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I. PARNOW, M. JEMZEW
Die letzte Tür
In der Nacht fiel ein lang anhaltender Regen. Zündende Blitze zerrissen den sc...
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I. PARNOW, M. JEMZEW
Die letzte Tür
In der Nacht fiel ein lang anhaltender Regen. Zündende Blitze zerrissen den schwarzen Himmel, und Jegorow schien es, als brodele in den Rissen geschmolzener Stahl. Schwere Hagelkörner klopften gleich den Schnäbeln Tausender Vögel an die Fenster des Flughafenhotels. Beim Aufflammen der violetten Blitze sah Jegorow, wie das Wasser ununterbrochen die Scheiben hinabflutete. Kopfschüttelnd trat er vom Fenster zurück. „So ein Ärger“, brummte er und legte sich schlafen. Als er erwachte, war es heller Tag. Auf den Wänden und der Decke leuchteten zahllose Sonnensprenkel, widergespiegelt von den lackierten, polierten und vernickelten Gegenständen. Jegorow sprang aus dem Bett und lief mit federndem Schritt über den angenehm kühlen Fußboden. Er fühlte sich frisch und erholt, ja sogar beschwingt. Es war, als habe der nächtliche Regen seine Müdigkeit, seinen Gram über die Mißerfolge hinweggespült. Tatendurst erfüllte ihn. In einer solchen Verfassung hätte er bestimmt seinen Plan zur Erforschung des Akuanplateaus durchsetzen und sogar die Arbeit dort organisieren können! Aber das alles war vorbei. Der Plan war vor einem Monat als unrealisierbar abgelehnt worden, und er selbst hatte jetzt eine Woche Urlaub genommen, um ein wenig auszuspannen. Also blieb ihm nichts weiter übrig, als den Überschuß an Energie auf gründliches Zähneputzen zu verwenden und seiner guten Stimmung in dem Lied „Ich schreib dir auf den Mond ...“ Ausdruck zu verleihen. Doch schon am Flugkartenschalter schwand Jegorows strahlende Laune. „Die Luftautos sind weg“, erklärte der Kassierer. „Warten Sie, nach zwölf Uhr kommt die Propellermaschine, sie nimmt die Zurückgebliebenen mit.“ 2
„Ich warte seit gestern abend.“ „Da sind Sie nicht der einzige. Andere warten auch.“ Zähneknirschend wandte sich Jegorow vom Schalter ab und setzte sich zu den übrigen Passagieren. Die grelle Sonne, die durch die Glaswände fiel, bestrahlte freundlich die sorgenvollen Mienen der wettergebräunten Männer, die Gesichter der Frauen mit den buschigen Brauen und die Kinder, die sich zu Füßen ihrer Eltern tummelten. Ein wohlklingendes Gemurmel in allen Tönungen des melodiösen Ukrainisch erfüllte den Raum. Plötzlich entstand unter den Wartenden eine Bewegung. Aller Blicke richteten sich zum Ausgang. In der Drehtür war ein Mann von ungewöhnlichem Äußeren aufgetaucht. Jegorow verspürte bei seinem Anblick eine Beklommenheit wie von einer nahenden Gefahr. Der Mensch war teuflisch schön. Seine Schönheit glich einer Herausforderung, alles an ihm war vollkommen und gleichzeitig unwahrscheinlich extravagant. Er war offensichtlich daran gewöhnt, im Blickfeld zu stehen. Als befände sich niemand in der Halle, trat er zum Flugkartenschalter. „Hat man Sie soeben meinetwegen angerufen?“ fragte er mit leicht ausländischem Akzent. Dienstbeflissen stammelnd, reichte der Kassierer ihm eine Flugkarte. Der Fremde nickte und steckte sie in die Tasche. Als er schon fast am Ausgang war, rief ihm der Kassierer nach: „Ihr Luftauto steht in der Garage drei, gleich rechts.“ Ohne sich umzuwenden, nickte der Fremde wieder. Als er draußen war, ging Jegorow zum Schalter. „Das heißt, Sie hatten ein freies Luftauto?“ fragte er betont ruhig. Der Kassierer schrieb in seinen Papieren, schließlich hob er langsam den Kopf. Er blickte Jegorow verständnislos an. „Was für ein Luftauto?“ fragte er mit seltsam matter Stimme. „Sie haben soeben eins diesem Ausländer gegeben.“ „Ja–a“, sagte der Kassierer zerstreut und vertiefte sich erneut in die Formulare. Jegorow spürte, wie ihm die Galle überlief. „Ich spreche mit Ihnen!“ schrie er und schlug mit der Faust auf den Tisch. Der Kassierer sprang erbleichend auf. „Das lasse ich mir nicht bieten!“ kreischte er und drückte auf einen Klingelknopf. 3
Jegorow mußte lange mit den Armen fuchteln, schreien, sich rechtfertigen, erklären, ins Gewissen reden, appellieren, drohen und schmeicheln, bis. er endlich gegen neun Uhr in einem Pkw den Flughafen verließ. Anstelle des schnellen, leistungsstarken Luftautos mußte er mit einem vorsintflutlichen Gefährt vorliebnehmen, das eine Laune des Schicksals in den Schuppen des hiesigen Flughafendirektors verschlagen hatte. Allmählich fand Jegorow seine Ruhe wieder und begann die herrliche Umgebung zu genießen. Der hohe blaue Himmel mit den winzigen, durchscheinenden Wölkchen war voll Wärme und Licht. Auf den frischen, noch grünen Weizenhalmen funkelte Tau. Der kühle Fahrtwind zauste angenehm das Haar. „Nach Musykowka?“ fragte der Chauffeur. „Ja.“ „Zu Netschiporenko?“ Jegorow sah den Fahrer an. Es war ein dunkelhaariger fröhlicher Bursche mit Namen Renik. „Ja, genau. Woher wissen Sie das?“ „Hab's erraten. Zu ihm fahren jetzt viele . .. Was meinen Sie, ob er bald zurückfliegt?“ „Bestimmt. Laß ihn nur mal Atem schöpfen, er ist ja erst heimgekehrt.“ Der „Wolga“ bog von der Betonstraße in den schwarzen Feldweg ein, der nach Musykowka führte. Jegorow schaute mit Bangen nach vorn. Er wußte, was die Schwarzerde nach einem solchen Regen bedeutete. Der Weg war von grabentiefen Radspuren zerfurcht. Der aufgeweichte Boden unter dem „Wolga“ gab nach, immer wieder blieben sie im Schlamm stecken. „Zum Teufel!“ fluchte Renik. „Den Mond haben wir uns erschlossen und den Mars,, auf der Venus sind wir gelandet, aber die Wege bei uns taugen nach wie vor 'nen Dreck!“ „Das ganze Unglück liegt darin, mein Lieber“, sagte Jegorow belehrend, „daß wir in einer Übergangsepoche leben. Luftautos gibt's noch nicht genug, die bodengebundenen Kraftwagen aber sind aus dem Gebrauch gekommen. Wenn die Massenproduktion der Luftautos angelaufen ist, werden Wege wie diese nicht mehr nötig sein. Es 4
bleiben nur die großen Autostraßen. Der ganze übrige Kram wird umgepflügt. Landeplätze brauchen wir dann auch kaum noch. Ein Luftauto kann überall landen – auf der Erde, auf dem Wasser, im Wald, im Sumpf.“ „Eh das mal wird“, erwiderte Renik gedehnt und fügte hinzu: „Probieren wir es übers Stoppelfeld.“ Er lenkte den Wagen auf den Acker, doch hier erwarteten sie neue Überraschungen. Der „Wolga“ sauste völlig willkürlich bald nach links, bald nach rechts. Das Feld war leicht abschüssig, und Renik, der längst den Motor gedrosselt hatte, drückte mit aller Kraft auf das Bremspedal. Mit Schrecken beobachtete er, wie sie sich einer Schlucht näherten. Aber dicht davor wurde der Wagen herumgeschleudert und blieb stehen. „Hol's der Teufel!“ Renik wischte sich den Schweiß vom Gesicht. „Ich werde den Abend abwarten, vielleicht trocknet es.“ Sie stiegen aus. „Da liegt Musykowka.“ Renik wies über die Schlucht hinweg. Auf einem von der Sonne beschienenen grünen Hügel standen einund zweigeschossige Häuser. Dichtbelaubte Kirschbäume und Pappeln warfen violette Schatten auf die weißen Wände. Jegorow verabschiedete sich von Renik und stelzte durch den Schlamm zu der kleinen Holzbrücke, die sich über die Schlucht spannte. Eine halbe Stunde später stand er vor dem Hause Netschiporenkos. „Ist Wassili daheim?“ fragte er eine bejahrte Ukrainerin, die im Vorgarten arbeitete. Die Frau musterte ihn mit mißtrauischem Blick. „Wer sind Sie?“ „Mein Name ist Jegorow.“ Sie trat ans offene Fenster und rief etwas hinein. Kurz darauf erschien auf der Vortreppe ein hochgewachsener junger Mann in Sporthemd, leichten Hosen und mit Turnschuhen an den Füßen. Über der hohen Stirn sträubte sieh ein schwarzer Schopf. Die braunen Augen blickten freudig überrascht. „Sascha! Sei gegrüßt, mein Lieber! Tritt näher!... Wie siehst du denn aus! Hast unsre Schwarzerde gekostet, was?“ Sie umarmten sich. 5
„Sei gegrüßt, du Marsianer!“ Jegorow lächelte. „Hast's wohl nicht mehr ausgehalten? Bist nach Hause zurückgekehrt?“ „Ja, diesmal hat mir's gereicht. Vom Kosmodrom bin ich sofort in die Akademie gefahren, habe die Unterlagen abgegeben- und mich dann gleich verdrückt. Sie wollten mich zwar in ein Sanatorium schicken, aber ich hab sie überzeugt, daß ich zu Hause selbst ein Sanatorium und die beste Prophylaxe habe. Na, komm herein. Du schläfst mit mir zusammen in der Mansarde, einverstanden? Ich würde dir gern ein Extrazimmer geben, aber ich hab noch einen Gast. Er ist heute morgen angekommen.“ „Wer ist das?“ fragte Jegorow. „Angelo Tend, einer aus der Gruppe Disney. Er hat zusammen mit mir auf dem Mars gearbeitet. Aus Südamerika stammt er.“ Jegorow runzelte die Stirn. „Was will er dann von dir?“ „Das erzähl ich dir später“, antwortete Wassili. „Komm, ich mach dich mit unserer Familie bekannt.“ Die Familie bestand aus noch zwei Personen: der Mutter, Olga Pantelejewna – Jegorow hatte sie bereits im Vorgarten kennengelernt –, und der Schwester Wassilis, einem schlanken braunäugigen Mädchen. Als sie Jegorow die Hand drückte, sagte sie lächelnd: „Wassja hat viel von Ihnen erzählt.“ „So, was denn?“ fragte Jegorow keck. „Ach, nichts weiter.“ Das Mädchen kniff schelmisch die Augen zusammen. „Oxana, veralbere Sascha nicht. Besorg lieber was Leckeres zum Mittagessen“, unterbrach Wassili das Geplänkel. „Und wo steckt dein Südamerikaner?“ fragte Jegorow, als sie die Treppe hinaufstiegen. „Er schläft“, erwiderte der Kosmonaut gedehnt. „Kaum, daß er da war, hat er sich auch schon hingelegt. Willst du dich nicht auch ein Weilchen ausruhen? Ich muß der Mutter erst in der Wirtschaft helfen. Sie ist doch mit Oxana allein, und ohne Mann hat sie's schwer. Nach dem Essen haben wir genug Zeit zum Plaudern.“ „Gut, machen wir's so. Aber wenn ihr meine Hilfe braucht, ruf mich.“ Wassili ging hinunter. Allein geblieben, sah sich Jegorow um. Das große Zimmer machte einen eigenartigen Eindruck, in ihm waren 6
Labor, Bibliothek, kosmisches Museum, Gast und Schlafzimmer vereint. Über dem schmalen Bett, auf dem eine einfache Wolldecke lag, hingen Fotografien Wassilis. Seltsam, kein einziges Bild vom Mars, und er ist fünfmal dort gewesen, dachte Jegorow. Er betrachtete die Bücher über Kosmonautik, schnipste an einen grauen Mondstein, der einem erstarrten Wellenkamm ähnelte, belächelte das Modell eines kosmonautischen Steuerpultes; er kannte es gut, denn Wassili hatte es angefertigt, als sie noch gemeinsam am Kosmischen Institut studierten. Durch eine breite Glastür trat Jegorow auf den mit einem Sonnendach überschirmten Balkon hinaus. Inmitten saftiger dunkelgrüner Bäume erblickte er das Dorf, die hübschen weißen Häuschen, die Parkplätze mit den dottergelben und purpurnen Luftautos, die in der Sonne glänzten. Irgendwo krähte ein Hahn, brüllte eine Kuh. Jegorow atmete tief die würzige Mailuft ein. Von dem blendenden Sonnenlicht schwindelte ihm leicht. Er dachte daran, daß er jetzt in Moskau in dem stickigen, verrauchten Zimmer sitzen und die „Große Beta“ mit endlosen Ziffernreihen füttern würde, die den Aufzeichnungen der geologischen Exkursionen auf Mond und Mars entnommen waren. Nervös würde er warten, bis die Elektronenmaschine Antwort gab, eine Antwort, die seine Vermutung, seine Fähigkeit, vorauszusagen, bestätigte oder negierte. Und während er sein Leben am Pult der Rechenmaschine verbrachte, schien irgendwo diese gütige Sonne, säuselte der liebliche Wind ... An sein Ohr drang ein Geräusch. Ein Mann trat ins Zimmer. Jegorow sah sein Spiegelbild in der Scheibe der Balkontür. „Wassili!“ erklang eine leise Stimme. Jegorow schwieg. Er kannte den Mann – es war derselbe, der ihm morgens auf dem Flugplatz das Luftauto weggeschnappt hatte. Das Gesicht des Fremden verriet höchste Anspannung. Als er keine Antwort erhielt, schloß er die Tür und kam weiter ins Zimmer herein. Besser gesagt, er sickerte durch den Raum, so weich und lautlos war seine Bewegung. „Wassili!“ rief er noch einmal. Jegorow wollte sich melden, doch da trat Netschiporenko ein. „Ah! Angelo! Hast du ausgeschlafen?“ „Danke, ja.“ 7
„Das freut mich. Gehen wir hinunter.“ Beide verließen das Zimmer. Jegorow rührte sich nicht. Er fand den Fremden äußerst unsympathisch und beschloß, Wassili unter vier Augen über ihn auszufragen. Als sie am Mittagstisch saßen, beobachtete Jegorow den Südamerikaner unausgesetzt. Tend aß offenbar ohne jeglichen Appetit. Er strahlte jetzt noch mehr Schönheit aus als am Morgen im Lufthafen. Auf der mattweißen Haut lag ein Anflug zarter Aprikosenröte. Die großen schwarzen Augen blickten streng und ein wenig schwermütig. Oxana war völlig in seinen Bann gezogen. Sie starrte auf ihren Teller, und wenn man sie ansprach, erbebte sie. Jegorow versuchte, sie aus ihrer Benommenheit zu lösen. „Wollen Sie nicht auch mal zum Mars reisen, Oxana?“ fragte er sie. „Das ist grad nötig“, erwiderte das Mädchen errötend, „zu euern Käfern!“ „Diese Käfer sind klüger als wir alle“, bemerkte Wassili. „Und wennschon. Jetzt sind sie ja doch tot.“ „Ganz recht“, pflichtete ihr die Mutter, Olga Pantelejewna, bei. „Krepierte Ameisen gibt's auch auf der Erde genug.“ Angelo Tend legte die Gabel hin. „Zwischen Marsbewohner und Ameise besteht soviel Ähnlichkeit wie zwischen Mensch und Katzenjungem. Auf dem Mars hatte sich eine Zivilisation entwickelt, wie sie die Menschheit nach zehntausend Jahren nicht erreicht haben wird. Und die Marsbewohner sind nicht tot.“ Er blickte streng auf Oxana. In seinen Augen loderte unstet die Flamme eines düsteren Glaubens. „Sondern?“ fragte das Mädchen zaghaft. „Sie sind ins Aja gegangen.“ Alle schwiegen. „Was soll denn das sein?“ fragte Olga Pantelejewna. „Wir wissen es nicht“, antwortete Wassili an Angelos Stelle. „Wir begreifen vieles nicht in der Zivilisation der Marsbewohner. Sie kennen keine Lautverbindung, die logischen Grundlagen ihres Denkens unterscheiden sich qualitativ von unseren, die Entwicklung ist bei ihnen völlig anders verlaufen. Weder über ihre Produktionsweise noch über den Entwicklungsweg ihrer Gesellschaft können wir 8
bis jetzt gültige Aussagen machen.“ „Wenn wir uns einmal über die Dinge klargeworden sind, die ihr auf dem Mars entdeckt habt, wird die Entwicklung unserer Gesellschaft kolossalen Auftrieb erhalten“, warf Jegorow ein. Angelo sah ihm das erstemal ins Gesicht. Wie unheimlich! Es ist, als sauge er etwas aus mir heraus! dachte der Geologe und senkte unwillkürlich den Blick. „Sie haben durchaus recht“, bestätigte Tend mit blecherner Stimme. Nicht genug Obertöne, ging es Jegorow durch den Kopf. „Ja, kolossalen Auftrieb wird unsere Kultur erhalten“, spöttelte Olga Pantelejewna. „Das sieht man an dem Spiegel.“ „An welchem Spiegel?“ fragte Jegorow. „Wassja hat mir als Geschenk einen Spiegel vom Mars mitgebracht“, erklärte Oxana. „Ein unpraktisches Ding“, fügte die Mutter hinzu.' „Nicht mal einen Haken zum Aufhängen hat er.“ Angelo blickte auf Oxana. „Und wie sehen Sie sich darin?“ fragte er. „Sehr gut.“ Das Mädchen lächelte verlegen. Nach dem Essen gingen Wassili und Jegorow zu Oxana ins Zimmer, um die Couch für Jegorow zu holen. In der sauberen und geräumigen Stube duftete es nach Feldblumen. Jegorow entdeckte unversehens den Marsspiegel, der auf einem Stuhl lehnte, und trat interessiert näher heran. Die Fläche des einen halben Meter hohen Ovals, in einen dicken graugoldenen Rahmen eingeschlossen, strahlte aus dunkler Tiefe die aufmerksamen Augen des jungen Mannes wider. Keine Linie seines Gesichtes war entstellt, nur hatte alles einen bläulichen Schimmer. Jegorow schien es, als blicke er durch feine Schicht blauen Wassers. Wassili, der sich ebenfalls im Spiegel betrachtete, sagte unvermittelt zu Oxana: „Hör mal, Schwesterchen, überlaß ihn uns für eine Weile, ja? Wir müssen uns morgens rasieren, und ich hab nur den kleinen Rasierspiegel.“ „Meinetwegen nehmt ihn“, stimmte Oxana zu. „Er ist sogar zweiseitig. Wenn ihr ihn mitten ins Zimmer hängt, könnt ihr euch beide auf einmal rasieren.“ 9
Die Freunde trugen die Couch und den Spiegel nach oben. Jegorow äußerte den Wunsch, auf dem Balkon zu schlafen, und sie stellten die Couch unter das Sonnendach. Den Spiegel hängten sie ebenfalls auf den Balkon. Sie umklebten den golden schimmernden Rahmen mit Isolierband, dessen Enden sie an dem Träger des Sonnendaches befestigten. Der Spiegel schaukelte sacht und glänzte im hellen Licht. „Schwer ist er“, meinte Jegorow, der überprüfte, ob der Spiegel fest genug angebunden war. „Ja. Und unbegreiflich, weshalb. Die Zusammensetzung ist noch nicht bekannt.“ „Hat er eigentlich wissenschaftlichen Wert?“ „Ach, keine Spur!“ Wassili machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wir haben der Akademie an die zweitausend solcher Spiegel übergeben. Über das Material, aus dem sie bestehen, zerbrechen sich die Chemiker der ganzen Welt den Kopf.“ Sie gingen ins Zimmer zurück, da es auf dem Balkon zu heiß wurde. „Die Marsbewohner hatten überhaupt eine Vorliebe für Ellipsen“, sagte Wassili, als sie sich in den tiefen Sesseln niederließen. „Solche Spiegel gibt es bei ihnen zu Zehntausenden; in den Städten dienten sie als Lichtreflektoren. Viele Bauwerke auf dem Mars haben elliptische Form.“ Eine Weile schwieg Wassili nachdenklich, dann schüttelte er den Kopf. „Na schön“, sagte er, „darüber später. Außerdem weißt du sicherlich alles aus den Berichten, die euer Institut bekommt. Gefällt dir eigentlich die Arbeit, dort?“ Jegorow überlegte. „Was soll ich dir antworten? Gefallen wäre zuviel gesagt. Als ich nach Abschluß des Studiums wegen meiner Leberkrankheit nicht in den Kosmos fliegen durfte. . . Na, du entsinnst dich ja. Es ist noch gut, daß ich Geologe bin und nicht Navigator wie du. Dann wär's mit mir ganz aus gewesen. Und doch hab ich mich vom Kosmos nicht lossagen können. Ich ging in dieses Institut. Arbeitete. Studierte die auf dem Mars zusammengetragenen Materialien und entdeckte das Akuanplateau. Jetzt baue ich darauf, daß man dort weiterforschen wird.“ „Offiziell? Da gib dich keiner Hoffnung hin“, bemerkte Wassili. „Die Bedingungen auf dem Mars sind schrecklich. Wir haben zu sechst die Große Hauptstadt erkundet. In ihr lebten einstmals eine Milliarde Marsbewohner. Die Stadt reicht drei- bis vierhundert Meter 10
in die Tiefe, und ihre Gesamtausdehnung ist bis heute unbekannt. Zwei Monate sind wir, ohne den Schutzanzug abzulegen, durch die verfluchten Ameisengänge gekrochen. Und hinterher hatten wir kaum noch Kraft, zum Raumschiff zu gehen ... Erzähl mal lieber von deinem Plateau.“ Jegorow kratzte sich am Kinn, sah zur Decke und begann: „Du weißt, was für eine Sensation es war, als wir auf dem Mars Elemente entdeckten, die man bislang auf der Erde nicht gekannt hatte. Sie im Labor herzustellen gelang nicht. Auf dem Mars sind sie an einem Ort konzentriert, in riesigen Mengen. Ich gab diesem Ort den Namen ,Akuanplateau'. Wie ich nachweisen konnte, sind die Elemente künstlicher Herkunft. Was bedeutet das deiner Meinung nach?“ „Es könnten Abfälle unbekannter thermonuklearer Reaktionen sein“, sagte Wassili unsicher. „Ganz recht, Abfälle. Das ist sehr wichtig. Die Marsbewohner, die ihre ganze Zivilisation im Innern des Planeten errichtet hatten, benutzten die Oberfläche zum gleichen Zweck wje wir seinerzeit den Meeresboden oder die oberen Schichten der- Atmosphäre. Sie schütteten ihre Abfälle dorthin. Letzten Endes wurde nach solchen Anzeichen das ganze Netz der Marsbesiedlungen entdeckt.“ „Folglich liegt unter dem Akuanplateau ein atomares Kraftwerk, von dem wir bis jetzt noch nichts wissen?“ „Sehr wahrscheinlich. Und wenn wir dieses Kraftwerk finden, wird sich bestimmt auch für unsere irdische Energetik etwas profitieren lassen. Vor allem, was das Niveau der Technik angeht.“ „Das Kraftwerk zu finden genügt nicht. Wir müssen dahinterkommen, wie es funktionierte. Da haben wir nun die erste außerirdische Zivilisation entdeckt. Und der Nutzen? Aber lassen wir das vorläufig . . . Was sagen eure Koryphäen zu dem Plateau?“ „Sie meinen, seine Ausmaße seien riesig, außerdem brauche das Kraftwerk nicht direkt unter dem Plateau zu liegen, sondern könne daneben sein, es aufzufinden koste zuviel Aufwand. Sie halten es für leichter, bereits bekannte Objekte zu erforschen und auszunutzen, als neue zu suchen. Im übrigen sei das, so sagen sie, eine Aufgabe für die fernere Zukunft.“ „Ja, die Lage ist schwierig“, entgegnete Wassili sinnend. „Es lohnt sich, dort herumzuspüren. Aber, du verstehst, ohne offizielle 11
Genehmigung ... Nach der neuesten Instruktion haben wir eine vierfache Sicherung. Und trotzdem ...“ Er stockte. „Begreif doch, Sascha, der Mars ist ein sonderbarer Planet. Ich kenne den Mond sehr gut, ich war auf der Venus und habe die dortige ,Luft' geatmet, aber es ist alles nicht das. Ganz und gar nicht. Auf dem Mond wie auf der Venus gibt es unheildrohende Naturkräfte, doch es ist dort nicht schrecklich. Auf dem Mars aber ist es geradezu unheimlich. Verstehst du?“ Jegorow schaute ihn erstaunt an. „Ja, ja“, sagte Wassili erregt. „Darüber schreibt und spricht man nicht gern, trotzdem ist es so. Der Mars ist ein erstaunlich ruhiger Planet. Sein Relief ist wenig zerklüftet. Tief im Boden liegen die gigantischen Städte. Tote Städte. Kein einziger Marsbewohner ist mehr da; man findet nur Milliarden seltsamer ausgetrockneter Hüllen. So ähnlich wie die Chitinpanzer der Insekten, eine Art Körperschutz. Bevor sich die Marsbewohner ins Aja begeben haben, sind sie entweder aus diesen Hüllen geschlüpft oder ... Und hier beginnt die ganze Kette von Rätseln. Bis jetzt ist es im Grunde nicht gelungen, etwas mit Bestimmtheit festzustellen. Die kleinen Marsbewohner haben unter der Oberfläche des Planeten riesige Gebäude errichtet, in denen sich der Mensch wie ein Liliputaner vorkommt. Es ist sehr schwer, dort zu arbeiten, Sascha. Die ganze Zeit wird man das Gefühl nicht los, als .lebe noch jemand auf diesem toten Planeten.“ „Aber das sind doch Hirngespinste.“ Jegorow lächelte ungläubig. „Ach, Sascha, lache nicht. Du spürst dort die ganze Zeit, daß jemand hinter deinem Rücken steht, dich beobachtet, bewertet. Und ... wartet, wartet. Ich kenne nichts Schrecklicheres als dieses marsianische Abwarten. Jemand Unsichtbares sieht dich immerfort abwartend an. Das ist ein sehr unangenehmes Gefühl.“ „Na, weißt du ...“ „Und das ist noch längst nicht alles. Denk nur an unsre kläglichen Anstrengungen, diese unverständliche, halb sichtbare, halb ertastbare Inschrift auf den Kristallen der Roten Kuppel zu entziffern. Wir haben daraus nur eine bedeutsame Information erhalten: daß sich die Marsbewohner anschicken, ins Aja zu gehen. Was ist das Aja? Wie konnte man zwei Billionen Marsbewohner dorthin befördern? Das ist unbegreiflich. Und weshalb bezieht sich die ganze Inschrift nur auf 12
daa letzte Jahrzehnt der Marszivilisation? Wo sind ihre Archive? Haben sie keine Bibliotheken? Mit einem Wort, Rätsel über Rätsel.“ „Ich verstehe nicht, was dich beunruhigt. Natürlich braucht man Zeit, um diese komplizierte und der irdischen sehr wenig ähnelnde geistig hochstehende Gesellschaft zu erforschen.“ „Es ist nicht allein eine Frage der Zeit, Sascha. Ich vermute, daß wir vieles überhaupt nicht begreifen werden.“ „Details vielleicht. Sie sind immer eigenartig und unfaßbar. Aber die allgemeine Tendenz können wir vollauf verstehen.“ „Nein, wir werden sie nicht verstehen. Wie ich hörte, sind die Gebrüder Disney – sie befassen sich mit der Entzifferung der Kristalle des östlichen Sektors der Roten Kuppel – zu einem interessanten Ergebnis gelangt. Sie behaupten, das Denken der Marsbewohner sei dem unseren genau entgegengesetzt. Bei uns ist die Bewegung eine Eigenschaft der Materie, bei ihnen dagegen die Materie eine Eigenschaft der Bewegung, ihre Äußerung.“ „Hieran kann ich dich festnageln, mein Lieber“, sagte Jegorow. „Um eine solche Schlußfolgerung über den Charakter des marsianischen Denkens zu ziehen, muß man über einen kolossalen Vorrat von Informationen verfügen. Das ist eine philosophische Verallgemeinerung.“ „Ja, aber die Gebrüder Disney wissen nicht mehr als wir. Siehst du, Sascha, ich hab so das Gefühl . . .“ Er überlegte. In Gedanken sah er den engen tiefen Schacht, durch den der Lift die Kosmogeologen in die Große Hauptstadt bringt, sah er das Labyrinth von Gängen, durch die man nur kriechend hindurchgelangt, und die Rote Kuppel – eine gewaltige künstliche Höhle mit ovaler Decke, von purpurnem Licht erfüllt. „Ich hab so das Gefühl, Sascha“, fuhr Wassili fort, „daß jemand unsere Entdeckertätigkeit auf dem Mars lenkt.“ „Natürlich. Die Akademie der Wissenschaften, der Rat der ...“ „Nein“, unterbrach ihn Wassili, „ich spreche nicht von unseren.“ Jegorow gab sich den Anschein, als verstünde er nicht. „Ja“, sagte Wassili, „jemand lenkt uns. Legt uns etwas hin, versteckt etwas anderes. Urteile doch selbst: Die Marsbewohner sind vor etwa fünf Millionen Jahren – damals lebten auf der Erde noch keine Menschen – ins Aja gegangen. Und ihre Städte sind erhalten 13
geblieben, als seien sie gestern erst gebaut. Das ist widernatürlich, verstehst du. Schließlich gibt es das zweite thermodynamische Gesetz, die Entropie, die zunimmt. Nach fünf Millionen Jahren müßte dort das Chaos herrschen! Aber es herrscht kein Chaos. Es existiert eine strenge Ordnung.“ „Worauf willst du hinaus?“ Wassili beugte sich zu Jegorow vor. „Sie kehren zurück.“ Jegorow lachte gezwungen. „Das ist prächtig! Der Hausherr ist für kurze Zeit weggegangen und bittet die Gäste zu warten?“ „Ganz und gar nicht. Der Hausherr kann oder will jetzt nicht zurückkehren.“ „Vielleicht liegt ihr Aja außerhalb des Sonnensystems?“ „Der Teufel weiß, was es mit diesem Aja auf sich hat“, sagte Wassili nachdenklich. „Die Beschaffenheit der merkwürdigen Schutzpanzer läßt den Schluß zu, daß ein derartiger Übergang ein rein physiologischer Prozeß sein kann. Der Eingang ins Aja – das ist vielleicht etwas in der Art der Metamorphose unserer Insekten. Nur, daß diese Metamorphose unsterblich macht.“ „Ist das deine eigene Hypothese?“ „Nein, sie stammt von den Gebrüdern Disney. Dieser Angelo Tend, kein übler Bursche übrigens, hat vor unserem Flug mit ihnen zusammengearbeitet. Die Disneys wollten bereits zurückfliegen, als sie plötzlich bemerkten, daß Tend verschwunden war. Sie suchten alles ab – Angelo aber war nirgends. Schließlich flogen sie heim. Einen Monat später entdeckten wir Tend in einer der Galerien der Roten Kuppel. Er war gesund und munter, doch er konnte keine einzige unserer Fragen beantworten. Was mit ihm geschehen war, wo er sich befand, wie er hieß – er erinnerte sich an nichts. Wir mußten ihn alles von neuem lehren, mußten ihm erzählen, wer er war, woher er stammte, was die Erde ist und die Menschen. Das ging lange so. Und eines Tages erinnerte er sich – an fast alles.“ Wassilis Erzählung wurde vom einem schrillen heulenden Ton unterbrochen, der rasch himmelan stieg. Die beiden Männer liefen auf den Balkon. Ein Düsenflugzeug zog in der dunkelblauen Ferne einen Kondensstreifen. “ „Ein neuer Typ“, stellte Jegorow fest und beschattete mit der Hand die Augen. 14
Der Ton riß ebenso unvermittelt ab, wie er begonnen hatte. Das Flugzeug verschwand in der Tiefe des Himmelsgewölbes. „Und macht einen derartigen Lärm!“ Wassili schüttelte den Kopf. „Auf die Erde dringt das Heulen abgeschwächt. Kannst du dir vorstellen, wie es die Piloten hören?“ „Die Maschine ist isoliert.“ „Ja, wovon sprach ich?“ Wassili faßte sich an die Stirn. „Von Angelo.“ „Ach so. Na ja, das war eigentlich schon alles. Wir kehrten vom Mars zurück. Angelo fuhr nach Hause, aber es hat ihm dort seltsamerweise nicht gefallen. Er ist doch Spanier, stammt aus Venezuela. Jetzt hat er beschlossen, bei uns zu bleiben.“ Wassili trat vor den Marsspiegel, berührte ihn. „Und. das hier ist ein Erinnerungsstück an Grischa Rogoshin, der in der Roten Kuppel den Tod gefunden hat.“ „Wie?“ Jegorow sprang auf. „Grigori ist umgekommen?“ „Ja, und zwar auf die geheimnisvollste Weise. Er hat in einem der ,Zimmer' gearbeitet, von denen es dort, in der Roten Kuppel, eine Unmenge gibt, und eine Etage höher waren unsere Sprengfachleute am Werk. Sie führten eine winzige Sprengung durch, aber trotzdem gab es eine Erschütterung. Wir hörten Grischa aufschreien, liefen zu ihm hin. Er lag mit blutigem Kopf am Boden, sein Schädel war zerschmettert. Das ,Zimmer' selbst, in dem Grischa gearbeitet hatte, wies keinerlei Zerstörungen auf. Lediglich Staub und einige daumenkuppengroße Stückchen Putz waren von der Decke gefallen. Was aber einen so wuchtigen Schlag versetzt haben konnte, fanden wir nicht heraus ... Und welch ein. unglückseliges Zusammentreffen! Gerade an diesem Tag hatte Grischa etwas Großartiges gefunden – nämlich den Leichnam eines Marsbewohners. Das war eine sensationelle Entdeckung! Fünf Jahre arbeiteten wir schon auf dem Mars und hatten außer den leeren Panzern nichts aufgespürt. Über das wahre Aussehen der Marsbewohner konnten wir nur Vermutungen anstellen. Deshalb ließen wir Grischa hochleben, als er uns seinen Fund brachte. Sorgsam legten wir den trockenen, eingeschrumpften Leichnam in einen Container und schickten ihn nach oben. Und vier Stunden später brachten wir Grischa hinaus – tot! Im Gedenken an ihn behielt ich den 15
Spiegel für mich.“ ,.Was für einen Spiegel?“ fragte Jegorow. „Diesen hier.“ Wassili wies auf den Marsspiegel, der leicht, unter den Stößen des warmen Windes schaukelte. „Grigori hatte ihn zwei Schritte von dem Marsbewohner entfernt gefunden.“ Jegorow blickte aufmerksam und ein wenig traurig in das funkelnde Oval. „Das ist doch auch ein Rätsel“, sagte Wassili sinnend. „Wozu brauchten die Marsbewohner solche Unmassen dieser Spiegel, die völlig gleichartig sind und in jeder Stadt zu Hunderten existieren.“ Plötzlich veränderte sich Wassilis Gesicht. Wie fasziniert starrte er auf die ovale Fläche und flüsterte: „Er spiegelt nicht mehr!“ Rasch schaute Jegorow hin. Tatsächlich, das Oval spiegelte nichts wider! Die eben noch blanke Fläche war matt und graugolden wie der Rand. Die beiden Männer stürzten gleichzeitig zum Spiegel – und erblickten in ihm ihre erregten Gesichter. „Pfui, wie dumm wir uns benehmen!“ ärgerte sich Jegorow. „Anisotrope Spiegelung – nichts weiter. Du hast mich mit deinen Erzählungen in einen solchen Angstzustand versetzt, daß ich schon vor einem gewöhnlichen Marsgegenstand zurückschrecke.“ „Und du tust gut daran“, sagte Wassili nachdrücklich, „weil kein einziger der Marsspiegel, die mir bisher in die Hände gekommen sind, über eine solche Eigenschaft verfügte. Und dieser hatte sie bis heute auch nicht.“ „Na, sicherlich hat meine Ankunft so positiv auf ihn gewirkt.“ „Möglich.“ Wassili versuchte zu lächeln. „Aber wenn ich jetzt eine Schlußfolgerung ziehen darf: Trotz der auf dem Mars lauernden Gefahren ist es notwendig, das Akuanplateau zu erforschen.“ „Ach, wenn ich doch bloß mit in den Kosmos fliegen könnte!“ Jegorow schwenkte die Faust. „Laß den Kopf nicht hängen, Sascha.“ Wassili legte ihm die Hand auf die Schulter. „Es wird ein Antigravitator entwickelt, und dann wirst du trotz deiner kranken Leber fliegen können. “ Nachdem Wassili hinuntergegangen war, trat Jegorow noch einmal zu dem Spiegel. Er stellte sich vor, daß Tausende Marsbewohner in 16
ihn geblickt hatten, und erschauerte. Der Spiegel aber warf gleichgültig sein unschönes Gesicht zurück, die roten Dächer der Häuser und den leise summenden Elektrotraktor am Rande eines großen grünen Feldes. Jegorow schien es, als liege auf der glänzenden Schicht ein kaum wahrnehmbarer weißer Hauch. Er berührte ihn – und erbebte vor Überraschung. Die Oberfläche des Spiegels gab nach! Jegorow nahm ein Zündholz und versuchte, das Weiße abzuschaben. Auf der Widerspiegelung des grünen Feldes entstand eine flache Furche. Verwundert blickte Jegorow das Ende des Zündholzes an. Allmählich wuchs die Furche auf dem Spiegel zu, und nach etwa fünf Minuten war sie verschwunden. „Interessant“, murmelte der Geologe und rückte sich einen Sessel heran. „Sascha! Sascha!“ hörte er da Netschiporenko laut rufen. Jegorow lehnte sich über die Balkonbrüstung und sah Wassili an der Gartentür stehen und mit einer Zeitung winken. „Spring runter!“ schrie er. Jegorow landete im Narzissenbeet. Wassilis sonnenbeschienenes Gesicht blickte ernst und finster. „Lies“, sagte er und deutete auf die zweite Spalte. „‚Wie uns mitgeteilt wurde’“, murmelte Jegorow, hastig den Artikel überfliegend, „‚hat man gestern in Boston die Leichen der Kosmonautenbrüder Alfred. William, Colder und James Disney aufgefunden ... Der Mörder wurde nicht entdeckt ... Ein rätselhafter Tod ohne jegliche Anzeichen einer physischen Einwirkung oder einer Vergiftung ... Die Wissenschaftler und Experten sind fassungslos ...’ Was bedeutet das?“ wandte er sich an Wassili. „Lies zu Ende.“ „,Der Tod der bekannten Marsforscher wird mit einer Erklärung in Zusammenhang gebracht, die sie einige Tage zuvor abgegeben hatten und der zufolge in der Großen Marshauptstadt ein Archiv gefunden worden sei nebst dem dazugehörigen Schlüssel, der es ermöglicht, die rätselhafte Tür ins Aja wiederherzustellen. Dieser Fund vergrößere die Macht der Menschen unermeßlich, hatte Colder Disney den Korrespondenten der ,Times’ mitgeteilt.’“ Jegorow und Netschiporenko sahen einander schweigend an. 17
„Das ist er, der Mars!“ rief der Kosmonaut aufgeregt. „Er streckt seine Finger bis zur Erde aus. Die Marsbewohner wollen verhindern, daß wir ihre Geheimnisse lüften.“ Jegorow schwieg, ihn erregte die Mitteilung nicht minder. Beiläufig fiel ihm ein, daß Angelo gerade erst aus Amerika gekommen war und über den Tod der Disneys informiert sein müßte. Warum hatte er ihnen nichts gesagt? „Vielleicht wird eines schönen Tages auch Wassili Netschiporenko ohne Spuren irgendeiner physischen, chemischen oder psychischen Einwirkung tot aufgefunden.“ Mit finsterem Blick starrte der Kosmonaut auf das Narzissenbeet. Jegorow riß eine von den Blumen ab, die er bei seinem Sprung geknickt hatte. „Und was sagt dein Angelo dazu?“ „Er weiß es noch nicht. Ich will ihn gleich rufen.“ Wassili ging ins Haus und kam einen Augenblick später mit Tend in den Garten zurück. In Angelos schönem Gesicht spiegelte sich nichts wider. Weder Erregung noch Anteilnahme oder Mitgefühl. Er überlegt, wie er sich verhalten soll! schoß es Jegorow durch den Kopf. „Was für eine traurige Nachricht. Ich habe die Disneys sehr geschätzt“, sagte Tend schließlich, doch sein Gesicht blieb unbewegt. Sie setzten sich auf die Gartenbank neben der Pforte. „Auffällig ist, daß gerade die Forscher umkommen, die in der Roten Kuppel gearbeitet haben. Rogoshin, die Disneys ... Wer ist der nächste?“ „Ich“, erwiderte Angelo unerwartet und lächelte. Jegorow sah Tend zum erstenmal lächeln: Die Augen blieben totenstarr, der Mund zog sich mechanisch in die Breite. „Warum denkst du so?“ fragte Wassili. „Wenn man deiner Theorie folgen soll, daß die Marsbewohner uns nicht in ihre Geheimnisse eindringen lassen, so ist die Reihe an mir. Die Disneys haben das Archiv entdeckt – und sind umgekommen, Grischa hat den Toten gefunden – und ist umgekommen. Und ich ... Bevor ich das Gedächtnis verlor, habe ich ebenfalls das Zimmer gesehen, in dem Rogoshin war. Dort lagen der tote Marsianer, der Spiegel, und an den Wänden waren viele kleine Kreuze.“ „Was für Kreuze?“ 18
„Woher soll ich das wissen? Die Lampe ging mir kaputt. Ich nahm die beiden Pole der Batterie und erzeugte über die Graphitelektroden einen kleinen Lichtbogen. Da sah ich auf dem Fußboden diese Marsmumie und den Spiegel und an Wand und Decke irgendwelche Funken, die Kreuzen glichen. Plötzlich flammte mein Bogen sehr grell auf; wahrscheinlich hatte ich die Elektroden zu stark genähert.“ Angelo sprach unwillig, mit schleppender Stimme. „Na und?“ fragte Jegorow ungeduldig. „Ich hörte einen lauten Ton, so als heule ein startendes Flugzeug. Der Bogen erlosch, und der Ton verstummte. Ich tastete mich aus dem Zimmer heraus und verlief mich in den Gängen. Nach meiner Schätzung bin ich etwa zwei Stunden umhergeirrt, aber als ich deinen Leuten begegnete, Wassja, erzählten sie mir, daß Colders Gruppe ihre Arbeit schon vor einem Monat abgeschlossen habe und auf die Erde zurückgeflogen sei.“ „Und Ihre Angaben? Waren Sie später noch einmal in diesem Zimmer?“ fragte Jegorow. „Gewiß, aber da habe ich keinerlei Kreuze mehr bemerkt.“ „Na gut. Freunde“, sagte Wassili und stand auf, „ich muß fort. Es lohnt wohl nicht, sich auf der Erde zu sehr mit dem Mars zu beschäftigen. Auf mich wartet jemand . . .“ Angelo blieb im Garten. Oxana kam, setzte sich zu ihm auf die Bank, und sie unterhielten sich. Jegorow kehrte auf den Balkon zurück. Den Spiegel zu sich geneigt, beobachtete er die beiden von seiner Couch aus. Ihm schien. Angelo sei zu nahe an das Mädchen herangerückt. Ärgerlich warf er die Narzisse in den Spiegel. Aus dem Garten ertönte ein Schrei. Verwundert ließ der Geologe den Spiegel aus der Hand und blickte hinunter. Angelo und Oxana waren von der Bank geflogen und rücklings in die Blumen gefallen. Jegorow sprang vom Balkon und half den beiden auf die Beine. „Was ist passiert?“ fragte er. Oxana war verlegen. Auf ihrer Wange leuchtete eine rote Schramme. In der Luft stand ein ekelerregender Geruch. „Etwas hat uns gestoßen“, antwortete Angelo nach kurzem überlegen. „Es war, als sei eine Wolke herabgefallen. Eine Duftwolke.“ 19
„Nein, keine Wolke, sondern etwas wie ... wie Putz von einer Zimmerdecke und dieser seltsame Fäulnisgeruch“, fügte Oxana hinzu. Jegorow blickte sich nach allen Seiten um. Er entdeckte nichts Auffallendes außer dem verunstalteten Blumenbeet. Der Geruch wurde schwächer. Anfangs scharf, widerwärtig bis zum Erbrechen, klang er allmählich ab. Die Konzentration verringert sich, überlegte Jegorow, sogar die angenehmsten Gerüche können in starker Konzentration abscheulich wirken. Das feine, kaum wahrnehmbare Aroma einatmend, bemühte er sich, dessen Ursprung herauszubekommen. Plötzlich begriff er – die Narzissen! Er blickte zum Balkon. Eine unklare Vermutung kam ihm. Jegorow bemerkte, daß auch Angelo dort hinschaute. Ihn verblüffte der Gesichtsausdruck des jungen Kosmonauten: So sieht man auf einen Gegenstand lange verborgener Begierde. „Der Spiegel ist nicht bei Ihnen?“ fragte Tend abrupt Oxana. „Der Spiegel? Was für ein Spiegel? Ach, der vom Mars! Ich hab ihn Sascha und Wassja gegeben“, erwiderte das Mädchen ruhig und ein wenig verwundert. Sie nahm ebenfalls Tends Erregung wahr. Hier stimmt etwas nicht! überlegte Jegorow. Laute Stimmen vor der Gartentür lenkten ihn ab. In den Hof traten Olga Pantelejewna und ein alter Mann mit einem Kosakenschnurrbart. Wassilis Mutter trug Gummistiefel und eine Lederjacke und redete zornig auf den Alten ein: „Und ich sage dir, er war betrunken, hörst du, betrunken!“ Der Schnurrbärtige schwenkte ein dickes Holzscheit von etwa einem Meter Länge. „Da ist doch das Beweisstück, Olga Pantelejewna!“ rief er. Oxana und Jegorow eilten auf die beiden Streitenden zu und erfuhren von einem merkwürdigen Vorfall. Olga Pantelejewna und der alte Bauer hatten bei der Feldbegehung im Winterweizen eine breite Furche entdeckt. Die gebrochenen Halme und der aufgerissene Acker führten zu dem Traktoristen Kozjubenko, der neben seinem Arbeitsgerät saß und staunend die Verheerung betrachtete. Auf die Fragen Oiga Pantelejewnas und des Alten redete er Unsinn. Er behauptete, ein riesiger Knüppel sei vom Himmel gefallen und habe die Furche gezogen. Anfangs freilich sei es ein immenser Graben gewesen von 20
etwa drei Meter Tiefe. Doch dann sei er zugewachsen, und die Weizenhalme hätten sich wieder aufgerichtet. So erzählte Kozjubenko; Wassilis Mutter und ihr Begleiter sahen jedoch nur eine Furche, die einer Traktorspur glich, und der Alte hob ein Holzscheit auf, das angeblich von dem Knüppel stammte. Der Traktorist aber war tatsächlich betrunken – Olga Pantelejewna hatte also allen Grund, böse zu sein. Plötzlich bemerkte Jegorow, daß Angelo nicht mehr bei ihnen war. Sofort lief er nach oben in Wassilis Zimmer. Tend stand auf dem Balkon, mit dem Rücken zur Tür. Er hatte einen dünnen schwarzen Stab an den graugoldenen Rahmen des Spiegels gelegt und hielt sich das andere Ende ans Ohr, als höre er einen Kranken ab. Ein tiefes Summen ertönte. „Angelo!“ rief Jegorow. Tend wich wie von der Tarantel gestochen zurück. Er sah Jegorow in die Augen. Es war ein schrecklicher, schonungsloser Blick. Als Oxana in Wassilis Zimmer trat, hörte sie jemand auf dem Balkon stöhnen. Sie lief hinaus und sah Jegorow neben den Blumenkästen auf dem Fußboden liegen. Mit Mühe zog sie ihn auf die Couch. Wenig später öffnete der Geologe die Augen. „Ist er weg?“ „Wer?“ Jegorow schwieg. Geistesabwesend schaute er auf das Mädchen. „Was ist mit Ihnen?“ fragte Oxana beunruhigt. „Soll ich einen Arzt holen?“ „Einen Arzt? Nein, nicht nötig, ich bin völlig gesund. Das macht die Sonne. Ich war lange nicht soviel in der Sonne.“ Jegorow sah auf seine Hände. „Oxana“, fuhr er fort, „Sie haben vielleicht außer Wassja am meisten mit Angelo gesprochen. Was halten Sie von ihm?“ Das Mädchen errötete. „Ich weiß nicht, er ist schön ...“ „Nur das?“ „Meines Erachtens ist er ein kalter und unverständlicher Mensch.“ Jegorow lächelte plötzlich und setzte sich auf. „Sie empfinden richtig, Oxana. Ja, ich muß sofort Wassili sprechen. Wo ist er?“ „Er fliegt Walja in seinem Luftauto spazieren. Wenn Sie heute morgen auf die Idee gekommen wären anzurufen, hätten Sie sich nicht in dem ,Wolga’ durch den Schmutz zu schleppen brauchen.“ 21
„Woher sollte ich wissen, daß Wassili ein eigenes Luftauto besitzt? Hat er darin Telefon?“ „Das schon. Aber lohnt es, ihn zu stören? Übrigens, da hinten sind sie!“ Oxana wies zum Horizont. „Wo?“ Jegorow bemühte sich, den glänzenden Punkt über dem Feld zu erkennen. „Ihre Augen vertragen die Sonne nicht“, bemerkte Oxana und drehte Jegorow an den Schultern herum. „Da, schauen Sie in den Spiegel. Erkennen Sie den hellen Fleck?“ „Wo?“ „Na hier!“ Oxana zeigte mit dem Finger auf den Spiegel. „Vorsichtig!“ Jegorow riß den Arm des Mädchens zurück. Aber es war zu spät. Die sonnengebräunte Fingerkuppe hatte den Spiegel an der Stelle berührt, an der das Luftauto zu sehen war. „Au!“ Das Mädchen erbleichte und schüttelte die Hand. Die Fingerspitze war zerschunden und blutete. „Schnell ein Fahrzeug, schnell“, drängte Jegorow. „Den beiden ist ein Unglück zugestoßen.“ Er lief zur Brüstung und sprang vom Balkon. Heute haben’s die Narzissen aber abbekommen, dachte er nebenher, schon das dritte Mal. „Oxana!“ Er wandte sich um. „Hängen Sie ein Tuch über den Spiegel und geben Sie acht, daß niemand ihn berührt!“ Den Finger in den Mund gesteckt, folgte das Mädchen verwundert den eiligen Bewegungen Jegorows, der sich auf Wassilis Motorrad schwang. Die Erregung des Geologen übertrug sich auch auf sie. Sie schaute zum Horizont – das Luftauto war nicht mehr da. Als Jegorow, über die getrockneten Erdklumpen ratternd, zum Ort der Katastrophe kam, stand dort bereits ein Wagen. Der Agronom, der den Absturz ebenfalls bemerkt hatte, war gerade ausgestiegen. Zusammen mit ihm schritt Jegorow über den Sturzacker zu dem Luftauto. Die Maschine lag auf der frischgepflügten Erde. Über Kühler und Oberteil der durchsichtigen Karosserie zogen sich Streifen eines schmutziggelben Gewebes, auf dem in weinroten Flecken Blut geronnen war. Die Seiten und die Fenster des Gefährts waren mit roten Spritzern übersät. 22
Nachdem Jegorow den ersten Schreck überwunden hatte, stürzte er zu der Tür des Luftautos und riß sie auf. Wassili, der am Steuer gesessen hatte, rollte vor seine Füße. Zusammen mit dem Agronomen bettete Jegorow den Kosmonauten auf die Erdschollen. Dann trugen sie auch das hochgewachsene blasse Mädchen heraus. Der Agronom knöpfte Wassilis Hemd auf und legte das Ohr an die Brust des Verunglückten. Du hattest recht, Wassja, dachte Jegorow und blickte in das blau angelaufene Gesicht des Freundes. Der Mars hat lange Arme... „Das Herz schlägt!“ rief der Agronom erleichtert. Er kniete sich an Wassilis Kopf nieder und bewegte seine Arme, um die Atmung anzuregen. Jegorow kümmerte sich indessen um das Mädchen. Wo kommt nur das viele Blut auf der Karosserie her? dachte er dabei. Sie sind doch unverletzt. Ihm fiel Oxanas blutender Finger ein. Ärgerlich schüttelte er den Kopf, als verjage er einen unsinnigen Gedanken. Das bewußtlose Mädchen atmete kaum hörbar. „Schauen Sie!'“ sagte plötzlich der Agronom. Jegorow blickte zum Luftauto. Kein Blutspritzer war mehr zu sehen, und auf der Motorhaube lag lediglich ein zusammengeschrumpfter Fetzen des hellen Gewebes, das soeben noch den ganzen Wagen bedeckt hatte. „Verflucht!“ Jegorow sprang auf und steckte den Fetzen in die Tasche. Er war feucht und kalt. Da öffnete Wassili die Augen und stöhnte auf. „Walja!“ rief er leise. Die Bemühungen um den Kosmonauten und seine Braut, das Holen des Arztes, die langen Gespräche mit den Angehörigen nahmen die ganze zweite Tageshälfte in Anspruch. Wassili wurde – trotz seiner heftigen Proteste – in Oxanas Zimmer zu Bett gebracht und bekam Tee eingeflößt. Er rief alle Himmelsgestirne als Zeugen an, daß er gesund sei, unverletzt und durchaus nicht ruhebedürftig. Doch Oxana und die Mutter waren unerbittlich. „So versteht doch, es ist nichts Schreckliches passiert! Wir flogen in zwei bis drei Meter Höhe über dem Feld. Etwas stieß uns an, und wir verloren das Bewußtsein. Das ist alles. Wozu also die Bettruhe? Ich will aufstehen!“ 23
„Nur über meine Leiche“, sagte die Mutter und drückte die Schulter des Sohnes nieder. „Du bleibst liegen.“ Oxana und Jegorow sahen einander an und lachten. Am späten Abend begab sich der Geologe auf den Balkon. Er holte den Fetzen aus der Tasche, den er vom Kühler des Luftautos genommen hatte, glättete ihn und betrachtete ihn bei Licht. Das winzig gewordene Gebilde war dünn und durchscheinend. „Menschenhaut!“ sagte er leise. „Haut von Oxanas Finger.“ Wassili schlief bereits, als ihn jemand am Arm zog. Im Mondlicht sah er die Umrisse des Freundes. Jegorow hatte den Finger an die Lippen gelegt. „Pst“, sagte er. „Kannst du gehen?“ „Ja. Ist was passiert?“ Wassili sprang auf. „Mit Walja?“ „Nein, Walja geht's gut. Aber komm mit.“ Jegorow ging leise voran. Im Haus war es still. Sie stiegen zu Wassilis Zimmer hoch. Dort saß ein unbekannter Mann. „Hauptmann Samoilenko“, stellte er sich vor, und Wassili drückte die dargebotene Hand. „Dieser Genosse ist gekommen, um Tend festzunehmen“, erklärte Jegorow. „Angelo hat die Disneys getötet. Er hat ihre Forschungsergebnisse geraubt und ist geflohen.“ „Unmöglich!“ Wassili beugte sich auf dem Stuhl vor. „Begreifst du, was du da redest?“ „Ja. Die Zeit drängt. Der Genosse ist hier im Haus glücklicherweise auf mich gestoßen. Tend ist ein gefährlicher Verbrecher.“ „Die Amerikaner haben sich an uns mit der Bitte gewandt, den Mörder festzunehmen“, sagte Samoilenko. „Aber warum hat er das getan?“ schrie Wassili. „Die Macht über Menschen, Gold ... Der Teufel mag wissen, weshalb“, erwiderte Jegorow. „Ich muß sein Zimmer durchsuchen. Wollen Sie Zeuge sein?“ Wassili, der noch immer nichts begriff, nickte. „Wo ist Tend?“ „Er ist mit Oxana ins Kino gegangen.“ Wortlos ließ Wassili den Kopf hängen und biß sich auf die Lippe. „Geht ihr beide, ich bleibe hier“, sagte er. Etwa zehn Minuten später schleppten Jegorow und Samoilenko 24
einen großen gelben Koffer herein. „Hier sind sämtliche Aufzeichnungen Colders“, sagte Jegorow. Sein Gesicht war vor Spannung gerötet. „Das muß alles konfisziert werden“, ergänzte Samoilenko streng. Er nahm eine Schreibmappe aus der Tasche und machte sich mit besorgtem Gesicht Notizen. Dann hatte er plötzlich eine Mikrokamera in den Händen. Wassili betrachtete das ganze Geschehen wie im Traum. „Wozu mußte er das tun. wozu?“ murmelte er. „Was heißt wozu?“ Erregt hielt Jegorow dem Kosmonauten einen Packen Fotografien unter die Nase. „Hier sind die Kreuze, nach denen Colder die Inschrift des letzten Marsbewohners entziffert hat. Siehst du diese endlosen geometrischen Muster? Mit ihrer Hilfe haben die Disneys festgestellt, wo sich die letzte offene Tür ins Aja befindet. Begreifst du nun?“ „Na gut, nehmen wir an, auf dem Mars existiert solch eine Tür und ist in Tätigkeit“, erwiderte Wassili und beobachtete, wie Samoilenko die schweren roten Kristalle aus dem Koffer nahm und sie geschäftig fotografierte. Wassili kannte sie gut: Er hatte sie zu Tausenden aus der Decke und den Wänden der Roten Kuppel herausgebrochen. „Nein! Du kombinierst nicht richtig!“ rief Jegorow. „Diese Tür kann die Grenze des Antiraums sein, sie kann völlig außergewöhnliche Eigenschaften haben ...“ „Schön“, unterbrach ihn Netschiporenko, „möglicherweise ist es so. Colder Disney jedoch hat diese Tür nicht gefunden, er wußte nur von ihr. Die Tür ist auf dem Mars geblieben, sie muß noch entdeckt werden. Wozu mußte Angelo morden ...“ „Ach, ich Dummkopf!“ stieß Jegorow hervor. „Du weißt ja die Hauptsache nicht.“ Er sprang vom Sessel auf. „Komm mit. Genosse Samoilenko kann indessen fotografieren, er hat noch genug zu tun.“ Unwillig trat Wassili auf den Balkon. Jegorow führte ihn zu dem Marsspiegel und zog das Tuch weg, das Oxana darüber gedeckt hatte. Der graugoldene Rahmen schimmerte im kalten Mondlicht. „Faß ihn an“, flüsterte Jegorow. Wassili berührte den Rahmen und zog erschrocken die Hand zurück. „Heiß, was?“ Jegorow lachte. Er schien zufrieden mit allem, was 25
geschehen war. „Nicht heiß, aber . . .“ „Es brennt, ja?“ Jegorow sprach hastig, es drängte ihn, dem Freund das Geheimnis endlich mitzuteilen. „Aber das ist nicht die Hauptsache. Schau in den Spiegel. Was siehst du da?“ „Na was schon? Die Nacht, den Mond, die Häuser“, zählte Wassili unsicher auf. „Richtig. Und das hier? Das dunkle, längliche? Was ist das?“ Netschiporenko schaute genauer in den Spiegel. „Ein Heuschober.“ „Ein Heuschober? Sehr gut, sehr, sehr gut.“ Jegorow ging ins Zimmer und kehrte mit einem Glas Wasser zurück. Er stellte es auf die Couch und langte sein Feuerzeug aus der Tasche. Ein Flammenzünglein erhellte die Finsternis. Jegorow näherte das Feuerzeug dem Spiegel an der Stelle, wo sich schwach der Heuschober abhob, dann nahm er das Feuer zurück. Wassili schrie auf. Der sich spiegelnde Heuschober brannte. Jegorow drehte den Kosmonauten mit dem Gesicht zum Dorf um. Weit draußen stiegen Flammen zum Himmel auf, ballten sich, mit dem Dunkel der Nacht verschmelzend, Qualmwolken. „Was hast du getan?“ „Ruhig“, sagte Jegorow. Er nahm aus dem Glas einen Schluck Wasser und spie es in feinem Strahl auf den Spiegel. Die Flammen loderten noch ein-, zweimal auf und verloschen. Im Mondlicht krochen Rauchschwaden in die Höhe. „Mehr nicht, es könnte eine Überschwemmung geben“, sagte Jegorow gelassen. „Das ist sie?“ Wassili wies auf den Spiegel. „Ja, mein Lieber, sie ist es. Die einzige unverschlossene Tür ins Aja. Auf dem Mars funktionierte sie nicht, doch in Musykowka, siehst du, hat sie sich aufgetan. Der Marsbewohner, den Rogoshin fand, war nicht mehr dazu gekommen, sie zu schließen. So stand sie fünf Millionen Jahre einen Spalt geöffnet. Angelo wollte sie für seine dunklen Ziele mißbrauchen. Verstehst du jetzt, warum er nach den Disneys dich aufgesucht hat? Hast du gesehen, wie es brannte? Und weißt du, daß dein Luftauto mit seinen tausend PS durch die Berührung von Oxanas kleinem Finger auf die Erde geschleudert wurde? Unbeabsichtigt, natürlich. Verstehst du jetzt, was für eine 26
Energie, was für eine Macht dahintersteckt?“ Wassili verstand. „Das ist eine Entdeckung!“ flüsterte er und schlug Jegorow auf die Schulter. „Da hätten wir den Marsteufel doch noch am Schwanz gepackt!“ Sie kehrten in Wassilis Zimmer zurück. „Haben Sie noch viel, zu tun, Genosse Samoilenko?“ fragte Jegorow. „Ich bin sofort fertig.“ Wassili setzte sich finster in den Sessel. „Was ist mit dir?“ schrie ihn Jegorow an. „Freuen mußt du' dich! Diese Entdeckung!“ „Ich weiß nicht. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß ein Kosmonaut solch einer Tat fähig ist.“ „Fertig!“ rief Samoilenko erleichtert und nahm in einem der Sessel Platz, den Apparat auf Jegorow und Netschiporenko gerichtet. „Das letzte Beweisstück. Für mich, zur Erinnerung.“ „Nicht nötig!“ Sie winkten ab. „Wozu das!“ In diesem Atigenblick öffnete sich die Tür, und ins Zimmer trat Angelo Tend. Er blickte auf die Sitzenden, auf den geöffneten Koffer, die Kristalle, die Fotografien, die Aufzeichnungen – und hatte alles begriffen. Wassili maß ihn mit einem langen Blick, der voll Kümmernis war. Der Hauptmann holte mit finsterer Miene ein rotes Büchlein aus der Tasche und legte es aufs Knie. Aber aus irgendeinem Grunde erhob er sich nicht. Tend würdigte niemanden eines Blicks. Er ging auf den Balkon, kehrte mit dem Marsspiegel zurück und stellte ihn, leicht geneigt, in die Ecke. Dann holte er den schwarzen Stab heraus, zog ihn an dem Spiegelrahmen entlang. Es ertönte ein Geräusch, als flöge weit entfernt eine Düsenmaschine. Tend nahm den Packen Fotografien vom Tisch und schleuderte ihn in den Spiegel. Ihnen folgten die Kristalle aus der Roten Kuppel, die Aufzeichnungen, die Rollen mit den Magnettonbändern, das Tagebuch der Brüder Disney und schließlich der gelbe Koffer. Alles verschwand lautlos. Warum erheben wir uns denn nicht? dachte Jegorow erschrocken. Tend trat vor den Spiegel und sah sich um. Jegorow fühlte, daß ihn das Bewußtsein verließ. Eine schreckliche Schwere lähmte seine Glieder. 27
Am längsten kämpfte Samoilenko. Im letzten Moment, als Tend sich in der Luft aufzulösen begann, versuchte der Hauptmann aufzuspringen. Doch Angelo blickte sich abermals um, und Samoilenko fiel in den Sessel zurück. Sein Fotoapparat klickte leise. „Die Disneys sind nicht tot. Ich habe sie ...“ Angelos Stimme verlor sich in. den obersten Tönen und brach ab. Hauptmann Samoilenko war mit Recht stolz. Er hatte als erster einen lebenden Marsbewohner fotografiert. Drei Augen, in den Winkeln eines gleichseitigen Dreiecks angeordnet, schauten mit flammendem, unirdischem Blick. Sie waren tief und unendlich weise. Jegorow nahm den Spiegel in die Hand. Das funkelnde graue Oval gab leidenschaftslos die Wirklichkeit wider. Die letzte Tür ins Aja war zugeschlagen. Aber würde sie lange geschlossen bleiben? Gekürzte Fassung Aus dem Russischen übersetzt von Anneliese Globig
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W. BUGROW
Doktor Clarkes Assistent
Ich erinnere mich nicht, wann dieser Mann zum erstenmal am Eingang des „Clarissa“ auftauchte. Jedenfalls bemerkte ich ihn seit einiger Zeit regelmäßig, wenn ich nach der Abendvorstellung den Blauen Saal verließ. Er eilte stets als einer der ersten aus dem Kino, trat etwas zur Seite, um nicht von der Menge mitgerissen zu werden, die sich lärmend hinter ihm her wälzte, und blieb in Nachdenken versunken stehen. Wie abwesend blickte er über die Köpfe der Menschen hinweg, und es schien, als lausche er auf irgend etwas, was für die anderen wegen des Straßenlärms nicht vernehmbar war. Seine langaufgeschossene, leicht gebeugte Gestalt wirkte in dem unruhigen Menschengewimmel merkwürdig einsam. Wahrscheinlich ist das auch so ein armer Teufel wie ich, der keine andere Zerstreuung als das „Clarissa“ hat, dachte ich. Nur hat er sicherlich mehr im Leben durchgemacht – woher ist sonst sein Gesicht so abgehärmt und müde und von tiefen Furchen durchzogen? Nach einiger Zeit fiel er mir schon nicht mehr auf, und ich hätte ihn wahrscheinlich völlig vergessen, wäre nicht jenes mysteriöse Ereignis im „Clarissa“ eingetreten, über das so ausgiebig in den Zeitungen berichtet wurde. An jenem Abend saß ich in einer der letzten Reihen des Blauen Saales. Auf der Leinwand rollte die bunte Chronik der Erfolge und Mißerfolge des unerschrockenen Filmhelden Tommy ab – eines kraftstrotzenden Burschen mit verblüffend sympathischem Gesicht. Er brachte ohne ein Anzeichen von Mitleid ein abscheuliches altes Männlein um die Ecke und erfuhr erst anschließend, daß er seinen leiblichen Onkel ins Jenseits befördert hatte, er zechte in einem respektablen Restaurant, vollbrachte waghalsige Raubüberfälle und entkam meisterhaft seinen Verfolgern. Der Zuschauersaal zitterte, wenn über Tommy eine Gefahr schwebte, und atmete erleichtert auf, wenn Tommy erneut auf tollkühne Weise seinen Verfolgern 29
entwischte ... Da schleuderte der Held den nächsten Gegner, der ihm gerade in die Quere kam, mit einem wuchtigen Kinnhaken vom Balkon der siebenten Etage. Und in diesem Augenblick geschah das Unglaubliche: Ich fühlte ganz deutlich, wie Tommys eiserne Faust auf meiner Kinnspitze landete! Es gelang mir noch zu konstatieren, daß dies seine prachtvolle „Linke“ gewesen war. Der Schmerz durchzuckte mein Kinn, schleuderte mich gegen die Rückenlehne des Sessels, und dann wurde mir schwarz vor Augen. Zu dem Gefühl des schneidenden Schmerzes in der unteren Kinnpartie gesellte sich die nicht minder heftige Empfindung des rasenden Falles. Das Fallen währte nicht lange und endete damit, daß ich mit furchtbarer Wucht in den weichen Sitz gepreßt wurde. Ich spürte, daß ich die Sinne verlor. Als ich wieder zu mir kam, ließen die Rückenschmerzen gerade allmählich nach. Dafür begann das vordem taub gewesene Zahnfleisch weh zu tun. Ich blickte mich um und erkannte im Halbdunkel, wie sich mein Nachbar zur Rechten, die Hände in die Sessellehnen gekrallt, schmerzvoll zusammenduckte. Die dürre, schwarzgekleidete alte Dame, die vor mir saß, schneuzte sich gefühlvoll. Mein Nachbar zjar Linken, ein – ähnlich wie der Flimmerkistenheld -r- muskelbepackter Bursche mit einer verbeulten Nase, rutschte unruhig auf seinem Platz hin. und her und murmelte entrüstet. Aus allen Ecken des Saales drangen unterdrücktes Stöhnen, gedämpftes Schluchzen, empörte Ausrufe . . . Den vernichtenden Schlag auf die Kinnspitze, den schwindelnden Fall von der Höhe der siebenten Etage – das alles hatte nicht ich allein empfunden, sondern der ganze Zuschauersaal. Also war das Geschehene kein Zufall! Die Vorstellung wurde abgebrochen. Die Leinwand verblaßte, wurde dunkel, und grelles Licht blendete die Augen. Die Platzanweiserinnen öffneten hastig die Türen. Das verdutzte, völlig außer Fassung geratene Publikum stürzte den Ausgängen zu. Ich verließ das Kino. Rechts vom Ausgang stand schon der Unbekannte, der die aufgeregt summende Menge an sich vorbeiließ. Irgend etwas an ihm fiel mir auf. Erst nachdem ich ihn aufmerksam gemustert hatte, begriff ich, was es war. Er lächelte! Dieser finstere, müde Mann lächelte, die dünnen bleichen Lippen hatten sich kaum 30
merklich gedehnt. Mir schien plötzlich, er wisse mehr über das Vorgefallene als die anderen. „Was war das?“ entfuhr es mir unwillkürlich, als ich, von dem Menschenstrom getragen, an ihm vorüberglitt. Er antwortete nicht. Er lächelte nur. Die tiefen Furchen waren aus seinem Gesicht verschwunden, und es schien mir jetzt sogar, als sei es noch ganz jung. Ich will nicht die schreienden Schlagzeilen zitieren, die am darauffolgenden Tag die Spalten der Morgenzeitungen schmückten. Sie werden sich vielleicht selbst noch daran erinnern ... Die „Geistestrübung“ im „Clarissa“ rief in der Presse die widersprüchlichsten Erklärungen hervor. Der Kommentator der soliden „Morgenpost“ berief sich auf die Aussagen von Augenzeugen und behauptete, das Geschehene sei das Resultat einer Art Bewußtlosigkeit der Zuschauer gewesen, die durch das Versagen der Belüftungsanlage eingetreten sei. Das Boulevardblatt „Morgenstunde“ ließ seine Leser wissen, daß an allem die „Roten“ schuld seien: Sie hätten Ampullen mit einem starken Narkotikum in den Zuschauerraum geworfen, um das Nervensystem der Bürger des großen „Landes der wahren Demokratie“ zu zerrütten. Und die „Stimme des Allmächtigen“, das Organ einer der vielen religiösen Gemeinschaften, betrachtete die übernatürliche Erscheinung im „Clarissa“ als Zeichen der bevorstehenden Wiederkehr Christi, der die Menschen läutern und auf das Jüngste Gericht vorbereiten wolle. Dichte Menschentrauben hingen an jenem Tage vor den Kassen des „Clarissa“. Hier drängten sich – aufgeregt die Köpfe zusammensteckend – alle diejenigen, denen Alter oder Nerven nicht gestatteten, einen echten Schlag zwischen die Zähne zu bekommen oder von der siebenten' Etage abzustürzen. Ihnen blieb nichts als grenzenloser Neid – Neid vor den geschlossenen Kassen. Verbotene Früchte sind bekanntlich die süßesten . . . Vergeblich war übrigens auch das Warten jener Glückspilze, die einen der begehrten grünen Papierstreifen erstanden hatten. In keiner der folgenden Vorstellungen geschah mehr etwas Ungewöhnliches. „Wahrscheinlich ist die Belüftungsanlage wieder in Ordnung“, 31
äußerten die Leser der „Morgenpost“ mit Bedauern. „Die ,Roten' sind nach ihrem Anschlag verduftet“, urteilten die Anhänger der „Morgenstunde“ und schielten vielsagend nach den Polizisten, von denen hier heute mehr als gewöhnlich herumliefen. Was jene betrifft, die eine Wiederkehr Christi erwarteten, so sahen sie sich in ihrem Glauben bestätigt: Selbstverständlich würde Christus die Verirrten von seinem Erscheinen nicht noch ein zweites Mal benachrichtigen. Der Unbekannte kam an diesem Tag nicht ins „Clarissa“. Er kam auch nicht am nächsten und nicht an dem folgenden. Es war, als hätte er die Existenz des Kinos vergessen. Die Zeit verrann. Eines schönen Tages – ich hatte einer Dame beim Tragen geholfen und mir so einen kleinen Verdienst verschafft – schlenderte ich zufrieden nach Haus. Ich war vortrefflich gelaunt, und ich freute mich, als ich in einer an sich unwirtlichen Gegend eine kleine Grünanlage entdeckte. Ein wundervolles Plätzchen für eine wohlverdiente Rast, dachte ich gerade – und da sah ich plötzlich ihn. Erregung ergriff mich beim Anblick der langen, schmalschultrigen Gestalt. Er kam mir entgegen, dieser Unbekannte, der vermutlich die „Geistestrübung“ im „Clarissa“ verschuldet hatte. Sein Blick glitt teilnahmslos über die Gesichter der Vorübereilenden, ohne auch nur auf einem einzigen zu verweilen ... Sollte sich hinter dem glanzlosen Blick dieses so verschlafen wirkenden Menschen die Lösung des wunderbaren Geheimnisses verbergen? So lange ich auch über diese Erscheinung nachgedacht hatte – bis jetzt war ich ihrer Erklärung um keinen Deut nähergekommen. „Und Sie werden ihr auch nicht näherkommen, so lange ich es nicht wünsche!“ Was war das? Der Unbekannte hielt die schmalen Lippen fest zusammengepreßt und blickte mich nicht einmal an. Aber das waren doch seine Worte! Er hatte sie doch ausgesprochen?! ... Oder war es nur eine Sinnestäuschung? Der seltsame Mann ging an mir vorüber, das dumpfe Knarren seiner 32
Schuhe entfernte sich. Und wenn es nun doch keine Sinnestäuschung war? Ich verlangsamte meine Schritte, schließlich blieb ich stehen. „Sie haben sich nicht geirrt, das waren tatsächlich meine Worte“, erklang in meinem Kopf deutlich die Antwort auf meine unhörbar geäußerte Frage. Völlig verdutzt, vermochte ich für einen Augenblick überhaupt nichts zu denken. Ich sah dem Unbekannten fassungslos nach und setzte dann mechanisch meinen Weg fort – die kleine Grünanlage, in der ich mich ausruhen wollte, und alles andere um mich herum hatte ich völlig vergessen. Es vergingen etwa zwei Wochen. Ich kehrte vom Bahnhof zurück, wohin es mich auf der Jagd nach einer Gelegenheitsarbeit verschlagen hatte. Ich hatte kein Glück gehabt, meine Taschen waren leer. In dem Wagen der Hochbahn saßen nur wenige Passagiere, keiner von ihnen zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Verärgert wandte ich mich zum Fenster um und starrte auf einen grauen Fetzen des vorabendlichen Himmels. Und plötzlich . .. „Dick, ich muß mich unbedingt mit Ihnen treffen. Was halten Sie davon?“ klang es ebenso klar und deutlich in mir wie einen halben Monat zuvor. „Was ist das für ein Teufelskram?“ „Der Teufel hat damit nichts zu tun, mein Freund“, erschien ein neuer fremder Gedanke in mir. Mir war, als verzöge der unsichtbare Gesprächspartner sein Gesicht. „Haben Sie doch bitte die Güte, auf meine Frage zu antworten. . .“ „Hören Sie, wer sind Sie eigentlich?“ brüllte ich durch den ganzen Wagen und sah mit Schrecken, wie sich die verwunderten Gesichter der Fahrgäste mir zuwandten. „Ich verbitte mir Ihre merkwürdigen Spaße, verstehen Sie?! Ich habe die Nase voll!“ „Warum denn so laut? Ich kann Sie auch so gut hören, seien Sie bitte still.“ Ein andermal wäre ich wahrscheinlich froh gewesen, mit ihm sprechen zu können. Aber jetzt, müde und hungrig, wie ich war, machte mich die Beharrlichkeit, mit der dieser Mensch mich verfolgte, verrückt. Und er begriff das offensichtlich. „Ich fühle, Sie sind müde. Nun, schieben wir unser Ge33
spräch auf. Gehen Sie erst einmal nach Hause und ruhen Sie sich aus.“ Dies war der letzte der fremden Gedanken. Den geheimnisvollen Unbekannten gibt es nicht mehr! Dafür gibt es jetzt Dr. Clarke und mich, seinen Mitarbeiter. Denn an dem Tag nach dem Gespräch in der Hochbahn lud er mich zu sich ein. Ich nahm die Einladung an. Um halb fünf – diese Zeit hatten wir vereinbart – stieg ich zur dritten Etage eines riesigen grauen Gebäudes empor und läutete an einer Tür mit dem Namensschild „G. U. Clarke, Doktor der Biologie“. „Sind Sie es, Mr. Hurley?“ fragte er hinter der Tür. Seine Stimme war genau so, wie ich sie mir vorgestellt hatte – leise, gedämpft. Der Doktor öffnete, und als er sah, daß ich zögerte, nickte er mir aufmunternd zu. „Treten Sie nur ein, Dick, ich warte schon auf Sie.“ Ich erinnere mich an keine Einzelheit aus unserem Gespräch – so groß war die Erregung, die sich meiner bemächtigt hatte. Wir saßen in dem geräumigen Arbeitszimmer des Doktors. Gewaltige, bis zur Decke reichende Regale mit Büchern und Stößen von Zeitschriften entlang den Wänden. Ein Schreibtisch, darauf eine Schreibmaschine. Ich bemerkte weder Retorten in Haltern noch Käfige mit weißen Mäusen oder was sonst so die Utensilien eines Gelehrten ausmacht. Aber die Ahnung von etwas Ungewöhnlichem, Geheimnisvollem wich die ganze Zeit über, die ich bei dem Doktor weilte, nicht von mir ... Und nun war ich sein Mitarbeiter, sein Kollege sozusagen. Meine Pflichten zeichneten sich nicht durch besondere Schwierigkeiten aus. Weder hatte ich mit Reagenzröhrchen und Kolben zu hantieren noch die Resultate supermoderner Geräte abzulesen oder gar die Aufsicht über Meerschweinchen zu führen – mit einem Wort: durch nichts bereicherte ich jene Wissenschaft, die sich in gebührlicher Gelassenheit auf den Brettern der Stellagen im Arbeitszimmer des Doktors türmte. Mein äußeres Leben verlief ebenso wie vor meiner Bekanntschaft mit Dr. Clarke, das heißt, ich war nach wie vor auf der Suche nach einer festen Anstellung. Aber gleichzeitig mußte ich jetzt auf die Sekunde genau das Auftauchen der meinem Gehirn fremden, mir von dem Doktor übermittelten Gedanken und Gefühle registrieren. Ich hatte ihre Klarheit, ihre Inten34
sität, ihre Dauer und ihren Einfluß auf meine eigenen Gedanken und Gefühle zu bestimmen. Weshalb aber war gerade ich für diese relativ unkomplizierte Arbeit auserwählt worden? Eines Tages stellte ich dem Doktor diese Frage, und er erzählte mir, wie es gekommen war. Als Dr. Clarke das Präparat „XY“ gewonnen hatte – eine chemische Verbindung, mit deren Darstellung er die letzte Zeit über beschäftigt gewesen war, traf er auf eine Schwierigkeit. Es war notwendig, die Eigenschaften des von ihm entdeckten Stoffes zu erproben. Der Rektor der Universität, an der Dr. Clarke' seine Vorlesungen hielt, war Ehrenmitglied des Redaktionskollegiums der Zeitung „Stimme des Allmächtigen“. Also war nicht daran zu denken, die Forschungsarbeiten aus dem winzigen Labor, das sich der Doktor neben seinem Arbeitszimmer eingerichtet hatte, in die gut ausgerüsteten Säle der Universitätslaboratorien zu verlegen. Auch kannte er niemand, mit dem er über seine Zweifel hätte sprechen können. Es blieb nur eins: das Experiment auf die Straße zu verlegen und – wie Dr. Clarke sich ausdrückte – unter freiem Himmel durchzuführen. Auf diese Weise war denn auch vor einem Monat „XY-I“, die erste Variante des Präparates, getestet worden. Clarke hatte eine Tablette „XY“ eingenommen und sich bemüht, die Vorgänge auf der Leinwand so lebendig wie möglich nachzuempfinden. Und die Leute, die in dem Blauen Saal des „Clarissa“ saßen, hatten seine Empfindungen nicht nur wahrgenommen, sondern sie sogar selbst durchlebt. Dieser Erfolg hatte Dr. Clarke froh gestimmt, aber auch zugleich erschreckt. Wenn in die hochwohlanständige Welt seiner Universitätskollegen auch nur die unbedeutendsten Gerüchte über seine Versuche durchsickerten – es wäre um ihn ein für allemal geschehen. Er würde unweigerlich in den Ruf eines Scharlatans geraten, der den lichten Tempel der reinen Wissenschaft entweiht hätte. Es könnte ihn nicht nur seinen guten Ruf kosten – was letzten Endes nicht die Hauptsache ist! –, sondern auch seinen Arbeitsplatz und mit ihm die Möglichkeit zu weiteren Forschungen.
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Und trotzdem ging Dr. Clarke zum zweitenmal auf die Straße. Nachdem er eine kleine Dosis „XY-II“ eingenommen hatte, verließ er seine Wohnung und schritt langsam auf die Grünanlage vor seinem Haus zu. Und da erschien ich. Meine Gedanken über ihn weckten sein Interesse, er mischte sich in sie ein. Ich weiß nicht, was Clarke an mir Besonderes fand, aber er ließ mich von da an nicht mehr aus seinem Blickfeld. Als er später einen Mitarbeiter brauchte, fiel seine Wahl auf mich. Unsere Zusammenarbeit verlief – um mit den Worten Dr. Clarkes zu sprechen – sehr erfolgreich. Nach wenigen Monaten war es Clarke gelungen, in der Wirkung des Präparates eine Reihe von Gesetzmäßigkeiten festzustellen. Er hatte beispielsweise herausgefunden, daß seine letzte Variante „XY-IV“ gestattete, die Gedanken auf eine beliebige Entfernung zwischen zwei Schritt und zweitausend Kilometer einwandfrei zu lesen und zu übertragen. Für diesen Test hatte er mich auf eine nicht allzu lange währende Reise im Land umhergeschickt, und wo ich auch weilte – im Erster-Klasse-Wagen eines Schnellzuges, in der Passagierkabine eines Linienflugzeuges, im Kino, auf dem Rennplatz oder im Kaufhaus – mit einem Wort: überall erreichten mich täglich die Worte: „Wie geht es Ihnen, mein Freund?“ Und dann folgte unser gewohntes Gespräch. Ein Tagebuch brauchte ich nicht zu führen. Denn ich teilte dem Doktor in unseren gedanklichen Gesprächen alles mit, was ihn interessierte: den Ort, wo ich mich befand, den genauen Zeitpunkt und die Deutlichkeit meiner Wahrnehmung. Indessen – so vollkommen „XY-IV“ auch war, es vermochte nicht die gewaltige geistige Anstrengung abzunehmen, die notwendig war, um die Gedanken empfangen und übermitteln zu können. Doch welche Perspektiven eröffneten sich! Das Telefon würde überflüssig. Stellen Sie sich vor, Sie brauchen“ nur eine Tablette „XYIV“ zu schlucken, und der Gedanke verbindet Sie wie ein mächtiger Zauberer mit dem Geheimnisvollsten, was es in Ihrem Gesprächspartner gibt – mit seinem Gehirn! Natürlich wären Sie diskret genug, ihn gleich davon in Kenntnis zu setzen. Vielleicht wird es auch gelingen, Gedankenbrücken zu anderen Welten zu schlagen, zum Mars, zur Venus, zu den Planeten anderer Sonnen. Was werden wir dann erfahren? Wer wird auf den Ruf des 36
Menschen, des Beherrschers der Erde, antworten, die in dem uferlosen Meer des Kosmos nicht größer als ein verlorenes Sandkörnchen ist? Doch halt! sagte ich. mir am sechsten oder siebenten Tag der Reise, als meine Begeisterung erlahmte. Gibt es im Menschen nicht etwas Intim-Verborgenes, was er für sich behalten möchte? Und plötzlich sollen alle seine Gedanken und Gefühle, alles, was er stolz sein Ich, seine Persönlichkeit nennt, den Augen der Öffentlichkeit preisgegeben werden! Nein, sich vor aller Welt splitternackt fühlen müssen – und sei es auch in der Gesellschaft anderer Nackter –, darin liegt wahrlich wenig Anziehendes. Dr. Clarkes Präparat wird nicht nur die Mitarbeiter der großen Posttrusts interessieren. Zweifellos werden auch solche ganz und gar nicht harmlosen Organisationen wie zum Beispiel unser Staatlicher Untersuchungsausschuß ihre beutegierigen Finger danach ausstrecken. Sie wüßten schon etwas damit anzufangen! Ein zufälliger, nicht einmal laut ausgesprochener Protest – und schon bist du für immer von deiner Familie, von deinen Nächsten und Freunden getrennt... Aber es kann noch schlimmer kommen! Irgendein Gauner, der sich dieses Präparates bemächtigt, sieht sich vielleicht als eine Art neuer Bonaparte. Zwingt die Menschheit, so zu denken, wie es ihm in den Kram paßt. Preßt die Erdbevölkerung in das Joch einer modernisierten Sklaverei, wo die Menschen lebende standardisierte Mechanismen sind. Zugegeben, ein einziger Gauner könnte wahrscheinlich ein so grandioses „business“ nicht bewältigen. Aber eine ganze Kumpanei wäre dazu schon in der Lage. Zum Beispiel das Kriegsministerium ... Ich wartete das fällige Gespräch mit Clarke ab und teilte ihm alle meine Besorgnisse mit. Als Antwort lachte er nur bitter. Genauer: In meinem Kopf entstand die Empfindung eines fremden, traurigen Lächelns. „Ihre Überlegungen sind logisch“, vernahm ich. „Aber Dick, vergessen Sie nicht: von dem Präparat wissen nur wir zwei. Seine Zusammensetzung ist absolut geheim, lediglich “ich habe sie im Kopf, und niemals werde ich sie dem Papier anvertrauen ...“ Bei meiner Rückkehr fand Dr. Clarke, ich sei erholt, sonnengebräunt, fast schon verbrannt, und – klüger geworden. Zu meinem eigenen Verdruß suchte ich vergeblich nach einer Erwiderung auf seine Komplimente. Der Doktor ging jetzt noch gebückter als 37
zuvor. Seine ganze Figur machte den Eindruck völliger Weltentrücktheit. Eine unermeßliche Müdigkeit schien auf ihm zu lasten – so schlaff und energielos war jede seiner Bewegungen. Der Doktor antwortete nichts auf meine stumme Frage, die wohl zu offensichtlich in meinem Blick durchschimmerte; er lächelte nur traurig. Eines Tages sprachen wir dann trotzdem davon. „Das Präparat ,XY-IV ist noch lange nicht ausgereift“, bemerkte er, nachdem er sich meine Ansichten über eine direkte Gedankenverbindung mit den Bewohnern des Mars angehört hatte. „Es steckt noch viel Überflüssiges darin, Überflüssiges und Schädliches.“ Plötzlich lebte er auf, seine Augen blitzten jungenhaft, genau so wie damals am Kino. „Sie haben das Zeug noch gar nicht probiert“, sagte er und wies auf ein Häufchen grünlicher Tabletten, die auf einem Blatt Papier neben der Schreibmaschine lagen. „Sie zergehen auf der Zunge wie Schokominz. Wenn man solch eine Tablette geschluckt hat, wird man plötzlich hellwach, und die Gedanken erhalten eine fast durchsichtige Klarheit. Die Wahrnehmung der Umwelt verschärft sich ungewöhnlich, und dann muß man versuchen, sich irgendeinen Menschen vorzustellen. Sie zum Beispiel, Dick ... Ihre Gestalt verschwimmt, verflüchtigt sich, man muß seine ganze Willenskraft aufbieten, die Nerven bis zum Zerreißen anspannen, um Sie, Ihr Gesicht wie lebendig vor sich zu sehen. Wenn das gelungen ist, erscheint im Gehirn der erste fremde Gedanke, anfangs noch unklar, allmählich jedoch immer deutlicher. Das ist Ihr Gedanke, derselbe, der in diesem Augenblick in Ihrem Kopf rumort.“ Nachdem der Doktor eine Weile geschwiegen hatte, wies er erneut auf die kugelförmigen Tabletten. „Bald werde ich Sie bitten, eine verbesserte Variante dieses Grünzeugs zu testen. Aber vorläufig müssen Sie sich gedulden. Zu teuer wird jetzt noch jede Sekunde des Hellsehens erkauft . . .“ Er schloß die Augen und saß so etwa zehn Minuten und ruhte aus. Darauf blickte er mich, den blühenden jungen Mann, mit einer solchen Wehmut an, daß ich, der ich ganz und gar nichts vom Hellsehen verstehe, genau wußte, was er dachte. Zu viel hatte Clarke 38
seinem Präparat geopfert, zu große Anstrengungen hatten ihn seine täglichen Versuche gekostet. Die Erfolge des Doktors waren ungewöhnlich. Um sich nicht dem Zufall auszuliefern, hatte er das Lesen und Übertragen von Gedanken in ein System gebracht. Wie war ihm das gelungen? Dutzende Male kehrte ich zu dieser Frage zurück, aber sie ohne die Hilfe von Clarke zu lösen war einfach nicht möglich. Schließlich bin ich kein Biologe. Die Tätigkeit des Gehirns kannte ich nur aus den populärwissenschaftlichen Broschüren, die ich in der letzten Zeit durchgebüffelt hatte. Unterdessen näherte sich die Entscheidung. Ich fühlte das, denn ich beobachtete, mit welcher Mühe der Organismus des Doktors mit den Aufgaben fertig wurde, die ihm sein immer noch rastlos tätiges Hirn stellte. Trotzdem kam alles unerwartet schnell. Ich erkundigte mich gerade in einer Spezialverkaufsstelle „Für den Herrn“ nach dem Preis eines nicht sehr teuren hellgrauen Anzuges.' Eigentlich hatte ich schon gewählt, anprobiert und mußte nur noch den Scheck ausschreiben. „Dick, wo sind Sie? Wo sind Sie, Dick? Ich fühle mich sehr schlecht. Beeilen Sie sich!!!“ hämmerte es in meinem Gehirn. Wie ein Wahnsinniger rannte ich aus dem Geschäft, den Anzug in den Händen der verdutzten Verkäuferin zurücklassend. Mit einem schnell herbeigerufenen Taxi langte ich binnen weniger Minuten bei der Parkanlage vor Clarkes Haus an. In Windeseile stürzte ich zum Eingang ... Auf dem Treppenabsatz zwischen der ersten und zweiten Etage erreichte mich der Schluß dieser ganzen Geschichte. „In dem unteren Schreibtischfach ...“ Entweder endete in diesem Augenblick die Wirkung der Tabletten, oder aber das Denken des Doktors war zum Stillstand gekommen: mehr vernahm ich nicht. Es waren seine letzten Worte. Als ich seine Wohnung betrat, war es bereits zu spät. Ich fand ihn im Schlafzimmer reglos auf einem breiten, zerwühlten Bett. Clarke hatte diese Welt verlassen und das Geheimnis seiner Entdeckung mit sich genommen. Ja, was wußte ich schon über die Zusammensetzung des Präparates? Clarke allein kannte sie. „XY“ war etwas grundlegend Neues. 39
Versuche, Gedanken zu lesen, sind bekannt, keiner ist jedoch mit der Chemie verbunden. Dem Papier hatte sich der Doktor nicht anvertraut. Im unteren Fach des Schreibtisches fand ich ein winziges Stück Zeitungspapier mit der Aufschrift: „Für Dick H., im Falle meines Todes“. Darin war eine Tablette von grünlicher Farbe eingewickelt – das einzige, was von dem Wunderpräparat - nach dem unerwarteten Tod seines Schöpfers geblieben war. Übrigens – kam er denn wirklich so unerwartet? denke ich manchmal voll Bitterkeit. Ich bewahre dieses Stück Papier und die Tablette in Ehren. Gegen Abend verstummt die Stadt, und die Straßen werden dämmrig von den dichten Schatten der Häuser, die nach dem heißen Julitag Hitze ausströmen. In solchen Stunden sitze ich lange in meiner kleinen Kammer, unter der Treppe des grauen Riesengebäudes, in dem Dr. Clarke lebte und arbeitete. Oft nehme ich das winzige Stück Zeitungspapier heraus. Im Halbdunkel erscheint die grünliche kleine Kugel durchsichtig – wie ein gefrorener Regentropfen. Und ebensooft, wie ich das Stück Papier herausnehme, läßt mich ein Gedanke nicht los ... Die wunderwirkende Kraft des Präparates vermag die Betonwände der Ministerien zu durchdringen und die kriegslüsternen Generäle zu zwingen, auf ihre wahnwitzigen Ideen zu verzichten, vermag sie zu zwingen, das zu sagen, was ich will, was mein arbeitsloser Kumpel will – das ganze einfache Volk des „Landes der wahren Demokratie“. Ich bewahre diese Tablette in Ehren. Werde ich einmal in der Lage sein, ihr Geheimnis zu lüften? Der Weg zu den Gipfeln des Wissens ist weit und steil. Ich befinde mich erst an seinem Anfang. Beängstigend weit liegt er noch vor mir ... Wird es mir je gelingen, ihn zu bewältigen? Aus dem Russischen übersetzt von Rolf Bräuer
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VACLAV KAJDOŠ
Das Experiment* Me Fi schloß die Augen und gab sich ganz dem Genuß des Fallens hin. Das Schiff, das ihn herausgeschnellt hatte, war zu einem Stern geworden. Von dem silbrigen Skaphander geschützt, schwebte er allein im eisigen Raum. Er balancierte an dem unsichtbaren Strahl entlang, der ihn leitete. Der Anblick der blaugrünen Scheibe, die über zwei Drittel des schwarzen Firmaments vor ihm verhüllte, erregte ihn. Sie war leicht abgeplattet und strahlte einen kalten Perlmuttglanz aus. Über den dunklen Flächen der Ozeane schwebte die zerrissene Watte der Wolken. Auf der Kora hatte man seinen Einfall nicht gebilligt, aber in der Biopsychologie konnte sich niemand mit ihm messen, und darum hatten sie nachgegeben. Sein phantastischer Erfolg mit den honigerzeugenden Baoli – er hatte diese einsiedlerischen Insekten zu großen Schwärmen vereinigt und sie so wirtschaftlich nutzbar gemacht – garantierte ihm große Autorität und sprach für sein Vorhaben. Jetzt glich der Planet, dem er sich näherte, nicht mehr einer Scheibe, sondern einem gigantischen Ball – deutlich war die Wölbung zu erkennen. Eine Wolkenschicht schwamm unter Me Fi dahin. Im Raumanzug wurde es warm. Die Atmosphäre ... Er schaltete die Kühlung ein und tauchte in die Wolken. Weißgraue Schleier umgaben ihn, nur manchmal fiel er wie in einen blauen Brunnen, bis die Bahn *
Diese Erzählung ist eine Deutung der Faust-Legende. Doktor Faust, richtiger Name wahrscheinlich Georg Zabel, geb. um 1480, gest. um 1540, soll ein wandernder Astrologe und Zukunftsdeuter gewesen sein. Als geschichtliche Gestalt ist er heute kaum faßbar, doch seit Jahrhunderten rankt sich um ihn die Phantasie der Dichter. Bereits 1587 erschien, von einem unbekannten Verfasser geschrieben, das Volksbuch „Historia von D. Johann Fausten“, in dem vom Bund Fausts mit dem Teufel erzählt wird. Die bedeutendsten Faust-Dichtungen sind Goethes „Faust“ und Thomas Manns „Doktor Faustus“. 41
des Strahls ihn wieder in undurchsichtigen Nebel führte. Erregt überlegte er, wie das Ganze wohl auslaufen werde. Die größten Schwierigkeiten hatte es mit den Historikern gegeben; sie waren allem Neuen abhold und hielten Sprünge in der Entwicklung für unmöglich. Me Fi erinnerte sich auch an ihre übrigen Argumente, die auf Berichten von Forschungsautomaten basierten. „Zu junges Geschöpf, steht nicht einmal hundert Baien lang auf den Hinterfüßen und ist kaum imstande, artikuliert zu sprechen ... Die gesellschaftliche Entwicklung hat noch nicht die Stufe der Bewußtheit erreicht, die einzelnen Rassen gliedern sich in viele Stämme und Unterstämme ... Höchstes Niveau auf dem nördlichen Kontinent, wo man Bauten – was gleichbedeutend ist mit Nestern – aus natürlichem Material bewohnt . . . Kunststoffe kennen sie also nicht, sagte sich Me Fi erleichtert, demnach bin ich endlich auf wirklich primitive Geschöpfe gestoßen ... „Insgesamt tief unter dem Niveau denkender Wesen, nur einzelne von ihnen sind zu Kontakten fähig.“ In den Berichten waren in diesem Zusammenhang mehrere nicht zu entziffernde Namen genannt, wie Automaten dies mitunter zustande bringen. Me Fi erinnerte sich, daß auch blutige Kämpfe erwähnt wurden, Krankheiten und eine unerklärliche Organisation, die offenbar einen überragenden Einfluß besaß und deren Haupt ein gewisser Papst war. „Das Vorhaben, die Entwicklung dieser Wilden zu beschleunigen“, hatte der Gelehrte E Fir im Saal der Gedanken unter den blauen Gipfeln des Sal Ban Tu gesagt, „gleicht dem Versuch, die Richtung einer Lawine mit einem Fußtritt verändern zu wollen. Noch viele Baien werden vergehen, ehe sie imstande sind, Wissen und Schönheit zu erlangen ... Wozu das Leben unseres Kollegen Me Fi für ein so aussichtsloses Unterfangen riskieren?“ Dabei hatte er ein wenig gestottert, und Me Fi mußte innerlich lachen: es war das erstemal, daß der trockene E Fir seine Gefühle zeigte ... Me Fi erblickte in einer Wolkenlücke über sich die Sterne, seltsam flimmernde Punkte auf dunkelblauem Hintergrund. Tief unten schwamm die Erde, die noch niemand von der Koni je betreten hatte. Ein gefährlicher Planet! Einige Fingerbewegungen auf der Tastatur des breiten Gürtels, ein leichter Ruck – und Me Fi fiel in eine andere Richtung, fiel in die 42
Dunkelheit, auf die Nachtseite des Planeten, entlanggleitend an dem unsichtbaren Strahl und von Automaten dorthin gelenkt, wo die größte Hoffnung auf Erfolg bestand. Me Fis Weg führte zu dem gelehrtesten Mann jener Zeit. 2 Spinnweben und Dunkelheit verhüllten die gewölbte Decke des Raumes, Spinnweben hingen wie perlmuttfarbene Draperien über den gekrümmten Skeletten und wehten um den ausgestopften Leib eines Reptils, auf dem in gotischen Lettern das Wort „Crocodilus“ stand. Die Gerippe und mumifizierten Monstren auf den dunklen Regalen warfen in der nächtlichen Stunde phantastische Schatten. Aber die Finsternis fand in diesem Asyl der Wissenschaft keine Ruhe. Gelbe und blaugrüne Blitze, jähe Lichtfontänen über der Feuerstätte verjagten sie. Dort, zwischen Tiegeln und Retorten, tippelte emsig ein alter Mann umher. Sein Schatten ahmte ihn in lächerlicher Weise nach und brach sich an den zahlreichen Vorsprüngen des Raumes. Beißender Rauch füllte die Luft, es roch nach altem Leder und Schimmel von den ungefügen, in Schweinsleder gebundenen Foliobänden, die über den Fußboden aus zerschlagenen Ziegeln verstreut lagen. Ätzende Schwefeldünste stiegen in die Nase und der Geruch von Safran und Lakritze. Alle Augenblicke sprang der Greis, der eine blubbernde Flüssigkeit auf dem Feuer umrührte, zu einem aufgeschlagenen Buch, sah hinein und schüttete dann dies oder das aus den verschiedenen Kupferdosen, die auf dem Tisch standen, in den Tiegel. Bisweilen kniff er die Augen zu und rieb sich die Stirn, schnupperte an der wohlriechenden kochenden Mischung und warf einen flüchtigen Blick auf die Sanduhr. „Arkanum, das die Jugend wiederbringt“, flüsterte er. „Essenzen der vier Elemente, rinnend mit dem Frühtau vom Mond oder dem grünen Stern in die Blüten – ihr werdet mir das Leben geben. Das Leben, Jugend, Schönheit ...“ Der zahnlose Mund des Greises wiederholte inbrünstig die Beschwörungsformel. Seine Augen blickten alt und müde und waren von Runzelfächern 43
umkränzt. Was wußte er nicht alles! Sein enormes Gedächtnis bewahrte das uralte Wissen der Chaldäer, die verwegenen Entdeckungen eines Albertus Magnus, die nebligen Geistestiefen der Mystiker, die hoffnungslose Sehnsucht der maurischen Gelehrten nach dem wunderbaren Bezoar, dem Stein der Weisen ... Ach! – er schüttelte den Kopf – das alles sind nur Träume. Wozu träumen, wenn das Leben wie ein Sandkorn in der Uhr abwärts rinnt? „Wagner!“ schrie er und lauschte in die Stille der Nacht. Noch dreimal rief er nach seinem Famulus, doch niemand antwortete. „Wie ein Tier schläft er, die Wissenschaft ist für ihn ein Kramladen“, murmelte der Greis und schritt dem Ausgang zu. Plötzlich blitzte es grell, das graue Gewölbe wurde jäh zu einem Lichtkristall, von dessen Mitte phosphoreszierender Nebel ausströmte. Überrascht blinzelte der Alte. Langsam verlöschte das Licht, bis es der himbeerroten. Glut der Feuerstelle glich. Mit den knotigen Greisenhänden hielt er sich am Tisch fest, er zitterte am ganzen Körper, und seine bleichen Lippen formten ein lautloses „Apage ...“* Der Widerschein des Feuers tanzte über eine hohe Gestalt, die mitten im Raum erschienen war und deren Gewand wie flüssiges Quecksilber schimmerte. Am wunderlichsten nahm sich das Antlitz des Fremden aus: der Feuerschein verwandelte die olivgrüne Farbe in ein dunkles Grau, und aus dieser Maske starrten dreieckige grüne Augen. Der Mund hatte keine Lippen und schwieg; die Stimme tönte von der Brust her, aus einer ovalen Platte, die phosphoreszierte und in der zartrosafarbener Nebel wallte. Die Stimme klang leblos, monoton. „Salve, doctor illustrissime ...“ Der lateinische Gruß schlug wie Glockengeläut gegen die grauen Wände. „Salve ...“, würgte der Alte heraus, verstummte dann, rief nochmals „Apage ...“ und bekreuzigte sich. Doch die Erscheinung löste sich nicht auf. „Gekommen bin ich zu dir“, fuhr die Stimme fort, „als Gelehrter zum Gelehrten, und ich will, daß du mich anhörst. Dir und den anderen wird es von Nutzen sein.“ Der Alte hatte seine Erregung überwunden und musterte die *
Griechisch. Der volle Satz lautet: „Apage, Satanas!“ und bedeutet: „Hebe dich von mir, Satan!“ 44
ungewöhnliche Physiognomie des Fremdlings. Ja, kein Zweifel: ein Schnabel statt der Nase, die blutleeren Lippen ... Er ist es, dessen Name ungenannt bleiben muß. Er ist es. Und aus der Furcht tauchte leise Freude auf. Endlich, endlich war er ihm erschienen, er, den er lange vergeblich beschworen hatte. Die Stimme schwang durch den Raum und ließ die Spinnweben erzittern. Obgleich sie lateinisch sprach, verstand der Doktor vieles nicht. Er sei. gekommen, sagte der Grünäugige, den Menschen der Erde sein Wissen au geben; er sei gekommen, das Blut von ihren Händen, den Haß aus ihren Herzen und die Dunkelheit von ihren Sinnen zu nehmen.. . Der Greis nickte, aber die Worte gingen durch ihn wie eine Nadel durchs Wasser – so groß war sein Grauen, so groß auch das Entzücken, daß jemand vor ihm stand, der sein geheimstes Begehren erfüllen konnte, der es gern erfüllen würde . . . ,, ... und du mußt mir dabei helfen“, schloß der Silberfunkelnde. Die Platte auf seiner Brust überzog sich mit einem grauen Hauch. Des Alten Entschluß stand fest. „Die Jugend will ich wieder“, stieß er hervor, „denn die Jugend wird mir das geben, was die Wissenschaft mir versagt hat!“ Aufmerksam betrachteten ihn die grünen Augen. „Ich will wieder jung sein wie ehedem, ich will lieben, leben – und alles von neuem kennenlernen“, setzte er hinzu. „Der Preis für deine Hilfe'', sagte die Stimme, „soll Wissen sein. Ich biete dir Kenntnisse, mit denen du alle von Krankheiten und Blutvergießen befreien kannst. Ihr werdet leben wie ...“ – er zögerte –, „ ... wie Menschen.“ Da sank der Greis auf die Knie, Tränen in den Augen. „Gib mir die Jugend wieder, Herr, ich gebe dir dafür – mich!“ Ernst blickten die dreieckigen Augen auf ihn nieder. Me Fi begriff nicht, was der Alte wollte, denn auf der Kora bewertete man das Leben nach den Taten, nicht nach der Länge. Der Gruppe U Bans, die die Automaten nach ihrer Rückkehr von der Erkundung des Planeten überprüft hatte, mußte ein Fehler unterlaufen sein: Unmöglich konnte dieser plapperhafte, in puren Egoismus versunkene Narr das vernünftigste Geschöpf dieser Welt sein! Zögernd fragte er deshalb: „Jugend ... ? Wozu brauchst du sie?“ Der Alte starrte ihn an. „Das fragst du, Herr?“ Vor Verlangen färbte 45
sein Gesicht sich purpurn. „Die Jugend ist Frühling, pochendes Blut in den Adern, ist Liebe, Zukunft ... Die Jugend ist jener fruchtbare Acker, auf den der Same des Wissens fällt“, flüsterte er inbrünstig. „Und du fragst, warum ich die Jugend wiederhaben will!“ Me Fi erwiderte: „Ich kann die Zeit nicht aufhalten, wohl aber vermag ich deinem Körper Lebensfrische zu geben mit Hilfe von Stoffen, die ihm fehlen – und die ihr alle kennenlernen könnt, wenn du nur willst“, fügte er hinzu. Doch der Alte hörte den Zusatz nicht. Er tanzte im Raum umher, stieß mit den Füßen nach den modrigen Büchern, kicherte vor sich hin, klatschte in die Hände und drehte sich im Kreise, trunken vor Freude. Die Stille brachte ihn zu sich, und jäh wandte er sich um. Der Silbrige stand in einem Strahlenkegel. Sein kammförmiger Kopfschmuck – eine Vorrichtung, die es Me Fi ermöglichte, Verbindung mit dem Sternschiff aufzunehmen – sprühte violette Funken. Die Augen waren geschlossen. Vor Schreck erstarrte der Greis. Nach einer Weile sagte der Fremde: „Gib mir dein Blut ... “ Der Alte stutzte, zauderte einen Moment, aber die Vorstellung des nahen Glücks verscheuchte die Zweifel, und er senkte zustimmend den Kopf. „Um den Pakt zu unterzeichnen?“ flüsterte er scheu. Me Fi brauchte das Blut, um Analysen und Tests durchzuführen, aber er nickte, als er es in der schimmernden Spritze aufzog. 3 Me Fi gefiel der Planet nicht. Auf die drückende Sommerhitze folgte herbstliches Regenwetter, und als der Schnee die Landschaft in weißes Schweigen hüllte, erinnerte sie an eine Gruft. Aus den Wäldern drangen Scharen wilder Tiere und überfielen die Menschen – die sich von ihnen nur durch ihr Äußeres unterschieden und einander aus unerklärlichen Gründen ebenfalls töteten. Anfangs verblüffte es Me Fi, daß die Menschen, die den größten Mangel an Nahrung litten, am wenigsten kampflustig waren, während ihre Anführer nach Blut dürsteten, Dörfer und Städte anzündeten und diejenigen erschlugen und auf tausenderlei Art quälten, die für sie arbeiteten. Wissenschaftlich betrachtet, war diese Gesellschaft jedoch 46
unglaublich interessant, wenn man berücksichtigte, daß die Herrschenden um nichts klüger waren als die Beherrschten, eher umgekehrt. Sie sind krank, überlegte Me Fi, und er wollte an seiner Aufgabe verzweifeln. Freilich, hier und da traf er auch auf Zeichen von Vernunft, ja sogar von Schönheit. Über den stinkenden Misthaufen und halbverfallenen Hütten, wo das Elend eiternde Krankheitsblüten trieb, reckten mächtige Kathedralen und Paläste ihre stolzen Türme zum Himmel empor. Doch obgleich die Dome an Schönheit die anderen Bauten überragten, wohnte niemand darin. Me Fi bat seinen Freund – wenn man jemanden so nennen kann, der voller Furcht und Mißtrauen zu einem aufblickt – um Aufklärung, doch dieser antwortete ausweichend und sah Me Fi an, als verdächtige er ihn des Falschspiels. Der Doktor schaute sehr verändert aus. Die Bioanalysatoren hatten seine Körpersäfte untersucht, und die Synthetisatoren hatten Substanzen hergestellt, die seinen Stoffwechsel anregten. Statt des zittrigen Greises stand jetzt vor Me Fi ein Mann, der vor Gesundheit und Energie strotzte. Nun ist die Zeit gekommen, dachte der Gelehrte von der Kora, da er mir gern zuhören wird. „Eure Welt ist schlecht, Illustrissime“, sagte er zu ihm. „Kaiser und Fürsten unterdrücken euch, behandeln euch wie Zugvieh. Die Menschen arbeiten bis zum Umfallen, der Ertrag ihrer Tätigkeit aber verpufft in Kriegen und Zerstörung.“ „Es ist eine gottgewollte Ordnung“, erwiderte der Doktor leichthin und machte sich den Schnurrbart unter dem stutzerhaft eleganten Barett zurecht; ein langer italienischer Degen mit Goldgriff hing an einer roten Schärpe an seiner Seite. „Ein guter Christ kümmert sich nicht um das irdische Leben, sondern um das ewige Seelenheil.“ „Ich glaube“, sagte Me Fi langsam, „daß du doch eine Dummheit begingst, als ich dir das abnahm ...“ Er zeigte auf die kleine Spritze. Des Mannes Rechte schnellte vom Schnurrbart hoch und malte ein Kreuzzeichen in der Luft. In seiner Stimme lag ein klagender Ton. „Ich bin sündig, ich weiß wohl, aber ich will zu den Wurzeln der Dinge vordringen, deshalb brauche ich die Jugend ...“ Me Fi lachte auf. „Vorläufig dringst du zu den Herzen der Frauen vor – und das gelingt dir wirklich recht gut.“' 47
Ein Lächeln überflog das Gesicht des Doktors. „Die Frauen sind die Wurzeln und die Würze des Lebens“, sagte er. „Eine gefährliche Würze. . . Du sagtest, daß Margarethens Bruder nicht begeistert ist über die Aufmerksamkeiten, mit denen du ihre Gunst erworben hast. Der Weise weicht der Gefahr aus, du aber suchst sie ständig .. . Weshalb setzt du deine Kräfte nicht lieber dafür ein, daß verändert wird, was in eurer Welt faul ist?“ Der Doktor schlug auf den Degenknauf. „Ich kenne keine Furcht, das ist mein Schutz.“ „Und die Wissenschaft?“ Der andere zuckte die Schultern. „Später. ..“ Als die Tür hinter ihm ins Schloß fiel, fuhr Me Fi über die Tastatur seines breiten Gürtels. Im Nu war der Weg durch den Tunnel des Nullraums zurückgelegt, und Materie, Wände und Entfernungen schmolzen zusammen vor dem starken elektromagnetischen Feld, mit dem man ihn auf Wunsch E Firs ausgestattet hatte, damit er wirklich geschützt sei. In seiner unzugänglichen Höhle, am Grund eines bewaldeten Tals, wohin nur der Schrei von Adlern und das Heulen der Wölfe drang, hatte er sich eine provisorische Niederlassung eingerichtet. Hier sammelte er die Berichte der Teleautomaten, deren unsichtbare Augen über den Städten und Dörfern schwebten und das Gesehene und Gehörte durch flimmernde Bildschirme und summende Kristalle wiedergaben. Tag um Tag erkannte er mehr, wie recht E Fir mit seinen Zweifeln gehabt hatte. Aber Hartnäckigkeit war ein ureigener Charakterzug Me Fis, und er wollte sein Experiment nicht aufgeben. Müde schloß der Gelehrte die Augen. Wohin wird mich der Aufenthalt auf diesem schrecklichen Planeten wohl noch führen? dachte er. Der mittlere Bildschirm flammte rot auf. Gefahr im Laboratorium des Doktors! 4 Ein kurzes Dunkel vor den Augen, dann Zwielicht – der rötliche Schein der Feuerstelle, verstreute Bücher, und mitten unter ihnen der Doktor, bleich, die zerrissenen Kleider mit Schmutz bedeckt, Blutspritzer auf dem abgebrochenen Degen. Von der Straße drang 48
Geschrei herein. „Herr“, stammelte der Mann und fiel auf die Knie. Me Fi wich einen Schritt zurück. „Rette mich, Herr, habe Mitleid mit mir . . .“ Er wand sich vor seinen Füßen wie ein getretener Wurm, und Tränen rannen ihm über die Wangen und den sorgsam gepflegten Schnurrbart. Me Fi starrte auf den blutigen Degen. „Du hast Margarethens Bruder getötet...“ Ein stummes Nicken. „Ich wollte es nicht, Herr, aber er beschimpfte mich, drohte mir mit den Fäusten. Glaub mir, ich wollte ihn nicht töten, er ist mir in den Degen gerannt...“ Me Fi überkam eine Schwäche. Mordgesindel, dachte er, widerliche, mordlustige Raubtiere. „Seine Schwester erwartet ein Kind“, stieß der andere hervor. „Er verlangte, daß ich sie heirate, wollte Geld, drohte!“ „Und du hast ihn getötet.“ „Rette mich ...“ Der Doktor sah auf, und im Schein der Flammen glich sein Antlitz einer Maske. Die Angst war so echt und eindringlich, daß sich in Me Fi etwas regte und er die Hand hob. Da wurden auf dem Gang stampfende Schritte laut, Eisen klirrte, und oben über der Treppe flog die Tür auf und dröhnte gegen die Wand auß dunklen Quadern. Im Lichte der Fackeln tanzten Schatten auf und ab, und der Flammenschein huschte in schmutzigblutigen Streifen über schimmernde Harnische. Bärtige Gesichter, böse, dunkle Augen ... „Mörder!“ gellte eine weibliche Stimme, und ein Mädchen mit aufgelöstem hellem Haar und irren Augen stürzte zu dem in der Mitte des Raums knienden Mann. Da trat Me Fi aus dem Schatten und streckte die Hand aus. „Frieden“, rief er, „Frieden!“ Der Apparat übersetzte das Wort ins Lateinische, aber weder das Mädchen noch die anderen verstanden es. Die Gruppe am Ausgang fuhr zusammen. Schreie des Entsetzens, Panik, der Fall eines Körpers und ein keuchendes Ringen um die Tür. Sekunden später waren die Söldner verschwunden. Ein Helm rollte scheppernd die Stufen herab. „Frieden!“ wiederholte Me Fi. Das Mädchen erhob sich, preßte die Hand vor den Mund, und 49
eisiges Entsetzen löste das Feuer der irren Raserei in ihren Augen ab. Langsam wich sie zurück, Schritt für Schritt, dann aber raffte sie sich auf, stürzte die Stufen hinan und floh. „Der Teufel ... Meines Bruders Mörder hat sich dem Teufel verschrieben ... Der Teufel ...“, schrie sie, und ihr wahnsinniges Gelächter und das Stampfen ihrer Füße verhallten nach und nach in dem steinernen Gang. „Du hast mich gerettet, Herr ... vor dem Galgen.“ „... und vor dem ewigen Leben“, fügte Me Fi ironisch hinzu. Der Doktor erbebte. „Hier können wir nicht 'bleiben“, flüsterte er. „Kriegt mich der Henker nicht, erwartet mich der Scheiterhaufen.“ Eine Wolle schwiegen beide. „Gut“, sagte dann Me Fi. „Aber jetzt wirst du auch etwas für mich tun. Hör zu ...“ 5 Die Pest schlich durch die Stadt. Vermummte trugen sie auf Bahren, von denen gelbe, seuchenzerfressene knochige Gliedmaßen herabbaumelten. Wolken von Krähen trugen sie über die Berge von unbestatteten Leichen, und die Totenglocke läutete den Takt zu dem schrecklichen Tanz dieses Spuks. Die verrammelten Türen bedeckten sich mit weißen Kreuzen, und Modergeruch stieg überall auf. Das Grauen sprach aus den abgezehrten Gesichtern, und die Priester beteten in halbleeren Kirchen die Totenmesse, ohne daß Gott sie in der Stille vernahm. Zwei Pilger schritten durch das verwaiste Stadttor an den erloschenen Blicken der Wächter vorbei, deren starre Hände selbst im Tode die Hellebarden nicht losgelassen hatten. Da schauderte der größere zusammen. „Ich gehe nicht weiter“, sagte er. „Du weißt, wie du mich finden kannst.“ Der andere nickte. Er ging allein durch die stillen Gassen, wich den Pfützen aus und sprang zur Seite, wenn hungrige Hunde ihm entgegenkamen. Dann pochte er an die Tür eines Palastes. Lange Zeit antwortete ihm nur das Echo. Endlich wurde der Riegel zurückgeschoben, und die Tür öffnete sich einen Spalt. 50
„Ich bin Arzt“, sagte er schnell. „Hier heilt nur der Tod“, antwortete der Diener in eiligem Flüsterton. „Des Fürsten Tochter liegt krank darnieder, er empfängt niemanden. Geh deines Wegs.“ Der Doktor schob den Fuß in den Türspalt. „Ich habe ein Mittel gegen die Pest, sage das deinem Herrn.“ Der Türspalt wurde breiter, und ein zerzauster Kopf mit spitzer Nase sah heraus. Mißtrauen stand in den Augen zu lesen. „Du bist ein Narr oder ...“ In der Hand des Dieners blitzte ein Dolch. Der Doktor sprang zur Seite, gab aber nicht nach. „Und ich dachte, der Fürst will nicht, daß die Prinzessin stirbt“, sagte er und drehte sich um, als wollte er weggehen. Einen Augenblick schaute der andere unentschlossen auf seinen Rücken, dann rief er: „Warte, ich werde dich anmelden.“ Der Fürst war ein welker Greis in einem langen, mit Goldfäden bestickten Gewand. Auf dem schweren Eichentisch stand ein Pokal mit dampfendem Wein, und um die Stirn trug der Herrscher einen Verband, der nach Essig roch. „Sprichst du die Wahrheit“, sagte er, „gebe ich dir, was du verlangst. Wenn nicht, sollen die Raben dich auf dem Galgenberg fressen.“ „Ich fürchte mich nicht“, erwiderte der Doktor lächelnd. Der Regent betrachtete ihn, strich sich durch den Bart und roch an einem in Essig getauchten Schwamm. „Meine Tochter hat sich am Vormittag hingelegt, sie glüht wie Feuer und phantasiert. Pater Angelikus hat ihr die Letzte Ölung gegeben. Willst du es trotzdem wagen?“ „Führe mich zu ihr“, gebot der Arzt. Sanft berührte die Spritze die wachsbleiche Haut, und je mehr die silbrige Flüssigkeit schwand, desto höher wölbte sich unter der Haut ein ovaler Hügel. Der Doktor strich ihn glatt und wandte sich zum Fürsten um. „Sie wird jetzt schlafen“, sagte er. „In etwa einer Stunde verläßt das Fieber sie, doch wird sie bis zum Abend weiterschlafen. Dann wacht sie auf und ist gesund.“ Die Augen der Anwesenden folgten ihm mit abergläubischer Furcht. Seine Sicherheit beeindruckte sie; man glaubte ihm, wie er Me Fi glaubte. Nur die Schritte des Wachtpostens vor der verschlossenen 51
Tür des Zimmers, wohin man ihn anschließend schaffte, befragten ihm nicht. Immerhin findet der Böse tausend Wege, und seine Absichten sind hinterhältig. Je mehr die Zeit verstrich, desto stärker quälten den Doktor Selbstvorwürfe und Angst. Nervös drehte er einen kleinen eiförmigen Gegenstand aus unbekanntem blauschimmerndem Material in den Händen. An der Spitze des Eis war ein roter Knopf, der den Gefürchteten herbeirufen konnte, aber der Doktor traute sich nicht, darauf zu drücken. Als die Dämmerung kam, rasselte ein Schlüsselbund, und Bedienstete trugen Schüsseln mit dampfenden ...Speisen und gekühlte Flaschen herein. Sie verneigten sich vor ihm, und das gab ihm sein Selbstvertrauen wieder. Er aß und trank und bekam Lust zu singen. Dann stand er abermals vor dem Fürsten, der jetzt weder das Essigtuch noch den Schwamm bei sich hatte. Er war heiter und lud ihn zum Sitzen ein. „Verzeih mir, geschätzter Freund, gewiß ist dir die Zeit lang geworden ... Meine Tochter schläft, und ihre Stirn ist wieder kühl. Sicher sandte dich der Allmächtige.“ Ein Priester in einer schwarzweißen Kutte nickte im Takte zu den Lobesworten. Den Doktor überlief es eiskalt. „Ach nein, nein ... Es ist die Pflicht des Arztes, den Leidenden zu helfen.“ „Doch gebührt dem Arbeiter sein Entgelt“, säuselte der Priester. Der Fürst zwinkerte. „Du bist ein großer Mann, Doktor. Kannst du aber auch im voraus Gottes Heimsuchung von uns abwenden? Hast du ein Mittel, der Krankheit vorzubeugen? Die Leute sterben mir dahin. Wer soll die Felder bebauen?'' „Wer soll den Zehnten bezahlen?“ flüsterte der Priester und ließ den Rosenkranz durch die knochigen Finger gleiten. Das magische Ei brannte förmlich in des Doktors Hand, und er erinnerte sich an sein Versprechen. „Hast du ein solches Mittel? Kannst du unseren Wunsch erfüllen?“ drängte der Fürst. „Ja“, erwiderte der Arzt, und die Augen der anderen leuchteten gierig auf. „Aber nur unter einer Bedingung ...“ „Sie sei erfüllt ...“, begann der Fürst, doch der Priester preßte ihm die Hand. „Unter welcher Bedingung, mein lieber Sohn?“ 52
„Daß ihr das Königreich Gottes auf Erden errichtet.“ Schweigen. Fürst und Priester tauschten einen Blick. Der Dominikaner bekreuzigte sich und befeuchtete die Lippen mit der Zunge. „Wir trachten nach nichts anderem, mein lieber Sohn“, sagte er dann leise. Der Doktor drückte das Ei und legte es auf den Tisch. Die beiden anderen sahen es wohl, fragten aber nichts. „Wer meine Arznei nimmt, wird alles Gewesene vergessen. Sein Sinn wird rein sein wie unbeschriebenes Pergament. Wer meine Arznei einnimmt, bleibt gesund, und sein Mund wird nie die Unwahrheit sprechen.“ „Wenn der Tod droht, ist das keine so schwere Bedingung“, sagte der Fürst. Die Augen des Priesters verengten sich. „Gott allein hat das Recht, über das Ausmaß der Leiden zu entscheiden, mit denen die Sünder sich ihren Anteil am himmlischen Königreich .erkaufen. Und es ist nicht des Menschen Sache, Seine Wege zu verändern“, setzte er entschieden hinzu. „In wessen Namen sprichst du, Arzt?“ zischte er plötzlich. Der Doktor erstarrte, ein Kälteschauer lief ihm über den Rücken. Worin hatte der Geheimnisvolle ihn da verstrickt? Mitunter zweifelte er nicht daran, daß es der Teufel sei, dann wieder kamen ihm seine Worte wie paradiesische Musik vor. Aber vermochte der Erbfeind sich nicht in ein Lamm zu verwandeln, um seine wölfische Fratze zu verbergen? Der Fürst hob die Hand und zog seine Stirn kraus. „Du sagtest, sie werden vergessen. . . Heißt das, sie werden auch vergessen, wer Herr ist und wer Knecht, und sie werden Steuern und Zehnten und Lehensbande vergessen?“ Der Doktor senkte den Kopf. „Du sagst es. Sie werden sein wie ein unbeschriebenes Blatt, und sie werden es selbst beschreiben mit ihren Taten – es sei denn .. .“ Er zögerte. „Nun?“ „Es sei denn, Fürst, du lehnst es ab, selbst die Arznei zu nehmen. Dann könntest du ihr Leben schreiben“, fügte er hinzu. Der Fürst schmatzte mit den trockenen Lippen, geblendet von der Vision göttlicher Macht, doch der kalte Blick des Dominikanermönchs 53
ernüchterte ihn schnell. Pater Angelikus war nicht nur sein Beichtvater, sondern auch der Inquisitor der Stadt, und der Herrscher fürchtete ihn. „Gott allein kann die Geschicke der Menschen lenken“, sagte der Mönch streng, und sein Blick bohrte sich in das Gesicht des Fürsten. „Wer aber eigenwillig die gottgegebene Ordnung ändern will, wird in den Höllenflammen enden und in einem See von siedendem Pech ... Und dann, wenn sie vergessen: wer wird dir noch dienen, Albrecht?“ fragte er spöttisch. „Wer rettet dich dann vor der Rache der Feinde? ... Du wärst wohl froh, wenn sie viele Dinge vergäßen, nicht wahr?“ Sein asketisches Gesicht verzog sich zu einem höhnischen Grinsen, und der Fürst duckte sich wie unter den Schlägen einer Peitsche. Der Priester heftete die glühenden Augen des Fanatikers auf den Doktor. „Und dir, du Abgesandter dunkler Mächte, sage ich im Namen des Herrn, daß ich lieber die ganze Einwohnerschaft dieser Stadt an der Pest zugrunde gehen lasse, als daß ich gestatte, ihren Weg zur Erlösung zu durchkreuzen ...“ Der Fürst nickte schwach. Am ganzen Körper zitternd, wich der Arzt zur Tür zurück, aber starke Arme ergriffen und schleppten ihn wieder an den Tisch. Das finstere Gesicht des Dominikaners verhieß nichts Gutes. „In wessen Namen hast du gesprochen? Wer hat dir diese Zaubermittel gegeben? Wer befahl dir, gute Christen in Versuchung zu führen?“ Trotz des jugendlichen Äußeren war der Doktor alt. Der Mord, die überstürzte Flucht mit dem gespenstischen Begleiter, die ständige Angst vor dem Scheiterhaufen – das überstieg seine Kräfte. Er wußte: Wen der Inquisitor so fragt, wird keine Gelegenheit zur Verteidigung haben. Da stürzte er zum Tisch, wo das Ei schimmernd lag, aber der Priester war schneller. „Aha!“ rief er. „Das also ist des Teufels Unterpfand.“ Und mit mächtigem Schwung schmetterte er das Wunderei auf den steinernen Estrich, wo es in tausend Stücke zersprang. Ein Wogen wie der Akkord einer entfernten Musik durchbebte den Raum. Der Doktor fiel in den Sessel, kreidebleich. Er begriff, nun war er verloren. „Ich ... ich wollte das nicht, nein, ich nicht“, stammelte er, und 54
Tränen liefen ihm über die Wangen. „Er hat mich dazu angestiftet, er, der Teufel. .. hat mir die Jugend wiedergegeben, die Jugend ... aaach!“ Er legte die Hände auf den Tisch, preßte den Kopf dagegen und schluchzte bitterlich. „Ich wußte, daß es eine Falle war, und doch bin ich hineingegangen ... Er führte mich auf die höchste Höhe und stürzte mich tief hinab ...“ In des Doktors Stimme klang ein so echter Schmerz, daß die beiden anderen einen fragenden Blick tauschten. Der Priester entließ die Wachen mit einer Handbewegung, dann sagte er: „Die Freude unseres Herrn Jesus Christus über einen Bußfertigen ist größer als über tausend Gerechte. Es scheint, daß du deine Tat bereust, und die Kirche ist nicht übelwollend, folgsamen Kindern ist sie eine liebe Mutter.“ Langsam hob der Doktor den Kopf und blickte ihn verständnislos an. „Du hast die Tochter des Fürsten gerettet, und“ – er hüstelte – „wenn es auch durch teuflische Künste geschah, scheint es doch, daß selbst der Teufel, entgegen seiner Absicht, manchmal auch Gutes vollbringen kann.“ Abwartend verstummte er. „G–Gutes?“ stotterte der Doktor. Der Fürst fand seine Sprache wieder. „Wir wissen doch, daß du eine Arznei gegen die Pest hast.“ . Der Doktor nickte. „Wieviel Kranke kannst du damit heilen?“ „Zwei, drei, ich weiß nicht, Herr ... Aber ich könnte ...“ Der Priester ließ ihn nicht aussprechen. Die Blicke der beiden Mächtigen verschmolzen, und der Dominikaner nickte leicht. Dann wandte er sich an den Doktor. „Gib uns die Arznei, und ich will dir's vergessen.“ „Ja, gib uns die Arznei.“ Der Fürst lachte. „Und dann scher dich – zum Teufel!“ Der Doktor drehte den Kopf, als wollte er sich überzeugen, ob er noch auf dem Halse säße. „Also?“ fragte der Fürst. „Auf dem Galgenberg hast du keine angenehme Gesellschaft, außerdem ist es kalt dort ...“ „Und der Scheiterhaufen ist etwas zu heiß, mein Lieber“, raunte der Priester. Heiser sagte der Arzt: „Ja ...“ und griff in die Tasche. Doch der Priester gebot ihm Einhalt und ging aus dem Zimmer. Nach einer 55
Weile kam er zurück. Der Fürst reichte dem Doktor einen Beutel mit klingenden Goldstücken. Dann wankte der Unglückselige hinaus. Er wagte nicht zu glauben, daß er noch am Leben und frei sei, taumelte durch die Gänge des- Palastes – bis sehnige Hände ihn packten und in den stinkenden Hungerturm warfen. Als er auf das faulige Stroh sank, sprangen quiekend Ratten nach allen Seiten. 6 Ein grünliches Licht weckte ihn. In der Mitte des Kellergewölbes stand Me Fi in seinem durchsichtigen Raumanzug. Der Doktor richtete sich empor und stützte sich ächzend vor Schmerz auf den Ellenbogen. Mit der Rechten schützte er das Gesicht wie vor einem Schlag und stöhnte. „Es ist nicht meine Schuld, verzeih mir, Herr, man hat mich schändlich betrogen.“ Die grünen Augen wurden um einen Schein dunkler. „Ich habe es gehört, habe gehört, wie der Schwarze sagte, daß er lieber alles opfern wolle.“ Me Fi wandte das Gesicht ab und schwieg eine Weile. „Nein, es war mein Fehler – es ist noch zu früh. Aber ich habe auch die Menschen gesehen, die von Steuern, Kriegen, Krankheiten und Furcht zermartert werden. Sie hausen in Höhlen und bauen Kathedralen – einst aber werden sie in Palästen leben und eine Welt des Wissens errichten. Sie sind stark, und ihre Zahl ist groß. Und sie werden mich dereinst anders empfangen als du. Du bist schwach, du wolltest Jugend und Liebe und bekamst den Tod; du wolltest deinen Hals retten und bekamst Gold. Nun endest du hier.“ Nachdenklich betrachtete Me Fi die dicken Wände des Kerkers. „Ich komme wieder, bestimmt.“ „Rette mich, Herr, ich will alles tun, was du verlangst!“ Me Fi lachte auf. „Hier, nimm das.“ Er reichte ihm einen länglichen zylinderförmigen Gegenstand. „Wenn du diesen Apparat gegen die Wand richtest und drückst, wird sich dir ein Weg öffnen. Aber dann wirf ihn weg, es ist ein gefährliches Spielzeug.“ Verzweifelt griff der Doktor nach der Gestalt, die in einer grünlichen Wolke entschwand. Zurück blieb die Finsternis. 56
Da umschloß der Unglückliche den Apparat mit der Faust. Ein greller Blitz, das Krachen zusammenstürzenden Mauerwerks, ein erstickter Aufschrei – und die entsetzten Wächter starrten verstört auf ein Loch in der Wand, aus dem der Staub zertrümmerten Gesteins emporstieg. „Der Teufel hat ihn geholt“, flüsterte der Dominikaner mit hohler Stimme und bekreuzigte sich langsam. „Der Teufel ...!“ wiederholte der Fürst und stützte sich schwer gegen den Türpfosten. Und noch viele Jahre lang erzählten sich die Menschen, wie der hochgelehrte Doktor Faustus einen Bund mit dem Bösen schloß und so zu einer lebenden Warnung für alle wurde, denen die Erkenntnis mehr bedeutete als die offenbarte göttliche Wahrheit. Aus dem Tschechischen übersetzt von Heinz Koblischke
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J. DUBROWIN
Die alten Griechen
Ein sonniger Augusttag um die Mittagszeit. Der Gelehrte Iwan Kurilow, korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften, und sein Schüler Sascha Ljubimow sitzen auf einer Bank und reden sich die Köpfe heiß. Vor einer Stunde war Sascha den Boulevard entlanggekommen und hatte seinen Lehrer im Schatten der Bäume promenieren sehen. Er hatte ihn begrüßt und einige Bemerkungen über die Hitze gemacht. Jetzt sitzen sie in der sengenden Sonne auf der glühendheißen Bank und achten weder auf die Vorübergehenden noch auf den Lärm der spielenden Kinder neben sich. Sie sind auf dem Wege zur Wahrheit. Ringsum ein raschelndes Dickicht von Formeln, Berechnungen und Gleichungen ... Unter ihren Füßen schwankt der unsichere Boden von Annahmen, Hypothesen und Zweifeln. Heimtückische Gruben, Irrwege, Sackgassen und zähes Gestrüpp hemmen ihr Vordringen zur Wahrheit. Sascha ist auf seinem Wege steckengeblieben und starrt verzweifelt auf Kurilow. Aber dieser hat es nicht eilig und hält den rettenden Gedanken schlau zurück. Der Ball, mit dem die Kinder spielen, tippt zweimal auf dem Kies auf und landet genau zwischen den beiden eifrig Diskutierenden, „Verflixt!“ ruft ärgerlich ein flinker Junge mit schwarzen Augen und läuft auf die Bank mit den beiden Männern zu. „Lassen Sie sich Zeit, Sascha“, sagt Kurilow belehrend und wirft den Ball ein paarmal in die Höhe. Sascha drängt ungestüm auf dem kürzesten Weg zur Wahrheit. Sein phänomenales Gedächtnis liefert ihm bereitwillig immer neue Fakten. Kurilow spielt mit dem Ball. Der vielleicht zehnjährige Junge in weißem Hemd, kurzen Hosenmit Gürtel und in Sandalen steht unentschlossen vor ihnen, lauscht Saschas tiefsinnigen Worten und runzelt befremdet die Stirn. 58
„Erlauben Sie“, sagt er plötzlich und entwickelt mühelos die Formel, welcher der erregte Sascha, angespornt durch einige Bemerkungen Kurilows, wie einem, Zielband zugestrebt war. Die Worte des Jungen treffen die beiden Gelehrten wie ein Blitz. Kurilow ist so verblüfft, daß er den Ball aus den Händen gleiten läßt, Sascha wird bleich. Sie schauen ungläubig auf den Knaben, der sie freundlich anlächelt. „Ich wollte Ihnen nur helfen, weil mir schien, Sie seien in einer Klemme“, sagt er, hebt den Ball auf und läuft wieder zu. seinen Spielkameraden. Auf der Bank bleiben zwei ratlose Männer zurück. Wahrhaftig, denken sie, es war kein Traum: Wir saßen hier und diskutierten, da kam ein zehnjähriger Junge angelaufen und hat mit einem Schlag unserem Streit ein Ende gemacht. Dieses Kind weiß mit den schwierigsten abstrakten Begriffen umzugehen ... Brennende Neugier läßt sie von der Bank aufspringen. Eine Minute später sind sie bei den ballspielenden Kindern. Außer Atem vom schnellen Laufen fragt Kurilow den schwarzäugigen Jungen: „Wie heißt du, mein Kleiner?“ „Igor.“ Sascha Ljubimow ist angriffslustiger als Kurilow. Er überfällt den Jungen gleich mit einer Frage aus der Kernphysik: „Und weißt du auch, was .. .“ Offensichtlich weiß er es, denn ein Lächeln erhellt sein Gesicht. Ohne Hast erläutert er das Wesen des Problems, und während Kurilow – bemüht, den unwillkürlich in sich aufsteigenden Neid zu unterdrücken – sein Taschentuch herauszieht, ist die Frage bereits gelöst. Dann erklärt der Junge höflich, doch mit größter Sicherheit: „Die Methode, nach der Sie Ihre Überlegungen anstellen, ist veraltet. Es ist das gleiche, als wollten Sie das Verhalten der Fische untersuchen und holten sich zu diesem Zweck einen Fisch aus dem Wasser. Wir lernen in der Schule, daß man jedes Problem in seiner Gesamtheit betrachten muß ... Entschuldigen Sie bitte das von mir gewählte Beispiel...“ Blitzschnell hat der Junge einige ungleichartige Fakten ergriffen, sie in der Faust zusammengepreßt, und – o Wunder! – auf der ausgebreiteten Handfläche ist ein kristallklarer Gedanke entstanden. 59
Der Gedanke verblüfft die beiden Gelehrten durch seine Neuheit, während Kurilow zugleich beschwören könnte, daß er ihm schon auf der Spur war. Natürlich! Er erinnert sich: Moskau ... ein Gespräch mit einem amerikanischen Physiker ... das Vorgefühl eines neuen Gedankens ... Doch der Gedanke war ihm damals entglitten. Und nun hat ihn auf wunderliche Weise der zehnjährige Igor wiedergebracht, dieser ganz unwahrscheinliche Junge in weißem Hemd und kurzen Hosen. „Was habe ich bloß angestellt!“ sagt der Junge plötzlich niedergeschlagen. „Ist etwas passiert?“ fragen die Gelehrten erschrocken. „Vater und Mutter ... Sie suchen mich. Ich habe ihnen nichts gesagt und bin einfach spielen gegangen.“ Die beiden Gelehrten schauen in die Richtung, wohin Igor mit schuldbewußter Miene blickt. Seine Eltern kommen eilends gelaufen, sie sehen ihn und winken ihm von fern. „Die alten Griechen ...“, flüstert Kurilow verzückt. Sascha Ljubimow bestätigt einsilbig: „Ja ...“ Igor schaut die beiden verwundert an. „Das sind doch keine alten Griechen, sondern ganz normale Menschen, das sind doch mein Vater und meine Mutter.“ Igors Eltern kommen heran, und der Vater grüßt: „Guten Tag!“ Und an seinen Sohn gewandt, fügt er hinzu: „Wo treibst du dich denn herum?“ „Wie konntest du nur!“ empört sich die Mutter. „Zur Maschine!“ ruft der Vater. „Sofort zur Maschine, sonst kommen wir nicht mehr weg!“ „Auf Wiedersehen“, sagt Igor zu den beiden Gelehrten. Auch seine Eltern verabschieden sich. Dann fassen sie sich an den Händen – der Vater links, die Mutter rechts, in der Mitte der Junge – und eilen mit schwebenden Schritten den Boulevard entlang. Kurilow und Sascha ertappen, sich dabei, wie sie den drei rätselhaften weißgekleideten Gestalten wohlgefällig nachblicken. Die Leute auf dem Boulevard bleiben stehen, und auch sie schauen ihnen lächelnd hinterher. Plötzlich erschrickt Kurilow darüber, wie rasch das Geheimnis 60
entschwindet. Er wendet sich in befehlendem Ton an seinen Schüler: „Sascha! Sie sind jung und kräftig – holen Sie die drei ein und lassen Sie sie nicht weg!“ Sascha ist im Nu verschwunden. Kurilow muß alle zwanzig Meter verschnaufen und schimpft leise auf sein Alter. Nachdem er zwei Häuserblocks passiert hat, erblickt er die hochaufgeschossene Gestalt seines Schülers. Sascha steht recht unglücklich da und schaut zum Himmel. Kurilow schreit wütend: „Entwischt!“ Aber da lacht Sascha und schüttelt den Kopf. „Diese ,alten Griechen' ... Sie kommen von dort...“ „Von wo?“ Sascha erzählt: „Ich habe sie eingeholt und gefragt, wer sie sind. ,Wir kommen aus der Zukunft’, haben sie mir geantwortet. Ich gab ihnen zu verstehen, daß sie sich ihre Scherze sparen sollten. Aber sie blieben dabei. Eine Weile folgte ich ihnen ganz entmutigt. Sie unterhielten sich über irgendwelche Defekte in der Lenkung. Der Vater sagte, Igor habe den falschen Hebel berührt, darum seien sie in die Vergangenheit verschlagen worden. Darauf erwiderte die Mutter, daß sie Igor jetzt ein ganzes Jahr nicht mehr eine so komplizierte Maschine anvertrauen würden. Der Junge entgegnete etwas. Seine Erklärungen waren dermaßen mit Fachausdrücken gespickt, daß der Vater ihn ein wandelndes Wörterbuch der Technik nannte. Mich belustigte diese Replik, und ich prustete los. Sie drehten sich nach mir um und lachten ebenfalls. Auf dem Bürgersteig stand eine glänzende Maschine mit vielen Rippen. Die Vorübergehenden betrachteten sie neugierig, berührten sie. Die drei liefen auf die Maschine zu, ich blieb fünf Meter davon entfernt stehen. Sie öffneten die Luke, und der Vater rief den Leuten zu: ,Treten Sie bitte ein Stück zurück!' Die Luke wurde geschlossen, die Maschine erbebte – und war im selben Augenblick verschwunden. Gewohnheitsgemäß blickten alle zum Himmel. Aber die Maschine hatte sich gar nicht in die Luft erhoben, sie war tatsächlich verschwunden. Da glaubte ich mit einem Schlag alles, was sie mir gesagt hatten. Sie kommen aus der Zukunft ... Sie kommen wirklich aus der Zukunft!“ Und Sascha lacht froh. 61
Kurilow behauptet, daß er noch oft von dem kleinen Igor träumt: wie er Fußball spielt und in den Pausen zwischen den einzelnen Stößen von Antiteilchen spricht. Der Gelehrte lächelt, wenn er von diesem Traum erzählt. „Ja, es stimmt! So wird es sein! Jetzt verstehe ich das Wort ‚Zukunft'. ,Zukunft' – das ist ein zehnjähriger Junge, der über den Gedankenreichtum der Genien aller verflossenen Zeiten verfügt!“ Sascha Ljubimow aber träumt von drei Menschen: einem Mann, einer Frau und einem Jungen. Sie laufen, sie sind schön – wie große weiße Vögel. Aus dem Russischen übersetzt von Margit Bräuer
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Gescannt von c0y0te.
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