen, der nichts mit dem zu tun hatte, was außerhalb der Wohnung in der Kruses gate passierte. Sie hatte ab und zu die Fernsehberichte verfolgt, Zeitungen aber war sie nicht kaufen gegangen. Die Wohnung war eine geschlossene Burg. Niemand kam herein, niemand ging hinaus. Hannes energische Entscheidung, der Bitte der Präsidentin nachzukommen und keinen Alarm zu geben, schien einen Wallgraben um das Dasein gezogen zu haben. Inger Johanne mußte nachdenken, ehe sie sich erinnern konnte, ob Morgen oder Abend war. »Es muß um etwas ganz anderes gehen«, sagte sie plötzlich. »Sie verbeißen sich in das falsche Geheimnis.« Sie hatte lange geschwiegen. Wortlos hatte sie den beiden anderen Frauen zugehört. Sie hatte das manchmal eifrige, manchmal auch zögernde und nachdenkliche Gespräch zwischen Helen Bentley und Hanne Wilhelmsen so lange stumm verfolgt, daß die beiden anderen ihre Anwesenheit offenbar vergessen hatten. Hanne hob die Augenbrauen. Helen Bentley senkte ihre zu einer skeptischen Miene, bei der das Auge auf der verletzten Seite des Gesichts sich schloß. »Wie meinst du das?« fragte Hanne. »Ich glaube, ihr habt das falsche Geheimnis am Wickel.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Helen Bentley, ließ sich zurücksinken und verschränkte die Arme vor der Brust, als fühle sie sich gekränkt. »Ich höre ja, was Sie sagen, aber was soll das 416
bedeuten?« Inger Johanne schob die Kaffeetasse zurück und strich sich die Haare hinters Ohr. Für einen Moment starrte sie einen Punkt auf der Tischplatte an, mit halboffenem Mund und ohne zu atmen, als wisse sie nicht so recht, wo sie anfangen sollte. »Wir Menschen neigen zum Selbstbetrug«, sagte sie endlich und fügte ein entwaffnendes Lächeln hinzu. »Auf irgendeine Weise tun wir das alle. Vielleicht vor allem … Frauen.« Wieder mußte sie nachdenken. Sie legte den Kopf schräg und wickelte sich eine Locke um den Finger. Die beiden anderen Frauen sahen noch immer skeptisch aus, hörten aber zu. Als Inger Johanne nun weitersprach, klang ihre Stimme tiefer als sonst. »Sie sagen, daß dieser Jeffrey, den Sie kannten, Sie geweckt hat. Sie waren natürlich sehr müde. Und so, wie Sie das darstellen, waren Sie zunächst ziemlich verwirrt. Sehr verwirrt, sagen Sie. Was ja auch kein Wunder ist. Die Lage muß Ihnen doch reichlich … außergewöhnlich vorgekommen sein.« Inger Johanne nahm die Brille ab und blinzelte kurzsichtig in die Runde. »Er zeigte Ihnen einen Brief«, sagte sie. »Sie können sich an den genauen Wortlaut nicht erinnern. Woran Sie sich erinnern, ist, daß Sie in Panik geraten sind.« »Nein«, sagte Helen Bentley energisch. »Ich weiß noch, daß …« »Warten Sie«, bat Inger Johanne und hob die Hand. »Bitte. Hören Sie mir erst noch zu. Das haben Sie wirklich gesagt. Sie betonen die ganze Zeit, daß Sie in Panik geraten sind. Und das klingt so, als ob Sie … etwas überspringen. Als ob Sie … sich so sehr dafür schämen, dieser Situation nicht gewachsen gewesen zu sein, daß Sie sie nicht mehr rekonstruieren können.« Sie hätte schwören können, daß eine leichte Röte ins Gesicht 417
der Präsidentin stieg. »Helen«, sagte Inger Johanne und streckte die Hand nach ihr aus. Zum ersten Mal nannte sie die Präsidentin beim Vornamen. Die Hand blieb unberührt auf der Tischplatte liegen, mit der Handfläche nach oben. Sie zog sie zurück. »Sie sind die Präsidentin der USA«, sagte sie leise. »Sie waren schon mal im Krieg, im wahrsten Sinne des Wortes.« Über Helen Bentleys Gesicht huschte ein Anflug von Lächeln. »In einer solchen Situation in Panik zu geraten«, sagte Inger Johanne und holte Atem. »Das ist nicht gerade … präsidentinnenhaft. Nicht in Ihren Augen. Sie verurteilen sich selbst zu hart, Helen. Tun Sie das nicht. Das hat ganz einfach keinen Sinn. Sogar ein Mensch wie Sie hat doch schwache Punkte. Die haben alle. Die Katastrophe bei dieser Sache ist nur, daß Sie geglaubt haben, man hätte Ihren gefunden. Lassen Sie uns versuchen, einen Schritt zurückzugehen. Lasen Sie uns sehen, was in den Sekunden passierte, bevor Ihre Welt zusammengestürzt ist.« »Ich habe Warrens Brief gelesen«, sagte Helen Bentley kurz. »Ja. Und da stand etwas über ein Kind. An mehr erinnern Sie sich nicht?« »Doch. Da stand, daß sie es wüßten. Daß die Trojaner es wüßten. Das mit dem Kind.« Inger Johanne putzte sich die Brillengläser mit einer Serviette. Offenbar war das Papier mit Fett in Berührung gekommen. Als sie die Brille wieder aufsetzte, sah sie das Zimmer durch einen trüben Filter. »Helen«, sie machte noch einen Versuch. »Ich verstehe ja, daß Sie uns nicht sagen können, worum es bei dieser Trojanersache geht. Ich respektiere auch absolut, daß Sie das Geheimnis dieses Kindes für sich behalten wollen, dieses Geheimnis, von dem Sie 418
glauben, daß sie es wissen, weshalb Sie … durchgedreht sind. Aber kann es … könnte es sein, daß …« Sie zögerte. »Jetzt hast du dich festgefahren«, sagte Hanne. »Ja.« Inger Johanne sah die Präsidentin an. »Könnte es sein, daß Sie automatisch an dieses Geheimnis gedacht haben«, sagte sie rasch, um nicht wieder den Faden zu verlieren, »haben Sie gerade daran gedacht, weil es das schlimmste ist? Das häßlichste?« »Jetzt verstehe ich nicht ganz, worauf Sie hinauswollen«, sagte Helen Bentley. Inger Johanne erhob sich und ging zum Spülbecken. Sie gab einen Tropfen Spülmittel auf jedes Brillenglas und ließ das heiße Wasser darüber fließen, während sie die Gläser mit dem Daumen rieb. »Ich habe eine Tochter von fast elf Jahren«, sagte Inger Johanne und trocknete die Brille sorgfältig ab. »Sie hat eine geistige Behinderung, von der wir nicht ganz genau wissen, was es ist. Sie ist mein … mein allerschwächster Punkt. Ich habe immer das Gefühl, daß ich sie nicht gut genug sehe. Daß ich nicht gut genug für sie bin, nicht gut genug mit ihr umgehe. Sie macht mich so entsetzlich verwundbar. Sie bringt mich zum … Selbstbetrug. Wenn ich zufällig ein Gespräch mitanhöre, in dem es um mangelnde Fürsorge geht, dann glaube ich automatisch, daß da von mir die Rede ist. Wenn ich eine Fernsehsendung über irgendeine Wunderkur für Autisten in den USA sehe, fühle ich mich als Rabenmutter, weil ich nicht versuche, meine Tochter hinzubringen. Die Sendung wird zu einer persönlichen Anklage gegen mich, und ich liege nachts wach und fühle mich einfach elend.« Helen Bentley und Hanne lächelten jetzt beide. Inger Johanne 419
setzte sich wieder an den Tisch. »Da seht ihr’s«, sagte sie und erwiderte das Lächeln. »Ihr erkennt euch darin wieder. So sind wir eben, allesamt. Mehr oder weniger. Und ich glaube einfach, daß Sie, Helen, an dieses Geheimnis gedacht haben, weil es Ihr schwächster Punkt ist. Aber der Brief hat sich nicht darauf bezogen. Sondern auf etwas anderes. Auf ein anderes Geheimnis, vielleicht. Oder auf ein anderes Kind.« »Ein anderes Kind«, wiederholte die Präsidentin verständnislos. »Ja. Sie bestehen darauf, daß niemand, absolut niemand gewußt haben kann … von diesem Ereignis, das jetzt so lange zurückliegt. Nicht einmal Ihr Mann, sagen Sie. Und dann ist es doch logisch …« Inger Johanne beugte sich über den Tisch. »Hanne, du warst viele Jahre lang als Ermittlerin tätig. Liegt nicht die Annahme nahe, daß etwas, wenn es ganz unmöglich ist … ja, daß es dann eben unmöglich ist? Und dann muß man nach einer anderen Erklärung suchen.« »Die Abtreibung«, sagte Helen Bentley. Der Engel, der durch das Zimmer schwebte, ließ sich unangenehm viel Zeit. Helen Bentley starrte ins Leere. Ihr Mund stand halb offen, und eine tiefe Furche zerteilte ihre Nasenwurzel. Sie wirkte durchaus nicht verängstigt oder beschämt oder auch nur peinlich berührt. Sie war zutiefst konzentriert. »Sie hatten eine Abtreibung«, sagte Inger Johanne endlich und ungeheuer langsam, nach mehreren Minuten des Schweigens, wie es ihnen vorkam. »Und das ist niemals herausgekommen. Meines Wissens nicht. Und ich halte mich sehr gut auf dem laufenden, um das mal so zu sagen.« Dann war ein helles Klingelgeräusch zu hören. 420
Jemand läutete an der Wohnungstür. »Was machen wir jetzt«, flüsterte Inger Johanne. Helen Bentley erstarrte. »Wartet«, sagte Hanne. »Marry macht auf. Das geht schon gut.« Sie hielten alle drei den Atem an, teils vor Spannung, teils um zu hören, was sich zwischen Marry und der Person vor der Tür abspielte. Aber keine konnte auch nur ein Wort verstehen. Eine halbe Minute verging. Die Tür fiel zu. Gleich darauf stand Marry in der Tür, Ragnhild saß rittlings auf ihrer Hüfte. »Wer war das?« fragte Hanne. »Ein Nachbar«, schnaubte Marry und griff nach einem Glas Wasser. »Und was wollte ein Nachbar?« »Bescheid sagen, daß unser Kellerraum offensteht. Verdammt aber auch. Hab gestern vergessen, noch mal runterzugehen. Herr im Himmel, ich konnte doch die Madame nich hier liegen lassen, um so was mosaisches zu tun wie den Keller zuzumachen.« »Und was hast du dem Nachbarn gesagt?« »Ich hab mich für die Mitteilung bedankt. Aber dann hat er von einer Tür rumgenervt, die da unten aufsteht, und ob ich was davon wüßte, und da hab ich gesagt, er soll sich um seinen eigenen Kram kümmern. Das war alles.« Sie stellte das Wasserglas hin und verschwand. »What?« fragte Helen Bentley eifrig. »What was all that about?« »Nichts«, sagte Hanne und machte eine vage Handbewegung. »Es ging nur um eine offene Kellertür. Vergessen Sie es.« »Es gibt also noch ein Geheimnis«, sagte Inger Johanne. »Ich habe das nie als Geheimnis betrachtet«, sagte Helen 421
Bentley ruhig, diese Idee schien sie fast zu überraschen. »Nur als etwas, was sonst niemanden angeht. Es ist entsetzlich lange her, das war im Sommer 1971. Ich war einundzwanzig Jahre alt und Studentin. Es war lange, bevor ich Christopher kennenlernte. Er weiß natürlich davon. Es ist also kein … Geheimnis. So gesehen nicht.« »Aber eine Abtreibung …« Inger Johanne fuhr mit den Fingern über die Tischplatte und wiederholte sich selbst: »Eine Abtreibung! Wäre es nicht tödlich für Ihren Wahlkampf gewesen, wenn das herausgekommen wäre? Und wäre es nicht immer noch ein großes Problem für Sie? Die Abtreibungsfrage ist doch gelinde gesagt in den USA ein Streitpunkt und ein ewiges Schisma, und …« »Eigentlich glaube ich das nicht«, sagte Helen Bentley überzeugt. »Und jedenfalls war ich die ganze Zeit darauf vorbereitet. Alle wissen, daß ich pro-choice bin. Es sah zwar eine Zeitlang so aus, als könnte mich mein Standpunkt bei dieser Diskussion den Wahlsieg kosten …« »Das ist die Untertreibung des Tages«, sagte Inger Johanne. »Bush hat sich alle Mühe gegeben, Sie in dem Bereich fertigzumachen.« »Ja, das stimmt. Aber es ist gutgegangen, nicht zuletzt, weil viele Frauen aus den … weniger gutsituierten Klassen für mich waren. Die Untersuchungen zeigen, daß ich eine beeindruckende Anzahl Stimmen von Frauen bekommen habe, die sich früher nicht einmal als Wählerinnen hatten registrieren lassen. Außerdem habe ich mich als energische Gegnerin von Spätabtreibungen profiliert. Das hat mich ein wenig akzeptabler gemacht, sogar bei den Abtreibungsgegnern. Und ich hatte nie Angst, daß meine eigene Abtreibung ans Licht kommen könnte. Es war ein Risiko, das ich eben eingehen mußte. Ich schäme mich deshalb nämlich nicht. Ich war viel zu jung, um ein Kind zu bekommen. Ich war im zweiten Collegejahr. Ich liebte den 422
Vater dieses Kindes nicht. Es war eine legale Abtreibung, ich war erst in der achten Woche und bin nach New York gefahren. Ich war und bin Befürworterin der selbstbestimmten Abtreibung in den ersten drei Monaten, und ich stehe für das, was ich getan habe.« Sie holte Atem, und Inger Johanne nahm ein winziges Zittern in ihrer Stimme wahr, als Helen Bentley weitersprach. »Aber ich habe einen hohen Preis bezahlt. Ich wurde unfruchtbar. Sie wissen ja jetzt, daß meine Tochter Billie adoptiert ist. Aber niemand kann mir einen Unterschied zwischen Handeln und Reden nachweisen. Und darum geht es in der Politik doch letzten Endes.« »Aber irgend jemand hat diese Nachricht für Dynamit gehalten«, sagte Inger Johanne. »Definitiv«, sagte Helen Bentley. »Wie Sie gesagt haben: Die Abtreibungsfrage spaltet die USA und ist ein überaus brisantes und niemals abgehaktes Thema. Falls der Eingriff also ans Licht gekommen wäre, wäre ich heftig in die Mangel genommen worden. Aber wie gesagt, ich …« »Wer weiß davon?« »Wer …« Sie überlegte und runzelte die Stirn. »Niemand«, sagte sie zögernd. »Doch, Christopher natürlich. Ihm habe ich es gesagt, ehe wir geheiratet haben. Und ich hatte eine beste Freundin, Karen, die wußte es auch. Sie war phantastisch und hat mir sehr geholfen. Ein Jahr später ist sie bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Da war ich in Vietnam und … ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß Karen es irgendwem erzählt haben könnte. Sie war …« »Und das Krankenhaus? Es muß doch irgendwo eine Patientenakte geben?« »Das Gebäude ist 1972 oder ’73 abgebrannt. Durch 423
Abtreibungsgegner, die bei einer Demo ein wenig zu weit gegangen sind. Das war ja noch vor der Computerrevolution, und ich nehme an …« »Die Patientenakte existiert nicht mehr«, sagte Inger Johanne. »Und die Freundin auch nicht.« Sie zählte an den Fingern ab und zögerte, ehe sie sich an diese Frage wagte: »Was ist mit dem Kindsvater? Hat der etwas gewußt?« »Ja. Natürlich. Er …« Sie überlegte. Ihr Gesicht nahm eine unbekannte Milde an, eine Weichheit um den Mund und ein Schmalerwerden der Augen, das die Runzeln auswischte und sie jünger aussehen ließ. »Er wollte mich heiraten«, sagte sie. »Er hätte das Kind so gern behalten. Aber als er begriff, daß ich es ernst meinte, hat er mir in jeder Hinsicht geholfen. Er ist mit mir nach New York gefahren.« Sie blickte auf. Ihre Augen liefen über. Sie versuchte gar nicht erst, sich die Tränen abzuwischen. »Ich habe ihn nicht geliebt. Ich glaube, ich war nicht einmal verliebt. Aber er war der liebste … ich glaube, er ist der liebste Mann, der mir je über den Weg gelaufen ist. Fürsorglich. Klug. Er hat mir versprochen, niemandem etwas zu sagen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß er sein Versprechen gebrochen haben könnte. Dann müßte er sich radikal verändert haben.« »Sowas kommt vor«, flüsterte Inger Johanne. »Bei ihm nicht«, sagte Helen Bentley. »Er war ein Ehrenmann, falls mir so einer jemals begegnet ist. Ich kannte ihn fast zwei Jahre, ehe ich schwanger wurde.« »Das ist vierunddreißig Jahre her«, sagte Hanne. »In so vielen Jahren kann einiges mit einem Menschen geschehen.« »Nicht mit ihm«, sagte Helen Bentley und schüttelte den Kopf. »Wie hieß er?« fragte Hanne. »Wissen Sie das noch?« 424
»Ali Shaeed Muffasa«, sagte Helen Bentley. »Ich glaube, er hat seinen Namen später geändert. Zu einem etwas … mehr englisch klingenden. Aber für mich war er einfach Ali, der liebste Junge der Welt.«
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9 Es war endlich halb acht Uhr morgens geworden. Zum Glück war Donnerstag. Beide Mädchen mußten früh in die Schule. Louise, um vor Unterrichtsbeginn Schach zu spielen. Catherine, um eine zusätzliche Runde Krafttraining einzuschieben. Sie hatten nach dem Onkel gefragt, sich aber mit der Erklärung des Vaters zufrieden gegeben, daß Fayed am Vorabend wohl ein wenig zu tief ins Glas geblickt habe. Er müsse einfach seinen Rausch ausschlafen. Das Haus an der Rural Route 4 in Farmington, Maine, war niemals ganz still. Die Holzböden knackten. Die meisten Türen klemmten. Einige ließen sich nur mit Mühe öffnen, andere hingen locker in den Rahmen und schlugen im ewigen Luftzug zwischen den nicht ganz dichten Fenstern hin und her. Auf der Rückseite standen die riesigen Ahornbäume so dicht beieinander, daß die Zweige beim geringsten Windhauch auf das Dach schlugen. Es war, als ob das Haus lebte. Al Muffet brauchte nicht mehr zu schleichen. Er wußte, daß niemand auftauchen würde, bis der Briefträger auf seiner Route vorbeikam. Und das passierte normalerweise nicht vor zwei Uhr. Nachdem er die Mädchen zur Schule gefahren hatte, war Al in seine Praxis gegangen. Er fühle sich nicht ganz wohl, hatte er seiner Sprechstundenhelferin gesagt. Halsschmerzen und leichtes Fieber. Sie hatte ihn mit traurigen Augen und tiefem Mitgefühl angesehen und ihm gute Besserung gewünscht. Er hatte geholt, was er brauchte, sich hustend verabschiedet und war nach Hause gefahren. »Liegst du einigermaßen erträglich?« Al Muffet schaute seinen Bruder an. Die Arme waren an beiden Handgelenken mit starkem Paketband an die Bettposten 426
gefesselt. Die Füße waren mit einem Seil zusammengebunden, das straff um das hohe Fußende geschlungen war und in riesigen Knoten endete. Über den Mund des Bruders hatte Al ein breites Stück graues Isolierband geklebt. »Mmffmm«, machte der Bruder und schüttelte wütend den Kopf. Das Geräusch wurde durch einen Waschlappen gedämpft, der unter dem Klebeband lag. Al Muffet öffnete die Vorhänge. Das Morgenlicht flutete herein. Der Staub im Gästezimmer tanzte über den abgenutzten Holzboden. Al lächelte und wandte sich dann wieder dem Bruder im Bett zu. »Du liegst gut. Du bist nicht mal wach geworden, als ich dir heute nacht die Beruhigungsspritze in den Hintern gesetzt habe. Du warst so leicht zu überwältigen, daß ich dich kaum wiedererkannt habe, Fayed. Früher warst du der Kämpfer von uns beiden. Nicht ich.« »Mmfff!« Vor dem Fenster stand ein Holzstuhl. Er war gebrechlich und alt, und der Sitz war nach hundert Jahren Benutzung verschlissen. Er hatte zum Haus gehört, als Al Muffet es gekauft hatte, so, wie es in diesem Haus von schönen alten Dingen wimmelte, die der Familie geholfen hatte, schneller Wurzeln zu schlagen, als sie es sich hatten erhoffen können. Er zog den Stuhl ans Bett und setzte sich. »Das hier«, sagte er ruhig und hielt dem Bruder eine Spritze vor die Augen, die ihn ungläubig anstarrten. »Das hier ist viel gefährlicher als das, was ich dir heute nacht einverleibt habe. Das hier, verstehst du …« Er drückte den Stempel der Spitze langsam durch, bis einige feine Tropfen aus der dünnen Nadel quollen. »Das ist Ketovenidon. Ein starkes Morphiumpräparat. Sehr wirkungsvoll. Und hier drin habe ich …« 427
Er kniff die Augen zusammen und hielt die Spritze ins Licht. »150 Milligramm. Eine tödliche Dosis für einen Menschen, mit anderen Worten.« Fayed verdrehte die Augen und versuchte vergeblich, seine Hände loszureißen. »Und hier«, sagte Al unangefochten und zog noch eine Spritze aus der Tasche, die neben ihm auf dem Boden stand, »… haben wir Naxolon. Das Gegengift also.« Er legte die zweite Spritze auf den Nachttisch und schob den sicherheitshalber vom Bett weg. »Ich nehme dir gleich den Knebel ab«, sagte er und versuchte, den Blick des Bruders einzufangen. »Aber vorher gebe ich dir etwas von diesem Morphium. Du wirst es ziemlich bald spüren. Dein Blutdruck und dein Puls werden absacken. Du wirst dich ziemlich elend fühlen. Vielleicht kriegst du Atemprobleme. Dann hast du die Wahl. Entweder beantwortest du meine Fragen, oder ich spritze dir noch mehr. Und so machen wir dann weiter. Ganz einfach, nicht? Wenn du mir die Auskünfte erteilt hast, die ich brauche, gibt’s das Gegengift. Aber nur dann. Kapiert?« Der Bruder wand sich verzweifelt im Bett. Ihm liefen Tränen aus den Augen, und Al sah, daß seine Hose um den Schritt herum feucht war. »Noch etwas«, sagte Al, während er dem Bruder durch die Schlafanzughose die Nadel in den Oberschenkel bohrte. »Du kannst nach Herzenslust heulen und schreien. Zeitverschwendung, das kann ich dir sagen. Der nächste Nachbar wohnt an die zehn Kilometer weit weg. Und er ist noch dazu verreist. Es ist ein ganz normaler Werktag, also sind keine Spaziergänger unterwegs. Vergiß es also. So …« Er zog die Spritze wieder heraus und stellte fest, wieviel er injiziert hatte. Er nickte zufrieden, legte die Spritze zu der anderen auf den Nachttisch und riß dem Bruder das Klebeband 428
vom Mund. Fayed versuchte, den Waschlappen mit der Zunge herauszustoßen, erbrach sich dann aber und drehte den Kopf zur Seite. Al streckte zwei Finger aus und zog ihm das Stoffstück aus dem Mund. Fayed rang nach Luft. Er schluchzte und wollte offenbar etwas sagen. Aber nur Keuchen und Würgen war zu hören. »Die Zeit wird langsam knapp«, sagte Al. »Also solltest du versuchen, bald zu antworten.« Er feuchtete sich die Lippen an und dachte nach. »Stimmt es, daß Mutter uns vor ihrem Tod verwechselt hat?« fragte er. Fayed konnte immerhin nicken. »Hat sie dir etwas gesagt, wovon du wußtest, daß es nur für meine Ohren bestimmt war?« Jetzt riß der Bruder sich zusammen. Er war ruhiger. Er schien endlich zu begreifen, daß er sich nicht losreißen konnte. Für einen Moment blieb er ganz still liegen. Nur sein Mund bewegte sich. Er schien Speichel produzieren zu wollen, nachdem er stundenlang einen Lappen im Mund gehabt hatte. »Hier«, sagte Al und hielt ihm ein Glas Wasser an die Lippen. Fayed trank. Mehrere Schlucke. Dann räusperte er sich heftig und spuckte seinem Bruder Wasser, Rotz, Spucke und aufgeweichte Frotteefasern ins Gesicht. »Fuck you«, sagte er heiser und ließ den Kopf zurücksinken. »Jetzt bist du nicht gerade vernünftig«, sagte Al und wischte sich mit dem Ärmel ab. Fayed sagte nichts. Es schien, als denke er nach, als überlege er, wie er eine Lösung aushandeln könnte. »Wir versuchen es noch einmal«, sagte Al. »Hat Mutter dir in dem Glauben, du seist ich, etwas über mein Leben gesagt?« Fayed gab noch immer keine Antwort. Aber immerhin lag er 429
still. Die Wirkung des Morphiums hatte eingesetzt. Seine Pupillen zogen sich zusammen. Al ging zur Kommode neben der Badezimmertür, öffnete die Zahlenschlösser des Koffers und zog Fayeds Terminkalender unter den Kleidungsstücken hervor. Er blätterte zur Jahresübersicht für 2002 weiter und riß sie mit einem kleinen Ruck heraus. »Hier«, sagte er und ging damit zum Bett zurück. »Hier haben wir Mutters Todestag. Und was hast du hier notiert, Fayed? An Mutters Todestag, als du bei ihr gesessen hast?« Er hielt dem Bruder das Blatt hin, und der wandte den Kopf ab. »Juni 1971 in New York, hast du notiert. Was bedeutet dieses Datum für dich? War es Mutter, die es dir genannt hat? Hat Mutter über diesen Tag gesprochen, als du bei ihr gesessen hast?« Noch immer keine Antwort. »Weißt du«, sagte Al leise und schwenkte den Kalender. »An einer Überdosis Morphium zu sterben ist durchaus nicht so angenehm, wie oft behauptet wird. Merkst du, daß deine Lunge schwächer wird? Spürst du, daß dir das Atmen schwerer fällt?« Der Bruder fauchte. Er versuchte, den Körper zu einer Brücke zu spannen, aber er hatte nicht die Kraft dazu. »Mutter war die einzige, die es wußte«, sagte Al. »Aber sie hat mir keine Vorwürfe gemacht, Fayed. Niemals. Mein Geheimnis ist ihr sehr nahe gegangen, aber sie hat es nicht gegen mich verwandt. Mutter war meine Seelsorgerin. Wie sie deine hätte sein können, wenn du dich einigermaßen anständig benommen hättest. Du hättest wenigstens versuchen können, ein Mitglied der Familie zu sein. Statt dessen hast du dir alle Mühe gegeben, nicht dazuzugehören.« »Ich habe nie dazugehört«, fauchte Fayed. »Dafür hast du gesorgt.« 430
Er war jetzt blaß. Er lag ruhig da und hatte die Augen geschlossen. »Ich? Ich? Wo ich doch …« Energisch griff er zur Morphiumspritze, stach sie in Fayeds Oberschenkel und leerte noch zehn Milligramm des Inhalts in den Muskel. »Wir haben keine Zeit für so was. Was soll jetzt passieren, Fayed? Warum bist du hier? Warum kommst du nach all diesen Jahren zu mir, und was zum Teufel hast du mit deinem Wissen um Helens Abtreibung gemacht?« Mittlerweile schien Fayed sich ernstlich zu fürchten. Er versuchte, nach Atem zu ringen, aber seine Muskeln gehorchten ihm nicht mehr richtig. Auf seinen Lippen bildete sich weißer Schaum, als habe er nicht einmal mehr Kraft genug, seinen eigenen Speichel hinunterzuschlucken. »Hilf mir«, sagte er. »Du mußt mir helfen. Ich kann nicht …« »Dann beantworte meine Fragen.« »Hilf mir. Ich darf nicht … alles geht zum … der Plan …« »Der Plan? Welcher Plan? Fayed, von welchem Plan redest du da?« Er lag im Sterben. Das war jetzt deutlich, und Al wurde es heiß. Er merkte, daß seine Hände unsicher waren, als er zur Kanüle mit Naloxon griff und sie bereit machte. »Fayed«, sagte er und packte mit der freien Hand das Kinn des Bruders, damit der ihn ansehen mußte. »Jetzt hast du wirklich Probleme. Hier hab ich das Gegengift. Sag mir eins. Nur eins. Warum bist du hergekommen? Warum bist du ausgerechnet zu mir gekommen?« »Die Briefe«, murmelte Fayed. Seine Augen sahen tot aus. »Die Briefe kommen her. Wenn etwas schiefgeht …« 431
Er atmete nicht. Al schlug ihm energisch auf die Brust. Fayeds Lunge machte noch einen Versuch, dem Tod zu trotzen. »Du wirst beim Fall mitgerissen«, sagte Fayed. »Dich haben sie geliebt.« Al riß ein Messer aus der Tasche und zerschnitt das Klebeband, mit dem Fayeds rechter Arm am Bettpfosten befestigt war. Er hatte das Morphium in einen Muskel gesetzt, jetzt aber brauchte er eine Ader. Langsam drückte er das Gegengift in eine blaßblaue Vene im Unterarm des Bruders. Rasch, um nicht ganz den Mut zu verlieren, band er den Arm wieder fest. Er erhob sich, machte ein paar Schritte und konnte seine Tränen nicht mehr zurückhalten. »Verdammt! Verdammt! Ich wollte in diesem Leben doch nur Ruhe und Frieden haben. Keinen Streit! Keinen Krach! ich habe diesen Winkel der Welt gefunden, wo es mir und den Mädchen gut geht, und dann kommst du und …« Jetzt schluchzte Al. Ei war das Weinen nicht gewöhnt. Er wußte nicht, wohin mit seinen Armen. Sie hingen schlaff an seinem Körper nach unten. Seine Schultern bebten. »Von was für Briefen redest du hier, Fayed? Was hast du getan? Fayed, was hast du getan?« Plötzlich stürzte er auf das Bett zu und beugte sich über den Bruder. Er legte ihm die Handfläche an die Wange. Der Schnurrbart, der riesige, alberne Schnurrbart, den Fayed sich seit ihrer letzten Begegnung zugelegt hatte, kitzelte seine Hand, und immer wieder streichelte Al das Gesicht des Bruders. »Was hast du bloß diesmal wieder angestellt«, flüsterte er. Aber der Bruder gab keine Antwort, denn er war tot.
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10 Es war kurz nach zwei, als Helen Bentley wieder in die Küche kam. Sie sah elend aus. Sechs Stunden Schlaf und eine Dusche hatten am frühen Morgen zwar Wunder gewirkt, aber jetzt war sie krankhaft blaß. Ihre Augen waren trübe und über ihren Wangenknochen lagen halbmondförmige Schatten. Sie ließ sich in einen Sessel fallen und griff begierig nach der Kaffeetasse, die Inger Johanne ihr hinhielt. »In anderthalb Stunden öffnet die New Yorker Börse«, seufzte sie und trank. »Es wird ein rabenschwarzer Donnerstag werden. Vielleicht der schlimmste seit den dreißiger Jahren.« »Haben Sie etwas herausfinden können?« fragte Inger Johanne vorsichtig. »Ich habe jedenfalls eine Art Überblick. Unsere Freunde in Saudi-Arabien sind uns offenbar im Grunde doch nicht so freundlich gesonnen. Hartnäckige Gerüchte wollen wissen, daß sie dahinterstecken, zusammen mit dem Iran. Ohne daß irgendwer in meiner Regierung irgendwas zugeben wurde, natürlich.« Sie rang sich ein Lächeln ab. Ihre Lippen waren fast so blaß wie ihr übriges Gesicht. »Was bedeutet, daß Warren sich an die Araber verkauft haben muß,« sagte Inger Johanne leise. Die Präsidentin nickte und legte sich die Hand über die Augen. So blieb sie einige Sekunden sitzen, dann sprang sie auf und sagte: »Ich kann einfach nicht feststellen, was hier wirklich los ist, so lange ich keine geschützten Dateien des Weißen Hauses einsehen kann. Ich muß meine eigenen Codes benutzen. Zu vielem habe ich auch dann keinen Zugang, weil ich dafür ganz andere Ausrüstung brauche. Aber ich muß ganz einfach wissen, 433
ob Warren falsch spielt. Ich muß Klarheit haben, was meine Leute über das alles wissen, ehe ich mich zu erkennen gebe. Wenn sie keine Ahnung von seinen …« »Er ist hier in Norwegen schwer aktiv«, sagte Inger Johanne. »Ich würde es wissen, wenn ihm etwas zugestoßen wäre. Wenn er festgenommen worden wäre oder so, meine ich.« Sie zögerte einen Moment lang und warf ein Blick auf ihr eigenes Telefon, dann fügte sie hinzu: »Glaube ich wenigstens.« »Aber das braucht nichts zu bedeuten«, sagte die Präsidentin. »Wenn sie wissen, daß er etwas mit meinem Verschwinden zu tun hat, ist es genauso gut möglich, daß sie es für sinnvoll halten, ihn im Ungewissen zu halten. Doch wenn sie es nicht wissen …« Sie holte tief Atem. »… dann kann es gefährlich sein, daß er frei herumläuft, wenn ich mich zu erkennen gebe. Ich muß einfach meine eigenen Dateien ansehen. Ich muß.« »Aber es wird nur ein paar Sekunden dauern, bis sie das entdeckt haben«, sagte Inger Johanne skeptisch. »Sie sehen die IP-Adresse und können den Rechner sofort lokalisieren. Und dann haben wir die Götterdämmerung ausgelöst.« »Ja. Wäre es … nein. Eigentlich brauche ich nicht sehr lange. Zwei Stunden reichen. Glaube ich.« Die Wohnzimmertür öffnete sich, und Hanne Wilhelmsen kam herein. »Eine Stunde Schlaf hier und eine Stunde da«, sagte sie und gähnte. »Man kann auch von weniger fast ausgeruht sein. Sind Sie weitergekommen?« Sie sah Helen Bentley an. »Ein ziemliches Stück. Aber jetzt habe ich ein Problem. Ich muß mich in einen gesperrten Bereich einloggen, aber wenn ich Ihren Rechner benutze, verrate ich sofort, daß ich am Leben bin, 434
und nicht zuletzt, wo ich stecke.« Hanne schniefte und wischte sich mit dem Zeigefinger die Oberlippe ab. »Ein Problem, ja. Und was machen wir damit?« »Mein Laptop«, sagte Inger Johanne überrascht und hob den Zeigefinger. »Den könnten wir doch benutzen?« »Deinen Laptop?« »Hast du deinen Laptop hier?« Die beiden anderen sahen sie skeptisch an. »Der liegt im Auto«, sagte Inger Johanne eifrig. »Und er ist an der Universität Oslo registriert. Natürlich meldet er auch eine IP-Adresse, aber sie werden länger brauchen … zuerst müssen sie sich an die Uni wenden, dann müssen sie feststellen, an wen der Rechner ausgeliehen ist, und am Ende müssen sie noch herausfinden, wo ich stecke. Und das weiß eigentlich nur …« Wieder schaute sie schuldbewußt zu ihrem Telefon hinüber. »… Yngvar«, fügte sie leiser hinzu: »Und im Grunde weiß er das auch nicht genau.« »Wissen Sie«, sagte die Präsidentin. »Ich glaube, das ist eine gute Idee. Ich brauche nur zwei Stunden. Zwei Stunden können wir uns vermutlich erkaufen, wenn wir einen anderen Rechner benutzen.« Hanne war die einzige, die noch immer äußerst skeptisch wirkte. »Ich kenne mich ja mit IP-Adressen und sowas nicht gerade gut aus«, sagte sie. »Aber ist eine von euch sicher, daß das wirklich funktioniert? Daß nicht der Anschluß hier ermittelt werden kann?« Inger Johanne und Helen Bentley tauschten einen Blick. »Ich bin nicht sicher«, sagte die Präsidentin. »Aber dieses Risiko muß ich ganz einfach eingehen. Können Sie ihn holen?« 435
»Natürlich«, sagte Inger Johanne und sprang auf. »Das dauert nur fünf Minuten.« Als die Wohnungstür hinter Inger Johanne ins Schloß fiel, ging Helen Bentley zu dem Sessel neben Hannes Rollstuhl. Sie setzte sich. Sie schien nicht die richtigen Worte zu finden. Hanne sah sie ausdruckslos an, als habe sie alle Zeit der Welt. »Hannah. Haben Sie … Sie waren doch bei der Polizei. Haben Sie eine Waffe im Haus?« Hanne fuhr zur Tischkante. »Eine Waffe? Was wollen Sie damit?« »Leise!« sagte die Präsidentin, und ihre Stimme klang plötzlich so gebieterisch, daß Hanne erstarrte. »Bitte. Ich will nicht, daß Inger davon erfährt. Mir wäre auch nicht wohl, wenn ich mein kleines Kind in derselben Wohnung wie eine geladene Waffe wüßte. Und natürlich glaube ich nicht, daß es nötig sein wird, sie zu benutzen. Aber Sie dürfen nicht vergessen, daß …« »Wissen Sie, warum ich hier sitze? Haben Sie sich das überhaupt schon überlegt? Ich sitze in diesem verdammten Rollstuhl, weil ich angeschossen wurde. Mein Rückgrat ist von einer Kugel durchtrennt worden. Mein Verhältnis zu Waffen ist nicht gerade herzlich.« »Hannah. Hannah! Hören Sie mir zu!« Hanne kniff die Lippen zusammen und schaute Helen Bentley ins Gesicht. »Ich bin normalerweise der bestbewachte Mensch der Welt«, sagte die Präsidentin leise, als habe sie Angst, Inger Johanne könne schon zurückgekehrt sein. »Ich bin überall und jederzeit von schwerbewaffneten Wächtern umgeben. Das ist kein Zufall, Hannah. Das ist ganz einfach unbedingt nötig. In dem Moment, in dem bekannt wird, daß ich mich in dieser Wohnung aufhalte, bin ich einfach wehrlos. Bis die richtigen Menschen eintreffen und mich holen und wieder unter ihren Schutz nehmen, muß ich mich verteidigen können. Ich glaube, das verstehen Sie, wenn 436
Sie nur darüber nachdenken.« Jetzt mußte Hanne den Blick abwenden. »Ich habe eine Waffe«, sagte sie endlich. »Und Munition. Ich habe die schweren Stahlschränke nie entfernen lassen und … Sind Sie gut?« Die Präsidentin grinste. »Meine Lehrer würden gegen eine solche Behauptung wohl protestieren. Aber ich kann mit einer Schußwaffe umgehen. I’m the Commander in Chief, remember?« Hanne starrte noch immer mit ausdruckslosem Gesicht auf die Tischplatte. »Noch eins«, sagte Helen Bentley und legte Hanne die Hand auf den Unterarm. »Ich glaube, es ist besser, wenn ihr alle geht. Wenn ihr die Wohnung verlaßt. Falls etwas passiert.« Hanne hob den Kopf und starrte sie mit einer übertrieben ungläubigen Miene an. Dann lachte sie. Sie lachte laut, legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend. »Viel Glück«, keuchte sie. »Ich werde mich nicht von der Stelle bewegen lassen. Und was Marry angeht, die hat einen Bewegungsradius von dreißig Metern. Die werden Sie nie, und ich wiederhole, nie dazu bringen, hier wegzugehen. Es kommt ein seltenes Mal vor, daß ich sie dazu überreden kann, sich in den Keller zu begeben, aber Sie werden das nicht schaffen. Und was Inger Johanne angeht …« »Hier bin ich«, sagte diese atemlos. »Draußen ist übrigens richtiges Sommerwetter.« Sie stellte den Laptop auf den Küchentisch. Mit geübten Handgriffen installierte sie eine externe Maus, legte eine Matte hin, schob den Stecker in die Dose und schaltete den Rechner ein. »Voilà«, sagte sie und loggte sich ein. »Bitte sehr, Madam President. Ein Computer, den sie nicht so schnell aufspüren können.« 437
Sie war so zufrieden, daß ihr Hannes besorgte Miene gar nicht auffiel, mit der diese ihren Rollstuhl vom Tisch zurückschob, ihn umdrehte und langsam ins Innere der Wohnung rollte. Die Räder quietschten ein wenig auf dem Parkett. Dieses Geräusch verstummte erst, als sie ganz hinten in der riesigen Wohnung eine Tür zufallen hörten.
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11 Der junge Mann, der in einem nicht sehr weit vom Situation Room im Weißen Haus gelegenen winzigen Büro vor einem Bildschirm saß, stellte fest, daß Buchstaben und Zahlen vor seinen Augen zu tanzen begannen. Er kniff die Augen ganz fest zu, schüttelte den Kopf und machte einen neuen Versuch. Noch immer fiel es ihm schwer, seinen Blick auf jeweils eine Zeile, eine Spalte zu konzentrieren. Er versuchte, sich selbst den Nacken zu massieren. Der strenge Geruch des einen Tag alten Schweißes stieg aus seinen Achselhöhlen auf, und er preßte beschämt die Oberarme an seinen Körper und hoffte, daß niemand ins Büro käme. Das hier war nicht das, wofür er studiert hatte. Als er als Informatiker mit nur zweijähriger Berufspraxis in der Wirtschaft einen Posten im Weißen Haus bekam, hatte er sein Glück kaum fassen können. Jetzt, fünf Monate später, hatte er alles bereits satt. Er hatte in der kleinen Computerfirma, für die ihn nach seinem Examen ein Headhunter anheuerte, seine Tüchtigkeit unter Beweis gestellt und geglaubt, seine unleugbaren Fähigkeiten als Programmierer hätten Präsidentin Bentleys Administration dazu veranlaßt, ihn an Bord zu holen. Aber seit fast einem halben Jahr kam er sich eher vor wie ein Laufbursche. Und jetzt saß er da, in einem engen fensterlosen Gelaß, verschwitzt und stinkend in der dreiundzwanzigsten Stunde, und starrte Codes an, die in einem Chaos, in dem er Ordnung schaffen sollte, über den Bildschirm flimmerten. Auf jeden Fall durfte er nichts übersehen. Er hob die Finger an seine Augen und drückte zu. Er fühlte sich so erschöpft, daß er nicht einmal mehr schläfrig 439
war. Sein Gehirn schien ganz einfach »stop« gesagt zu haben. Es wollte nicht mehr. Seine eigene Festplatte hatte sich ausgeschaltet, so kam ihm das vor, und den Rest seines Körpers sich selbst überlassen. Seine Hände kamen ihm wie betäubt vor, und schon seit Stunden quälte ihn ein stechender Schmerz im Kreuz. Er atmete langsam aus und riß die Augen auf, um ein wenig Feuchtigkeit hineinzuzwingen. Eigentlich hätte er mehr trinken müssen, aber er durfte erst in einer Viertelstunde eine Pause machen. Und dann mußte er versuchen, ganz schnell zu duschen. Da. Da war etwas. Irgend etwas. Er kniff die Augen zusammen und ließ seine Finger über die Tastatur laufen. Das Bild auf dem Schirm erstarrte. Er hob zögernd die Hand und ließ den Zeigefinger einer Zeile von links nach rechts folgen, ehe er wieder auf die Tastatur einhämmerte. Ein neues Bild tauchte auf. Das konnte nicht wahr sein. Es war aber wahr, und er hatte es gesehen. Und plötzlich bereute er seinen Jobwechsel überhaupt nicht mehr, denn er hatte es als erster gesehen. Abermals jagten seine Finger über die Tastatur vor ihm. Am Ende klickte er auf das Druckersymbol, griff zum Telefon und wartete gespannt auf das nächste Bild auf seinem Schirm. »She’s alive«, flüsterte er und vergaß das Atmen. »She’s fucking alive!«
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12 »Das ist die schönste Stelle in ganz Oslo«, sagte Yngvar Stubø und zeigte auf eine einfache Bank am Wasser. »Ich dachte, ein bißchen frische Luft würde uns beiden guttun.« Der Sommer hatte die Stadt überfallen. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden war die Temperatur um fast zehn Grad gestiegen. Die Sonne färbte den Himmel in einer Explosion aus Licht fast kreideweiß. Die Bäume am Akerselv schienen allein an diesem Vormittag ein tieferes Grün entwickelt zu haben, und in der Luft waren soviel Pollen unterwegs, daß Yngvars Augen tränten, seit sie aus dem Auto gestiegen waren. »Ist das ein Park?« fragte Warren Scifford, ohne besonderes Interesse zu zeigen. »Ein riesiger Park?« »Nein. Das ist der Stadtrand. Oder der Waldrand, wenn du so willst. Hier treffen sie sich, Bäume und Häuser. Schön, nicht wahr? Setz dich.« Warren schaute skeptisch auf die verdreckte Bank. Yngvar zog ein Taschentuch hervor und wischte den Rest der 17.-Mai-Feier ab. Ein wenig getrocknetes Schokoladeneis, einen Streifen Ketchup und etwas, über dessen Beschaffenheit er sich lieber gar nicht erst den Kopf zerbrechen wollte. »So. Setz dich.« Aus einer Plastiktüte zog er zwei riesige, in Frischhaltefolie gewickelte Brötchen und zwei Dosen Cola light. »Muß ans Gewicht denken«, sagte er und stellte alles zwischen ihnen auf die Bank. »Echte Cola mag ich eigentlich lieber. The real thing. Aber du weißt …« Er fuhr sich über den Bauch. Warren schwieg. Er rührte das Essen nicht an. Statt dessen schaute er drei Kanadagänsen hinterher. Ein kleiner Hund, halb so groß wie der größte Vogel, 441
wurde von ihnen über die grasbewachsene Böschung gejagt. Das schien ihm zu gefallen. Wann immer die größte Gans ihn mit klapperndem Schnabel vertrieben hatte, fuhr der Hund herum und lief bellend im Zickzack zurück. »Willst du nichts?« fragte Yngvar mit vollem Mund. Warren schwieg noch immer. »Hör zu«, sagte Yngvar und schluckte den Bissen hinunter. »Ich habe nun mal den Auftrag, dich zu begleiten. Es wird ja immer klarer, daß du nicht die ganz große Lust hast, mich über irgendwas zu informieren. Oder uns. Uns zu informieren. Also können wir …« Er biß ein Stück von seinem Brötchen ab. »… es uns doch auch gleich gemütlich machen?« Seine Worte verschwanden im Essen. Der Hund hatte die Sache jetzt satt. Er ließ die schnatternden Gänse stehen und lief mit der Nase am Boden am Fluß entlang in Richtung Maridalsvannet. Yngvar aß schweigend weiter. Warren hob sein Gesicht in die Sonne, legte den linken Fuß auf das rechte Knie und schloß im blendenden Licht die Augen. »Was ist los?« fragte Yngvar, als er sein eigenes Brötchen und die Hälfte von Warrens verzehrt hatte. Er knüllte die Plastikfolie zusammen, ließ sie in die Tüte fallen, öffnete eine der Coladosen und trank. »Was ist eigentlich los mit dir«, wiederholte er und versuchte, einen Rülpser zu verschlucken. Warren saß noch immer bewegungslos da. »Wie du willst«, sagte Yngvar und fischte eine Sonnenbrille aus seiner Brusttasche. »Da draußen gibt es einen Mistkerl«, sagte Warren, ohne seine Haltung zu ändern. »Viele«, sagte Yngvar und nickte. »Viel zu viele, wenn du mich fragst.« 442
»Es gibt einen, der uns fertigmachen will.« »Aha …« »Er hat schon angefangen. Das Problem ist, daß ich nicht weiß, wie er weitermachen will. Außerdem hört hier ja doch keiner auf mich.« Yngvar versuchte, sich auf der unbequemen Holzbank besser hinzusetzen. Für einen Moment legte er wie Warren den Fuß aufs Knie. Sein Bauch protestierte gegen diesen Druck, und er ließ den Fuß wieder sinken. »Hier sitze ich«, sagte er. »Ich bin ganz Ohr.« Endlich lächelte Warren. Er hielt sich die Hand vor die Stirn, um seine Augen vor der Sonne zu schützen, und blickte sich um. »Hier ist es wirklich schön«, sagte er leise. »Wie geht es Inger Johanne?« »Gut. Sehr gut.« Yngvar wühlte in seiner Tüte und zog eine Tafel Schokolade heraus. Er riß das Papier ab und bot sie Warren an. »Nein, danke. Sie war ganz ehrlich gesagt die tüchtigste, intelligenteste Studentin, die ich je gehabt habe.« Yngvar schaute die Schokolade an. Dann wickelte er sie wieder ins Papier und legte sie zurück in die Plastiktüte. »Inger Johanne geht es gut«, sagte er noch einmal. »Wir haben letztes Jahr im Winter eine Tochter bekommen. Ein hübsches, gesundes Kind. Ansonsten sollten wir diesem Thema aus dem Weg gehen, glaube ich.« »Ist es so schlimm? Ist sie noch immer …« Yngvar nahm die Sonnenbrille wieder ab. »Ja. Es ist so schlimm. Ich will mit dir nicht über Inger Johanne sprechen. Das wäre durch und durch illoyal. Außerdem hab ich nicht die geringste Lust dazu. Okay?« »Natürlich.« 443
Der Amerikaner deutete eine Verbeugung an und machte eine entschuldigende Handbewegung. »Meine allergrößte Schwäche«, sagte er und lächelte verkrampft. »Frauen.« Yngvar hatte dazu nichts zu sagen. Ihm kamen langsam Zweifel an diesem ganzen Ausflug. Vor einer Stunde, als Warren plötzlich ohne Vorwarnung und ohne eigentlich etwas mitteilen zu können, in Peter Salhusens Büro aufgetaucht war, hatte er gedacht, eine Unterbrechung der Routine könnte sie vielleicht wieder miteinander ins Gespräch bringen. Aber über Inger Johanne wollte er nun wirklich nicht reden. »Weißt du«, sagte Warren jetzt. »Ab und zu, wenn ich nachts wach liege und mir angesichts der Fehler, die ich in meinem Leben gemacht habe, der Schweiß ausbricht, geht mir auf, daß alle diese Fehler etwas mit Frauen zu tun hatten. Und jetzt ist es so, daß meine Karriere beendet ist, wenn Präsidentin Bentley nicht lebend aufgefunden wird. Eine Frau hält mein Dasein in ihren Händen.« Er seufzte demonstrativ. »Frauen. Ich verstehe sie nicht. Sie sind unwiderstehlich und unbegreiflich.« Yngvar ertappte sich dabei, wie er mit den Zähnen knirschte. Er konzentrierte sich darauf, das nicht zu tun. Es war fast unmöglich, und er fuhr sich mit der Hand über die Wangen, um sich auf diese Weise zu entspannen. »Du bist nicht meiner Meinung«, sagte Warren und lachte kurz. »Nein.« Yngvar richtete sich abrupt auf. »Nein«, wiederholte er. »Ich finde nur die aller, allerwenigsten Frauen unwiderstehlich. Die meisten sind außerdem ziemlich leicht zu verstehen. Nicht immer, nicht die ganze Zeit, aber doch 444
im großen und ganzen. Nur …« Er machte eine vage Handbewegung und schaute in eine andere Richtung. »… das setzt natürlich voraus, daß man sie als gleichwertige Menschen betrachtet.« »Touché«, sagte Warren und lächelte strahlend in die Sonne. »Überaus politisch korrekt. Sehr … skandinavisch.« Ein Klingelgeräusch überlagerte das Zwitschern der Vögel und das Rauschen des Flusses. Yngvar klopfte seine Taschen auf der Suche nach dem Telefon ab. »Hallo«, bellte er hinein, nachdem er es endlich gefunden hatte. »Yngvar?« »Ja.« »Hier ist Peter.« »Wer?« »Peter Salhus.« »Ach. Hallo.« Yngvar wollte schon aufstehen und sich von der Bank entfernen, als ihm einfiel, daß Warren kein Norwegisch verstand. »Gibt’s was Neues?« fragte er. »Ja. Ganz unter uns, Yngvar. Kann ich mich darauf verlassen?« »Natürlich. Was ist los?« »Ohne ins Detail zu gehen, muß ich wohl zugeben, daß wir … naja, wir haben einen ziemlich guten Überblick darüber, was in der US-Botschaft vor sich geht. Um das mal so zu sagen.« Pause. Die hören mit, dachte Yngvar und griff zu der halbleeren 445
Coladose, ohne zu trinken. Die hören verdammt nochmal auf norwegischem Boden die Botschaft einer befreundeten Macht ab. Was zum Teufel soll … »Sie glauben, daß die Präsidentin noch lebt, Yngvar.« Yngvar atmete ein wenig schneller. Er räusperte sich und versuchte, ein Pokergesicht zu machen. Um ganz sicher zu sein, wandte er sich von Warren ab. »Und wo soll sie dann sein?« »Darum geht es eben, Yngvar. Sie glauben, daß die Präsidentin ihre Internetseiten aufgerufen hat, zu denen sie nur mit bestimmten Codes Zugang bekommen kann. Entweder war sie es selbst, oder irgendwer hat die Codes aus ihr herausgeholt. Und selbst wenn letzteres der Fall sein sollte, könnte es doch darauf hindeuten, daß sie lebt.« »Aber … ich begreife nicht ganz …« »Die Aufrufe erfolgten unter der IP-Adresse deiner Frau. Aber das wissen sie zum Glück noch nicht.« »Ing…« Er unterbrach sich. Er wollte nicht vor Warrens Ohren ihren Namen erwähnen. »Sie haben herausgefunden, daß die IP-Adresse zu einem Rechner der Universität gehört. Jetzt streiten sie sich mit der Unileitung, um zu erfahren, wer diesen Rechner benutzt. Wir glauben, daß wir sie ein wenig aufhalten können, wenn auch nicht besonders lange. Aber ich dachte … ich lasse Bastesen eine Streife zu dir nach Hause schicken, sicherheitshalber. Falls etwas an diesen Gerüchten stimmt, daß das FBI auf eigene Faust operiert, meine ich. Und ich an deiner Stelle würde nach Hause fahren.« »Ja … natürlich … danke.« Er beendete das Gespräch, ohne daran zu denken, daß der Streifenwagen ja zu einer anderen Adresse fahren müßte. Inger 446
Johanne war nicht zu Hause. Sie und Ragnhild waren im Stadtteil Frogner. An einer Adresse, die er nicht kannte. Yngvar sprang auf. »Ich muß los«, sagte er und setzte sich in Bewegung. Die Plastiktüte und eine ungeöffnete Dose Cola light vergaß er. Warren starrte den Abfall verdutzt an, dann rannte er hinter Yngvar her. »Was ist los?« fragte er, als er ihn eingeholt hatte. »Ich setze dich in der Stadt ab, okay? Ich muß noch schnell etwas erledigen.« Sein massiger Körper schwabbelte, während er zum Auto lief. Als sie einstiegen, klingelte Warrens Telefon. Er antwortete mit kurzen Ja und Nein. Nach anderthalb Minuten beendete er das Gespräch. Als Yngvar für einen Moment seinen Blick von der Straße losriß und den Amerikaner ansah, erschrak er. Warren war aschgrau. Er hatte den Mund halb offen und seine Augen waren fast in seinem Schädel verschwunden. »Sie glauben, sie haben die Präsidentin gefunden«, sagte er tonlos und schob das Telefon in die Brusttasche. Yngvar schaltete und verließ den Frysjavei. »Es gibt Hinweise darauf, daß sie mit Inger Johanne zusammen ist«, sagte Warren noch immer ungewöhnlich tonlos. »Fahren wir jetzt zu dir nach Hause?« Verdammt, dachte Yngvar verzweifelt. Sie haben es schon geschafft. Hättet ihr sie nicht noch ein bißchen aufhalten können? »Ich setze dich in der Stadt ab«, wiederholte er. »Danach mußt du sehen, wie du zurechtkommst.« Während er mit einer Hand am Lenkrad in wildem Tempo Richtung Maridalsvei jagte, versuchte er, Salhus anzurufen. Es klingelte eine Ewigkeit, und dann schaltete ein Anrufbeantworter sich ein. 447
»Peter, hier ist Yngvar«, kläffte er. »Ruf mich sofort an. Augenblicklich, verstehst du?« Das Beste wäre es wohl, über den Ringvei nach Smestad zu fahren. Sich um diese Tageszeit durch die Innenstadt zu kämpfen, würde eine Ewigkeit dauern. Er steuerte den Wagen in den Verteilerkreis über dem Ring 3, nahm die Abfahrt nach Westen und trat das Gaspedal durch. »Hör mal«, sagte Warren leise. »Ich werde dir ein Geheimnis verraten.« »Wird auch Zeit, daß du mal was sagst«, murmelte Yngvar, hörte aber kaum zu. »Ich bin auf Kollisionskurs mit meinen eigenen Leuten. Und zwar ziemlich heftig.« »Weißt du, es gibt sicher Leute, mit denen du darüber reden kannst, aber ich gehöre nicht dazu.« Er wechselte die Fahrspur, um einen Lastwagen zu überholen, und hätte fast einen kleinen Fiat gerammt, der zu weit nach links geraten war. Er fluchte verbissen, kam am Fiat vorbei und steigerte das Tempo noch weiter. »Falls du jetzt auf dem Weg zu Inger Johanne bist«, sagte Warren, »dann solltest du mich mitnehmen. Die Lage ist gelinde gesagt gefährlich und ich …« »Du kommst nicht mit.« »Yngvar! Yngvar!« Yngvar stieg auf die Bremse. Warren, der den Sicherheitsgurt nicht angelegt hatte, wurde gegen das Armaturenbrett geschleudert und konnte sich gerade noch abstützen. Yngvar ließ den Wagen vor der Mautstelle unterhalb des Rikshospitals an den Straßenrand rollen. »Was«, brüllte er den Amerikaner an. »Was willst du eigentlich, zum Teufel?« »Du kannst nicht allein fahren. Ich warne dich. Um 448
deinetwillen.« »Steig aus. Raus aus dem Auto. Sofort.« »Jetzt? Hier? Mitten auf der Schnellstraße?« »Ja.« »Das meinst du nicht im Ernst, Yngvar. Hör doch mal …« »Raus!« »Hör mir jetzt zu!« In seiner Stimme lag jetzt ein Anflug von Verzweiflung. Yngvar versuchte, gleichmäßig zu atmen. Er umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen und hätte am liebsten zugeschlagen. »Wie ich eben schon im Park gesagt habe: Ich bin ein Idiot, wenn es um Frauen geht. Ich habe so viele …« Er hielt lange den Atem an. Als er dann weiterredete, sprudelte alles nur so aus ihm heraus: »Aber zweifelst du an meinen Fähigkeiten als FBI-Agent? Glaubst du, ich bin durch Inkompetenz dahin gelangt, wo ich heute stehe? Meinst du wirklich, daß es besser für dich ist, dich allein in eine Lage zu begeben, über die du nicht den geringsten Überblick hast, statt einen Agenten mit dreißig Jahren Erfahrung mitzunehmen, der noch dazu eine Waffe hat?« Yngvar biß sich in die Lippe. Er tauschte einen raschen Blick mit Warren, schaltete in den ersten Gang und jagte auf die Straße hinaus. Er wählte Inger Johannes Nummer. Sie meldete sich nicht. Auch ihr Anrufbeantworter schaltete sich nicht ein. »Verdammt«, sagte er verbissen und wählte die Nummer 1881. »Verdammte Scheiße hoch drei!« »Verzeihung«, sagte eine Stimme am anderen Ende der Leitung. »Was haben Sie gesagt?« »Eine Adresse in Oslo, bitte. Hanne Wilhelmsen. Kruses gate, aber welche Hausnummer?« 449
Nach wenigen Sekunden antwortete die Dame in übellaunigem Tonfall. Als sie vom Ringvei in Richtung Smestad abbogen, wählte er eine weitere Nummer. Diesmal die der Kriminalpolizei. Er wollte sich durchaus nicht allein in eine gefährliche Lage begeben. Aber er hatte auch nicht vor, einen ausländischen Staatsbürger mitzunehmen, von dem er soeben entdeckt hatte, daß er ihn nicht leiden konnte. Überhaupt nicht.
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13 Helen Lardahl Bentley war nach dem Aufruf der gesperrten Dateien noch verwirrter als zuvor. Da war so vieles, was keinen Sinn ergab. Die BS-Unit war offenbar ins Abseits geschoben worden. Das konnte natürlich daran liegen, daß sie Warren durchschaut hatten. Die FBI-Leitung hielt es vielleicht für angebracht, ihn damit noch nicht zu konfrontieren, während sie zugleich dafür sorgen wollte, daß er die Ermittlungen so wenig wie möglich manipulieren konnte. Gleichzeitig konnte Helen nicht begreifen, warum das von Warrens Leuten erstellte Profil von den anderen dermaßen mißachtet wurde. Das Dokument machte doch einen ungeheuer sorgfältig durchgearbeiteten Eindruck. Es stimmte mit allem überein, was sie befürchtet hatten, als nur sechs Wochen zuvor die ersten vagen Informationen über Troja beim FBI eingelaufen waren. Das Profil machte ihr größere Angst als alles andere, was sie hier gefunden hatte. Aber trotzdem stimmte da etwas nicht. Einerseits schienen alle mit einem unmittelbar bevorstehenden Angriff auf die USA zu rechnen. Andererseits hatte keine der mächtigen Organisationen der Homeland Security auch nur eine Spur einer existierenden oder bekannten Organisation gefunden. Sie schienen sich an Jeffrey Hunters Geld zu klammern. Das ließ sich zu einem Vetter des saudi-arabischen Ölministers und zu einer ihm gehörenden Beraterfirma im Iran zurückverfolgen, aber das war wirklich auch alles. Sie hatte nicht den Eindruck, daß die anderen auf dieser Spur weitergekommen waren, und ihr wurde abwechselnd heiß und kalt, als ihr aufging, mit welcher Energie die US-Regierung, mit ihrem eigenen Vizepräsidenten an der Spitze, gegen diese beiden Länder vorgegangen war. Ohne Verschlüsselungsausrüstung hatte sie keinen Zugang zu 451
den Dateibereichen, in denen der dazugehörige Briefwechsel gespeichert war, aber ihr wurde jetzt wirklich bewußt, auf welche Katastrophe ihr Land hingesteuert wurde. Sie saß in einem Zimmer ganz hinten in der Wohnung. Als die Türklingel ging, hörte sie sie deshalb kaum. Sie spitzte die Ohren. Es wurde noch einmal geklingelt. Vorsichtig erhob sie sich und griff zu der Pistole, die Hanne für sie hervorgeholt und geladen hatte. Sie ließ sie gesichert, schob sie in den Hosenbund und zog den Pullover darüber. Irgend etwas war hier ganz und gar verkehrt.
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14 Vor Hanne Wilhelmsens Wohnungstür in der Kruses gate standen Warren Scifford und Yngvar Stubø und stritten sich laut. »Wir warten«, sagte Yngvar wütend. »Jeden Moment kann ein Streifenwagen hier eintreffen.« Warren riß sich aus dem festen Griff los, mit dem der Norweger seinen Arm gepackt hatte. »Es geht hier um meine Präsidentin«, fauchte er. »Es liegt in meiner Verantwortung, festzustellen, ob die Regierungschefin meines Landes sich hinter dieser Tür aufhält. Mein Leben hängt davon ab, Yngvar! Sie ist die einzige, die mir glaubt. Ich denke nicht daran, auf eine Bande von schießwütigen Uniformierten zu warten …« »Hallo«, sagte eine heisere Stimme. »Is’ was?« Die Tür war zu einem Spalt von zehn Zentimetern geöffnet worden. In Gesichtshöhe spannte sich eine Sicherheitskette, und eine ältere Frau starrte sie mit einem wütend aufgerissenen Auge an. »Nicht aufmachen«, sagte Yngvar rasch. »Um Himmels willen, Mensch, schließen Sie sofort die Tür wieder!« Warren trat zu. Die Frau fuhr mit einer Sturmflut von Flüchen zurück. Die Tür gab nicht nach. Yngvar packte Warrens Jacke, verlor sie aber aus dem Griff und kam aus dem Gleichgewicht. Er stürzte und hatte Mühe, wieder auf die Beine zu kommen. Verzweifelt versuchte er, Warrens Hosenbein zu fassen, aber der ältere Mann war viel besser trainiert. Als er sein Bein losriß, rammte er gleichzeitig mit großer Wucht seinen Schuh in Yngvars Schritt. Yngvar sank wie ein Sack in sich zusammen und verlor das Bewußtsein. Die Flüche der Frau hinter der Tür verstummten jählings, als ein weiterer Tritt das 453
Sicherheitsschloß erledigte. Die Tür sprang auf. Sie traf die Frau, die rückwärts geschleudert wurde und in einem Schuhregal landete. Warren stürmte mit erhobener Dienstwaffe in die Wohnung. Bei der nächsten Tür blieb er im Schutz der Wand stehen und rief: »Helen! Helen! Madam President, are you there?« Keine Antwort. Plötzlich und mit erhobener Waffe ging er ins nächste Zimmer weiter. Er stand in einem riesigen Wohnzimmer. Am Fenster saß eine Frau in einem Rollstuhl. Sie bewegte sich nicht, und ihr Gesicht war ganz und gar ausdruckslos. Trotzdem registrierte er, daß ihr Blick sich auf eine Tür ganz hinten im Raum richtete. Auf einem Sofa saß eine weitere Frau, sie kehrte ihm den Rücken zu und hielt ein Kind auf dem Schoß. Sie drückte das Kind an sich und schien außer sich vor Angst zu sein. Das Kind schrie. »Warren.« Madam President betrat das Zimmer. »Gott sei Dank«, sagte Warren und trat zwei Schritte auf sie zu, während er die Dienstwaffe wieder ins Holster steckte. »Thank God you’re alive!« »Bleib stehen!« »Was?« Er fuhr zurück, als sie eine Pistole hervorzog und auf ihn richtete. »Madam President«, flüsterte er. »Ich bin’s doch! Warren!« »Du hast mich verraten. Du hast Amerika verraten!« »Ich? Ich hab doch nicht …« »Wie hast du von der Abtreibung erfahren, Warren? Wie konntest du das gegen mich verwenden, wo du doch …« »Helen …« 454
Er versuchte wieder, auf sie zuzugehen, machte aber rasch einen Schritt zurück, als sie die Waffe hob und sagte: »Ich bin durch einen Brief aus dem Hotel gelockt worden.« »Ehrenwort … ich habe keine Ahnung, wovon du redest!« »Hände hoch, Warren.« »Ich …« »Hände hoch!« Zögernd hob er die Hände. »Verus amicus rara avis«, sagte Helen Bentley. »Niemand sonst kannte die Inschrift, mit der der Brief unterzeichnet war. Nur du und ich, Warren. Nur wir beide.« »Ich hatte die Uhr verloren! Sie wurde … gestohlen! Ich …« Das Kind schrie wie am Spieß. »Inger«, sagte die Präsidentin. »Gehen Sie mit Ihrer Tochter in Hannahs Büro. – Sofort.« Inger Johanne sprang auf und lief durch das Zimmer. Sie warf nicht einmal einen Blick in Warrens Richtung. »Wenn deine Uhr gestohlen worden ist, Warren, was hast du dann am linken Handgelenk?« Sie entsicherte ihre Waffe. Ungeheuer langsam, wie um sie nicht zu provozieren, drehte er den Kopf. Seine Pulloverärmel waren ein wenig heruntergerutscht, als er die Hände gehoben hatte. Um das Handgelenk trug er eine Uhr, eine Omega Oyster mit Diamanten als Ziffern und einer Gravur auf der Rückseite. »Die ist … versteh doch … ich dachte, sie wäre …« Er ließ die Hände sinken. »Laß das«, warnte die Präsidentin. »Hände hoch.« Er sah sie an. Seine Arme hingen schlaff nach unten. Die Handflächen waren offen, und er fing an, sie in einer flehenden Geste zu heben. 455
Madam President drückte ab. Der Knall ließ Hanne Wilhelmsen zusammenzucken. Das Echo dröhnte in ihren Ohren und ihr Gehör löste sich für einen Moment zu einem anhaltenden Pfeifton auf. Warren Scifford lag bewegungslos auf dem Boden, auf dem Rücken, mit dem Gesicht nach oben. Sie fuhr zu ihm, bückte sich und legte die Finger an seinen Hals. Dann richtete sie sich auf und schüttelte den Kopf. Warren lächelte, mit leicht gehobenen Augenbrauen, als habe er im Moment vor seinem Tod an etwas Lustiges gedacht, an eine Ironie, die niemand sonst begreifen konnte. Yngvar Stubø stand in der Tür. Er hielt die Hand an seinen Schritt, und sein Gesicht war kreideweiß. Als er den Toten sah, stöhnte er und taumelte weiter. »Wer sind Sie?« fragte die Präsidentin gelassen, sie stand noch immer mit der Waffe in der Hand mitten im Zimmer. »Er ist ein good guy«, sagte Hanne blitzschnell. »Polizei. Inger Johannes Mann. Nicht …« Die Präsidentin hob die Waffe. Dann reichte sie sie ihm, mit dem Kolben zuerst. »Dann nehmen Sie die wohl besser an sich. Und wenn es keine zu großen Umstände macht, würde ich jetzt gern meine Botschaft anrufen.« In der Ferne waren Sirenen zu hören. Sie wurden immer lauter.
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15 Al Muffet hatte die Leiche seines Bruders in den Keller getragen und in eine alte Truhe gelegt, die vermutlich seit dem Bau des Hauses dort unten stand. Die Truhe war nicht lang genug. Al mußte Fayed auf die Seite legen, mit angezogenen Knien und nach vorn gebeugtem Kopf, wie in Embryolage. Es war ihm absolut zuwider, an der Leiche ziehen und zerren zu müssen, aber am Ende konnte er den Deckel doch schließen. Der Koffer des Bruders stand hinten in einem Verschlag unter der Treppe. Weder der Bruder noch dessen Habseligkeiten würden lange im Haus bleiben. Das Wichtigste war jetzt, alle Spuren zu tilgen, ehe die Mädchen aus der Schule kamen. Er wollte seinen Töchtern den Anblick ihres toten Onkels ersparen. Sie sollten auch nicht ansehen müssen, wir ihr Vater verhaftet wurde. Er würde sie fortschicken. Er könnte einen unerwartet einberufenen Kongreß vorschützen, oder irgendeine wichtige Besprechung in einer anderen Stadt, und sie zur Schwester ihrer verstorbenen Mutter nach Boston schicken. Sie waren zu jung, um allein zu Hause zu bleiben. Dann würde er die Polizei anrufen. Aber erst, wenn die Mädchen untergebracht waren. Das größte Problem war Fayeds Mietwagen. Al hatte zunächst die Wagenschlüssel nicht finden können. Die lagen unter dem Bett. Vielleicht waren sie vom Nachttisch gefallen, als Al versucht hatte, Fayed zu entlocken, was er über das Verschwinden der Präsidentin wußte. Al Muffet saß auf der Treppe vor seinem pittoresken Haus in New England und schlug die Hände vors Gesicht. Was habe ich getan? Und was ist, wenn ich mich geirrt habe? Wenn alles nur auf einem schrecklichen Mißverständnis beruht? 457
Warum hast du nicht einfach etwas gesagt, Fayed? Warum hast du mir nicht geantwortet, als es noch nicht zu spät war? Er konnte das Auto in die baufällige alte Scheune fahren. Die Mädchen würden sicher nicht hingehen, keine Wildkatze hatte seines Wissens gerade Junge geworfen. Und nur kleine Katzen konnten Louise in die Scheune locken, in der es von Spinngeweben und Spinnen, die ihr wahnsinnige Angst machten, nur so wimmelte. Er konnte nicht einmal weinen. Eine eiskalte Kralle hatte ihn in der Brust gepackt und machte das Denken schwer und das Sprechen unmöglich. Und mit wem hätte er auch sprechen sollen, dachte er müde. Wer kann mir jetzt helfen? Er versuchte, den Rücken gerade zu machen und durchzuatmen. Der Wimpel am Briefkasten zeigte nach oben. Fayed hatte von einem Brief gesprochen. Von Briefen. Er schaffte es fast nicht, aufzustehen. Er mußte das Auto wegfahren. Mußte die letzten Spuren von Fayed Muffasa tilgen und sich vor der Begegnung mit seinen Töchtern zusammenreißen. Es war drei Uhr, und zumindest Louise würde früh nach Hause kommen. Seine Beine trugen ihn nur mit Mühe, als er über die Auffahrt ging. Er sah sich nach allen Seiten um. Aber weit und breit gab es keine Anzeichen menschlichen Lebens, abgesehen vom Brummen einer Motorsäge in weiter Ferne. Er öffnete den Briefkasten. Zwei Rechnungen und drei identische Briefumschläge. Fayed Muffasa c/o Al Muffet. 458
Dann die Adresse. Drei identische, ziemlich dicke Umschläge, die an Fayed geschickt worden waren, an Als Adresse. Sein Telefon klingelte. Er steckte die Briefe wieder in den Briefkasten und starrte das Display an. Unbekannte Nummer. An diesem ganzen entsetzlichen Tag hatte noch niemand ihn angerufen. Er wollte mit keinem Menschen sprechen. Er wußte nicht mehr, ob er eine Stimme hatte, und er steckte das Telefon wieder in seine Brusttasche, nahm die Briefe aus dem Briefkasten und ging langsam wieder zurück zum Haus. Aber wer immer da anrief, wollte sich nicht geschlagen geben. Al blieb stehen, als er die Treppe erreicht hatte, und setzte sich. Er mußte seine Kräfte sammeln, um das verdammte Auto wegzufahren. Das Telefon klingelte und klingelte. Er konnte das Geräusch nicht mehr ertragen, es war laut und schrill und machte ihm eine Gänsehaut. Er drückte auf den Knopf mit dem grünen Telefonsymbol. »Hallo«, sagte er, seine Stimme trug fast nicht. »Hallo?« »Ali? Ali Shaeed?« Er schwieg. »Ali, ich bin’s. Helen Lardahl.« »Helen«, flüsterte er. »Wie …« Er hatte nicht ferngesehen. Er hatte nicht einmal Radio gehört. Er war nicht in die Nähe seines Computers gegangen. Er war den ganzen Tag damit beschäftigt gewesen, über einen toten Bruder zu verzweifeln und zu versuchen, für seine Töchter auch nach diesen Ereignissen einen Sinn im Leben zu finden. Endlich fing er an zu weinen. »Ali, hör mir zu. Ich sitze in einem Flugzeug über dem Atlantik. Deshalb ist die Verbindung so schlecht.« 459
»Ich habe dich nicht verraten«, rief er. »Ich habe dir versprochen, dich nie zu verraten, und dieses Versprechen habe ich gehalten!« »Ich glaube dir«, sagte sie ruhig. »Aber du verstehst sicher, daß wir diese Angelegenheit genauer untersuchen müssen. Ich bitte dich, als erstes …« »Es war mein Bruder«, sagte er. »Mein Bruder hatte mit meiner Mutter gesprochen, als sie im Sterben lag, und …« Er verstummte und holte Luft. In der Ferne hörte er Motorendröhnen. Hinter dem Hügel mit den hohen Ahornbäumen stieg eine Staubwolke auf. Ein dumpfes, rotierendes Geräusch ließ ihn nach Westen herumfahren. Ein Hubschrauber kreiste über den Baumwipfeln. Offenbar suchte der Pilot nach einer Stelle zum Landen. »Hör mir zu«, sagte Helen Bentley. »Hör mir zu.« »Ja«, sagte Al Muffet und erhob sich. »Ich höre.« »Jetzt kommt das FBI. Hab keine Angst, okay? Sie haben ihre Befehle direkt von mir. Sie wollen mit dir reden. Sag ihnen alles. Wenn du mit der Sache nichts zu tun hast, geht alles gut. Alles. Das verspreche ich.« Ein schwarzer Wagen bog in die Auffahrt ein und kam langsam näher. »Hab keine Angst, Ali. Sag ihnen einfach, was du ihnen sagen kannst.« Die Verbindung war unterbrochen. Der Wagen hielt an. Zwei dunkelgekleidete Männer stiegen aus. Der eine lächelte und streckte die Hand aus, als er näherkam. »Al Muffet, I presume.« Al nahm die Hand, die sich warm und fest anfühlte. »Ich habe gehört, daß Sie ein Freund von Madam President sind«, sagte der Agent und wollte Als Hand nicht loslassen. 460
»Und ein Freund der Präsidentin ist auch mein Freund. Gehen wir ins Haus?« »Ich glaube«, sagte Al Muffet und schluckte. »Ich glaube, Sie sollten das hier an sich nehmen.« Er reichte ihm die drei Briefumschläge. Der Mann musterte sie ausdruckslos, dann packte er sie an der äußersten Ecke und winkte seinem Kollegen, ihm eine Tüte zu reichen. »Fayed Muffasa«, las er rasch und mit schräggelegtem Kopf, ehe er aufblickte. »Wer ist das?« »Mein Bruder. Er liegt in einer Truhe im Keller. Ich habe ihn umgebracht.« Der FBI-Agent musterte ihn für einen langen Moment. »Ich glaube, wir sollten wirklich ins Haus gehen«, sagte er und klopfte Al Muffet auf die Schulter. »Sieht aus, als hätten wir eine Menge in Ordnung zu bringen.« Der Hubschrauber war gelandet und endlich wurde es ganz still.
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16 Vom Donnerstag, dem 19. Mai 2005, war nur noch eine Stunde übrig. Die Sommerhitze hatte sich den ganzen Tag gehalten und hinterließ nun einen warmen, windstillen späten Abend. Inger Johanne hatte im Wohnzimmer alle Fenster geöffnet. Sie hatte zusammen mit Ragnhild gebadet, die danach glücklich und todmüde eingeschlafen war, sowie sie in ihrem eigenen, vertrauten Bett lag. Inger Johanne fühlte sich fast ebenso froh wie ihre kleine Tochter. Nach Hause zu kommen, war eine Läuterung, so kam ihr das vor. Sie waren so lange beim polizeilichen Sicherheitsdienst festgehalten worden, daß Yngvar am Ende Peter Salhus dazugerufen und ihm gedroht hatte, den dicken Stapel Schweigeverpflichtungen, die sie unterschrieben hatten, zu zerreißen, wenn sie nicht sofort nach Hause dürften. »Ich glaube, weitere Kinder können wir uns abschminken«, sagte Yngvar, als er in einer Schlafanzughose, die sicherheitshalber im Schritt aufgeschnitten war, breitbeinig durch das Zimmer watschelte. »Ich hab in meinem Leben noch nicht solche Schmerzen gehabt.« »Dann versuch mal, zu gebären«, sagte Inger Johanne lächelnd und klopfte neben sich auf das Sofa. »Der Arzt sagt, daß das schon klappen wird. Versuch mal, ob du hier sitzen kannst.« »… handelte sich also um eine Verschwörung in den eigenen Reihen der Amerikaner. Bei ihrer Pressekonferenz auf Gardermoen teilte Präsidentin Bentley mit, daß …« Der Fernseher lief, seit sie nach Hause gekommen waren. »Man weiß es ja nicht ganz sicher«, sagte Inger Johanne. »Daß daran nur Amerikaner beteiligt waren, meine ich.« »Das ist die Wahrheit, die wir wissen sollen. Es ist im Moment die lohnendste Wahrheit. Es ist die Wahrheit, die zu niedrigeren 462
Ölpreisen führt, ganz einfach.« Yngvar wimmerte, als er sich vorsichtig und breitbeinig niederließ. »… nach einem dramatischen Schußwechsel in der Kruses gate in Oslo, wo der amerikanische FBI-Agent Warren Scifford …« Das Bild, das sie zeigten, war sicher ein Paßfoto. Er sah aus wie ein Verbrecher, mit einem mürrischen Ausdruck in den halbgeschlossenen Augen. »… von einem namentlich nicht genannten norwegischen Geheimdienstangehörigen erschossen wurde. Quellen bei der US-Botschaft in Norwegen verlauten, daß die Verschwörung aus einer sehr kleinen Gruppe von Menschen bestand, die sich jetzt alle in polizeilichem Gewahrsam befinden.« »Das Beeindruckendste an allem ist eigentlich, wie sie es geschafft haben, sich diese Geschichte so schnell aus den Fingern zu saugen«, sagte Inger Johanne. »Vor allem, daß die Präsidentin gar nicht entführt worden war, sondern sich verstecken mußte, um auf diese Weise die Attentatspläne zu entlarven. Haben sie solche Szenarien in der Schublade liegen, oder was?« »Vielleicht. Kaum. Wir werden in den kommenden Tagen meisterliche Vernebelungsaktionen sehen können. Wenn sie die Geschichten nicht in der Schublade liegen haben, dann haben sie auf jeden Fall Leute genug, die sich mit so was auskennen. Sie feilen und schustern und kochen zusammen. Am Ende haben sie dann eine Erklärung, mit der die meisten sich zufriedengeben. Und dann kommen die Konspirationstheorien. Das hier wird für die Paranoiker wirklich ein gefundenes Fressen sein. Aber auf die hört ja niemand. Und so dreht sich die Erde weiter auf ihrer schiefen Bahn, bis es unmöglich ist, zu wissen, was Wahrheit und was Lüge ist, und bis das strenggenommen auch keinen Menschen mehr interessiert. So ist es angenehmer. Für uns alle. 463
Scheiße, das tut so weh!« Er krümmte sich. »… erwartet, daß Präsidentin Bentley, die in wenigen Stunden in ihrem Heimatland eintrifft, Saudi-Arabien und den Iran vorbehaltslos um Entschuldigung bitten wird. Eine Ansprache an die Bevölkerung der USA ist angekündigt für morgen …« »Mach das aus«, sagte Yngvar und legte den Arm um Inger Johanne. Er küßte sie auf die Schläfe. »Wir haben genug gehört. Das ist ja doch alles bloß erstunken und erlogen. Ich will nicht mehr.« Sie griff nach der Fernbedienung. Es wurde still. Sie schmiegte sich dichter an ihn und streichelte behutsam seinen behaarten Unterarm. So blieben sie lange sitzen, und sie spürte Yngvars Geruch und das Glück darüber, daß endlich der Sommer gekommen war. »Du«, sagte er leise, sie war fast eingeschlafen. »Ja?« »Ich will wissen, was Warren dir angetan hat.« Sie gab keine Antwort. Aber sie wich auch nicht zurück, wie sonst immer, wenn er auch nur die kleinste Andeutung über die Eiterbeule machte, die seit ihrer ersten Begegnung an einem warmen Frühlingstag vor fast fünf Jahren zwischen ihnen geschwärt hatte. Sie hörte nicht auf zu atmen, sie wandte sich nicht ab. Er konnte ihr Gesicht zwar nicht sehen, aber sie schien sich nicht zu verschließen oder im wahrsten Sinne des Wortes den Mund zusammenzukneifen, wie sie das sonst immer machte. »Ich finde, es wird Zeit«, sagte er und legte seine Lippen an ihr Ohr. »Es wird jetzt wohl Zeit, Inger Johanne.« »Ja«, sagte sie. »Es wird Zeit.« Sie holte tief Luft. 464
»Ich war erst dreiundzwanzig, und wir waren in DC, um …« Als sie schlafen gingen, war es drei Uhr geworden. Ein neuer Tag hob sich langsam über die Baumwipfel im Osten, und Yngvar würde niemals wissen, daß er nicht der erste war, der Inger Johannes schmerzliches Geheimnis erfuhr. Es spielt keine Rolle, dachte sie. Die allererste war die Präsidentin der USA gewesen, und die würden sie niemals wiedersehen.
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FREITAG, 20. MAI 2005 Als die Nachricht, daß Präsidentin Bentley doch noch unter den Lebenden weilte, am Donnerstagabend, nach europäischer Zeit, um die Welt lief, unterbrach Abdallah al-Rahman seine festen Gewohnheiten und schloß sich in seinem Büro im Ostflügel ein. Es war jetzt sechs Uhr am nächsten Morgen. Er fühlte sich nicht sonderlich müde, obwohl er die ganze Nacht wachgewesen war. Mehrmals hatte er versucht, auf dem niedrigen Diwan vor dem Plasmabildschirm ein Nickerchen zu machen, aber eine wachsende Unruhe hatte ihn wachgehalten. Die Präsidentin stand jetzt kurz vor der Landung auf einem namentlich nicht genannten Flugplatz in den USA. Die CNNReporter redeten wild durcheinander, um zu raten, wo sie sich wirklich befand. Die Kameraleute der US Airforce, die alle Fernsehsender der Welt mit Direktaufnahmen versorgten, achteten jedoch sorgsam darauf, daß weder Umgebung noch Gebäude ins Bild gerieten, die auch nur den geringsten Hinweis darauf geben könnten, wo die Präsidentin ihren Fuß wieder auf amerikanischen Boden setzte. Noch war nicht alles vorbei. Ohne den Fernsehton leiser zu drehen, setzte Abdallah sich an seinen Computer. Er gab eine Reihe von Suchbegriffen ein, zum sechsten Mal in sechs Stunden. Er erhielt mehrere tausend Treffer und grenzte die Suche deshalb ein. Jetzt landete er bei einigen hundert. Zögernd fügte er im Suchfeld noch ein Wort hinzu. Fünf Treffer. Er sah in aller Eile vier davon durch. Sie enthielten nichts Interessantes. 466
Der fünfte teilte ihm mit, daß der trojanische Angriff niemals stattfinden würde. Er wußte das schon, nachdem er nur wenige Zeilen gelesen hatte, zwang sich aber, den Artikel dreimal zu lesen, ehe er sich ausloggte und den PC ausschaltete. Er ging zum Diwan, legte sich hin und schloß die Augen. Das FBI hatte in einer Kleinstadt in Maine zugeschlagen, mit Hubschraubern und großem Personenaufgebot. Die Lokalreporter hatten voller Phantasie die Aktion mit Helen Bentley in Verbindung gebracht, und schon eine Stunde darauf drängten sich dort Presseleute aus dem gesamten Bundesstaat. Die lokale Polizei dagegen konnte die Öffentlichkeit damit beruhigen, daß man es hier mit einem ganz anderen Fall zu tun hatte. In Zusammenarbeit mit dem FBI waren sie schon lange einer Bande auf der Spur gewesen, die vom Aussterben bedrohte Vögel für den Verkauf auf dem schwarzen Markt fing. Ein Tierarzt aus der Umgebung war bei den Ermittlungen eine große Hilfe gewesen. Leider war einer der Vogelfänger bei der Festnahme ums Leben gekommen, ansonsten hatte die Polizei aber alles unter Kontrolle. Das Bild des Tierarztes, das im Artikel enthalten war, zeigte einen Mann, der Fayed so ähnlich sah, daß sie nur durch den Schnurrbart voneinander unterschieden werden konnten. Fayed hatte versagt. Fayed hätte nach den Instruktionen in den codierten Briefen, für die Abdallah drei Kuriere geopfert hatte, den Angriff auslösen sollen. Fayed war tot, und Madam President war wieder zu Hause. Abdallah al-Rahman rieb sich die Augen und stand vom Diwan auf. Langsam zog er die Nadeln aus der Karte. Er sortierte sie nach ihren Farben. Vielleicht würde er sie noch einmal verwenden können. Es klopfte leise an der Tür. 467
Er stutzte angesichts des Zeitpunktes. Trotzdem machte er auf. Draußen stand sein jüngster Sohn. Er war zum Reiten gekleidet und wirkte untröstlich. »Vater«, weinte Rashid. »Ich wollte mit den anderen einen Morgenritt machen. Aber dann bin ich vom Pferd gefallen, und die anderen sind einfach weitergeritten. Sie sagen, ich bin zu klein, und …« Der Junge schluchzte und zeigte dem Vater eine große Schramme am Ellbogen »Aber, aber«, sagte Abdallah und ging vor seinem Sohn in die Hocke. »Du mußt es einfach wieder probieren, weißt du. Du wirst nie etwas schaffen, wenn du es nicht immer wieder probierst. Jetzt komme ich mit, und dann reiten wir zusammen.« »Aber … ich blute doch, Papa!« »Rashid«, sagte Abdallah und blies auf die Wunde. »Von einer kleinen Niederlage lassen wir uns nicht umwerfen. Es tut eine Weile weh, dann machen wir einen neuen Versuch. Bis wir Erfolg haben. Verstehst du?« Der Junge nickte und wischte sich die Tränen ab. Abdallah nahm seinen Sohn an die Hand. Als er die Tür hinter sich zuziehen wollte, fiel sein Blick auf die große USA-Karte. Hier und dort saß darin noch eine Nadel, in einem schiefen, vagen Muster ohne System und Struktur. 2010, dachte er und blieb stehen, um über diese Jahreszahl nachzudenken. Bis dahin werde ich stark genug für einen neuen Versuch sein. 2010. »Was hast du gesagt, Vater?« »Nichts. Gehen wir.« Sein Entschluß stand bereits fest.
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NACHBEMERKUNG DER AUTORIN In diesem Buch habe ich mir mit einigen öffentlichen Personen Freiheiten herausgenommen, indem ich ihnen Aussagen in den Mund gelegt habe. Ich habe mich bemüht, dabei den gehörigen Respekt walten zu lassen, und ich hoffe, daß mir das gelungen ist. Große Freiheit habe ich mir auch in bezug auf ein Gebäude in Oslo herausgenommen, das Thon Hotel Opera, das im Buch nur Hotel Opera heißt. Ich brauchte die Lage des Hotels, um diese Geschichte zu erzählen, und ich habe mich bei Aussehen und Standort des Hotels an die Wirklichkeit gehalten. Von innen allerdings ist das Hotel in diesem Buch ein reines Produkt meiner Phantasie. Das gilt natürlich auch für die im Buch auftretenden Hotelangestellten. Larvik, Juni 2006 Anne Holt
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