Kelter-Verlag
Die Nacht der lebenden Leiche
Ein Unhold terrorisiert die Weltstadt London
Andrew Hathaway
Geister-T...
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Kelter-Verlag
Die Nacht der lebenden Leiche
Ein Unhold terrorisiert die Weltstadt London
Andrew Hathaway
Geister-Thriller Nr. 11
(Nachdruck von Geister-Krimi Nr. 009, 1. Auflage)
V 1.0 by Dumme Pute
13. November 1873, 5 Uhr früh:
Hank Colby, das Ungeheuer von London, wird gehenkt.
Der Scharfrichter prüft den Sitz des Knotens unter dem Kinn
des Verurteilten. Colby grinst ihn höhnisch an, richtet sich hoch auf. »Ihr könnt mich nicht töten«, schnarrt er. »Ich komme wie der, dann zahle ich es euch heim!« Etwas anderes haben die Zeugen der Hinrichtung von dem dreizehnfachen Mörder nicht erwartet. Diese Bestie kennt keine Gefühle. Der Strick strafft sich. Wirbel werden getrennt. Hank Colby ist tot. Er ist mit einem grausigen Lächeln um die Lippen gestorben. Das Lächeln ist noch auf den Zügen eingefroren, als die Leiche in einem Nebenraum auf dem Steintisch liegt. Die Arme sind über der Brust verschränkt. Der Tote liegt auf dem Rücken. Als die Leiche abtransportiert wird, liegt sie auf dem Bauch. Die Arme baumeln seitlich vom Steintisch hinunter. Kein Mensch war im Raum, der die Leiche hätte umdrehen können. Niemand beachtet das an diesem nebligen, grauen, tödlichen 13. November 1873.
Aber Zeugen haben Aufzeichnungen gemacht, die mehr als hundert Jahre später die erste Kunde des Grauens von London geben.
Der neutrale schwarze Polizeiwagen fuhr mit mäßiger Ge schwindigkeit über die Whitechapel Road auf die City von London zu. Chefinspektor Kenneth Hempshaw, ein Mann mit grauen Schläfen und einem kantigen Gesicht, beobachtete mit einem abwesenden Blick den dichten Verkehr. Er war mit seinen Gedanken weit weg. Das heißt, so weit war es gar nicht. Er beschäftigte sich nur mit allem anderen, ausgenommen die Verkehrsprobleme von London. Als einer der leitenden Beamten von New Scotland Yard hatte er kurz zuvor von seinem Vorgesetzten eine Rüge einge steckt, wie sie sonst nur ein Streifenpolizist erhielt, wenn er einem Einbrecher die Werkzeugtasche reichte. Chefinspektor Kenneth Hempshaw mußte sich eingestehen, daß er diese Rüge nicht ganz unverdient erhalten hatte. Schließlich wurde London seit Wochen von einer Verbrechens serie terrorisiert, die ihresgleichen suchte. Und er als ver antwortlicher Untersuchungsbeamter des Yards hatte nichts, rein gar nichts herausgefunden. Die Polizeiberichte, die von Spuren sprachen, waren reiner Unsinn, der an die Presse her ausgegeben wurde, um eine Panik unter der Bevölkerung zu vermeiden. Der Chefinspektor wußte nur mehr einen einzigen Ausweg aus dieser verfahrenen Situation: er mußte sich an einen Ama teur wenden, einen persönlichen Bekannten, der . Kenneth Hempshaw wurde jäh aus seinen Gedanken geris sen. Der Polizeiwagen stoppte vor einer roten Ampel. Auf der Nebenspur stand eine mit schwarzen Vorhängen verkleidete Li mousine. Hempshaw wendete den Kopf.
Ein Leichenwagen. Er sah die winzige Bewegung, sah ein schwarzes Rohr zwi schen den schwarzen Vorhängen auftauchen, wie es herausge schoben wurde und genau auf ihn zeigte. »Vorsicht!« brüllte Hempshaw, dann spuckte die Waffe auch schon ihre tödliche Ladung. Die Seitenscheibe des Polizeiwagens splitterte. Hempshaw erhielt einen Schlag an den Kopf. Er brach zusammen, rollte vom Sitz auf den Wagenboden. Streifschuß! Wieder blitzte es zwischen den Vorhängen des Leichenwa gens hervor. Der Fahrer, der gerade nach dem Mikrofon gegrif fen hatte, um einen Notruf durchzugeben, schrie gequält auf. »Leitstelle!« kam es aus dem Lautsprecher. »Überfall!« keuchte der Fahrer. »Whitechapel Road .« Dann traf ihn die Todeskugel.
Seinen Morgan, einen dunkelgrünen offenen Roadster alter Bauart, liebte Rick Masters mehr als alles in der Welt. Das behauptete er zumindest. Daher schmerzte es ihn, daß sein Prunkstück nicht anspringen wollte, als er an diesem Abend das »Splendor« verließ, in dem er sich den neuesten Kriminal film angeschaut hatte. Der Morgan stand auf dem Parkplatz und gab keinen Ton von sich, als Rick den Anlasser betätigte. »Mist!« fluchte der junge Privatdetektiv. Aus dem Kino strömten noch immer Leute. Viele standen am Straßenrand und winkten Taxis heran. »Das kann lange dauern«, fluchte der Detektiv weiter. Wenn sein Morgan nicht funktionierte, befand er sich stets in schwärzester Laune. Zudem war auch noch der Film schlecht gewesen. Zu Ricks größter Überraschung hielt neben ihm ein Wagen. Der Fahrer beugte sich heraus.
»Taxi, Sir?« fragte er. Rick schaute sich um. Auf dieser Straßenseite winkte nie mand nach einem Wagen, daher mußte er gemeint sein. Wes halb der Fahrer ausgerechnet ihn ausgesucht hatte, wußte er nicht, aber er nützte die günstige Gelegenheit, schwang sich in den Fond des Taxis und nannte seine Adresse in der City. Vom gegenüberliegenden Bürgersteig erklangen Protestrufe. »Glück gehabt«, meinte der Fahrer, »daß ich ausgerechnet auf der rechten Spur gefahren bin und nicht aus der Kolonne ausscheren wollte.« Er grinste breit in den Rückspiegel. »Sonst hätten Sie lange warten können.« »Allerdings«, antwortete Rick Masters wortkarg. Er dachte an seinen Morgan, den er am liebsten selbst an Ort und Stelle repariert hätte. Was konnte dem Karren fehlen? Er hatte ihn doch erst vor zwei Wochen zur Generalinspektion gegeben. Er schob die Trennscheibe auf. »Sie machen einen Umweg«, sagte er schroff zu dem Fahrer. »Bringen Sie mich auf schnellstem Weg .« »Wird gemacht«, gab der Mann ruhig zurück und betätigte einen Knopf am Armaturenbrett. Augenblicklich glitt die Trennscheibe in ihre ursprüngliche Lage. »Das ist nur, um Sie von übereilten Reaktionen abzuhalten.« Er lachte über Mi krofon und Lautsprecher. Rick versuchte die Türklinke. Sie ließ sich durchdrehen. »Eine Entführung?«, fragte er mit aufsteigendem Ärger. »Nicht ganz, Mr. Masters. Greifen Sie unter den Sitz und stellen Sie das Tonbandgerät ein! Dann werden Sie alles ver stehen.« Rick Masters verstand nichts, aber er hatte gelernt, in allen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren. Vorsichtig tastete er unter den Sitz, fand einen kleinen Cassettenrecorder und schaltete ihn auf Wiedergabe. »Entschuldigen Sie die Belästigung«, hörte er die Stimme eines alten Bekannten. »Aber ich wage es nicht, persönlich
oder über Telefon Kontakt mit Ihnen aufzunehmen. Als ich in Ihr Büro fahren wollte, wurde ein Mordanschlag auf mich verübt, mein Fahrer wurde dabei getötet.« »Das ist Chefinspektor Hempshaw!« entfuhr es dem jungen Detektiv. »Dann gehört das Taxi der Polizei?« »Allerdings, Mr. Masters«, bestätigte der Fahrer. »Der Che finspektor wollte zuerst über das Funkgerät mit Ihnen spre chen, aber dann glaubte er, der Funkverkehr könnte abgehört werden. Bitte, Sir, hören Sie weiter!« »Rick«, kam die Stimme Hempshaws vom Tonband, »ich brauche Sie für einen verzweifelten Fall! Es geht um das Grau en von London!«
Die Underground war wieder einmal zum Bersten voll. Will Derring stand, eingeklemmt zwischen den Fahrgästen, vom Trafalgar Square bis Regents Park. Dann wurde es ihm zuviel, und er beschloß, das letzte Stück nach Hause zu Fuß zu gehen. Will Derring trug noch immer seinen blauen Arbeitskittel, obwohl es längst dunkel geworden war. Er hatte nach den Überstunden keine Zeit mehr gehabt, sich umzuziehen oder den Schmutz von seinen Kleidern zu bürsten. Er wohnte ganz nahe am Regents Park. Daher konnte es sich später niemand erklären, daß er vor der Station der Under ground ein Taxi herangewinkt hatte, eingestiegen war und als Fahrtziel den Piccadilly Circus angegeben hatte. Der Taxifahrer sagte vor der Polizei aus, sein Fahrgast wäre geistig abwesend gewesen, scheinbar schwer betrunken. Im Blut der Leiche fand man keinen Alkohol, auch keine Drogen. Am Piccadilly Circus, der gegen 22 Uhr von brausendem Lärm erfüllt war, erstarrten die Kinogänger, Vergnügungs süchtigen und Nachtschwärmer, als ein gräßlicher Todesschrei über den Platz gellte. Eine von siebzehn Messerstichen gezeichnete Leiche rollte auf die Straße.
Will Derring war einen grausamen Tod gestorben.
». wissen Sie sicher«, sagte zur gleichen Zeit die Stimme von Chefinspektor Kenneth Hempshaw aus dem Lautsprecher des Cassettenrecorders. »Ich komme mit der Aufklärung dieser Verbrechensserie nicht voran. Auf unsere frühere Zu sammenarbeit verweisend, bitte ich Sie um Hilfe. Masters, lassen Sie uns nicht im Stich!« Das Band war abgelaufen. Rick Masters schaltete das Gerät ab. Auf seinem von einer tiefen Narbe zerfurchten Gesicht erschien ein harter Ausdruck. Er klopfte an die Trennscheibe. »Sie können dem Chefinspektor sagen, daß ich für ihn arbei te«, rief er dem Fahrer zu. »Und jetzt bringen Sie mich nach Hause!« »Wir sind schon da, Sir«, erwiderte der Driver. »Genau mit dem Tonband abgestimmt.« Rick bezahlte, als handelte es sich um ein gewöhnliches Taxi, dann stieg er vor seinem Wohnbüro aus, das sich oberhalb des ältesten Caffs der City von London befand. Die schmale Tür knarrte in den Angeln, die Steintreppe war ausgetreten und steil. Hier fühlte sich Masters wohl, ebenso wie in der Unordnung in seinem Büro, in dem eine Couch und ein Kleiderschrank für die Bezeichnung »Wohn«Büro sorgten. Der junge Detektiv warf sich auf die Couch und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Kenneth Hempshaw irrte sich, wenn er glaubte, Rick würde sich erst nach der Aufforderung zur Mitarbeit um die grau enhafte Mordserie von London kümmern. Rick Masters hatte nämlich bereits seit Beginn der Morde seine eigenen Recher chen angestellt. Und er war dabei auf etwas so Ungeheuerliches gestoßen, daß er selbst noch nicht daran zu denken wagte. Es hätte nämlich bedeutet, daß eine Katastrophe bisher unge
ahnten Ausmaßes bevorstand.
Ursprünglich hatte der Chefinspektor keinen persönlichen Kontakt mit Rick Masters aufnehmen wollen, aber der neue Mord am Piccadilly Circus zwang ihn dazu. Unter Beachtung aller Vorsichtsmaßnahmen kamen sie auf einer Müllkippe außerhalb von London zusammen. »Einen makabren Ort haben Sie sich ausgesucht, Hemps haw«, sagte Rick Masters zur Begrüßung. Der Chefinspektor schaute sich unbehaglich um. »Immer noch besser als ein Leichenschauhaus«, brummte er und schlug den Mantelkragen hoch, weil es leicht zu regnen begonnen hatte. »Denken Sie nur an den Anschlag, der auf mich verübt wurde, als ich zu Ihnen fahren wollte.« »Schon eine Spur?« wollte der junge Detektiv wissen. Hempshaw schüttelte den verbundenen Kopf. »Eine reine Profiarbeit. Irgendwie muß ich jemandem in der Unterwelt arg auf die Zehen gestiegen sein.« Der Chefinspektor machte eine kurze Pause, in der er seinen Blick über Schuttberge, alte Gummireifen, verrostete Herde und Autowracks schweifen ließ. »Wenigstens können Sie diesmal nicht behaupten, Ma sters, daß Übernatürliches im Spiel ist. Das war ein sauberer Überfall nach sehr irdischer Methode.« Chefinspektor Kenneth Hempshaw spielte auf vorangegange ne Fälle an, in denen Rick Masters nachgewiesen hatte, daß Verbrechen durch übernatürliche Kräfte verübt wurden. Durch Zufall auf die Spur von Vampiren in einem schotti schen Herrensitz gebracht, hatte der Detektiv nicht nachge lassen, sich mit okkulten Vorgängen zu befassen, bis er zu einem ausgesprochenen Experten auf diesem Gebiet geworden war. Von dem Fall in Schottland hatte er auch die Narben un terhalb des rechten Auges und auf den Unterarmen zurück behalten, Spuren der Krallen eines Vampirs. Chefinspektor Kenneth Hempshaw, der damals in Schottland
ebenfalls ohne sein Wissen in die grausige Kette von Untaten der Vampire verstrickt worden war, stellte die Verbindung zwischen Rick Masters und hohen und höchsten Staatsstellen her, denen schon lange das Wirken böser Mächte bekannt war, denen man mit den üblichen Methoden der Kriminalistik nicht zu Leibe rücken konnte. Fast ohne sein Zutun war Rick Ma sters, der erfolgreiche Privatdetektiv aus London, zu einem Geheimnisträger erster Ordnung geworden, weil vor der Öf fentlichkeit das Eingreifen der bösen, teuflischen Mächte in das menschliche Leben strengstens geheimgehalten wurde. Auf allerhöchsten Befehl gaben die Polizeidienststellen ver schleierte Nachrichten über die einzelnen Fälle heraus, in de nen von Unfällen und unbekannten Tätern gesprochen wurde. Rick Masters sagte nichts zu der Behauptung des Chefin spektors, daß es sich diesmal um nichts Übernatürliches han delte. Seine Laune hatte sich seit dem Kinobesuch vor fünf Stunden nicht sonderlich verbessert. Zwar war sein Morgan blitzschnell repariert worden, weil er von einem Fachmann von Scotland Yard nur außer Gefecht gesetzt worden war, damit Rick das getarnte Taxi benutzen mußte, aber die Zeiger seiner Uhr zeigten bereits auf vier Uhr morgens. Zu dieser Zeit pflegte Rick in seinem Wohnbüro tief und fest zu schlafen und sich nicht auf Müllkippen herumzutreiben. »Eines verstehe ich nicht, Hempshaw«, sagte er nach einer Weile. » Zuerst machen Sie ein solches Theater mit falschem Taxi und Tonband, wie in einem richtigen Spionagefilm, und dann kommen Sie doch mit mir zusammen. Ist etwas gesche hen?« »Scharfsinnig kombiniert, Sherlock Holmes«, biß der Chefin spektor, dessen Nerven zum Zerreißen gespannt waren. »Wie der wurde ein Mord verübt, der in die Kette der bisherigen Verbrechen paßt.« Ricks Hände, die eine Zigarette ansteckten, zitterten leicht. Hempshaw merkte es im schwachen Schein des Feuerzeugs,
und er wunderte sich darüber, weil er den Privatdetektiv beson ders seiner eisernen Nerven wegen schätzte. »Wieso geht Ihnen das so unter die Haut, Masters?« fragte er erstaunt. Rick nahm erst ein paar Züge an seiner Zigarette, die fast augenblicklich von dem feinen Nieselregen feucht wurde. Er mußte sich beruhigen. Jetzt wurde es sich herausstellen, ob seine gräßliche Theorie stimmte. Wenn ja . »Der Mord ereignete sich gegen 22.30 Uhr«, sagte Rick Ma sters mit leicht bebender Stimme. »Ermordet wurde ein Mann in einem blauen Arbeitskittel, und zwar auf dem Piccadilly Circus. Er wurde durch siebzehn Messerstiche grausam zu gerichtet.« Der Chefinspektor war so verblüfft, daß er minutenlang kein Wort hervorbrachte. »Sie sind ein Schlickenfänger, Masters«, stieß er endlich zwi schen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Wie haben Sie das herausgefunden? Wir haben den Tatort so abgeschirmt, daß nicht mal die findigsten Reporter Einzelheiten des Mordes erfahren haben. Bekannt ist nur, daß auf dem Piccadilly Circus ein Mann ermordet wurde, sonst nichts.« Der junge Detektiv mußte einen kurzen, aber heftigen Kampf mit sich selbst ausfechten. Sollte er den Chefinspektor über alles informieren? Wie würde Hempshaw auf die Eröffnung reagieren, daß wohl auch in diesem Fall eine böse Macht, die das Verderben der Menschen anstrebte, die Herrschaft an sich reißen wollte? Die Entscheidung war rasch getroffen. »Ich habe Augen und Ohren«, wehrte der Detektiv ab. Er hatte nichts von dem Mord gewußt, sondern ihn nur vorausbe rechnet. Daß er nicht eingegriffen hatte, lag nur daran, daß er niemals an die Richtigkeit seiner Theorie geglaubt hatte. Jetzt fand er sie bestätigt. Gleichzeitig wußte Rick Masters aber noch etwas: wann und
wo sich der nächste Mord ereignen wurde. Und noch etwas wußte Rick Masters: er wurde alles daran setzen, um diesen Mord zu verhindern. Von seiner Machtlosigkeit hatte er keine Ahnung.
Die Unterredung auf der Müllkippe hatte etwa eine Stunde gedauert. Todmüde kam Rick Masters in sein Wohnbüro in der City zurück, als der Tag bereits graute. Doch aus der ersehnten Ruhe wurde wieder nichts. Zwei unauffällig gekleidete Männer traten auf den jungen Detektiv zu, zeigten kurz ihre Ausweise und forderten Rick zum Mitkommen auf. »Hier geht es nicht zum Hauptquartier des Geheimdienstes lang«, wandte Rick nach einigen Minuten ein. Die schwarze Limousine näherte sich bereits dem Stadtrand. »Wir fahren auch nicht in die Zentrale«, erklärte der eine Ge heimdienstmann, ein vierschrötiger Kerl mit einem brennend roten Schnurrbart und unzähligen Sommersprossen. »Sie wur den von Chefinspektor Hempshaw um Mitwirkung bei der Aufklärung der Verbrechensserie in London gebeten.« Rick nickte bestätigend, hüllte sich aber ansonsten in Schweigen. Er wollte seine Theorie ganz für sich behalten. »Der Chefinspektor kann keinen Erfolg haben, Mr. Masters«, fuhr der Geheimdienstler fort. »Er weiß nämlich nicht, daß es vor fünfzehn Jahren bereits einmal eine solche Serie gegeben hat, die sich genau mit den jetzigen Fällen deckt.« Nur durch eiserne Selbstbeherrschung konnte Masters seine grenzenlose Überraschung und Bestürzung verbergen. Es war ihm bekannt, daß es in der Londoner Kriminalgeschichte im 19. Jahrhundert eine Folge von Bluttaten gab, die sich mit den heutigen Verbrechen genau deckte, doch von den fünfzehn Jahre zurückliegenden Fällen war ihm nichts bekannt. »Damals waren die Opfer Angehörige unseres Geheimdien stes«, fuhr der Mann mit dem roten Schnurrbart fort. »Wir
schalteten Scotland Yard aus und kümmerten uns selbst um die Aufklärung. Als Täter - nach der dreizehnten Bluttat fingen wir einen feindlichen Spion, der bei einer Schießerei mit unseren Leuten ums Leben kam.« »Ist das absolut zuverlässig?« erkundigte sich Masters, der gelernt hatte, den Leuten vom Geheimdienst nicht über den Weg zu trauen. Der Rothaarige nickte ernst. »Das ist zuverlässig«, bestätigte er. »Ich selbst habe den Mörder erschossen.«
Nach einer Weile fuhr der Sicherheitsbeamte fort: »Wir be gruben den Toten in aller Stille auf einem kleinen Dorffriedhof. Niemand weiß davon, außer einigen unserer höchsten Vorge setzten.« »Und jetzt fahren wir zu diesem Friedhof?« fragte Rick. Der Geheimdienstler nickte. »Was versprechen Sie sich davon?« »Ich hatte unter anderem auch mit den von Ihnen gelösten Fällen zu tun, Mr. Masters«, erklärte der Mann mit den Som mersprossen, der durch sein Aussehen an einen rothaarigen Bären erinnerte. »Dadurch sind mir - hm, nun ja - unerklär liche Vorgänge nicht fremd.« Mehr war aus ihm nicht herauszubekommen. Sein Kollege sprach überhaupt kein Wort. Die Fahrt ging über freies Land in nördlicher Richtung. Die Dächer eines verschlafenen Dorfes tauchten auf, ein Kirchturm reckte seine Spitze gegen die tiefhängenden Wolken. Der Himmel strahlte ein geisterhaft bleiches Licht aus. Die Land schaft war rauh, kalt, ungastlich. Der Friedhof lag außerhalb des Dorfes, etwa drei Meilen, so daß sie keine Überraschungen zu fürchten hatten. Männer in typischer Stadtkleidung standen an der einzigen Zufahrtsstraße, scheinbar Spaziergänger, in Wirklichkeit Geheimdienstleute, die den Friedhof hermetisch abschirmten.
Keine Uniform, kein offizieller Beamter waren auf dem Friedhof zugegen. Der Totengräber des Dorfes wußte nichts von der heimlichen Arbeit. Die Anweisung zur Öffnung des Grabes eines feindlichen Spions, der vor fünfzehn Jahren unter den Kugeln eines briti schen Agenten gestorben war, kam von höchster Stelle. Der Spaten fraß sich Biß für Biß in modrig riechendes, schwarzes Erdreich, drang in die Tiefe, stieß auf etwas Hartes. Der Rothaarige untersuchte den heraufgehievten Sarg und sagte: »Die Siegel sind unversehrt. Kein Mensch hat diesen Sarg geöffnet.« Dann nickte er, der Deckel öffnete sich, nach dem ein kompliziertes Schloß aufgesperrt worden war. Die hartgesottenen Männer vom Geheimdienst wurden weiß. Einer stieß einen leisen Ruf aus, ein zweiter murmelte etwas, das niemand verstand, vielleicht nicht einmal er selbst. Der Sarg war nicht leer, wie Rick erwartet hatte. Mit zitternden Fingern deutete der Rothaarige auf den blutbe fleckten Anzug, die Schuhe, die Krawatte, das zerrissene Hemd. »In diesen Kleidern habe ich ihn erschossen, und in diesen Kleidern haben wir ihn begraben. Nur .« Nur, wo ist die Leiche? Diese Frage sprach er nicht ganz aus. Die Kleider lagen so, wie sie den Körper des Toten umschlossen hatten, im Sarg. Aber von der Leiche fehlte jede Spur. Nicht das kleinste An zeichen von Verwesung war zu sehen, der Stoff hatte fünfzehn Jahre überstanden, als hätte er in einem Kleiderschrank gehan gen. »Wenn jemand die Leiche gestohlen hätte, dann hätte er doch die Kleider nicht vorher ausgezogen«, sagte Rick in die drük kende Stille. »Und dann hätten die Kleider nicht die Form, als steckte der Tote noch in ihnen.« Er streckte die Hand aus, berührte den Anzug. Mit einem lei sen Zischen zerfiel der Anzug, zerfiel das Hemd, die Krawatte,
die Schuhe. Die Männer fröstelten, obwohl ihnen Schweiß in Strömen über Gesicht und Rücken lief.
Warum er den Agenten des Geheimdienstes nichts von seiner Theorie sagte, wußte Rick Masters selbst nicht genau. Jeden falls mußte er sich schnellstens davon überzeugen, ob sie stimmte. Und wenn ja, welches Gegenmittel es gab. Im Augenblick wußte er nicht, wie er das tun sollte, weil da zu umfangreiche Nachforschungen in alten Archiven nötig gewesen wären. Und dazu hatte er keine Zeit. Der Zufall kam ihm zu Hilfe. Es war schon zu spät, um sich noch schlafen zu legen, wes halb Rick beschloß, eine Kleinigkeit zu essen. Er betrat eine Imbißstube in der Nähe von New Scotland Yard, und der erste markante Anblick, der ihm in die Augen stach, war Dr. Ster ling, Pathologe des Yard. Rick setzte sich zu dem weißhaarigen Mediziner an den. Tisch. »Unser Meisterdetektiv!« wurde er von Dr. Sterling begrüßt, der für seine scharfe Zunge bekannt war. »Aber im Augenblick brauchen Sie mir keine Leichen zu liefern, ich bin versorgt.« Rick Masters gab seine Bestellung auf und fixierte den Pa thologen plötzlich scharf. Vielleicht konnte er helfen. »Wundert mich«, fuhr Dr. Sterling mit einem leicht spötti schen Lächeln fort, »daß Sie sich noch nicht um die Serie von Verbrechen kümmern, die meine Labortische füllt. Oder küm mern Sie sich doch darum?« Masters winkte ab. »Im Augenblick interessiert mich nur eine einzige Leiche«, erklärte er, und es stimmte auch. »Der Mann wurde vor hundert Jahren hingerichtet.« Der alte Pathologe pfiff durch die Zähne. »Hank Colby, das Ungeheuer von London!« sagte er, und seine Augen funkelten hinter den Brillengläsern. »Die unheim
lichste Leiche der Kriminalgeschichte.«
Er saß in seinem Studierzimmer. Der Raum, ganz in Schwarz gehalten, von den Vorhängen bis zum Teppich, war mit Re galen vollgestellt, auf denen sich Bücher türmten, alte Folian ten, Schriftrollen mit gotischen Zeichen, Steintafeln mit einge ritzten Hieroglyphen. Er, der Meister, war stolz auf diese einzigartige Sammlung, in der die bösen, gehässigen und teuflischen Gedanken von un zähligen Generationen zusammengetragen waren. Jeder Satz, jede Seite, jedes Buch, jede Schriftrolle enthielt den Tod in mannigfacher Form. Das qualvolle Hinscheiden von Menschen wurde beschrieben und die Methode, wie diese Menschen unter unsäglichen Qualen getötet worden waren. Geheimrezepte, für die jeder militärische Führungsstab der Welt ein ungeheures Vermögen bezahlt hätte, stapelten sich auf den Regalen, die jedoch nur drei Seiten des Studierzimmers einnahmen. Die dritte Seite war mit schwarzem Samt ausgeschlagen. Ein Kreuz, das vom Boden bis zur Decke reichte, hing verkehrt herum vor dem düsteren Hintergrund. Es war kunstvoll gear beitet, verschnörkelt und verziert, wie es kein Handwerker und auch kein Künstler der heutigen Zeit anfertigen konnte. Über haupt schien es nicht von dieser Welt zu sein, ebenso wie das Material keines irdischen Ursprungs sein konnte. Silber auf den ersten Blick, doch bei längerem Hinsehen be gann das Kreuz zu leuchten, zu glühen, zu glimmen wie die Augen einer reißenden Bestie in einem schaurigen Wald, durch dessen galgenförmige Bäume die Strahlen eines bleichen Mon des hindurchstechen. Das helle Tageslicht hielten die schweren schwarzen Samt vorhänge völlig ab, so daß das Studierzimmer in Dämmerlicht getaucht war, das von drei ebenfalls schwarzen Kerzen aus strahlte. Im flackernden Schein schaute sich der Meister stolz um.
Sein zerfurchtes, wächsernes Gesicht wandte sich den Regalen zu, auf denen die Werke der Meister der Schwarzen Magie standen und lagen. »Ich danke euch, meine Vorgänger«, sagte der Meister in ei ner leisen, singenden Stimme. »Ich danke euch für die Hilfe, die ihr mir habt angedeihen lassen. Ohne euch hätte ich mein großes Werk nie vollenden können.« Ein Strahlen erhellte seine vollkommen farblosen Augen, die nur weiße Augäpfel mit den schwarzen Flecken der Pupille waren. »Ihr wart groß«, setzte er sein Gespräch mit den längst Ver blichen fort, »aber ich bin der Größte von euch allen. Ich habe die Vollendung erreicht.« Seine glasigen Augen schwenkten zu einem handgeschriebe nen Buch, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag, einem Schreibtisch, gefertigt aus Menschenknochen. »Ich habe die höchste Macht erreicht, ich werde über alle Reiche herrschen!« Seine Hand streckte sich nach dem verkehrt stehenden Kreuz aus. Ringe aus demselben Material wie das Symbol des Teufli schen blitzten an seinen Fingern. Ein feines Sirren erklang, die Metalle schienen heller und heller, bis von ihnen ein Leuchten ausging, das alle Farbe im menschlichen Körper zerstörte. Dem Meister machte es nichts aus, daß sein Haar schlohweiß geworden war, daß sich seine Haut wie Pergament anfühlte und die Bleiche des Todes angenommen hatte. Er fühlte sich stark, als er seine weißen Augen auf das umge drehte Kreuz richtete. Seine Gedanken konzentrierten sich, pflanzten sich durch die Ringe auf das Kreuz fort, das zu beben begann, blendendes Gleißen ausstrahlte und vor den Blicken des Meisters verschwamm. Der Mund mit den farblosen, durchscheinenden Lippen be wegte sich, murmelte beschwörend alte Formeln, Anrufungen, Sprüche der Schwarzen Magie.
Das verkehrte Kreuz gab ein Klingen von sich, das dem Klang von zerspringendem Metall ähnelte, nur viel stärker und lang anhaltend. Der Meister stand auf, reckte sich, trat Schritt für Schritt auf das Kreuz zu. Seine Hand näherte sich dem unheimlichen Me tall. Ein kurzes Zögern. Der Meister wußte, was ihn erwartete. Die Finger berührten das Metall. Unter ohrenbetäubendem Krachen zuckte ein Blitz von den Ringen des Meisters zum Mittelpunkt des umgedrehten Kreuzes. Einen qualvollen, tonlosen Schrei auf den durchscheinenden Lippen, stürzte der Meister, wie vom Blitz getroffen, vor dem Kreuz zu Boden.
»Sie kennen also den Fall Colby, Dr. Sterling?« fragte Rick Masters erfreut. »Dann wissen Sie vielleicht auch, wo er be graben ist?« Der alte Pathologe weidete sich an seiner Überlegenheit. Er mochte den jungen Detektiv ganz gut leiden, obwohl er an sonsten weder von jungen noch von alten Leuten etwas hielt. Der Doktor war als Menschenfeind verschrien, als Sonderling, der sich nur seinem Beruf und seinen privaten Studien widme te. Doch, gestand sich Dr. Sterling ein, er mochte Rick Masters und seinen jugendlichen Schwung und Mut. Wie er da ihm ge genüber in der Imbißstube saß - groß, das krause, widerspen stige, blonde Haar etwas wirr in die Stirn hängend, empfand er beinahe väterliche Gefühle für den Detektiv. Dennoch konnte er es nicht unterlassen, Rick, wie das seine Art war, ein wenig zappeln zu lassen. »Natürlich weiß ich es, Masters«, sagte er freundlich. »Aber ich bin überzeugt, daß Sie nicht auf die Hilfe eines senilen Pathologen angewiesen sind.« Und bevor Rick gegen diese
Behauptung protestieren konnte, fuhr er mit einer Frage fort: »Weshalb interessieren Sie sich für Hank Colby? Ist Ihnen etwas aufgefallen?« Masters wußte, daß ihm der alte Pathologe gut gesonnen war, er wußte aber auch, daß es keinen Sinn hatte, Dr. Sterling mit ein paar Lügen abspeisen zu wollen. Trotzdem ärgerte es ihn, daß seine Theorie offensichtlich nicht mehr sein alleiniges Geheimnis war. Als hätte er Ricks Gedanken erraten, sagte Dr. Sterling: »Keine Angst, Masters, ich spreche mit niemandem darüber. Also, ist Ihnen auch aufgefallen, daß alle Verbrechen, die den alten Scotland Yard so in Atem halten, nach genau demselben Schema begangen wurden wie die Untaten von Hank Colby, hingerichtet im Jahre 1873?« Rick blieb nichts anderes übrig, als stumm zu nicken. »Dann will ich nicht weiter in Sie dringen, Masters«, ent schied der Pathologe. »Geheimnisse sollen bewahrt bleiben. Ja, ich weiß, wo die Leiche Colbys liegt. Aber ich warne Sie, Masters! Ich spiele mich sonst nicht als weise Eule auf, aber in diesem Fall warne ich Sie!« Rick hatte die Augen des alten Mannes noch nie so ernst ge sehen wie in, diesem Augenblick, als er sagte: »Rick Masters, lassen Sie die Finger von Hank Colbys Lei che! Es kann Ihnen nur Unglück und Verderben bringen!«
Auf dem Grabstein stand Hank Wilkins und nicht Hank Colby, wie die Inschrift eigentlich hätte lauten müssen. Die Behörden hatten genau gewußt, was sie taten, als sie den Hingerichteten unter einem falschen Namen auf einem ge wöhnlichen Friedhof beerdigten. Das heißt, sie hatten geglaubt, es genau zu wissen. Welchen Unterlassungsfehler die Verant wortlichen begangen hatten, als sie nicht auf die Warnungen Eingeweihter hörten, wußte niemand. Es war aber auch nie mandem ein Vorwurf zu machen, denn die Behauptungen
einiger Wissender klangen zu absurd, um wirklich ernst ge nommen zu werden. Als man den Stein mit dem falschen Namen aufstellte, dachte man nur an das Aufsehen, das der Fall Colby in aller Welt erregt hatte und vor allem im Laufe der Zeit erregte, als die Zeitungsreporter in den alten Polizei und Gerichtsarchiven stöberten. Man wollte verhindern, daß Andenkenjäger die Grabstätte schändeten. Tatsächlich besuchte niemand das Grab Hank Colbys. Es war im Laufe der Jahre verwildert, über und über mit Efeu verwu chert und vom Unkraut hoch bedeckt. Der kleine Friedhof bot Platz genug für die Toten, so daß bis her noch kein einziges Grab aufgemacht worden war. Auch das Grab des Gehenkten nicht. Es lag in einer Ecke des Friedhofs, abseits von den anderen neben einem kleinen Brunnenhaus. Die Sonne hatte sich am Vormittag durch die Wolken ge drängt, beschien warm und freundlich den verschlafenen Friedhof. Ein frischer Wind vertrieb die düsteren Wolken, blauer Himmel lachte auf die Erde herunter. Doch plötzlich verdüsterte sich der Friedhof. Die Sonnen strahlen waren wie ausgelöscht. Die angenehme Wärme des Mittags verwandelte sich in Kälte, in eisigen Hauch. Blumen auf frischen Gräbern verwelkten innerhalb von Sekunden, als hätte sie der Tod selbst berührt. Ein alter Mann, der zu dieser Zeit das Grab seiner Frau auf dem Friedhof besuchen wollte, sank neben dem Weg ins Gras, kaum daß er den ersten Blick auf die Stätte des ewigen Frie dens geworfen hatte. Reif legte sich auf eiserne Grabkreuze, auf Grabeinfassungen, auf Kränze, Blumen und Gräser. Die Vögel verstummten, als hätten sie eine Lähmung befallen. Unbeweglich hockten sie in den Zweigen. Der Friedhof bebte.
Steine polterten aus altem Gemäuer. Metall klirrte aufeinander. Weißlicher Schein stieg von dem Grab des Gehenkten hoch. Rauchschwaden wälzten sich aus dem Grab, zogen durch alte Bäume. Die Vögel fielen tot zu Boden. Dann war der unheimliche Spuk so schnell vorbei, wie er gekommen war. Die Sonne schien wieder, die Luft erwärmte sich. Blumen öffneten ihre Kelche. Vögel sangen. Der alte Mann schüttelte den Kopf, daß er unterwegs einge schlafen war. Als er den Friedhof betrat, schüttelte er den Kopf wieder. »Woher kommen nur die toten Vögel?« fragte er sich. Aber er erhielt keine Antwort. Und hätte er die Wahrheit erfahren, hätte er sie doch nicht geglaubt. Sie war zu grauenhaft, zu gräßlich. Die genauen Notizen über die restlichen Informationen zum Fall Hank Colby, die ihm noch gefehlt hatten, steckten in der Tasche des jungen Detektivs. Jetzt wußte er wenigstens, wo er den Hebel ansetzen konnte, aber er hatte noch immer keine Ahnung, was er eigentlich unternehmen sollte. Dieser Fall wich völlig von anderen ab, die er bisher für Che finspektor Hempshaw bearbeitet hatte. Die Leiche des feindlichen Spions, der vor fünfzehn Jahren die gleichen Verbrechen wie Colby begangen hatte, war ver schwunden. Sie hatte sich buchstäblich in Luft aufgelöst, an ders war es nicht möglich. Sie war nicht einfach gestohlen wor den, das bewiesen die Kleider, die sich noch im Sarg befunden hatten. Dr. Sterling war längst gegangen, als Rick Masters noch im mer in der kleinen Imbißstube saß. In seinem Kopf hatte sich eine Idee gebildet, die ihm selbst so ungeheuerlich vorkam, daß er noch zögerte, ihr nachzugehen.
Doch dann gab er sich einen Ruck, ging zum Telefon, wählte eine Nummer, die streng geheim war, und sprach nach wenigen Minuten mit dem Rothaarigen vom Geheimdienst. »Ich brauche schnellstens die Fingerabdrücke des bewußten Mannes«, sagte er, ohne deutlicher zu werden. Rick fürchtete, irgend jemand könnte mithören, und der Rothaarige verstand ihn auch so. »Treffen Sie mich in einer halben Stunde vor dem Parlament, Nordseite!« Ohne Fragen zu stellen, sagte der Rothaarige zu. Sogar beim Geheimdienst hatte man volles Vertrauen zu Rick Masters, und außerdem lautete ein höchster Befehl, ihm freie Hand zu lassen und ihm in jeder Weise behilflich zu sein. Das Treffen ging ganz unauffällig über die Bühne. Rick Ma sters schlenderte vor dem Parlament auf und ab. Ein rothaariger Mann verlor seine Zeitung, Rick hob sie auf und gab sie ihm zurück. Nicht mal ein scharfer Beobachter hätte gemerkt, daß die Kennkarte mit den Fingerabdrücken des vor fünfzehn Jahren erschossenen Spions in Ricks Brieftasche verschwand. Mit den Fingerabdrücken in der Tasche, raste Rick Masters, alle Vorschriften mißachtend, zu New Scotland Yard. Die zwei Anzeigen, die ihm, den Pfiffen der Polizisten nach zu schlie ßen, ins Haus standen, würde der Geheimdienst bezahlen. Chefinspektor Hempshaw war nicht sonderlich verwundert, als Rick mit der Bitte zu ihm kam, die Fingerabdrücke auf der Karte mit den an den einzelnen Tatorten gefundenen zu ver gleichen. Die Karte des Geheimdienstes trug keinerlei Erken nungsmerkmale - eine Vorsichtsmaßnahme. »Woher haben Sie diese Abdrücke?« lautete die zu erwarten de Frage Hempshaws. »Das sage ich Ihnen vielleicht, wenn Sie den Vergleich durchgeführt haben.« Masters lenkte rasch auf ein anderes Thema. »Hat es Sie nicht schon stutzig gemacht, daß der Mör der immer seine Fingerabdrücke auf den Tatwaffen hinterläßt? Jedes Kind weiß doch schon aus den Kriminalfilmen, daß man
sich dadurch verrät.« Kenneth Hempshaw registrierte die Ablenkungstaktik, aber er wußte auch, daß er von Masters nichts erfahren würde. »Ein Irrer«, tat er kurz ab. »Eine andere Erklärung gibt es nicht.« »Vermutlich«, lautete Ricks knapper Kommentar. Ein Beamter brachte die Fingerabdrücke, die an den Tatorten sichergestellt worden waren. Rick war kein ausgesprochener Experte, aber er kannte sich in der Daktyloskopie gut genug aus, um sofort zu erkennen, daß es sich um dieselben Abdrücke handelte wie auf der Kenn karte des Geheimdienstes. Ein Toter ging in London um!
Ein Ächzen, ein Stöhnen drang langsam in sein Bewußtsein. Er wußte, daß es aus seinem eigenen Mund kam. Er hatte dieses Stöhnen schon oft gehört, wußte, daß er wieder aus seiner Ohnmacht erwachte, die keine gewöhnliche Ohnmacht war. Jedesmal, wenn er die Macht des verkehrten Kreuzes weckte, entzog ihm das verderbliche Instrument seiner teuflischen Pläne Kraft und Energie aus seinem Körper. Der Meister ahnte, daß ein Teil seines Lebens über das Kreuz in den Leichnam floß, den er für seine Zwecke benutzte. Und wenn er auch nicht sehr lange mehr zu leben hatte, der Meister kümmerte sich nicht darum. Sein Plan war wichtig, sein Werk, sonst nichts. Und mit Hilfe des Teufelskreuzes hoffte er, eines Tages auch ein Mittel zu finden, um nicht nur Tote zum Leben erwecken zu können, sondern auch sein eige nes Leben zu verlängern. Er mußte nur den Lebenssaft anderer Menschen verwenden können, ihn dem Kreuz zuführen und selbst zum Empfänger der Kräfte werden. Das ewige Leben winkte ihm, und nicht nur das. Er würde .
Der Meister unterbrach seine Gedanken. Das Kreuz war wieder zu seinem normalen Schimmern abge klungen. Jetzt kündigte der leichte Nebel, der es verhüllte, an, daß das Werkzeug seines Planes sich bald vor seinen Augen materialisieren mußte, wie das schon so oft geschehen war. Dieser Augenblick erfüllte den Meister jedesmal mit Stolz. Der Nebel wallte, verdichtete sich, drehte sich in Spiralen, zeichnete die Umrisse eines menschlichen Körpers ab. Das Kreuz verblaßte völlig, gab alle Lebenskraft, die es dem Mei ster vorher entzogen hatte, an den Leichnam ab, den die Be schwörungen des Meisters aus seinem Grab geholt hatten. Die letzten Nebel verzogen sich. Die Gestalt stand, leicht vorgeneigt, an das Kreuz gelehnt. Der Meister hob eine schwarze Steinschale von seinem Schreibtisch. Eine ölige Flüssigkeit mit einem durchdringenden Geruch nach Verwesung ergoß sich tropfenweise auf das blei che Wesen, das an Kraft gewann, sich aufrichtete, die Augen öffnete. Böse Augen! Augen des Teufels, des Unmenschlichen, des Verderbens! Der Meister funkelte den lebenden Leichnam triumphierend an. »Verehre den Mächtigen, verehre deinen Meister!« sagte er mit beschwörender Stimme. Mit eckigen Bewegungen drehte sich die lebende Leiche um, küßte das umgedrehte Kreuz mit eiskalten Lippen, fiel vor dem Meister auf die Knie, beugte sich bis zum Boden. »Du hast dich bisher nicht ganz meinem Willen gebeugt«, sprach der Meister feierlich. »Du hast nur deine alten Taten wiederholt, wie schon vor hundert und vor fünfzehn Jahren. Doch ich brauche ein Heer von willenlosen Sklaven, ein Heer von lebenden Leichen, das meinen Befehlen gehorcht.« Er ging mit unsicheren Schritten zu seinem Schreibtisch und stützte sich auf die Platte.
Ich brauche den Lebenssaft von anderen, dachte er. Ich brau che ihn sehr rasch, sonst verzehre ich mich völlig. Das darf nicht geschehen. Er drehte sich rasch zu dem bewegungslos im Raum stehen den Körper um. »Du mußt mir helfen, die letzten Geheimnisse zu ergründen«, sagte er mit bebender Stimme. »Ich muß mir deinen Willen gänzlich Untertan machen. Komm her zu mir, Hank Colby!« Torkelnd setzte sich die lebende Leiche in Bewegung.
Die Theorie ist nicht nur erhärtet worden, sondern sogar be stätigt. Seit Stunden konnte Rick Masters nichts anderes den ken. Die Theorie wurde bestätigt! Vor fünfzehn Jahren mordete ein feindlicher Spion nach dem gleichen Muster wie Hank Colby, 1873 hingerichtet. Jemand mit denselben Fingerabdrücken mordete in der Gegenwart nach dem gleichen Muster wie Hank Colby. Hank Colby! Alle Fäden liefen bei ihm zusammen. Jeder Mord geschah am gleichen Ort, zur gleichen Zeit und an einem gleichen Opfer wie vor über hundert Jahren - oder vor fünfzehn Jahren. Immer paßte die Beschreibung der Opfer auf alle drei Morde. Das konnte kein Zufall sein. Kurz entschlossen griff Rick Masters nach dem Telefon. Dr. Sterling, der alte Pathologe von New Scotland Yard, war zu Hause. Auf Ricks Andeutungen hin versprach er, sich sofort ein Taxi zu nehmen und zu dem jungen Detektiv zu kommen. Die Zwischenzeit nutzte Rick aus, indem er seine Beziehun gen zur Londoner Unterwelt spielen ließ. Er hatte in seiner schweren Jugend einmal einen Fehltritt begangen, dafür gebüßt und dann auf den rechten Weg gefunden. Er hatte sich zu ei nem der erfolgreichsten Detektive von London hinaufgearbei tet, aber nie vergessen, die menschliche Seite zu berück
sichtigen, weshalb er vielen Gestrauchelten half. Ein Telefon anruf genügte, und einige Männer, die ihm zu Dank ver pflichtet waren und für ihn durchs Feuer gegangen wären, machten sich an die Ermittlungen. Masters wollte wissen, wer versucht hatte, Chefinspektor Hempshaw zu erschießen. Die Unterwelt war zwar bereits auf der Suche nach den Polizistenmördern, weil es ein ungeschrie benes Gesetz war, auf Polizeibeamte nicht zu schießen, aber bisher hatten sie den Mörder des Polizeifahrers noch nicht gefunden. Ricks Anruf machte Dampf hinter die Sache. Und dann kam Dr. Sterling. Der alte Pathologe, der in seinem ereignisreichen Leben viel gesehen und gehört hatte, war fassungslos, als ihm Rick seinen Plan unterbreitete, aber er erklärte sich dazu bereit, mitzuar beiten. »Daß ich Kopf, Kragen und Stellung riskiere, wissen Sie, Masters«, sagte Dr. Sterling trocken. »Ich weiß.« Rick nickte. »Falls Sie Ihren Posten verlieren, sorge ich dafür, daß Sie sich nie mehr finanzielle Sorgen zu machen brauchen.« Rick Masters dachte an seine Beziehungen zum Geheimdienst, die bis in den Buckingham Palace reichten. »Und außerdem könnten Sie in Ihrem Beruf weiterarbeiten.« Dr. Sterling rieb sich die Nase. Auf seinem verwitterten Ge sicht erschien ein fast knabenhaftes Lächeln. »Dann wünsche ich mir, daß ich meinen Posten verliere«, sagte er und nippte an dem alten französischen Cognac, mit dem ihm Rick die schwere Entscheidung erleichtert hatte. Zwei Tage bis zum nächsten Verbrechen! In zwei Tagen mußte Rick Masters imstande sein, einen Mord zu verhindern, der von einem Toten ausgeführt werden sollte. Wie soll ich es anstellen? Werde ich es schaffen?
Das fragte sich der junge Detektiv, als er an dem verwahrlo sten Grab stand. Zwei Männer vom Geheimdienst hatten ihn und Dr. Sterling auf den einsamen Friedhof begleitet. Rick hatte lange gezögert, ob er den Rothaarigen um Hilfe bitten sollte, aber dann hatte er eingesehen, daß der alte Pathologe keinen schweren Holzsarg heben konnte. Hank Wilkins. Zu dritt gruben sie, während Dr. Sterling eine Zigarette um die andere rauchte. Der abgebrühte Arzt war nervös. Kein Wunder, er sollte schließlich in Kürze etwas tun, was schwer gegen seine Berufsauffassung verstieß, und es hatte einiger sehr deutlicher Erklärungen von Masters bedurft, um ihn dazu zu bringen. Der Sarg tauchte aus dem gähnenden Loch auf. Die Wolken gaben den Mond frei. Das weißliche Licht leuchtete auf den Deckel des Sarges. Rick nickte den Agenten zu, die sich dar aufhin zurückzogen und sich vor dem Friedhof aufstellten, um alle Störungen abzuhalten. Masters griff nach dem Deckel. Dabei rutschte sein Rockär mel zurück und gab den Blick auf die schrecklichen Narben auf seinen Unterarmen frei, die er sich bei seinem Kampf gegen einen Vampir zugezogen hatte. Polternd fiel der Deckel zu Boden. Dr. Sterling stieß ein gepreßtes Stöhnen aus. Aus geweiteten Augen starrte er auf den Toten. »Seit hundert Jahren begraben«, flüsterte er. »Und noch im mer nicht verwest.« »Das habe ich erwartet«, murmelte Rick vor sich hin. »Dok tor, sehen Sie doch, dieser Gesichtsausdruck, als wollte er uns auslachen!« »Das ist schon den Ärzten aufgefallen, die ihn 1928 exhu mierten«, erklärte der Pathologe. »Keine Verwesungsspuren. Sie öffneten damals den Leichnam und entnahmen ihm die Eingeweide, das Herz, Gehirn, Lunge und so weiter. Doch am
nächsten Tag war alles verschwunden, und die Leiche wies keine Verletzungsspuren auf.« Er strich sich zittrig über das silberweiße Haar. »Ich sagte Ihnen doch, daß diese Leiche verhext ist.« »An die Arbeit!« Rick Masters schüttelte das Grauen ab, das ihn befallen hatte. »Sie wissen, was Sie zu tun haben, Doktor.« Sterling nickte. Unverzüglich holte er Skalpelle aus seiner Tasche, breitete sein Besteck auf dem Boden aus. Bei der folgenden Leichenöffnung konnte Rick Masters nicht zusehen. Er wendete den Kopf ab, während er dem Toten die Fingerabdrücke abnahm. Im Schein seiner Taschenlampe stellte er fest, daß sie mit denen des feindlichen Spions und denen des gegenwärtigen Mörders von London identisch waren. Hank Colby lebte bereits zum dritten Mal! Das Kreuz, an der schwarzen Wand des Studierzimmers auf dem Kopf stehend, glühte rötlich. Kleine Flammen, kalt wie der Tod, leckten an dem schwarzen Samt, ohne ihn zu versen gen. Der Meister stand bebend vor dem Kreuz. Vor seinen Augen wirbelten Schleier. Es war unfaßbar! Jemand war hinter sein Geheimnis gekommen! Nur mit Mühe unterdrückte der Meister die aufsteigende Pa nik. Er wollte die Leiche Hank Colbys sofort beschwören, zum Leben wiedererwecken. Rechtzeitig besann er sich auf den Wahnsinn seines Vorha bens. Das umgekehrte Kreuz, das er nach altägyptischen Ge heimrezepten aus seltenen Metallen angefertigt hatte, leuchtete rot, in einer Farbe, die es noch nie angenommen hatte. Die magischen Kräfte, die okkulten Ströme waren gestört, besaßen im Augenblick vielleicht keine Macht. Es konnte auch sein, daß das Kreuz seine gesamten Lebenssäfte in sich aufnahm, wenn er Hank Colby aus seinem ewigen Schlaf erweckte.
Und der Gehenkte führte keine Befehle aus. Er wiederholte nur seine Taten, so als würde man einen alten Film wieder ab laufen lassen. Der Meister ließ sich in den Stuhl hinter seinem Schreibtisch fallen. Er mußte abwarten, mußte sich auf die Unverletzbarkeit seiner lebenden Leiche verlassen. »So leicht vernichtet niemand die Pläne des Meisters«, mur melte er, als spräche er einen Fluch aus. »Ich bin der Unbesieg bare!« Er schaute auf das Kreuz. Er war nicht unbesiegbar. Seine eigene Schöpfung, das magische Kreuz, war stärker als er. »Aber kein lebendes Wesen kann mich besiegen«, rief er stolz. Der rote Schein des Kreuzes tauchte sein eingefallenes Ge sicht in blutiges Licht. Das Skalpell durchtrennte den blutlosen Körper wie Teig. Selten noch hatte sich Dr. Sterling in seiner langen Praxis als Pathologe geekelt, noch seltener gefürchtet. Aber diesmal empfand er diese beiden Gefühle so stark, daß er glaubte, sich übergeben zu müssen. Er hatte schon aufgeschwemmte und fürchterlich riechende Wasserleichen seziert, halbverweste Körper aufgeschnitten, aber das hier übertraf alles. Hank Colbys Leiche strömte keinen Geruch aus, sie war auch nicht verwest. Doch gerade dieses Unnatürliche war es, das den alten Arzt mit unbeschreiblichem Schrecken erfüllte. Er wußte, daß er dieses Phänomen nicht mit wissenschaftlichen Argu menten erklären konnte. Er warf einen Blick in ein Gebiet, das dem menschlichen Verstand bisher unerschlossen geblieben war, ferner und unbegreiflicher als die fernste Milchstraße des Weltalls. »Ich bin fertig«, sagte er endlich kaum hörbar. In der Toten stille des Friedhofs glaubte er, geschrien zu haben.
Rick Masters drehte sich langsam um. Die Leiche war ver schwunden. Statt dessen lagen zahlreiche prall gefüllte Pla stikbeutel neben dem leeren Sarg. Der junge Detektiv schloß schweigend den Sargdeckel, dann pfiff er nach den beiden Agenten des Geheimdienstes. Sie ahnten nicht, worum es sich handelte. Nicht einmal in ihrer Praxis hatten sie es bisher erlebt, daß eine Leiche vor ih ren Augen zerstückelt worden war. Sie versenkten den Sarg, halfen Masters die undurchsichtigen Plastikbeutel im Kof ferraum des Dienstwagens zu verstauen. Während Rick eine Zigarette mit dem alten Pathologen rauchte, der kein Wort über die bleichen Lippen brachte, richte ten sie das Grab wieder so her, daß niemand den Eingriff er kennen konnte. Nach einer scheinbar endlos langen Zeit kamen sie zu dem Wagen. Zwei Stunden später saß Rick Masters in einem Militärhub schrauber. Der Pilot, der befehlsgemäß den ihm unbekannten jungen Mann auf hohe See hinausgeflogen hatte, wunderte sich nicht wenig, daß sein Passagier undurchsichtige Plastikbeutel über dem Meer abwarf, noch dazu an keiner genau bestimmten Stelle. Doch der Pilot hatte nur einen Befehl auszuführen. Das Denken überließ er seinen Vorgesetzten. Die Leiche Hank Colbys war buchstäblich in alle Winde ver streut worden. Der Meister schlug langsam die Augen auf. Diesmal hörte er nicht nur sein eigenes Stöhnen und Ächzen, sondern auch ein hohles, langgezogenes Lachen - spöttisch, höhnisch. Er blickte hoch. Hank Colby, der Gehenkte, die lebende Leiche, stand unter dem Kreuz. Er hatte sich also bereits materialisiert. Der Mei ster wußte, was das zu bedeuten hatte. Er war diesmal viel länger als sonst bewußtlos gewesen. Und er verstand es auch, dieses Zeichen zu deuten.
Die Wiedererweckung der Leiche des Hingerichteten hatte diesmal viel mehr von seinem eigenen Lebenssaft gefordert, als jemals zuvor. Obwohl er sich seinem Geschöpf, seiner Kreatur gegenüber überlegen fühlte, durchraste den Meister eine heiße Woge der Wut über das bösartige Lachen. Es war, als wollte sich Colby, der Würger von London, dar über amüsieren, daß sein Meister bald in den gleichen Zustand verfallen würde wie er selbst. Und der Meister ertrug den Gedanken nicht, sterben zu müs sen, bevor er sein großes Werk vollendet hatte. »Du lachst nicht mehr lange, Sklave«, zischte er die lebende Leiche an. »Ich werde Herr über ein Heer von deinesgleichen werden. Auf die Knie! Verehre mich!« Steif, wie eine Marionette, fiel der wiederbelebte Leichnam auf die Knie. Die Augen des Meisters leuchteten. »So ist es richtig!« schrie er, trunken von seiner Macht. »Ich habe Großes mit dir vor. Morgen ist der Tag deiner Bewäh rung!«
Obwohl er genau wußte, daß er sich eigentlich vom Erfolg seines grausigen nächtlichen Unternehmens hätte überzeugen müssen, brachte es Rick Masters nicht übers Herz, das Grab Hank Colbys ein zweites Mal zu öffnen und sich zu bestätigen, daß die Leiche des Gehenkten tatsächlich verschwunden war. Einerseits konnte sich Rick nicht vorstellen, daß es eine Macht auf dieser Welt gab, und mochte sie noch so okkult und verderblich sein, die eine in alle Winde zerstreute Leiche wie der zu neuem Leben erwecken konnte, aber andererseits wollte und durfte er kein Risiko eingehen. Als der Tag der Entscheidung herangekommen war, der Tag, an dem vor mehr als hundert Jahren Hank Colby sein nächstes Opfer auf bestialische Weise abgeschlachtet hatte, holte Rick
aus einer alten Truhe in seinem Wohnbüro Amulette, Kreuze und andere Symbole der Weißen Magie, verstaute sie in seinen Rocktaschen und fuhr zu der Stelle des möglichen neuerlichen Mordes. Die Tower Bridge war um drei Uhr nachmittags ein lärmer füllter Ort, auf dem der Berufsverkehr dahintoste. Nur wenige Fußgänger benutzten diese Brücke. Aus den alten Polizeiberichten wußte Rick, daß vor hundert Jahren ein junges Mädchen mit einem blauen Kopftuch an einem nebligen Nachmittag auf der Tower Bridge erstochen wurde. Rick war zuversichtlich, daß es an diesem Tag zu keiner Bluttat kommen würde. Erstens hatte er sein Bestes getan, um die Wiederbelebung Hank Colbys auszuschließen, und zwei tens gab es keine jungen Mädchen mehr mit blauen Kopftü chern. Dennoch war er sich seiner Sache nicht völlig sicher. Er hatte es mit einer unbekannten Kraft zu tun, gegen die er auch in seiner umfangreichen einschlägigen Bibliothek kein sicheres Gegenrezept gefunden hatte. Rick Masters lehnte an einem Pfeiler der Tower Bridge, nur wenige Schritte von der historischen Mordstelle entfernt, und rauchte in Kette. Die Kippen häuften sich auf dem Straßenpfla ster. Solange er kein Mädchen mit einem blauen Kopftuch sah, bestand keine Gefahr. Und das Gesicht Hank Colbys kannte er auch bereits. Rick tastete zu der Kette mit dem goldenen Kreuz, die er unter seinem sportlichen Sakko trug. Schon ein mal, in Schottland, hatte ihn dieses Kreuz gerettet, und zwar gegen Vampire. Es gab zwar keine Garantie, daß auch diesmal seine gute Kraft ausreichte, um den bösen Bann zu brechen, aber er hatte kein anderes Gegenmittel. Um die Zeit und die Nervosität zu überspielen, beobachtete Rick einen Bobby, der den Verkehr mittels einer Verkehrsampel immer dann anhielt, wenn Gefahr bestand, daß die Brücke
durch eine Stauung überlastet würde. Die Ampel wurde durch Knopfdruck geschaltet, doch ließ sich der Knopf nicht arretie ren, weshalb ihn der Polizist mit einem Zahnstocher verklem men mußte. Rick grinste vor sich hin. Und plötzlich zuckte er zusammen. Mit ungläubig geweiteten Augen sah Rick Masters ein junges Mädchen. Offensichtlich eine Ausländerin, dachte er. Sie hatte eine dunkle Haut, leicht schrägstehende mandelförmige Augen und trug ein blaues Kopftuch! Gehetzt blickte sich der junge Detektiv um. Der Polizist regelte ahnungslos den Verkehr. Die Autofahrer beachteten die Fußgängerin nicht. Wie sollten sie auch wissen, daß sie das Opfer eines grauen haften Verbrechens werden sollte? Rick wußte es, und er erwartete jeden Augenblick, das grin sende, böse Gesicht Hank Colbys zu sehen. Die junge Frau ging wie eine Schlafwandlerin. Sie schaute nicht links und rechts, sie schien überhaupt nichts zu sehen. Wie eine Puppe setzte sie mechanisch einen Fuß vor den ande ren, von einer unüberwindlichen Macht auf die Stelle zu getrieben, an der Rick stand. Die Hand des jungen Detektivs krampfte sich um das goldene Kreuz an seiner Halskette. Einen Moment zögerte er, dann lief er der jungen Frau entgegen. »Halt, bleiben Sie stehen!« rief er ihr zu. Sie hörte ihn nicht. »Um Himmels willen, stehenbleiben! Sie dürfen nicht wei tergehen! Sie laufen in den Tod!« Der Polizist wurde aufmerksam. Die Ampel hatte er gerade mittels des Zahnstochers auf Rot gestellt. Sein prüfender Blick musterte die beiden Menschen und versuchte festzustellen, ob hier eine Belästigung vorlag. Offensichtlich wollte der junge Mann etwas von der Frau, weil er sie am Arm packte und aufzuhalten versuchte. Con
stabler Kewie setzte sich in Bewegung. Das durfte er nicht zulassen, auch wenn hinter ihm bereits einige Autofahrer un geduldig hupten, weil der Verkehr sinnlos stockte. Drei Schritte hatte Constabler Kewie getan, als er von hinten einen Stoß erhielt, der ihn zur Seite schleuderte, als wäre er ein Kind, das von einem Auto angefahren wurde. Benommen versuchte er sich hochzustemmen. Vor seinen Augen flimmerte es. Aus den Augenwinkeln heraus registrierte Rick Masters die Bewegung. Er sah den Polizisten, der auf ihn zukam, sah, wie der Mann plötzlich von einer Faust zur Seite gestoßen wurde. Er stand vor Rick - Hank Colby! Er war aus dem Nichts aufgetaucht. Kein Pfeiler war in der Nähe, hinter dem er sich hätte versteckt halten können. Die Fahrbahn war frei von Autos, weil sie vor der roten Ampel hielten. Und doch war Colby plötzlich da, hatte sich materiali siert. Rick würgte. Er glaubte, eine eisige Faust krampfe sich um seinen Magen, als er sich vorstellte, wie Dr. Sterling die Leiche des Gehenkten in Stücke geschnitten und wie er selbst diese Stücke über dem Meer abgeworfen hatte. Und doch stand nun die lebende Leiche vor Rick, dasselbe höhnische Lächeln auf den bleichen Zügen wie beim ersten Mal, als er Colby in dessen Sarg gesehen hatte. Die junge Frau war stehengeblieben, sie starrte den Leichnam aus großen, blicklosen Augen an. Die Macht, die Colbys Lei che wieder zusammengesetzt und sie zu neuem Leben erweckt hatte, hielt auch sie gefangen. Rick Masters umklammerte das goldene Kreuz, daß die Knö chel an seinen Händen schneeweiß hervortraten. Nur nicht loslassen! schrie es in seinem Kopf. Wenn ich loslasse, gewinnt er vielleicht auch über mich Macht. Der Polizist richtete sich auf einen Ellbogen auf. Es ging alles viel zu schnell, als daß er hätte eingreifen können.
Groteskerweise trug der Leichnam einen ganz gewöhnlichen Straßenanzug, wie Tausende Londoner auch. Colby fletschte das Gebiß, ein sadistisches Funkeln belebte seine Augen. Die knochige Hand verschwand unter dem Sakko, kam wieder hervor. Die spinnenartigen Finger umklammerten ein langes, scharfes, blitzendes Messer. »Nehmen Sie«, murmelte Rick und drückte dem Mädchen das Goldkreuz in die Hand. Er wußte nicht, ob sie ihn gehört hatte, aber als sich ihre Fin ger um das glänzende Metall schlössen, ging ein Ruck durch ihren Körper. Sie begann zu zittern. Ihr Mund öffnete sich, ein gellender Schrei brach hervor, hallte von den Bogen der Brücke zurück. Das durchdringende Hupen verstummte. Hunderte Augen paare wendeten sich erschrocken, entsetzt auf die Gruppe. Autotüren öffneten sich, Männer wollten zu Hilfe eilen. Constabler Kewie hatte sich von seiner leichten Betäubung erholt. Er schnellte hoch und wollte sich auf den Mann mit dem Messer stürzen. Doch dann geschah alles blitzartig. Hank Colby glitt mit weiten Schritten auf die junge Frau zu. Die schrie ihr ganzes Entsetzen hinaus. Ihre Hände zitterten unkontrolliert. Das Kreuz drohte ihren Fingern zu entgleiten. Sicherlich war sie sich nicht der rettenden Kraft bewußt, die in dem goldenen Anhänger steckte. Doch irgendwie mußte sie es gefühlt haben. Sie griff wieder danach. Der lebende Leichnam hob den Arm mit dem Messer, wollte zustoßen. Rick Masters sprang um die Frau herum, warf sich Colby in den Arm. Er hatte die Kraft des Gehenkten weit unterschätzt. Auch er erhielt, wie zuvor der Constabler, einen Stoß, der ihn gegen den Polizisten warf. Gemeinsam stürzten sie zu Boden. Noch im Fallen sah Rick, wie Colby wieder die Frau angriff. Schon zuckte das Messer durch die Luft. Schon öffnete sich der
Mund der Frau zu einem letzten Schrei, als Colbys Blick auf das Kreuz fiel, das golden in der Sonne schimmerte. Der Leichnam taumelte zurück, ein schmerzliches Röcheln ausstoßend. Die Frau mit dem blauen Kopftuch wollte fliehen. Das Kreuz entfiel ihr. Sie bückte sich danach, automatisch, ohne zu den ken. Durch einen unglücklichen Zufall faßte sie es verkehrt herum an, daß die Spitze zu Boden zeigte. Rick schrie ihr zu, das Kreuz umzudrehen, aber da war es schon zu spät. Einer angreifenden Schlange gleich, stieß Colby mit dem Messer zu und verrichtete ein bestialisches Werk. Der Todesschrei der jungen Frau mischte sich mit dem Ent setzensbrüllen der Tatzeugen. Die Lähmung des Schreckens dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde. Dann stürmten von allen Seiten empörte Männer auf den lebenden Leichnam, den Mörder. Rick Masters war einer der ersten. Schon streckte er seine Arme nach dem Ungeheuer aus, als sich Colby mit einem weiten Satz über das Geländer schwang und in die Tiefe stürz te. Weit beugte sich Rick über das Wasser. Doch kein Körper schwebte durch die Luft, kein Körper tauchte mit lautem Klatschen in die Fluten der Themse ein. Der lebende Leichnam hatte sich aufgelöst. Noch immer war es dem Meister nicht gelungen, die von ihm ins Leben zurückgerufene Kreatur seinem Willen Untertan zu machen. Hank Colby, der Gehenkte, hielt sich weiterhin genau an seine Untaten, die er im 19. Jahrhundert begangen hatte. Genau zu diesem Zeitpunkt war er unterwegs, um den Mord auf der Tower Bridge auszuführen. Der Meister stand bebend vor dem glühenden Kreuz in sei nem Studierzimmer. Er konnte den Weg des wandelnden
Leichnams nicht verfolgen, aber er fühlte die Wellen, die ihn über das Teufelskreuz mit dem Werkzeug seiner Pläne verban den. Wieder war er bei der Erweckung Colbys ohnmächtig gewor den. Dann, als sich der Leichnam materialisierte, fühlte er sich zwar geschwächt, aber er konnte sich auf den Beinen halten. Er fühlte deutlich, daß Colby gerade auf der Tower Bridge stand. Das Opfer hatte er, der Meister, durch seine telepathischen Kräfte an die Stelle der Tat gezwungen. Vor Begierde zitternd, wartete der Meister auf den Augenblick des Mordes, den er als Erfüllung seines Unternehmens ansah. Doch er verzögerte sich. Statt dessen begann das Kreuz rot zu glühen. Der Meister wand sich in Qualen. Diesmal konnte er den feindlichen Kräften, den Mächten der Weißen Magie, nicht wie bei der Zerstückelung Colbys entkommen. Diesmal war er untrennbar mit dem Kraftfluß zwischen dem verkehrten Kreuz und Colby verbunden, und er bekam voll jede Störung zu spüren. Todesangst verzerrte das Gesicht des Meisters. Wenn das Hindernis, das sich Colby entgegenstellte, zu groß war, würde ihm das magische Kreuz die letzten Lebenssäfte entziehen, um dem von ihm geschaffenen Ungeheuer zu helfen. Schon begann der Meister zu erschlaffen, zu wanken, als sich die Farbe des Kreuzes wieder änderte. Gleich darauf fühlte er die Erlösung, durch die Tat. Er wußte, daß Colby gemordet hatte. Sekunden später materialisierte sich der Leichnam vor ihm. Der Meister trat dicht auf den Gehenkten zu. »Sag es mir!« zischte er. »Sag mir, wer sich dir in den Weg gestellt hat! Er muß sterben!« »Sie kommen sicher, Masters, um sich die Einzelheiten des Mordes auf der Tower Bridge zu holen«, begrüßte Chefin spektor Kenneth Hempshaw den jungen Detektiv in seinem
Büro im neuen Gebäude von New Scotland Yard. »Oder wissen Sie selbst Näheres darüber?« Masters stellte sich uninformiert und ahnungslos. In der allgemeinen Verwirrung nach der Bluttat hatte er es vorgezogen sich sofort aus dem Staub zu machen. Da es sich um keinen normalen Mordfall handelte und er die volle Unter stützung des Geheimdienstes in seinem Rücken hatte, fürchtete er nicht, wegen Verweigerung der Zeugenaussage in einem Mordfall angezeigt zu werden. Niemand hatte ihn erkannt das hoffte er wenigstens -, und er wollte seine kostbare Zeit nicht mit endlosen Polizeiverhören verschwenden. »Ein gewisser Constabler Kewie hat eine genaue Beschrei bung des Mannes geliefert, der versucht hatte, der Frau zu helfen, die erstochen wurde«, fuhr der Chefinspektor fort, der sich nicht im geringsten um Ricks Schweigen kümmerte. »Al so, Masters?« Rick zuckte nur die Achseln. »Ich habe in den Nachrichten gehört, was geschehen ist«, erklärte er mit gekonnter schauspielerischer Ehrlichkeit. »Hat man wieder die Tatwaffe gefunden?« Der Chefinspektor stieß ein wütendes Knurren aus. »Wenn ich nicht von meinem Vorgesetzten den strengen Be fehl erhalten hätte, einen gewissen Rick Masters nicht zu be fragen, dann .« »Dann?« Masters grinste seinen Kollegen vom Yard an. ». dann würde ich Sie jetzt unter eine Verhörlampe setzen«, vollendete der Chefinspektor seinen Satz. »Statt dessen dürfen Sie mich auf einen Whisky aus der be rühmten Flasche im Schreibtisch einladen«, tröstete ihn Rick grinsend. »Diese Flasche gibt es nicht«, brummte Hempshaw. »Sie steht im Schrank.« Masters beobachtete genau, wie der Chefinspektor die exakt gleiche Menge in zwei peinlichst gespülte Gläser goß, sie
symmetrisch auf den Schreibtisch stellte. Der Chefinspektor liebte Ordnung, ebenso wie Rick, nur daß Hempshaw nach Meinung des jungen Detektivs übertrieb. »Ich nehme an, daß Sie wieder die Tatwaffe gefunden ha ben«, führte Rick das Gespräch fort. »Mit den gleichen Fingerabdrücken, ja«, bestätigte der Che finspektor. »Wir haben keine passenden Vergleichsabdrücke in der Kartei.« »Das war auch nicht anzunehmen«, erwiderte Masters zwei deutig. »Mehr wollte ich nicht wissen.« Er trank seinen Whis ky aus. »Vielen Dank, Hempshaw. Ach ja«, erinnerte er sich an der Tür, »haben Sie schon einen Anhaltspunkt, wer den Über fall auf Sie verübte?« »Nein!« Wütend hieb der Chefinspektor mit der Faust auf den Schreibtisch, daß die Gläser klirrend tanzten. »Es ist zum Verrücktwerden!« »Heute abend liefere ich Ihnen die Burschen, verlassen Sie sich drauf«, versicherte Rick und ließ einen ziemlich ver blüfften Chefinspektor zurück.
Dem Meister stand Schweiß auf der Stirn. Er mußte Colby zu seinem nächsten Mord wiederbeleben, weil er die Serie nicht unterbrechen durfte. Der Meister glaubte sogar, daß das Kreuz selbsttätig den Gehenkten zum Leben erwecken würde, falls er es nicht von sich aus tat. Aber es durfte nicht mehr mit seinem Lebenssaft geschehen, sonst hielt er nicht durch. Erst in jenem Moment begriff er, worauf er sich eingelassen hatte. Er war ein Gefangener seiner eigenen Experimente. Als suchte er bei ihnen Hilfe, drehte er sich zu den Regalen um, auf denen die stummen Zeugnisse seiner Vorgänger schlummerten. »Einen Lebensspender«, flüsterte er. »Ich brauche schnell stens einen Lebensspender, dann muß das große Werk gelin gen.« Seine hagere Gestalt spannte sich bei diesem Gedanken.
Doch gleich darauf wurden ihm die Schwierigkeiten bewußt, die ihm im Wege standen. Er konnte seine magischen Kräfte auf andere Menschen nur über sein Werkzeug Hank Colby ausüben. Einfach einen Men schen in sein Haus zu locken, ging auch nicht, weil ihm dann die Polizei viel zu rasch auf die Spur kommen konnte. Die Kraft hatte sein ausgelaugter Körper aber nicht mehr, einen Menschen zu betäuben und in sein Studierzimmer zu schaffen. Also mußte er sich wieder an die Menschen um Hilfe wenden, die bereits einmal eingesetzt waren, um einen gefährlichen Feind auszuschalten. Mit schwachen Schritten verließ der Meister sein Studier zimmer und ging in die Halle des alten Hauses. Seine kraftlose Hand hob den Hörer vom altmodischen Telefon, dann wählte er mit seinem fast durchscheinenden Finger eine Nummer. »Hier spricht der Würger von London«, meldete er sich, als am anderen Ende der Leitung abgehoben wurde. Er hörte einen entsetzten Schrei.
Die Behauptung, er würde in Kürze die Attentäter kennen, war nicht aus der Luft gegriffen. Die Beziehungen zur Unter welt hatten einen ersten Erfolg gebracht. Kurz vor seinem Besuch im Yard hatte Rick Masters einen Anruf von einem Vertrauensmann erhalten. »In wenigen Stunden kann, ich Ihnen sagen, wo sich die drei Kerle verstecken, die den Polizisten erschossen haben«, hatte ihm sein Bekannter mitgeteilt. »Die ganze Unterwelt ist in Aufruhr geraten. Seit Jahren gab es keinen Polizistenmord mehr, und mehr Kriminalbeamte als sonst was laufen jetzt in London herum. Keiner kann mehr seinen Geschäften in Ruhe nachgehen.« »Ich schalte auf Auftragsdienst«, hatte Rick gesagt. »Also bin ich jederzeit telefonisch erreichbar.« Seine erste Handlung, als er in sein Wohnbüro zurückkam,
war, daß er den Auftragsdienst anrief. Die Beamtin in der Zentrale teilte ihm eine Adresse mit. »Diese Nachricht stammt von einem Mr. Pete«, beendete sie ihre Durchsage. Rick Masters bedankte sich und überlegte, ob er den Chefin spektor verständigen sollte. Immerhin war es möglich, daß der Anschlag auf Hempshaw ein Racheakt irgendeines von ihm einmal vor Jahren überführten Verbrechers war und Rick gar nichts anging. Aber die vage Möglichkeit, daß die Schießerei auf der Whitechapel Road in einem Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Fall stand, veranlaßte ihn, ganz auf eigene Faust zu handeln. Der junge Detektiv prüfte sorgfältig, ob seine 38er Automatik einsatzbereit war, dann ließ er sie wieder in sein Schulterhalfter zurückgleiten. Den Morgan stellte er zwei Straßen vor der angegebenen Adresse ab und ging das letzte Stück zu Fuß. In dieser armseli gen, heruntergekommenen Wohngegend fiel der exklusive Sportwagen zu sehr auf. Das Haus Nummer 37 war eine Ruine, die den Eindruck machte, als könnte sie jeden Augenblick einstürzen. Rick holte die 38er Automatik aus dem Halfter und steckte sie in die Rocktasche, die Hand am Abzug der entsicherten Waffe. Er hatte es mit skrupellosen Mördern zu tun, die nicht davor zu rückschreckten, einen Polizisten zu erschießen und damit eine Großfahndung auszulösen. Der Abend senkte bereits die ersten Schatten in die Millio nenstadt. Die Gegend, in der sich das Versteck der Verbrecher befand, wirkte um diese Zeit noch düsterer als sonst. Viele der umliegenden Häuser standen leer, weil sie in nächster Zeit abgebrochen werden sollten. Ein idealer Unterschlupf für lichtscheues Gesindel. Rick drang langsam und vorsichtig in die Ruine ein. Wenn ihn die Morder bereits gesehen hatten, lief er direkt in die Falle, aber dieses Risiko mußte er auf sich nehmen.
Niemand stand hinter einem der herunterhängenden Balken, keine Waffe bohrte sich in Ricks Rücken. Unangefochten er reichte er einen einigermaßen intakten Kellerraum, in dem sich offensichtlich vor kurzer Zeit noch mehrere Menschen aufge halten hatten. Einige Anzeichen wiesen darauf hin, daß die Bewohner des Kellerraums wieder zurückkommen wollten. Rick wartete. Er setzte sich hinter der Tür auf einen Stuhl, die 38er Automatik schußbereit in der Hand. Nun mußte sich zeigen, ob ihn diese Spur näher an den Mann heranbrachte, der es sich anmaßte, Tote zum Leben zu erwecken, um damit ande res Leben auszulöschen.
Sie waren skrupellose Verbrecher, sonst hätten sie sich nicht gegen gute Bezahlung auf einen Polizistenmord eingelassen. Daß sie den falschen Polizisten erschossen hatten, tat ihnen nur deshalb leid, weil sie dadurch nur die halbe Prämie erhalten hatten, aus keinem anderen Grund. Es machte ihnen auch nichts aus, von der gesamten Polizei Londons gesucht zu werden. Sie hatten Geld, das sie verjubeln konnten, weiter dachten sie nicht. Drei sozial und psychisch schwer geschädigte Typen, die be reits für eine Pulle billigen Fusels ein Menschenleben ausge löscht hätten. Dennoch wollten sie nicht mehr für ihren Auftraggeber ar beiten, der den Polizistenmord bei ihnen bestellt hatte. Erst hinterher hatte er ihnen mitgeteilt, er wäre der Würger von London, und da war selbst ihnen die Sache zu heiß geworden. Dazu trugen auch die Gerüchte bei, die in der Londoner Un terwelt herumschwirrten. Niemand kannte das Ungeheuer, aber alle waren der Mei nung, es müsse sich um den abgefeimtesten Kerl handeln, der sich so gut zu tarnen verstand, daß ihn nicht einmal die von der Unterwelt selbst eingeleitete Großfahndung aufdecken konnte. Daher erschrak Ben, der Anführer des Trios, als er die
bruchige Stimme am Telefon hörte. Sie hatten sich in einer kleinen Pension eingemietet, in der nicht viele Fragen nach den Papieren gestellt wurden. Obwohl ihre Papiere stimmten, weil sie hervorragend gefälscht waren. Heute um Mitternacht überliefert ihr mir eine junge, kräftige Frau unterhalb der London Bridge, rasselte die Stimme, die einem uralten Mann zu gehören schien. »Nein!« keuchte Ben entsetzt. »Lassen Sie uns in Ruhe, wir wollen nicht mehr für Sie arbeiten!« »Ihr werdet es müssen!« Die Stimme nahm eine Schärfe an, die sogar den abgebrühten Verbrecher zittern ließ. »Schauen Sie auf den Tisch, der neben dem Telefon steht! Sehen Sie die Vase?« Zögernd bestätigte Ben, er sähe die braungelbe Blumenvase. Woher wußte das Ungeheuer von London, wie es in der Pen sion aussah? »Geben Sie gut acht, was gleich mit dieser Vase geschieht!« »Wir sollen zuschauen, was mit dem alten Pott geschieht«, erklärte Ben seinen Komplicen, die neben ihn getreten waren. Im nächsten Augenblick zersprang die Vase in unzählige Stük ke, das Wasser ergoß sich über den Tisch. Die heisere Stimme lachte hohl über die Schreckensrufe der drei Mörder. »Mitternacht, London Bridge, kräftiges, junges Mädchen!« Klick! Aufgelegt. »So ein Mist!« fluchte Ben. »Wir sitzen vielleicht in der . Ach, Mrs. Goodman, tut uns leid, daß wir die Vase zerschlagen haben.« Die Pensionswirtin strahlte über den Geldschein, mit dem sie sich zehn solcher Kitschvasen kaufen konnte. Die drei Mörder fuhren in ihr Versteck, um ihre nächsten Schritte zu beraten. Die Entscheidung lautete, wie Ben zusam menfaßte:
»Wir schnappen uns irgendein Mädchen, liefern das Girl aus und hauen ab!« Der schreckliche Tod eines Mädchens war beschlossen.
Sie war jung, fröhlich - sie kam gerade von einer Party, und sie war ahnungslos. Auf der Party hatte Melanie einen sehr netten, jungen Mann kennengelernt, der ihr angeboten hatte, sie nach Hause zu bringen. Aber sie hatte abgelehnt, weil sie mit ihren Gedanken allein sein wollte. Verträumt ging sie an der Themse spazieren. Sie nahm nicht den schlechten, fauligen Geruch des brackigen Wassers wahr. Für sie waren der Abend, der Fluß, die alten Häuser wunderschön. Die London Bridge rückte langsam näher, auch eine Bau stelle. Kurz vor der Brücke wurden noch einige neue Pfeiler in den Grund getrieben. Melanie wollte ausweichen. Sie mochte Baustellen nicht, irgendwie flößten sie ihr Angst ein. Die bizar ren Gerüste, die Bretter, auf denen niemand stand, die Balken, die scheinbar ins Unendliche ragten. Maschinen, die wie stäh lerne Ungeheuer auf Beute lauerten. Sie wollte belebtere Straßen aufsuchen, in denen das Leben des frühen Abends pulsierte, in denen es Menschen gab, die miteinander sprachen und lachten. Ganz plötzlich legte sich eine Beklemmung auf ihre friedli che, heitere Stimmung. Gehetzt schaute sie auf die Bretterwand vor sich. Was war das? Eines der Bretter hatte sich bewegt! Spielte ihr ihre Phantasie einen Streich? Ärgerlich versuchte sie, ihre Angst zurückzudrängen, aber es gelang ihr nicht. Melanie beschleunigte ihren Schritt, wollte auf die andere Straßenseite laufen, als sich zwei starke Arme von hinten um ihren Körper schlangen. Eine mächtige Pranke legte sich auf
ihren aufgerissenen Mund, erstickte ihren Schrei. Es ging rasend schnell. Sie wurde, nachdem ein lockeres Brett im Bauzaun entfernt worden war, durch die Lücke getragen und in den Kofferraum eines bereitstehenden Wagens geworfen. Sie fühlte einen Stich im Arm, dann wurde sie schlaff und müde. Sie hatte nur mehr den Wunsch, zu schlafen und beim Aufwachen alles als einen Alptraum abtun zu können. Als Big Ben Mitternacht schlug, lag Melanie noch immer in tiefer Bewußtlosigkeit. Der Kofferraumdeckel schwang hoch, die kalte Nachtluft traf das verkrampfte Gesicht des Mädchens. Eine gekrümmte Gestalt neigte sich vor, tastete ins Innere des Kofferraums. Zufriedenes Kichern aus blutleeren Lippen. »Gut, sehr gut«, schnarrte der Alte. Ein weiter Umhang ver deckte seine Gestalt. Weißes Haar wehte unter einem Schlapp hut hervor. »Hier ist das Geld. Geht, ich brauche euch vorläufig nicht mehr!« »Vorläufig?« fragte Ben, während seine Komplicen stumm danebenstanden und gebannt auf den Alten starrten. »Wir ar beiten nicht mehr für Sie. Wir haben die Nase voll. Der Boden wird uns zu heiß unter den Füßen.« »Wir müssen aus London verschwinden«, mischte sich der ältere der beiden anderen ein. Die hagere Gestalt in dem Umhang richtete sich ruckartig auf. »Ihr wollt nicht mehr für mich arbeiten?« höhnte der Mei ster. »Ihr müßt! Ihr könnt gar nicht anders.« »Wir lassen uns nicht zwingen«, maulte Ben, der eine uner klärliche Scheu vor diesem Mann empfand. Niemand sonst hätte es wagen dürfen, so zu ihm zu sprechen; Er hätte sofort mit der Waffe geantwortet, und für die Schnelligkeit mit der Pi stole war er bekannt und gefürchtet. »Ich werde euch zwingen«, kam es triumphierend aus dem eingefallenen Mund. »Soll ich es euch beweisen?« »Müssen wir uns das bieten lassen, Ben?« platzte der ältere
Komplice heraus. »Jetzt reicht es.« »Allerdings.« Bens Hand fuhr unter sein Sakko. »Recht hast du, es reicht.« Wieder dieses hohle Kichern. Vor den Augen seiner erstaun ten und fassungslosen Komplicen ließ Ben plötzlich die Hand sinken, drehte sich um und ging mit schlafwandlerischen Schritten auf die Straße hinaus. Rufend liefen seine Kumpels hinter ihm her. Im Augenblick dachten sie nicht an die Gefahr, daß sie sich durch ihr Schreien verraten könnten. Hinter sich hörten sie das teuflische Lachen des Alten. Ben ließ sich nicht aufhalten. Verzweifelt blickten sich die beiden anderen um. Der Alte war verschwunden. Und als sie zum Auto zurückliefen, lag auch das Mädchen nicht mehr im Kofferraum. »Verstehst du das?« fragte Allister erstaunt. »Dieses wacklige Knochengestell kann doch keinen erwachsenen Menschen wegtragen, schon gar nicht so schnell.« »Kümmern wir uns um Ben«, preßte Franklin hervor. »Der ist jetzt wichtiger.« Zwischen Autos hetzten sie über die Straße und hinter ihrem Komplicen her. Sie holten ihn an der nächsten Ecke ein. Allister packte ihn an den Schultern und rüttelte ihn. »Mensch, Ben! Wach doch auf! Was ist denn los?« Der Anführer blinzelte, strich sich über die Stirn, starrte seine Kameraden an, als sähe er sie zum ersten Mal. »Ich muß wohl eingeschlafen sein«, murmelte er. Dann zog er ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine an. »Fahren wir nach Hause, ich habe Hunger«, sagte er, als wäre nichts geschehen. Dann brach er ohnmächtig zusammen. Ein Kreuz flimmerte vor ihren Augen. Bin ich in einer Kirche? fragte sich Melanie. Was ist los mit mir?
Sie fühlte sich seltsam leicht, so, als hätte sie keinen Körper. Sie dachte zurück, versuchte sich zu erinnern. Es gelang ihr. Mit Interesse dachte sie an die Männer, die sie auf dem Bau platz überwältigt hatten. Melanie wußte, daß sie entführt wor den war, daß ihr Gefahr drohen mußte. Dennoch hatte sie keine Angst. Sie wunderte sich auch gar nicht darüber. Ihre Blicke wanderten durch das schwarze Zimmer, über den aus Menschenknochen gefertigten Schreibtisch, blieben auf dem Kreuz haften, das mit dem Kopf nach unten an der Wand hing. Ein alter Mann tauchte in ihrem Blickfeld auf. Er hielt sich gebückt, stützte sich auf einen Krückstock. Sein Gesicht war eingefallen wie das einer Leiche, als lebte er bereits seit mehr als hundert Jahren. Nur seine Augen verrieten, daß ein un bändiger Lebenswille in ihm glühte. »Du wirst also helfen, das große Experiment weiterzufüh ren«, sprach der Mann mit hohler Stimme. Melanie fürchtete sich auch jetzt nicht. Sie hatte überhaupt keine Empfindungen mehr. Sie konnte sich auch nicht bewe gen. »Ich habe nicht aus Mitleid deine Gefühle ausgeschaltet«, fuhr der Alte fort. Er schüttelte beinahe traurig den mumifi zierten Kopf. »Mitleid - wie könnte ich Mitleid mit einem einzelnen Menschen haben, wenn es um eine so herrliche Sa che geht, ein so wichtiges Unternehmen! Du machst mir in deinen jetzigen Zustand keine Schwierigkeiten, das ist es.« Ein Hustenanfall schüttelte den Meister, er mußte sich setzen. »Du hältst mich bestimmt für uralt, mein Kind«, fuhr er mit sanfter Stimme fort. »Ich bin noch nicht mal fünfzig Jahre alt, ich muß leben, um mein Werk zu vollenden. Dies hier hat mich altern lassen«, krächzte er und deutete mit dem Krückstock auf das Kreuz. »Es hat mein Leben verzehrt, doch jetzt sollst du es mir zurückgeben.« Die leuchtend weißen Augen mit den schwarzen Punkten der
Pupillen richteten sich auf das Kreuz. Langsam, feierlich, fast wie ein Priester bei einem Mensche nopfer, trat der Meister auf das Kreuz zu. Dann schloß er die Augen, berührte, Beschwörungen murmelnd, das Metall. Die Ringe an seinen Fingern stellten den Kontakt zu dem Kreuz her. Der Mumienkopf ruckte herum. Die Augen übermittelten dem in seinem Bann stehenden Mädchen einen Befehl. Mela nie erhob sich, trat dicht an den Meister heran. »Lege deine Hand auf das Kreuz!« hauchte der Meister. Melanie folgte der Aufforderung. Die jugendliche Haut be rührte das flirrende Metall. Blitze zuckten durch den Raum. Der Körper des Meisters straffte sich in unglaublicher Spannung. Melanie erwachte aus ihrem Traumzustand. Sie schrie, nack tes Entsetzen raubte ihr fast die Besinnung. Sie wollte die Hand lösen, konnte nicht, fühlte, wie sie schwächer wurde. Die frische, junge Haut welkte wie ein Blatt im Herbst. Run zeln gruben sich ein, wurden tiefer, wurden zu Rissen, spran gen auf. Blutloses Fleisch kam zum Vorschein. Fleisch, das zerfiel, zu Staub wurde. In Sekundenschnelle verwandelte sich Melanie in eine alte Frau, in eine Sterbende, in eine Leiche, in ein Skelett. Der Meister aber löste sich in neuer Frische vom Kreuz. Stark, mit dem Aussehen eines Dreißigjährigen, breitete er beide Arme aus. Er neigte sich tief vor dem magischen Kreuz, dann küßte er das Metall. »Es ist gelungen«, flüsterte er glücklich. »Ich habe das Ewige Leben für mich gefunden. Jetzt gehört die Welt mir.« Jede Vorsicht vergessend, stolperten die drei Mörder in ihr Versteck im Keller der Ruine. Sie hatten es nicht mehr gewagt, in die Pension zurückzukehren.
Der Würger von London hatte sie dort gefunden, aber von diesem Unterschlupf hier wußte er nichts. Die Ereignisse dieses Abends hatten sie völlig schockiert. Ben war erst langsam aus seiner Ohnmacht erwacht. Er konnte sich an nichts mehr erinnern. Sein Gedächtnis versagte in dem Augenblick, als die Übergabe des Mädchens stattgefunden hatte. Davon, daß er wie ein Schlafwandler den Bauplatz ver lassen hatte, wußte er nichts mehr. Die drei Mörder fühlten, daß der Alte eine geheime Macht über sie hatte. Sie verfügten nicht über geschultes Wissen über okkulte Kräfte, aber sie hatten am eigenen Leib gespürt, daß sie sich seinem Willen nicht widersetzen konnten, daß ihnen auch ihre Waffen nichts nützten, vor denen sonst alle Menschen zitterten. »Da wäre es fast besser, Mann, wir wären im Gefängnis«, murmelte Allister, als sie die Ruine betraten. »Ich wäre lieber ganz weit weg«, brummte Franklin. »Ich habe die Nase voll von London und Würgern und Ungeheuern und diesem irren Zeug. Ich will weg.« »Schnauze!« bellte Ben. »Wir werden in Ruhe überlegen, was wir jetzt tun.« »Die Hände hochnehmen!« sagte eine ruhige, aber harte Stimme hinter ihnen. Sie hatten gerade den Kellerraum betreten. Bens Hand tastete automatisch nach dem Lichtschalter. Der Strom, den sie aus einer angezapften Leitung bezogen, beleuchtete drei kalkweiße Gesichter. Sofort rissen die drei Männer die Hände zur Decke. Als sie aber erkannten, daß sie es nicht mit ihrem unheimlichen Geg ner zu tun hatten, schöpften sie sofort wieder Mut. Drei Hände setzten sich zu den Pistolen in Bewegung, aber ein scharfer Zuruf Rick Masters ließ sie in der Luft erstarren. Die 38er Automatik in seiner Rechten unterstrich wirksam seinen Befehl.
Ben faßte sich als erster. »Polente?« fragte er, vor Wut über ihre Unvorsichtigkeit mit den Zähnen knirschend. Der junge Detektiv schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts mit den Bullen zu tun.« Daß er »Bullen« zu den Polizisten sagte, beruhigte die drei Mörder ein wenig, auch wenn sie es nicht mehr wagten, die Arme zu senken. »Aber ich habe einige Fragen an euch, dann sehen wir weiter.« Dürfen wir uns wenigsten setzen?« fragte Ben. Doch Rick schüttelte den Kopf. »Wer hat euch den Auftrag gegeben, Chefinspektor Hemps haw zu erschießen?« peitschte seine Frage durch den kahlen Kellerraum. »Wen?« stellte sich Ben ahnungslos, aber Rick hatte das Zu sammenzucken der anderen bemerkt und wußte, daß er an der richtigen Adresse war. »Keine Ahnung, wovon Sie reden, Mister.« »Ben McLerroy, Sie können sich die Ausreden sparen, ich weiß alles«, bluffte Rick Masters. »Der Mord an dem Polizi sten interessiert mich nicht. Ich will nur wissen, von wem Sie den Auftrag hatten. Dann habe ich mit euch nichts mehr zu tun« Die drei wollten weiterhin auf stur schalten, weil sie sich nicht um Kopf und Kragen reden konnten, aber Rick trieb seinen Bluff weiter. »Ich frage noch einmal«, sagte er beinahe freundlich. »Wenn ich dann keine Antwort erhalte, schieße ich, wobei ich jedesmal genauer ziele. Also, wer hat euch den Auftrag gegeben, den Chefinspektor umzulegen?« Verbissenes Schweigen. Rick hob die Waffe. Sein Finger krümmte sich am Abzug. In dem engen Kellerraum klang der Schuß wie die Detonation einer Granate. Ben brüllte erschrocken auf. Die Kugel war durch eine Falte seines Rockärmels gegangen. Er konnte nicht wissen, daß
Masters ausgebildeter Scharfschütze war und genau auf diese Stoffalte gezielt hatte, um den Mann nicht zu verletzen. Er glaubte, es handelte sich einfach um einen Fehlschuß. »Ich rede ja schon«, sprudelte er plötzlich eifrig hervor. »Aber wir kennen den Auftraggeber nicht. Er rief uns an, sagte, wir sollten dem Bullen eins verpassen. Das war alles.« »Und ihr habt ihn nie gesehen?« fragte Rick mißtrauisch. »Nnein.« Die Antwort dauerte Rick einen Sekundenbruchteil zu lange. Er blickte scharf die beiden anderen Männer an, die ängstlich die Augen niederschlugen. Wenn ihn sein Gefühl nicht täusch te, dann bezog sich die Angst weniger auf seine Person und seine Waffe, als auf diesen geheimnisvollen Auftraggeber. Wenn Ricks Vermutung stimmte, konnte er diese Angst sogar sehr gut verstehen, aber dennoch mußte er hart bleiben. »Ihr habt ihn also gesehen«, stellte er fest. »Wann und wo? Wie sieht er aus?« Wieder erfolgte keine Antwort. Sie stritten aber auch nicht mehr ab, daß sie den Auftraggeber nicht kannten. Immerhin ein Fortschritt, registrierte Rick Masters mit grimmigem Humor. »Antwortet!« herrschte er die drei Mörder an. Zweimal hintereinander spuckte seine Waffe Blei. Neben den Köpfen von Allister und Franklin spritzte Verputz von den Wanden. »Vor einer Stunde«, keuchte Franklin, der jüngste von ihnen. »Er ist alt, hat weiße Haare und ein Gesicht wie eine Mumie. Und er hat Macht über uns, er kann uns zwingen, etwas zu tun. Wir haben Angst vor ihm.« Diese Erklärung aus dem Mund eines Mörders hätte lächer lich geklungen, waren Rick nicht die Hintergrunde bekannt gewesen. »Ihr könnt ihn also nicht genauer beschreiben?« fragte er, wobei er noch einmal drohend die Waffe hob. Sie waren jetzt bereit zu sprechen. Sie hatten keine Kraft mehr, seinen Fragen
Widerstand entgegenzusetzen. Sie schüttelten die Kopfe. »Dann sind wir miteinander fertig«, sagte Rick und steckte die Pistole ein. »Na endlich! Können wir jetzt die Hände herunternehmen?« fragte Ben, der dem Frieden nicht traute. Der Fremde war ein zu guter Schütze gewesen, als daß Ben es wagte, nach seiner eigenen Waffe zu greifen. Rick zuckte die Achseln. »Meinetwegen ja«, antwortete er grinsend, »aber ich fürchte, daß diese Herren etwas dagegen haben.« Er zeigte auf den Eingang des Kellerraums. Die Tür, die sich im Rücken der drei Mörder befand, hatte sich während der letzten Worte langsam geöffnet. Chefinspektor Hempshaw mit einigen Yardmännern trat ein. Das Trio erkannte sofort die Beamten. Resignierend ließen sie die Schultern hängen. Rick Masters entging aber nicht, daß sich in ihre Verzweiflung über die Gefangennahme eine gewis se Erleichterung mischte. Er schrieb diese Erleichterung dem Umstand zu, daß ihr Auftraggeber nicht mehr an sie heran kommen konnte. Demnach mußten sie die schlechtesten Erfah rungen gemacht haben. Hempshaw trat mit einem strahlenden Lachen auf Rick zu. »Die Idee mit dem Funksprechgerät war einfach großartig, Masters!« rief er und schlug dem Detektiv auf die Schulter. Rick zog das WalkieTalkie unter seinem Sakko hervor und reichte es dem Inspektor, der außerhalb der Ruine das ganze Gespräch mitangehört hatte. »Sagen Sie, Rick«, fuhr Hempshaw fort, »wie war das mit den übernatürlichen Kräften des geheimnisvollen Auf traggebers des Mördertrios?« Seine Augen funkelten vor Begierde, Näheres über Ricks Schritte in dem Fall zu erfahren, aber wieder wurde er ent tauscht.
Ich habe nicht mehr gehört als Sie, Hempshaw, erwiderte Rick niedergeschlagen. Mit langsamen Schritten verließ er den Keller. Der Chefinspektor wunderte sich darüber, daß sich der junge Detektiv nicht über den Erfolg freute. Rick konnte wirklich nicht triumphieren. Er hatte gehofft, über diese Leute an den Mann im Hintergrund heranzukom men, aber es war fehlgeschlagen. Er glaubte nicht, daß sie ihn belogen hatten, dazu war ihre Angst vor seinen Schießkünsten zu groß gewesen. Also konnten sie ihm nicht den Weg zu dem Scheusal zeigen, das Hank Colby immer wieder aus seinem Grab holte. Wenn ihm nicht bald etwas einfiel, war in zwei Tagen noch ein Mensch zum Tode verurteilt. Dann jährte sich nämlich der nächste Mord Hank Colbys, und Rick zweifelte nicht daran, daß die lebende Leiche wieder auferstehen würde. Vollständig in Gedanken versunken, stoppte Rick Masters auf der Heimfahrt seinen Morgan vor einem Studentencaff. Er ging hinein, setzte sich an seinen Stammplatz in einer Ecke, von der aus er den ganzen Raum überblicken konnte, und bestellte einen Kaffee. Rick liebte diese Atmosphäre. Junge, unbeschwerte Menschen unterhielten sich, lachten über Witze, knüpften neue Bekanntschaften an, diskutierten über das Leben und alles, was so dazugehörte. ». glaube ich nicht«, sagte gerade eine Blondine am Ne bentisch. »Das ist doch Hokuspokus.« »Hellseher haben aber auch schon der Polizei geholfen«, wandte ein schwarzhaariger Mann ein. »Ich selbst kenne einen solchen Fall. Helen hat damals der Polizei unschätzbare Dien ste erwiesen.« »Du willst doch nicht behaupten, daß sie den Täter entdeck te?« spöttelte die Blondine. »Nein, aber sie hat der Polizei Anhaltspunkte geliefert, die
eine schnellere Entdeckung möglich machten. Helen ist ein anerkanntes Medium. Sie ist empfindsam, und sie behauptet, daß sie die von Menschen ausgehenden Wellen empfangen kann.« »Na, auf deine Helen bin ich aber gespannt.« Das blonde Mädchen war offensichtlich nur schwer zu überzeugen. »Ich möchte sie gerne einmal kennenlernen.« »Ich auch«, sagte Rick Masters und erhob sich von seinem Platz. Jetzt endlich strahlte er, und nachträglich freute er sich auch darüber, daß er die drei Mörder des Polizeifahrers dingfest gemacht hatte. Denn nun hatte er endlich eine Möglichkeit vor Augen, dem Ungeheuer von London das Handwerk zu legen. Vielleicht, fügte er in Gedanken hinzu.
Rasch hatte sich Rick mit den jungen Leuten angefreundet. Viel jünger als er waren sie zwar nicht, aber irgendwie er kannten sie ihn als Fachmann an. Zumindest zeigten sie sich von seinem Beruf beeindruckt. Sogar die Blondine sagte: »Toll, mal einen echten Detektiv kennenzulernen. Sonst liest man immer nur von solchen Leu ten.« »Wahrscheinlich behandelt er nur Scheidungsfälle«, warf eine stupsnäsige Schwarzhaarige ein. Ihr spitzer Unterton war nicht zu überhören. Rick nahm es ihr nicht übel. Die meisten Detektive arbeiteten an solchen Fällen, und er selbst hatte es nur einem glücklichen - oder unglücklichen - Zufall zu verdanken, daß er zur Aufklärung von Kapitalverbrechen herangezogen wurde. Schließlich hatte nicht jeder gute Beziehungen zur Polizei. Einer Eingebung folgend, wandte er sich an die Studenten: »Haben Sie Lust, mir unter Umständen bei einem sehr ge fährlichen Fall zu helfen?« Die Zustimmung kam so spontan, daß er sofort abwehrte: »Zuerst müßte ich mit dieser Helen sprechen, die angeblich
ein gutes Medium ist. Erst dann kann ich eine Entscheidung treffen.« »Worauf warten wir noch?« fragte der Schwarzhaarige, der von Hellsehen gesprochen hatte. »Fahren wir.« Zur gleichen Zeit setzte der Meister sein grausiges Werk fort. Der nie ruhende, bösartige Geist des Meisters arbeitete stän dig an einer Vervollkommnung seiner Methoden. War es ihm bisher nur gelungen, Menschen zu beeinflussen, die als Opfer für Hank Colby bestimmt waren, so half ihm das magische Kreuz neuerdings auch, beliebige Personen seinem Willen zu unterwerfen. Die Grundvoraussetzung war nur, daß er einen diesen Perso nen gehörenden Gegenstand an dem Kreuz befestigte. Zweimal in den beiden folgenden Tagen ging der Meister auf die Straße, benahm sich wie ein harmloser Passant, stieß dann wie zufällig mit einem jungen, kräftigen Menschen zusammen. Er entschuldigte sich, und niemand merkte, daß ihm ein kleiner Gegenstand fehlte, ein unwichtiger, dessen Verschwinden nicht weiter auffiel. Wenig später, genauer gesagt, nachdem der Meister sein Stu dierzimmer erreicht hatte, fielen diese Personen in Trance, gingen durch die ganze Stadt, trafen nach Stunden in dem alten Haus ein. Sie erlitten das gleiche Schicksal wie das Mädchen Melanie. Die Experimente des Meisters mit der Leiche des Gehenkten näherten sich ihrer Vollendung. Bald würde Colby dem Willen seines Lebensspenders gehorchen. Der Meister konnte dann andere Leichen zu einem neuen Leben erwecken. Sie wurden bedingungslos seinen Befehlen gehorchen und ihm jede er denkliche Macht auf der Erde sichern. Er stand vor der Vollendung seiner Pläne. Gab es keine Rettung mehr für die Menschheit? War sie hilflos den Kräften des Bösen ausgeliefert?
Der Meister ging in seinem Studierzimmer auf und ab. Trotz der zahlreichen Versuche und Beschwörungen, die er in den letzten Stunden durchgeführt hatte, zeigte er das Aussehen eines Zwanzigjährigen. Durch seine beiden Opfer hatte er sich trotz des ständigen Kräfteverbrauchs durch das Kreuz verjün gen können. Nur sein Geist war gleich geblieben, hatte sogar neue Nahrung, neuen Antrieb erhalten. Der Meister blieb überrascht stehen. Der zweite junge Mann, dessen Lebenssaft er auf sich selbst übertragen hatte, war vermutlich Dozent oder sogar Professor an der Universität gewesen. Das hatte er aus den Schriften geschlossen, die der Unglückliche bei sich hatte, als er in Trance in das Studier zimmer gekommen war. Der Meister fühlte, daß er plötzlich logischer, schärfer denken konnte. Übertrug sich auch Intelligenz auf ihn? Ein faszinierender Gedanke! Wenn er . Wenn er Studenten, Professoren, Wissenschaftler als Ver suchsobjekte verwendete, mußte er zum größten Geistesgenie der Erde werden. Er wirbelte mit jugendlichem Schwung zu den Regalen her um. »Ich werde euch alle verstehen!« rief er den Buchern und Schriften zu. »Ich werde mein Wissen vergrößern, ich werde meine Untertanen lehren und sie zu neuen Forschungen ausbil den.« Er brauchte intelligente Menschen. Und er wußte, wo er sie in seine Klauen bekommen konnte. Das Verhängnis war scheinbar nicht mehr aufzuhalten.
Auch Rick Masters war in diesen zwei Tagen nicht untätig geblieben. Allerdings war er zu einer bitteren Erkenntnis ge kommen. Vielleicht gelang es ihm einmal, dem Mann im Hin tergrund das teuflische Handwerk zu legen, aber einstweilen
konnte er nichts gegen ihn ausrichten. Er mußte mehr oder weniger untätig zuschauen, wie die Bestie mordete, das heißt, wie die lebende Leiche als Werkzeug Leben vernichtete. Das Gespräch mit Helen, dem Medium, war vielversprechend verlaufen. Sie behauptete, sie könnte die Bilder von anderen Menschen empfangen, wenn diese Leute im Augenblick etwas Entscheidendes taten oder wenn sie etwas in die Hand bekam, das in einem engen Zusammenhang mit dieser Person stand. Der junge Detektiv machte eine Probe. Er hatte in dem Keller, in dem er das Mördertrio dingfest ge macht hatte, ein Trinkglas eingesteckt, das er auf Fingerab drücke untersuchen wollte. Vielleicht war Hank Colby auch in diesem Keller gewesen. Er holte das Glas aus seiner Tasche und stellte es vor Helen auf den Tisch. »Was können Sie mir zu diesem Gegenstand und seinem Be sitzer sagen?« fragte er gespannt. Helen schloß die Augen und berührte das Glas mit den Fin gerspitzen. Rick störte es nicht, daß dadurch die Fingerab drücke verwischt wurden. Er hatte sich ohnehin nicht viel Erfolg versprochen. Helens Fähigkeiten waren weitaus wich tiger. Sie war Anfang Vierzig, hatte ausdrucksvolle, scheue Augen und die feingliedrigen Hände einer Künstlerin. Als sie nun den Kopf senkte, fiel das lange, kastanienbraune Haar über ihr entrücktes Gesicht. Sie schauderte, als sie das Glas berührte. »Blut«, murmelte sie. »Viel Blut. Ein Mann wird verletzt, an der Stirn. Ein zweiter Mann ist tot. Ein Auto. Ein Lei chenwagen. Viele Autos und Menschen. Der Tote ist der Fahrer des Wagens.« Die Studenten waren mitgekommen. Sie zogen ziemlich skeptische Gesichter, die stupsnäsige Schwarzhaarige lachte sogar spöttisch.
»So ein Humbug«, sagte sie wegwerfend. »Im Gegenteil.« Rick Masters steckte das Glas wieder ein. »Helen hat soeben einen Mord beschrieben, den der Mann, der aus diesem Glas getrunken hat, vor wenigen Tagen begangen hat. Und die Einzelheiten stimmen genau, das weiß ich aus erster Hand.« Betretenes Schweigen folgte. Das Medium benötigte noch einige Minuten, um zu vollem Bewußtsein zu erwachen, dann erklärte ihr Rick Masters, worum es in seinem Fall ging, ob sie einen Versuch machen konnte und wollte. Anfänglich wollten ihm die Studenten nicht glauben, doch dann schilderte er die Details so genau, daß sie in ihrem Un glauben wankend wurden. Und ein Telefonat mit Chefinspektor Hempshaw, den Rick noch um drei Uhr nachts aus dem Bett klingelte, löschte die letzten Zweifel aus. Natürlich waren sie zuerst fassungslos, aber Helen nickte. »Ich habe schon lange geahnt und auch gesehen, daß es Din ge gibt, von denen sich die meisten Menschen nichts träumen lassen«, sagte sie sehr ernst. »Nur habe ich nie davon gespro chen, weil ich fürchtete, als Lügnerin verlacht und verspottet zu werden. Sie, Rick, können voll auf meine Hilfe zählen.« »Es ist nicht ungefährlich«, warnte der junge Detektiv. »Ich weiß nicht sicher, ob wir den wandernden Leichnam kontrol lieren können. Wenn er ausbricht, wenn er nicht auf die Sym bole reagiert, die wir zu unserem Schutz verwenden können, sind wir verloren. Dann kann uns keine Polizeitruppe der Welt mehr helfen.« »Ich helfe Ihnen«, erklärte Helen entschlossen. »Und wie steht es mit Ihnen?« wandte sich Rick an die drei Studenten. »Also, ich habe nicht die Nerven dazu«, sagte die stupsnäsige Schwarzhaarige. »Haltet mich meinetwegen für feige, aber da mache ich nicht mit.«
»Ich schon«, sagte der schwarzhaarige Student. Er hieß Will. Anne, seine blonde Verlobte, stimmte ebenfalls zu. Will glaubte, eine wichtige Rolle in diesem Fall spielen zu können. Es stimmte, wenn auch in anderer Hinsicht, als er er wartete. Es war alles vorbereitet. In weniger als einer Stunde mußte der nächste Mord nach dem Muster der Untaten Hank Colbys erfolgen. Der Meister wußte genau, daß bereits jemand hinter das Schema gekommen war und auch versuchen würde, die Tat zu verhindern, aber es bereitete ihm ein sadistisches Vergnügen, Hank Colby trotzdem aus seinem Grab zu holen. Er hatte die Mittel in der Hand, um sich über jeden Widerstand hinwegzu setzen. Wieder hatte er sich einen Lebensspender von der Straße ge holt, diesmal eine Frau. Sie berührte das Kreuz, doch auch der Meister legte seine Hand auf das schimmernde Metall. Er wußte, daß jetzt sein magisches Symbol ungeheure Energien brauchte, um den feindlichen Widerstand zu überwinden. Ein Zittern durchlief die beiden Körper. Eine Stunde dauerte der Todeskampf der jungen Frau. Das auf dem Kopf stehende Kreuz entzog ihr das Leben nur lang sam, weil es auch Kraft aus dem Körper des Meisters schöpfte. Die Frau alterte, durchlief in einer Stunde alle Phasen ihres möglichen Lebens, das auf sie gewartet hatte, wurde zur Grei sin, schrie noch immer mit zahnlosem Mund. Die Zähne fielen ihr innerhalb weniger Sekunden aus - Alterungsprozeß. Auch der Meister alterte. Als er sich endlich mit einem be friedigten Grinsen vom Kreuz löste, war er wieder der mu mienhafte Greis. Er mußte sich nach einem neuen Lebensspender umsehen, möglichst schnell sogar, aber er hatte gesiegt. Und nur darauf kam es ihm im Augenblick an.
Hyde Park Corner. In kleinen Gruppen scharten sich die Menschen um die Lai enredner, die einen Kummer loswerden wollten, auf die Re gierung schimpften, eine neue Religion verkündeten und was auch immer. Ein Stück weiter im Park lehnte Helen, das Medium, an ei nem Baum. Rick Masters stand neben ihr. »Sind Sie bereit?« fragte er und berührte leicht ihre Hand. Sie nickte gefaßt. Ihre Finger zitterten vor Aufregung. »Ja, ich will es durchstehen, ich muß«, sagte sie mit fester Stimme. Der junge Detektiv schaute sich um. Will und Anne, die bei den Studenten, bildeten mit ihm ein Dreieck um die historische Mordstelle. Rick Masters war ziemlich sicher, daß alles wieder nach dem alten Schema ablaufen würde. Das Opfer sollte diesmal ein Mann in schwarzem Anzug mit Zylinder sein, einer der typischen Börsenmakler. Vor hundert Jahren hatte er Colby durch sein wohlhabendes Äußeres gereizt. Es war der einzige Raubmord in seiner Liste der Verbrechen. Die anderen Untaten beging er nur aus sadisti schem Verlangen. Jeder der drei - Rick Masters, Anne und Will - trugen Kreuze bei sich und hatten auf ihre Kleidungsstücke nach den Anweisungen eines Buches aus Ricks Privatbibliothek Sym bole aufgenäht, die sie gegen die Kraft der lebenden Leiche schützen sollten. Jeder von ihnen trug auch ein Kreuz bei sich, um damit das auserwählte Opfer abzuschirmen. Die Zeiger der Uhr rückten unerbittlich auf die Tatzeit zu. »Dreht die Kreuze, um Himmels willen, nicht um, so daß, sie auf dem Kopf stehen!« hatte Rick seinen Helfern eingeschärft. Er wußte zwar, daß das auf dem Kopf stehende Kreuz als Zeichen des Bösen galt, aber er ahnte, daß dieses Symbol in seinem Fall, einen ganz bestimmten Sinn hatte. Welchen, das
hatte er noch nicht ergründen können. Rick behielt recht. Es lief alles so wie vor hundert Jahren, und es erinnerte ihn auch an den Mord auf der Tower Bridge. Der Mann in dem schwarzen Anzug mit dem Zylinder nä herte sich dem von ihnen eingeschlossenen Gebiet. Auch er zeigte das Gehabe eines Schlafwandlers, der sich durch nichts aufhalten ließ. Sie zogen den Kreis um das Opfer enger. Unter höchster An spannung warteten sie auf das Erscheinen Colbys. Der Mann mit dem Zylinder blieb stehen. Grauenhaft, dachte Rick. Ich weiß, daß er gleich erstochen werden soll, aber mir ist nicht klar, wie ich ihm helfen soll. Möglicherweise wird er vor meinen Augen bestialisch ermor det, wie die Frau auf der Tower Bridge. Ob ich das noch einmal aushalte? Und dann war er da. Aus dem Nichts materialisiert. Hank Colby, die lebende Leiche.
Scheinbar den Erdboden mit den Füßen kaum berührend, glitt er auf den Mann im schwarzen Anzug und mit dem Zylinder zu. In seiner Hand blitzte ein gedrehter Dolch. Rick erkannte auf den ersten Blick eine genaue Kopie der Tatwaffe von 1873. Er hatte im Archiv eine Zeichnung gese hen. Anne, die blonde Studentin, stieß einen leisen Schrei aus, als sie die wächsernbleiche Leichenstarre des Gesichts sah. Auch Will zuckte zurück, dennoch hielten sich beide tapfer. Wie verabredet, sprangen sie auf den Mann im schwarzen Zylinder zu, stellten sich schirmend vor ihn und hoben ihre Goldkreuze. Colby blieb stehen. Sein Gesicht verzerrte sich in gräßlicher Wut. Er tat einen Schritt vorwärts, wankte zurück, vorwärts, zurück.
Es war fast mehr, als die Nerven eines Menschen ertragen konnten. Obwohl der entscheidende Augenblick da war, blickte Rick Masters kurz zu dem Baum, an dem Helen, die Hellseherin, lehnte. Er sah, daß ihr Körper von leichten Zuckungen ge schüttelt wurde. Wenigstens hat sie den Kontakt hergestellt, dachte er grim mig. »Er weicht!« rief Anne bebend. »Er kann nicht näher kom men!« Es sah so aus, als hätte ihr Unternehmen Erfolg, aber Rick Masters glaubte nicht ganz daran. Er war kein Hellseher, doch er hatte die Vorahnung, daß etwas schieflaufen würde. Sein Fehler bestand darin, daß er nicht damit rechnete, daß sich das Opfer selbst seinem Mörder überliefern würde. Er erhielt von hinten einen mächtigen Stoß, der ihn gegen Will schleuderte. Der Student hatte zwar noch einen Warnruf ausgestoßen, aber er kam zu spät. Durch den Zusammenstoß wurde Will das Kreuz aus der Hand geprellt. Es blieb, mit der Spitze nach unten, im weichen Gras stecken. »Aufheben!« schrie Rick, wahrend er versuchte, mit einer Rolle wieder auf die Beine zu kommen. »Aufheben und um drehen.« Will befolgte den Rat, aber es nutzte nichts mehr. Der Mann mit dem Zylinder war auf Hank Colby zugegangen, und auch der letzte verzweifelte Versuch Ricks rettete ihn nicht. Der junge Detektiv sprang auf den Todgeweihten zu, berührte ihn mit dem Kreuz, aber im gleichen Augenblick durchzuckte ihn eine Energie, gleich einem elektrischen Stromstoß, die ihn betäubt zu Boden schleuderte. Ein heiseres Knurren. Hank Colby stieß den spitzen Dolch in die Brust des Mannes. Er zog die blutverschmierte Klinge zurück, stieß wieder zu, handelte wie im Wahn. Blut spritzte
auf den grünen Rasen, bildete häßliche Flecke. Wie im Zeitlupentempo sank der Sterbende zusammen. Hank Colby bückte sich und nahm dem bereits Toten die Brieftasche weg. Dann löste er sich vor den Augen der ent setzten Tatzeugen auf. Die lebende Leiche hatte ein neues Opfer gefunden.
Bei seinem Erwachen aus der kurzen Ohnmacht mußte Rick Masters nicht erst nach dem Ausgang des Kampfes zwischen Gut und Böse fragen. Die übel zugerichtete Leiche lag direkt vor ihm. Seine Finger faßten in klebriges Glas. Noch warmes Blut blieb an seiner Hand haften. Müde, als hätte er wochenlang nicht geschlafen, wankte Rick zu dem Baum, an dem Helen völlig erschöpft lehnte. Ihre Hände zuckten, Schweiß lief in Bächen über ihr bleiches, eingefallenes Gesicht. »Helen«, sprach Rick sie sanft an. »Helen, wachen Sie auf!« »Hat keinen Sinn, Masters«, erklang hinter ihm die Stimme Wills. »Ich kenne Helen, wenn sie in diesem Zustand ist. Dann hört sie nichts. Warten Sie einige Minuten, dann erwacht sie von alleine.« »Alles in Ordnung bei Ihnen?« fragte Rick mit schwerer Zunge. »Alles in Ordnung«, bestätigte der Student. Anne trat zu ihnen. Sie ging wie eine Betrunkene. Ihre Augen starrten ins Leere. Rick erwartete, daß sie jeden Moment zu sammenbrechen würde, aber das Mädchen hielt sich tapfer auf den Beinen. »Das muß mit allen Mitteln verhindert werden«, sagte sie nach einer Weile stockend. »Und wenn ich dabei sterbe, ich werde helfen, diese Untaten zu verhindern.« »Auch ich mache weiterhin mit, Masters«, erklärte Will. Es klang wie ein Schwur. »Ich bin bereit, mein Letztes zu geben.« »Mein Gott!« stöhnte Helen. Das Medium war aus dem Tran
cezustand erwacht. Sie klammerte sich an den Baum, um den Halt nicht zu verlieren. »Das war schrecklich!« Sie wischte sich über die Augen. »So etwas habe ich noch nie gesehen.« »Ja«, sagte Rick Masters grimmig. »Ein Mord ist etwas Fürchterliches.« »Mord?« Auf dem Gesicht der Seherin zeichnete sich Unver ständnis ab. »Ich spreche von den Dingen, die ich gesehen habe.« Und sie berichtete. Sie schilderte, wie eine Frau, ein Kreuz berührend, innerhalb von Minuten zur Greisin gealtert und gestorben war. »Übertragung von Lebenskraft«, kommentierte Rick. »Nur ein Mensch auf dieser Welt weiß, wie das gemacht wird, und das ist der Mann, der eine Leiche zu neuem Leben erwecken kann. »Helen!« Er faßte die Seherin drängend an den Schul tern. »Haben Sie den Mann gesehen? Können Sie ihn beschrei ben? Wo befindet er sich?« Die Seherin schüttelte traurig den Kopf. »Es tut mir leid, aber er hat sich abgeschirmt. Er hat um sich herum sozusagen einen Schutzschild aufgebaut, den ich nicht durchbrechen konnte. Hätte die Frau an mich gedacht, dann wäre es mir vielleicht möglich gewesen, über ihr Gehirn sein Bild zu empfangen, aber so .« »Schon gut.« Rick nickte. Auch dieser Versuch war fehlge schlagen. »Machen wir, daß wir hier wegkommen«, sagte er zu seinen Helfern. »Da drüben am Hyde Park Corner werden schon einige Leute auf die auf dem Boden liegende Gestalt aufmerksam. Wir haben keinen Grund, mit der Polizei zu spre chen.« »Aber .«, setzte Will an, doch Rick winkte ab. »Ihr bekommt alle keine Schwierigkeiten mit der Polizei, das verhindere ich«, sagte er. »Und dem armen Teufel kann sowie so niemand mehr helfen.« Bedrückt verließen sie den Park, sich voll ihrer Niederlage
bewußt. »Ach ja«, erinnerte sich die Seherin plötzlich, als sie zu ihren Autos gingen. »Eines hätte ich beinahe vergessen. Der Mann ist ebenfalls stark gealtert. Er hat nicht mehr lange zu leben.« »Wunderbar!« rief Will mit neuer Hoffnung. »Dann hört der Spuk ja bald von selbst auf.« »Irrtum, mein Freund!« Rick Masters winkte müde ab. »Er wird sich nur wieder einen Lebensspender besorgen, diesmal für sich selbst. Verlassen Sie sich darauf.« Der Student schau derte. »Ich möchte nicht in der Haut dieses Menschen stek ken«, sagte er. Eine Stunde später stieß er auf der Straße mit einem uralten Mann zusammen, der sich wortreich für seine Un geschicklichkeit entschuldigte.
Die Leute vom Geheimdienst wurden allmählich unruhig, von Scotland Yard ganz zu schweigen. »Warum haben Sie nicht einen einzigen Erfolg aufzuweisen, Mr. Masters?« fragte der Rothaarige barsch. »Planmäßig findet ein Mord um den anderen statt, wir schicken jedesmal, wie Sie es wünschen, keinen unserer Männer an den Tatort, aber Sie kommen nicht weiter. Wie erklären Sie sich das?« Ricks Nerven hatten in den letzten Tagen ebenfalls gelitten, sonst hatte er sicherlich nicht so scharf geantwortet. »Ich erkläre es mir sehr einfach, aber es ist schwer, Ihnen etwas zu erklären, wovon Sie keine Ahnung haben.« Der Rothaarige wurde wütend. »Ich habe einen Spezialkurs mitgemacht!« schrie er. »Ausgezeichnet.« Masters lachte höhnisch. »Dann können Sie mir sicher alles über die Übertragung von Lebenskraft mittels eines auf dem Kopf stehenden Kreuzes sagen, nicht wahr?« »Wovon?« Das Gesicht des Rothaarigen bildete ein einziges Fragezeichen.
»Dachte es mir doch«, knurrte der Detektiv. »Der Kurs muß sehr umfangreich gewesen sein.« Er schlug dem völlig verblüfften Geheimdienstmann die Tür vor der Nase zu und verließ das Hauptquartier der Orga nisation. In seinem Wohnbüro erwartete ihn bereits ein guter Bekann ter. Dr. Sterling erhob sich bei Ricks Eintreten. »Die Tür war offen, da dachte ich, warum soll ich auf der Straße warten.« »Ich vergesse oft, die Tür abzuschließen«, sagte Rick zur Be grüßung. »Trinken Sie etwas mit mir, Doktor?« Sterling lehnte nicht ab. Einem guten Whisky konnte er nicht widerstehen. »Es ist also schiefgegangen«, faßte der alte Pathologe die letzten Ereignisse zusammen.«Die Zerstückelung von Colbys Leiche hat nichts genützt, wie?« »Leider nicht.« Rick Masters schenkte zwei Glaser halb voll, das eine reichte er seinem Gast. »Ehrlich gesagt, Doktor, ich bin am Ende mit meiner Weisheit. »Geweihter Pfahl?« schlug Sterling vor. Rick hob abwehrend die Hand. »Das mag vielleicht für einen Vampir reichen, aber es ist hier wie bei einer Krankheit. Man kennt ein Mittel gegen einen Virus, aber sobald ein neuer Virus auftritt, ist man machtlos, bis ein Serum gefunden wird, das auf diesen speziellen Krank heitserreger genau paßt. Habt ich mich medizinisch einigerma ßen vertretbar ausgedrückt? Sterling grinste humorlos. »Beinahe perfekt, Masters. - Hören Sie, ich habe die Lei chen auf den Tisch bekommen, die unser Freund Colby auf dem Gewissen hat. Und mir ist da etwas aufgefallen.« »Das mir weiterhelfen könnte?« fragte der Detektiv begierig. Der alte Arzt zuckte die Schultern. »Kann sein, ich weiß es nicht. Auf jeden Fall sollten Sie es
erfahren. Die Opfer sind immer um einige Jahre jünger, als sie eigentlich sein sollten. Genauer gesagt: das letzte Opfer aus dem Hyde Park hätte laut Ausweis fünfundfünfzig Jahre alt sein müssen, der Körper war aber der eines Dreißigjährigen. Sagt Ihnen das etwas?« Rick Masters trank den Whisky in einem Zug aus. »Natürlich sagt es mir etwas. Unser Feind arbeitet mit künst lichem Verjüngen und Altern. Man könnte sagen, er kontrolliert den Zeitablauf und kann gewissermaßen auch die Zeit für Colby zurückdrehen. Wie er das macht, weiß ich nicht, leider.« »Dann isolieren Sie doch einfach Colbys Leiche«, schlug der Pathologe vor. »Bleisarg, geweihte Kreuze und solche Sachen. Vielleicht hilft das.« »Es könnte helfen, Colby unschädlich zu machen«, gab Rick Masters zu. »Nicht aber den Mann, der hinter allem steht. Um ihn geht es. Eine Seherin hat ausgesagt, er würde jetzt Men schen, lebendige Menschen dazu benutzen, für sich und seine schaurige Leiche Lebenskraft zu gewinnen. Vielleicht wird man niemals feststellen können, daß jetzt als vermißt Ge meldete in Wirklichkeit diesem Unhold zum Opfer gefallen sind.« »Dann ist also meine schöne Theorie sinnlos?« Dr. Sterling zuckte bedauernd die Schultern und stand auf. »Wollen Sie mir nicht noch ein wenig Gesellschaft leisten?« fragte der Detektiv. »Ich fühle mich im Moment einsam und ziemlich hilflos.« Dr. Sterling klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Kopf hoch, Masters, vielleicht liegt der Erfolg schon greif bar nahe!« Eine hingeworfene Bemerkung, um einen niedergeschlagenen Freund zu trösten, und doch enthielt sie eine Prophezeiung, von deren Tragweite keiner der beiden im Augenblick etwas ahnte. Er hatte Feinde, das war dem Meister bei Colbys letztem
Mord klargeworden. Feinde, die zwar über gewisse Kräfte ver fügten, die man auch als Eingeweihte bezeichnen konnte, die ihm jedoch nicht direkt gefährlich werden konnten, weil sie wissensmäßig bei weitem nicht an ihn heranreichten. Dennoch hatte der Meister beschlossen, in der nächsten Zeit sein Haus nicht zu verlassen, um jetzt, so knapp vor der Er füllung all seiner Träume, nicht das geringste Risiko einzuge hen. Er brauchte jedoch einen Vorrat, einen großen Vorrat an Le benskraft, an frischen, unverbrauchten Menschen. Er hatte auf seine Art vorgesorgt. Immer wieder war er auf der Straße ge gen junge Leute getorkelt, hatte sich bei ihnen entschuldigt, ihnen kleine Gegenstände, vielleicht nur einen Mantelknopf, weggenommen. Auf seinem Schreibtisch, der aus Menschen knochen gefertigt war, türmten sich die Unterpfänder, die ihre ursprünglichen Besitzer dem Meister willenlos auslieferten. Zunächst mußte er selbst wieder Jugendkraft erlangen, die er bei Colbys letzter Untat verloren hatte. Wahllos griff er nach einem der Gegenstände, einem schma len Armband aus Holzgliedern. Er wußte nicht mehr, wem es gehörte, es war ihm auch gleichgültig. Er befestigte das Arm band an seinem magischen Kreuz, dann wartete er auf sein Opfer. Es würde kommen, das war gewiß.
Anne, die Studentin, ging mit ihrem Verlobten spazieren. Nach den grauenhaften Vorfällen im Hyde Park hatte sich ihrer eine Unruhe bemächtigt, die sie nicht lange in einem geschlos senen Raum verweilen ließ. Kaum befand sie sich eine halbe Stunde in der Wohnung, drängte sie ihren Freund Will auch schon wieder, mit ihr auf die Straße zu gehen. »Wo hast du denn das Armband?« fragte sie, während sie vor einem Schaufenster standen und die ausgelegten Waren be trachteten.
Will blickte überrascht auf sein Handgelenk. »Ach, das muß ich bei dem Sturz im Hyde Park verloren ha ben. Sollen wir es holen? Vielleicht liegt es noch an derselben Stelle.« »Niemals!« schrie das Mädchen erschrocken auf. »Niemand bringt mich dazu, jemals wieder an den Tatort zu rückzukehren.« »Macht nichts«, wehrte Will ab, während sie weitergingen. »Die Polizei hat es sicher gefunden und mitgenommen, wenn es wirklich am Schauplatz eines Verbrechens gelegen hat. Ich werde mir ein neues .« Der Student brach ab, blieb stehen, löste sich von seiner Freundin, stieß ihren Arm zurück und ging los, wendete sich in die entgegengesetzte Richtung. Anne lief hinter ihm her. »Will!« rief sie verzweifelt. »Will, was ist denn los? Ist es wegen des Armbandes? Aber ich habe es doch nicht böse gemeint, versteh mich doch!« Er verstand sie nicht. Anne sah das bald ein, als er überhaupt nicht auf ihre Zurufe reagierte. Passanten blieben stehen, schauten dem Paar nachdachten, die zwei haben sich ordentlich gestritten. Sie soll ihn doch in Ruhe lassen, er will nichts von ihr wissen. Niemand ahnte, worum es sich wirklich handelte, auch Anne nicht. Trotzdem mußte sie Hilfe holen, und der einzige, der ihr einfiel, war Rick Masters. Mit fliegenden Fingern durchwühlte sie ihre Handtasche nach dem Zettel, auf den er ihr seine Telefonnummer geschrieben hatte. Nach einigen Minuten stießen sie auf eine Telefonzelle, und inzwischen hatte Anne auch den Zettel gefunden. Während Will mechanisch weiterging, wählte sie Ricks Nummer. Nach dem dritten Zeichen meldete er sich. »Sie müssen sofort kommen, Mr. Masters!« schrie Anne ver zweifelt. Sie nannte ihren Standort. »Fahren Sie von hier aus in östlicher Richtung weiter! Sie müssen uns unter allen Umstän
den finden, sonst geschieht etwas Schreckliches, ich ahne es!«
Rick Masters starrte überrascht auf den Telefonhörer, der be reits wieder das Freizeichen gab. Dann sprang er von seiner Couch hoch und raste hinunter zu seinem Wagen. Nur zehn Minuten später erreichte er die angegebene Stelle, doch von Anne und Will war weit und breit nichts zu sehen. Wie ein Irrer kurvte Rick durch die umliegenden Straßen, bis er endlich das Mädchen völlig verzweifelt an einem Postkasten lehnen sah. Sie stützte sich schluchzend gegen die schwere Eisensäule. »Wo ist Will?« war Ricks erste Frage, aber sie schüttelte nur stumm den Kopf. »Sie wissen es nicht?« »Ich habe ihn verloren, während ich mit Ihnen telefonierte«, schrie sie auf. »Mein Gott, was wird jetzt aus ihm?« Durch geschicktes Fragen bekam der Detektiv bald aus dem Mädchen heraus, was er wissen mußte. »Kommen Sie, wir suchen nach ihm mit dem Wagen!« schlug Rick vor. Über Autotelefon gab er auch an die Polizei die Beschreibung des Studenten weiter. Nach zwei Stunden brachen sie die Suche erfolglos ab. Kurz darauf empfing Helen, die Seherin, eine Botschaft. Lauschend legte sie den Kopf zur Seite, als könnte sie tat sächlich etwas hören, obwohl es nur eine innere Stimme war, die sie rief. Sie hatte dieses Gefühl zum ersten Mal als Kind gehabt, als ihre Großmutter starb und den dringenden Wunsch äußerte, ihre Enkelin noch einmal zu sehen. Zu diesem Zeit punkt befand sich Helen jedoch auf einer Reise auf dem Konti nent, so daß es unmöglich war, das Kind zu der Sterbenden zu bringen. Damals hatten die Verwandten, die der alten Frau in ihrer letzten Stunde beistanden, traurig den Kopf geschüttelt, als sie plötzlich die Anwesenden bat, eine Weile nicht zu sprechen, sie
würde sich mit der kleinen Helen unterhalten. Ein verklärter Ausdruck hatte sich auf die verwitterten Züge gelegt, und sie waren so starr geworden, daß die Versammelten bereits mein ten, die alte Frau wäre gestorben. Doch nach etwa zehn Minu ten belebte sich das Gesicht der Greisin wieder, und sie hatte verkündet: »Ich habe Helen auf Wiedersehen gesagt.« Natürlich hielten es alle für Phantasien, ebenso wie die Gou vernante, die Helen auf ihrer Europareise begleitete. Sie mein te, das Kind wollte ihr einen Bären aufbinden, als es während des Abendessens erklärte. »Meine Großmutter will mit mir sprechen, ich esse später weiter.« Sie hatte geschimpft und das Kind ermahnt, nicht so unge horsam zu sein, doch die Kleine hatte sich nicht um die Worte der Erzieherin gekümmert. Helen hatte überhaupt nicht reagiert, wie entrückt hatte sie am Tisch gesessen, nach etwa zehn Minuten zu weinen an gefangen und gesagt: »Meine Großmutter stirbt jetzt.« Und wieder fünf Minuten später hatte sie traurig zu ihrer Gouvernante gesagt: »Jetzt ist Großmutter tot.« Erst nach dem Ende der Reise war die Wahrheit ans Licht gekommen. Die Mutter Helens hatte sich sehr erschrocken über die übersinnlichen Kräfte ihrer Tochter gezeigt und mit allen Mitteln versucht, sie zu unterdrücken, aber heimlich entwik kelte sich Helen zu dem gefragten Medium, das sie inzwischen war. Auch jetzt er ging es ihr wie damals, als ihre Großmutter sie gerufen hatte. Sie hörte eine Stimme, ohne erklären zu können, woher und wieso. Manchmal fühlte sie, was eine Freundin von ihr wollte. Sie sah auch Geburten, die sich im gleichen Augen blick in irgendeinem Land der Erde ereigneten und Menschen betrafen, die ihr nahestanden. Aber sehr bald merkte sie, daß der Mensch, der Kontakt mit ihr suchte, in höchster Todesnot
steckte. Ein Gesicht zeichnete sich vor ihrem geistigen Auge ab, ein bekanntes Gesicht. Und es war mit Angstschweiß bedeckt, zeigte einen solchen Schrecken, wie ihn nur ein Mensch in seiner letzten Stunde empfinden kann, wenn er eines grausa men gewaltsamen Todes stirbt. Das Gesicht wurde klarer. Helen erkannte den Rufer. Mit einem Schrei tastete sie nach einem Halt, aber sie war für ihre wirkliche Umgebung für die Dauer der Erscheinung blind. Sie verfehlte die Tischkante, stürzte zu Boden und wand sich zuckend auf dem Teppich. Sie litt mit dem Unglückseligen, empfand dessen Schmerzen und Ängste nach. Und sie sah ein Gesicht - das Gesicht eines Greises, eines bösartigen Geschöpfes, das nur Tod und Verderben kannte. Schaum stand ihr vor dem Mund. Dann erschlaffte ihr Kör per. In tiefer Trance blieb sie regungslos liegen.
Wie die anderen Opfer vor ihm, die als Spender der Lebens kraft mißbraucht worden waren, wußte auch Will nicht, daß er gegen seinen Willen zu einem Haus ging, in dem der Tod auf ihn lauerte. Er sah alles um sich herum wie in einem Film, der auf einer weit entrückten Leinwand ablief, und der ihn nicht interessierte. Es fühlte sich an, als schwebte er durch den freien Raum, in dem es außer ihm keine anderen Menschen oder Gegenstände gab. Er sah auch das alte Haus, geduckt wie ein zum Sprung an setzendes Raubtier, sah die fast blinden Fensterscheiben, die zwischen den dichten Zweigen des dunklen Efeus hervorlugten und ihm feindselig entgegenblinzelten. Seine Füße knirschten auf dem Kies des Weges, der zu der schweren Eichentür führte, die einen Spalt offenstand. Will drückte die Tür auf, betrat die Vorhalle. Hinter ihm fiel die Tür krachend ins Schloß, schnitt jeden Kontakt zur Außen
welt ab. Niemand, der dieses Haus betrat, hätte geglaubt, sich im London des 20. Jahrhunderts zu befinden. Er hätte sich in eine Zeit zurückversetzt gefühlt, in der noch die Pferdedroschken durch die Stadt klapperten und die Menschen meinten, außer halb der britischen Insel gäbe es nur Menschenfresser, und der Ozean würde nach einigen Meilen in einen tiefen Abgrund, die Hölle, stürzen. An die Hölle erinnerte auch die Einrichtung des Hauses. Einst mußte es einem reichen Adeligen als Stadtsitz gedient haben, aber zu der kostbaren Einrichtung hatten sich Ge genstande gesellt, die auf den verderbten, unheimlichen Cha rakter des Hausherrn schließen ließen. Menschliche Totenschädel und Gerippe hingen neben den verschiedensten Mordwerkzeugen, sorgfaltig aus der ganzen Welt zusammengetragen. Leuchter in Form von Armen ragten aus den nackten Wänden, die mit fremdartigen Symbolen bedeckt waren. Zwei riesige Doggen bewachten das Haus, zähnefletschend, ausgestopft, präpariert, vor Verwesung ge schützt. Verwesung! Verwesungsgeruch hing in der Luft. Der eisige Hauch wehte unter einer Bohlentür hervor, die durch ein massives Vor hängeschloß, wie man es auf alten Burgen findet, geschützt war. Schwere Eisenbalken hielten die handdicken Bretter und Balken zusammen, hinderten jeden Unbefugten daran, einen Blick auf die hinter dieser Tür liegenden Geheimnisse des Hauses zu werfen. Eines dieser Geheimnisse bekam Will gegen seinen Willen zu sehen: das Studierzimmer des Hausherrn. Es war der schwarze Raum, dessen Einrichtung aus Men schenknochen bestand und von dem aus das Schicksal zahlrei cher Menschen bereits entschieden worden war. Ein knochiger, greisenhafter Mann erhob sich mühsam hinter
seinem Schreibtisch, kam mit trippelnden Greisenschritten auf den jungen Mann zu, prüfte ihn mit glühenden Blicken. »Gut, sehr gut.« Dünnes Kichern drang an Wills Ohren, die nichts bewußt aufnahmen. »Du wirst mir also helfen, dieses verdammte Alter abzulegen und wieder jung zu werden.« Er ging um den Studenten herum, als hatte er ein Stück Vieh vor sich, das er auf dem Markt kaufen wollte. »Du siehst auch intelligent aus«, sagte der Meister nach ei nem prüfenden Blick ins Gesicht seines Gefangenen. »Das ist gut. Ich brauche deinen Geist, deine Gedanken, deine Fähig keiten.« Knochige Finger packten Will, am Arm, zogen ihn zur Hinterwand des Zimmers, zu dem auf dem Kopf stehenden Kreuz. »Höchste Zeit«, brabbelte der mumienhafte Alte vor sich hin. »Ich muß mich beeilen, ich fühle es. Meine Zeit ist bald ab gelaufen, aber du wirst mich vor dem Tod bewahren. Ich darf nicht sterben, mein Leben ist zu wichtig für - mich.« Will registrierte alles, als wäre er ein Tonbandgerät und eine Filmkamera. Er beurteilte nichts, schätzte nichts ein, machte sich keine eigenen Gedanken. Wie seine Vorgänger in dem schaurigen Prozeß der Übertra gung von Lebenskraft, empfand er keine Angst und unternahm nichts, um das Unheil von sich abzuwenden. Mehr oder weniger Unsinn vor sich hinbrabbelnd, als wäre er in höchstem Grade senil, stellte der Meister den Studenten vor das Kreuz, breitete seine Arme, aus, daß die Handflächen auf den Endpunkten des Querbalkens lagen. Dann nestelte er an seinen Ringen herum, fluchte lästerlich in so grauenhafter Weise, daß ein normaler Mensch vor Entsetzen geflohen wäre, weil er nicht gleich die richtige Reihenfolge in der Beschwö rung der Ringe fand. Er war nicht nur körperlich, sondern auch geistig gealtert, konnte sich nicht mehr deutlich genug erinnern, begann zu zittern, weil er fürchtete, die Fähigkeit verloren zu haben, sich
wieder zu verjüngen. Endlich erklang das helle Sirren, das anzeigte, daß das magi sche Kreuz doch noch seine Kräfte in seinen Dienst stellte. Mit einem erlösten Strahlen in den Augen berührte der Meister das Kreuz, und sofort durchzuckte ihn neue Kraft. Wills Bann jedoch löste sich im gleichen Moment. Zwar konnte er sich nicht aus seiner Lage befreien, er schrie aber auch nicht, wie die vor ihm ans Kreuz gefesselten Men schen. Innerhalb weniger Augenblicke deutete er die vorher regi strierten Vorgänge richtig, erkannte, daß er durch einen ma kabren Zufall genau bei dem Menschen gelandet war, den Rick Masters, der Detektiv, so verzweifelt suchte, weil er die Serie des Schreckens in London ausgelöst hatte. Gleichzeitig zog die Szene im Hyde Park durch sein Gedächtnis, als der Mann mit dem Zylinder ermordet wurde und Helen, die Seherin, kein deutliches Bild des Alten empfangen konnte. »Hätte die Frau an mich gedacht«, hatte die Seherin damals gesagt, »hatte ich den Mann vielleicht sehen können.« Nun, er Will wußte, daß er nicht mehr lange zu leben hatte. Er war kein Held, aber er wollte seine letzten Sekunden oder Minuten dazu verwenden, geistigen und seelischen Kontakt mit Helen herzustellen, damit sie seine Augen, seine Ohren, seinen Geist dazu benutzen konnte dieses Ungeheuer zu entlarven. Ohne seinen Blick von dem Meister zu nehmen, der sich zu sehends straffte, sich wohler fühlte, dachte er intensiv an die Seherin, wünschte, mit aller Kraft, sie zu sehen, zu hören. Für Sekunden durchzuckte ihn die schreckliche Angst, daß der Kontakt nicht gelingen könne. Schließlich hatte er nie an einem derartigen Experiment der Gedankenübertragung teilge nommen. Vielleicht machte er etwas falsch. Dann würde sein Tod sinnlos sein, nur einem Ungeheuer dazu dienen, sein un heilbringendes Leben zu verlängern. Doch dann zwang er sich zur Ruhe.
Er fühlte bereits, wie die Spannkraft seinen Körper verließ, wie er alterte. Doch gleichzeitig registrierte er auch, daß Helen mit ihm in Verbindung stand. Er hatte diese Empfindung noch nie gehabt, aber er wußte, sie war bei ihm, geistig, seelisch. Noch im Tod räche ich mich an dir, du Scheusal, dachte er grimmig. Seine Augen richteten sich wie todbringende Waffen auf den Meister. Er strengte seine Ohren, die laufend an Schär fe verloren, an, um dieses unheimliche Sirren zu übertragen. Helen, dachte er intensiv, er hat mein Armband gestohlen, deshalb mußte ich ihm gehorsam sein. Jetzt saugt er mich aus wie ein Vampir. Es ist fast so, als gäbe es kein Mittel gegen ihn, als könnte niemand ihm etwas anhaben. Aber er kann nicht Gedanken lesen, sonst wüßte er, daß ich ihn jetzt an dich ver rate. Zuerst konnte sich Will nicht erklären, wieso vor seinen Au gen alles verschwamm, doch dann kam ihm die Erkenntnis. Bitter dachte er: wäre ich natürlich gealtert, wäre ich stark kurzsichtig geworden. Und in einem Anflug von Galgenhumor: ich erspare mir also das Geld für die Brillen. Noch einmal wollte er sich auf Helen und auf die Gedanken übertragung konzentrieren, aber er wurde bereits fahrig, zer streut, wußte nicht mehr, was er wollte, verstand nicht mehr, was um ihn herum vorging. Sein Kopf pendelte von einer Seite zur anderen. Der Meister starrte triumphierend auf diesen Kopf. Schlohweißes Haar umgab ihn wie eine Mähne. Der Mund war eingefallen, über die Lippen tropfte Blut aus den zahnlosen Kiefern. Die Haut faltete sich am Hals, die Adern und Sehnen traten in dem ver trocknenden Fleisch deutlich hervor. Ein Greis in den Kleidern eines Jünglings. Mit einem wilden Lachen löste sich der Meister von dem teuflischen Kreuz. Will hielt sich noch einige Augenblicke aufrecht. Der Bann, der ihn an das magische Metall gefesselt hatte, war gebrochen,
das Band durch den Meister selbst zerschnitten. Nicht einmal der Meister konnte abschätzen, um wie viele Jahre dieser Junge da gealtert war, aber er mußte weit über hundert Jahre zählen. Schließlich hatte er durch den raschen Alterungsprozeß keinerlei Krankheiten durchmachen müssen. Will starb im Stehen. Er starb an Altersschwäche.
Auch die völlig verzweifelte und gebrochen Anne sah ein, daß Rick Masters richtig gehandelt hatte, als er die Suche nach ihrem Verlobten abbrach. Es hatte keinen Sinn, wenn zwei Menschen jemanden in einer solchen Riesenstadt wie London suchten. Noch dazu, wenn der Verfolgte sich offensichtlich nicht natürlich benahm, sondern unter irgendeinem Zwang handelte, der seine normalen Reaktionen ausschaltete. Dennoch wollte sie nicht so leicht aufgeben. Seit zwei Jahren kannte sie den ruhigen, ernsten Studenten. Sie hatte ihn schät zen und lieben gelernt, und er war der einzige Mensch, der ihr bisher in ihrem jungen Leben etwas bedeutet hatte. Mit ihm wollte sie ihr weiteres Leben aufbauen. Ihre Verlobung lag erst zwei Wochen zurück, und sie hatten sich diesen Schritt reiflich überlegt. Der Detektiv hatte ihr angeboten, sie nach Hause zu bringen. Anne lachte bitter auf. Nach Hause! Was sollte das heißen? Sie hatte ohne Will kein Zuhause. Oder sollten das die beiden kleinen Räume sein, die in einem alten Londoner Haus nahe der Themse unter dem Dach lagen? Diese Kammern, in denen nur alte, wacklige Möbel standen, für die der Vermieter eine horrende Summe verlangte? Der Detektiv war weggefahren, und nun stand sie allein und völlig verlassen auf dem Bürgersteig. Um sie herum drängten sich die Fußgänger, hupten Autos, brauste das Leben der Mil lionenstadt.
Anne fühlte sich allein und einsam. Nein, so hatte das Leben keinen Sinn. Sie mußte etwas unternehmen. Zwar suchte die Polizei nach Will, auch Masters hatte versprochen, allein die Suche fortzuführen, aber sie konnte und durfte nicht die Hände in den Schoß legen. Kurz entschlossen öffnete sie ihre Handtasche und überprüfte ihre Barschaft. Fünf Pfund und Kleingeld hatte sie bei sich, das mußte für eine Weile reichen. Sie winkte ein Taxi heran, stieg ein und sagte dem Fahrer, er sollte von ihrem gegenwärtigen Standpunkt aus immer weitere Kreise fahren. Der Mann sah sie ziemlich verblüfft an. Und kleinlaut fügte sie hinzu: »Es darf aber nicht mehr als fünf Pfund kosten.« Der Fahrer schüttelte verständnislos den Kopf. »Mir soll�s recht sein«, brummte er und gab Gas. »Ist schließlich nicht mein Geld, das Sie da zum Fenster hinauswer fen.« Angespannt saß sie im Fond des Taxis und starrte durch die Scheiben auf die Bürgersteige. Unzählige Gesichter glitten an ihr vorbei. Will war nicht darunter. Ist es möglich, dachte sie, daß ich nicht fühle, wenn der Mensch in der Nähe ist, der mir so viel bedeutet? Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Zeit spielte auch keine Rolle mehr für sie. Nur ab und zu warf sie einen Blick auf die Taxiuhr, um den Fahrpreis zu kontrollieren. Dann starrte sie wieder auf die Bürgersteige: »Jetzt ist dann bald Feierabend mit ihren fünf Pfund«, sagte der Fahrer in ihre trüben Gedanken. Gleich darauf stieg er hart auf die Bremse. »Idiot!« fluchte er. »Hat der keine Augen im Kopf, oder ist er besoffen?« Annes Augen weiteten sich. Das war Will! »Halten Sie!« schrie sie auf. Sie warf dem Fahrer die fünf Pfund auf den Nebensitz, stieß die Tür auf und sprang auf die
Straße. Kopfschüttelnd steckte der Mann das Geld ein. »Verrückt«, sagte er zu sich selbst. »Total verrückt, die Ju gend von heute.«
Schüchtern trat Anne an ihren Verlobten heran. Er sah und hörte sie noch immer nicht. Er ist in Trance, dachte Anne. Das kannte sie von Helen her. Wenn das Medium ein Gesicht hatte, verfiel es auch immer in Trance. Doch das war etwas Be kanntes, etwas von Helen selbst Herbeigeführtes, das keinen Schrecken mehr einjagte. Mit Will war es anders. Anne erkannte jedoch, daß sie nichts dagegen machen konnte. Vielleicht Masters? Doch wie sollte sie den Detektiv verstän digen? Sie wagte nicht, zu telefonieren, weil sie fürchtete, Will dann wieder aus den Augen zu verlieren. Ein Risiko, das sie auf keinen Fall eingehen durfte, wenn sie nicht die letzten Chancen aus der Hand geben wollte, ihm doch noch zu helfen. Also ging sie in einigem Abstand hinter ihm her, inständig hoffend, er würde jeden Augenblick aus seiner Trance erwa chen. Will erwachte nicht. Zwei Stunden lang folgte sie ihrem Verlobten. Sie glaubte, sich nicht mehr auf den Beinen halten zu können, als er endlich auf ein großes, düsteres Haus zuging, das über und über mit Efeu bewachsen war. Die Haustür stand offen. Ihr Verlobter verschwand im Innern des Gebäudes. Unschlüssig blieb Anne stehen. Was sollte sie jetzt tun? Wäre eine Telefonzelle in der Nähe gewesen, hätte sie Rick Masters angerufen. Aber der letzte öffentliche Fernsprechau tomat, an dem sie vorbeigekommen war, lag fast eine halbe Meile von hier entfernt.
In den umliegenden Häusern brannte kein Licht. Es war eine ruhige, in ihrer Ruhe beinahe unheimliche Gegend. Sogar die Straßenlaternen schienen hier nicht so hell wie in anderen Teilen der Riesenstadt. Anne hatte keine Uhr bei sich, daher wußte sie auch nicht, wie lange Will bereits in dem Haus war, als sie endlich einen Entschluß faßte. Vielleicht lauerte da hinter den halbblinden Fenstern und den efeuumrankten Mauern der Tod, aber das kümmerte sie nicht mehr. Wenn Will starb, wollte auch sie nicht mehr leben. Dumpf hallten die Schlage des altertümlichen Türklopfers durch das stille Haus. Anne schrak zusammen, als das verro stete Metall gegen die schwere Eichentür hämmerte. Nichts rührte sich im Inneren des Gemäuers. Das Mädchen hörte nur das eigene Keuchen, das trockene Schluchzen, die Schläge des Klopfers. Minutenlang stand sie da, hämmerte gegen die Tür, trom melte mit den Fäusten gegen den fest verschlossenen Eingang, gegen Wills Gefängnis. Schon wollte sie aufgeben, als unter der Tür Licht durch die Ritze fiel. Aufatmend trat sie einen Schritt zurück, doch gleich darauf umkrampfte eisiger Schreck ihr Herz. Wer würde ihr gegenübertreten? Will? Ein Fremder? Vielleicht gar die lebende Leiche, das mordende Ungeheuer? Oder der Mann im Hintergrund? Knarrend und in den Angeln quietschend, schwang die schwere Eichentür zurück und gab den Blick frei auf einen Mann um die Vierzig, großgewachsen, mit ebenmäßigen Ge sichtszügen und intelligenten Augen. Anne stieß einen leisen Schrei aus. Aber es war ein Schrei des Entzückens. »Mein Gott, Sie?« rief sie. »Ich bin so glücklich, daß ich Sie treffe. Sie müssen mir helfen! Mein Verlobter ist in dieses Haus
gegangen. Er schwebt in Lebensgefahr. Wer wohnt noch hier?« Die Tür öffnete sich ganz. Der Mann bat sie mit einer ele ganten Handbewegung in die Halle. »Wohnt denn noch jemand hier?« fragte Anne in einer plötz lichen Erkenntnis. Hinter ihr krachte die Tür in die Steinumfassung des Ein gangs. Riegel klirrten. Hohles, höhnisches Lachen ließ sie ihren Irrtum einsehen. »Nein!« schrie sie auf, als der Meister auf sie zutrat. »Das kann nicht sein! Sie stecken hinter diesen grauenhaften .« Ihre Frage erstickte unter der kräftigen Hand des Meisters, die sich auf ihren Mund preßte. Ihr Widerstand nützte ihr nichts. Sie wurde geschleift, mitgezerrt. Der Meister stieß eine Tür auf. Anne taumelte in ein schwarz ausgekleidetes Zimmer, an dessen Hinterwand ihr ein umgedrehtes Kreuz entgegen schimmerte. Und vor dem Kreuz lag eine mumienhafte Leiche, verwittert, von unglaublichem Alter entstellt. »Ich wußte nicht, meine Liebe«, sagte der Meister spöttisch, »daß ich ausgerechnet Ihren Verlobten für mein kleines Expe riment heranzog.« Er zeigte auf die Leiche vor dem Kreuz. »Ich kann nur sagen, daß ich mich, dank Ihres Verlobten, im wahrsten Sinn des Wortes um Jahre verjüngen konnte.« »Will?« Die Frage zitterte auf Annes Lippen. »Das soll Will sein?« Entsetzt trat sie an den Toten heran. »Allerdings ist das Will«, schnitt die Stimme des Meisters durch die Stille. »Und Sie werden ihm bald folgen.« Vergeblich forschte Anne in den runzeigen Zügen nach dem vertrauten Gesicht ihres Geliebten. Doch dann sah sie die Kleider, den Haarschnitt, die Kopfform, das Medaillon, das sie ihm geschenkt hatte. Mit einem Schrei, der all ihren Schmerz, ihre Verzweiflung
und ihre Angst enthielt, brach sie ohnmächtig zusammen. Der Meister starrte auf die beiden Körper zu Füßen des Kreu zes hinunter - die Leiche, das junge Mädchen. »Ein schönes Paar«, sagte er, und um seine Lippen spielte ein satanisches Grinsen.
Es war nur eine Ausrede gewesen, er würde weiterhin nach Will suchen. Rick Masters hatte die verzweifelte Anne damit trösten wollen. In Wirklichkeit fuhr er nach Hause in sein Wohnbüro oberhalb des ältesten Caffs in der City. Es hatte einfach keinen Sinn, nach einem Menschen zu suchen, der gegen jede Vernunft durch London lief. Ohne weitere Anhalts punkte wäre das reine Verschwendung gewesen. Der junge Detektiv konnte natürlich nicht wissen, daß Anne durch einen unwahrscheinlichen Zufall ein zweites Mal auf die Spur ihres Verlobten gestoßen war, weshalb er sich mit einem Stapel Bücher auf die Couch in seiner Wohnung legte und begann, seine alten Schriften nach Hinweisen zu durchsuchen, die ihm bei der Lösung des vorliegenden Falles helfen konnten. Das tat er zwar seit Tagen, ohne den geringsten Erfolg ver zeichnen zu können, aber er ließ nicht locker. Außerdem hätte er gar nicht gewußt, was er sonst tun konnte. Das Telefon betätigte sich wieder einmal als Störenfried. Rick las gerade eine sehr interessante Beschreibung einer Materialisierung, die ein Wissenschaftler des 17. Jahrhunderts beschrieben hatte, und die Störung kam ihm sehr ungelegen. Aber sein anfänglicher Ärger war wie weggeblasen, als er die Stimme von Helen, der Seherin, erkannte. »Ist etwas geschehen, Helen?« fragte er, den unverständli chen Redefluß unterbrechend. »Sie sprechen so aufgeregt.« »Mr. Masters, Sie müssen sofort zu mir kommen! Es ist et was Gräßliches passiert.« »Können Sie das nicht am Telefon sagen?« rief Rick, der nach Möglichkeit sofort eingreifen wollte.
»Das nützt nichts mehr«, lautete die resignierende Antwort. »Sie würden ohnehin zu spät kommen. Also machen Sie sich schnellstens auf den Weg zu mir! Dann hat das Opfer vielleicht einen Sinn.« Rick dankte dem guten Geist, der ihn davon abgehalten hatte, sich mit Whisky bis oben hin vollaufen zu lassen, wie er das ursprünglich geplant hatte. Er wußte zwar, daß er mit keiner noch so großen Alkoholmenge im Blut die Ereignisse der letzten Tage in einem angenehmeren Licht hätte sehen können, aber er fühlte sich einfach danach, sich vollaufen zu lassen. Er raste mit seinem Morgan gekonnt wie ein Rennfahrer durch den abendlichen Verkehr. Die Verkehrspolizei mußte ihn bald in ganz London kennen, und wenn es einmal ernstliche Schwierigkeiten gab, mußten die Jungs vom Geheimdienst herhalten, aber die waren im Moment auch sauer auf ihn. Rick sah für seinen Führerschein die schwärzeste Zukunft voraus. Helen empfing ihn schon etwas gefaßter. »Ich habe Sie gleich nach Erhalt der Botschaft angerufen«, entschuldigte sie sich. »Daher war ich noch so verwirrt, Mr. Masters.« »Botschaft?« fragte Rick, der nicht sofort an die telepathi schen Fähigkeiten des Mediums dachte. »Hat jemand angeru fen oder geschrieben, Will oder Anne?« Bei der Erwähnung des Namens Will zuckte die Seherin leicht zusammen, aber dann zwang sie sich zu einem leichten Lächeln. »Wenn Sie so wollen, können Sie von anrufen sprechen«, sagte sie und setzte sich neben Rick auf die breite Polsterbank. »Will hat in seiner letzten Stunde mit mir gesprochen - gei stig, meine ich.« »Soll das heißen, daß der Student tot ist?« Ricks Hand, die gerade das Feuerzeug zur Zigarette führen wollte, blieb wie angenagelt in der Luft hängen. Das Medium nickte ernst und traurig.
»Vor etwa einer halben Stunde ist er unter schrecklichen Qualen gestorben.« Sie berichtete, wie sie plötzlich die Botschaft ihres Freundes aufgenommen hatte, wie er gestorben war. »Er muß entsetzlich schnell gealtert sein«, schloß sie. »Seine Sinneskräfte ließen nach. Das anfänglich so klare Bild, das er mir übermittelte, verschwamm und wurde immer undeutli cher.« »Welches Bild denn?« drängte der Detektiv. »Haben Sie end lich den Mann gesehen, der diese teuflischen Vorgange kon trolliert?« »So genau, daß ich ihn zeichnen werde. Ich bin leidenschaft liche Malerin«, fügte Helen hinzu und wies auf eine Staffelei. »Ich habe sogar schon mit dem Bild angefangen, während Sie auf dem Weg zu mir waren. Auch das Haus werde ich zeich nen, in dem dieser Mann wohnt.« »Wissen Sie auch, wo dieses Haus steht?« Hoffnung schwang in Ricks Stimme mit, doch sie wurde sofort enttauscht. »Ich weiß nur, daß es nicht weit weg ist, also in London. Aber den genauen Ort kann ich nicht angeben.« Helen zuckte bedauernd die Schultern. »Doch vielleicht hilft Ihnen sein Bild weiter. Rick trat an die Staffelei. Ein uraltes, verzerrtes Gesicht grin ste ihm entgegen. »Wie bringen wir das Anne bei?« fragte Rick Masters leise. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie ohnmächtig gewesen war. Jedenfalls wurde ihre Hoffnung zerstört, es handelte sich bloß um einen häßlichen Traum, der beim Erwachen wie eine Seifenblase zerplatzen würde. Alles war noch da - das schwarze Zimmer, das schimmern de Kreuz, der unheimliche Mann, den sie in einer ganz anderen Gestalt kennengelernt hatte. Nur Will fehlte . Will!
Ihr Herz krampfte sich zusammen. In den wenigen Sekunden des Erwachens war ihr Wills Bild vorgeschwebt. Er hatte sie tröstend in die Arme genommen und ihr versichert, er würde immer bei ihr bleiben und sie nie allein lassen. Doch jetzt war sie allein. Allein mit einem gefährlichen Irren. Irren? Nein, verrückt war dieser Mann nicht. In seinem Gehirn wur den Ideen geboren, die anderen Menschen niemals eingefallen wären, aber sein Geist war nicht gestört. Anne wußte nicht, ob es ihr lieber gewesen wäre, Wills geal terte Leiche vor sich zu sehen. Sie war ein fürchterlicher An blick, doch er wäre wenigstens, wenn auch in dieser verstum melten Form, in ihrer Nähe gewesen. So aber . Der Meister ließ dem Mädchen keine Zeit, Gefühlen nachzu hängen. Er hatte die ganze Zeit über an seinem Schreibtisch aus Menschenknochen gesessen und unverwandt auf das hüb sche Gesicht gestarrt. Anne irrte sich, wenn sie meinte, er wäre nicht irre. Richtig, sein Geist arbeitete einwandfrei, solange es darum ging, wissenschaftliche Probleme oder solche der Magie zu begreifen, zu erfassen und zu erforschen. Doch er versagte, was andere Menschen betraf. Der Meister kannte kein Mitleid mehr, er konnte sich nicht vorstellen, daß andere litten, daß sie auch leben wollten, und daß sie nicht bereit waren, ihre Jugend seinen Experimenten zu opfern. Hätte das jemand dem Meister klargemacht und hätte er überhaupt begriffen, wovon die Rede war, dann hätte er sicher nicht gewußt, ob diese völlige Lähmung seiner Gefühle von dem oftmaligen Kontakt mit dem magischen Kreuz, seinem Werk, oder von einer der zahllosen Geheimmixturen kam, die er nach alten Rezepten angefertigt hatte. Letzten Endes kam es nicht darauf an. Viel wichtiger war, daß er jetzt einen Men schen in seinem Studierzimmer gefangenhielt, der ihm neue
Impulse verlieh. »Ich sehe, daß du wieder erwacht bist«, sagte er mit tiefer Stimme zu Anne. »Das freut mich denn dann kannst du das herrliche Unternehmen mitverfolgen, das ich jetzt durchführen werde.« Der Meister stand; auf und stellte sich vor das Kreuz. »Leider mußte ich dich mit gewöhnlichen Stricken fesseln, Anne«, fuhr er fort. »Die anderen bekam ich dadurch in meine Gewalt, daß ich einen ihnen gehörenden Gegenstand am Kreuz befestigte, doch bei dir geht das nicht. Ich möchte nämlich, daß du noch eine Weile lebst.« Erst da merkte Anne, die wie erstarrt auf dem Boden liegen geblieben war, daß sie Arme und Beine nicht bewegen konnte, weil sie fest aneinandergeschnürt waren. Es machte ihr nichts aus. Auch sie hatte keine Gefühle mehr. Sie waren erstickt worden, als sie die mumifizierte Leiche Wills gesehen hatte. »Ich werde meinen eigenen Lebenssaft verwenden«, erklärte der Meister, als hielte er - so wie früher - eine wissen schaftliche Vorlesung. »Da ich Colby nur zu einem einfachen Experiment brauche, wird es nicht anstrengend für mich sein. Schau genau zu, damit du weißt, wie sehr du mich bewundern mußt!« Er ist doch verrückt, schrie es in Annes Gedanken. So kann nur ein Wahnsinniger sprechen. Ein intelligenter Wahnsinniger, der dadurch doppelt gefährlich wurde. Der Meister stellte sich dicht an das Kreuz, hob die Hände und wiederholte die Beschwörung des Gehenkten, wie er das schon oft gemacht hatte. Nur für Anne war es etwas Neues, und sie sah mit unbe schreiblichem Grauen zu, wie sich die Leiche vor dem Kreuz materialisierte, wie der Meister unter der Anstrengung schwankte, ohne jedoch ohnmächtig zu werden. Er hatte von seinen unseligen Opfern genügend Kräfte in sich aufgenom men, um diese Beschwörung heil zu überstehen. Sie sah, wie
der Tote Leben annahm, sich aufrichtete, sich auf Befehl des Mannes, den sie als liebenswürdigen Menschen kennengelernt hatte, auf den Arbeitstisch legte. »Hast du schon einmal eine Operation beobachtet, Anne?« fragte der Meister über seine Schulter. Er beugte sich tief zu Colby, flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf sich der lebende Leichnam streckte, als wäre er wieder in seine Leichenstarre zurückgefallen. »Warst du schon einmal in einem Hörsaal, wenn eine Leiche seziert wird? Nein?« fragte er, obwohl er gar keine Antwort erhalten hatte. Annes Kehle war wie zuge schnürt. Sie hätte keinen Ton über die Lippen gebracht, auch wenn sie mit diesem Mann hätte sprechen wollen. »Dann wird es jetzt sehr interessant für dich. Ein Blick in den menschlichen Schädel, noch dazu in diesen.« Der Meister trat einen Schritt zurück und betrachtete faszi niert Colbys Kopf. »Ein phantastischer Mann!« rief er überschwenglich aus. Ins geheim wunderte er sich über sich selbst, daß er plötzlich so mitteilsam wurde. Aber sonst hatte er niemals einen Menschen gehabt, mit dem er hatte sprechen können. Größe macht ein sam, dachte er. »Wirklich ein phantastischer Mann! Er hat es geschafft, sich über die lächerlichen Gesetze der Menschen hinwegzusetzen und zu tun, was er wollte, er allein.« »Dafür wurde er auch gehenkt«, entrang es sich krächzend Annes Mund. Sie staunte, daß sie plötzlich wieder sprechen konnte. Der Meister lächelte ihr zu, nicht unfreundlich, aber das Lä cheln kam nicht von innen. Es war ein Muskelreflex, der aus der Zeit zurückgeblieben war, in der er noch ein Mensch gewe sen war. »Die Menschen haben mit Gewalt die freie Seele dieses Mannes unterjocht«, sagte er scharf. »Ich habe dafür gesorgt, daß Colby zu seinem Recht kam. Und ich werde weiterhin
dafür sorgen.« Ohne sich weiterhin um das Mädchen zu kümmern, griff er nach dem bereitliegenden medizinischen Besteck. Übelkeit stieg in Anne hoch. Sie würgte, aber sie zwang sich, unverwandt auf den Tisch zu starren, auf dem die Leiche lag. Anne war medizinisch nicht gebildet, aber sie begriff, daß der Meister den Eingriff in das Gehirn des Gehenkten schon öfter vorgenommen hatte. Sonst hätte er nicht die Hirnschale einfach mit einem Skalpell abheben können, nachdem er die Stirnhaut durchschnitten hatte. Kein Tropfen Blut floß auf den Tisch, während der Meister das Gehirn freilegte. Das knirschende Geräusch, das durch das Skalpell verursacht wurde, ging Anne durch Mark und Bein. Die nunmehr freiliegenden Windungen des Gehirns zuckten und pulsierten, was ihres Wissens nach bei einem normalen Gehirn nicht der Fall war. »Das sind die Wellen, die von dem Kreuz ausgehen und ihn am Leben erhalten«, erklärte der Meister, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Ich kann ihn beleben oder töten, ganz wie ich will. Aber ich habe ihn bisher noch nicht dazu gebracht, daß er nach meinem Willen handelt. Ich werde es auch heute noch nicht schaffen. Doch ich weiß, wo die Schwierigkeit liegt.« Er griff mit der rechten Hand in den Schädel und hob das Ge hirn einfach heraus. Zuckend lag es auf seiner flachen Hand. Er deutete auf eine Stelle am Kleinhirn. »Diesen Punkt muß ich ansprechen können, dann bekomme ich ihn unter Kontrolle.« Er machte eine Pause, in der er nach denklich aus zusammengezogenen Augen auf das Gehirn des Gehenkten starrte. »Ich habe mich schon gefragt, ob es viel leicht nur bei Colby so schwer ist, den Kontakt herzustellen, oder ob es bei allen Menschen so ist.« Sein Blick wanderte über den Teppich, richtete sich auf An nes Kopf.
»Du bist sicher sehr eigensinnig, wenn du dir etwas vorge nommen hast.« Sein leichter Konversationston stand in einem makabren Gegensatz zu seinen Handlungen. »Ich frage mich, Anne, wie es wohl ist, wenn ich den Kontakt zu deinem Hirn herstelle.« Er schüttelte beinahe traurig den Kopf. »Nein, ich möchte meinen letzten Triumph mit Colby feiern. Er ist mir geistig und seelisch verwandt.« Anne wollte ihm ins Gesicht schreien, er sollte den Mund halten, er sollte aufhören, diesen Wahnsinn zu sprechen, das al les wäre verrückt, sie könnte nicht mehr. Aber sie vermochte kaum mehr zu atmen. Ein Röcheln entrang sich ihrem halb of fenstehenden Mund. Ich werde selbst verrückt, dachte sie. Wenn das nicht sofort aufhört, schnappe ich über. Das kann doch nicht wahr sein! Jetzt wird er mich töten und mich als wandelnde Leiche zum Morden ausschicken. Ein trockenes, hysterisches Lachen schüttelte ihren Körper. Der Meister beachtete ihre Reaktionen überhaupt nicht. An gestrengt überlegend, schaute er zwischen dem Mädchen und dem Gehirn in seiner Hand hin und her. Dann schlug er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Natürlich!« rief er begeistert. »Ich habe die Lösung gefun den.« Er kniete neben Anne nieder, daß das Gehirn ganz dicht vor ihren Augen schwebte. »Ich nehme dein Gehirn und pflan ze es Colby ein. Vorher veränderte ich einen Teil, und ich habe den ersten Menschen geschaffen, der mir bedingungslos ge horcht.« Anne schluchzte tränenlos. Wenigstens würde sie es nun bald überstanden haben. Hoffentlich tötete er sie schnell, das war ihr einziger Wunsch. Doch er sollte nicht in Erfüllung gehen. Der Meister stand auf, setzte das Gehirn in die leere Schale ein und schloß den Kopf.
»Leider kann ich den Eingriff jetzt nicht durchführen«, sagte er bedauernd, »Ich müßte euch beide stundenlang am Leben erhalten, und dazu reicht meine Kraft nicht aus. Ich muß mir erst einige Spender beschaffen, deren Lebenssaft ich für mein Experiment verwenden kann.« Colby erhob sich von dem Arbeitstisch, stellte sich vor das Kreuz, und mit einer gebieterischen Bewegung bedeutete der Meister dem Gehenkten, das magische Metall zu berühren. Augenblicklich löste sich Colby in Nichts auf. »Er ist in sein Heim zurückgekehrt.« Der Meister setzte sich Anne gegenüber auf einen ebenfalls aus Knochen gefertigten Stuhl. »Tröste dich, Anne«, sagte er sanft. »Ich nehme den Eingriff bald vor. Dann wirst du berühmt, die ganze Welt wird dich kennen.« Anne bäumte sich auf. Sie krümmte sich wie ein Wurm in ihren Fesseln. Jetzt, da die Leiche wieder verschwunden war, hatte sie das Gefühl, es nur mit einem gewöhnliehen Irren zu tun zu haben, gegen den sie vielleicht etwas ausrichten konnte. Doch sie wurde sofort an die übernatürlichen Kräfte des Mei sters erinnert. Er riß einen Knopf von ihrer Jacke und heftete ihn an das Kreuz. Augenblicklich erschlaffte ihr Körper. Angst und Ver zweiflung schwanden. Alles war in weite Ferne gerückt. Nur ganz tief in ihren innersten Gedanken begriff Anne, daß es nicht so friedlich bleiben würde. Sie wußte, daß schreckliche Qualen auf sie zukamen. Sie ahnte jedoch nicht im entferntesten, was noch alles auf sie wartete. Sie hatte die ganze Nacht durchgearbeitet, und als - für ihn - traurige Folge dieses Eifers läutete bei Rick Masters um sieben Uhr früh das Telefon. Zuerst war er so verschlafen, daß er die weibliche Stimme gar nicht erkannte, aber dann wurde er sofort hellwach.
»Sie können gleich beides bei mir abholen, Mr. Masters«, wiederhohe Helen, die Hellseherin, geduldig. »Das Bild des Mannes im Hintergrund, der die Anschläge leitet, und das Bild des Hauses sind fertig.« »Hoffentlich ist das Zeug brauchbar«, bemerkte Rick, der sich kurz nach dem Erwachen durch eine erfrischende Unhöf lichkeit auszeichnete, die aber mir daher kam, daß er noch nicht so munter war, daß er gut genug auf seine Worte achten konnte. »Soll das heißen, Mr. Masters .«, setzte Helen an, aber in zwischen war die eigentliche Bedeutung seiner Worte bereits in Ricks schlafumnebeltes Gehirn gedrungen, und er verbesserte sofort seinen Fehler. »Ich wollte Ihre Fähigkeiten nicht anzweifeln«, tröstete er die Seherin und Amateurmalerin. »Im Gegenteil! Ich meinte nur, Helen, ob man die Bilder auch für eine Polizeifahndung ver wenden kann.« »Kommen Sie und sehen Sie selbst!« Damit hängte Helen auf. Rick seufzte ergeben. Nach wenigen Stunden Schlaf war er nicht in der Stimmung, mit irgend jemandem über die Zei chentalente irgend jemandes zu streiten. Unter normalen Umständen hätte er sich im Bett noch einmal auf die andere Seite gedreht, aber er wollte im Kampf gegen den großen Unbekannten keine Minute verlieren. In Helens Wohnung angekommen, bereute der Detektiv seine Eile keineswegs. Während ihm das Medium eine Tasse Kaffee eingoß, stand er gebannt vor der Staffelei und starrte das Ant litz eines Greises an. Schon allein vom künstlerischen Stand punkt aus war die KohleZeichnung jede Aufmerksamkeit wert, aber der Ausdruck, der in diesem Gesicht lag, spottete jeder Beschreibung. »Helen, ich will Sie nicht beleidigen.« Rick Masters war
durch die Erfahrungen vorsichtig geworden. »Es ist sehr wich tig für mich, ob Sie an dem Gesichtsausdruck irgend etwas verändert haben. Ich meine, haben Sie nach eigenem Gefühl etwas wiedergegeben, das Sie vielleicht in der Botschaft Wills nur undeutlich empfinden?« Helen war diesmal wirklich nicht beleidigt. »Rick«, sagte sie geduldig, »Sie dürfen sich meine Art des Sehens nicht so vorstellen, daß ich wie ein Fotoapparat ein Bild aufnehme, das ich dann Punkt für Punkt wiedergebe. Alles ist viel gefühlsbezogener.« Das Gesicht zeugte von hoher Intelligenz, von einem schar fen Verstand, der jedoch durch das hohe Alter verwittert war. Dennoch erkannte man noch immer deutlich die böse Seele dieses Menschen, die mit üblichen Maßstäben gar nicht mehr zu messen war. So seltsam dieser Gedanke auch schien, aber Rick schoß durch den Kopf, was aus diesem Mann werden sollte, wenn er ihn einmal zur Strecke gebracht hatte. Wenn . Dieses Wenn erinnerte ihn an die noch bevorstehenden Schwierigkeiten. Er rollte vorsichtig die beiden Bilder zusam men. Das zweite Gemälde zeigte ein altes Backsteinhaus, über und über mit Efeu bewachsen und mit halbblinden Fenstern. Die schwere hölzerne Eingangstür stand einen Spalt breit offen. »Ich danke Ihnen, Helen«, sagte Rick. »Hoffen wir, daß wir Erfolg haben.« Die Seherin lächelte unergründlich. »Schade«, sagte sie leise, »daß mein Blick nicht in die Zu kunft reicht. Ihre Zukunft, Rick, liegt mir sehr am Herzen, und ich würde Ihnen am liebsten nur Gutes voraussagen.« »Wiedersehen«, murmelte der junge Detektiv und beeilte sich, aus der Wohnung zu verschwinden. Ein menschlicher Unhold war schon mehr als genug, aber eine verliebte Seherin war zuviel.
Der anfängliche Schock über Wills Tod klang langsam bei Anne ab. Zurück blieben grenzenlose Einsamkeit, Verzweif lung und Angst - Angst, dieser grauenhafte Mann könnte wiederkommen und sie quälen. An die Gehirnübertragung, von der er gesprochen hatte, wagte sie überhaupt nicht zu denken. Nur mehr ein Gedanke beherrschte das Mädchen: Es mußte für sie einen Weg geben, aus diesem Haus des Grauens zu ent kommen, zu Rick Masters zu gelangen und ihm alles zu be richten, was sie gesehen und erlebt hatte. Sie war überzeugt, daß der Detektiv ein Mittel finden würde, das Scheusal, das sie einmal als netten Menschen kennengelernt hatte, unschädlich zu machen. Nur - wie sollte sie aus ihrem Gefängnis entkommen? Irgendwann - sie wußte nicht mehr, ob es vor Minuten, Stunden oder Tagen geschehen war - hatte der Mann sie abgeholt und in ein unterirdisches Verlies gebracht. Sie war nicht gefesselt, aber sie hatte beim Schließen der Tür gehört, daß diese aus dickem Metall bestand. Die Mauern machten eine Flucht völlig unmöglich. Sie waren aus schweren Stein blöcken gefügt. Schreien nützte auch nichts, weil das unterirdi sche Gefängnis keine Fenster hatte. Mit dem Mut der Verzweiflung erkannte Anne, daß es nur eine Möglichkeit gab: sie mußte abwarten, bis ihr Peiniger wieder zu ihr kam, und ihn dann - zumindest für kurze Zeit - betäuben. Womit? Das war das größte Problem. In dem Verlies brannte kein Licht. Ratten quiekten und pfiffen, huschten an ihr vorbei, liefen über ihre Füße. Sie hatte sich immer vor Ratten geekelt, doch in ihrer gegenwärtigen Lage kamen ihr die Tiere wie vertraute Freunde vor, die sie noch aus einer Zeit normalen menschlichen Lebens kannte. Anne begann systematisch in ihrem Gefängnis herumzuta
sten, bis sie in der hintersten Ecke fand, was sie suchte. Aus der Mauer waren einige Steine herausgebrochen, die lose auf dem Boden lagen. Sie suchte sich den größten Brocken aus und wog ihn prüfend in der Hand. Er war nicht zu schwer, als daß sie ihn hätte hochheben können, und doch nicht so leicht, daß er keinen Schaden angerichtet hätte, wenn sie mit aller Kraft zuschlug. Während der Irre dann benommen auf dem Kellerboden lag, wollte sie um ihr Leben laufen, Menschen um Hilfe bitten und so schnell wie möglich zu Rick Masters gelan gen. Anne brauchte nicht lange auf die Entscheidung zu warten. Schlurfende Schritte näherten sich dem unterirdischen Raum. Ein Schalter klickte vor der Tür. Geblendet blinzelte sie zur Decke gegen die nackte, verstaubte Glühbirne. Dieses Zeugnis der Zivilisation schien nicht in den Rahmen des Spukhauses zu passen. Ein Schlüssel scharrte im Schloß, dann schwang die Tür nach draußen auf. Doch der Irre trat nicht ein. »Anne«, sagte er, ohne sie zu sehen. »Laß den Unsinn und leg den Stein weg! Du erreichst nichts.« Schluchzend ließ das Mädchen die einzige Waffe, die ihr ge blieben war, fallen. Ihr Peiniger erschien vor ihr. In seinen Augen stand nun ein ganz anderer Ausdruck, als sie in seinem Arbeitszimmer gesehen hatte. Er wirkte noch jünger, vitaler, kräftiger. »Ja, Mädchen, sieh mich nur an«, sagte er mit einem bedeu tungsvollen Unterton. »Ich habe mich wieder verjüngt.« Er lachte kehlig. »Es ist schön, wenn man sich die Leute aussu chen kann, die einem neue Kraft verleihen.« Er berührte Anne an der Schulter. Sie zuckte zurück, als wäre sie von einer giftigen Schlange gebissen worden. »Wie kannst du vor mir zurückweichen?« spottete der Mei ster. »Denke daran, daß ich deinen Verlobten sozusagen in
mich aufgenommen habe. Ich komme stellvertretend für ihn zu dir.« Annes Kopf ruckte hoch. Aus ungläubig geweiteten Augen starrte sie in das ruhig lächelnde Gesicht dieses Teufels. Nur das nicht! Schritt für Schritt kam er auf sie zu. Unzusammenhängende Schreckenslaute ausstoßend, stolperte Anne rückwärts, bis sie die eiskalte, feuchte Steinmauer im Rücken spürte, nicht mehr ausweichen konnte. »Nein!« gellte ihr Schrei durch die Kellergewölbe, doch im selben Augenblick umfingen sie seine Arme mit unwider stehlicher Kraft. Ihr zweiter Schrei ging in ein ersticktes Gurgeln über. Dann brach er jäh ab.
Die beiden Zeichnungen zusammengerollt unter dem Arm, versuchte Rick Masters sein Glück zuerst bei Scotland Yard. Zwar war der Geheimdienst möglicherweise über Personen, Orte und Vorfalle informiert, von denen der Yard nichts wußte, doch das Archiv dieser berühmten englischen Polizeiorganisa tion war trotz allem umfangreicher und versprach größere Aussichten auf Erfolg. Wenn dieser Versuch nicht klappte, konnte Rick Masters im mer noch zu dem Rothaarigen gehen und ihn um Hilfe bitten. Da man jedoch im Augenblick beim Geheimdienst nicht sehr gut auf ihn zu sprechen war, hob er sich diesen Gang bis zum Schluß auf. Chefinspektor Hempshaw sorgfältig vermeidend, erreichte Rick Masters das Archiv auf dem direkten Weg. Die Beamten kannten ihn und waren ihm gern behilflich, ohne viele Fragen zu stellen. Rick hatte schon oft für den Yard gearbeitet und gehörte fast zur Mannschaft. Trotz des guten Willens aller Beteiligten erhielt er nach einer Stunde einen negativen Bescheid. Mit der Zeichnung des Hau
ses konnten die Polizeibeamten überhaupt nichts anfangen, und zum Bild des Mannes sagte nur einer von ihnen: »Der sieht einem Onkel von mir ähnlich, aber der ist sicher kein Verbre cher.« »Was ist Ihr Onkel von Beruf?« fragte Rick Masters vor sichtshalber, weil er schon die tollsten Überraschungen erlebt hatte und sich nicht hinterher den Vorwurf, machen wollte, etwas übersehen zu haben. »Holzfäller in den kanadischen Wäldern«, lautete die Ant wort, und somit schied dieser Onkel aus. Rick schlich sich gerade wie ein ungebetener Gast zum Aus gang, als er mit seinem Namen angerufen wurde. Erschrocken blieb er stehen, weil er einen Moment lang glaubte, der Chefin spektor hätte ihn doch noch entdeckt und würde ihn nun mit Fragen löchern, aber dann erkannte er erleichtert Dr. Sterling, den alten Pathologen des Yard. »Auf dem Kriegspfad, unser guter Superdetektiv?« spöttelte Dr. Sterling mit einem gutmütigen Grinsen. »Was gefunden, großer Meister?« Rick zuckte die Schultern. »Nichts, außer einem kanadischen Holzfäller mit kriminali stischer Verwandtschaft.« »Nicht viel für Ihren Fall, wie ich vermute.« Der Pathologe äugte interessiert über den Rand seiner Brille auf die zu sammengerollten Zeichnungen. »Darf ich mal?« »Warum nicht?« seufzte Rick. »Das gibt es doch nicht!« rief Dr. Sterling, nachdem er nur einen Blick auf das Bild des Alten geworfen hatte. »Was ist denn mit Alf geschehen?« »Alf?« Rick Masters war wie elektrisiert. »Behaupten Sie nur nicht, daß Sie diesen Mann kennen!« Da zögerte der Pathologe ein wenig. »Kennen ist vielleicht zuviel gesagt«, antwortete er. »Aber dieser Kerl da sieht einem Studienkollegen von mir verblüffend
ähnlich. Nur daß niemand so alt aussehen kann wie auf dem Bild.« »Von wem sprechen Sie, Doktor?« »Von Dr. Alfred Wingstone.« Der Pathologe rieb sich das Kinn. »Je länger ich das Bild betrachte, desto überzeugter bin ich, daß es sich um Alf handelt. Er war ein phänomenaler Student, Jahrgangsbester. Sogar Bester der ganzen Universität. Er erhielt rasch eine Professur, verschwand aber eines Tages von der Bildfläche. Mediziner, beschäftigte sich hauptsächlich mit Pathologie, war aber ein Genie in allen Sparten. Er soll ausgedehnte Reisen unternommen haben. Kein Mensch kennt den Grund. Ein Sonderling war er schon immer.« »Wo finde ich diesen Wingstone?« Rick hatte das Jagdfieber gepackt, das er immer dann in einem Fall verspürte, wenn er eine heiße Spur in die Hände bekam. Der alte Pathologe zuckte bedauernd die Schultern. »Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, Masters. Er ist eben ver schwunden. Was ist denn mit ihm? Hat er was ausgefressen?« Und als Rick, ohne zu antworten, wie ein Verrückter auf die Straße hinausraste, schüttelte der Pathologe den Kopf. »Würde ich den Jungen nicht so gut kennen, dann müßte ich jetzt sagen, er ist übergeschnappt. Da lobe ich mir meine Lei chen, die laufen mir wenigstens nicht weg, wenn ich sie etwas frage.« Endlich wußte Rick Masters, was er falsch gemacht hatte. Die ganze Zeit über, seit er die Bilder zum ersten Mal bei der Seherin betrachtet hatte, war er das Gefühl nicht losgeworden, etwas übersehen zu haben. Der Magier konnte sein Alter nach Belieben verändern. Er hatte sich durch den Mord an Will verjüngt, doch durch den rasch fortschreitenden Alterungsprozeß des Studenten hatte die Seherin nur das Bild des alten, nicht aber des verjüngten Ma giers empfangen. Also hatte sie auch einen Greis gezeichnet.
Dr. Sterling hatte ihm einerseits viel, andererseits gar nichts sagen können. Viel, wenn man annahm, daß es sich wirklich von diesen Dr. Alfred Wingstone handelte? Wenig, wenn man bedachte, daß es ungeheuerlich schwer sein mußte, diesen Mann zu finden. Doch dann war Rick das Haus eingefallen. Es mußte, einen Besitzer haben, der rechtmäßig Eigentümer geworden war. Und wenn man nicht voraussetzte, daß Dr. Wingstone widerrecht lich in dem Haus wohnte, lautete die Eintragung auf seinen Namen. In dieser Situation halfen Rick seine Beziehungen zum Ge heimdienst. Innerhalb von zwei Stunden hatte er die Adresse eines Hauses in einem ruhigen Londoner Vorort. Und wieder um eine halbe Stunde später ließ er seinen Morgan langsam an dem bezeichneten Haus vorbeirollen. Die Leute beim Geheimdienst hatten ihm versprechen müs sen, sich nicht um das Haus und seine Bewohner zu kümmern. Rick hatte ihnen die Folgen in so gräßlichen Farben ausgemalt, daß sie sich sicherlich hüteten, in das Haus einzudringen. Wahrscheinlich würden sie es unter Beobachtung halten, aber das konnte nicht schaden. Auf den ersten Blick erkannte der Detektiv das Haus, das Helen, die Seherin, gezeichnet hatte. Wenn das Bild des Man nes auch so genau ausgefallen war, dann hatte er einen Haupt treffer gelandet. Rick Masters wußte endlich, wer hinter der Verbrechensserie steckte. Ganz entgegen seiner sonstigen Draufgängernatur wagte Rick es diesmal nicht, einfach in das Gebäude einzudringen. Wingstone - er setzte voraus, daß es sich tun diesen Mann handelte - hatte zu viele Beweise seiner Macht geliefert, und gegen ihn gab es keine bekannten Mittel, wie zum Beispiel gegen die Vampire, gegen die er in Schottland gekämpft hatte. Nicht einmal die Möglichkeit, daß Anne in dem Haus steckte,
konnte ihn zu einer übereilten Handlung verleiten - zu seinem Glück. Helen hatte ihn über Annes Verschwinden informiert. Doch während der langen Wartezeit, in der die Männer vom Ge heimdienst feststellten, ob ein Alfred Wingstone in London ein Haus besaß, war Rick klargeworden, daß er nur auf eine Art gegen dieses perverse Genie ankämpfen konnte: er mußte es mit seinen eigenen Waffen schlagen. Er mußte Hank Colby, die lebende Leiche, zur Vernichtung des Magiers einsetzen! Das Erlebnis der letzten Stunde hatte in Anne etwas bewirkt, was sie selbst nicht für möglich gehalten hätte: sie empfand keine Angst mehr. Es war ihr gleichgültig geworden, was aus ihr wurde. Sie fürchtete sich vor keiner Operation, vor keiner Folter mehr. Sie kannte nur mehr einen einzigen Wunsch: sie wollte sich an dem menschlichen Scheusal rächen, das ihr Leben zerstört und sie so fürchterlich mißhandelt hatte. Rache! Dieses Wort erfüllte ihr Denken und Fühlen. Rache bewirkte auch, daß sie sich scheinbar interessiert für die Arbeit des Meisters zeigen konnte, ohne daß dieser Ver dacht schöpfte. Sie brachte es sogar fertig, ihm zu schmeicheln, als wäre sie plötzlich von seinen Fähigkeiten überwältigt. Wenn auch jede menschliche Regung in dem Meister ausge löscht war, so blieb er doch mit den menschlichen Fehlern be haftet. Er war für Schmeicheleien empfänglich. Daher zeigte er Anne seine geheimsten Schätze. Er erklärte ihr auch die Funktion des von ihm selbst errichteten magischen Kreuzes. Er beschrieb ihr die Möglichkeiten, die ihm eine Armee von lebenden Leichen bieten würde, und er versprach ihr, sie an seinem ewigen Leben teilnehmen zu lassen, wenn sie sich weiterhin willig und für seine Pläne aufgeschlossen zeigte.
Anne lächelte. Der Haß verwandelte sie in eine perfekte Schauspielerin. »Ich bin begierig, die letzten Geheimnisse zu erfahren.« Und das war nicht mal eine Lüge. Sie brannte tatsächlich darauf, Wissen und damit Macht über diesen menschlichen Teufel zu gewinnen. Der Meister rasselte vielversprechend mit einem umfangrei chen Schlüsselbund. »Dann zeige ich dir jetzt das Herrlichste auf Erden«, verkün dete er. »Ich habe den Grundstein für meine Kämpfer bereits gelegt.« Eine verwitterte, doch noch immer feste Kellertür öffnete sich knarrend. Modergeruch, Verwesung schlugen Anne entge gen. Sie mußte schlucken, um sich nicht zu übergeben, mußte sich ihr Ziel vor Augen halten, dann hatte sie die kurze Schwä che überwunden. Auch hier eine elektrische Birne, aber dann konnte Anne ei nen Aufschrei nicht ganz unterdrücken. Auf Regalen lagen dicht an dicht Leichen, Mumien, halbver weste, verweste, gut erhaltene Körper. Alle hatten Sie eines gemeinsam: sie starrten ihr aus sich be wegenden, lebenden Augen entgegen. »Siehst du diese Augen?« drang die Stimme des Meisters wie durch eine Nebelwand an ihr Ohr. »Ich habe schon etwas er reicht. Sie sind nicht mehr tot, sie leben aber auch noch nicht. Ich hatte bisher noch nicht genug Lebensenergie zur Verfü gung, um sie aus ihrem Schlaf zu erwecken, aber sie denken bereits, sie sehen uns. Das ist wundervoll!« Anne hörte nicht mehr zu. Will, dachte sie, mein Gott, ist Will auch hier? Ihre Füße trugen sie zwischen den mit Leichen angefüllten Regalen hindurch. Sie starrte in verwüstete, zerstörte Gesichter, aus denen ihr die lebenden Augen entgegenglotzten. Augen,
die ihr folgten, die sie verfolgten, die sie anflehten, um Leben, um Tod, um Erlösung. Panik trieb sie weiter. Sie konnte nicht mehr, aber sie mußte weiter. Und dann sah sie ihn. Will! Auch seine Augen standen offen, sahen sie, blitzten auf. Der Körper, dieser mumienhafte Greisenkörper, rührte sich nicht. Schreiend wich Anne zurück an. die Wand, schlug die Hände vor das Gesicht, sackte zu Boden. Die kräftigen Arme des Meisters fingen sie auf. »Auch du wirst eines Tages stark genug sein, diesen Anblick ertragen zu können«, sagte er. »Dann wirst du gemeinsam mit mir über die Welt herrschen.« Nie, wollte sie brüllen. Ich werde dich vernichten, wollte sie ihm ins Gesicht schreien. Sie brachte nur ein Stöhnen aus ihrer Kehle. Ohnmächtig werden konnte sie nicht mehr. Nicht ein mal mehr diese Gnade hatte das Leben für sie. Rückwärts ging sie aus dem Kellerraum hinaus, aus diesem Folterraum für Leichen. Der Blick aus Wills Augen folgte ihr, bis die Tür vor ihrem Gesicht zuschlug. Nicht umsonst behauptet man, daß Beziehungen den halben Erfolg im Leben ausmache. Auch jetzt konnte sich Rick Ma sters wieder einmal von der Richtigkeit dieses Grundsatzes überzeugen. Nicht einmal er selbst wußte noch genau, wie er die Bekannt schaft des alten Maskenbildners gemacht hatte, der sein Leben lang davon geträumt hatte, Bildhauer zu werden. Seinen Traum hatte er nicht zum Beruf machen können, sondern sich seinen Unterhalt in den WestEndTheatern verdient. Rick wußte aber von der heimlichen Leidenschaft und nutzte sie nun für seine Zwecke aus. Er hatte Glück und traf Hoboe in
dessen EinfamilienReihenhaus aus. »Ein Kunstwerk!« rief der Maskenbildner begeistert aus, als er einen Blick auf die Zeichnung Alfred Wingstones geworfen hatte. »Ein ganz phantastisches Bild! Es erinnert mich an eine Aufführung des Faust. Mephisto .« »Kein schlechter Vergleich«, unterbrach ihn der Detektiv. »Aber ich bin nicht gekommen, um Sie mit Kunstwerken zu erfreuen. Ich brauche Ihre Hilfe.« »Die Hilfe eines armen, alten Maskenbildners?« Hoboe setzte sich gerne selbst herab, um dann um so mehr Lob zu hören. Auch er war Schmeicheleien zugänglich. In diesem Punkt glich er, ohne es zu wissen, dem Meister. »Ich bin überzeugt«, sagte Rick Masters, der im Moment nicht zu Komplimenten aufgelegt war, »daß Sie mir eine le bensgroße Puppe mit den gleichen Gesichtszügen anfertigen können. Ihre Fähigkeiten .« »Na ja, ich werde sehen, was sich machen läßt. Kommen Sie in einer Woche wieder zu mir.« Rick lachte trocken. »Eine Woche?« Er schüttelte den Kopf. »Mein lieber Mr. Hoboe, in einem Tag müssen Sie das schaffen.« Mr. Hoboes Widerstand war so groß, daß Rick nun doch zur Schmeichelei greifen mußte. Er trug immer dicker auf, bis er das Versprechen erhielt, die Puppe am nächsten Tag um die gleiche Zeit in Empfang nehmen zu können. Rick Masters hatte allen Grund, sich mit seinen Vorbereitun gen zu beeilen. In der nächsten Nacht mußte die lebende Lei che wieder einen Mord begehen, diesmal jedoch den letzten, wie Rick hoffte. Am nächsten Tag entwickelte der junge Detektiv eine fieber hafte Tätigkeit. Er konferierte stundenlang mit Geheimdienst und Scotland Yard, teilte ein, organisierte. Er brachte allen Einfluß auf, um die Aktionen nach seinen Vorstellungen vorzu
bereiten und zu koordinieren. Anfanglich stieß er auf ablehnendes Kopfschütteln, das aber immer zögernder wurde, endlich aufhörte. Schließlich erhielt er von allen Seiten Zustimmung. »Ich weiß ja«, sagte er zu Chefinspektor Hempshaw, als er den Konferenzraum im Hauptquartier des Geheimdienstes ver ließ, »daß Beamte stur sein können, aber daß sie so stur sind .« »Wir bemühen uns eben, unseren guten Ruf immer zu über treffen«, erwiderte der Chefinspektor grinsend. »Rick, unter uns: wollen Sie mir nicht doch verraten, worum es sich eigent lich handelt? Ich weiß, daß wir den grauenhaften Verbrechen in London ein Ende bereiten wollen, aber ich habe keine Ahnung wie und womit.« »Wenn es Sie tröstet, Hempshaw«, antwortete Rick Masters, und jetzt war die Reihe zu grinsen an ihm, »ich habe auch keine Ahnung.« Und dann war sie gekommen . Die Nacht der lebenden Leiche. Eigentlich waren die Vorbereitungen der Polizei und des Ge heimdienstes nicht das Wesentliche in Rick Masters Plan, mit dem er Alfred Wingstone, den Schöpfer des Ungeheuers von London, unschädlich machen wollte. Wingstone bediente sich nicht herkömmlicher Mittel, also konnte er auch nicht mit herkömmlichen Mitteln bekämpft werden. Dieser Fall war jedoch so gelagert, daß Masters in die größ ten Schwierigkeiten kommen konnte, wenn sich alles so löste, wie er es sich vorstellte, und es keine Zeugen für seine Hand lungen gab. Wenn es sich nicht so löste, wie er es sich vorstellte, dann brauchte er keine Schwierigkeiten mehr zu befürchten. Dann lebte er nämlich nicht mehr lange genug, um Schwierigkeiten
zu bekommen. Der Geheimdienst stellte ihm die Transportmittel zur Verfü gung und war hinzugezogen worden, weil Hank Colby schon einmal vor fünfzehn Jahren in der Maske eines feindlichen Spions als Werkzeug Dr. Wingstones gemordet hatte. Das war durch die Fingerabdrücke auf den Tatwaffen klar erwiesen. Scotland Yard übernahm gemeinsam mit Geheimdienstleuten die Absperrung rund um das alte Haus Dr. Wingstones. Rick hatte lange geschwankt, ob es ratsam wäre, mit einer starken Polizeimacht einfach in das Gebäude einzudringen und Wingstone zu töten und dessen teuflische Werkzeuge zu zerstö ren. Doch dann hatte ihn eine innere Stimme von einem derar tigen Vorhaben abgehalten. Wie gut er daran getan hatte, wußte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Aber er rechnete auch mit der Möglichkeit, daß sich Anne, die nicht mehr aufgetaucht war, in diesem Haus befand. Und ihr Leben wäre auf alle Falle bei einem gewalt samen Eindringen vernichtet worden. Wingstone hätte sie außerdem als Geisel gegenüber der Polizei benutzen können, Zeit gewonnen, Zeit, die er brauchte, um seine teuflischen Kräfte wirken zu lassen. Und gegen die lebende Leiche des Wahnsinnigen gab es kei ne Hilfe, das hatte Rick zweimal aus nächster Nähe miterleben müssen. Nichts konnte sie aufhalten, nicht einmal die Symbole der Weißen Magie und des Guten. Wingstone, die treibende Kraft der lebenden Leiche, ver stärkte einfach seinen Einfluß, und der Gehenkte verwandelte sich in eine reißende Bestie. Ein Fahrzeug des Geheimdienstes brachte Rick Masters bei Einbruch der Dunkelheit zum Haus des Maskenbildners. Ho boe, empfing den Detektiv mit den größten Erwartungen und führte ihn gespannt in sein kleines Atelier, das er sich in einem Schuppen hinter dem Haus eingerichtet hatte. »Was sagen Sie dazu?« fragte er stolz und zog das über die
Statue gebreitete Laken mit einem kräftigen Schwung weg. Rick Masters prallte zurück. Er hatte schon immer viel von Hoboes künstlerischen Fähig keiten gehalten, aber diesmal hatte der Mann sich selbst über troffen, trotz der kurzen Zeit, die ihm nur für seine Arbeit zur Verfügung gestanden hatte. In Lebensgröße stand der alte Alfred Wingstone vor dem Detektiv. Jede Falte, jede Runzel waren naturgetreu der Zeich nung nachgebildet worden. Das Gesicht wirkte so lebendig, daß Rick glaubte, die Puppe könnte sich jeden Augenblick in Bewegung setzen und auf ihn zukommen. Er schüttelte sich. »Hervorragend!« sagte er mit echter Begeisterung. »Wohin kommt denn mein Werk?« fragte der Amateurkünst ler. »In ein Museum?« Trotz der ernsten Lage mußte der Detektiv laut auflachen. »An den Ort, an den ich Ihr Kunstwerk bringe, Hoboe«, er klärte er, »werden nicht viele Besucher kommen.« Er griff in die Tasche und reichte dem Enttäuschten ein Stück Papier, das seinen Schmerz sofort linderte. Der Scheck war auf ein Konto des Geheimdienstes ausgestellt und von Rick als unbedingt notwendig bezeichnet worden. Der dreistellige Betrag erfüllte den Maskenbildner mit solcher Begeisterung, daß er sich über schwenglich bei Masters bedanken wollte. »Keine Zeit, Mr. Hoboe«, wehrte Rick ab. »Danke, ich finde den Weg hinaus allein.« Er schulterte die Puppe, nachdem er sie wieder mit dem La ken bedeckt hatte. Mr. Hoboe erhob gegen den Verlust des La kens keinen Protest. Der Scheck entschädigte ihn auch dafür. Die Puppe wurde in den Kofferraum des Dienstwagens gelegt und wenig später in einen Hubschrauber umgeladen. »Seltsamer Passagier«, sagte der Pilot zu Masters, der mit ihm flog. »Und seltsames Ziel, ein Friedhof.« »Was haben Sie gegen Friedhöfe?« fragte Rick. »Na, gehen Sie vielleicht gerne auf einen?« lautete die Ge
genfrage. Rick schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich werde mein ganzes Leben lang keinen mehr betreten, wenn dies hier vorbei ist.« Der Pilot nickte, zufrieden, daß er eine Zustimmung erhalten hatte. Dann hob die Maschine vom Boden ab. Rick Masters fühlte, daß ihn die Hoffnungen zahlreicher Menschen begleiteten. Bereits am Nachmittag waren zwei Agenten des Geheimdien stes vorausgefahren. Sie erwarteten den Hubschrauber, der in der Nähe des einsamen Friedhofs landete, und halfen Rick Masters beim Ausladen der Puppe. Keiner der Männer war eingeweiht worden, worum es genau ging, aber daran waren sie bei ihren Aufträgen gewöhnt. Auch daran, daß sie gelegentlich Leichen ausgraben mußten. Das entsprechende Werkzeug hatten sie mitgebracht. Der Detektiv verweigerte ihnen den Zutritt zum Friedhof. Er wußte nicht, was sich gegen Mitternacht abspielen würde, aber er ahnte, daß es Dinge sein würden, die nicht einmal diese Männer sehen sollten. Nur wenige Menschen auf der Erde wußten Bescheid über die okkulten und übernatürlichen Dinge, die sich immer mehr häuften, und es genügte, wenn sie Vor gänge zu sehen bekamen, die jedermann mit Schrecken erfül len mußten. Allein betrat Rick den schweigenden Friedhof und versteckte sich hinter einigen Grabsteinen in der Nähe von Hank Colbys Grab. Schweigender Friedhof? Nach einigen Minuten der Anpassung an die nächtliche Stille vernahm Rick Masters deutlich die Geräusche von Tieren, das Reiben von Grashalmen an Steinen. Rings um ihn wurden Stimmen laut, die bei seinem unheiligen Eindringen in den Ort der ewigen Ruhe verstummt waren.
Hank Colby hatte genau in dieser Nacht vor hundert und vor fünfzehn Jahren gemordet. Die Tat war gegen ein Uhr in Lon don geschehen. Rick hoffte auf ein Zeichen, das verriet, wann Wingstone den Leichnam aus seinem Grab rief. Dann erst war die Zeit zum Handeln gekommen. Und die Stunde der Wahrheit. Wer das Opfer dieser Nacht sein sollte, wußte niemand, nie mand außer dem Meister, der sich - getreu den historischen Angaben - einen Nachtwächter mit einem eisengrauen Bart ausgesucht hatte. »Zum letzten Mal wird Colby heute nacht eine Tat begehen, die sinnlos für mein Unternehmen ist«, erklärte der Meister der scheinbar andächtig lauschenden Anne. Sie konnte ihr Leben nur dadurch erhalten, daß sie ihm vorspielte, mit seinen Taten einverstanden zu sein und mit ihm gemeinsam ein Imperium von Toten zu errichten. »Morgen nehme ich an Colby die letzte Operation vor.« Er sah, wie das Mädchen erbleichte, und beruhigte es. »Ich werde nicht dein Gehirn verwenden. Ich brauche dich an meiner Seite.« Er schaute auf die Uhr über dem Kaminsims in der Halle. »Es ist Zeit. Ich muß Colby erwecken.« Anne folgte ihm in sein Studierzimmer. Er bewachte sie nicht mehr so streng wie am Anfang, aber noch immer gab es für sie keine Gelegenheit zur Flucht. Sie wollte auch gar nicht mehr dieses Haus verlassen, ohne alles gerächt zu haben, was der Dämon Will und ihr angetan hatte. Die widersprüchlichsten Gefühle stritten in dem Mädchen. Einerseits verspürte es den Wunsch, den Meister zu vernichten, andererseits wollte es rein gefühlsmäßig, daß seine Experi mente so lange fortsetzte, bis er Will wiedererstehen lassen konnte. Doch letztlich war Anne intelligent genug, um zu erkennen, daß es sich dabei nur um einen Wunschtraum han
deln konnte. Eine Welt der Leichen, die über die Menschheit herrschten unvorstellbar! Sie mußte ihre persönlichen Gefühle zurückstellen. Wie sie es schon mehrmals erlebt hatte, stellte sich der Mei ster vor das Kreuz. Nach kurzer Beschwörung drehte er sich befriedigt zu ihr um. »Colby hat seinen Sarg verlassen, Anne. Bald sind wir am Ziel.« »Ja«, flüsterte das Mädchen tonlos. »Wir müssen bald am Ziel sein, ich fühle es.«
Der eisige Grabeshauch ließ alles Leben auf dem Friedhof erstarren. Rick Masters war bewußt das Risiko eingegangen, einer dunklen Macht für kurze Zeit ausgesetzt zu sein. Er hätte sich mit Symbolen oder einem Kreis mit geweihter Kreide abschir men können, aber dann hätte Wingstone möglicherweise ge merkt, daß sein Feind zum Angriff überging. Der Detektiv spürte die Erstarrung. Er konnte sich nicht mehr bewegen, dachte klar, wollte aber nichts gegen Colby un ternehmen. Am Grab des Gehenkten ging keine sichtbare Veränderung vor sich, und doch fühlte er, daß die Leiche ihre unsichtbare Reise angetreten hatte. Er mußte handeln. Wenn nur dieser Bann nachließ! Schon fürchtete Rick, leichtsinnig gehandelt zu haben, als er plötzlich wieder Herr seiner Glieder war. Er stieß einen leisen Pfiff aus, das Zeichen für die Geheimdienstler, schnell zu dem vorher bezeichneten Grab zu kommen. Sie arbeiteten schweigend. Zu dritt gelang es ihnen in kurzer Zeit, den Sarg freizulegen und heraufzuhieven. Rick schickte seine Helfer zum Eingangstor zurück und öffnete allein den Deckel. Wie erwartet, war der Sarg leer.
In fieberhafter Eile legte er die von Mr. Hoboe angefertigte Puppe mit dem Gesicht Wingstones hinein, goß geweihtes Wasser über ihr Gesicht, befestigte ein ebenfalls geweihtes Kreuz auf ihrer Brust und malte mit Farbe nach einer aus ei nem alten Folianten stammenden Vorlage magische Zeichen, Sterne und Runen auf das Gewand. Dumpf polternd fiel der Deckel wieder zu. Die Helfer eilten herbei, der Sarg senkte sich in die Erde, die Schollen füllten das Grab. »Es bleibt so, wie es verabredet wurde«, sagte Rick Masters, während sie zu dem wartenden Hubschrauber gingen. »Sobald ich Ihnen über Sprechfunk das Zeichen gebe, holen Sie den Sarg wieder heraus, verbrennen die Puppe und vergraben den leeren Sarg.« Sie nickten, stellten keine Fragen, waren gute Befehlsemp fänger. Der Hubschrauber, mit Rick Masters an Bord, erhob sich. Die Positionslichter blinkten durch die Nacht. Die Riesenlibelle drehte ihre Nase und hielt auf London zu. Auf die Stadt, in der die letzte Nacht der lebenden Leiche ab lief. Der Tatort war hermetisch von Beamten des, Geheimdienstes und von Scotland Yard abgeriegelt worden. Masters konnte bei diesem Einsatz nicht persönlich zugegen sein, doch er hatte dem Rothaarigen und dem Chefinspektor genaue Anweisungen gegeben. »Ein Menschenleben hängt davon ab, ob Sie sich daran hal ten oder nicht«, hatte er ihnen eingeschärft. »Fangen Sie den Nachtwächter, der sich bestimmt der Stelle nähern wird, etwa zwei Straßen vor dem Tatort ab! Er wird nicht auf Sie hören und unbedingt weitergehen wollen, ja, er wird sogar Gewalt anwenden, damit Sie ihn durchlassen. Unterschätzen Sie seine Kräfte nicht, auch wenn er alt und gebrechlich sein wird. Und
wenn Sie ihn festhalten, bespritzen Sie ihn mit dieser Flüssig keit.« Rick hatte dann jedem von ihnen einen großen Behälter gereicht und nicht gesagt, daß es geweihtes Wasser war. Viel leicht hätten sie ihn seiner angeblichen Naivität wegen ausge lacht. »Verteilen Sie die Flüssigkeit an Ihre Leute! Wenn es nach meinen Vermutungen verläuft, wird der Mann aus seinem Trancezustand erwachen. Dann bringen Sie ihn so schnell wie möglich mit einem Wagen weg. Halten Sie ihn fest, bis ich sage, daß für ihn keine Gefahr mehr besteht.« Jetzt führten sie diese Anweisungen durch. Es verlief alles so, wie Masters vorausgesagt hatte. Nach anfänglichen Schwierigkeiten schafften sie einen Nachtwächter fort, der unter allen Umständen zum Tatort vordringen wollte. Nur der Rothaarige und Chefinspektor Hempshaw ahnten, was das wütende Gebrüll zu bedeuten hatte, das von der Stelle herüberhallte, an der vor hundert und vor fünfzehn Jahren ein Mensch gestorben war. Gemordet von einer Bestie, die nicht sterben durfte.
Anne war müde. Sie wollte nur mehr schlafen, um alles ver gessen zu können. Doch sie wagte nicht, die Augen zu schlie ßen, weil sie fürchtete, in ihren Traumen alles noch einmal erleben zu müssen. Und dann hätte sie bestimmt nicht die innere Kraft gefunden, bis ans Ende durchzuhalten. An welches Ende? An ihres oder an das des Meisters? An das der Menschheit? Die Beschwörung des Gehenkten war für sie nichts Neues mehr, so abgestumpft war sie geworden. Der Meister kümmerte sich nicht um sie. Er hatte sich an seinen makabren Schreib tisch gesetzt und studierte eine altägyptische Schriftrolle. Anne döste vor sich hin. Nur nicht denken, befahl sie sich. Wenn ich denkte, drehe ich durch und stürze mich auf dieses
Ungeheuer, und dann ist alles vorbei. Plötzlich schreckten die beiden Menschen hoch. Das schwarze Studierzimmer wurde von einem glühend roten Schein erfüllt, der von dem magischen Kreuz ausging. Das rote Licht war so stark, daß sie das Kreuz nicht direkt anschauen konnten. Gleichzeitig ertönte ein in den Ohren schmerzendes Klirren, als zerbräche ein riesiger Spiegel. Der Meister fuhr mit einem Schrei von seinem Stuhl auf. Er griff sich an die Brust, sein Gesicht war aschfahl geworden. »Colby!« brüllte er verzweifelt. »Was ist geschehen?« Ein schnarrendes Fauchen ertönte aus der roten Glut heraus. Anne kniff ihre Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Eine dunkle Gestalt zeichnete sich inmitten des Lichtscheins ab, trat langsam hervor, machte einen Schritt auf den Meister zu. »Colby!« In der Stimme des Meisters schwang Panik mit. Er schien mit der lebenden Leiche, die über keine Stimme ver fügte, stille Zwiesprache zu führen. »Ich weiß nicht, wieso du nicht in dein Grab zurückkehren kannst« Die Stimme, nahm einen beschwörenden Ton an. »Aber solange das Kreuz rot glüht, kann ich nichts machen. Ich muß warten, bis sich die gestörten magischen Felder beru higt haben, dann helfe ich dir sofort.« Anne spürte, wie sie wilder Triumph schüttelte. »Können Sie gar nichts tun, Dr. Wingstone?« fragte sie höh nisch. Dem Wissenschaftler fiel überhaupt nicht auf, daß sie sich über seine Hilflosigkeit freute. »Nein«, keuchte er ängstlich. »Meine ganze Macht liegt in dem Kreuz. Es überträgt die Lebenskraft, es nimmt das Leben, es gibt es. Solange es aber nicht seine natürliche Farbe hat, kann ich keinen Kontakt herstellen.« Wieder stieß der schwankend im Zimmer stehende Colby dieses durch Mark und Bein gehende schnarrende Fauchen aus.
Dr. Wingstone wich vor ihm zurück. Die lebende Leiche folgte ihm mit torkelnden Schritten. »Wenn du Hand an mich legst«, rief der Wissenschaftler ver zweifelt, »verlierst du die Möglichkeit, jemals wieder zu le ben!« Noch ein Schritt zurück. Er stieß gegen ein Bücherregal. Seine Hand tastete nach ei nem schweren Briefbeschwerer. Er schleuderte ihn mit der ihm verbliebenen Kraft. Die Kristallkugel traf den Kopf der Leiche. Colby fauchte, wankte ein wenig, ließ sich aber nicht aufhalten. Schritt für Schritt, Zoll für Zoll kam er seinem bisherigen Meister entge gen. Schon hoben sich die halb verwesten Hände. Schon streckten sich die klauenartig gekrümmten Finger nach dem Wis senschaftler aus. »Anne, hilf mir doch!« brüllte Dr. Wingstone in höchster To desangst. Anne bebte. Der Augenblick war gekommen, ohne ihr Zutun, aber er war gekommen. Jetzt wurde abgerechnet. Kurz warf sie einen Blick auf das Kreuz. Und dann sah sie deutlich den Riß, der es vom Boden bis zur Decke gespalten hatte. Unbändiges Gelächter, hysterisch überkippend, schüttelte sie. »Es ist aus, du Scheusal!« schrie sie den Arzt an. »Es ist aus mit dir und deinen Ungeheuerlichkeiten! Die Rache! Die Ra che!« Dieser unerwartete Ausbruch überraschte Wingstone so sehr, daß er für einen Augenblick vergaß, auf den vor ihm stehenden Colby zu achten. Sein Blick irrte zu Anne, die wie eine Göttin der Unterwelt seitlich von ihm stand und jede Phase des un gleichen Kampfes verfolgte. Und in diesem Augenblick sprang die lebende Leiche vor wärts. Die Hände verkrallten sich in Dr. Wingstones Hals,
drückten mit unheimlicher Kraft zu. Der Würgegriff wäre tödlich gewesen, aber Wingstone starb augenblicklich. Als Colby einen seiner Ringe berührte, die aus dem gleichen magischen Metall hergestellt waren wie das Kreuz, sprang zwischen den beiden ein bläulicher Funke über. In wenigen Augenblicken bleichte Wingstones Haar, seine Haut knitterte, das Fleisch schwand von seinen Knochen. Röchelnd stand die lebende Leiche vor ihm. Dr. Wingstone entglitt dem Zugriff. Ein uralter Mann lag auf dem Boden - tot. Sosehr sie den Triumph genossen hatte, diesen Menschen sterben zu sehen, in diesem Augenblick empfand Anne namen lose, Furcht vor Colby. Würde sich der lebende Leichnam nun gegen sie wenden, sie auf dieselbe Art töten? Es war ihr gleich, ob sie sterben mußte, weil sie jede Kraft zum Leben verloren hatte, aber auf diese grauenvolle Weise wollte sie doch nicht aus der Welt scheiden. Doch Colby schien sie gar nicht zu bemerken. Er torkelte auf das Kreuz zu, das noch immer gleich stark glühte; lehnte sich wie erschöpft dagegen. Wieder erfüllte ein Blitz das Studierzimmer mit gleißendem Licht. Als Anne die geblendeten Augen öffnen konnte, war Hank Colby, die lebende Leiche, verschwunden. Das gespaltene Kreuz hatte den roten Schein verloren. Schluchzend brach Anne auf einem Stuhl zusammen. Das entsetzliche Geschehen war über ihre Kraft gegangen. Als sie nach einer Weile die tränenverschleierten Augen auf schlug, lag Dr. Wingstone noch immer an derselben Stelle, an der er gestorben war. Doch nun hatte er das natürliche Ausse hen eines Mannes, mittleren Alters angenommen. Nur das Böse war nicht aus seinen Zügen verschwunden. Der Helikopter setzte sanft auf einem freien Grundstück, in der Nähe des efeubewachsenen Hauses von Dr. Wingstone auf.
Sofort liefen zwei Polizisten auf den Hubschrauber zu. »Mr. Masters!« rief der eine aufgeregt. »In dem Haus hat sich eine Explosion ereignet!« »Eine Explosion?« fragte der Detektiv erstaunt. »Brennt das Haus jetzt?«, »Nein«, gab der Polizist verblüfft zurück. »Aber es hat laut geknallt, allerdings klang es ungefähr so, als würde heißes Metall in kaltes Wasser getaucht, so daß es zerspringt.« Rick Masters stand einen Moment gedankenverloren neben dem Hubschrauber, dann nickte er. »Ich glaube, ich weiß, was das war. Ich hoffe es wenigstens.« Er winkte dem Helikopterpiloten dankend zu, bat die Polizi sten, wieder auf ihren Platz zu gehen, und lief auf das Gebäude zu. Aus den Büschen tauchte unerwartet eine Gestalt auf. Rick schrak zusammen, doch dann erkannte er den weißhaarigen Mann. »Dr. Sterling!, Sie habe ich hier wirklich nicht erwartet«, sagte er zur Begrüßung. »Wie kommen Sie hierher?« »In einem Polizeiwagen, natürlich.« Der alte Pathologe zeigte seine noch immer tadellosen Zähne. »Vielleicht werde ich gebraucht.« Er schüttelte den Kopf. »Spaß beiseite, ich bin doch in den Fall verwickelt. Als ich hörte, worum es ging, wollte ich unbedingt dabeisein, wenn zur letzten Jagd geblasen, wird.« »Doktor«, warnte Rick, »bleiben Sie lieber zurück! Es steht noch nicht fest, daß es sich wirklich um die letzte Jagd han delt.« »Sie meinen, das Wild könnte noch sehr lebendig sein?« Der Pathologe zuckte die Schultern. »Macht auch nichts, mich wer den Sie nicht mehr los.« Rick Masters verzichtete auf Widerrede. Gemeinsam schrit ten die beiden Männer auf das Haus zu. Noch immer glotzten ihnen die halbblinden Fenster wie die Augen eines bösen Fein des entgegen.
Welche Geheimnisse verbargen sich hinter den efeuumrank ten Mauern?
Die Tür war, wie Rick beim Näherkommen feststellte, aus den Angeln gehoben worden. Um die massiven Eichenbretter aus ihrer Verankerung zu reißen, war schon eine gewaltige Kraft nötig, doch der junge Detektiv konnte keine Spuren einer Explosion und des damit verbundenen Brandes am Türrahmen feststellen. »Hier ist ja ein Orkan durchgefegt!« rief Dr. Sterling fas sungslos aus, als sie die Halle betraten. Steine waren aus den Wänden bis zur Decke hinauf herausgebrochen, die Einrich tung war zertrümmert, Risse klafften in den Wänden und der Decke. »Es wäre leichter, wenn wir es mit einem echten Orkan zu tun hätten«, bemerkte Rick Masters. Die Beklemmung, die der alte Pathologe bei diesem Anblick empfand, spürte nun auch er, vielleicht sogar in verstärktem Maß, weil er die Hintergrün de und die Zusammenhange besser durchschaute. »Doktor«, sagte Rick nach einigen Augenblicken, in denen er versuchte, das Grauen zu unterdrücken, »warten Sie lieber draußen auf mich. Noch ist es Zeit für Sie umzukehren.« Sterling wischte den Vorschlag mit einer verächtlichen Hand bewegung weg. »Sie glauben doch nicht wirklich, Sie junger Kerl, daß ich jetzt kneife? Vorwärts, gehen wir weiter!« Das Haus war von einer unheimlichen Totenstille erfüllt, die nur durch das Geräusch rieselnden Sandes durchbrochen wur de, der von den Gewölben zu Boden fiel. Nach wenigen Schritten standen die beiden Manner vor einer weiteren Tür, die ehemals einen finsteren Korridor verschlossen hatte, jetzt jedoch zerschmettert auf den Brettern der Halle lag. Trotz der verheerenden Explosion brannte die elektrische Beleuchtung noch immer. Im trüben Licht tasteten sie sich
vorwärts, bis sie wie erstarrt vor einem Torbogen stehenblie ben. Ihre Unbeweglichkeit löste sich erst, als sie den Körper einer jungen Frau auf der Erde liegen sahen. Rick Masters stand mit drei langen Schritten neben dem Mädchen, doch in dem Moment, als er sich hinunterbeugen wollte, stieß der Pathologe einen entsetzten Aufschrei aus.
»Sehen Sie nur!« Dr. Sterling stand mitten in dem schwarz ausgeschlagenen Studierzimmer. Seine bebende Hand zeigte auf die Leiche eines Mannes, die halb von dem aus Knochen gefertigten Schreibtisch verdeckt wurde. »Das ist er! Das ist Dr. Alfred Wingstone!« Für Augenblicke vergaß Rick Masters das Mädchen. Er starrte aus geweiteten Augen den Mann an, der durch seinen bösen Geist solches Unglück über eine ganze Stadt und über zahlreiche Menschen und deren Familien gebracht hatte. Rick war kein Mediziner, aber man mußte auch keiner sein, um erkennen zu können, daß dieser Mann tot war. Rote Male an seinem Hals zeigten, daß er mit unglaublicher Kraft gewürgt worden war, und sein blau angelaufenes Gesicht und die her aushängende Zunge waren die Zeichen seines gräßlichen To des. Ein leises Stöhnen erinnerte Rick an das Madchen. Er drehte sich um, und er sah gerade noch, wie sich Anne schwankend aufrichtete. Sie stierte mit glühenden Augen auf den Toten, dann auf die beiden Männer. Rick schien sie nicht zu erkennen, kein Muskel in ihrem steinernen Gesicht zuckte. Dann wan derte ihr Blick zu dem toten Wingstone zurück, und plötzlich brach sie in schallendes Gelächter aus. »Reißen Sie sich zusammen, Anne!« schrie Rick sie an. »Es ist alles vorbei! Jetzt wird alles wieder gut!« Tatsächlich brach das schaurige Lachen ab, aber Rick wußte sofort, daß er diesen Gesichtsausdruck nie mehr in seinem
Leben vergessen konnte - eine Mischung aus Horror, Qual und namenloser Verzweiflung. »Ja!« stieß Anne endlich hervor. Ihr Atem ging abgehackt, sie zitterte am ganzen Körper. »Ja, alles wird gut. ,Wie recht Sie doch haben. Und wer nimmt mir die Erinnerung an die Stun den, die ich mit diesem Scheusal durchlitten habe? Wer, Mr. Masters?« Wankend trat sie einen Schritt näher. »Wie kann ich vergessen, was dort unten im Keller liegt? Diese Augen? Und Will .« Ihr Schreien erstickte in einem tränenlosen Schluchzen. Fast sah es so aus, als würde Anne erneut zusammenbrechen, und Rick wollte sie bereits auffangen, als sie unter seinen ausge streckten Armen durchtauchte. Mit einer rasend schnellen Bewegung riß sie eine Flasche vom Arbeitstisch des toten Meisters, entkorkte sie und trank den Inhalt in einem einzigen Zug aus. »Nein!« schrie Dr. Sterling. Doch das Mädchen hatte die tod bringende Flasche bereits geleert. Ein Ruck ging durch ihren Körper. Sie stürzte neben ihrem Peiniger zu Boden. Alles hatte Rick Masters erwartet, nur das nicht. Dr. Sterling beugte sich zu Anne hinunter. Er schüttelte den weißhaarigen Kopf. »Vielleicht war es für sie sogar besser«, glaubte Rick ver standen zu haben, aber er war nicht sicher. Das auf dem Kopf stehende Kreuz an der Hinterfront des Schauplatzes lästerlicher Beschwörungen war von oben bis unten gespalten. Es hatte auch allen Glanz verloren. Rick war nicht überrascht, dieses Symbol hier zu finden. Sei ne Beobachtungen aus den vorangegangenen Untaten, die Dr. Wingstone verschuldet hatte, paßten fugenlos in das Bild des Studierzimmers. Und das erleichterte Rick unendlich, wie er wenige Minuten später zu Dr. Sterling sagte. »Ich glaube nicht«, meinte der Detektiv, »daß wir ein Wei
terwirken der bösen Kräfte dieses Hauses zu befürchten ha ben.« »Da stimme ich Ihnen völlig zu.« Dr. Sterling sagte es ernst, und Rick erkannte, daß der Pathologe seine Worte aufrichtig meinte, aber etwas im Ton seiner Stimme ließ Rick aufhorchen. »Rücken Sie schon heraus, Doktor!« forderte er den alten Mann auf. »Sie denken doch weiter, oder?« »Ich frage mich«, sagte er mit leiser Stimme, »ob nicht auch ein anderer Mensch schaffen kann, was dieser Mann hier schaffte.« Er vermied es, den toten Meister anzusehen, obwohl er von ihm sprach. »Und ich bezweifle, ob es immer wieder gelingen wird, rechtzeitig die Macht solcher Menschen zu brechen.« »Fragen wir uns lieber nicht.« Rick Masters wandte sich schaudernd ab. »Ich könnte sonst den Mut verlieren.« Minuten später standen die beiden Männer im Keller des Hauses. Dr. Sterling nahm die Regale mit den vielen unverwe sten Leichen gelassener hin als der Detektiv. Schließlich ge hörte es zu seinem Beruf. Allerdings mußten beide die Vor stellung unterdrücken, wie alle diese Unglücklichen in dieses unterirdische Gewölbe gelangt waren, welche Foltern sie durchgestanden hatten und für welchen Zweck sie hier wie leblose Ware aufgestapelt worden waren. »Ich verstehe nicht, was das Mädchen mit den offenen Augen meinte«, sagte Dr. Sterling. »Ich auch nicht.« Rick strich sich über die Stirn, als könnte er mit dieser hilflosen Geste den scheußlichen Alptraum einfach wegwischen. »Wir wissen aber auch nicht, wie es hier aussah, als Wingstone noch lebte.« »Was werden Sie mit diesem Haus, den Leichen und der Bi bliothek machen?« »Das werden Sie sehr schnell sehen.« Rick griff in die Taschen seines Sakkos. Die Brandbomben, die er hervorholte, hatte er sich vom Ge
heimdienst verschafft. Er zündete sie. »Nichts wie raus hier!« rief er dem alten Mediziner zu. »Das Mädchen nehmen wir mit.«
Sie standen vor dem Haus, aus dessen Fenstern grelle Flam men schlugen. Feuer reinigt, dachte Rick Masters. Traurig schaute er auf den reglosen Körper Annes hinunter, der auf einer Bahre lag. Ein Polizist trat an den Detektiv heran. »Mr. Masters«, meldete er. »Wir haben soeben einen Funk spruch erhalten, daß Ihr Freund wieder nach Hause zurückge kehrt ist.« Unter größter Kraftanstrengung nickte Rick Masters. Die ver schlüsselte Botschaft bedeutete, daß Hank Colby, die lebende Leiche, wieder in ihrem Grab lag. Und die Botschaft bedeutete hoffentlich auch, daß die leben de Leiche nie wieder auf der Erde wandeln würde. - ENDE -