Thomas Kastura
Die letzte Lüge scanned 2005/V1.0
Als die sechzehnjährige Phil ihren Vater Viktor bittet, ihr bei der B...
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Thomas Kastura
Die letzte Lüge scanned 2005/V1.0
Als die sechzehnjährige Phil ihren Vater Viktor bittet, ihr bei der Beseitigung einer Leiche zu helfen, fragt dieser nicht lange nach den Hintergründen. Er macht sich mit seiner Tochter in Richtung Italien auf und will damit gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Endlich kommt er seinen Vaterpflichten nach und gibt seinem eintönigen Leben den heiß ersehnten Kick. Aber unterwegs verstrickt er sich immer mehr in zwielichtige Geschäfte, deren Bedeutung er erst erkennt, als es schon fast zu spät ist … ISBN: 3-442-45295-3 Verlag: Goldmann Erscheinungsjahr: 2002 Umschlaggestaltung: Design Team München
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Als die sechzehnjährige Phil ihren Vater Viktor eines Tages bittet, ihr bei der Beseitigung einer Leiche zu helfen, überlegt dieser nicht lange. Er packt den leblosen Körper in den Kofferraum eines geliehenen Jaguar und fährt mit Phil Richtung Pisa, wo Phils Mutter begraben liegt. Viktor redet sich ein, durch diesen Liebesdienst das zerrüttete Verhältnis zu seiner Tochter wieder zu verbessern – in Wahrheit jagt er aber nur seiner verlorenen Jugend nach und hofft, sein Leben in eine Art Roadmovie verwandeln zu können. Denn obwohl sich Viktor erst seit dem Tod der Mutter um Phil kümmert, hat der fünfunddreißigjährige Pressefotograf das Gefühl, ihr seine besten Jahre geopfert zu haben. Aber es kommt zum Streit zwischen Vater und Tochter. Der Tote, der türkische Dealer Musti, mit dem Phils Freund Tony Geschäfte machen wollte, hatte nämlich fünf Kilo Haschisch bei sich, und dieses möchte Viktor nun mit Hilfe seines undurchsichtigen Freundes Gwizdek verkaufen. Phil hingegen möchte die Drogen am liebsten wegwerfen, in jedem Fall möglichst schnell loswerden. In einem Hotel in Pisa, der ersten Station auf ihrer Reise, lernt Phil den Kellner Francesco kennen und schenkt ihm das HaschischPaket. Dann tauchen Tony und Mustis Bruder Erdem in Pisa auf, und die Situation eskaliert.
Autor Thomas Kastura, geboren 1966, studierte Germanistik und Geschichte. Er lebt in Bamberg und arbeitet als freier Autor für Rundfunk und Presse. Weitere Bücher von Thomas Kastura sind bei Goldmann in Vorbereitung.
Für Conny
Reach out and touch faith Depeche Mode
ERSTER TEIL
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1 Krisen sind nicht so meins. Da komme ich schwer wieder raus. Manchmal habe ich auch Angst, nie wieder rauszukommen. Meine Taktik: Kurz bevor es zu einer Krise kommt, irgendwas tun. Nicht denken, einfach handeln. Das hilft. Momentan fahre ich einem »Dethleffs Globetrotter« hinterher, der seinen Wohnwagenarsch mit dem kühnen Aufdruck Esprit hinter sich herschlenkert wie eine alte Nutte ihre Zellulite. Ich höre Angels von Robbie Williams, das Beste, was man auf der linken Spur tun kann mit einem geliehenen Jaguar Coupé XKR. Sag jetzt keiner Jaguar und geliehen, beides gehört zu meinem derzeitigen Naturell. Ist das ein Widerspruch, derzeitig und Naturell? Ach Quatsch. Also ich rase so vor mich hin, mit durchgedrücktem Gaspedal, weil ich einfach nicht daran glaube, dass einen Kilometer vor mir ein Hutträger mit Kadett und Katheter auf die linke Spur einschert, ohne in den Rückspiegel zu sehen. Das machen die nicht, nicht auf der Autobahn, auf der ich fahre. Zweihundertfünfzig. Es ginge wahrscheinlich noch schneller, aber die Maschine des Jaguar ist abgeregelt. Sagt das nicht alles über unsere Zeit? Ein Jaguar ist abgeregelt – allein das Wort bringt einen dazu, eine Wende hinzulegen und es entgegen der Fahrtrichtung ein für alle Mal wissen zu wollen. Aber das lasse ich mal schön bleiben, nicht jetzt, nicht heute, dafür ist das JagGefühl zu gut, ein Gefühl, das alle anderen noch mal um einige Mikrogramm Adrenalin hochjagt. Zur Erklärung muss ich sagen: Mein hochgekrempeltes zitrusfarbenes Langarmhemd mit Haifisch-Kragen und Vichy-Karos steht offen. Und wen es interessiert: Ich trage dazu eine himmelblaue Badehose mit marineblauen Streifen an den Seiten und hellgraue Slipper aus Lachsleder. Hin und wieder betrachte ich meine annehmbar 7
modellierten Bauchmuskeln, klimpere mit dem durchbrochenen Metallarmband meiner Zenith Port Royal V und singe den Chorus laut mit. And through it all she offers me protection, a lot of love and affection, whether I’m right or wrong. Ich bin auch deswegen gut gelaunt, weil mir mein Freund Jerzy aus Frankfurt etwas ganz Neues zum Runterschlucken gegeben hat. Angeblich soll es nicht lange vorhalten, aber da kann man nichts machen. Gut, eine Gucci-Sonnenbrille trage ich auch, aber das gehört zur Grundausstattung und zählt bei den Good Vibes nicht mit. Hab sie geklaut, zählt also doppelt nicht. Mit dieser Gucci-Brille fing alles an. Ich gebe zu, mich ein wenig zu zieren, wenn ich das jetzt alles so offen erzähle, aber ich mache mal weiter. Gehn wir ein Stück zurück.
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2 Sill war wunderbar. Sie wusste alles von mir, zumindest alles, was ich ihr bei entsprechenden Gelegenheiten erzählt und in ein paar Träumen vorphantasiert hatte. Treu bis in den Tod. Damit meine ich nicht monogam, sondern ehrlich, zu sich, zu mir, mit einem Wort das genaue Gegenteil meiner hervorstechenden Charaktereigenschaften. Warum sollte ich nicht mal Glück haben? Na ja, sie hatte auch ihre Fehler. Wurde schwanger. Andererseits: Ist ja auch ein Grund zur Freude. Ich bin kein Mistkerl: habe das Spiel mitgemacht, bis die Kleine laufen konnte. Das reicht doch, oder? Ich meine, soll ich ihr die Hand halten, bis sie einen dreißig Jahre älteren Frühruheständler mit Finca auf Gran Canaria heiratet? Eben. Die Kinder sind für sich selbst verantwortlich, meine Rede. Machen doch eh, was sie wollen. Da kann man nur da sein, wenn sie erwachsen werden und einen brauchen, zum Beispiel jetzt, mit fünf Kilo Shit im Handschuhfach eines, ich sagte es schon, geliehenen Jaguar inklusive Hecklast. Überrascht? Muss der nicht mindestens vierzig sein, wenn der das jetzt erzählt? Gut geraten, aber nur nahe dran. Ich bin fünfunddreißig in meinen Ledersitzen, an denen meine Haut sich so angenehm festsaugt. Und sie ist sechzehn hinten an ihrer Raststätte und spillerdürr. Das heißt, ich war ziemlich jung, als ich Vater geworden bin. Die Zeiten waren halt so, fette achtziger Jahre eben, in denen Kondome etwas spießig waren, weil es Aids noch nicht richtig gab. Und bevor jemand darauf herumreitet: Ja, ich habe sie an der Raststätte zurückgelassen. Sie hatte noch Blut an den Händen und im Gesicht, als ich sie zuletzt im Rückspiegel sah. Nichts gelernt und nichts begriffen. Das war nicht meine Tochter. 9
Vielleicht hätte ich mich vorhin mehr mit ihr unterhalten sollen. Aber sie war nicht in der Stimmung, beschimpfte mich, was ich nun gar nicht leiden kann, Pubertät hin oder her. Ich meine, ich habe ihr mit der Leiche geholfen, habe den Wagen organisiert, habe Aufträge abgesagt oder zumindest verschoben, habe mein ganzes Scheißleben von einer Minute auf die andere umgestellt auf ein Roadmovie, und wenn nicht Roadmovie, so zumindest auf etwas mehr Mobilität. Da erwartet man ein wenig Dankbarkeit, oder nicht? Das Jag-Gefühl flaut ab. Ich gebe meinem Beschützerinstinkt nach, gehe vom Gas und nehme die nächste Ausfahrt. Als ich über die Brücke fahre, bin ich versucht, einen notorischen Steineschmeißer zwischen Stoßstange und Geländer kurz zu zermalmen, aber dafür fehlt mir jetzt die Aggression, nicht das Aggressionspotenzial, das ist schon da, immerzu, aber momentan verspüre ich keinen unmittelbaren, heftig in mich hineinfahrenden Tötungsdrang. Muss an Angels liegen, nicht wahr? Schließlich ist es fünf Uhr morgens, jeder fängt irgendwann mal an, ein besserer Mensch zu werden, auch die Steineschmeißer, die eines schönen Tages in ihren fernöstlich angehauchten Ziergärten stehen und sich denken: Nehme ich diesen schweren, kantigen Brocken da, oder doch lieber den leichten, glatt geschliffenen? Sie steht noch da, wie ich sie zurückgelassen habe, zugekifft bis über beide Ohren und die blutverschmierten Finger gespreizt zu einem Peace- oder Fuck-off-Zeichen – so einfach ist das von weitem nicht zu erkennen. Jeder LKW-Fahrer hielte sie für ein verirrtes Groupie, das er mal kurz zum Frühstück verspeisen würde. Aber die LKW-Fahrer pennen in ihren zugequalmten Trucks noch ihren Rausch aus, oder sie trinken gerade eine ihrer weltraumkapselgroßen Kaffeepullen leer, damit sie auf der A 3 bis acht oder neun Uhr noch ein paar hundert Kilometer machen können, die armen Schweine.
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Wenn es heller wird, werde ich mir ein paar Gedanken über die zerstückelte, völlig unkenntlich gemachte Leiche machen müssen, die im Heckteil des Jaguars liegt – es ist ja nun mal kein richtiger Kofferraum, sondern nur eine bessere Ablage. Ich habe die Körperteile in einem luftdichten Gummisack verpackt, aber all zu lange sollten sie da nicht drin bleiben. Leichen, die einmal zu verwesen anfangen, stinken sich unbarmherzig durch alles durch. Ihre Augen sind glasig. Sie beugt sich vor, erkennt mich. Ein Blick von der anderen Seite des Horizonts. Ich zerre sie auf den Beifahrersitz. Sie lässt es apathisch mit sich geschehen. Ich drücke drauf. »War’s das mit der großen Freiheit?« Sie kotzt auf den Boden. Kinder!
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3 Musti hatte sie blöd angemacht, nichts weiter. Hatte die falsche Bemerkung zum falschen Zeitpunkt fallen lassen. Brauchst es wohl wieder, etwas in der Art. Sein Fehler. Phil hatte immer ein gut geschliffenes Messer bei sich. Hab ich ihr zum zwölften Geburtstag geschenkt. Vielleicht hatte sie das Gefühl, sie müsse es jetzt endlich mal benutzen. Kann ich ihr nicht verdenken, manchmal treiben es die Türkendealer einfach zu weit. Tun immer ganz kumpelhaft, Alder, aber dann bescheißen sie dich nach Strich und Faden. Und mit Frauen können sie einfach nicht, diese ewigen Machos. Jetzt liegt Musti hinten im Jaguar, filetiert, wie ich sagen möchte, denn ab und zu schwinge ich ganz gerne den Kochlöffel, wie man so sagt. Meistens bereite ich Seefisch zu, Doraden zum Beispiel, bei denen man sorgfältig an der Hauptgräte entlangschneiden muss, damit das Fleisch nicht verletzt wird. Phil hatte in einer Panikreaktion Mustis ganzen Shit mitgehen lassen. Ich frage sie, ob sie rassistische Gründe hatte, Scheiß-Türke und so, aber sie tippt sich beim Kotzen an den Kopf und denkt wahrscheinlich nur Schlechtes von mir. Im Fahren drehe ich mir einen Joint. Er schmeckt wie ein Bart voller Essensreste, meine übliche Assoziation bei dieser Altherrendroge, die so schrecklich qualmt und stinkt, als täte sich gleich der Erdboden auf und der Leibhaftige stünde vor einem. Ich reiche Phil eine Flasche Vittel. Mein Mädchen nimmt einen Schluck, stellt die Sitzlehne flacher und legt sich schlafen. So wünsche ich mir das, so soll es sein. Sie sieht klasse aus, während sie ein Nickerchen macht. Abgesehen von ihrem bauchfreien Top, das sich ihren schon recht ansehnlichen Brüsten entgegenkräuselt und mir etwas zu gewagt erscheint, ist sie ganz eindeutig mein Mädchen. Ein 12
gutes. Manchmal bringt sie mich schwer durcheinander, manchmal macht sie mich richtig wütend, aber dafür ist sie ja noch jung, oder? Ich gehe ganz professionell vor: verlassener Autobahnparkplatz, ein Stück in den Wald rein, Lebensrettungsplane untergelegt, Musti drauf, Benzin drüber (oh ja, in das Heckteil des Jaguar passt auch noch ein Benzinkanister). Und alles abgefackelt, bis nur noch ein paar ölige Schlieren und Metallteile von Mustis Designer-JeansKopie übrig sind. Zur Sicherheit verbuddle ich das Ganze und pflanze einen Ginsterschössling darauf, den ich im Vorbeigehen ausgerissen habe. Schließlich soll es ja auch schön aussehen. Dann schaufle ich Phils Kotze aus dem Jaguar. In dem Toilettenhäuschen wasche ich die Bodenmatten ab und besprühe sie mit dem Armaturenspray, das ich im Handschuhfach gefunden habe, als ich den Shit hineingequetscht habe. Phil schläft die ganze Zeit über. Gut so, das Kind soll sich über diese schrecklichen Dinge keine Gedanken mehr machen. Ich säubere ihr Gesicht und ihre Hände mit Erfrischungstüchern, auf deren Verpackung ein kleiner Jaguar gedruckt ist, mitten im Sprung. Sie murmelt etwas, aber ich kann es nicht verstehen. Ein Wunsch? Eine Bitte? Um den Gestank, der während Mustis Kremierung in mein Leben eingedrungen ist, zu vertreiben, inhaliere ich ein Erfrischungstuch und dann gleich noch eins. Es riecht, wie Phil jetzt riecht, nach Desinfektionsmittel und Zukunft, so wie sie eigentlich immer riechen sollte. Sobald ich mich wieder halbwegs sauber fühle, steige ich ein und gebe Gas. Keine Joints mehr, was soll mein Mädchen sonst von mir denken? Ich bin auch so gut drauf, weil wir die Leiche reibungslos losgeworden sind. Man muss die Toten nur auslöschen und vergraben, das beflügelt ungemein.
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Als Phils Bauchnabel zu vibrieren anfängt, weiß ich, dass die natürliche Ordnung der Dinge wieder hergestellt ist. Vater und Tochter sind auf dem Weg nach Italien. Wie es aussieht, machen sie einen Kurzurlaub, um ihre lange vernachlässigte Beziehung ein wenig aufzufrischen. Als es hinter dem Brenner immer grüner wird – wir haben Anfang Mai – und die ersten Obstplantagen in Sicht kommen, geht mir das Herz auf. Es ist das alte Italien-Gefühl bei der Überquerung der Alpen. Man fährt hinab in eine bessere Welt. Ahn ich die Wege noch nicht, durch die ich immer und immer, zu ihr und von ihr zu gehn, opfre die köstliche Zeit? Und, ganz wichtig: Das Glück, es ist mir geworden. Ich kenne nicht viel von Goethe, und Zitate kann ich schon gar nicht behalten, aber die Römischen Elegien habe ich damals für Sill auswendig gelernt. Hat sie schwer beeindruckt. Und seinen Zweck erfüllt. Wie Phil so daliegt, einen Streifen Sonne auf den Oberschenkeln, das Gesicht an den Sicherheitsgurt geschmiegt, ihr Mund halb geöffnet, als ob sie mir jeden einzelnen Gedanken übermitteln wollte, den der Schlaf ihr eingibt! Wie Sill in der guten Zeit, als die Kleine noch im Kindersitz an die Rückbank geschnallt war. Wenn Frauen die Augen geschlossen haben und träumen, ist alles, alles Gold.
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4 Wir fahren erst bei Pisa raus. Als wir dort mal Ferien gemacht haben, sind wir gar nicht erst in die Innenstadt reingegangen. Wegen der vielen Touristen, weil der Schiefe Turm gesperrt war und weil von dem Dom angeblich eine schwach radioaktive Strahlung ausging. Das hat mir Sill nie verziehen. Na ja, später war sie dann doch da, ohne mich. Ich gebe den Jaguar bei Hertz ab und kaufe bei einem Händler einen alten Alfa V 6 Turbo für dreitausend Euro auf Karte. Bei dieser Gelegenheit rufe ich Jerzy an, weil mir der Shit zum Wegwerfen denn doch zu schade ist und uns Bargeld jetzt wie gerufen käme. Außerdem habe ich noch ein paar finanzielle Verbindlichkeiten bei ihm. Die sollte ich mal wieder auf Null bringen. Am Handy wirke ich wohl etwas aufgekratzt. Jerzy beruhigt mich, sagt, ich solle mir keine Sorgen machen. Als ich die Mengenangabe wiederhole, überlegt er kurz. Fünf Kilo, das seien unter Freunden höchstens vierzigtausend, was es denn für eine Qualität sei. Ich sage, dass es ungewöhnlich stark nach Gras riecht, wenn man eine der hellbraunen Platten anschneidet. »Könnte Golden Pollum sein«, antwortet er. Nun ja, schnelles Geld sei schnelles Geld. Er werde Gwizdek, die Pfeife, vorbeischicken, der habe sich ein bisschen Sonne verdient. Wir machen für den nächsten Tag einen Treffpunkt aus. Auf Polen ist eben Verlass, wenn sie dich einmal ins Herz geschlossen haben. Keine Sorge, Phil hat die Aktion wieder verschlafen. Ich wollte sie nicht wecken. Mädchen müssen viel schlafen, sonst ist ihre Schönheit eines Tages – schnipp! – einfach weg. Als Vater muss man darauf ein Auge haben, auch darauf. 15
Wir steigen im La Luna ab, einem Vier-Sterne-Kasten in der Innenstadt, wo sie uns mit allem Respekt empfangen. Schließlich haben wir ja einiges hinter uns. Phil geht im Pool schwimmen, während ich mich etwas hinlege. Ich biete ihr meine Kreditkarte an, eine Geste, damit sie sich ein paar Sachen kaufen kann. Aber sie winkt ab, hat eine eigene, was auf dasselbe hinausläuft, wird eh alles von meinem Konto abgebucht. Sie ist sparsam, braucht normalerweise nicht viel. Bei größeren Ausgaben fragt sie mich immer vorher. Was will man mehr? Als wir in dem Hotelrestaurant zu Abend essen, trägt sie ein schwarzglänzendes Seidenkleid. Das Ding hätte ihrer Mutter alle Ehre gemacht. Als ich es ihr sage, schaut sie genervt zur Seite. Sie war auch beim Frisör, hat ihre mahagonifarbenen Locken ganz kurz schneiden lassen und kräftig Gel reingetan. Sie weiß, wie sie mich milde stimmen kann. »Alles wieder okay?«, frage ich, als der Kellner, ein brünstiger Strizzi mit Stielaugen – denk nicht mal dran! –, wieder abgeschwirrt ist. Wir haben die ganze Fahrt schweigend verbracht, auch nachdem sie kurz nach Verona aufgewacht war. Jeder von uns war mit sich selber beschäftigt. Wir brüteten still vor uns hin, als müssten wir ein paar der letzten Rätsel der Welt lösen – Poebene-Gedanken. »Tut mir Leid, dass ich heute Morgen ausgeflippt bin. Aber als ich mich vorhin beim Frisör im Spiegel gesehen habe, da fühlte ich mich wieder so mies! Deswegen habe ich dem Kerl auch gesagt, er soll sie ganz kurz machen.« Sie bekommt einen verträumten Gesichtsausdruck, ein Mädchen, das von einem Anna Sui-Kleid schwärmt oder dem neuen Habana Club-Roller von Aprilia. Der hat so einen verchromten Lenker, leicht gebogen, richtig schick. »Als härenes Gewand würde ich dein Kleidchen aber nicht bezeichnen.« 16
Sie rückt einen Träger zurecht. »Du machst dich lustig über mich. Warum nimmst du mich nicht einmal ernst?« »Tu ich doch. Oder was meinst du, warum wir jetzt hier sitzen?« »Du hättest nicht mitzukommen brauchen«, erwidert sie schnippisch. »Entschuldige, aber das Wort mitkommen würde ich mehr auf deinen Reisezustand beziehen. Warum musstest du so viel von dem Zeug rauchen?« »Ich stand unter Stress. Außerdem kiffst du ja auch.« »Hab ich nur gemacht, um die Qualität zu testen. Ist nicht meine Droge, bringt einen zu sehr runter.« »Sieh mal an! Bin ich jetzt die Tochter von einem Großkriminellen?« »Kannst dich ja ans Jugendamt wenden.« Der Kellner dienert uns den Wein an, zu dessen Wahl er Phil ausdrücklich beglückwünscht. Ich stelle mir seine Hormone wie die Finger der Leprakranken im Tiger von Eschnapur vor, diese Szene, wo der Held ganz unten im Palast des Maharadschas eingesperrt ist. Verfaulende Gliedmaßen recken sich ihm entgegen, kommen immer näher, sind kurz davor, ihn anzufassen. Er schenkt ihr einen Schluck ein. Sie kippt ihn achtlos runter und deutet auf das Glas. Noch während er unsere Gläser befüllt, sagt sie: »Da fällt mir ein: Was hast du eigentlich mit Mustis Leiche gemacht?« Ich zucke mit den Schultern, warte, bis der Kellner davonstakt. »Entsorgt«, sage ich mit gesenkter Stimme. »Frag bitte nicht wie. Für das, was du nicht weißt, kannst du auch nicht verurteilt werden. Momentan sind wir bei Totschlag im Affekt. Alles andere geht auf meine Kappe.«
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Sie verschluckt sich an dem Avignonesi und bekommt einen reizend unbeholfenen Hustenanfall. Sofort eilt der Kellner herbei und sieht die Gelegenheit gekommen, ihr an die Wäsche zu gehen. »Ja, ja, schon gut!« Ich stehe auf und wedele seine Hand von ihrem Rückenausschnitt. Beleidigt verzieht er sich. Nach ein paar Hustern hat sie sich wieder gefangen. »Hörst du nicht zu, oder was?« Sie spült mit einem Schluck Weißwein nach. »Als ich dich angerufen habe, sagte ich zu dir: Ich habe eine Leiche, die unbedingt weg muss. Wer sagt denn, dass ich ihn umgebracht habe?« »Und das Messer, das wir in den Main geschmissen haben? Das war doch deins.« »Aber Paps. Leiche – Messer – Phil. Als ob das nur einen Schluss zulassen würde. Hab doch ein bisschen Phantasie. Traust du mir ernsthaft zu, einen Menschen zu töten?« »Wer soll es denn sonst gewesen sein?« Ich zögere, spüre einen Hoffnungsschimmer wie das fluoreszierende Licht eines Weckers, wenn es auf eine müde Hand fällt, die mitten in der Nacht nach der Uhrzeit tastet. So weit bin ich in Gedanken noch gar nicht gekommen, dass sie es gar nicht selber getan haben könnte. Dabei liegt das doch auf der Hand. Meine Phil würde so etwas nie machen. Schließlich ist sie kein durchgedrehter Junkie, das weiß ich doch. Weder Junkie noch durchgedreht, nur die übliche jugendliche Neugier und, ja, manchmal auch Überspanntheit. Phil hat Recht: Ich brauche dringend mehr Phantasie. Gut, ich strenge mich an. Wer hätte wohl Interesse daran, einen harmlosen kleinen Dealer aufzuschlitzen. Wer ist so blöd? »Antonio!«, dämmert es mir. »War es Antonio, dieser miese kleine Drecksack?«
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»Du brauchst ihn nicht zu beleidigen«, sagt sie, als der Kellner unsere gegrillten Tintenfische aufträgt. »Außerdem war es Notwehr.« »Bist du noch mit ihm zusammen?« Sie schneidet einen Fangarm ab und betrachtet das violette Fleisch, auf dem der Grillrost schwarze Streifen hinterlassen hat. »Jetzt nicht mehr. Aber ich war ihm was schuldig.« »Schuldig? Hat er dir Geld geliehen? Du weißt doch, dass du jederzeit –« »Jetzt hör schon auf! Geld spielt bei dieser Sache überhaupt keine Rolle.« Sie dreht die Augen zur Decke. Ich zwinge mich, ihr weiter ruhig zuzuhören. »Tony steckte in Schwierigkeiten. Also hab ich ihm geholfen.« »Er hat es mit deinem Messer getan? Da gehört einiges dazu. Das hätte ich diesem Pizzabäcker-Söhnchen gar nicht zugetraut.« Sie steckt sich ein Stück Tintenfischfleisch in den Mund, kaut konzentriert. »Ja«, sagt sie schließlich. »Mit meinem Messer. Es war nichts anderes zur Hand.« »Und dann hat er dich mit der Leiche im Stich gelassen.« Sie stochert in dem Tintenfisch herum, nickt widerstrebend. »Wie konntest du dich nur auf ihn einlassen? Wie oft habe ich dir gesagt, dass der nichts drauf hat? Der Kerl ist ein Erbe. E-RB-E. Der denkt, dass er eines Tages die Pizzakette seines MafiaVaters überschrieben kriegt und bis dahin ein bisschen in der Unterwelt mitmischen darf. Der ist ein wandelndes B-Movie. Ich frage mich nur, warum er keine Waffe mit sich herumschleppt.« »Die hat ihm Musti aus der Hand geschlagen. Es war sein erster Deal.«
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»Nicht zu fassen.« Ich knalle mein Besteck auf die Tischplatte. »Nehmen wir mal an, ich würde versuchen, in diesem Geschäft Fuß zu fassen. Meinst du, ich würde mich so dumm anstellen?« »Ich glaube, diese Unterhaltung führt zu nichts.« »Hat dieser Tony keine Reflexe? Gibt es keine Kurse für so was?« »Paps, bitte!« »Wie du meinst. Ich schlage vor, wir vergessen jetzt einfach mal, dass wir Mittäter auf der Flucht sind, und denken darüber nach, was wir jetzt anfangen.« »Okay«, sagt sie, lehnt sich zurück und zündet sich eine Zigarette an. Der Kellner räumt ihren Teller ab und stellt ihr einen Aschenbecher hin, während ich noch esse. Phil bedankt sich auf Italienisch. Sie lobt den Tintenfisch, wie ich vermute. Dann deutet sie auf mich, erzählt etwas von »padre«. Anscheinend stellt sie klar, dass ich ihr Vater sei, denn der Kellner setzt ein schmieriges Lächeln auf, als ob ich schon am Stock ginge. Hau bloß ab. Den Blick versteht er. »Ich glaube kaum, dass sich die Polizei für einen verschwundenen Drogendealer interessiert«, fange ich an. »Trotzdem ist es besser, sich eine Weile nicht in Deutschland blicken zu lassen, schon gar nicht in Frankfurt.« »Und warum Pisa?« »Ich hab mir gedacht, wir könnten uns mal den Friedhof ansehen.« Ihr Gesicht wird hart. »Den Camposanto?«, fragt sie, obwohl sie genau weiß, worauf ich hinauswill. Im Gegensatz zu mir kennt sie sich bestens in Pisa aus. Sie hat hier eine Weile mit Sill gelebt, und dann, nach Sills Unfall, ein paar Jahre in Lucca, bei meiner Mutter Edith, also direkt um die Ecke. »Nein, natürlich nicht. Ich meine den, der etwas außerhalb liegt, im Norden.« 20
»Warst du überhaupt schon mal an ihrem Grab?« Ich zögere. Sill wurde vor zehn Jahren beigesetzt. Damals waren wir schon auseinander. Ich wollte ja kommen, ganz sicher, schon wegen Phil, aber dann stellte ich mir die Blicke vor, diesen griechischen Chor, angeführt von meiner Mutter, die vermutlich noch während der Begräbniszeremonie begonnen hätte, mich öffentlich hinzurichten. Es war ja ganz klar, dass ich an Sills Tod schuld war, wer sonst? Ich hatte sie zwei Jahre nach Phils Geburt verlassen, gerade, als sie mit ihrem Studium fertig war. Ich hatte sie dadurch von einer Affäre in die andere getrieben. Und ich hatte sogar den Peugeot Kombi gekauft, mit dem sie auf dem Weg zu ihrem damaligen Manager-Lover von der Straße abgekommen und gegen einen Strommast geprallt war. Vor diesem Schauprozess hatte ich Angst. Und ich wollte ihn Phil ersparen. Ach was, ich wollte da einfach nicht hin, Ende, aus, basta. Sill war tot, und um Phil konnte ich mich damals nicht kümmern. Ich meine, ich war fünfundzwanzig, musste erst noch was auf die Beine stellen, was erleben da draußen. Das klappt nicht, wenn am Morgen statt Workout Pausenbrote schmieren auf dem Programm steht und man einen Rave sausen lassen muss, weil die Kleine Windpocken hat. Na ja, den Workout habe ich nach ihrem Tod dann erstmal für eine gewisse Zeit weggelassen. Um ehrlich zu sein, hat mich die Sache ziemlich aus der Kurve getragen. Richtig auf den Hund gekommen bin ich damals, ein ganzes Jahr lang voller Spritzen und Pillen und Kotze und schrecklich intensiver Visionen, gegen die From Dusk Till Dawn die reinste Sonntagnachmittagsunterhaltung ist. Aber darüber spreche ich nicht so gern, muss jetzt nicht sein. »Dein schlechtes Gewissen treibt dich hin, wie?« »Stimmt, ich war noch nie da«, gebe ich zu. »Aber jetzt kann ich’s ändern. Ich möchte einiges ändern, Phil. Ich möchte, dass wir öfter zusammen sind. Ich möchte wissen, wer du jetzt bist. Ich möchte mehr für dich tun, mehr, als eine Leiche beiseite 21
schaffen. Ich möchte, dass du das Internat verlässt und wieder bei mir lebst.« »Langsam, eins nach dem anderen.« »Aber da gefällt’s dir doch sowieso nicht.« »Wir haben das schon mal probiert, weißt du noch?« Ich hebe Hilfe suchend die Hände. Sie meint die Zeit, als meine Mutter wieder geheiratet hat. Neun war Phil damals. Ediths neuer Partner Werner wollte sie aus dem Haus haben. Passte wohl nicht in seinen Toskana-Entwurf von Wein-SonneLiegestuhl. Und Edith hatte es satt, die Ziehmutter zu spielen, Edith, die nach Sills Tod so große Töne gespuckt hatte. Also blieb Phil zwei Jahre bei mir. Dann habe ich sie – auf ihren ausdrücklichen Wunsch! – in einem Internat im Taunus eingeschrieben. Damals flammten die Unruhen in Nordirland wieder auf. Die IRA brach die Waffenruhe, worauf die RUC kräftig gegenhielt. Ich hatte Exklusivverträge mit mehreren Zeitungen, eine einmalige Gelegenheit für einen Fotoreporter. Und Nordirland war damals definitiv ungeeignet für ein Mädchen wie Phil. Ich dachte, unsere Zeit wird schon noch kommen. Das dachte ich wirklich, ungelogen. Ich hatte es immer vor mir, wie das Hintergrundbild auf meinem Powerbook, eine Landschaft von van Gogh, leuchtende Weizenfelder, die von einem ziegelroten Weg durchschnitten werden und sich auf der gesamten Breite dem Horizont entgegenwölben. Oder war es aus dem Film von Kurosawa? »Die Lage hat sich jetzt beruhigt. Ich muss kaum mehr weg, arbeite meistens von zu Hause aus. Studiokram, Fotostrecken für die Industrie.« »Und das soll gut gehen?« »Wenn du möchtest, nehme ich mir einen Atelierraum«, schlage ich vor. »Das entscheiden wir, wenn es so weit ist«, sagt sie bestimmt und schnippt die Asche ihrer Zigarette auf die Terrakotta22
Fliesen. Was für eine Bewegung! Die Bacali wäre vor Neid erblasst. »Natürlich. Tut mir Leid, wenn ich dich überrumpelt habe.« Ich bin gar nicht zufrieden mit mir. Wie komme ich überhaupt dazu, ihr all diese Pläne an den Kopf zu werfen? Ich sollte besser an das Nächstliegende denken. Wohin jetzt? In Europa bleiben? Was gibt es hier für Phil? Und für mich? Warum nicht dorthin, wo die Post abgeht? Kalifornien, Hongkong, Sydney? Aber dafür müssten wir durch die Sicherheitschecks an den Flughäfen, und das könnte momentan etwas gefährlich werden. Also Europa, die alte Schachtel. Wir könnten ans Meer fahren, das liegt ja ganz in der Nähe. Aber es ist nur das Mittelmeer, wo die Leute schon seit hunderten, ach was, tausenden von Jahren ihren Müll reinleiten, von der Schwerindustrie bei Livorno ganz zu schweigen. Und an jedem Punkt der Küste gibt es eine Säule, einen Tempel, verbunden mit einem Mythos über irgendwelche hinterfotzigen Götter oder einem historischen Ereignis aus der Zeit der Römer, das kann man ja nicht mehr auseinander halten, weil die Namen alle ganz ähnlich klingen. Das Mittelmeer ist so wie die Adriaküste in der Gegend von Cattolica. Auf der Landkarte liegen da die Badeorte eng nebeneinander, einer wie der andere, wie Einschusslöcher auf der Papierzielscheibe einer Kirmesschießbude. Und zu gewinnen gibt’s – nichts, weil man eh nicht genau die 12 in der Mitte trifft wegen der ungenauen, absichtlich verstellten Luftgewehre, die sie da haben. Überall in Europa ist das so, das sollten sich die Amis mal leisten, verstellte Luftgewehre, da wäre aber der Teufel los, und als Preis haben sie dort drüben kein hässliches Plüschtier, sondern einen Palm Pilot, was letztlich genauso nutzlos ist, aber was rede ich: Luftgewehre, die gibt’s doch bald nicht mehr. Entweder man hat ein echtes oder eines, das Farbkapseln verschießt.
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»Wie wär’s, wenn wir erstmal ein bisschen in der Gegend rumstreunen? Ich rufe im Internat an und erzähle denen irgendwas.« »Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Das Schuljahr ist fast zu Ende. Die müssten mich die Klasse eigentlich bestehen lassen.« »Wie? Einfach so? Hast du keine Prüfungen mehr?« »Ich bin in diesem Hochbegabtenprogramm. Da nehmen sie’s nicht so genau. Hauptsache, ich bin zur Sommerakademie wieder da.« »Was bist du?« »Hast du schon wieder vergessen, wie? Die halten mich für ’ne kleine Streberin.« Sie grinst, aber nur mit dem Mund. »Ist wohl in einer deiner Gedächtnislücken verschwunden.« Verzweifelt versuche ich mich zu erinnern. Richtig, letztes Jahr – oder war es das Jahr davor? – erzählte sie mal was von einem Einstufungstest, für den sie sich angemeldet hatte, ja, das fällt mir jetzt wieder ein. Nur von dem Ergebnis weiß ich nichts mehr. Ist mir entglitten, wie so vieles. »Komm gar nicht erst auf den Gedanken, dass ich das für dich tun würde, Paps. Ich merke doch, dass dir nichts daran liegt.« »Das siehst du falsch, Phil. Es ist nur –« »Ich mache es, weil es sich so ergeben hat. Würdest du mich kurz entschuldigen?«, sagt sie betont höflich, richtet sich auf – sie ist schon einen halben Kopf größer als ich – und klappert mit ihren Reptillederpantoletten Richtung Damentoiletten davon. Ihr Gang ist erstaunlich sicher, überhaupt nicht teenagerhaft. Sie muss gar nicht überlegen, wo ihre Füße als Nächstes den Boden berühren. Jeder ihrer Schritte vollzieht sich wie lange einstudiert, und wenn man bestimmte Bewegungen oder Äußerungen lange übt, wirken sie irgendwann mal so
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selbstverständlich, dass man gar nicht mehr sieht, was alles dahintersteckt an Disziplin und Kontrolle. So geht das nicht weiter. Ich muss mir eine Strategie zurechtlegen, mit deren Hilfe ich möglichst viel über Phil erfahre, ohne dabei zu verraten, dass ich eigentlich überhaupt keine Ahnung von ihrem Leben habe. Na ja, ein paar Eckdaten kenne ich, wie bei der Biografie von Politikern oder Künstlern, die ich für die Zeitung abgelichtet habe. Das Problem ist nur, dass meine Tochter mich viel besser zu kennen scheint als ich sie. Je mehr ich über sie wissen werde, je mehr ich aufklaube, was ich auf dem Weg verloren habe, desto mehr werde ich über mich selbst erfahren. Denke ich. Ich nehme ein paar Gabeln Tintenfisch und spüre förmlich, wie die Schwermetalle in meinen Körper eindringen, ihn Faser für Faser durchhärten, Kreuzbänder, so biegsam wie Kupfer, Muskeln, so fest wie Antimon, und ein Herz aus Quecksilber, silbrig schimmernd tief in mir drin, unablässig in Bewegung, geschmeidig, nachgiebig und deshalb vollkommen unzerstörbar. Das wäre einmal eine Geschäftsidee: ein Verfahren entwickeln, das dem menschlichen Körper alle über die Jahre abgelagerten Schwermetalle entzieht, und sie daraufhin zu einem Kubus gießen, den man sich an den Autospiegel hängen kann. Damit es einen richtigen Würfel ergibt, bräuchte man noch etwas für die Augen von eins bis sechs. Vielleicht Nierensteine? Oder Amalgamfüllungen? Die Tischplatte kribbelt und gibt dabei rhythmische Töne von sich. Es ist der Vibrationsalarm des Handys, das Phil auf dem Tisch liegen gelassen hat. Ich hebe ab. Am anderen Ende der Leitung meldet sich Antonio. Er redet sehr schnell.
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5 »Phil will nicht mir dir sprechen«, lüge ich. »Es hat keinen Zweck, noch mal anzurufen.« »Warte! Leg nicht auf!« Er klingt ziemlich verzweifelt. Gut so. »Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, sie in so eine Lage zu bringen? Hast wohl Schiss gehabt, dass dir dein Vater draufkommt.« »Lass meinen Vater aus dem Spiel, Vito.« »Viktor, du Scheißhaufen. Quatsch mich nicht noch mal an wie einen deiner Makkaronis.« Hey, meine Roadmovie-Stimme funktioniert ja schon wie geölt. Obwohl, Makkaronis nähme ich gerne zurück, das ist kein Wort für die Gegenwart. Mafiaschwuchtel wäre besser. Oder Mafiawracks? Nein, zu schwer auszusprechen. Er überlegt. »Wo seid ihr?« »Nicht in deiner Nähe. Reicht das?« »Komm schon, lass die Heimlichtuerei. Keine Angst, du kannst frei sprechen. Das Handy ist sauber. Was ist mit der Leiche passiert?« Das würde er wohl gern wissen. Ich stelle mir vor, wie kleine Schweißtröpfchen aus der Haut über seiner Oberlippe austreten. Er fährt mit der Zunge darüber, prüft den salzigen Geschmack, wartet. »Nichts«, antworte ich. »Was heißt das?« »Sie ist an einem sicheren Ort, mehr brauchst du nicht zu wissen. Hast dich ja fein aus der Sache rausgehalten.«
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»Das war ’ne Kurzschlussreaktion. Ich hab den Kopf verloren. Sag mir, wo ihr jetzt seid, und ich kümmere mich um alles.« »Wenn du dich um etwas kümmerst, könnte ich ja gleich eine Annonce aufgeben: Fragmentarisch erhaltener Drogendealer aus dem Raum Frankfurt sucht letzte Ruhestätte. Nee, Tony, bisher sind wir ganz gut alleine klargekommen. Und das kann ruhig so bleiben.« »Jetzt hör mal zu. Ich glaube, du übernimmst dich bei dieser Geschichte. Du hast doch keine Ahnung, wie man bei so etwas … vorgeht. Du bist ’n Knipser, das ist nicht dein Ressort. Warum hältst du dich nicht einfach raus? Überlass mir die Drecksarbeit, ich weiß, was zu tun ist.« Dem geht der Arsch ja richtig auf Grundeis. Ich bin sicher, dass an Musti noch jede Menge Tony-DNS dran war, als er in Flammen aufging. Bestimmt besitzt die Polizei ein hübsches DNS-Profil des gesamten Remo-Clans, aus dem sie einwandfrei schließen kann, dass Tony zu La Famiglia gehört. Genetik ist klasse. Dadurch stirbt die Erbsünde nicht aus. Jetzt eine Robert de Niro-Stimme. Wenn er Vito haben will, soll er ihn kriegen. »Du hast Phil hängen lassen. So etwas macht man nicht, Junge.« »Ich versprech dir, dass ich sie ab sofort in Ruhe lasse. Sie hat sowieso Schluss gemacht wegen dieser Aktion. Ich wollte sie da nicht mit reinziehen.« »Und das wirst du auch nicht. Das Gespräch ist beendet. Geh wieder spielen, Tony.« Ich breche die Verbindung ab, lege das Handy zurück auf den Tisch und notiere mir Tonys Nummer, die noch auf dem Display angezeigt wird. Gerade rechtzeitig, denn Phil kommt zurück. Hat sie gesehen, wie ich telefoniert habe? Besser, ich sage ihr gleich die Wahrheit. Sonst kommt sie noch auf den Gedanken, diesen Verlierer zurückzurufen. »Tony hat sich gemeldet.« Ich deute auf das Handy. 27
Sie schaut mich misstrauisch an, lässt das Telefon in ihrer winzigen Handtasche verschwinden und hängt sie zurück an ihre Stuhllehne. »Und? Was wollte er?«, fragt sie so beiläufig, als ob sie das gar nicht interessieren würde. »Er macht sich Sorgen wegen Musti. Ich hab ihn zappeln lassen.« Sie lächelt, zum ersten Mal richtig, seit wir zusammen unterwegs sind. »Weiß er, dass du …« Ich schüttle langsam den Kopf. »Gar nichts weiß er, nicht einmal, wo wir sind. Und wenn es nach mir geht, bleibt es auch dabei. Der würde uns hier gerade noch fehlen.« »Danke, Paps.« Sie lehnt sich vor und tätschelt meine Hand. In einer Art Science-Fiction-Transfer überträgt sich eine Ladung ihrer Jugend auf mich. Deine Kraft zu meiner Kraft. Sie könnte das ruhig öfter machen. Dann fügt sie hinzu, mehr für sich: »Ich will Tony nie wieder sehen, niemals. Das war das Letzte, was ich für ihn getan habe.« »Vergiss das Ganze so schnell wie möglich. Wir haben die Situation unter Kontrolle, das ist das Wichtigste. In ein paar Jahren lachen wir drüber.« »Als ob es so einfach wäre.« »Es ist so einfach. Nur Tony macht es kompliziert.« Jetzt meldet sich mein Handy. Ich mache eine entschuldigende Geste und gehe ran. Eine raue Stimme meldet sich, direkt aus der Osteuropa-Sektion der Hölle, von der ich annehme, dass sie da unten den halben Laden einnimmt. Es ist Gwizdek. Er sagt, dass er auf dem Weg sei. Ob der Termin morgen in Ordnung gehe. Ich bejahe. »Warum nennt man dich eigentlich die Pfeife?«, frage ich ihn. »Hast du mal was vermasselt?« Er legt auf. Phil zieht die Augenbrauen hoch. 28
»Morgen treffen wir … eine Kontaktperson, um den Shit zu verkaufen«, erkläre ich ihr. »12 Uhr, auf der Piazza dei Miracoli. Das heißt, ich treffe ihn. Du hast nichts damit zu tun.« »Du willst das Zeug verkaufen?«, fragt sie ungläubig. »Warum nicht? Von dem Geld machen wir uns eine schöne Zeit. Etwas Luxus täte uns beiden ganz gut.« Von meinen Schulden bei Jerzy erzähle ich ihr lieber nichts. »Du meinst, dir täte er gut. Dir und deinem Selbstwertgefühl. Am besten wäre es, den Shit einfach wegzuwerfen. Bringt nur Unglück.« »Warum hast du ihn dann mitgenommen?« »Schon mal was von Corpus Delicti gehört, Paps? Verbrenn den Kram, oder schmeiß ihn in den Fluss, da gehört er hin.« »Glaub mir, es ist keine große Sache. Mein Abnehmer ist absolut vertrauenswürdig. Es geht ganz schnell: Du steigst den Schiefen Turm hoch, genießt die Aussicht, und bis du wieder unten bist, ist alles längst über die Bühne gegangen. Das macht uns finanziell unabhängig.« »Drogengeld macht uns unabhängig?«, fragt sie zweifelnd. »Wenn man es richtig anpackt. Und sag nicht Drogen, das klingt so spießig.« »Oh Gott, weißt du, wie du dich anhörst? Wie Edith, wenn sie zu viel getrunken hat.« »Jetzt halt mal die Luft an.« Ich lasse mir ja einiges von Phil bieten, aber mit meiner Mutter verglichen zu werden, geht entschieden zu weit. Bin ich Prince Fucking Charles? »Mach doch, was du willst.« Sie steht abrupt auf. »Ich gehe jetzt in die Stadt.« »Aber ich dachte –« »Wir sehen uns morgen.« Damit verlässt sie das Restaurant. Als sie an dem Kellner vorbeikommt, verbeugt er sich vor ihr. Sieht irgendwie japanisch aus, gar nicht europäisch, eine 29
Ehrbezeugung. So sollten wir alle miteinander umgehen, alles eine Frage des Respekts, egal, was wir innendrin denken. Sie wirft ihm ein paar Worte zu und lässt ihn dann stehen. Er wirkt verdutzt, setzt aber sofort wieder eine undurchdringliche Miene auf wie die Models in den Parfum-Anzeigen. Kein idealer Anfang, denke ich, aber das wird schon. War alles ein bisschen viel für sie. Für wen wäre es das nicht? Wenn mir mit sechzehn das passiert wäre, was Phil in den letzten vierundzwanzig Stunden durchgemacht hat, wären meine lebenserhaltenden Systeme ab einem gewissen Punkt vermutlich einfach vom Netz gegangen. Motorik, Atmung, Gehirntätigkeit – alles hätte selbsttätig auf Stand-by geschaltet und gewartet, bis einer die Maus bewegt und der Prozessor wieder hochfährt. Dagegen wirkt Phil, als ob sie völlig klar im Kopf wäre, Herrin all ihrer Sinne. Warum war ich das nicht früher? Warum habe ich unablässig den Eindruck, erst jetzt, nach bald vier Jahrzehnten, das Wichtigste von dieser Welt kapiert zu haben? Hätte das, bitte schön, nicht schneller gehen können? So wie es aussieht, habe ich ein paar Tage, vielleicht sogar ein paar Wochen Zeit, um Phil davon zu überzeugen, wieder zu mir zu ziehen. Ich glaube, dass es genau das ist, was sie sich wünscht. Deswegen hat sie sich auch mit Tony eingelassen. Er taugt zwar nichts, aber er hat eine Familie, mit allem, was dazugehört. Sie feiern gemeinsam Festtage, halten zusammen, umarmen sich andauernd, nicht auf diese unverbindliche Hallöchen-Art, sondern richtig. Das ist es: Verbeugen und umarmen, mehr will man doch gar nicht, das reicht schon, um einigermaßen aufrecht durchs Leben zu gehen. Na ja, vielleicht braucht es noch ein paar Übungen für die Rückenmuskulatur: Auf einem Bein stehend werden die Hände nach vorne und das andere Bein nach hinten weggestreckt. Arm, Rumpf und Bein bilden eine diagonale Linie. Hände einige Zentimeter anheben und den Po kräftig anspannen. Spannung halten und gleichmäßig weiter atmen. Nach ca. zehn Sekunden die Seite 30
wechseln. Der Erfolg wird sich schneller einstellen, als Sie erwarten. Ich nehme mein Weinglas und gehe an die Bar. Offenbar bin ich der letzte Gast des Restaurants. Nachdem der Kellner unseren Tisch abgeräumt hat, löscht er das Licht und folgt mir in den Barbereich. Dort sitzen bereits einzelne Leute, jeder für sich. Einige haben ihren Laptop aufgeklappt, können nicht lassen von den bunten Internet-Bildchen, die mit Verzögerung aufpoppen, je nach Datenmenge und Ladezeit. Zuerst erscheinen unzählige Werbebanners und Das-musst-du-unbedingt-auchnoch-anklicken-Animationen. Das ist, als ob man mit jemandem sprechen würde, der vor jedem Satz erst mal weitschweifig ausholt, dabei die Brille zurechtrückt, den Sitz des Jacketts checkt und einen nicht eher zu Wort kommen lässt, bis er alles losgeworden ist, was ihm auf einer Verkäufer-Schulung eingebläut wurde. Und es wiederholt sich vor jedem neuen Satz, auf eine uneffektive, selbstverliebte, zwanghafte Weise, wahrscheinlich, damit die Auftraggeber der Website sehen, dass sie etwas kriegen für ihr Geld. Nach einiger Zeit nimmt man diesen Dialog zwischen den Dienstleistern gar nicht mehr wahr. Tomorrow wirbt für Amazon wirbt für Shell. Die plustern sich da auf, werfen sich in Pose, während man selber in diesem Limbus zwischen analoger und digitaler Welt festhängt, unfähig, etwas anderes anzufangen als höchstens einmal vom Glas zu nippen oder die Glieder zu recken, Internetgymnastik eben. Der Kellner heißt Francesco. Er ist doch nicht so übel, wie ich gedacht habe, jetzt, wo Phil ihn nicht mehr nervös macht und ich ihm einen Aperol Sun ausgebe, das Gleiche, was ich trinke. Natürlich ist er jünger als ich, vielleicht 25, so alt, wie ich war, als Sill – aber lassen wir das für den Augenblick. Durch Francescos auf Figur geschnittenes weißes Hemd erkenne ich, dass sein Oberkörper auftrainierter ist als meiner. Doch wenn er schnell mal ein paar Flaschen aus den oberen Barregalen holen muss, verrät mir das rasche Heben und Senken seines 31
Brustkorbs, dass es mit seiner Kondition nicht zum Besten steht. Wahrscheinlich braucht er für einen Kilometer eine Zeit, die ich für meine Regenerationsläufe ansetze. Auf seinen Body Mass Index wirken sich die vielen Muskeln sicher nicht gut aus. Außerdem trägt er lächerlich weite Hosen. Giorgio Armani? Das kann doch nicht mehr Mode sein, Francesco. Oder hast du am Ende dicke Beine? Wir stoßen mit unseren Drinks an, reine Fitnesspower mit hübsch Alkohol. Aperol Sun oder Caipirinha oder Mojito, das sind ganz andere Drinks, als früher schick waren. Martini Dry, von dem Mies van der Rohe angeblich 52 am Tag geschluckt hat, gehört zum Beispiel in Kriegszeiten – hart, bitter, schnell wegzukippen. Brandy Alexander – ein Sahnehammer für die tuntigen Twenties. Zombie wurde in den 80-ern erfunden. Da ist von allem etwas drin, und der Name klingt so gesucht selbstironisch. Dagegen steht ein Aperol Sun uneingeschränkt für die Gegenwart. Fängt schon beim Namen an, der sich nicht mal mit irgendwelchen Ethno-Anspielungen wie Caipirinha aufhält: Produktbezeichnung einer charakteristischen Zutat (Aperol) plus das unverbindliche Sun, das an allem dranhängen könnte, Hauptsache es klingt positiv. Mal sehen, was sonst noch enthalten ist: Wodka, das ist ehrlicher Alkohol ohne einen besonderen Geschmack, eine solide Basis. Dann die Vitaminbomben, die dem Kater schon von vorneherein ein Schnippchen schlagen: Zitronensaft, Grapefruitsaft, Maracujasaft, wie Europa, Amerika und Asien, eine CrossoverMischung, global und praktisch zugleich, weil man die Früchte überall und zu jeder Jahreszeit kriegen kann. Fehlt nur noch Koffein. Dafür könnte man Guarana-Pulver nehmen. Ich schlage es Francesco vor. Er ist ganz begeistert, obwohl das sicher nichts für die Hotelbar ist, da wollen die Leute nur absacken und nicht noch mal aufgeputscht werden, wozu auch? Ich tippe Tonys Nummer in mein Handy ein, ein funkelnagelneues silbernes Siemens SL 45 mit integriertem 32
MP3-Player. Über das Headset höre ich Utopia von Alison Goldfrapp. I forget who I am, when I’m with you – das bin ich. I’m super brain that’s how they made me – das ist Phil. Nur wen Alison mit fascist baby meint, ist mir nicht ganz klar. Ein Finger tippt mir auf die Schulter. Ich drehe mich um und sehe, wie sich Lippen in einem Frauengesicht bewegen. Es wird von langem, im Nacken zusammengebundenem schwarzem Haar eingerahmt. Erinnert mich an Nofretete und die Aliens von Roswell, was ohnehin auf dasselbe hinausläuft. Sie trägt ein dunkelblaues Business-Kostüm, aber ohne ein Top unter dem Blazer. Während ihr Mund Worte formt, mustert sie mich von oben bis unten, bis ihr Blick auf dem Handy haften bleibt. Neue Technologie ist in bestimmten Kreisen so unwiderstehlich, spricht so für sich selbst, dass man sich viel überflüssige Konversation sparen kann. Schließlich nehme ich das Headset ab. »Was hören Sie da?«, fragt sie auf Deutsch. Warum deutsch, ist man denn nirgends sicher? Ach ja, Siemens hat mich verraten. Sie hat den Laptop, der vor ihr auf dem Tresen liegt, gerade erst zugeklappt. Ich ziehe ihren Kopfhörerstecker aus dem Port und stöpsele ihn in die Schnittstelle meines SL 45 ein. Francesco schaut mich fragend an. Ich nicke mit den Augen, und er stellt ihr einen Aperol Sun hin. Ihr Kopf bewegt sich im Rhythmus der Musik, beschreibt eine liegende Acht in der Luft, wie das mathematische Zeichen für unendlich. Als Utopia zu Ende ist, erkläre ich ihr den MP3-Player, dessen Funktionen ich selbst noch kaum kenne. Sie hört interessiert zu. Ich reiche ihr das Handy. Sie drückt auf den Tasten herum, gibt es mir zurück. Dann fragt sie mich, wie mir Pisa gefällt. »Keine Ahnung«, antworte ich. »Hab noch nichts von den Sehenswürdigkeiten gesehen.«
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Sie lacht, sagt, dass es ihr genauso gehe. »Mir fehlt einfach die Zeit. Bin gerade dabei, eine Gaultier-Modenschau für morgen Abend zu schedulen.« Den gibt’s noch? »Mögen Sie Goldfrapp?«, frage ich. »Oh ja, tolle Stimme. Haben Sie das ganze Album?« »Klar.« Ich gehe wieder in den MP3-Modus und spiele die anderen Lieder ab, die ich gespeichert habe. Bei dem dritten, Human, trinkt sie ihren Aperol Sun in einem Zug aus. Sie nimmt das Handy und springt ein paar Liedzeilen zurück. Dann dreht sie voll auf: Pass me through your fingertips, throw me down like an old rag, I’m not standing, don’t look back. Sie drückt auf Stop, nimmt ihren Laptop vom Tresen und bedeutet mir mitzukommen. Später, als wir noch eine Weile erschöpft an die Decke starren, verirrt sich ihre Hand in meine. Ich registriere, wie weich ihre Haut noch ist, an den Fingerkuppen, um die Nägel herum, an den Knöcheln, auf dem Handrücken. Daran kann man das wahre Alter der Menschen erkennen. Zumindest habe ich noch nicht davon gehört, dass die plastische Chirurgie auch Hände verjüngt. Gut, bis zu einem gewissen Grad gleichen Pflegemittel und Maniküre den Alterungsprozess aus. Aber man kann es fühlen, ob bestimmte Hautpartien regelmäßig behandelt werden oder ob sie noch von Natur aus so sind. Die Weichheit ist anders, trockener, ohne Fettfilm. Die Hände der Goldfrapp-Frau sind meiner Schätzung nach 25. Ich hatte in der letzten Zeit wenig Gelegenheit, solche Hände zu berühren. Auch jetzt tue ich es nur widerwillig – zu viel Intimität. Also ziehe ich meine Hand zurück und lasse sie auf dem dünnen Laken liegen. Es fühlt sich so wundervoll fremd an, als wäre es noch nie zuvor von jemandem berührt worden. Ich höre sie atmen. Schwer zu sagen, ob sie schläft. Vielleicht ist sie wach und macht das Gleiche wie ich: warten, dass der 34
andere einschläft, damit man nichts sagen muss. Warten auf das Schweigen nach dem Schweigen, ohne den Hauch eines Gefühls. Warten auf sich selbst, auf das Ich, das nie da ist, wenn man mal Zeit für es hat. Aber dafür sind ihre Atemzüge zu unregelmäßig. Sie denkt irgendetwas. Ist sie noch da, wo sie liegt, oder an einem geheimen Ort, den nur sie kennt? Wo spielt dein Traum, Goldfrapp-Frau? Ich könnte ihr sagen, wo meiner spielt. Nicht auf der Erde, das ist schon mal klar, sondern in einer Stadt, hoch oben in der Stratosphäre. Sie fliegt ein wenig langsamer, als die Erde rotiert. Ich nenne sie The Airs. Sie ist noch im Entstehen, aber man erkennt schon, dass sie sehr schön werden wird. Die Tage dauern etwa zwei Stunden länger dort, genau die Zeit, nach der man sich immerzu sehnt und die man in The Airs den Leuten auf der Erdoberfläche voraus ist. Pro Jahr ergibt das einen ganz schönen Gewinn. Allerdings müssen die Bewohner eine unumstößliche Regel befolgen: Man darf die beiden zusätzlichen Stunden nicht dazu benutzen, sich einen, sagen wir, persönlichen Vorteil zu verschaffen. Das heißt, man darf nicht mehr für sich arbeiten, nicht mehr Informationen aufnehmen, nicht mehr entspannen etc., sondern muss sich an der Verschönerung der Stadt beteiligen, wie bei Sim-City. Das klingt kommunistisch, ich weiß, aber so, wie ich es mir ausmale, entspricht es mehr dieser südeuropäischen Spaßversion des Kommunismus, bei der alle gut drauf sind, Revolutionslieder singen und sich vorstellen, am selben Strang zu ziehen. Fröhliche Menschen mit einer gemeinsamen Idee – warum nicht? Alles ist möglich dort oben. Ich arbeite ständig daran. In Momenten wie diesem reise ich zu The Airs. Gerade baue ich an einer Acryl-Wasserröhre, die sich an den Rändern der Stadt entlangwindet, eine Art Aussichtsröhre, durch die man sich schwimmend bewegen oder einfach treiben lassen kann, wie auf dem Toten Meer, weil ich die Dichte des Wassers chemisch verändert habe. Schwimmen ist eigentlich nicht so 35
mein Ding, aber Sill mochte es gern. Sie war eine ausdauernde Schwimmerin, nicht so ungeduldig wie ich. Deswegen denke ich, dass so eine Röhre doch etwas für The Airs wäre. Man könnte vor sich hin paddeln, auf die Flugzeuge und die Wolken und vielleicht sogar auf den Planeten heruntersehen, je nachdem, wie hoch die Stadt gerade fliegt und wie dicht die Wolkendecke ist. Man würde seinen Körper ein wenig vergessen können. Ihre Finger wandern an mir hoch, ganz leichte, tastende Spinnenschritte, sehr zärtlich auf eine gewisse Art. Am Hals halten sie inne. Ihre andere Hand kommt hinzu, fährt behutsam über meinen Kehlkopf, erkundet die Haut, fährt über ein paar Bartstoppeln, umfasst schließlich meine Kehle. Einen Wimpernschlag lang drückt sie zu, ziemlich fest, so stark, wie ich es nicht erwartet hätte. Ich rühre mich nicht, erstarre, warte auf etwas, was nicht passiert. Wenn sie länger zudrücken würde, bekäme ich keine Luft mehr, müsste röcheln, husten, erwachen. Soll ich mich wehren? Was würde das bringen? Plötzlich sind ihre Hände wieder weg, streichen kaum merklich über meine Brust und verschwinden im Dunklen, als ob sie nie da gewesen wären. Lautlos schöpfe ich Atem. Ihr Schatten gleitet vom Bett. Sie geht im Lichtschein der Nike-Reklame von gegenüber zum Schreibtisch, auf dem sie ihr Laptop abgestellt hat. Sie schiebt ihn beiseite, setzt sich. Etwas raschelt, vermutlich das Briefpapier des Hotels. Dann scheint sie etwas zu schreiben. Ich beobachte, wie sich ihre Silhouette über die Tischplatte beugt, verharrt. Sie ist nicht so dünn wie Phil, sondern femininer, hat mehr Rundungen an den Armen und um die Hüfte. Ihr Haar fällt auf Brüste, die mich vorhin an MiniMatchsacks erinnert haben, diese Beutel mit Schnürzug, die in verkleinerter Form als Handtaschen in Mode sind. Als sie den Kopf in meine Richtung dreht, schließe ich schnell die Augen. Sie soll nicht sehen, dass ich sie beobachte. Dann höre ich, wie der Kugelschreiber über das Papier kurvt. Sie schreibt etwas auf. 36
Schließlich erhebt sie sich und geht ins Badezimmer. Das Rauschen der Dusche. Ich widme mich wieder The Airs, leite die Wasserröhre in ein Bassin, das ich mir so groß wie einen Gebirgssee vorstelle. Auf die Acrylwände werden im Stundentakt verschiedene Landschaften projiziert: die Bebauung um den Central Park, die Kagoshimabai im Süden von Kyushu, der alte AssuanStaudamm, Vulkane am Atitlánsee in Guatemala, das LassiterFilchner-Schelfeis in der Antarktis, alles von der jeweiligen Wasserfläche aus gesehen. Ich bin mir sicher, dass es so etwas längst in Japan gibt, aber trotzdem ist der Gedanke reizvoll. Und erweiterbar: Was wäre es für ein Gefühl, neben der untergehenden Titanic im Wasser herumzuplantschen? Oder im Bikini-Atoll während der Atom-Tests? Das wäre doch etwas für die Japaner. Konfrontationstherapie. Muss mir die Idee später notieren. Sie kommt aus dem Badezimmer, ihr nasses Haar fließt an ihrem Körper herunter wie Bootslack. Mit spitzen Fingern hebt sie ihre Kleider vom Boden auf, schlüpft hinein und nimmt ihre Riemchenschuhe in die Hand. Dann holt sie ihren Laptop und verlässt mit raschen Schritten mein Zimmer. Kurz kommt es mir so vor, als ob sie immer noch am Schreibtisch säße. Aber es ist nur die Leuchtreklame, die auf ein anderes Bild umgeschaltet hat. Ich frage mich, warum ich mir das SL 45 nicht schon früher gekauft habe. Schließlich ist es bereits seit ein paar Monaten auf dem Markt. Was Kommunikationstechnologie betrifft, sollte man keine Sekunde zögern, seine Verbindung zur Welt auf den neuesten Stand zu bringen. Immer alle Kanäle offen halten, alle Möglichkeiten ausschöpfen, bereit sein. Leute, die ihr Handy ausgeschaltet haben oder vergessen, es aufzuladen, sind für unsere Welt verloren. War es etwa Goldfrapp? Das richtige Lied zum richtigen Zeitpunkt? Manchmal ist das so. Lieder sind starke Drogen. Gar 37
nicht so einfach, damit umzugehen. Wenn einen ein Lied richtig packt und man immer wieder die Wiederholungstaste betätigt, ist das wie bei einem Medikament, das man sich selbst per Knopfdruck verabreicht. Krebspatienten im Endstadium dürfen das mit Morphinen machen. Sie drücken auf einen Knopf und alles wird für ein paar Minuten wieder gut. Habe ich sie in einer dieser Phasen erwischt, in denen sich ein Schwächeanfall an einen heranschleicht und man kurz davor ist, sich vollkommen und dieses Mal endgültig aufzugeben? Bin ich Stresstherapie?
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6 Und wenn’s nicht das war, was dann? Komisch, denke ich, als ich mein drittes Set Liegestütze mache, normalerweise geht das bei mir nicht so schnell mit Hallo-Sex-und-kein-Abschied. Aber schlecht war es nicht, effizient jedenfalls, und aufgrund unseres Schweigens sogar ein wenig romantisch. Selbst ihre Hand an meiner Kehle war irgendwie romantisch. Manchmal mag ich das. Mit den Armen so weit vom Boden abdrücken, dass sich der Körper etwa eine Handbreit vom Boden abhebt. Ellenbogengelenk nicht ganz strecken, damit die Brustmuskulatur nicht entlastet wird. Dann wieder langsam zur Ausgangsstellung zurück. Ich richte mich auf, kicke ihre benutzten Handtücher in eine Ecke des Badezimmers, in dem man auch gut eine Redaktionskonferenz abhalten könnte, und stelle mich unter die Dusche. Einzelne Wassertropfen hängen noch an den Acrylglaswänden, am Boden kleben ein paar Schamhaare. Es riecht nach dem hoteleigenen Waschgel, bis der Duft meiner Donna Karan-Herrenserie die Kabine ausfüllt und schließlich alles durch den Abfluss weggurgelt. Nachdem ich mich fertig gemacht habe – weiße Baumwollhose, schwarzer Rolli, als Phil mich anrief, konnte ich noch ein paar lebensnotwendige Sachen einpacken – fällt mir die Notiz der Goldfrapp-Frau wieder ein. Ich gehe zum Schreibtisch. Auf dem Blatt Papier mit dem Briefkopf des Hotels steht eine Handy-Nummer, darunter der Satz: Wie soll man da oben atmen können? Atmen? Da oben? Sie meint wohl The Airs. Bin ich weggedöst und habe im Schlaf geredet? Nicht, dass ich wüsste. Woher weiß sie dann, was in meinem Kopf vorgeht? Wie hat sie das gemacht? Vielleicht habe ich doch etwas gesagt, als wir 39
nebeneinander auf dem Bett lagen, habe etwas vor mich hin gemurmelt wie ein Tattergreis, der die Worte nicht mehr halten kann. Vielleicht sollte ich mir für solche Fälle einen Knebel besorgen. Ohrstöpsel, Schlafmaske, ein handlicher Knebel und am besten noch ein Urin-Kondom – so kommt man zu einem erholsamen Nachtschlaf. Ich speichere die Handy-Nummer vorsichtshalber ab und setze meine Gucci-Brille auf, um auf der Frühstückterrasse eine gute Figur abzugeben. Ohne diese Brille würde ich das alles hier nicht machen. Ich habe sie vor einer Woche bei einem Optiker gestohlen. Ein tolles Gefühl, es war das teuerste Modell in dem Ständer, was die Verkäuferinnen allerdings nicht dazu anhielt, ihren gelangweilten, einem eingesunkenen Pfannkuchen nachgeformten Feierabendgesichtern zumindest den Anschein von Kundenfreundlichkeit zu geben. Ich habe mir die Brille einfach genommen, aufgesetzt und bin weggegangen, so wie man sich eine Gratisprobe des neuesten Cola-Derivats im Supermarkt schnappt und gleich an Ort und Stelle leertrinkt. Danach habe ich mir auf der Straße gedacht: Mit so einer Brille musst du mal was Neues anfangen, hatte aber keine Ahnung was, wie das eben so ist, wenn man nur vage ahnt, dass sich der nächste Persönlichkeitszyklus anbahnt und man so eine Art Beta-Ich mit sich herumschleppt, das noch auf die Markteinführung wartet. Als sich Phil dann gemeldet hat, wusste ich: Diese Gläser sind für meine neuen Augen gemacht. Als ich an Phils Zimmer vorbeikomme und an der Tür klopfe, regt sich nichts. Auch gut. Ich fahre mit dem Lift bis zum Dachgeschoss, zeige meinen Zimmerschlüssel vor und werde von einer dort Wache stehenden Hotelangestellten begrüßt wie ein lange verloren geglaubter Verwandter. Schnell, Viktor ist zurück, holt den Hummer aus dem Bassin und feiert ein Fest! Gefällt mir, obwohl ich jetzt gar nichts essen kann. Sie führt mich zu einem Tisch, an dem Phil ihren Kopf bereits in eine Oggi steckt und den neuesten Klatsch studiert. 40
»Alles in Ordnung?« »Hm-mm.« Phil beißt ein Stück von ihrem Dolce ab und spült mit einem Schluck Caffè Latte nach. Ich bedeute dem Kellner, einem Klon des Aperol-Sun-Mannes von gestern Abend, mir das Gleiche zu bringen. Ein Lichtgeschwindigkeitsgriff an die Gucci-Brille – alles korrekt. Ich sehe mich um. Drei Tische weiter sitzt die Goldfrapp-Frau, wieder oder immer noch in ihrem Business-Look. Sie winkt mir einmal kurz zu, ein Auktionsgebot, wenn die Versteigerung noch ganz am Anfang steht und der Preis ganz niedrig ist. Ich tue so, als ob ich es nicht gesehen hätte. Aber Phil hat es bemerkt. »Na, hast du hier schon Freundschaft geschlossen?«, fragt sie, ohne zu der Frau hinüberzusehen. »Flüchtig«, antworte ich und gebe Süßstoff in den Caffè Latte, den mir der Kellner hinschiebt. »Wie war’s bei dir?« »Ist spät geworden.« Sie gähnt ein wenig, hält die Hand vor den Mund. »Nichts Besonderes.« So viel zum neu geschmiedeten Vater-Tochter-Verhältnis. Da sind wir uns ja schon sagenhaft näher gekommen. »Tony wartet in der Lobby«, sagt sie langsam. »Hab ihn gesehen, als er an der Rezeption stand.« Tony? Wie das denn? Ich bin alarmiert. »Hat er dich gesehen?« »Nein, aber er weiß, dass wir hier abgestiegen sind. Woher, frage ich mich.« Sie schaut mich an wie Christina Ricci, wenn sie eine missratene Göre spielt. »Du hast gestern mit ihm gesprochen.« »Du denkst doch nicht, dass ich ihm verraten hätte, wo wir sind?« »Aber wie kommt er in die Lobby? Er muss irgendwas mitgekriegt haben.«
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Plötzlich fällt mir etwas ein. Ich checke mein Handy, auf dem die Goldfrapp-Frau gestern an der Bar wahllos rumgedrückt hat. Ich kann nicht fassen, was ich auf dem Display lese. Die Rufliste zeigt an, dass ich mit TONY gesprochen habe. Zweifelsfrei. Offenbar bestand eine Verbindung, während wir uns kurz über – Pisa unterhalten haben. Viktor, du Schwachkopf! »Muss ein Versehen gewesen sein«, entschuldige ich mich. Tony scheint doch etwas auf dem Kasten zu haben. Wahrscheinlich hat er alle Hotels in Pisa durchtelefoniert, bis er uns im La Luna gefunden hat, und ist dann die Nacht durchgefahren. Unerwartet hartnäckig. Ich erzähle Phil von meiner Vermutung. Jetzt dreht sie sich doch zu der Goldfrapp-Frau um, die ihr kaum merklich zunickt. »War sie das wert?«, fragt sie mit ehrlichem Interesse. »Sei nicht so herzlos. Sie kann nichts dafür.« Phils Aufmerksamkeit wird von drei jungen Männern abgelenkt, die gerade, man kann es nicht anders sagen, auf die Terrasse schreiten. Wie die einen Fuß genau vor den anderen setzen, sind das eindeutig Laufstegbewegungen, von der Designer-Couture, die sie tragen, mal ganz abgesehen. Sie setzen sich an den Tisch der Goldfrapp-Frau, begrüßen sie unterkühlt. Richtig, die Gaultier-Modenschau. »Wir dürfen ihm auf keinen Fall über den Weg laufen«, sagt Phil und trinkt ihren Caffè Latte aus. »Aber das kriegen wir hin. Da unten in der Lobby ist ’ne Menge los. Und vor dem Luna auch. Ich hab mal aus dem Fenster gesehen. Die demonstrieren gegen irgendwas.« »Gegen Gaultier, nehme ich an.« »Gegen wen?« »Den Modeschöpfer«, erkläre ich. »Oder gegen Globalisierung, Luxus, Verschwendungssucht. In Italien kommt 42
mir das zwar etwas seltsam vor, aber in Pisa halten sich immer viele Amerikaner auf. Für die ist das ein bisschen Abwechslung.« »Ist doch klasse. Dann mischen wir uns unter die Demonstranten und hängen Tony ab. Das Gepäck und den Wagen können wir uns irgendwohin schicken lassen.« »Ich weiß nicht, ob das so einfach klappt.« Bei dem Gedanken, in einer Menschenmenge unterzutauchen, wird mir unwohl. Nichts gegen eine politische Meinung, aber können wir Tony nicht etwas eleganter ausweichen? Ohne den Atem und den Achselschweiß fremder Überzeugungen riechen zu müssen, ohne uns, wenn auch nur kurz, ihnen anschließen zu müssen? »Warte mal, ich hab eine Idee«, sage ich, stehe auf und gehe zum Tisch der Goldfrapp-Frau hinüber. Die Models bewegen kaum den Kopf. Sie werfen mir Titanblicke zu, als ob ihre Kinne mit NASA-Technologie gehärtet worden wären und ihre Seelen gleich mit dazu. Ein kurzer Check der Runde sagt mir, dass hier schon mehr Fitnessstudiostunden beieinander sitzen, als ich je in der Lage sein werde abzureißen. Diese Männer sind ihre Körper, seit ihnen jemand zum ersten Mal gesagt hat, sie sähen aus wie Johnny Depp. Ich frage mich, ob sie so gut wie Musti brennen würden. Viele Metallteile, nehme ich an, unzerstörbare Gebisse, ansonsten aber fast nur organische Materialien. Kunstfasern lassen die gar nicht erst an sich heran, selbst wenn sie wieder mal in Mode sind. Die würden dann Kaschmir tragen, der so aussieht wie Polyester, der so aussieht wie Kaschmir. Rückstandsfrei, denke ich. Ihre Sonnenbrillen würden bei einer Spontankremierung zu porösen Kugeln zusammenschmelzen, mit denen man dann Boccia spielen könnte. »Hallo«, begrüße ich die Frau, deren Namen ich immer noch nicht kenne. Ich nehme die Sonnenbrille ab und blinzele in die Vormittagssonne. Kontaktaufnahme, hallo, da bin ich, keine Show, was sind wir erwachsen. 43
»Schön, dich zu sehen«, antwortet sie. »Viktor«, rutscht mir mein richtiger Name heraus. Warum nur? Muss unbedingt vorsichtiger werden. »Lidia.« Sie reicht mir über den Tisch hinweg die Hand, betont das erste i ihres Vornamens. Die Models machen keinen Mucks, schweigen, wie es ihnen beigebracht wurde. Wahrscheinlich versuchen sie, mich irgendwo in ihrem FashionFilm-Party-Raster unterzubringen. Ich ergreife ihre Hand und halte sie einen Moment länger fest als üblich. »Deine Tochter?« Sie nickt zu Phil hinüber. »Ja«, gebe ich zu. Ist das so offensichtlich? »Kann ich kurz mit dir sprechen …, Lidia?« Ich deute Richtung Lift. Sie zieht die Augenbrauen hoch. »Ich hab nicht viel Zeit.« »Dauert nicht lange.« Sie erhebt sich und wir gehen von den Hotelgästen weg, bis wir in einer ruhigen Ecke angelangt sind, wo noch niemand Platz genommen hat. Die Hotelangestellte entfernt sich diskret. Wir stehen am Rande des Dachgartens, ich lehne mich über das Geländer. Unten auf der Straße skandiert ein Menschenauflauf irgendwelche Parolen. Es ist immer nur ein Menschenauflauf, der irgendwelche Parolen skandiert. Ich fummele eine Packung MS hervor, biete ihr eine an, gebe uns Feuer. Wir nehmen ein paar Züge. Schön, diese Rituale, sehr zivilisiert, sehr sicher, angenehm, den gleichen Rauch in den Lungen zu spüren. »Letzte Nacht«, fange ich an und suche nach Worten. »Das war –« »Ist schon in Ordnung.« Sie macht eine wegwerfende Handbewegung. »Es war gut.« Stimmt, über One-Night-Stands redet man nicht mehr, kleiner Rückfall in meine sexuelle Sozialisation. Mir fällt die Nachricht ein, die sie zurückgelassen hat. 44
»Dieser Zettel auf dem Schreibtisch. Woher wusstest du, was mir im Kopf herumgeht?« Sie dreht sich weg und bläst Rauch über ihre Schulter. »Das war nicht schwer zu erraten.« »Wie? Was meinst du damit?« Sie lächelt wissend. »Ich weiß es eben. Keine Angst, ich behalte es für mich. Lass es mich behalten.« Langsam legt sie eine Hand auf meinen Arm, streicht mit dem Daumen über die vom Sonnenstudio ausgebleichte Behaarung. »Bei mir ist es gut aufgehoben«, fügt sie hinzu. Ihre Berührung fühlt sich an wie eine längst in Vergessenheit geratene Geste. Irgendwann hatte diese Geste mal einen ganz bestimmten Sinn, denke ich. Du kannst mir vertrauen, etwas in der Art. Oh je, ist das lange her. Soll ich darauf eingehen? Wahrscheinlich habe ich doch im Halbschlaf geredet. Ich wische den Gedanken beiseite. »Würdest du mir einen Gefallen tun?« Überrascht schaut sie mich an. »Wenn du möchtest. Es ist nur …«, sie schaut auf ihre Armbanduhr, eine kleine Longines, die hervorragend zu ihr passt, »ich habe heute viel zu tun. Abends steigt die Modenschau am Schiefen Turm. Bis dahin bin ich voll eingespannt. Aber danach können wir machen, was du willst.« Sie schaut mich von der Seite an, fährt sich mit der Zunge über die Lippen. »Nein, das meine ich nicht.« »Bist du sicher?«, fragt sie spöttisch. »Du kannst ruhig offen zu mir sein.« Ich erzähle ihr, was ich vorhabe. Phil und ich möchten das Luna möglichst unbemerkt verlassen, und zwar sofort. Jemand, dem wir unbedingt aus dem Weg gehen wollen, warte in der Lobby. Sie habe doch sicher Zugriff auf die doppelt und dreifach vorhandene Gaultier-Collection. Da seien doch auch so 45
schwule Matrosenkostüme dabei. Damit könnten wir uns verkleiden. Mach dich auffällig, und du wirst nicht erkannt – das ist eine ungeschriebene Gaunerregel. Untertauchen in der Masse war gestern. »Das ist kein Gag, Lidia. Es ist wichtig.« Sie zögert, legt die Stirn in Falten. »Gut, ich kann das machen«, sagt sie. »Wir haben genug von dem Sailor-Look da, in einem eigenen Zimmer. Bedien dich einfach, such dir was Passendes aus. Die Models klauen auch wie verrückt, das fällt gar nicht auf. Aber als Gegenleistung bist du mir ein bisschen Glück schuldig, Viktor. Nicht nur Händchenhalten.« Ihr Blick hält mich kurz fest. »Was du willst«, sage ich, eine glatte Lüge. Ich winke die Hotelangestellte zu mir heran. Sie soll mir die Rechung aufs Zimmer schicken und veranlassen, dass der Alfa in einer halben Stunde vor dem Hoteleingang steht. »Ma volentieri«, erwidert sie und greift zu ihrem schnurlosen Telefon. »Du kommst heute Abend, abgemacht?«, fragt Lidia. »Ich bin in der Nähe des Baptisteriums, bei der Technik. Hol mich da ab.« »Versprochen.« Ich schaue zu Phil, aber sie kommt schon auf uns zu, ahnt, was da läuft, das gute Mädchen, hoch begabt eben, ganz bestimmt nicht meine Gene. Da ist ’ne Menge an mir vorbeigelaufen. Plötzlich können geliebte Menschen besser denken als man selber. Daran muss man sich erst mal gewöhnen. »Wir werfen uns in Schale«, sage ich zu ihr, »als GaultierMatrosen.« Sie überlegt kurz, lacht. »Gut, Paps, wie du meinst. Machen wir’s nach deinen Regeln.« Da ist so etwas wie Verständigung in dem Blick, den Phil und Lidia tauschen. Woran liegt das? Ich rede und rede auf mein Kind ein und komme nicht weiter. Und 46
die Goldfrapp-Frau braucht nur die Mundwinkel zu verziehen, und Phil glaubt an sie. Wir folgen Lidia zu dem Zimmer, in dem sie die GaultierCollection abgeladen haben. Die Matrosen-Klamotten ausfindig zu machen, ist leicht. Das gesamte Event scheint nur aus diesem Zeug zu bestehen. Wir suchen uns passende Sachen aus, Phil rot gestreift und ich blau, wie es sich gehört. Unter dem Käppi sieht Phil mit ihren kurzen Haaren aus wie ein noch nicht geschlechtsreifer Knabe. Sie ahmt Modelgebärden nach, dreht sich auf der Stelle. Sieht etwas unbeholfen aus, aber das macht es noch anziehender. Als wir auf unsere Zimmer gehen wollen, hält Lidia mich fest. »Du wirst mich versetzen, Viktor, das ist mir schon klar. Aber weißt du, was du da oben nicht hast? Jemanden, mit dem du durch deinen Gebirgssee schwimmen kannst. Jemanden mit Augen, die all das sehen, was du dir vorzustellen versuchst. Jemand, der mit dir durch die Glaswand herunterschaut.« Sie gibt mir einen heftigen Kuss, küsst danach auch Phil, die ihr den Mund hinhält wie eine Verhungernde. Ich rücke mein Matrosenkäppi zurecht. Eine Tätowierung wäre jetzt nicht schlecht.
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7 »Fertig?« Wir mustern uns ein letztes Mal. Meine weißen Hosen brauchte ich gar nicht erst auszuziehen, die passen zum Kostüm. Phil hat uns mit Schminke noch zwei Herzen auf die Oberarme gemalt. Eigentlich wollte sie die Herzen in der Mitte mit einem gezackten Riss versehen, aber ich riet ihr, dass sie es mit dem Kitsch nicht übertreiben soll. Tony ist tatsächlich in der Lobby. Vor ihm steht ein Drink. Er hat eine Ray Ban auf der Nase, hoffnungslos démodé. Er wirkt übernächtigt, schiebt die Brille hoch und reibt sich die Augen. Um ihn herum herrscht jede Menge Wichtigkeit. Fotografen, Journalisten und PR-Menschen tragen ihre täglichen Scharmützel aus. Phil und ich schnüren Arm in Arm durch die Halle wie Siegfried & Roy. Leute heben den Blick, sind jedoch weit davon entfernt, uns mehr als nur beiläufig wahrzunehmen. Ich registriere, wie Tony zu uns herüberschaut – und gleich darauf wieder den Lift fixiert. Wir hampeln ein bisschen herum und nähern uns dem Ausgang. Ein paar Kameras klicken sicherheitshalber. Phil wirft ihnen eine Kusshand zu und kichert, als ob sie den Hochbegabtentest unter dem Tisch ihres Schulleiters bestanden hätte. Wir haben die Hotelhalle schon fast durchquert, als uns Francesco entgegenkommt. Nach einem ungläubigen Blick erkennt er mich, schaut sich verlegen um. Er hat ein Bodybag um die Brust geschnallt, rückt es zurecht. Dann bemerkt er Phil. Er sagt etwas auf Maschinengewehr-Italienisch. Sie blafft ein paar Worte zurück, ziemlich unfreundlich, wie mir scheint. Schließlich schaut er weg und verschwindet in dem Personalbereich hinter der Rezeption. 48
Schnell gehen wir weiter. Die Schiebetüren am Eingang gleiten lautlos zur Seite. Gerade schließt ein Hotelangestellter den Kofferraum des Alfas, wo er wahrscheinlich unsere paar Gepäckstücke untergebracht hat. Das Luna hat Sicherheitskräfte engagiert. Sie bilden einen Korridor für uns, drängen die Demonstranten zurück, die vorwiegend aus amerikanischen Grunge-Relikten bestehen: überall Dreadlocks und an den Ärmeln abgeschnittene T-Shirts. Die Autonomen haben sie erst gar nicht auf Molli-Wurfweite herankommen lassen. Aufgebrachte Rufe, viel Fuck you und Piss off nichts Konkretes. Wir schlüpfen in den Wagen, in dem bereits ein Fahrer – ein Fahrer? – sitzt. Ein Farbbeutel prallt gegen das Fenster, platzt auf. Ich habe die Tür noch nicht ganz geschlossen, als der Mann am Steuer schon Gas gibt und durch wild gestikulierende Menschen pflügt. Sie meinen, uns für etwas verantwortlich machen zu müssen, was ihnen selbst nicht vollständig klar ist. Na ja, ein paar Jahre früher, und ich wäre unter ihnen gestanden und hätte zehn Filme durchgejagt. Die Leute bleiben zurück, ein paar offene Münder, Arme, die irgendwohin zeigen. Dann sind sie weg. »Dzien dobry«, sagt der Mann am Steuer und dreht sich zu uns um. »Das Wetter ist ganz hervorragend.« Er betont jede Silbe wie in einem Sprachkurs. »Gwizdek?«, frage ich ungläubig. »Tak. Anschnallen, bitte. Wohin darf ich die Herrschaften fahren?« Der Cimitero Suburbano von Pisa ist ein meditativer Ort. Eigentlich sieht er aus wie eine moderne Wohnanlage. In den Ziegelsteinquadern, in denen die Beisetzungshallen untergebracht sind, könnten auch junge Rama-Familien leben, ihre tägliche Dosis Glücksmargarine in sich hineinschmierend, ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen an Stellen, die Rama49
Mütter Problemzonen nennen. Und auf der oleandergesäumten Pinienallee könnten die Nachbarskinder Calcetto spielen, aufgefüttert mit High Energy-Riegeln zur Steigerung ihrer motorischen und kognitiven Fähigkeiten. Aber alles ist leer, bis auf die Toten in ihren weißen Marmorschubladen. Ich frage mich, ob sie in Pisa mal eine Olympiade geplant haben und hier die Athleten einquartieren wollten. Auf der Fahrt habe ich mich wieder mit Phil gestritten. Und mit Gwizdek. Aber der Reihe nach. Zuerst fragte mich Gwizdek, wo sich der Shit befinde. Ich erwiderte, das sei ja ganz praktisch, dass er …, aber wie komme er eigentlich dazu, hier in unserem Wagen …, und woher wisse er, dass wir, das heißt ich …? Schließlich unterbrach er mein Gestammel und wiederholte seine Frage im gleichen Tonfall. »Im Handschuhfach«, antwortete ich gehorsam. Er schüttelte seelenruhig den Kopf. Ich beharrte darauf. Wenn er mir nicht glaube, solle er doch einfach mal nachsehen. Mit einer nachlässigen Geste klappte er das Fach auf und sagte: »Da haben wir ein Problemchen.« Der Shit war weg. Wie sich herausstellte, hatte Gwizdek unser Hotel beobachtet – warum weiß eigentlich alle Welt, wo wir abgestiegen sind? Und er hatte in Erfahrung gebracht, dass wir einen etwas überstürzten Aufbruch planten. Daraufhin gab er sich als unser Fahrer aus und kontrollierte schon mal den Wagen, bei ihm so eine Art Standardprozedur. Er wirkte ein bisschen enttäuscht darüber, dass aus unserem Geschäft aller Wahrscheinlichkeit nichts wird. »Szkoda«, sagte er und klopfte mit der Handfläche gegen die gut gepolsterte rechte Innentasche seiner Lederjacke. Er habe das Geld dabei, vierzigtausend, wie abgemacht. Es sei ihm ein Vergnügen gewesen, es mir sofort zu überreichen – worauf ich auf der Rückbank kurz in mich hineinstarb. Er hat es bei sich, dachte ich in einem Augenblick jäher Erleuchtung. Ich warf einen 50
verstohlenen Blick auf die linke, ebenfalls gut ausgepolsterte Innentasche seiner Lederjacke. Was für eine Waffe benutzt jemand wie Gwizdek? Bestimmt etwas Großes. Als er, das Lenkrad nur mit einem Finger haltend, zu seinem Handy griff und erklärte, er müsse Jerzy über die Lage auf dem Laufenden halten, schaltete sich Phil ein. »Kann es sein, dass Francesco das Zeug hat?« »Kto to jest … Francesco?«, wollte Gwizdek wissen. »Ein Kellner aus unserem Hotel. Hab mich gestern Nacht mit ihm getroffen.« »Mit Francesco?«, fragte ich mit offenem Mund. »Das ist nicht dein Ernst.« »Na und?« »Was ist passiert?« »Wir sind spazieren gegangen, am Arno entlang und dann zur Piazza Dante. Sehr entspannend nach all der Aufregung. Irgendwann dachten wir uns, dass wir noch etwas Spaß haben könnten. Wir sind zum Luna zurückgelaufen. Ich habe was von dem Shit aus dem Auto geholt. Na ja, den Rest kannst du dir denken.« »Kann ich nicht!« »Bei mir geht das nicht so hopplahopp wie bei dir, Paps, ein schneller Wagen und ab durch die Mitte. Ich muss das alles noch verarbeiten.« »Aber ich ziehe nicht durch die Gegend und lade jeden dahergelaufenen Kleinkriminellen dazu ein, mich nach Strich und Faden auszunutzen. Hast du …, ich meine, habt ihr es …?« »Das ist alles, was dich interessiert, wie? Na, da kann ich dich beruhigen. Er war vom Rauchen ganz hinüber. Zumindest hat er so getan.« Sie drehte sich von mir weg und starrte trotzig aus dem Wagenfenster. »Schade. Er hat einen klasse Körper.« Ich räusperte mich und verkniff mir eine Erwiderung. 51
»Jedenfalls hatte ich so einen Verdacht, als er uns in der Hotelhalle über den Weg gelaufen ist«, fuhr sie fort. »Er sagte mir, dass wir uns nicht wiedersehen könnten. Als ob ich das je vorgehabt hätte! Aber gemein war es trotzdem. Wahrscheinlich hatte er den Shit in seinem bescheuerten Rucksack.« Sie trat gegen die Rückenlehne des Vordersitzes und stieß das unvermeidliche »Stronzo!«, aus. »Hätte ich mir denken können.« »Das holen wir uns wieder«, sagte ich. »Meinst du wirklich? Wie sollen wir das anstellen?« »Ich lass mir was einfallen.« »Vielleicht ist es besser, wenn wir das Zeug sausen lassen. Das bringt uns doch nur in Schwierigkeiten. Ich brauch das nicht.« »Dir ist doch klar, dass unsere Fingerabdrücke auf dem Paket sind. Unsere und vermutlich auch die von Tony.« Sie nickte langsam. »Bei unseren«, erklärte ich weiter, »wäre das nicht so schlimm, aber die von Tony sind sicher im Polizeicomputer. Und von Tony führt die Spur zu dir.« »Kann schon sein«, sagte sie nachdenklich. »Also müssen wir das Paket wiederhaben.« Die Friedhofsgebäude kamen in Sicht. »Da vorne rechts«, wies Phil Gwizdek an. Wir bogen auf eine geschotterte Straße ein. Ein Schild wies auf die Öffnungszeiten des Cimitero hin. Nach ein paar hundert Metern brachte Gwizdek den Wagen auf dem Parkplatz zum Stehen. »Und jetzt?«, fragte ich. »Wie heißen Sie noch mal?«, wandte sie sich an Gwizdek. Er stellte sich mit seinem Spitznamen vor. »Also gut, Gwi, das war sehr freundlich von Ihnen, dass Sie uns vorhin so fix vom Luna weggebracht haben. Sie sind ziemlich auf Zack.« 52
Er lächelte ihr über die Schulter zu. »Mein Name ist Philomena, Phil für alle. Ich muss mich mal kurz mit meinem Vater allein unterhalten. Außerdem haben wir hier«, sie deutete auf die Beisetzungshallen, »noch etwas Privates zu regeln. Macht es Ihnen was aus, ein paar Minuten zu warten?« »Wie Sie wünschen«, antwortete Gwizdek verblüfft. »Danke, Gwi«. Sie tätschelte ihm die Wange, worauf er ihr erst einen argwöhnischen, dann einen angenehm überraschten Blick zuwarf – T-Rex erhielt eine Liebkosung. Es schien so, als ob mein Mädchen die Dinge jetzt mal eben in die Hand nahm. Sie stieg aus dem Wagen und ging auf das offen stehende Friedhofstor zu. Als sie auf der Schwelle stand, drehte sie sich zu mir um und winkte mir, ihr zu folgen. »Na komm schon.« Ich war mir nicht sicher, ob unser Aufzug die richtige Garderobe für einen Gräbergang war. Nach kurzem Zögern ließ ich zumindest das Käppi im Auto zurück. »Geh nicht weg, Gwizdek.« Und geh nicht weg, Geld. »Sie haben eine nette Tochter«, rief er mir nach. »Ich weiß.« Wir kauern vor Sills Grabtafel, der untersten in einer Reihe, für die das Wort Stapel besser passen würde. An der Marmorplatte ist ein Bild von ihr angebracht. Es besteht aus Porzellan wie alle Totenbildchen hier, eine landesübliche Sitte, wie ich annehme. Irgendwie haben sie Sills Bild auf ein Keramikviereck gedruckt und jetzt lächelt sie uns an. Es ist eine Aufnahme, die ich nicht kenne. Vermutlich wurde sie nach unserer Zeit gemacht. Sill trägt einen strengen Pagenschnitt im Gegensatz zu dem langen offenen Haar, auf das sie immer so stolz war. Sie schaut ganz zuversichtlich, wie auf einem Bewerbungsfoto. 53
Hallo, ich bin Sill. Ich werde ihre Projekte effizient aufeinander abstimmen. Ich werde ihren Human Resource Cycle optimieren. Ich werde Ihr Unternehmen noch erfolgreicher machen. Ich werde mein Bestes geben und mehr als das. So hat sie das zumindest immer vor dem Spiegel geübt. Vier einleitende IchSätze, während unsere Tochter nebenan in ihrem Zimmer Kaufladen spielte und Plastikmöhren gegen ein Glas Sternchennudeln eintauschte. Ich halte Phil in den Armen. Sie weint, als ob’s kein Morgen gäbe. Als wir die endlosen blitzeglatten Gänge durchquert hatten und an dem Grabmal anlangten, ist sie regelrecht in sich zusammengebrochen. Ein Schluchzen und Schlottern schüttelt ihren Körper wie bei einem Fieberanfall. Mehr, als ihr über den Kopf zu streichen und Floskeln zu murmeln wie »Es wird alles gut« fällt mir nicht ein. Ich umfasse ihren zusammengerollten Embryokörper und presse ihn an mich. Unsere Rippenknochen stoßen gegeneinander, was mich so wehrlos macht, wie ich eigentlich nicht, niemals im Leben mehr sein wollte. »Wer weiß«, sage ich schließlich, »vielleicht hätten wir wieder zueinander gefunden. Ein paarmal stand ich kurz davor, war fast dazu bereit. Vor ihrem Tod und danach. Vor allem danach.« »Meinst du, ich flenne wegen ihr?« Sie schnieft, wischt sich die Tränen ab und setzt sich auf. »Sill hat uns beide geliebt«, fahre ich fort, »mehr, als wir uns vorstellen können. Sie war das Beste, was uns geschehen konnte. Das habe ich damals nicht kapiert. Alles geschah zu früh, viel zu früh. Jetzt würde ich einiges anders machen. Wenn ich an sie denke, fehlt sie mir sehr.« »Ach Paps, was soll denn das? Darüber bin ich doch schon lange weg. Zehn Jahre ist das jetzt her. Manchmal weiß ich gar nicht mehr, wie sie aussah. Sie verblasst, dagegen kann ich nichts machen. Ich will auch nichts dagegen machen, schon gar nicht jetzt. Diese Sorte Depression kann ich momentan nicht 54
gebrauchen.« Nach einer Pause setzt sie hinzu: »Ich habe dir nichts vorzuwerfen. Das ist der Lauf der Welt.« »Der Lauf der Welt? Du hörst dich an wie ein Scheidungsanwalt.« »Realismus ist besser als dein Scheißmitleid. Eine Runde Mitleid für alle«, sagt sie übertrieben pathetisch. »Mitleid mit mir, mit Mutter und natürlich, was auch sonst, mit dir selbst. Wenn du bei mir landen willst, dann stell das möglichst schnell ab. Ist ja nicht auszuhalten. Deswegen machst du auch diesen lächerlichen Kult ums Jungsein mit. Na ja, wahrscheinlich läuft das so in deinem Alter, aber es ist anstrengend. Und wenn du mir noch einmal sagst, dass dich irgendwas an mir, egal was, an sie erinnert, raste ich aus. Ich bin ich, verdammt noch mal! Ich bin keine Tote!« »Natürlich, aber –« »Häng sie nicht so hoch, Paps. Schau mal.« Sie hält ihre Hand gegen die Grabplatte, spreizt die Finger. »Das, was nach dem Unfall von ihr übrig geblieben ist, das ist jetzt da drin. Und auch davon nur zerfallene Überreste. Da gehört es hin.« Sie erhebt sich und tritt einen Schritt von Sills Grab zurück. »Sonst steht sie immer zwischen uns.« Ich schweige betreten. All die Jahre habe ich gedacht, ich müsste Sill eine Art posthumen Respekt erweisen, sicher nicht das Schlechteste, was man für eine Verstorbene tun kann, die man irgendwann mal mit einem Kind sitzen gelassen hat. Jedenfalls habe ich mich besser dabei gefühlt, obwohl das nicht ganz Sinn der Sache sein mag: sich besser fühlen, wenn jemand tot ist. Ach, und diese Vergleiche zwischen ihr und Phil, die haben sich so aufgedrängt, ich konnte gar nichts dafür, Wiedererkennungseffekte, geboren aus dem Wunsch, die Zeit zurückzudrehen, Fehler ungeschehen zu machen. Ich glaubte, es wäre meine Pflicht, so zu empfinden. Ich glaubte, Phil wüsste 55
das zu würdigen. Das waren meine Blumen an Sills Grab. So stellte ich mir das zumindest vor, wenn ich eine meiner sentimentalen Anwandlungen bekam. Phil scheint nicht viel von Grabschmuck zu halten. Vielleicht werde ich The Airs umbauen müssen. Wenn ich es recht bedenke, kenne ich dort oben gar keine Leute, niemanden, alles ist leer und unbewohnt, under construction, jedenfalls habe ich dort noch keine Menschenseele gesehen. Ich habe immer gedacht, dass, sobald alles fertig wäre, die Aussichtsröhre und der Gebirgssee und vielleicht noch ein Weltraumobservatorium, dass dann Sill irgendwann mal von alleine auftauchen würde, wie die Hall of Fame nach einem Computerspiel, das Menü, das nach Congratulations erscheint und wo man seinen Namen eintragen kann. Dann wären wir zumindest zu zweit. Ich könnte sie überall herumführen, ihr zeigen, wie perfekt alles geworden ist. Aber bis dahin dauert es viel zu lange, wie ich jetzt erkenne. Wenn ich so weitermache, wird The Airs nie fertig. Und Sill wird nie erscheinen. »Noch was«, sagt sie. »Man kann auch anders trauern. Dieser Heiligenschein, den du Mutter da anklebst. Das ist nicht nur unglaubwürdig. Es ist auch altmodisch.« Altmodisch? Warum hat sie nicht gleich gesagt zurückgeblieben? Das gibt den Ausschlag. »Vielleicht hast du Recht. Aber was du über das Jungsein gesagt hast, finde ich unfair. Ich meine es ist doch das, was ihr von uns verlangt, oder etwa nicht?« »Ich hab schon genug damit zu tun, selber einigermaßen jung zu bleiben. Ich will nicht auch noch meinem Vater die Hand dabei halten.« »Lass mich.« Ich zupfe mein Gaultier-T-Shirt zurecht. »Ich brauche das.« »Und ich? Was meinst du, was ich brauche?« Ihr kommen wieder die Tränen. »Davon hast du nicht die geringste Ahnung.« 56
Sie lehnt sich mit der Stirn gegen ein Grab in Augenhöhe. Marini Bruno steht in Messinglettern darauf. Auf allen Gräbern kommt der Nachname vor dem Vornamen, seltsam formell, das machen sie nicht mal in Deutschland. Das Porzellanbild zeigt einen jungen Mann, der einen Motorradhelm unter die Achsel geklemmt hat und fröhlich in die Kamera lächelt. Haben die hier nur Unfallopfer verstaut? »Sag’s mir«, versuche ich es und lege ihr meine Hand auf die Schulter. »Was ist los?« »Es ist wegen Tony.« »Was soll mit ihm sein? Wir haben ihn abgehängt. Irgendwann wird er sich verziehen. Sei froh, dass du ihn los bist.« »Du Blödmann.« Sie vergräbt ihr Gesicht in den Händen. Dann schlägt sie mit der Faust gegen den Marmor. »Verdammt, ich liebe ihn. Egal, was passiert ist.« Ich nehme sie in den Arm. »Ich liebe dich auch.« Sie schweigt, ihr Atem geht heftig. Dann: »Schön, dass du das sagst, Paps, aber es geht nicht nur um Tony. Da ist auch seine Familie. Sein Vater, seine Mutter, seine Schwester. Die sind alle sehr nett zu mir. Sie mögen mich, haben mich richtig in ihr Herz geschlossen. Nicht nur, weil sie glauben, ich wäre gut für Tony. Stell dir das mal vor, ich meine, ich bin sechzehn! Die denken allen Ernstes, ich könnte ihn zur Vernunft bringen.« Sie macht eine Pause, dreht sich von den Gräbern weg. »Sie setzen ihre Hoffnungen in mich, das spüre ich.« Ich denke, dass sie übertreibt, die Lage falsch einschätzt. Italienische Familien sind doch keine Chatrooms, bei denen jeder mitmischen darf, der gerade mal eine Tastatur bedienen kann. Dafür braucht man ein Passwort, und das kriegt man nur, wenn man bereit ist, alles für die Familie zu tun. Und es unter Beweis stellt. »Meinst du wirklich?« »Ja, und es macht mich stolz. Auch, wenn ich ihre Hoffnung gar nicht verdiene.« 57
»Hoffnung? Tony zur Vernunft bringen? Was erwarten die von dir?« »Genau weiß ich das auch nicht. Sie sprechen es natürlich nicht aus. Ich weiß nur, dass sie Angst haben. Und dass ich ihnen diese Angst nehmen kann.« Ich wünschte, sie würde erstmal bei meiner Angst anfangen.
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8 Außerdem hat sie mir gestanden, dass Francesco den Shit gar nicht geklaut hat. Oh nein, sie hat ihm den ganzen Packen geschenkt. Um das Zeug loszuwerden. Um uns beide nicht weiter in ein Verbrechen reinzuziehen. Sie bedauert das jetzt wegen der Fingerabdrücke auf dem Paket. Daran habe sie nicht gedacht. Deswegen sorge sie sich um Tony. Sie befürchtet, dass ihm etwas passiert. Dass ihm Mustis Freunde auf den Fersen sind. Dass er sie nicht mehr liebt. Dass er verrückt spielt wegen der Leiche. Für mich ist das Teenagerkacke. Was ich ihr natürlich nicht gesagt habe. Jedes Wort gegen Tony würde das dumme Ding jetzt gegen mich einnehmen. Ich will das nicht, nicht jetzt, wo sie mir anvertraut hat, was ihr alles auf dem Herzen liegt. Also mache ich ihr klar, dass sie Tony vorerst vergessen muss. Nicht für immer, aber zumindest so lange, bis wir aus der Sache einigermaßen raus sind. Das reicht, dann ist sie bestimmt drüber weg und vergisst auch diese Geschichte mit seiner Familie. Ist doch alles nur Einbildung! Seit ich denken kann, treibt Aldo Remo schon Schutzgelder ein. Jeder weiß das. Warum sollte der jetzt plötzlich ehrlich werden? Gefällt mir gar nicht, in welche Kreise meine Tochter da reingeraten ist. Die treiben doch nur ihre Spielchen mit ihr. Heute Phil, morgen ’ne andere. Und immer nur das Beste für unseren lieben Tony, der sich anscheinend noch ein wenig selbst beweisen muss, bevor ihm Aldo die Geschäfte überträgt. Ich versuch’s mal konstruktiv. Vielleicht, schlage ich ihr vor, sollten wir Tony mitteilen, dass Mustis Leiche keine Gefahr mehr für ihn darstellt. Den Shit könne er sich selbstverständlich abschminken, das sei der Preis dafür, dass er mein Mädchen allein gelassen hat, als sie ihn am meisten brauchte. 59
Sie ist völlig fertig, aber sie kann gehen. Sie streckt sogar den Rücken, versucht, sich gerade zu halten. Wird schon werden, denke ich mir. Ich krieg das hin. Und den Shit hole ich mir wieder. Arm in Arm verlassen wir die Beisetzungshalle und gehen auf den Ausgang zu. Wir scheinen die einzigen Besucher zu sein. Phil klammert sich an mich. Tut das gut! Keine Ahnung, wann sie das zum letzten Mal gemacht hat. Mit zwei? Als wir das Friedhofstor passieren – wir sind beide noch ein einziger unbeholfener Körper mit vier Beinen – öffnet Tony gerade mit einer Hand den Kofferraum des Alfa. In seiner anderen Hand hält er eine überraschend kleine Pistole (vielleicht eine Beretta, die sehen aus wie Gucci-Sonnenbrillen). Er hält Gwizdek in Schach. Na ja, so halb in Schach. Gwizdek hat nämlich auch seine Waffe gezogen (etwas, das aussieht wie ein polnischer Schwertransport). Er hat sie auf Tony gerichtet, der eine, das sieht man schon von weitem, krebsrote Birne hat. Mag daran liegen, dass wir Mittag haben. Jedenfalls sticht die Sonne ganz schön. »Wo ist die verfickte Leiche?«, schreit er uns entgegen. Er wird eine Spur röter. Sein weißer Porsche steht schräg neben dem Alfa. Anscheinend ist er uns gefolgt, muss uns in der Hotelhalle doch noch bemerkt haben, vielleicht, als Francesco uns aufgehalten hat. Diese Scheiß-Italiener! Stecken alle unter einer Decke, auch wenn sie gar keine Ahnung davon haben. Ehe ich etwas unternehmen kann, reißt sich Phil von mir los und stellt sich zwischen die beiden. »Alles in Ordnung, Gwi! Er gehört zu mir. Al-les o-kay!« Gwizdek verzieht keine Miene. Tony knallt wütend den Kofferraum zu. Er baut sich vor Gwizdek auf und zielt auf seine Augen. »Und was bist du für ein Scheißkerl?« Ein paar Haarsträhnen, in denen so viel Gel klebt wie an einem Dutzend Anchovis, fallen ihm in die Stirn. Er hat 60
seine Ray Ban hochgeschoben. »Hey, ich kenn dich. Du bist einer von diesen verschissenen Polacken.« »Sluchaj, ty chuju, nimm die Pistole runter«, sagt Gwizdek ruhig. Seine Arme wirken wie Stahlträger, an die jemand ein Magazin und einen Lauf geschweißt hat. »Sonst schieße ich dir deine ölige Fresse weg.« »Sie nennen dich die Pfeife, stimmt’s? Wusste gar nicht, dass Vito so gute Connections hat. Was suchst du hier?« Ohne seinen Blick von Gwizdek zu wenden, macht er einen Schritt zurück. »Hey, Knipser, was wird hier gespielt? Was hat der Polacke hier verloren? Willst du deinen eigenen Deal abziehen, oder was? Mit meinem Shit?« »Es ist nicht mehr dein Shit«, erwidere ich. Er hat mich wieder Vito genannt. Und Knipser. »Und ob er das ist.« In solchen Situationen hilft nur eins: reden. »Siehst du, Tony, das ist das Schwierige an dir. Du machst dir einen falschen Begriff von den realen Besitzverhältnissen. Es ist nicht dein Shit. Seit du Phil im Stich gelassen hast, ist es ihr Shit. Und weil wir eine nette Kleinfamilie sind, die alles ehrlich miteinander teilt, ist es jetzt auch mein Shit. So ist das mit Shit. Derjenige, der sich drum kümmert, derjenige, der das Risiko trägt, dem gehört er. Du weißt doch, was Shit heißt, Tony. Scheiße, das ist doch deine Welt. Aber was du anscheinend nicht weißt: Man muss auf seine Scheiße immer hübsch Acht geben. Das ist eine Frage der Hygiene. Leute wie du scheißen irgendwohin und lassen das Zeug einfach liegen. So geht man nicht mit Scheiße um, Tony, das sind keine guten Manieren. Entweder du spülst sie runter oder du kackst gar nicht erst in die Schüssel rein. Hat man dir das nicht beigebracht? Du kannst nicht in ein Scheißhaus gehen, in dem du irgendwann mal warst, dich über die Schüssel beugen und rumjammern: ›Verdammt, wo ist meine Scheiße hin?‹ So läuft das nicht.« 61
»Halt’s Maul, verdammt! Bist du stoned?« »Nie nüchterner gewesen. Aber wenn du weiter auf meinen Freund zielst, können sie deine Gedärme oder was immer von dir übrig bleibt gleich hier behalten. Schon gemerkt?« Ich deute über meine Schulter. »Das da ist ein Friedhof.« Er greift seine Waffe fester. »Was ist mit der Leiche?« »Paps hat sie beiseite geschafft«, sagt Phil. »Um Himmels willen, Tony, hör auf! Steck das Ding weg!« »Wirklich?«, fragt er zweifelnd. Er wird etwas ruhiger. »Ich glaub’s nicht, Vito. Du hast Musti verschwinden lassen? Was hast du mit ihm gemacht? Ihn von der Brücke geschmissen, damit ihn meine Mutter beim Entenfüttern findet?« Tonys Schulter wird herumgerissen. Er dreht sich um die eigene Achse und schlägt hin. Seine Ray Ban fliegt dabei in den Staub. Jetzt ist auch ein Knall zu hören. Ich packe Phil und werfe mich mit ihr zu Boden. Gwizdeks Stahlträgerarme schwenken herum und fangen an, in regelmäßigen Abständen Schüsse abzufeuern. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie ein dunkler Benz über den Friedhofsparkplatz brettert, die Rache der Enterbten auf Rädern. Während er einen Bogen fährt, schießen dunkelhäutige Typen mit Sonnenbrillen wie verrückt aus den Wagenfenstern heraus. Ich robbe mit Phil hinter den Alfa in Deckung. Gwizdek feuert nach einem kurzen Tschackatschock weiter, anscheinend hat er das Magazin gewechselt. Der Motor des Benz heult auf, Schotter spritzt, die Schüsse werden weniger, das Motorengeräusch entfernt sich. Der letzte Schuss aus Gwizdeks Waffe hallt noch ein paar Sekunden nach. Stille. Phil schnellt hoch und rennt um den Wagen herum. Ich folge ihr, so schnell ich kann. Fast pralle ich mit Gwizdek zusammen, der Tony schon an einem Arm und Phil am anderen hinter sich herschleift und in Deckung zerrt.
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»Türken«, sagt er, fummelt an seiner Waffe herum und lehnt sich im Sitzen an die Autotür. »Sie sind noch da, vorne, an der Straße.« Sein Mundwinkel zuckt kaum merklich. »Den Fahrer hab ich a bisserl erwischt.« Methodisch betastet er seinen Körper. »Bist du verletzt?«, frage ich erschrocken. »Jerzy hat mir durchgegeben, die Türken spielen verrückt, weil Musti verschwunden ist. Da hab ich lieber mal aufs Kalte gepustet, wie wir in Polen sagen. Hab mich gut eingepackt. Kevlar.« Er tätschelt seinen Bauch. Ich riskiere einen Blick durch die Wagenfenster. Der Benz steht an der Einmündung zum Friedhof, tausend Türken um ihn rum, eine einzige Drohung in Schwarz. Scheint so, als leisteten uns Mustis Freunde jetzt Gesellschaft. Endlich passiert mal was, denke ich, während ich mir fast in die Hosen mache. Geht doch nichts über eine Gruppenreise in die Toskana, da kommt man sich gleich näher. Tony verzieht das Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse. Inzwischen ist er so bleich wie das Zeug, das sein Vater als Pizzateig verkauft. Es hat ihn am Oberarm erwischt. Warum können diese Türken nicht richtig zielen? Phil beruhigt ihn. Es sei nur ein Streifschuss. Sie saugt an der Wunde, das Blut läuft ihr übers Kinn und färbt ihr Ringelshirt rot. Wozu soll das jetzt gut sein? Tonys Hand krallt sich in ihren Hosenbund. Sie zieht ihm sein Leinenhemd aus, reißt es in Streifen – was trägst du nur für miese Qualität, Tony? – und verbindet ihn. Kommt mir so vor, als ob sie das schon öfter gemacht hätte. Ich lass mich auch mal anschießen. So schlimm, wie Tony tut, kann das gar nicht sein. »Wir müssen weg«, mahnt Gwizdek. »Die versuchen’s bald wieder.« »Hast du einen von denen erkannt?«, fragt Phil. Gwizdek zögert. »Erdem.« 63
»Bist du … sicher?« Phils Stimme bricht weg. »Sto procent.« »Er muss mir gefolgt sein«, jammert Tony. »Keine Ahnung, wie er das angestellt hat.« »Wer ist Erdem?«, frage ich. Die drei wechseln Blicke. Erdem, Erdem. Ich werde ungeduldig. »Wer ist Scheiß-Erdem!« »Mustis Bruder«, antwortet Phil. »Sein böser Bruder«, ergänzt Gwizdek. Schweigen. »Wie böse?«, will ich wissen. »Kennst du den Nobel-Griechen in Bockenheim?«, fragt Tony. »Der mit dem geschmacklosen Garten?« »Genau. Da gibt es einen blinden Kerl, der immer vor dem Eingang rumlungert. In einem Stuhl für Beinamputierte. Bettelt die Leute an, aber der Chef jagt ihn nicht weg. Keiner jagt ihn weg.« »Hat der nicht so eine Fistelstimme? Parakalo, parakalo«, ahme ich ihn nach. »Dem fehlt noch einiges mehr als Augen und Beine. Der Kerl ist ein verdammtes Mahnmal. Er muss da betteln, jeden Tag im Jahr, bei jedem Wetter. Ihm fehlt nur noch ein Schild um den Hals.« »Und was stünde da drauf?« »So böse ist Erdem.«
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9 Wir fahren los. Tony und Phil geduckt auf dem Rücksitz, ich am Steuer und Gwizdek mit entsicherter Waffe neben mir, auf die er einen Schalldämpfer geschraubt hat. Okay, Viktor, jetzt zeig mal, was du drauf hast. Die Servo-Lenkung des Alfas ist zu leichtgängig. Aber Tonys Porsche können wir nicht nehmen. Die Ludenkarre sieht jetzt aus wie Junk Art. Wenigstens war sie als Kugelfang nützlich. Die riskieren keine wilde Ballerei, denke ich. Schließlich ist das da vorne eine einigermaßen belebte Landstraße. Vielleicht versuchen sie, ein paar gezielte Schüsse anzubringen. Auf Gwizdek, weil er für sie die größte Gefahr darstellt, oder auf mich, weil sie uns dadurch stoppen können. Oder doch nur auf die Reifen, den Motor? Das hängt wohl davon ab, wie Erdem jetzt drauf ist. Wie gerne er einen von uns tot sehen möchte. Ich schätze die Entfernungen und den Kurvenwinkel ab, spanne die Arschmuskeln an und drücke drauf. Auf allen vieren ein Bein nach hinten Wegstrecken, gegenseitigen Arm nach vorne führen, so dass Arm, Rumpf und Bein eine diagonale Linie bilden. Spannung halten und dann die Seite wechseln. Der Blick bleibt auf die Hände gerichtet – –also gut, mehr so auf die Straße und den schwarzen Benz. Aber warum muss ich jetzt an so was denken? Naja, es gibt mir ein sicheres Gefühl, etwa so sicher, wie man sich fühlt, wenn man mit zweihundert in eine Baustelle reindonnert und ganz genau weiß, dass das ABS funktioniert. Sie machen es genau, wie ich es vermutet habe. Die Scheiben des Benz sind geschlossen, außer der auf der Beifahrerseite, die ein kleines Stück heruntergedreht ist. Bevor ich so weit wie möglich im Sitz runterrutsche und mich hinter das Lenkrad 65
ducke, sehe ich, wie in dem Fensterschlitz der Lauf einer Waffe auftaucht. Ich versuche, Schlangenlinien zu fahren, reiße das Lenkrad hin und her. Glücklicherweise ist die Straße eben und pillegerade, wir bleiben ohne Probleme auf Kurs. Die Entfernung zum Benz beträgt schätzungsweise fünfzig Meter, als die erste Kugel einschlägt. Sie durchbohrt die Windschutzscheibe und zerfetzt die Kopfstütze über mir. Stofffetzen wirbeln durch den Innenraum wie Konfetti. Kann mir nur recht sein. Könnte den Schützen irritieren. Das geht ja richtig ab hier. Die nächsten Schüsse, mehrere kurz hintereinander, reißen den Sitz fast aus der Verankerung. Die Wucht der Einschläge lässt den ganzen Wagen erzittern und scheint ihn für den Bruchteil einer Sekunde zu verlangsamen. Glassplitter und Kunststoffteile fliegen mir um die Ohren. Gwizdek fängt an, das Feuer zu erwidern. Inzwischen haben wir die Einmündung fast erreicht. Ich richte mich etwas auf, schlage das Steuer kurz ein, reiße es voll in die andere Richtung und ziehe dabei die Handbremse. Das Heck des Wagens kommt herum. Er schlittert über den Schotter, kriegt auf der Straße wieder Grip. Ich gebe Vollgas und richte den Alfa dabei aus. Eine weitere Kugel zertrümmert den Außenspiegel. Dummerweise befinden wir uns auf der falschen Fahrspur. Ein entgegenkommender Laster blendet auf und hupt wie kurz vor dem Weltuntergang. Ich reiße wieder am Steuer und weiche ihm aus, bevor er uns plattwalzt. Die Türken folgen uns. Ihr Benz ist eindeutig schwerer als unser demolierter Alfa, so dass ich erst mal Abstand gewinne. Ich schreie: »Alles okay?« Von Phil und Tony kommt ein bestätigendes »Okay!«. Gwizdek sagt, seine Patronen seien alle. Ich müsse schneller fahren. Noch schneller? Der Tacho zeigt hundertachtzig und Pisa kommt immer näher. Da kann ich nicht reinfahren, schon gar 66
nicht mit so einem Auto, das in jedem Carabinierihirn eine Leuchtschrift in großen, giftgrün blinkenden Neonlettern aktiviert: STEIGEN SIE SOFORT AUS UND LEGEN SIE DIE HÄNDE ÜBER DEN KOPF! Die italienische Version ist wahrscheinlich etwas knapper. Die Türken kommen näher. Ein Schuss lässt die Heckscheibe zersplittern. Wenn die jetzt einen Reifen träfen, bräche der Wagen aus und wir würden uns mir nichts, dir nichts um eine der Pappeln wickeln, die den Straßenrand säumen. Selbst wenn der alte Alfa Airbags hätte, würden uns die Dinger bei einem solchen Aufprall herzlich wenig nützen. Angeschnallt sind wir sowieso nicht. Wie bei Sill, panikt es durch meinen Kopf, diese Scheißgeschichte läuft ab wie bei Sill! Vielleicht prallen wir sogar gegen denselben Baum. Welche Rolle spiele ich hier? Bin ich ein verdammter Todesengel? Nein, zwinge ich mich zu denken, solche Zufälle passieren nicht in der Wirklichkeit. Nicht, wenn ich am Steuer sitze, nicht jetzt, nicht mit mir, nicht mit Phil. Das war früher, am Anfang der bösen Zeit. Eine Nachtfahrt im Regen. Kurz zuvor hatte ich noch mit Sill telefoniert. Es ging um Phils Einschulung. Ihr Lover war für eine Privatschule auf dem Land, wovon ich natürlich nichts hielt. Sie wollte es noch einmal mit ihm besprechen, ihn an diesem Abend noch einmal sehen. Als sie losfuhr, muss es in Strömen geschüttet haben. Auf der Höhe einer Tankstelle kam ihr Wagen von der Straße ab. Aus einem ungeklärten Grund, wie es hieß. Angeblich war sie sofort tot, aber wer kann das schon mit letzter Sicherheit sagen? Die Tankstelle war geschlossen, auf der Straße war kaum Verkehr. Sill war vollkommen allein, als sie starb. Jedenfalls wollte ich Genaueres wissen. Und jemanden zur Verantwortung ziehen. Sein Name war Claudio Ferro. Die Terrassentür stand offen, als ich in seine Villa eindrang. Er erkannte mich sofort, hatte mich vielleicht sogar erwartet. Als er 67
auf mich zukam, blieb ich stehen. Der Mantel, den ich über meinen Arm gelegt hatte, glitt zu Boden. Ich schaue wieder auf die Straße, entsetzt darüber, dass meine Gedanken bei dieser Geschwindigkeit abschweifen. Aber der Wagen ist wie von selbst weitergefahren, bleibt ohne mein Zutun in der Spur. Unbewusste Bewegungen, Reaktionen, Handlungen sind oft am verlässlichsten. Das ist so, als ob es in einem drin jemanden gäbe, dem man ohne weitere Umstände sein Leben anvertrauen könnte. Dieser Jemand stellt keine Fragen. Er ist einfach zur Stelle, tut, was getan werden muss. Das klappt häufiger, als man denkt. Wenn man es nur darauf ankommen lässt. Eine Kreuzung kommt in Sicht. Ich bremse im letzten Moment runter. Der Alfa hebt auf einer Seite für ein paar Sekunden ab, als ich nach links abbiege – kurz bevor eine entgegenkommende LKW-Kolonne unseren Wagen zermalmt. Jetzt bildet sie hinter uns eine undurchdringliche Wand aus einigen hundert Tonnen Stahl, Blech und Gummi. Perfekt. Wir fahren durch eine zona industriale. Rasch verlasse ich die Hauptstraße und schlage ein paar Haken, links, rechts, links, rechts. Jetzt mal ganz schnell überlegen, wo wir untertauchen könnten. Ein Gartencenter – zu gut einzusehen. Ein Baumarkt – das Gleiche. Bei einer anonymen Lagerhalle verlangsame ich kurz das Tempo – zu verdächtig. Schließlich gelangen wir zu einem riesigen Iper-Coop, der wie eine amerikanische Mall aussieht. »Da rein!«, schreit Gwizdek. Ich bremse und fahre im Schritttempo auf den Parkplatz. Ein paar mittägliche Kunden schieben ihre Einkaufswagen wie ferngesteuert durch die Gegend, schauen nicht mal hoch. Das Areal ist nicht gerade weitläufig, aber sie haben hier eine TIEFGARAGE, Parcheggio sotteraneo. Nichts wie rein. Als ich die Scheibe herunterkurble und an der Schranke ein Ticket 68
ziehen will, zittern mir unkontrolliert die Hände. Gwizdek beugt sich herüber stützt sich auf dem Lenkrad ab und übernimmt das für mich. Die Schranke geht hoch und wir verschwinden von der Bildfläche. Hier unten ist kaum was los. Italiener haben zu Tiefgaragen ein etwas gespaltenes Verhältnis: die große dunkle Mamma, die sie zwar alle lieben, aber vor der sie tierisch Schiss haben. Ich stelle den Alfa neben den Frauenparkplätzen ab. Oh ja, so was gibt’s hier, nur liegen sie sinnigerweise in einer besonders unbeleuchteten Ecke der Tiefgarage. Geschafft. Wir kriechen aus dem Wagen wie eine Hand voll Raumfahrer, die gerade die imperialen Sturmtruppen abgehängt haben und im Inneren eines unbekannten Asteroiden notgelandet sind. Phil und Tony klammern sich aneinander und fangen an, abwechselnd zu heulen und sich gegenseitig Mut zuzusprechen. Ich schwanke zombiemäßig umher und versuche, von meinem Flash wieder runterzukommen. Mein Gaultier-T-Shirt ist vollkommen durchgeschwitzt. Ich möchte jetzt ganz gern für ein paar Stunden in einen Zustand katatonischer Verzweiflung verfallen. Aber wer will das nicht? Gwizdek behält die Nerven. Er klaubt seine Patronenhülsen auf, sucht nach dem Verbandskasten, reicht ihn Phil, damit sie erst mal beschäftigt ist und Tony einen besseren Verband anlegt. Dann holt er unser Gepäck, das aus meinem Samsonite-AluCase und Phils kleinem Shopperbag besteht, aus dem Kofferraum. Phil und ich ziehen uns um. Sie säubert ihren blutigen Mund mit ihrem Gaultier-T-Shirt, entblößt ihre Brüste, feste, kreisförmige Mädchenbrüste, was mich für einen Moment vollkommen verunsichert. Ich bemerke, dass sie ein Bauchnabelpiercing trägt, will schon wieder wegschauen, denn sie kann in ihren Körper ja schließlich reinstecken, was sie für richtig hält. Aber dann sehe ich etwas funkeln. »Guck nicht so belämmert«, sagt sie. »Das hat mir Tony geschenkt.« Sie reckt mir ihren Bauch entgegen. Ich beuge mich 69
vor. Richtig, da steht TONY in winzigen Brillanten. »Du trägst es wieder?«, fragt er überrascht. »Ich dachte, du hättest es verloren.« »Hab’s wieder gefunden.« Sie streicht die Haut um ihren Nabel glatt und zieht ein Top darüber, das sofort wieder hochrutscht. »Sieht gar nicht schlecht aus«, sage ich. »Hat Glamour.« »Klar hat es das«, sagt Tony. Er fühlt sich geschmeichelt. »Aber nur bei Phil.« Da mag er ausnahmsweise mal Recht haben. Wir stopfen die Gaultier-T-Shirts in die Außentaschen und fühlen uns in den neuen Sachen ein wenig besser. Phil zieht noch eine Jeansjacke über. Tony kriegt meinen schwarzen Rolli, damit man nicht gleich seine Verletzung sieht, wenn sie den Verband durchnässt – was sie, wie ich Tony kenne, mit Sicherheit tun wird. Gwizdek sucht den Wagen nach weiteren Spuren von uns ab. Mit seinem Stiefelmesser – dieser Typ ist wirklich gut ausgerüstet – schneidet er die Rücksitzpolsterung heraus, in die Tony reingeblutet hat. Ritschratsch geht das, ein Chirurg könnte es mit einem Melanom nicht besser machen. Er öffnet meinen Koffer, holt zwei frische Hemden heraus (meine letzten!) und drückt mir eines in die Hand. Ich solle damit unsere Fingerabdrücke entfernen. »Nicht mit meinem Versace-Batikhemd!«, will ich protestieren, aber ein eiskalter Blick von ihm bringt mich zum Schweigen. Wir machen uns an die Arbeit. Phil kümmert sich um Tony, der wieder Schmerzen hat und den Verband gelockert haben will. Pizzabäcker sind noch wehleidiger als Frisöre.
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10 »Und was tun wir jetzt?«, fragt Phil nach einer Weile. Ich bin gerade dabei, die Armaturen und das Lenkrad abzuwischen. »Erst mal brauchen wir ein neues Auto.« Tony lässt seine Finger knacken. »Das ist mein Job.« »Du wirst hier aber gar nicht gebraucht«, sagt Gwizdek. Er redet mit einem der Türöffner, poliert ihn mit meinem Batikhemd auf Hochglanz. Sieht so aus, als würde er so etwas öfter machen. Tony zieht seine Waffe aus der Hosentasche. Scheiße, an die hab ich gar nicht mehr gedacht. »Meine Patronen sind nicht alle.« »Jetzt hör schon auf«, geht Phil dazwischen. »Gwi hat uns das Leben gerettet.« »Deswegen erschieße ich ihn ja auch nicht auf der Stelle.« Tony bewegt sich ein Stück von Phil weg. »Aber ich muss wissen, was hier los ist.« Er hält Abstand zu Gwizdek, der in der Hocke sitzen bleibt und ihn ungerührt beobachtet. Anscheinend denkt er darüber nach, wo an Tony eine gute Stelle für sein Messer wäre. »Um’s abzukürzen«, fährt Tony fort, »sage ich euch mal, was ich denke. Ich denke, dass unser lieber Viktor hier ein bisschen Geld machen möchte. Mit einer Ware, die ihm nicht gehört. Aus diesem Grund ist auch die polnische Armee in Italien einmarschiert.« Er nickt Gwizdek zu. »Und ich denke außerdem, dass die polnische Armee ihre Kriegskasse dabei hat. Aber die interessiert mich nicht, damit will ich nichts zu tun haben. Was mich interessiert, ist Mustis Leiche und der Shit.« Er schaut mich geschäftsmäßig an. »Würdest du mich also 71
freundlicherweise kurz aufklären, Viktor. Dafür wäre ich dir sehr dankbar. Keine Angst, es bleibt in der Familie.« Diese Gespräche mit der Pistole im Anschlag muss er sich unbedingt abgewöhnen. »Wenn du mich so nett fragst, Tony, freue ich mich richtig, unseren Informationsfluss etwas in Schwung zu bringen. Das schafft Vertrauen, auf dieser Basis kann man sich weiter unterhalten und gute Abschlüsse tätigen. Nur, was du da in der Hand hältst, schafft eindeutig kein Vertrauen. Tust du mir einen Gefallen, Gwizdek? Bring ihn nicht auf der Stelle um, wenn er die Waffe vor sich auf den Boden legt. Sei so freundlich und warte noch ein Weilchen damit, ja?« »Nur, wenn er die Waffe weglegt.« Gwizdek klingt ein wenig beleidigt. »Mach schon!«, drängt Phil. »Sonst kommen wir hier nie raus!« Tony zögert. »Tu es, verdammt! Tu einmal das Richtige!« »Okay.« Tony hebt eine Hand hoch. »Ich werd’s zwar ganz sicher bereuen, aber ich mach’s dir zuliebe.« Er geht zu Phil, legt einen Arm um sie. Dann senkt er die Pistole, lässt sich auf ein Knie nieder und schiebt sie ein Stück von sich weg. »Reicht das?« Gwizdek verschränkt die Arme vor seiner Brust. »Gut, dass du auf mein Mädchen hörst, Tony. Aus dir wird noch mal was«, fange ich an. »Also, ich habe die Leiche … zerlegt, um es mal so auszudrücken. Das war noch in dieser Fabrikhalle, die am nächsten Tag gesprengt werden sollte, wie du weißt. Die Fabrikhalle, aus der du so schnell abgehauen bist wie eine Ratte auf Ecstasy. Ich habe uns einen Wagen gemietet und wir sind nach Pisa gefahren.« Dass ich Phil kurz rausgeschmissen habe, verschweige ich lieber. »Auf 72
irgendeinem Autobahnrastplatz habe ich die Leichenteile dann vollständig verbrannt, ganz früh am Morgen. Keine Zeugen, keine nennenswerten Rückstände, jedenfalls nichts, was auf dich oder irgendeinen von uns hindeuten könnte.« »Verbrannt?« Tony verzieht das Gesicht. »Ist dir nichts Besseres eingefallen?« »Verbrannt und verbuddelt. Wie beseitigt man in deiner Familie denn üblicherweise Leichen? Säurebad? Stahlbeton? Oder verteilt ihr das Zeug auf eure Pizzen?« Er macht eine abfällige Geste in meine Richtung. »Stimmt das auch?«, fragt er Phil. »Ja, verdammt!«, antwortet sie. »Wenn Paps was anpackt, dann macht er es gründlich. Viel zu gründlich«, fügt sie mit einem Seitenblick auf mich hinzu. »Danke. Das hat Sill auch immer von mir gesagt«, rutscht es mir raus. Sie wirft mir einen frostigen Blick zu. »Mein Stil ist so etwas nicht«, sagt Tony. »Aber ich kann damit leben.« »Danke, Don Antonio«, entgegne ich süffisant. »Bewahrt mir euer Wohlwollen.« »Und bevor du jetzt noch nach dem Shit fragst, Tony.« Phil greift nach der Pistole, sichert sie und steckt sie von hinten in den Bund ihres Jeansrockes. »Den hab ich gestern Nacht verschenkt. An einen kleinen Gauner. Er hat sich schrecklich darüber gefreut.« »Hast du sie nicht alle?« Tony springt auf. »Was –« »Wenn du möchtest, dass ich bei dir bleibe und jetzt mit dir zurück nach Deutschland komme, dann lass die Finger von solchen Deals, ein für alle Mal.« Sie funkelt ihn an. »Mein dämlicher Vater will sich das Zeug zurückholen. Soll er, der spinnt sowieso hochgradig.« 73
»Aber ich dachte –«, fange ich an. Zu mir gewandt fährt sie fort: »Es ist besser, wenn du hier bleibst, Paps. Mach irgendwas! Fühl dich jünger, als du bist. Lebe deinen Traum. Fahr die Amalfiküste mit zweihundert runter. Setz dich ans Meer und wirf Steine rein. Oder fick dich durch die Toskana, Hauptsache, du kommst zu dir. Tut mir Leid, dass ich dich da mit reingerissen habe, aber ich kann nicht wieder bei dir leben. Dafür ist es zu spät. Ich gehöre jetzt woanders hin. Wenn du irgendwann mal fertig bist mit deinen Wer-bin-ich-Spielchen, können wir uns wiedersehen. Vielleicht bei meinem Abi.« Sie lacht. »Falls ich das schaffe.« Scheiße, hat das gesessen. Wen bitte ich jetzt, mich zu erschießen? Ich ringe nach Luft, verdammt stickig in dieser Tiefgarage. »Und Erdem?«, stoße ich halblaut hervor, krank vor Sorge um diesen Bonnie-and-Clyde-Verschnitt, der zusammen gerade mal so alt ist wie ich. Na ja, Clyde kann mir eigentlich gestohlen bleiben, konnte er schon immer. Ich meine, was war Warren Beatty schon im Vergleich zu Faye Dunaway? Ihr Stiefelputzer? »Mit Erdem werde ich schon fertig«, sagt Tony. »Also gut, Phil. Ich lass den Shit sausen, geht wohl nicht anders. Mein Herz hängt nicht dran.« Phil erhebt sich, ein silbriger Schimmer in ihren Augen. »Es gehört dir.« Tony spricht leise. »Das weißt du.« Überflüssig zu erwähnen, dass sie sich küssen. Ich drehe die Augen zur Decke. Mein Mädchen ist ein wenig zu leichtgläubig, denke ich, sage aber nichts, um die Liebesszene nicht kaputtzumachen. Wenn ich mir Mühe gebe, kann ich richtig rücksichtsvoll sein. Ich sehe ihnen von der Seite her zu. Die beiden sind ungefähr gleich groß. Phil hat einen Arm lose um Tonys Taille gelegt. Den anderen schlingt sie um seinen Nacken. Mit ihrer Armbeuge führt sie seinen Kopf näher zu ihrem Mund heran. 74
Endlich lösen sie sich voneinander. »Ich besorge uns jetzt einen Wagen«, sagt Tony. »Damit setze ich euch beide irgendwo ab. Phil und ich fahren weiter zum Flughafen. Und Gwizdek«, er schaut ihn von unten herauf an, beschreibt mit der Hand einen Bogen, »das hier war alles nicht persönlich gemeint.« Gwizdek nickt.
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11 »Tut mir Leid, aber die klauen sich praktisch von alleine«, sagt Tony, als er uns nach fünf Minuten mit einem weißen Fiat Panda aufliest. Das Kennzeichen ist eines der neuen, die keinen Rückschluss auf die Herkunft des Wagens zulassen. In der Zwischenzeit habe ich brav unser Parkticket bezahlt, während Gwizdek noch letzte Spuren vom Alfa entfernt hat. Phil ist nach oben gegangen und hat nach dem schwarzen Benz Ausschau gehalten. »Nichts zu sehen«, teilt sie uns erleichtert mit und setzt sich zu mir auf den Rücksitz. Wir verlassen die Tiefgarage, machen uns alle so klein wie möglich und biegen auf die Straße ein. Tony fährt mit normaler Geschwindigkeit, um keinen Verdacht zu erregen. Zielstrebig navigiert er uns aus der zona industriale heraus. An jeder Kreuzung erwarten wir, dass die Türken auftauchen. Als wir einen McDonald’s passieren, meint Gwizdek, den dunklen Benz für einen Augenblick gesehen zu haben. Aber entweder hat er sich getäuscht, oder unsere Fiat Panda-Tarnung funktioniert. Nach einem langen Blick in den Rückspiegel versichert Tony, dass uns niemand folgt. Kurz darauf fahren wir an einer Bahnstrecke entlang nach Süden. Phil fragt mich nach einer Zigarette. Ich halte ihr meine zerknautschte MS-Packung und ein Feuerzeug hin. Sie nimmt sich eine, zündet sie an und blickt schweigend ins Leere. Das war’s dann wohl, denke ich. Du hast es verpatzt. Alles falsch angepackt. Eine weitere Gelegenheit ausgelassen von so vielen, ich kann sie gar nicht mehr zählen. Jetzt stehe ich mit leeren Händen da, wie immer, wenn ich geglaubt hatte, an einer Sache ganz dicht dran gewesen zu sein. Ich fühle mich müde 76
und alt, uralt. Scheint so, als brauchte ich Phil nötiger als sie mich. Tony stellt das Radio an. I’m still running around in here, I’m still looking for me, schallt es aus dem winzigen Lautsprecher auf dem Armaturenbrett. Ruby, eine schottische Sängerin. Seltsam, dass sie das hier spielen. Ähnliche Stimme wie Goldfrapp, aber nicht so populär. Was mag wohl in Phil vorgehen? Tut es ihr Leid, dass sie mir so deutlich die Meinung gesagt hat? Dass sie meine Hoffnungen auf ein gemeinsames Leben zunichte gemacht hat? Ist da noch eine Spur Zuneigung für ihren durchgeknallten Paps, oder versucht sie, ihre Liebe ganz tief in sich zu begraben, damit ich das Gefühl kriege, mich nicht mehr um sie kümmern zu müssen, damit ich denke, alles sei aus? Tonys Handy klingelt dumpf. Er dreht sich etwas zur Seite und zieht es umständlich aus der Hosentasche. »Bist du das, Babbo?« Sein Vater ruft ihn an? Jetzt? »In Pisa«, sagt er ungeduldig. »Ob ich was?« Pause. »Aber nein, das würde mir nicht im … Wer hat sich bei dir gemeldet?« Tony lässt das Handy kurz sinken. Gwizdek muss ins Lenkrad greifen, damit der Wagen auf der Spur bleibt. »Warte, ich kann dir das erklären«, sagt er mit flatternder Stimme. Langes Schweigen. Es scheint, als halte Babbo nicht besonders viel von einer Erklärung. Er spricht jetzt so laut, dass man den Apparat bis nach hinten quäken hört, textet sein Söhnchen richtig zu. »Tut mir Leid, aber ich bin noch nicht dazu gekommen, das Zeug näher zu untersuchen. Warum sollte ich?« Tony wirkt jetzt 77
so eingeschüchtert wie ein junger Kiffer vor einem malaysischen Gericht. »Da ist was drin, was ich mir näher anschauen sollte? Das hat er gesagt? Na ja, im Moment ist das nicht so einfach.« Pause. »Weil ich gerade nicht rankomme. Calmati, ich fliege jetzt zurück nach Frankfurt und erkläre dir alles.« Während Tony weiter telefoniert, bremst er den Wagen ab. Bei einer Einbuchtung fährt er rechts ran. Eine Nutte wartet hier auf mittägliche Freier – schon die dritte, an der wir vorbeikommen. Sie hat einen auffallend dunklen Teint, hohe Wangenknochen, arabisch, auf jeden Fall Orient. Glänzende schwarze Locken ringeln sich über ihre Schultern und ein offen stehendes BoleroJäckchen. Sie stöckelt auf uns zu, hebt dabei ihren Minirock bis zum Nabel hoch, zeigt, was sie zu bieten hat. Der dunkle Streifen Scham zwischen ihren Schenkeln glänzt genauso wie ihr üppiges Haar, das von einem gestreiften Band über der Stirn festgehalten wird. »Eine Drohung?«, spricht Tony ins Handy. Die Nutte stellt ein Bein auf die Stoßstange des Panda und schiebt ihre Hüfte vor und zurück, Peep-Show-Bewegungen, die jedem unentschlossenen Freier den Rest geben würden. Gwizdek bedeutet ihr, dass wir nicht wegen ihr angehalten haben und gleich wieder verschwinden. Sie streicht ihren Rock herunter und ruft ihm einen Fluch zu. Dann macht sie das Zeichen für cornuto und dreht sich auf dem Absatz um. Im Weggehen hebt sie ihren Rock noch einmal hoch und zeigt uns ihren Hintern. Das Tattoo auf der rechten Arschbacke ist kaum zu erkennen, irgendwelche Schriftzeichen, deren Bedeutung vermutlich nicht mal ihr Zuhälter kennt. Falls sie überhaupt einen hat. »Also meinst du, ich soll hier bleiben?« Pause. 78
»Ist schon gut, Babbo, ich bringe das sofort in Erfahrung …. Ja, hier in Pisa. Es ist hier, ich weiß, wo …. Du kannst dich auf mich verlassen. Wenn du mir gleich gesagt hättest, dass …, dass es so ernst ist …. Die Familie. Natürlich ist mir meine Familie wichtig.« Tony scheint etwas gerührt zu sein. »Unsere Hoffnung. Ja, das ist sie. Natürlich habe ich es nicht vergessen.« Er nickt langsam. »Sie ist unverletzt, es geht ihr gut …. Ehrenwort, ich pass auf sie auf. Ciao, Babbo!« Er drückt einen Knopf seines Handys, steckt es zurück in seine Hosentasche und atmet tief durch. Dann wendet er sich uns zu. »Ich hab hier noch was zu erledigen.« »Ist es wegen dem Shit?«, fragt Phil mit starrer Miene. »Ja, ich muss da unbedingt rankommen. Babbo …, mein Vater hat mir gesagt, dass da etwas im Schwange ist.« Er stockt. »Zwischen den Türken und uns. Mehr kann ich nicht sagen.« »Was soll da groß im Schwange sein?«, werfe ich ein. »Du hast Erdems Bruder umgebracht, das ist im Schwange.« Er schaut mich mit großen Augen an. Dann blickt er zu Phil, die sich auf die Lippen beißt und mit zitternden Händen eine neue Zigarette ansteckt. Sie hilft ihm nicht. »Genau. Sicher hab ich das, aber …« »Und was sollte die Bemerkung, dass in dem Shit etwas drin sei, was du dir näher ansehen musst?«, frage ich. »Das geht dich nichts an, Viktor.« Sein Gesicht wird hart, hellt sich dann etwas auf. »Tut mir Leid, aber das ist wirklich ’ne reine Familienangelegenheit. Nur so viel: Ich muss möglichst schnell an diesen verdammten Shit rankommen, koste es, was es wolle. Phil!« Er wendet sich ihr zu. »Wer hat das Zeug jetzt?« Sie schweigt. »Ein Kerl aus dem Hotel«, sage ich an ihrer Stelle. »Francesco. Ich kenne ihn.« »Gut. Zeig ihn mir.« 79
Ich denke an die vierzigtausend unter Gwizdeks Kevlarweste. »Heißt das, du willst den Shit doch noch zu Geld machen?« »Ach, scheiß auf den Shit und das Geld. Jetzt geht es um mehr.« »Da ist was drin, hat er vorhin gesagt. Hm. Vielleicht irgendeine Nachricht. Nur wegen Drogen würde sein Babbo nicht so einen Tanz veranstalten. Ich mach dir ’nen Vorschlag, Tony. Wir besorgen uns das Zeug gemeinsam wieder. Weißt du«, ich mache eine Pause, schlucke einen Kloß im Hals runter, »wenn das was wird mit meiner Tochter und dir, dann sind deine Familienangelegenheiten plötzlich auch meine. Natürlich nur in beschränktem Umfang«, setze ich schnell hinzu, als er etwas erwidern will. »Ich helfe dir. Wir ziehen das zusammen durch. Einverstanden?« »Wenn du unbedingt willst«, sagt er gedehnt. Er zuckt mit den Schultern. »Okay, warum nicht?« »Und was ist mit mir?«, ruft Phil aufgebracht. »Fragt jemand mal nach meiner Meinung?« »Das ist zu gefährlich für dich«, erwidert Tony. »Zu gefährlich? Und wie war mein Leben in den letzten achtundvierzig Stunden?« »Vergiss es.« »Willst du mich loswerden?« »Du kommst nicht mit!«, beharrt er. »Schreib mir nicht vor, was ich tun oder lassen soll! Du hast mir gar nichts zu sagen!« Sie schlägt mit der Faust gegen seine Kopfstütze. »Entschuldige«, versucht Tony sie zu beschwichtigen. »So war das nicht gemeint. Ich möchte nur verhindern, dass dir was passiert. Wer weiß, mit welchen Leuten dieser Francesco zusammenarbeitet. Lass Viktor und mich das machen. Ich erzähl dir später, was es mit der Sache auf sich hat.« 80
»Dein Freund hat Recht«, schaltet sich Gwizdek ein. »Es ist wirklich sehr gefährlich.« »Vielleicht hat sich Francesco schon aus dem Staub gemacht«, gebe ich zu Bedenken, »Dann streiten wir uns jetzt um nichts und wieder nichts.« »Darum geht’s doch gar nicht.« Sie verschränkt die Arme, stemmt ihre Knie gegen den Fahrersitz und zieht einen Schmollmund. »Wenn Sie möchten, passe ich auf Philomena auf«, sagt Gwizdek zu mir. »Gehen Sie ihren Geschäften nach, ich bleibe bei dem Mädchen.« »Das würden Sie tun?«, fragt Tony. »Wer sonst?« Gwizdek schaut ihn streng an. Langsam beginne ich, ihn richtig zu mögen. »Dann ist ja alles geregelt.« Tony legt einen Gang ein und steuert den Wagen zurück auf die Straße. Wildes Hupen von hinten – er hat sich nicht umgesehen, Porschefahrer, was soll man da machen? Als wir die Nutte passieren, erwarte ich weitere Flüche und obszöne Gesten. Stattdessen wirft sie einen Blick ins Wageninnere, der mich erstarren lässt. Ich denke an das Zentrum einer Kerzenflamme. Es ist bräunlich, zur Mitte zu fast schwarz. Wenn man direkt hineinschaut, muss man sich nur das Gelbe und Weiße an den Rändern wegdenken, dann saugt es einen geradezu auf. Es lodert genauso wie der helle Teil einer Flamme, vermutlich brennt es sogar heißer. So war der Blick dieser Frau. Zwei bräunliche Flammenzungen, die einen anspringen, wild nach einem Ziel lecken. Ich glaube, sie suchten nach Gwizdek. Aber das ist nur eine Vermutung.
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12 Phil hat dann doch nachgegeben. Das bedeutet, dass unsere Trennung erst mal aufgeschoben ist. Zumindest interpretiere ich das so. Interpretieren – was für ein Scheißwort! Und, Moment mal, Trennung, das ist ja erst recht daneben, schließlich sind wir nicht verheiratet oder so etwas. Muss meinen Wortschatz mal an die Wirklichkeit anpassen. In die erklärt man nichts hinein, an der deutelt man nicht rum. Jedes falsche Wort bringt einen da nur schwer durcheinander. Gut, also Last Exit Pisa, das ist Englisch – halb so wild, wenn man damit mal daneben liegt. Wir fahren Richtung Stadtzentrum. Tony stellt den Fiat Panda auf einem bewachten Parkplatz ab. Da findet ihn die Polizei nie, und wenn, wäre es auch egal. Bei Kleindelikten rückt die Spurensicherung gar nicht erst an, und in Italien gleich zweimal nicht. Außerdem gibt es ja noch die Albaner. Auf der Piazza Duomo und der Piazza dei Miracoli ist ganz schön was los. Zwischen dem Schiefen Turm und der Kathedrale haben sie eine gigantische Bühnenkonstruktion errichtet, mit Laufstegen in alle möglichen Richtungen. Einer windet sich sogar spiralförmig um den Schiefen Turm herum, wie die Steilkurven bei einer Carrera-Bahn, keine Ahnung, wie Lidia die Leute vom Denkmalschutz dazu überredet hat. Und überall Banner mit dem Jean-Paul Gaultier-Logo, als ob hier demnächst ein Parteitag stattfinden würde. Wir gehen am Baptisterium vorbei. Am Rande des Rasens, der die historischen Sehenswürdigkeiten umgibt, findet gerade eine von vielen Kundgebungen statt. Es sind Leute von Attac, einer der Organisationen, die gegen alles protestieren, was nach Profit und Weltmarkt riecht. Eine lange Reihe schwarzbehelmter Polizisten mit Kunststoff-Schilden und Schlagstöcken hat die 82
Grünfläche abgeriegelt, damit die Vorbereitungen für die Modenschau weitgehend unbehelligt ablaufen können. Touristen, wie sie an einem normalen Tag in Massen über das Gelände schlendern, schauen sich das Spektakel von Cafés, Souvenirgeschäften und Imbissbuden aus an, unter ihnen fliegende Händler, die Erfrischungsgetränke und gefälschte Nobeluhren anbieten. Reporter, Fotografen und Kamerateams drängeln sich durchs Getümmel, suchen Standorte, Interviewpartner, fangen Stimmungen ein. Es ist keine bedrohliche Atmosphäre, wenn man an Krach und Menschenmengen gewöhnt ist. Aus einem Megafon ertönt ItaloRap. Eine tiefe, etwas schlampenhafte Frauenstimme. Keine Reden, keine Parolen, sondern immer wieder die Liedzeile comincia adesso, den Rest verstehe ich nicht. Hat aber richtig Groove. Gwizdek geht voran und bahnt uns einen Weg durch die verschiedenen Anti-Globo-Gruppen, Studenten, Berufsrevolutionäre, Lehrertypen, sogar Priester. Sie stammen aus allen möglichen Ländern und tragen T-Shirts mit dem Aufdruck ihrer jeweiligen Vereinigung. Auf einem Gaultier-TShirt steht nicht groß Gaultier drauf, denke ich, aber was soll’s, die müssen selbst wissen, wofür sie Werbung laufen. Alle sind sie da: die Welthungerhilfe, Greenpeace, Gewerkschaften. Würde mich nicht wundern, wenn hier auch noch die Zeugen Jehovas ihren Wachturm unter die Leute bringen würden. Ein ganzer Pulk von Aktivisten in weißen T-Shirts streckt die Arme in die Luft. Sie haben ihre Handflächen mit weißer Farbe angemalt und halten sie mit gespreizten Fingern über ihre Köpfe. Das sieht nicht schlecht aus, gute Medienwirkung, erinnert mich an die Massenhochzeiten der Moon-Sekte. Allerdings haben die T-Shirts einen miserablen Schnitt. Die Armel sind zu weit, zu wenig körperbetont, viel zu labbrig. Wahrscheinlich schrumpeln sie nach dem ersten Waschgang auf Schoßhundgröße zusammen. Made in China, tippe ich. Mit 83
unbehandelter Baumwolle würde das nicht passieren. Da sind die Greenpeace-Leute besser ausgestattet. Die haben längst ihre eigene Merchandising-Abteilung mit politisch korrekter Montur. Hin und wieder rempelt Gwizdek jemanden an. Einige Demonstranten protestieren gegen sein rüdes Vorgehen, halten ihn für einen verdeckten Fahnder. Sie beschimpfen ihn als agent provocateur, was ihn natürlich kalt lässt. Schließlich ist es sein Job, Leute anzurempeln, auf die eine oder andere Weise. Als wir auf der Höhe des Doms angelangt sind, bemerke ich eine Kamera und mehrere Mikrofonbäume. Sie ragen in einen von Menschentrauben umlagerten Kreis hinein. Ordnungskräfte irgendeines Fernsehsenders versuchen, Platz zu schaffen für einen geföhnten Nachrichtenmann mit Extramikrofon. Er zerrt eine Frau zu sich heran, spricht etwas in sein Mikro und hält es ihr unter die Nase. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und erkenne Lidia. Als sie zu reden beginnt, erhebt sich um sie herum ein Pfeifkonzert. Genervt hält sie inne, redet dann weiter in das Mikro hinein. Ich bedeute Gwizdek, stehen zu bleiben. »Die kenne ich«, schreie ich ihm ins Ohr und deute auf Lidia. »Vielleicht kann sie uns helfen.« »Helfen?«, fragt er ungläubig. »Phil und ich sind heute Abend mit ihr hier verabredet. Sie organisiert die Modenschau.« Er schaut mich zweifelnd an. »Ja, das soll ’ne Modenschau werden. Auch, wenn es nicht so aussieht.« »Und die Leute sind dagegen?«, fragt er. »Gegen eine Modenschau?« »Gegen die Modenschau und gegen alles, was sie damit verbinden. Multinationale Großkonzerne. Ausbeutung der Dritten Welt. Markenfetischismus. Das ist ziemlich kompliziert. 84
Im Prinzip steigt da keiner mehr durch.« »Rozumiem«, sagt Gwizdek. »Komisch finde ich nur, dass sie ausgerechnet gegen Gaultier demonstrieren. Der gehört ja noch zu den einigermaßen unabhängigen Designern. Na ja, kürzlich wurde die Marke von Hermès geschluckt, aber das ist doch nicht so schlimm, wie die Leute hier tun. Ich glaube nicht, dass er sein Zeug von irgendwelchen Kindern in Asien zusammennähen lässt wie Tommy Hilfiger. Vermutlich hat er nicht im Traum daran gedacht, so einen Skandal hervorzurufen.« Und ich auch nicht. Dann fällt mir ein, dass der G-8-Gipfel in Genua noch nicht lange her ist. Bei den Protesten wurde ein junger Italiener von den Carabinieri erschossen. Wahrscheinlich ist die Modenschau nur eine Gelegenheit, Flagge zu zeigen. Oder Frust abzubauen. Das Interview, sofern man es als solches bezeichnen kann, scheint beendet zu sein. Lidia wird von zwei Fernsehordnern in die Mitte genommen und Richtung Dom eskortiert. Ich dränge mich an Gwizdek vorbei und versuche, näher an sie ranzukommen. »Lidia!« Sie dreht den Kopf, schaut suchend umher. »Warte auf uns!«, rufe ich auf Deutsch. Jetzt hat sie mich bemerkt. Sie winkt mich heran. Gwizdek, Tony und Phil folgen mir. Die Leute werfen uns böse Blicke zu, treten aber zur Seite. Als ich Lidia erreiche, weicht ihr gestresster Gesichtsausdruck einem Lächeln. »Da bist du ja.« Sie schaut auf ihre Uhr. »Etwas zu früh. Aber das macht nichts.« Für einen Augenblick denke ich an die vergangene Nacht. Verdammt, das ist schon ’ne Gute. Eine, für die ich die Sterne
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vom Himmel holen würde. Wenn es da oben andere Sterne und einen anderen Himmel gäbe. »Das sind Freunde von mir.« Ich zeige auf Gwizdek und Tony. Sie gibt den beiden die Hand. Gwizdek brummt eine Begrüßungsformel. Sie sagt, dass es sie ebenfalls freue, wendet sich Tony zu. Er schüttelt ihre Hand, lächelt lahm, schaut weg. Sie stutzt und runzelt die Stirn. Scheint Misstrauen auf den ersten Blick zu sein. »Kommt mit hinter die Absperrung. Bevor diese Idioten uns lynchen.« Lidia bedankt sich bei den beiden Ordnungskräften und geht zu einem Polizeioffizier, um ihm ihren Sicherheitsausweis zu zeigen. Wir folgen ihr. Der Offizier scheint sie bereits zu kennen. Er schäkert ein bisschen mit ihr, macht einen Witz, den ich nicht verstehe. Sie erklärt ihm etwas, deutet auf uns. Daraufhin macht er eine gönnerhafte Geste. Alles klar, heißt das wohl, ich bin der Chef hier am Platz, lasst mich nur machen. »Un attimo, signore«, meint er zu mir. Nachlässig schnippt er mit dem Finger, worauf eine niedere Polizeicharge herbeigeeilt kommt und uns Plaketten aushändigt. OFFICIAL STAFF MEMBER steht darauf – sind die noch von einem Rockkonzert übrig geblieben? Wir stecken sie uns an und werden durchgewunken. Hinter uns schließt sich der Cordon. Die aneinander gereihten Rücken der Polizisten sehen aus wie der Patronengurt einer Schnellfeuerwaffe. »Hier geht’s zu wie auf einem Schlachtfeld«, sagt Lidia. Wir gehen auf weißen Marmorfliesen zum Baptisterium hinüber. »Hast du das Polizeiaufgebot gesehen? So etwas hab ich noch nie erlebt. Ich meine, mit einer Demo war zu rechnen, das gehört bei so einem Event inzwischen dazu. Soziales Gewissen gegen Reichtum, oder wie man’s nennen mag. Aber dieser Massenauftrieb ist mir ein Rätsel. Was denken diese Leute? Die halten uns wohl alle für Kapitalistenschweine.« 86
»Sie vergeuden ihre Leidenschaften«, sagt Phil zwischen Lidias und meinen Kopf hindurch. »Sie glauben, es sei für eine gute Sache und haben vermutlich sogar Recht damit. Als ob es immer ums Rechthaben ginge. So viele Gefühle für ein einziges Gefühl: auf der richtigen Seite zu stehen. Mir ist das nicht geheuer.« Lidia bleibt stehen und hängt sich bei Phil ein. »Klingt ziemlich frühreif, Schätzchen. Hast du noch mehr von diesen Sprüchen auf Lager?« »Ich mach mir nur so meine Gedanken.« Sie grinst. »Tust du das nicht?« »Hab’s aufgegeben. Lenkt einen nur ab von den wichtigen Dingen.« »Und was sind die wichtigen Dinge?« »Mit Anstand zu überleben. Den Kopf oben zu behalten. Sich nicht runterziehen zu lassen. Von niemandem.« Sie wirft mir einen kühlen Blick zu. »Und sich nicht einspannen zu lassen.« Ihr Kopf neigt sich zu Phil. »Wie bist du denn an den geraten?«, raunt sie ihr zu. Gwizdek und Tony sind ein Stück zurückgeblieben. »Väter kann man sich nicht aussuchen. Na ja, vielleicht doch. Aber das kommt selten vor.« »Ich rede von dem Jungen, der dir dieses Piercing verpasst hat. Damit auch jeder sieht, wessen Eigentum du bist.« Phil fällt die Kinnlade herunter. »Na hör mal. Ich weiß schon, wonach das aussieht, aber so ist es nicht.« Sie berührt das Piercing mit dem Zeigefinger, zieht ihr Top ein Stück herunter, um mit dem Stoff die Brillanten zu polieren. »Es ist schön. ’ne Art Verlobungsring.« »Hat er auch eins?« »Nein, warum sollte er? Reicht doch, wenn ich eins trage.«
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»Dann vergiss, was ich gesagt habe«, lenkt Lidia ein. »War nur der erste Eindruck.« Sie wedelt mit der Hand, winkt ab. »Mach, was du willst«, setzt sie hinzu. »Aber pass auf, dass du nicht unter die Räder kommst.« »Ein Verlobungsring?«, frage ich verdutzt. »Meinst du nicht, dass ich das wissen sollte? Warum hast du mir nichts davon erzählt?« »Reg dich ab, Paps. Tony hat mir das Piercing erst kürzlich geschenkt.« »Kein Grund, es mir zu verschweigen.« »Ich sagte doch schon, es ist nur so etwas Ähnliches wie ein Verlobungsring. Das kapierst du doch, oder?« »Naja, aber –« »Ich krieg nicht oft was geschenkt. Schon gar nichts Persönliches. Also halt einfach den Mund.« Was ich auch einigermaßen betreten tue. Mein Mädchen ist eingeschnappt und ich kann es ihr nicht verdenken. Muss wohl daran liegen, dass ich ihr nie etwas Besonderes geschenkt habe, nicht mal ’ne Kette oder ’ne Uhr. Immer nur Umschläge mit Geld, und auch das nicht besonders regelmäßig. Wie gedankenlos von mir, vor allem, wenn ich mir Tonys Piercing so ansehe. Ich sagte ja schon, dass es Glamour hat. Einen neureichen Schickimicki-Glamour zwar, aber nichtsdestotrotz Glamour, das haben Brillanten so an sich, punktum. Plötzlich fällt mir das Messer ein, das sie gestern Nacht im Main verschwinden ließ. Immerhin etwas. Ein Integralmesser mit handmattierter Klinge. Die Griffschale war aus MammutElfenbein, und Klinge und Knauf waren mit Goldeinlagen verziert. Hab mir das Gleiche gekauft, aber längst irgendwo verloren. Für Phil werde ich mich mal nach etwas Passenderem umsehen müssen.
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Lidia führt uns zu einem gelben Container, wo ihre Kommandozentrale untergebracht ist, ein abgedunkelter Unterstand mit einem halben Dutzend Rechnern und mehreren Kilometern Kabel. Von diesem Laden aus könnte man auch einen kleinen Krieg koordinieren, nichts Weltbewegendes, nur das Übliche mit Bombardements aus der Luft, ein paar konventionellen Lenkwaffen und anschließenden Hilfsgüterabwürfen. Auf eine weiße Kunststofftafel hat jemand einen Zeitplan in blauen Edding-Großbuchstaben geschrieben. Niemand schaut hin. Lidia geht zu einem der Rechner und drückt ein paar Tasten. Daraufhin springt ein Videobeamer an. Auf einer silbernen Leinwand erscheint eine Computersimulation. »Das ist der Laufsteg«, sagt sie und fummelt mit dem Mauszeiger auf dem Bild herum. »Er beginnt am Schiefen Turm, zu dem die Models von hinten über eine Rampe gelangen. Dann führt er in einer Spirale um ihn herum, am Dom vorbei und endet am Baptisterium. Es hat uns eine ganz schöne Stange Geld gekostet, das durchzusetzen. Zum Glück braucht die Kirche dringend Mittel für die nächste Renovierung.« Über Videobeamer lässt sie eine vorbereitete Animation ablaufen. Model-Dummys schweben den Laufsteg herab wie LSD-Engel. Eine imaginäre Kamera bewegt sich um sie herum und vermittelt einen räumlichen Eindruck. Im Hintergrund ist die historische Bebauung zu sehen, allerdings ohne Publikum. »Nicht schlecht, oder?« »Ziemlich aufwändig«, sage ich. »Aber die Kulisse ist einmalig. Stell dir mal vor, was für Fotos das gibt! Der PR-Effekt ist unbezahlbar.« »Und die Demo? Verdirbt die nicht alles?« »Ich hab mir was überlegt. Die Globalisierungsgegner sollen ruhig mit drauf auf die Fotos. Das verleiht dem Ganzen etwas von Aufbruch, Umsturz, jede Menge Action. Und vor allem 89
Authentizität. Das ist gut, passt zu dem Military-Look, den JeanPaul in seiner neuen Collection hat. Meine Leute besorgen gerade Fahnen mit dem Bild von Che Guevara. Wenn wir die im richtigen Moment ausrollen, bleibt den Leuten die Spucke weg. Pass auf, das wird hier noch eine richtige Party. Galilei meets Gaultier meets Guevara. Wir schreiben Geschichte.« »Ist Gaultier mit so etwas einverstanden?«, wundere ich mich. »Das ist doch politisch.« »Der findet die Idee klasse. Liegt voll im Trend, hat er gesagt. Leider kann er nicht kommen. Ist für Hermès in Tokio und eröffnet dort eine Filiale. Die Japaner sind ganz scharf auf seine Sachen.« Auf der Piazzetta del Leone hinter dem Baptisterium haben sie einen Catering-Wagen aufgebaut, außer Sichtweite der Demonstranten und zusätzlich abgeschirmt von Stellwänden und Sonnensegeln. Lidia lädt uns auf einen Kaffee ein. Wir stellen uns an einen wackligen Stehtisch. Zwei weibliche Models, beide groß, blond und von giraffenhafter Unbeholfenheit, halten sich an dem heruntergeklappten Tresen des Catering-Wagens fest. So wie sie aussehen, haben sie ihr nachmittägliches Kotzen gerade hinter sich. Ihre Augen schwimmen in kleinen Teerteichen, recht hübsch anzuschauen, wenn es Kajal wäre, der ihrem Blick Tiefe verleiht. Sie rauchen Shit aus einem metallenen DesignerBong, vermutlich um sich ein wenig locker zu machen für die fürchterlichen Anforderungen des Abends: nichts als ausziehen, anziehen und herumschlendern. Das würde mich auch fix und fertig machen. Ich beschließe, etwas Initiative zu zeigen. »Sag mal, können Phil und Gwizdek nicht eine Weile bei dir bleiben? Ich habe mit Tony noch was in der Stadt zu erledigen.« Lidia schaut von mir zu Tony und dann von Tony zu mir. Ich sehe, wie es in ihrem hübschen Köpfchen arbeitet: Phil hängt aus welchen Gründen auch immer an Tony – anscheinend muss 90
das Mädchen noch seine Erfahrungen machen, da kann man ihr nicht reinreden. Viktor hat ein Auge auf Phil – verständlich für einen treu sorgenden Vater –, und Gwizdek offenbar auch – gut für Phil, wenn auch merkwürdig, denn Gwizdek sieht nach allem aus, nur nicht nach einem guten Onkel. Aber was um alles in der Welt hat Viktor mit Tony zu schaffen? Er kann ihn nicht leiden, das ist offensichtlich, aber irgendwie doch, notgedrungen, möchte man meinen, ist ja auch der Lover seiner Tochter, da muss man schon mal gute Miene zum bösen Spiel machen. »Kein Problem«, sagt sie schließlich. »Was meinst du, Gwizdek?«, frage ich. »Dieser Ort ist so gut wie jeder andere. Schau dir die Polizisten an! Hier seid ihr sicher.« Er sieht sich um und sondiert das Terrain. Ich denke, dass er seine Patronen vermisst. Na ja, vielleicht kann er hier welche auftreiben. Leute wie Gwizdek treiben immer das auf, was sie gerade am nötigsten brauchen. Jedenfalls wäre ich enttäuscht, wenn es ihm nicht gelänge. »Zgoda«, antwortet er und klopft mir auf die Schulter. »Wir bleiben hier, bis du wieder zurückkommst.« Du. Seine Sympathien scheinen eindeutig verteilt zu sein. Er klopft mit der Faust gegen seine Brust. »Willst du Schutz?« Wahrscheinlich meint er seine Kevlar-Weste. Alle Achtung, dass er sie mir anbietet. Ich kenne Leute, die nicht mal ihr Sacko verleihen würden. »Nein, danke«, antworte ich. »Ist sicher nicht nötig.« »Powodzenia«, sagt er. Das heißt ›Viel Glück‹. Jerzy sagt das auch immer zum Abschied. »Danke.« Ich trinke meinen Kaffee aus und fordere Tony auf mitzukommen. »Wird ja auch Zeit«, motzt er und gibt Phil einen flüchtigen Kuss. Sie bewegt den Kopf nur leicht in seine Richtung, hält die 91
Lippen geschlossen. Er dreht sich ruckartig weg, tritt nervös auf der Stelle. »Bis nachher, Phil.« Ich hebe die Hand. Sie bittet mich, ihr Zigaretten dazulassen. Ich reiche ihr meine Packung. Sie nimmt sie kommentarlos, bittet Lidia um Feuer. »Na dann«, sage ich. Die Models werfen uns einen trüben Blick hinterher, so alt wie die Gebäude, in deren Schatten sie stehen. Was habt ihr heute noch vor? Ein Selbstmord-Meeting an einem norwegischen Fjord? Wohl kaum. Modelt lieber und seid schön, das bringt euch nicht auf falsche Gedanken. Tony winkt ihnen zu. Er wirkt ziemlich angespannt. Die Models wenden sich ab, als ob er Schaum vor dem Mund hätte und sie gleich beißen würde. »Keine Angst«, erkläre ich den beiden auf Englisch und zwinkere ihnen zum Spaß zu. »Der entspannt sich wieder. Wartet, bis wir zurückkommen.« Ich deute auf ihr Bong. Mustis Golden Pollum ist nur was für Gourmets. Und haut trotzdem rein wie ein Hochgeschwindigkeitszug. Wie der TGV, falls diese Milesfor-more-Zicken den überhaupt kennen. Ich werde versuchen, was abzuzweigen, wenn wir den Shit wiederhaben. Eine der beiden nickt apathisch, während die andere einen Zug aus dem Bong nimmt. Ich frage mich, an welchen Stunden des Tages sie sprechen im Sinne von Laute bilden, Worte formen. Wahrscheinlich gehört das nicht zu ihrem Programm. Muss es ja auch gar nicht, korrigiere ich mich, das verdirbt nur den ersten Eindruck. You never get a second chance for a first impression. »Verpisst euch endlich!«, ruft uns Lidia zu. Hab mir schon gedacht, dass sie das auf die Palme bringt.
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13 Wir überqueren die Piazza dei Miracoli, schieben uns durch die demonstrierende Menge und schlagen die Richtung zum La Luna ein. Pisa ist eine beängstigend hohle Ansammlung von Geschichte. Rausgeputzt ohne Ende, aber nur an den wichtigsten Punkten, nur dort, wo die Touristen hinkommen. Eine verlogene Stadt. Macht mit ihrem Schiefen Turm eine Menge Reibach und das war’s dann auch schon. Nicht besser als die übelste Nutte, die über Jahrzehnte wirklich jeden über sich drüber gelassen hat, ohne Ekel, ohne Scham, ohne ›Scheiß drauf, ihr könnt mich jetzt alle‹. Ich muss an die Araberin an der Bahnstrecke denken. Die hatte mehr drauf als Pisa. Und mehr als die beiden blonden Models, die wahrscheinlich gar nicht mehr wissen, was sie hier sollen, wo sie sich überhaupt befinden und wozu die Kohle gut ist, die sie heut Abend verdienen. Wenn ich wieder einen fahrbaren Untersatz habe, schaue ich mal bei dieser Frau mit den schwarzen Locken vorbei. Auch wenn sie mir Angst gemacht hat mit ihrem Blick. So schaut man keine Leute an, Nutte hin oder her. Tony sagt lange Zeit keinen Ton. Bereut er es, dass er mich mitgenommen hat? Gerade habe ich eher den Eindruck, dass ich ihn mitnehme. Er bleibt alle naselang stehen, kauft sich ein Panino mit Schinken oder was weiß ich was, futtert den Kram zügellos in sich hinein, trinkt Cola, ohne darauf zu achten, wie viele Kalorien die Scheißbrause hat. Während er sich in einer Bar mit Fresszeug versorgt, trinke ich ein paar Schnäpse, Sambuca, Grappa, egal, das setzt nicht an, tut es nicht, wenn man nichts dazu isst, eine meiner goldenen Ernährungsregeln. Hüftbreiten Stand mittig auf dem Thera-Band einnehmen, die Füße leicht nach außen stellen. Die Enden des Bandes so 93
greifen, dass es etwas vorgespannt ist. Knie leicht beugen und Rücken gerade halten. Dann die Arme gegen die Zugrichtung des Thera-Bandes beugen und strecken. Position der Ellenbogen während der Bewegung nicht verändern, um eine unerwünschte Mithilfe der Schultermuskulatur zu vermeiden. Tony schlendert mit einem Sandwich in der Hand zu mir herüber. Wir nehmen die Plaketten ab, die uns die Polizisten gegeben haben. »Nur dass du dir darüber im Klaren bist, Viktor«, sagt er mit vollem Mund. »Das wird kein Deal oder so was. Wir greifen uns den Shit und das war’s. Wenn der Typ aufmuckt, hat er verloren. Ich bin Italiener, nicht hier geboren, aber trotzdem. Im Notfall kann ich ’ne Menge Leute mobilisieren.« Du, Tony, du willst hier Leute mobilisieren? Dass ich nicht lache! Musst du dann deinen Babbo vorschieben, oder was? Ein bisschen mit deinem Handy spielen, damit deine Cousins anrücken? »Was macht die Wunde?«, frage ich ihn. Er streicht sich über den Oberarm, zuckt zusammen. »Ist schon okay. Ich bin nicht aus Zucker.« Mir fällt ein, dass wir keine Waffe dabei haben. Rücksichtshalber teile ich es Tony mit. Ich nehme an, dass er darauf Wert legt. Er tastet an seinem Hosenbund herum. Richtig, die Beretta hat Phil kassiert. Als Tony wieder mal ausgerastet ist. »Fick!«, stößt er hervor. Ein paar Krümel fliegen dabei aus seinem Mund. »Wir brauchen keine Waffe, Tony. Komm schon, wir sind zu zweit. Das kriegen wir schon hin. Nimm dich zusammen. Mit deiner Verletzung kannst du sowieso keine Pistole halten. Auch wenn du in der Tiefgarage so getan hast.« »Ist schon okay, ich brauch keine Waffe.« Er hebt die Hände. 94
»Wer braucht hier ’ne Waffe? Ich mach diesen Francesco auch so fertig!« Aber er braucht eine Sonnenbrille. Wir machen uns auf der Toilette frisch, zahlen und gehen weiter. Bei einem Straßenhändler kauft sich Tony eine billige Gucci-Kopie, so eine, wie sie Arnold Schwarzenegger im ersten Terminator trägt, kein Vergleich zu dem neuen Wrap-around-Modell, das ich trage. Seine Ray Ban liegt auf dem Friedhofsparkplatz, da wo sie hingehört. »Bist du bereit?«, frage ich, als wir, wie sinnig, in die Via San Francesco einbiegen. Die Demonstranten von heute Morgen sind anscheinend alle zur Piazza Duomo gepilgert. Die Straße ist leer, abgesehen von dem Müll, den die Anti-Globo-Trotter hinterlassen haben – Bananenschalen, Orangensafttüten, zu Brei getretene Kornriegel. »Immer«, sagt Tony. »Na dann sei ausnahmsweise mal ein abgezockter Mafioso, und tu nicht immer bloß so.« Er zeigt mir den Finger. »Weißt du was, Tony? Wenn ich jetzt Vito Corleone wäre, würde ich denken, dass du mir keinen Respekt erweist. Wie soll es mit uns weitergehen? Was denkst du? Du willst etwas von meiner Tochter. Glaub bloß nicht, das gibt’s gratis.« Er beherrscht sich mühsam, überlegt wohl, ob er mir sofort eine reinhauen soll. Schön, überleg mal, Tony. Aber überleg’s dir gut. »Entspann dich«, sagt er schließlich. »Wir gehen da jetzt rein und holen uns das Zeug. Das heißt, wir untersuchen es, nicht mehr und nicht weniger. Vor Phil darf ich mich damit nicht blicken lassen.« »Wie du meinst.« 95
»Ist keine große Sache. Bist du religiös?«, wiederholt er. »Wie kommst du denn darauf?« »Bist du religiös?«, wiederholt er. »Ein wenig«, gebe ich zu. »Große Alleinheit, abstraktes Schöpfertum, Reinkarnation – was man halt gerade so glauben kann. Prinzipiell glaube ich fast an alles, wenn’s einer guten Sachen dient.« »Bist du von etwas überzeugt?« »Dass meine Phil mit dem Falschen vögelt, wenn du das jetzt nicht durchziehst.« »Keine Sorge, Arschloch. Wir ziehen das jetzt durch.« »Freut mich. Dann streng dich mal an.« Zwei Sicherheitskräfte flankieren den Eingang des Luna. Wir zeigen unsere Plaketten vor und werden ohne Schwierigkeiten in die Halle durchgelassen. Hier herrscht wenig Betrieb. Kein Vergleich zu dem Andrang, als wir zuletzt hier waren. An der Rezeption empfangen uns prüfende Blicke. Unsere Kleidung entspricht glücklicherweise nicht der Casual-Wear-Uniform, mit der die Kornriegelfraktion ausgestattet ist. Vor allem tragen wir keine Shorts, jenes Sinnbild des Zivilisationsverfalls, welches die Oberschenkel eines käsigen Baseball-Cap-Trägers umweht, der mit einer ehefrauähnlichen Kopie gerade am Einchecken ist. Tonys schwarzer Rolli ist so dünn, wie ein Ralph Lauren-Rolli nur sein kann. Mein Burberry-Hemd ist unverwechselbar Burberry. Und wir tragen Sonnenbrillen. Die Empfangsdame begrüßt uns mit einem geschulten Lächeln. Sie legt den beiden Baseball-Caps – Save the Whales – ein Meldeformular zum Ausfüllen vor und wendet sich uns zu. Bevor Tony loslegen kann, versetze ich ihm einen Rippenstoß. Ich nehme meine Gucci ab und fange an zu plaudern. Dass wir das Luna bei diesem schrecklichen Andrang in Pisa kaum gefunden hätten. Dass es uns von Geschäftsfreunden wärmstens 96
empfohlen worden sei als the most sophisticated house in town. Ob denn die Bar schon geöffnet habe. Die Empfangsdame nickt verständnisvoll. Es ist eine andere als die, bei der ich gestern mit Phil eingecheckt bin. Eine von der taffen Endvierziger-Sorte, mit Gesichtszügen aus Granit und einer Ferré-Lesebrille an einem Kettchen. Und jede Menge Erfahrung. Ich tippe auf zwei Scheidungen, eine unglücklich, die andere, naja, aus Pragmatismus. »Tut mir Leid, wir öffnen die Bar erst am Abend.« Ob wir es wieder mit den Plaketten versuchen sollen? Aber das erscheint mir zu polizistisch und überhaupt viel zu unhöflich. Inzwischen redet die weibliche Baseball-Cap auf ihr Anhängsel ein. »Sind wir hier in einem Überwachungsstaat?«, sagt sie auf Deutsch. Ich denke sofort an den Dethleffs Wohnwagen, der irgendwo im Spessart meinen Jaguar blockiert hat. Baseball-Cap, männlich, sichtlich übermüdet und eigentlich gar nicht so recht in Debattierlaune, ringt sich daraufhin zu der Frage durch, ob dieses Meldeformular denn unbedingt nötig sei. Sein Englisch klingt so charmant, wie der Ruhrpott in den Sechzigern aussah. Ich sage zu der Empfangsdame, dass ich ungern unterbrechen möchte. Aber ich wäre ihr unendlich dankbar, wenn sie für uns eine Ausnahme machen würde. Wir hätten gehört, dass ein bestimmter Kellner namens Francesco im La Luna ganz phantastische Drinks zubereitet. Davon bräuchten wir jetzt unbedingt einen oder am besten gleich mehrere in Anbetracht der Strapazen, die wir in der Altstadt hinter uns gebracht hätten. Mit den Augenbrauen signalisiere ich ihr, dass dieser Tag für uns alle auch etwas angenehmer verlaufen könnte. Die Baseball-Caps schauen mich an, als ob ich in ihr Vorzelt gekackt hätte. Ich nehme an, die Campingplätze rund um Pisa sind derzeit überfüllt und die billigen Pensionen auch. Das Luna wird wohl ein gehöriges Loch in die Urlaubskasse reißen. 97
»Ich werde sehen, was sich machen lässt«, erwidert die Empfangsdame. Über Telefon gibt sie einige Anweisungen durch. »Möchten Sie einstweilen schon einmal Platz nehmen?« Mit einem kaum hörbaren Seufzer der Erleichterung nimmt sie ihre Lesebrille ab, winkt eine Angestellte herbei und sagt zu den Baseball-Caps, dass sich jetzt ihre Kollegin um sie kümmern würde – in perfektem Deutsch. Sie wünscht ihnen einen angenehmen Aufenthalt und lässt sie mit hochroten Köpfen stehen. In einem Stechschritt, wie ihn nur italienische Frauen über dreißig draufhaben, führt sie uns durch den leeren Speisesaal in Richtung Bar, sperrt die Tür auf und macht die Beleuchtung an. Dann lässt sie uns an dem ovalen Tresen Platz nehmen und setzt die Eismaschine in Gang. »Francesco wird gleich bei Ihnen sein. Genießen Sie Ihren Drink.« Ich bedanke mich möglichst distanziert – nichts schlimmer als Unterwürfigkeit, wenn Profi-Personal einem Gefälligkeiten erweist. Die Empfangsdame sagt, dass es ihr ein Vergnügen gewesen sei, schnappt sich ein Fläschchen Campari Soda aus dem Kühlschrank und entschwindet mit einem komplizenhaften Lächeln. »Versuchen wir’s erst mal mit gutem Zureden«, schlage ich Tony vor. »Wir dürfen ihm keine Angst einjagen.« Unbehaglich rutscht er auf seinem Barhocker hin und her. »Hier steht ’ne Menge auf dem Spiel, Viktor. Soll ich etwa ›bitte, bitte‹ sagen?« »Brems dich ein bisschen. Gib ihm das Gefühl, eine Wahl zu haben.« »Eine Wahl?«, prustet Tony los. »Der Kerl hat Glück, dass er es mit uns zu tun hat.«
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Vom Speisesaal höre ich Schritte. Ich ducke mich hinter den Tresen. »Er kennt mich« flüstere ich zur Erklärung. »Bestell irgendwas, beschäftige ihn. Dann tauche ich auf.« Ich setze mich auf die Messingstange, auf der man die Füße abstützt, mit Blick auf Tonys Schuhe. Er trägt schwarze, inzwischen aber reichlich eingestaubte Pennyloafer mit Tasseln – was anderes wäre auch unvorstellbar. Typen wie Tony lieben Tasseln. Das erinnert sie daran, was sie außer ihrem Schwanz sonst noch in der Hose haben. Francesco begrüßt ihn mit einem lockeren Spruch, much trouble in the streets, so in der Art. Ich denke, dass Sonderwünsche nicht ungewöhnlich sind in einem Hotel wie dem Luna. Aber vermutlich rentiert es sich nicht, die Bar durchgehend zu öffnen. Tony antwortet in überraschend gutem Englisch, vielleicht, um Francesco auf Abstand zu halten. Sein Babbo hat ihn wohl mal in die Staaten geschickt, um etwas für seine Bildung zu tun. Er bestellt einen Scorpion, keine Ahnung, wie der gemixt wird. Gläserklirren. Francesco fängt an, mit Flaschen zu hantieren. Ich höre das Mahlen eines Eiscrunchers, das Geräusch einer Fruchtpresse. Plötzlich verlässt Tony seinen Platz. Er geht um den Tresen herum, schließt die Tür zum Speisesaal. »Ich brauche deine Hilfe, Francesco«, fängt er an. Gar nicht schlecht, denke ich. Zumindest ist er lernfähig. »Der Drink ist gleich fertig, Signore.« Das Rasseln von zerstoßenem Eis in einem Shaker. »Vergiss den Drink. Es geht um letzte Nacht. Das Mädchen. Du erinnerst dich doch an sie.« Die Mixgeräusche verstummen. »Welches Mädchen?« »Wir beide wissen, welches Mädchen. Sie hat dir was gegeben. Irrtümlicherweise.« 99
Ich höre förmlich, wie Francesco fieberhaft überlegt, ob Tony ein Polizist ist – tick-tack, tick-tack. Aber warum sollte ihn ein Polizist auf Englisch ansprechen? Ich richte mich auf. »Ein Paket.« Francesco fährt herum und starrt mich mit offenem Mund an. Der Überraschungseffekt ist gelungen. Er schluckt. Ich gebe ihm zwei Sekunden. Tick. Tack. »Ungefähr fünf Kilo schwer«, füge ich hinzu und setze meine Sonnenbrille wieder auf. Hektisch schaut er von mir zu Tony und wieder zurück zu mir. Ich beuge mich über den Tresen und nehme das schnurlose Telefon an mich, das neben der kleinen Computerkasse in seiner Ladeschale steckt. »Würdest du uns dabei helfen, dieses Paket wiederzubekommen?« Ich bin ausnehmend freundlich, spreche mit ihm wie mit einem Passanten, den man nach dem Weg zum Bahnhof fragt. »Es ist nämlich so: Wir brauchen dieses Paket, und zwar unverzüglich. Natürlich ist uns klar, dass der Inhalt von einigem Wert ist. Aber stell dir vor, der Wert interessiert uns gar nicht, nicht im Geringsten. Derjenige, der das Paket jetzt besitzt«, ich mache eine bedeutungsschwere Pause, »kann die darin enthaltene Ware, wie ich es einmal formulieren möchte, ruhig behalten. Ich finde das überaus großzügig, glaubst du nicht auch?« Zumindest mit Rücksicht auf Phil. Seine Hände tasten nach einem Halt. Er nickt konsterniert. »Wir, das heißt mein Freund hier und ich, wir möchten diese Ware nur … kontrollieren. Einen Blick darauf werfen, gewissermaßen. Nachsehen, ob damit alles in Ordnung ist. Denn leider, und so viel sei dir verraten, Francesco, leider sind wir der Annahme, dass die Ware in diesem Paket eine Art Fremdkörper enthält. Einen Gegenstand, vielleicht ein Stück Papier. Eine 100
Mitteilung, die an uns gerichtet ist, Francesco, nicht an dich. Du hast damit nichts zu tun.« Er mustert mich, versucht abzuschätzen, welche Gefahr ihm droht. »Das ist schwer nachzuvollziehen, das gebe ich zu, aber wir müssen der Sache nun einmal nachgehen. Wir müssen das herausfinden, deswegen sind wir hier. Und wenn wir es herausgefunden haben, gehen wir durch diese Tür da«, ich zeige in die entsprechende Richtung, »nach draußen. Wir verlassen das Hotel, und es wird so sein, als ob wir nie da gewesen wären. Wir sind dann wie eine sanfte Brise, die für einen Augenblick hier durchgeweht ist, ein Windhauch, wenn du mir diesen Vergleich gestattest. Dann wird die Ware die Bestimmung finden, die ihr jetziger Besitzer«, ich mache eine Geste in seine Richtung, »dafür vorgesehen hat. Und alle werden zufrieden sein.« Er starrt mich an, als ob ich sein Beichtvater wäre. Gut so, Francesco, lege Bekenntnis ab und ein Platz im Himmelreich wird dir und den deinigen gewiss sein. »Kannst du mir folgen, Francesco? Drücke ich mich auch verständlich genug aus?« »Natürlich, Signore«, antwortet er beflissen. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mir einen Brandy einschenke?« »Nur zu, trink etwas auf diese unerwartete Wendung des Schicksals. Wir nehmen auch einen.« »Scheiß doch auf diese Softi-Tour«, zischt Tony und streicht sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Wo ist das Zeug?« Er baut sich vor Francesco auf. Ich gehe um den Tresen herum und halte Tony an den Schultern fest. »Mein Freund ist ziemlich ungeduldig. Ein Charakterfehler, fürchte ich. Lass dich nicht aus der Ruhe bringen.« Ich verlagere mein Gewicht auf einen von Tonys Pennyloafers und drücke kurz die verwundete Stelle an seinem 101
Oberarm. Er stößt einen spitzen Schrei aus, worauf ich ihn behutsam aus dem Weg schiebe. »Sie wollten uns einen Brandy einschenken«, helfe ich Francesco auf die Sprünge. Mit fahrigen Bewegungen greift er nach einer Flasche und stellt drei Cognacschwenker auf die Bartheke. »Sie …, Sie wollen den Shit also nur untersuchen? Und dann kann ich ihn behalten?« Eine Menge Brandy, immerhin ein Cardenal Mendoza, geht daneben. Er stürzt sein Glas in einem Zug hinunter. Schön, zu erfahren, dass er den Shit nicht bereits vertickt hat. Und gar nicht so übel, es mal mit einer wahren Geschichte zu probieren. Die Leute spüren gleich, dass man sie nicht übers Ohr hauen will. »Dieser junge Mann hier«, sage ich zu Tony und proste ihm zu, »mixt nicht nur hervorragende Drinks. Er ist auch erstaunlich schnell von Begriff.« Ich leere mein Glas, genau das Richtige, um weiter lässig zu bleiben. »Bleibt uns nur noch zu klären, wo in diesem Hotel sich die Ware derzeit befindet.« Das war auf den Busch geklopft, aber ich denke, Francesco ist für Suggestivfragen empfänglich. »Ich …, wenn Sie wollen, kann ich’s sofort holen.« »Keine Umstände, Francesco. Es reicht, wenn du uns sagst, wo wir es finden.« Er zögert, schaut sich suchend um. Ich darf ihn kein Selbstvertrauen fassen lassen. »Möchtest du dich lieber mit meinem Freund unterhalten? Soll ich kurz rausgehen und in fünf Minuten wiederkommen?« Ich mache einen Schritt zur Seite und fordere Tony mit einer einladenden Bewegung auf näherzutreten. »Es ist in meiner Tasche«, beeilt sich Francesco zu versichern. »In meinem Spind. Neben dem Lieferanteneingang.« Er greift in seine Hosentasche, legt einen Schlüsselbund auf die Theke
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und sucht einen Schlüssel heraus. »Der kleine.« Er hält ihn hoch. »Welcher Spind?«, fragt Tony und greift nach dem Schlüsselbund. »Auf der linken Seite. Der mit dem blauen Vorhängeschloss.« Tony schaut mich fragend an. Ich nicke. »Bin gleich wieder da«, sagt er und verlässt die Bar. Ich frage mich, ob Francesco jetzt noch Alarm schlagen will. Aber dafür ist es zu spät. Wenn herauskommt, dass er eine größere Menge Drogen bei sich hat, ist er seinen Hoteljob los. Und die Tatsache, dass er heute seinen Dienst angetreten hat, sagt mir, dass ihm an diesem Job etwas liegt. Noch. »Ich weiß, was du jetzt denkst«, sage ich und zeige auf mein leeres Glas. Er füllt es reflexartig nach. »Du denkst, dass wir mit dem Paket verschwinden. Du denkst, dass du deine Träume begraben kannst. Vielleicht hast du heute Morgen bei einem Autohändler vorbeigeschaut und dir schon mal überlegt, womit du in diesem Sommer am Arno entlangfahren wirst.« Ich nehme einen Schluck. »Der Brandy ist wirklich gut. Richtig blumig. Una festa sui prati.« Er stellt die Flasche neben das Glas und schlägt die Augen zu Boden. Ich bemerke, wie sein Blick auf ein Obstmesser fällt, das neben der Fruchtpresse liegt. »Ein Cabrio, hab ich Recht? Fiat oder Alfa? Oder der neue Peugeot? Nein, kein Peugeot, das passt nicht zu dir. BMW?« Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. »Du kriegst deinen BMW, Francesco, glaub mir. Es mag dir vielleicht komisch vorkommen, aber wenn du jetzt da stehen bleibst und nichts anderes tust, außer uns hin und wieder einen Brandy einzuschenken, dann wirst du, wer weiß, vielleicht schon in ein paar Tagen zu diesem Händler gehen, einen Z3 erwerben und die Uferstraße rauf und runterfahren, bis dir das 103
Benzin ausgeht. Natürlich kommt das darauf an, wie geschäftstüchtig du beim Umsatz der Ware bist, einer Ware, die nach wie vor dir gehört. Das war kein Scherz vorhin, du kannst mir ruhig glauben. Es ist alles deins.« Auch wenn’s mir in der Seele wehtut. Tony kommt zurück. Er schließt die Tür, stellt ein graues Bodybag auf dem Tresen ab und holt das Shit-Paket heraus, eine gepolsterte Versandtasche, deren Rückseite mit einem JiffyZeichen bedruckt ist. »Ging wie geschmiert.« »Gib mir das Messer, Francesco.« Er reicht es mir. »Und sperr die Tür ab.« Während Tony ihn dabei begleitet, setze ich mich an einen möglichst abgelegenen Tisch in einer Nische und packe den Shit aus. Es müssten fünfzig Tafeln zu je hundert Gramm sein, säuberlich eingeschlagen in Plastikfolie, na ja, neunundvierzig, weil ich eine Tafel auf der Fahrt nach Pisa angebrochen habe. Das, was ich vorsichtig aus der Versandtasche heraushole und was mir teilweise schon entgegenkommt, sieht allerdings gar nicht gut aus. Ich verteile den Shit auf der Tischplatte und mache Inventur. Fünfunddreißig Tafeln sind unversehrt. Der Rest besteht aus Brocken und Bröseln, zum Teil noch in Plastikfolie gewickelt, zum Teil lose. Zusammengenommen müsste die Menge aber ungefähr hinkommen. »Sag mal, was hast du damit gemacht?« Tony ist hinter mich getreten und schaut mir über die Schulter. »Bist du drauf rumgetrampelt?« »Ich, äh, ich komme mit dem Fahrrad zur Arbeit«, stottert Francesco. »Ich hatte es eilig.« »Warum gehst du nicht ein bisschen pfleglicher mit deinem Z3 um?«, frage ich.
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»Ich kann nichts dafür«, wehrt er sich. »Als mir die Kleine das Zeug gegeben hat, sah es auch nicht viel besser aus.« »Das kann schon sein«, erkläre ich Tony. »Es war im Handschuhfach. Und wir haben einmal den Wagen gewechselt. Lässt sich nicht vermeiden, dass dabei etwas zu Bruch geht.« Tony legt einen Arm auf Francescos Schultern. »Ich hoffe, es fehlt nichts.« Er schaut uns betreten an. »Francesco?« »Was soll’s«, sagt er unwillig. »Ich hab was für mich abgezweigt.« Er pult ein Knäuel Alufolie aus seiner Hosentasche und legt es auf den Tisch. »Nicht viel, nur was für den Eigenbedarf.« »Also gut«, sage ich und werfe einen Kontrollblick zur Tür. »Je schneller wir damit fertig sind, umso besser. Besorg dir ein Messer«, weise ich Tony an. Aber er hat schon eines dieser Springteile mit Perlmuttgriff in der Hand. In seinem Alter stehen diese Dinger ganz hoch im Kurs. Nur zum Anschauen und Vorzeigen, versteht sich. »Mach mal ein bisschen Musik, Francesco!« Er begibt sich hinter die Bar und schaltet die Musikanlage ein. Comincia adesso ist zu hören, der gleiche Song, den sie auf der Piazza Duomo gespielt haben. »Von wem ist das?«, frage ich, während ich mich zusammen mit Tony daran mache, die Shittafeln zu zerstückeln. »Nove Nove Posse«, antwortet er. »Die sind hier aus der Gegend. Ist was Politisches. Soll ich was anderes einlegen?« »Lass es drin. Das ist gar nicht so übel. Und bring uns mehr Brandy.« »Certamente, Signore.« Er bedauert, dass der Mendoza alle ist, und stellt uns eine Flasche Vecchia Romagna hin. Immerhin einen Riserva. Der Junge ist doch nicht so blöd. 105
14 Wir hacken den Shit klein wie Küchengehilfen einen Sack Zwiebeln. Tony ist mit Eifer bei der Sache. Dauernd geht mir durch den Kopf, wonach wir hier eigentlich suchen. Aber aus Tony ist nichts herauszubekommen. Als er im Auto mit seinem Vater gesprochen hat, ist von einer Drohung die Rede gewesen. Und von den Türken. Nun ja, das Zeug stammt von den Türken. Haben die da was reingetan, was den Remo-Clan nervös machen soll? Finden wir jetzt gleich einen kleinen Finger oder eine Ohrmuschel? Womit drohen Türken? Haben die einen eigenen Code, um subtile Botschaften zu übermitteln wie »Wir übernehmen euer Revier«, »Wir haben euch in der Hand«. Oder ganz einfach »Wir machen euch kalt«? Der Geruch des Shits macht mich etwas benommen. Drogen. Scheint so, als spielten sie in den wichtigen Abschnitten meines Lebens immer eine Rolle. Obwohl der Ausdruck Drogen etwas hochgegriffen ist. Im Gegensatz zu dem, was ich mir nach Sills Tod einverleibt habe, ist Shit so etwas wie Knabberzeug: Macht dick, aber die Pfunde kommen eigentlich woanders her. Shit habe ich damals geraucht, um von den anderen Sachen wieder einigermaßen runterzukommen. Ich war richtig kaputt in jener Zeit, völlig hinüber. Wenn mir jemand noch einen letzten Tritt gegeben hätte, wäre ich mir nichts, dir nichts in die Grube gefahren, Abgang Kulisse rechts. Ohne die Hilfe des Mädchens, mit dem ich damals zusammen war, wäre es ganz sicher so gekommen, das weiß ich. Sie hat das Gleiche genommen wie ich, aber in niedrigeren Dosen und nicht so häufig, nicht schon, bevor ein Trip sich dem Ende zuneigte, sondern mit ein bisschen Turkey dazwischen, damit sie wieder auf den Geschmack kam. Irgendwann hat sie den Turkey dann ausgestanden, ohne was nachzulegen. Und ohne Therapie, aus schierer Willenskraft. 106
Klingt unwahrscheinlich, aber sie war scheißejung, und ihr Körper war nicht so versaut wie meiner. Unter zwanzig bringt man noch den Mut auf für so einen Cut. Es gelang ihr, mich mitzuziehen, im Huckepack aus den giftigen Nebeln rauszutragen, wie unter Artilleriebeschuss, ein weiblicher Forrest Gump. Als ich wieder halbwegs clean war, hat sie mir den Tritt gegeben, der mich kurz davor noch umgebracht hätte, und mich eines Morgens verlassen. Geduscht, gefrühstückt, geküsst – und weg war sie. Ihr Name war Sonja. Oder Soljanka? Nee, das ist ’ne Suppe. Die Erinnerung an diese Phase lässt mich oft im Stich. Wenn ich ’ne Weile drüber nachdenke, fällt’s mir bestimmt wieder ein. »Das war’s.« Tony lehnt sich zurück. »Keine verschissene Nachricht von Erdem, nichts. Der Dreckskerl hat nur geblufft. Wollte uns wohl nur Angst einjagen. Wahrscheinlich lacht er sich tot, wenn er sich vorstellt, wie wir den guten Shit zerhäckseln.« »Sieh’s doch mal so: Keine Nachricht ist in diesem Fall eine gute Nachricht«, sage ich, während Francesco den Gegenwert eines Alufelgensatzes vom Tisch schabt. Jedes Mal, wenn wir mit ein paar Tafeln durch waren, hat er das Zeug säuberlich weggekratzt und in Zellophanbeutelchen verpackt. Aus dem wird noch was. »Ich muss mit meinem Vater sprechen.« Tony steht auf, holt sein Handy hervor und überprüft das Display. Dann geht er zur Tür. Anscheinend ist der Empfang da besser. Oder er möchte nicht, dass ich mithöre. Ich trinke noch einen Brandy und wickle Francescos Shitkugel aus, die wir irgendwie übersehen haben. Ich breche sie auf. Wie ich mir schon gedacht habe, ist nichts darin versteckt. Ich nehme nicht an, dass irgendjemand nachvollziehen kann, was ich jetzt gleich tue, und auf Verständnis pfeif ich sowieso. Deswegen sage ich vorneweg, dass man immer die Umstände bedenken muss, den Kontext, um die Fachsprache zu bemühen. 107
Also, die Umstände sind folgende: Tony und ich haben gerade fünf Kilo Shit klein gehackt, Golden Pollum, um genau zu sein. Und Shit von dieser Qualität hat einen höllisch intensiven Geruch, das kitzelt in der Nase, stellt alle Gib-deinem-Körperwonach-ihn-verlangt-Antennen auf einen gestochen scharfen Empfang. Das ist so, wie wenn man eine Whisky-Destille besichtigt, dauernd den Duft des Malzes, der Maische und des Alkohols einatmet und – das ist das Härteste – exorbitante Mengen dieses Stoffes um sich weiß. Da kriegt man richtig Lust, ein ganzes Fass von diesem zusammengepantschten, auf alt gemachten Fusel in sich reinzustürzen. Genau so geht es mir jetzt. Ich sehe eine ordentliche Menge Shit vor mir liegen, habe nichts da, um mir einen Joint zu bauen, will mich auch gar nicht damit aufhalten und erst recht nicht Francesco um Blättchen oder so etwas bitten. Ich will das Zeug nur irgendwie in mich reinkriegen, damit es mir all die wunderbaren Gefühle bereitet, die ich zwar schon kenne, aber immer mal wieder reproduzieren möchte. Zugegeben hat mich der Brandy schon mürbe und vielleicht auch etwas kopflos gemacht. Jedenfalls fackele ich nicht lange – Francesco ist noch mit dem Eintüten seines BMWs beschäftigt – und stopfe mir die Shitkugel kurzerhand in den Mund. Ich kaue, schlucke. Es schmeckt exakt so, wie es riecht, nach aromatischen Kräutern, mit denen man ein Salatdressing aufpeppen könnte, wenn’s nicht zu schade dafür wäre. Ich habe gehört, dass man Meskalin auf diese Weise zu sich nimmt. Aber Meskalin, was soll das denn bewegen? Der Shit ist ziemlich trocken und hängt sich in die Zähne. Deswegen spüle ich mit dem Rest des Brandys nach. Und ich muss sagen: Es fühlt sich ganz gut an. Kein Stromschlag, der einem die Nervenenden bloßlegt, mehr ein bassiger Groove unter der Magendecke. Sicher täusche ich mich, denn bis der Shit wirkt, braucht es noch etwas Zeit. Aber ich bin mit mir im Reinen. Und das kommt wirklich selten vor, oh ja. 108
Tony hat sein Telefonat beendet. Wir setzen uns zurück an die Bar. Er wirkt lockerer, hat sich sichtlich beruhigt. »Jetzt, wo diese Angelegenheit geklärt ist, können wir’s auch begießen. Erdem ist ein kleiner Scheißer, der kann uns gar nichts. Das war reine Panikmache, nichts weiter. Bleiben wir noch ein bisschen«, schlägt er vor. »Vorausgesetzt, Francesco hat nichts dagegen.« Francesco raucht gerade einen Monster-Joint und hat überhaupt nichts dagegen. Wir unterhalten uns, zum ersten Mal ungezwungen, ohne Gehabe. Tony gibt etwas von sich preis, keine Ahnung warum, vielleicht, weil die Anspannung von ihm abgefallen ist und er endlich einmal eine Sache fehlerfrei durchgezogen hat. Da gerät man schon mal in eine dieser Stimmungen. Er erzählt mir, was ihm Phil bedeutet. Wie er sie kennen gelernt hat. Wie stolz er darauf ist, dass eine wie sie sich mit ihm abgibt, trotz der Kohle, die er von zu Hause hat. Wie stark sie sei. Ich kriege nicht mehr so viel mit. Aber es ist ein gutes Gespräch, vertraulich geradezu. Irgendwann wende ich ein, dass sich das Mädchen, über das wir uns gegenseitig was vorschwärmen, Sorgen machen könnte. »Bestimmt fragt sie sich, wo wir bleiben«, sage ich. »Du hast Recht«, erwidert Tony und greift zu seinem Handy, das er auf dem Bartresen abgelegt hat. Als sich Phil meldet, gibt er ihr durch, dass alles in Ordnung sei. Nein, wir hätten nichts gefunden, was nach einer Nachricht ausgesehen habe. Er sei ja so erleichtert, habe auch gleich mit seinem Babbo telefoniert. Und überhaupt liebe er sie wie verrückt, und wir seien bald wieder zurück. Tony legt auf. »Alles klar«, sagt er und nimmt den Joint, den ihm Francesco anbietet In einem endlos gierigen Zug saugt er ihn leer. »Taugt nichts«, sagt er angewidert, holt ein goldenes Döschen aus seiner Hosentasche und zieht eine schlampige Koks-Line. Ich winke ab, als er mir das Röhrchen anbietet, 109
warte lieber noch ein Weilchen auf meinen Flash. Für ProletenSchick konnte ich mich ohnehin nie begeistern. Er zuckt mit den Schultern und schnieft die Line selber weg. »Mamma Santa!«, ruft er aus und legt den Kopf in den Nacken. »Das war höchste Zeit.« Dann fängt er an, übers Heiraten zu sprechen. Es kommt mir etwas übereilt vor, aber warum nicht, man kann ja mal die Gedanken schweifen lassen. Er malt mir die Hochzeitsfeier aus, bei der ich natürlich eine Rede halten müsse, das sei so Sitte in jedem Land der Welt, da käme ich nicht drum herum. Keine Angst, die Kosten übernehme sein Babbo, der habe Phil ja beinahe schon adoptiert, das werde er sich nicht nehmen lassen. Wir könnten in dem Restaurant feiern, das sein Alter vor ein paar Jahren eröffnet habe, sein Lebenswerk nach der ewigen Schinderei mit der Pizza-Kette, das San Paolo, bestimmt wisse ich, wo das sei, in der Nähe der Schirn, ein richtiger GourmetTempel, das hätten wir dann nur für uns. »Das wird ein MegaFest!«, sagt er mit verschleiertem Blick. »Und Phil ganz in Weiß mittendrin. Du gibst doch dein Einverständnis, oder?« Ich nicke leicht schwachsinnig. Ob es in Pisa wohl eine UBahn gibt? Ich spüre so ein unterirdisches Wummern, wie wenn sich von fern ein Zug nähert. Der Bartresen, das sind die Gleise, die leise zu singen anfangen, bevor eine Bahn in die Station reinrauscht. Tony stößt auf. Er sagt, er müsse mal raus, um sich zu erleichtern. Ich solle nicht weggehen, er sei gleich wieder da, jetzt, wo wir uns so gut verstünden, müssten wir uns noch weiter unterhalten. Umständlich klettert er von seinem Barhocker und schwankt in Richtung Toiletten davon. Francesco versucht, mir irgendetwas zu verstehen zu geben, aber der U-Bahn-Zug wird immer lauter. Er verschwindet aus meinem Blickfeld. Jetzt beginnt der Boden zu vibrieren. Gläser und Flaschen schlagen gegeneinander, ein irres Klimpern, das mir wie eine Experimental-Version von New York, New York 110
vorkommt, gespielt von irgendeinem Freak, der noch zugedröhnter ist als ich – falls das möglich ist. Ein mächtiger Windstoß bläst mich an und weht mich fast vom Hocker. Muss das Vakuum sein, das der Zug vor sich herschiebt. In The Airs gibt es keine U-Bahn, das ist schon mal sicher. Dort oben kann man sich von Ort zu Ort beamen, was ja viel praktischer ist als so ein altmodisches Verkehrsmittel, das nur ’ne Menge Platz braucht und schlecht riecht. Plötzlich setzt ein schreckliches Kreischen ein. Es bohrt sich in meine Schläfenlappen und bleibt dort stecken wie eine Voodoonadel. Da zieht wohl einer die Bremse, mit tausendfacher akustischer Verstärkung, wie’s scheint. Francescos Gesicht taucht kurz wieder auf, taumelt durchs Bild, das inzwischen ziemlich mies geworden ist. Man sollte es mal neu einstellen, ist ja nichts zu erkennen bei all dem Geflimmer und Geflacker, den gezackten Linien, die wie wild von hier nach da schießen und wieder zurück. Ich schlage mir mit den Handflächen gegen den Schädel und wackle mit dem Kopf, um ein paar klägliche Bewusstseinsreste zu aktivieren. Irgendwelche Leute stehen um mich rum, vielleicht Fahrgäste, die in den gleichen Zug gestiegen sind. Aus den Augenwinkeln nehme ich eine Bewegung wahr. Oder bin ich es, der sich bewegt? Türen schließen selbsttätig, zurücktreten bitte, Abfahrt. Jaah, denke ich, die Gleise entfernen sich langsam, das Kreischen verstummt. Mit einem idiotischen Kichern kippe ich nach hinten weg.
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ZWEITER TEIL
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15 Als die Che-Guevara-Fahnen ausgerollt werden, legt sich zum ersten Mal seit mehreren hundert Jahren, vermutlich seit der letzten Pestepidemie, Schweigen über die Piazza dei Miracoli. Es dauert nur ein paar Sekunden. Dann dröhnt El pueblo unido jamás serà vencido in einer Rap-Version aus den Lautsprechern. Die ersten Models mit Camouflage-Anoraks und Army-Sakkos tigern über den Laufsteg. Drei Frauen, drei Männer, wieder drei Frauen. Blitzlichtersalven. Plötzlich bleiben sie wie auf Kommando stehen und recken die geballte Faust in den rosafarbenen Abendhimmel. Die Choreografie ist perfekt. Kein Politkommissar hätte sie besser planen können. Die Demonstranten wissen nicht so recht, was sie jetzt tun sollen. Ein paar stimmen wieder ihre Sprechchöre an. »Contradiction!«, rufen sie, vermutlich meinen sie damit nicht die Duftserie von Calvin Klein. Aber ohrenbetäubender Protest, wie er die gesamte Modenschau bis dahin begleitet hat, flammt nicht mehr auf. Im Gegenteil, die Ersten singen El pueblo unido laut mit und fangen an zu tanzen. It’s party time, nicht nur bei den Demonstranten, sondern auch bei den offiziellen Zuschauern der Modenschau, bestehend aus einem Häuflein Fashion-Promis, privilegierten Presseleuten und der örtlichen Highsociety. All diesen Leuten ist mit der Zeit etwas mulmig geworden, aber sie wollen sich dieses Ereignis nicht entgehen lassen und nach Möglichkeit auf das eine oder andere Illustrierten-Foto kommen. Jetzt erheben sie sich von ihren Sitzen und feiern sicherheitshalber mal mit. Die Tribünen, von denen aus sie das Geschehen verfolgen, sind so aufgestellt, dass auch die Demonstranten den Laufsteg einsehen können. Öffentlichkeitswirksam.
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»Es funktioniert!«, triumphiert Lidia. »Die fahren voll drauf ab!« Sie ist auf den Container ihrer Kommandozentrale geklettert, um einen besseren Überblick zu haben. »Wenn du sie nicht schlagen kannst, verbünde dich mit ihnen«, sagt sie zu Phil und Gwizdek, die ein paar Meter neben ihr stehen. Überall gehen Fäuste hoch. Die Demonstranten, die bislang wie Fragmente versprengter Splittergruppen gewirkt haben, bilden jetzt eine wogende Masse, Revolutionsfeeling macht sich breit. Die nächsten Models tschickern über den Laufsteg, diesmal mit ärmellosen Body-Shirts und um den Kopf gewickelten Piraten-Tüchern. Als El pueblo unido zu Ende geht, ertönt If you tolerate this von den Manic Street Preachers. »Outlaw-Look. Noch aus der 99er-Collection«, ruft Lidia. »Aber der Höhepunkt kommt noch.« Nachdem die letzten Gesetzlosen ihre Runden gedreht haben, führen die Models einheitliches Schwarz vor: T-Shirts, Hosen mit aufgenähten Taschen, Edel-Sneakers, Gürtel mit schwarzen Nieten. Ein paar tragen sogar Strickmasken, die nur die Augen freilassen. Sogar ein Integralhelm ist zu sehen. Freedom von George Michael schallt dazu aus den Lautsprechern. Ein Raunen geht durch die Zuschauerreihen. Die Autonomen wurden von der Polizei längst abgedrängt und in der Nähe der Arena Garibaldi eingekesselt. Trotzdem wirkt es beängstigend, die Montur des Schwarzen Blocks auf dem Laufsteg präsentiert zu bekommen, zur Haute Couture geadelt, ein Schockeffekt, typisch für Gaultier, das Enfant terrible der Modewelt, wie die Zeitungen wieder schreiben werden. Die Menge ist unschlüssig, weicht etwas zurück. Als George zum letzten Mal die Zeile All we have to do now is take these lies and make them true singt, werden die Scheinwerfer abgeschaltet. Licht aus, Ton aus, Ende der Vorstellung. Das Wagnis zahlt sich aus. Nach der ersten Verblüffung beginnen die Demonstranten untereinander zu diskutieren. Der 114
Schlussakkord der Modenschau hat für jede Menge Gesprächsstoff gesorgt. Vermutlich wird es eine Nacht der Gremienbildung werden. Verlautbarungen müssen formuliert, Stellungnahmen aufeinander abgestimmt werden. Einstweilen ist die Anti-Globo-Bewegung mit sich selbst beschäftigt. »Da ist dein Freund!«, ruft Lidia plötzlich. Phil stellt sich auf die Zehenspitzen, kann aber wegen des Polizeicordons nichts erkennen. Kurz darauf öffnet sich die menschliche Absperrung und Tony schlüpft hindurch. Die Polizisten haben Mühe, nachdrängende Demonstranten zurückzuhalten. Ein Tumult entsteht, Schlagstöcke zucken hoch. Dann scheint sich die Lage wieder zu beruhigen. Tony joggt an den Tribünen vorbei und trifft heftig atmend bei den anderen ein. »Wo ist mein Vater?«, fragt Phil. »Auf und davon«, gibt Tony zurück. »Getürmt. Mit dem Shit.« Lidia bemerkt Phils fassungslosen Gesichtsausdruck, ihre Überraschung und dann den Schmerz der Enttäuschung, einen bitteren, endgültigen Schmerz. Und Resignation, schmerzhafter als der Schmerz. »Was ist los?« Sie klettert von dem Container herunter. »Viktor ist verschwunden«, erklärt Tony. »Gehen wir rein«, schlägt Lidia vor. »Hier können wir nicht reden.« Sie scheucht ihre Mitarbeiter aus dem Container. »Nun macht schon, die Show ist zu Ende! Geht was trinken, wir sind fertig hier.« Die Leute schalten ihre Computer aus und verlassen den winzigen Raum. Die Luft ist zum Schneiden, eine drückende Mischung aus Parfum und Schweiß. Lidia bittet Phil und Gwizdek herein. Als Tony an ihr vorbeigeht, riecht sie Alkohol
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und Anspannung. Seine Pupillen sind so klein wie Stecknadelköpfe. »Als du mich angerufen hast, war doch noch alles in Ordnung«, sagt Phil. »Das dachte ich auch.« Tony lässt sich erschöpft auf einen Drehstuhl fallen. Seine Augen wandern unruhig umher. Schließlich heften sie sich auf Lidia. »Können wir ihr trauen?« »Sie hat uns schon zweimal geholfen«, erwidert Phil. »Ohne zu fragen, warum. Sie gehört zu uns.« »Meinst du?«, fragt Tony. »Es geht um Drogen, stimmt’s?« Lidia lehnt sich an eine Containerwand und verschränkt die Arme vor der Brust. Tony kann seine Überraschung nicht verbergen. »Wie kommst du denn darauf?« »Würde mich nicht wundern. Ich kenne Viktor.« »Ich kenne ihn auch«, erwidert er. »Deswegen wundert es auch mich nicht. Aber dich«, er lehnt sich nach vorne, »dich kenne ich nicht.« Er wendet sich Phil zu. »Wer ist sie?« »Paps traf sie gestern Abend im Hotel. Heute Morgen hat sie uns die Klamotten besorgt, mit denen wir geflohen sind. Vor dir«, setzt sie gereizt hinzu. »Ich vertraue ihr.« »Was weiß sie?« »Keine Ahnung, ob ihr Viktor etwas erzählt hat.« Lidia schüttelt den Kopf. »Er hat fast nichts gesagt. Jedenfalls nichts über irgendwelche Drogengeschichten.« »Was spielt das für eine Rolle?«, fragt Phil. Sie wird ungeduldig, möchte endlich wissen, was sich im La Luna zugetragen hat. Für Tonys Misstrauen ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. »Meinst du etwa, sie ist von der Polizei?« »Nein, das glaub ich nicht, aber –« 116
»Hör mal zu«, sagt Phil zu Lidia. »Ich kann dir nicht die ganze Geschichte erzählen. Aber du hast Recht, es geht um Drogen. Wir sind keine Dealer oder so etwas.« Sie wirft Tony einen strengen Blick zu. »Aber wir haben von einem Paket mit Haschisch erfahren …« »He, warte!«, protestiert er. »Du kannst doch nicht …« »Das ist nicht klug«, wendet Gwizdek gleichzeitig ein und schüttelt dabei den Kopf. »Gar nicht klug.« »Seid still!«, fährt Phil die beiden an. »Tony und mein Vater sind ins Hotel gegangen und haben diesen Shit untersucht«, stößt sie blitzschnell hervor, um nicht unterbrochen zu werden. »Nur untersucht«, betont sie. »Wegen einer … wichtigen persönlichen Angelegenheit. Zumindest hatten sie das vor. Alles scheint glatt gegangen zu sein. Das hat mir Tony vorhin über Handy erzählt. Und jetzt sagt er, dass mein Vater mit dem Shit verschwunden ist.« Sie dreht sich zu Tony. »Könntest du vielleicht etwas genauer werden?« »Also gut«, fängt Tony widerwillig an. »Ich war kurz draußen, auf der Toilette. Als ich wiederkam, lag dieser Junge, von dem wir den Shit bekommen haben, auf dem Boden. Ich glaube, Viktor hat ihn niedergeschlagen. Und dann hat er den Shit für sich behalten. Jedenfalls war Viktor nicht mehr da. Und der Shit war weg. Ich bin so schnell, wie ich konnte, hergekommen.« Er hebt die Hände. »Das ist alles, was ich weiß. Wonach sieht das wohl aus? Was glaubst du?« Phil schaut zu Boden. Sie weiß nicht, was sie erwidern soll. Alles scheint so offensichtlich darauf hinzudeuten, dass Viktor nur darauf gewartet hat, sich abzusetzen. Wie er es wahrscheinlich immer vorhatte. »Hat er was von dem Shit geraucht?«, fragt Lidia. »Nicht, dass ich wüsste«, antwortet Tony. »Warum?« »Auf Drogen ist er unberechenbar. War er schon immer.« 117
Alle Köpfe drehen sich in ihre Richtung. »Ich kenne ihn nicht erst seit gestern Abend«, fährt Lidia fort. »Wir hatten mal was miteinander.« Offene Münder. Gwizdek streicht über ein paar Bartstoppeln auf seiner Wange. »Ich glaube nicht, dass er mich im Hotel erkannt hat. Aber es ist wahr. Wir waren mal zusammen.« »Wann?«, will Phil sofort wissen. »Wann war das?« »Ungefähr vor zehn Jahren. Ich war so in deinem Alter. Naja, ein bisschen jünger.« Phil rechnet im Kopf zurück. »Damals ist meine Mutter gestorben«, sagt sie. Ihr Blick gleitet über die blinden, langsam erkaltenden Computerbildschirme, steigt zu den Rippen der Containerwand empor, folgt den Kabelsträngen, die mit Isolierband an die Decke geklebt sind. Ein Mann kam in ihr Zimmer, bückte sich, fragte sie nach ihrem Namen. Sie sagte ihn, leise, denn sie wusste nicht, wer der Mann war, was er von ihr wollte, welche Absichten er verfolgte. Er ließ sich vor ihr auf einem Knie nieder, brachte seinen Kopf auf gleiche Höhe mit ihrem, legte eine Hand auf ihre Schulter. Er lächelte, aber sie spürte, dass ihm eigentlich gar nicht nach Lächeln zumute war. Sein Lächeln war eine Bitte. Sie sollte ihm verzeihen. Aber was? Er hielt inne, atmete schwer aus, verstärkte den Griff an ihrer Schulter. Jetzt bekam sie Angst, nicht vor dem Mann, sondern davor, was er ihr gleich sagen würde, was er in seinem Atem verbarg. An seinem Griff merkte sie, dass es etwas Schreckliches war. »È morta«, hörte sie schließlich aus den Worten heraus, die er hervorpresste. Sie schüttelte seine Hand ab. Er ließ den Kopf hängen und richtete sich auf. Sie wollte an ihm vorbei aus dem Zimmer laufen, aber er hielt sie zurück. Als sie aufhörte, ihn mit Fußtritten zu bearbeiten, tätschelte er ihren Kopf Sie wehrte sich nicht, wartete, bis er das Zimmer verließ. Sie dachte, dass er es nie 118
mehr verlassen würde, aber irgendwann ging er dann doch, ohne ein weiteres Wort. An seiner Stelle kam ihre Großmutter herein. Sie schloss Phil in die Arme und begann zu weinen. Phil weinte mit. »Er hat sich damals über ein Jahr nicht gemeldet.« Phil fixiert wieder die Rippen an der Wand. Nicht ein einziger Anruf. Als ob er gemeinsam mit Sill gestorben wäre. »Wir wussten nicht einmal, wo er sich aufhielt. Auch später hat er nie etwas gesagt über diese Zeit.« Sie sieht Lidia erwartungsvoll an. »Er war bei dir?« »Ich würde dir das gerne ersparen«, fängt Lidia an. »Aber ich glaube, du hast ein Recht, es zu erfahren.« Sie schiebt einen Bildschirm und die dazugehörige Tastatur beiseite und setzt sich auf die Arbeitsplatte, direkt neben Phil. »Wir haben uns in Berlin kennen gelernt«, fährt sie fort, »als die Mauer gefallen war. Alle haben damals gedacht, dass es nach der Wiedervereinigung in diesem Tempo weitergehen würde. In Berlin wird jetzt Zukunft gemacht, sagte Viktor immer. Und wir mittendrin. Na ja, viel ist nicht passiert. Jedenfalls nichts Aufregendes, nichts, was uns wirklich in Staunen versetzt hätte. Die Stadt machte weiter, wo sie aufgehört hatte. Sie war vielleicht ein bisschen größer und naiver, mit mehr Menschen und so, aber was macht das schon aus?« Ihre Finger gleiten über die tote Tastatur, drücken wahllos darauf herum. »Anfangs hat Viktor noch pausenlos fotografiert, immer mit mir im Schlepptau. Ich hab alles sausen lassen, bin von zu Hause weggelaufen, um nichts zu verpassen.« Sie zieht ein Bein zu sich heran, umfasst ein Knie mit den Armen und stützt ihr Kinn darauf ab wie ein Teenager, der auf dem Pausenhof Jungs beobachtet. »Irgendwann hat er aufgehört, zu fotografieren. Von einem Tag auf den anderen. Er fuhr für ein paar Wochen weg, sagte, er müsse eine bestimmte Sache in Ordnung bringen, etwas, das mit 119
seiner Ex-Frau zu tun hatte. Damit meinte er deine Mutter, nicht wahr?« Phil nickt. »Ich denke schon.« Sie lässt ihr Knie los und richtet sich auf. »Als er wiederkam, war er nicht mehr derselbe. Nicht, dass er vorher keine Drogen genommen hätte, aber jetzt fing er erst richtig damit an. Heroin kam damals wieder in Mode.« Sie lacht gezwungen, als ob sie über Negerküsse oder Ahoi-Brause reden würde. »Ich machte natürlich mit, ein paar neue Erfahrungen konnten nicht schaden, dachte ich.« Sie atmet geräuschvoll aus. Ihre Stimme wird dünner. »Aber im Grunde …«. Ein hohes Räuspern. »Im Grunde war er es, der mich damals an die Nadel gebracht hat. Mit vierzehn.« Ihr Blick kreuzt den von Phil, irrt wieder ab. »Ich war noch nicht so weit. Ein oder zwei Jahre hätte ich wohl noch gebraucht. Viktor hat sich nicht darum geschert. Ich glaube, er wusste gar nicht, wie alt ich war, hat sich jedenfalls nie danach erkundigt. Er brauchte wahrscheinlich nur Gesellschaft, denke ich mir, jemanden, der gemeinsam mit ihm etwas Verbotenes tat. In dieser Zeit habe ich einiges über ihn erfahren, was er mir zuvor verschwiegen hatte. Über seine Frau. Über dich. Und über seine Träume.« Sie schaut Phil an, die ihr aufmerksam zuhört und dabei trotzdem leicht abwesend wirkt, wie jemand, der sich sofort ein Bild macht von dem, was ihm mitgeteilt wird, mehrere Bilder, eins neben dem anderen, um sie später in dieser Reihenfolge abrufbereit zu haben, später, wenn Zeit ist, über diese Bilder nachzudenken, sie in seinem Inneren zu betrachten, nebeneinander zu legen, zu vergleichen und schließlich aufzubewahren an einem sicheren Ort, den keiner kennt. »Aber was genau vorgefallen ist, als er weg war, hat er nie erzählt. Er sagte, es ginge mich nichts an.« Lidia zuckt mit den Schultern. Sie kratzt sich am Arm. Alte Narben machen sich wieder bemerkbar. »Nach einiger Zeit habe ich gemerkt, dass wir auf dem besten Wege waren, uns gegenseitig umzubringen. 120
Wir entwickelten einen regelrechten Ehrgeiz, neuen Stoff aufzutreiben. Niemals den gleichen Schuss hintereinander, das war eine Frage des Prinzips. Es wurde immer mehr, und natürlich reichte die Kohle hinten und vorne nicht. Wir fingen an, alles Mögliche zu klauen und zu Geld zu machen. Das war nicht besonders schwer. In Berlin lag damals vieles, was noch von Wert war, einfach so herum, das Ganze war ein Selbstbedienungsladen, vor allem im Osten. Irgendwann habe ich mir gesagt, okay, Ende, jetzt oder nie, du wirst clean.« Sie streckt sich, verschränkt die Arme über dem Kopf. »Ich hab das durchgezogen. Nicht, dass ich stolz drauf wäre, aber ich hab’s ohne fremde Hilfe geschafft, ohne Therapie jedenfalls und diesen Quatsch. Und dann hab ich Viktor davon weggebracht.« Sie nickt zur Bekräftigung. »Er wehrte sich, als ob sein Leben davon abhinge – was es in gewisser Weise ja auch tat. Als ich mir sicher war, dass er über den Berg war, habe ich mich von ihm getrennt.« Sie nickt wieder. Diesmal ist es mehr ein Wiegen des Kopfes. »Komisch. Als ich nach Pisa geflogen bin, habe ich wieder an ihn gedacht. Er sprach oft davon, dass er hier noch etwas zu erledigen hätte.« Nachdenkliches Schweigen. Die Worte kreisen noch in dem Raum herum, lassen sich nach und nach nieder, wie Singvögel, die von ihrem Winterquartier im Süden zurückkehren und beginnen, nach Nahrung zu suchen. »Dein Vater war ein Junkie?«, sagt Tony zu Phil in die Stille hinein. »Na wunderbar. Also, wenn ihr mich fragt, hat er sich mit dem Shit verpisst. Wahrscheinlich wird es nicht lange dauern, und er meldet sich bei Gwizdek. Soll er, ich habe kein Problem damit. Aber ich werde hier nicht rumstehen und darauf warten. Wir fahren jetzt zum Flughafen, Phil. Es gibt nichts, was uns hier hält. Besser du findest dich damit ab.« »Wer hat dich eigentlich gefragt?« Phil versucht noch, Lidias Geschichte zu verdauen, fühlt sich von Tony gestört. Sie stößt sich von der Wand ab, an die sie sich angelehnt hat, ordnet ihre 121
Gedanken. Tony will Viktor im Stich lassen, denkt sie, genau wie er es mit ihr in Frankfurt gemacht hat, als er vor Mustis Leiche weggelaufen ist. Sie öffnet die Metalltür des Containers. »Na los. Da geht’s zum Flughafen.« »Was soll das heißen?«, fragt Tony entgeistert. »Dass du jetzt am besten verschwindest.« Er starrt sie ein paar Sekunden lang sprachlos an. Schließlich erhebt er sich, ballt die Hände zu Fäusten. »Nicht ohne dich. Du kommst mit.« Er macht einen Schritt auf sie zu, packt sie am Handgelenk. Sie reißt sich los, versetzt ihm einen Schlag vor die Brust. »Das machst du nie wieder!«, schleudert sie ihm entgegen. »Niemals!« Wütend dreht sie sich um und stürzt aus dem Container. Tony will ihr folgen, aber Gwizdek hält ihn mit einem Arm auf Distanz. »Lass sie!«, sagt er mit drohendem Unterton in der Stimme. »Was mischst du dich da ein?« Langsam schließt Gwizdek die Tür und bleibt davor stehen wie ein ungesprengtes Stalindenkmal. »Was ist wirklich passiert? In dem Hotel?« »Das hab ich doch schon gesagt, verdammt! Meinst du, ich lüge Phil an?« »Du lügst jeden an.« »Er kokst«, wirft Lidia ein. »Ist ja nicht zu übersehen.« »Na und? Sollen wir jetzt zusammen eine Selbsthilfegruppe aufmachen? Nee danke, ich verzichte. Behalt deinen Kindergartenscheiß mal schön bei dir.« Tony will an Gwizdek vorbei, aber er verstellt ihm den Weg. »Was wollt ihr eigentlich von mir? Viktor ist derjenige, der Mist gebaut hat. Muss ich jetzt betroffen sein, weil dieser alte Sack ein Drogenproblem hat? In welcher Zeit leben wir denn? Wie wär’s, wenn du ihn anrufst, Gwizdek? Du hast doch seine Nummer.« 122
»Spokojnie. Das hat Zeit.« Er bietet Tony einen der Drehstühle an.
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16 Phil schaltet ihr Handy aus. Palazzo degli Orsi, das liegt an der Piazza vor dem Bahnhof, etwa eine Viertelstunde vom La Luna entfernt, quer durch das Stadtzentrum. Sie macht sich auf den Weg, geht zügig in Richtung Arno. Die Straßen sind still, wie ausgestorben. Die alte Furcht vor den Gefahren der Nacht. Selbst in den kleinen Gassen stehen Einsatzfahrzeuge der Carabinieri, dunkelblaue Kästen, in denen Schatten sitzen, reglos. Instrumentenanzeigen blinken darin wie die Positionslichter eines Jets im Sinkflug. Es hat merklich abgekühlt. Phil bedauert, dass sie nur einen dünnen weißen Cardigan über ihrem Top trägt und einen Jeansrock, der weit über ihren Knien endet. Aber da, wo sie hingeht, wird sie nicht viel mehr brauchen. Auf dem Ponte di Mezzo bleibt sie stehen, lehnt sich über das Marmorgeländer und betrachtet die erleuchteten Uferstraßen zu beiden Seiten des Flusses, Wege, die in gegenläufige Richtungen führen, von West, wo der Badeort Marina di Pisa und das Ligurische Meer liegt, nach Ost zu den Städten Cascina, Empoli und Florenz bis zu den Hängen des Appennin – und vice versa. Der Arno trennt die beiden Verkehrsadern, wie der Grünstreifen einer Autobahn, nur breiter, dunkler, mächtiger. Lautlos schleppt er sich durch sein Bett, an das sich die Stadt einst hingelagert hat. Pisa, die Unabänderliche, vom Rest der Welt schon vor einer halben Ewigkeit vergessen und dennoch stolz auf ihre lang zurückliegende Blütezeit, von der ihre Sehenswürdigkeiten zeugen. Erst kamen die Römer, dann die Sarazenen, schließlich die Florentiner. Seither hat sich das Stadtbild, abgesehen von ein paar hässlichen Vororten, kaum gewandelt. Die Stadt ist weltberühmt, aber immer nur für die
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paar armseligen Stunden, in denen sich Besucher in ihr aufhalten. Phil mag Pisa. Wegen der Universität gibt es hier überdurchschnittlich viele junge Leute. Daran erinnert sie sich, wenn sie überlegt, wie sie mit Sill hier gelebt hat. Als Viktor davongelaufen war, zogen sie von Deutschland weg. Ihre Mutter setzte ihr Wirtschaftsstudium fort. Um sich und Phil über Wasser zu halten, fotografierte sie nebenbei Touristen. Das hatte Viktor ihr beigebracht, unterbelichtete SchwarzweißAufnahmen, die nach Kunst aussahen, wenn man sie auf Sepiapapier abzog und in einen entsprechenden Rahmen steckte. Phil hasste diese Fototermine, an denen Sill mit den Touristen in den Botanischen Garten ging. Dort wimmelte es vor Stechfliegen, aber er gab eine gute Kulisse ab. An einigen Stellen war sogar die Spitze des Schiefen Turms durch Äste und Palmwedel zu sehen. Während die Touristen darauf achteten, dass ihre Kleidung beim Posieren nicht schmutzig wurde, trug Phil ihrer Mutter Stativ und Fototasche hinterher und hatte keine Hand frei, um die Mücken zu verscheuchen. Die Touristen lobten sie für ihre Tüchtigkeit, aber die Stiche an ihren Armen und Beinen schwollen trotzdem auf Taubeneigröße an, juckten entsetzlich und zogen noch mehr Fliegen an. Hin und wieder machte Sill auch eine Aufnahme von Phil und schickte besonders gelungene Abzüge davon an Viktor. Es waren stumme Vorwürfe, die genau das Gegenteil von dem bewirkten, was beabsichtigt war. Viktor ließ sich kein einziges Mal in Pisa blicken. Weder, um zu Sill zurückzukehren – was sie sich verbeten hätte. Noch, um sie zu bewundern für ihre Unabhängigkeit – was sie sich gewünscht hatte, ohne es sich einzugestehen. Ein durchdringender Geruch weht zu ihr herüber. Weihrauch, denkt Phil. Vielleicht halten sie in San Michele, einer nahe gelegenen Kirche, einen Gottesdienst ab. Wofür sie wohl beten? Schicken sie ihren Dank zum Altar hinauf, dass die 125
Demonstration gewaltfrei verlaufen war? Oder wünschen sie die Globalisierungsgegner zum Teufel? Tonys Beretta steckt immer noch im Bund ihres Rockes. Der Lauf hat inzwischen Körpertemperatur angenommen, drückt gegen ihre Beckenwirbel. Jetzt könnte sie die Pistole in den Fluss werfen, wie sie es mit dem Messer in Frankfurt getan hat. Weg damit, und das Handy gleich hinterher, in den nächstbesten Zug steigen, keine Abschiede, keine Risiken, keine Ansprüche. Stattdessen schiebt sie die Waffe tiefer in den Bund, damit sie beim Gehen nicht herausrutscht. Am Ansatz ihrer Pobacken spürt sie den Mündungsring. Sie fühlt sich alles andere als sicher. Aus Francesco war nicht viel herauszukriegen. Sein Gesicht glich einer aufgeplatzten Wassermelone, aus der die Kerne und das Fruchtfleisch nur so hervorquollen. Als Phil im La Luna eintraf, waren ein paar Leute vom Hotelpersonal gerade dabei, ihn notdürftig zu verarzten. Sie überlegten, ob sie die Polizei rufen sollten. Von Phil wollten sie wissen, wer ihn so zugerichtet haben könnte. Allem Anschein nach schien sie Francesco zu kennen, der nicht in der Lage war, mehr als ein ersticktes Gurgeln von sich zu geben und Zähne auszuspucken. Die Empfangsdame sagte, dass er in der Bar Drinks gemixt habe, für zwei Männer, von denen einer das Hotel wieder durch den Vorderausgang verlassen habe. Aber es seien noch mehr Leute in der Bar gewesen. Einer der Köche habe gesehen, wie sie durch den Lieferanteneingang hereingekommen waren. Er hatte sie für Araber gehalten. Phil horchte auf. Sie sagte, dass sie es für gefährlich halte, die Polizei zu verständigen. Die Hotelangestellten stimmten ihr zu. Sie wollten sich mit niemandem anlegen, schon gar nicht wegen Drogen. Es war allgemein bekannt, dass Francesco ein wenig dealte. Solange er damit niemandem schadete, sagte die Empfangsdame, war nichts dagegen einzuwenden gewesen. 126
Aber jetzt sei er deswegen wohl in Schwierigkeiten geraten. Seine Angelegenheit. Als Phil das Hotel verließ, gab sie sich die Schuld. Nach und nach zog sie immer mehr Menschen in diese Sache hinein, das war nicht mehr von der Hand zu weisen. Francesco wäre noch unverletzt, wenn sie nicht darauf verfallen wäre, ihm den Shit zu schenken. Wie idiotisch zu denken, damit sei alles aus der Welt. Sie hatte am Abend zuvor bekommen, was sie wollte. Sie hatte sogar den Shit aus dem Verkehr gezogen. Aber sie hatte nicht mit Tonys Hartnäckigkeit gerechnet, und erst recht nicht mit Viktors. Und selbst wenn sie damit gerechnet hätte: Wie hatte Erdem erfahren, wo sie sich aufhielten? Offenbar war er über jeden ihrer Schritte im Bilde. Als der Koch etwas von Arabern erzählt hatte, war ihr sofort klar geworden, dass Erdem im Hotel gewesen sein musste, wahrscheinlich nachdem Tony sie angerufen hatte. Vielleicht war er Viktor begegnet. Tony schien ihm dagegen entwischt zu sein. Glück oder Feigheit – Tony kam für beides in Frage. Wenn sie an Francesco dachte, wurde ihr eiskalt. So kalt wie vor ein paar lange zurückliegenden Wochen. Francesco war nur ein kleiner Fisch. Das hatte sicher auch Erdem gemerkt. Deswegen hatte er ihn am Leben gelassen. Das liebte er: einen Hinweis zu hinterlassen, dem niemand nachzugehen wagte, ein Zeichen, das seinen Weg markierte. Nur von Viktor fehlte jede Spur. Trieb seine Leiche bereits im Arno? Oder war es so, wie Tony gesagt hatte? Dann hätte Viktor ebenfalls Glück gehabt. Viktor und Glück? Sein Handy war nicht eingeschaltet, das hatte Phil schon ausprobiert. Bevor sie die andere Nummer wählte, dachte sie an das, was Lidia erzählt hatte. Was sollte sie empfinden? Welches Gefühl konnte die Beunruhigung überlagern, die ihr Vater in ihr ausgelöst hatte? Wut? Angst? Dass Viktor bei Drogen regelmäßig schwach wurde, wusste sie längst. Als sie mit neun zu ihm nach Frankfurt gezogen war, hatte er sich eine Weile 127
zusammengerissen. Aber da waren die verlängerten »Recherche«-Wochenenden gewesen, die zweideutigen Nachrichten auf dem Anrufbeantworter, die allzu bemühten Ausreden. Phil wäre damit zurecht gekommen, aber Viktor hatte ja unbedingt ein Versteckspiel um das bisschen Speed (damals war es Speed) inszenieren müssen, das er – das wusste sie – in Ilford-Filmdosen mit sich herumgetragen hatte. Drogenkonsum war doch kein Grund zur Geheimhaltung. Schlimmer als die Drogengeschichte an sich wog für Phil, dass er sie als Geheimnis behandelte. Damit fingen die Probleme überhaupt erst an. Seine, ihre und offenbar auch Lidias, an die er sich nicht einmal erinnern konnte. Sie verstand seine Motive nicht. Versuchte er an ihr, Phil, wieder gut zu machen, was er an Lidia versäumt hatte? Für welche ungelösten Konflikte ihres Vaters musste sie noch herhalten? Jedenfalls schien sich dieses Muster jetzt umzukehren, wie ein Fluch, der über ihnen hing. Es war an ihr, diesen Fluch ein für alle Mal aufzuheben, das zeichnete sich immer deutlicher ab. Also wählte sie die Nummer. Regen setzt ein. Sie stößt sich vom Brückengeländer ab und geht weiter. Auf dem Corso Italia ist etwas mehr los als auf der anderen Seite des Arno. Radfahrer kreuzen die Passeggiata, umkurven abendliche Spaziergänger, die ihre Schritte beschleunigen, als die ersten dicken Tropfen fallen. Eine kleine Gruppe von Demonstranten hat sich vor dem Palazzo Gambacorti versammelt, dem Rathaus von Pisa. Sie haben noch nicht begriffen, dass die Kundgebungen zu Ende sind – oder wollen ihre eigene einfach fortsetzen. »Contro la globalizzazione neoliberista«, rufen sie halbherzig und ziehen sich dabei unter die Arkaden des Palazzos zurück. Fluch ist das falsche Wort, denkt Phil, um sich abzulenken. Eher könnte man von einem Funktionsprinzip sprechen, einer Art Formel, die ihren und Viktors Handlungen zugrunde liegt 128
und sich irgendwann, vielleicht nach Sills Tod, herausgebildet hat. Sie glaubt nicht an göttliche Strafe oder andere übernatürliche Erklärungen, sondern dass es bestimmte Konstellationen und Abläufe gibt, die den Anschein von Zwangsläufigkeit erwecken. Eine Zwangsläufigkeit, zu der sie unwissentlich beigetragen hat. So würde sie es zumindest in der Sommerakademie formulieren. Falls sie da je hinkommt. Sie tritt in eine Pfütze. Die Lichter der Straßenbeleuchtung spiegeln sich auf der regennassen Piazza am Ende des Corso. Phil zieht den feucht gewordenen Cardigan enger um ihre Schultern, als sie das Oval umrundet. Kein Gedanke mehr an den Bahnhof, diese Illusion von Flucht. Langsam nähert sie sich dem Hotel. Der Palazzo degli Orsi ist alles andere als ein mittelalterliches Stadtpalais. Vermutlich wurde das ursprüngliche Gebäude abgerissen, um diesem 60er-Jahre-Zweckbau Platz zu machen. Nur der feudale Name ist übrig geblieben, gelbe Neonbuchstaben vor einer verdreckten Kunststofffassade, die wie ein nachträglich angebrachter Riegel in der Häuserzeile klemmt, unverrückbar und auf erschreckende Weise endgültig. Vorsichtig späht sie durch die von Regentropfen gesprenkelte Fensterfront. Wasser und Glas verbinden sich zu einer schlierigen Emulsion. Ob sie im Foyer schon auf sie warten? Sie kann kaum etwas erkennen, presst ihr Gesicht gegen die Scheibe. Mit den Handflächen formt sie einen Guckkasten. Ihre Zehen stemmen sich in die durchweichten Sohlen ihrer Sandaletten. Das Klamme in ihrem Nacken sind Tropfen, die von der eingerollten Pergola auf ihre Haut fallen. Hinter ihr vorüberfahrende Autos und Motorroller, deren Geräusch allmählich erstirbt, je mehr sie sich anstrengt, in das Innere zu blicken. Sie sieht einen Mann an der Rezeption sitzen, vermutlich der Portier. Er ist in eine Zeitschrift vertieft. Hin und wieder fällt sein Blick auf einen kleinen Fernsehschirm. Dabei streicht er 129
über sein schütteres Haar, als ob er es an seinem Schädel festdrücken wollte. Er trägt einen dunkelblauen Zweireiher mit einem Wappen auf der Brusttasche und eine dazu passende Krawatte. So weit Phil das feststellen kann, befindet sich außer ihm niemand in dem Eingangsbereich. Das Hotel ist eindeutig kleiner und heruntergekommener als das La Luna. Es ist eines jener Hotels, deren quadratische Bakelittürgriffe man gleich wieder loslässt, wenn man es sich etwas näher ansieht, ein Hotel, das man abhakt als Vertreterabsteige, kein Ort, an dem man es länger als eine kurze miefige Nacht aushält. Als Viktor noch jeden Job annahm, den er kriegen konnte, und für irgendeinen Reiseführer durch Oberitalien tingelte, hatten sie nur in solchen Zeitreisekaschemmen übernachtet. Ein Urlaub sollte das damals sein. Phil hatte auf einem Einzelzimmer bestanden, Comics gelesen, ferngesehen und das Beste daraus gemacht. Hinter dem Mann an der Rezeption sieht sie ein Bord mit Zimmerschlüsseln. 211 hieß es am Telefon. Wenn sie nicht alleine käme, wäre Viktor so gut wie tot. Sie versucht, ihr Gesicht von der Scheibe zu lösen. Der Griff der Waffe drückt gegen ihre Wirbelsäule, erinnert sie daran, was zu tun ist. Gleich, sagt sie sich, nur noch eine Minute. Der Regen durchnässt jetzt auch ihr Top. Sie spürt, wie ihre Brustwarzen von der Kälte steif werden. So ist es richtig. Es muss aussehen wie bei einem Hollywoodstarlet auf dem Cover einer Filmzeitschrift, PhilO Mena stünde in breiten Blockbuchstaben daneben, so stellt sie sich das vor. Ihre Titten zeichnen sich ab. Es darf nicht so wirken, als ob das beabsichtigt wäre, schließlich geht sie nicht zu einem
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Wet-T-Shirt-Contest. Sie setzt einen gleichgültigen Gesichtsausdruck auf, nimmt ihre Schultern zurück. Wenn sie Viktor haben, wird ihm nicht viel Zeit bleiben. Als sie ihn von der Fabrik in Frankfurt angerufen hatte, wollte er nur wissen, ob sie in Ordnung sei. Das Gleiche, als sie ihm Mustis Leiche gezeigt hatte. »Bist du in Ordnung, Mädchen?« Er hatte sie in den Arm genommen und gewartet, bis sie wieder sprechen konnte. »Schau nicht mehr hin«, hatte er noch gesagt. »Dein Paps macht das weg.« Und er hatte es getan, Schritt für Schritt, gründlich. Obwohl sie ihn angeschrien hatte. Obwohl sie ihn als verdammten Wichser beschimpft hatte. Obwohl sie ausgeflippt war, als er vorschlug, nach Pisa zu fahren. Er hatte sie an der Raststätte zurückgelassen, das schon, aber nur so lange, bis die Nebel in ihrem Kopf sich ein wenig gehoben hatten. Das hätte er früher nicht gemacht, trotz seiner notorischen Unzuverlässigkeit. Als er mit dem Auto neben ihr angehalten und die Tür aufgestoßen hatte, war es ihr, als ob seine winkende Hand die ganze Welt ausgefüllt hätte. Der Mann blickt von seiner Zeitschrift auf und schaut sie fragend an. Sie hatte gehofft, einfach so an ihm vorbeizukommen. Um irgendetwas zu tun, streift sie ihre Sandaletten ab, tritt an die Rezeption und fragt, wo ein Mülleimer sei. Er lehnt sich vor und nimmt die Sandaletten entgegen. Dabei starrt er unverhohlen auf ihre Brüste. Sie streicht ihr Top glatt, was seine Augen noch mehr hervortreten lässt. Er nickt grinsend, zeigt der kleinen Nutte seinen komplizenhaften Stolz, die Großmut des kleinen Geheimnisträgers, sein Wissen, wie die Welt funktioniert. Sie nennt die Zimmernummer, und sein Lächeln erstirbt. Er mustert sie erneut, schaut in ihr Gesicht, bemerkt erst jetzt die Jugend darin. Er öffnet den Mund, um etwas zu sagen, schluckt es hinunter, als ob er sich in Erinnerung rufen müsste, was er 131
sich fest vorgenommen hat. Dann schüttelt er bedauernd den Kopf, verdrängt den Gedanken. Sie könne den Aufzug benutzen. Er macht eine vage Handbewegung und schaut wieder in seine Zeitschrift, blättert schnell ein paar Seiten weiter. Immer noch Komplize. Aber der Stolz ist verflogen. Das Linoleum quietscht unter ihren nackten Füßen. Sie geht an der Treppe neben der Rezeption vorbei, folgt einem schwarzgoldenen Ascensore-Schild, biegt um eine Ecke. Mühsam zwängt sie sich in den klapprigen Fahrstuhl, drückt den Knopf mit der Zwei, die daraufhin schwach aufleuchtet. Das Warten, bis sich die altersschwache Mechanik in Bewegung setzt, das Gefühl des Eingesperrtseins. Kurz bevor sich die Tür schließt, drängt sich ein Mann in die Kabine. Sie hat ihn zuvor nicht bemerkt. Vielleicht hat er sich am Treppenabsatz neben dem Aufzug verborgen. Er steckt sein Handy ein und schaut an ihr herunter. Es ist einer von Erdems Leuten. In der Kabine ist gerade mal Platz für zwei. Ein Schulterpolster seines Anzugs berührt sie an der Wange. Sie dreht sich weg, aber nur halb, um ihm nicht den Rücken mit der Pistole zuzuwenden, macht ein Hohlkreuz, damit sich keine Ausbuchtung abzeichnet. Ein Ruck, als sich die Tragseile des Fahrstuhls straffen. Mit den Fingern fährt sie durch ihre kurzen, vom Regenwasser abstehenden Haare. Sie spürt, wie seine Blicke nach ihrem Körper greifen, riecht sein schweres Aftershave, sieht aus den Augenwinkeln die gekräuselten Haare auf seinem unrasierten Nacken, seine halbgeöffneten Lippen unter dem Oberlippenbart. Seine Schuhe laufen spitz zu. Sie glänzen, wirken wie Dolche. Ihre Kabinenseite scheint auf einen schmalen Streifen zusammenzuschrumpfen, die Wände rücken näher. Als ihre Beine kurz davor sind, unter ihr nachzugeben, öffnet sich die Aufzugstür, diesmal auf der gegenüberliegenden Seite der Kabine. Erleichtert schlüpft sie hinaus. Der Mann schaut ihr nach, macht keine Anstalten, ihr zu folgen. 132
Jemand packt ihren Oberarm. Sie fährt herum. Ähnlicher Anzug, ein älteres Gesicht, unbeteiligt. Mit einem routinierten Blickkontakt bedeutet er ihr mitzukommen. Ohne ihre Reaktion abzuwarten, führt er sie mit entschlossenen Schritten den Gang entlang. Sie hat Gelegenheit, sich für einen Moment zu sammeln, eine weitere Panikattacke zu unterdrücken. Sie geht fast so schnell wie ihr Begleiter, beeilt sich, damit er sie nicht wie ein Gepäckstück hinter sich her zerren muss. Sein Griff lockert sich nicht. Eine Hand, die sie schon einmal festgehalten hat. Als alles so schnell gegangen war. Als alles begann. Vor ein paar lange zurückliegenden Wochen. Im Vorbeigehen sieht sie Zimmertüren, 201, 203, 205. Keine macht den Eindruck, als ob sich dahinter jemand befände. Sie fragt sich, ob dieses Hotel überhaupt bewohnt ist. Es sind Türen ins Nichts, Attrappen. Am Ende des Ganges klopft der Mann an eine Tür. 211. Er wartet. Sie schaut an ihren Beinen herunter, presst sie eng aneinander, beißt in ihre Lippen, damit sie Farbe bekommen. Ist sie schön? Die Tür wird von innen geöffnet. Mit gesenktem Kopf geht sie hinein, der Mann folgt ihr. Die Tür schließt sich. Ein Wassertropfen fällt von ihrem Kinn auf den Teppichboden und sickert in das abgetretene bräunliche Muster. Er hinterlässt keinen Fleck, verschwindet. Ihre Zehen suchen Halt auf der rauen Oberfläche. Sie bemerkt, dass sie friert. Seit wann? Alles an ihr ist feucht, klebrig, kalt, kalt, kalt. Sie schlottert am ganzen Körper. »Du holst dir noch den Tod.«
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17 Phil kennt die Stimme. Dicht an ihrem Ohr. In ihrem Mund. Bis seine Finger genau das fanden, wonach sie gesucht hatten. Sie steht in der Mitte eines großen Raumes. Langsam hebt sie den Blick. Das Zimmer ist eine Art Suite, jedenfalls unerwartet geräumig, mit einem offenen Durchgang zu einem Schlafraum, wo sie die Konturen eines Bettes erkennen kann. Erdem sitzt mit übereinander geschlagenen Beinen in einem Sessel, die Arme ruhen auf den Lehnen. Er wirkt gelassen, jemand, der auf alles gefasst ist, was ihm der Abend noch bringen mag. Kahlrasierter Schädel, Augenbrauen wie Striche, ein Kinn aus Stein. Unter dem Tuch seines eleganten Anzugs zeichnet sich ein athletischer Körper ab. Neben ihm steht ein Mann, der seinen Arm in einer Verbandsschlaufe trägt, an der Tür hinter ihr der Mann, der sie ins Zimmer gebracht hat. Eine Deckenlampe taucht den Raum in ein trübes Licht. Kein Viktor. »Ich hätte nie gedacht, dass du kommst.« Es klingt gelangweilt, leicht schläfrig. Ein Handy liegt vor Erdem auf der Glasplatte des Couchtisches. Neben der Couch steht ein schwerer Alukoffer. »Weiß Tony davon?« »Niemand weiß etwas davon«, sagt sie fest. Sie konnte sich nicht rühren. Vor ein paar Wochen, die jetzt wieder Gegenwart sind. Auch davon weiß Tony nichts. Erdem schaut ihr direkt in die Augen. Sie hält seinem Blick stand. Unerschütterliche Überlegenheit, die Gewissheit, sich auf vertrautem Boden zu befinden. Das hier ist sein Zimmer, es sind seine Männer, er führt das Gespräch. Aber es ist auch Neugier darin, die Vorfreude auf ein Amüsement, das sich seine Eitelkeit erhofft. Er lacht. »Tony weiß nicht besonders viel. Für einen Verlobten.« Er gibt dem Mann mit dem Verband einen Wink. 134
»Nach allem, was ich so höre, ist er noch dein Verlobter. Oder etwa nicht?« Der Mann geht um den Couchtisch herum und lässt sich vor Phil nieder. Er hebt ihr Top ein wenig an und begutachtet das Piercing. Unwillkürlich zieht sie den Bauch ein. Die Muskeln unter ihrer Haut beben. Der Mann nimmt die Brillantenfassung zwischen Daumen und Zeigefinger und zieht sie ein Stück aus dem Nabel heraus. Ihre zitternde Haut spannt sich. Sie selbst hat das schon öfter gemacht, zupft gelegentlich an dem Piercing herum und wundert sich darüber, wie dehnbar und unempfindlich bestimmte Körperpartien sind. Jetzt hat sie das Gefühl, als würden gleich ihre Eingeweide hervorquellen, als würde der Mann auf ein Zeichen Erdems den Nabel herausreißen und dabei den Dünndarm durch das entstandene Loch zerren wie ein widerspenstiges Staubsaugerkabel. Wie in der Bar, auf dem schmalen Durchgang zu den Toiletten, mit Erdems Stimme direkt vor sich, an ihrem Ohr, in ihrem Mund. Der Mann lässt das Piercing los, dreht sich zu Erdem und nickt ihm zu. Phil rührt sich nicht von der Stelle. »Du hast es dir also wiedergeholt. Ohne Tony etwas davon zu sagen.« Erdem schüttelt tadelnd den Kopf. »Das war voreilig. Du solltest in dieser Angelegenheit nicht eigenmächtig handeln, das ist ein großer Fehler.« Er faltet die Hände vor der Brust, hebt sie zum Kinn, legt einen Finger an die Lippen und deutet auf ihren Bauch. »Woher wusstest du, wo es versteckt war?« »Musti hat so etwas angedeutet.« »Hm.« Er hebt seine Hände vor das Gesicht. Seine Augen verschwinden hinter den verhakten Fingern. »Mein Bruder war der Falsche für diese Art … Übergabe. Ich habe ihn überschätzt. Aber das ist nicht mehr zu ändern.« Die Augen erscheinen wieder. Sie haben einen dunklen Glanz angenommen, sind jetzt 135
ganz wachsam. »Allerdings verschärft es die Situation. Aus meiner Sicht, versteht sich.« Er greift in die Innentasche seines Jacketts und zieht ein flaches goldenes Etui heraus. »Jemand hat ihn umgebracht, das steht außer Zweifel. Ich nehme an, du weißt, wer es war.« Sie entgegnet nichts, wartet. Er legt das Etui neben das Handy auf den Couchtisch. »Dieser Mann. Viktor. Hat er es getan?« Phil überlegt einen Augenblick, ob sie richtig gehört hat. Dieser Mann. Erdem weiß anscheinend nicht, dass Viktor ihr Vater ist. ER WEISS ES NICHT. Sie schlägt die Augen wieder zu Boden, um ihre Überraschung zu verbergen. »Und der andere. Der Große, der Samir angeschossen hat. Sind das Tonys neue Partner?« Vielleicht will er sie damit auf die Probe stellen, denkt sie. Aber wozu? Was könnte er damit erreichen? Erdem entnimmt dem Etui einen Zigarillo und zündet ihn an. Der süßliche Rauch züngelt ihr entgegen. Sie verspürt Lust auf eine Zigarette. Phil trifft eine Entscheidung. Es ist Zeit. Für die letzte Lüge. Mit ruhigen gleichmäßigen Bewegungen zieht sie die Beretta aus dem Bund ihres Rockes, packt sie am Lauf und hält sie mit ausgestrecktem Arm von sich weg. Samir und der andere Mann ziehen ihre Pistolen und halten sie ihr an die Schläfen. Sie sind wütend, brüllen ihr Befehle ins Gesicht, versuchen zu überspielen, dass sie für einen Moment nicht aufgepasst haben. Erdem stößt eine knappe Anweisung hervor. Sie verstummen. Phil verharrt für ein paar Sekunden. So wie sie dasteht, könnte sie Erdem auch einen Blumenstrauß überreichen und dazu ein Gedicht aufsagen. 136
»Damit hat Tony Musti erschossen.« Verzeih mir, Tony. Verzeiht mir, alle. Erdem ist die ganze Zeit über sitzen geblieben. Mit keiner Regung hat er zu erkennen gegeben, dass ihn das Ganze in irgendeiner Weise aus der Fassung bringt oder auch nur überrascht. Er nimmt einen tiefen Zug, dreht seinen Zigarillo genießerisch zwischen den Fingern, während sich der Geschmack des Rauchs in seinem Mund entfaltet, und legt ihn behutsam auf den Rand eines Aschenbechers. Dann erhebt er sich und geht auf Phil zu. Mit einem Blick bedeutet er den beiden Männern, ihre Waffen zu senken und wieder ihre Positionen einzunehmen. Sie gehorchen. Er bleibt vor ihr stehen, dreht den Kopf ein wenig zur Seite, ohne den Blick von ihr zu wenden. »Du kannst sie behalten«, sagt sie. Sein Mundwinkel zuckt. Ein neuer Gedanke in seinen Augen, mehr Misstrauen. Er hebt den Arm. Seine Hand schließt sich um den Griff der Pistole, der einsam aus Phils Faust ragt. Der Lauf ist auf ihren Bauch gerichtet, zielt auf das Piercing. Sie lässt ihn los. Erdems Zeigefinger krümmt sich um den Abzug. Er schaut sie fragend an, als ob er ihr Einverständnis brauchte, um sie zu erschießen. Sie erwidert seinen Blick. Wann, immer, du, willst. Nach einer Weile senkt er die Waffe. Er sieht sie sich genauer an, holt das Magazin heraus, registriert, dass es voll ist, schiebt es wieder zurück, lädt durch, zielt ins Leere und wiegt die Beretta anerkennend in der Hand. »Du verstehst es, Geschenke zu machen.« Sie schlüpft aus ihrem Cardigan, der wie ein gebrauchter Putzlappen zu Boden fällt. »Kann ich ein Bad nehmen?« 137
Verdutzt tritt er beiseite. Damit hat er nicht gerechnet, stellt sie befriedigt fest. Er legt die Pistole auf den Glastisch, deutet Richtung Badezimmer. »Wenn du möchtest.« Während sie den Raum durchquert, zieht sie aus, was sie noch am Leib trägt. Das Top, den Jeansrock, ihren Slip. Sie hat keine Eile, bewegt sich, als ob sie ganz allein im Zimmer wäre. Ihre Sachen lassen sich nur mühsam abstreifen, weil sie wegen der Nässe an ihrem Körper haften. Dennoch gelingt es ihr, nicht zu stolpern. Im Türrahmen bleibt sie stehen und dreht sich um. »Ich möchte nicht gestört werden.« Die beiden Männer starren sie an, schauen von ihrem nackten Körper zu den am Boden liegenden Kleidungsstücken, auf ihre harten Brustwarzen, unschlüssig und lüstern zugleich. Nach einem kurzen Moment der Verblüffung begibt sich Erdem mit ein paar raschen Schritten zur Badezimmertür und hebt dabei ihre herumliegenden Sachen auf, hastig, als ob es ihm peinlich wäre. Ein Zögern, als er ihren Slip zu dem Top und dem Rock über seinen Arm legt wie ein Kellner eine weiße Serviette. Er hält ihr die Kleidungsstücke entgegen – und scheint sich im selben Augenblick bewusst zu werden, wie sinnlos und deplatziert diese Geste ist. Wie unterwürfig. Sie schüttelt den Kopf. »Danke«, wehrt sie ab. Er lässt seinen Arm sinken, betrachtet die Gänsehaut an ihren Schultern und Brüsten. »Nimm dir Zeit«, sagt er schließlich. Sie nickt, schaltet das Licht ein und schließt die Tür. Ihre Stirn auf der Kunststoffbeschichtung, ihr Atem, ihre Fingerspitzen. Sie weiß, Erdem wartet darauf, dass sie die Tür absperrt. Aber sie tut nichts dergleichen. Stattdessen dreht sie sich um. Ihr Rücken lehnt an der Tür und rutscht langsam daran herunter. Sie kann sich nicht mehr auf den Beinen halten.
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Ein Körper, der in sich zusammensinkt wie eine weggeworfene alte Zeitung. Die Kälte der ockerfarbenen Fliesen zwickt in ihre Pobacken. Bis hierher hat sie es geschafft. Es ist gar nicht so schlecht gelaufen, denkt sie. Sie lebt noch. Sie ist allein. Und sie hat Erdem in Erstaunen versetzt. Dazu gehört schon einiges. Bitte kein Zusammenbruch jetzt, fleht sie, das würde alles zunichte machen. Weiter, solange sie noch Kräfte in sich spürt, die ihr helfen, alles, was kommen mag, durchzustehen. Sein Vertrauen zu erringen, das bereits erwacht ist, als er ihr die Kleidung gereicht hat. Sein Verlangen zu wecken, das sie in seinem Zögern gespürt hat. Oder war es Scham? Mit eckigen Bewegungen richtet sie sich auf. Das Badezimmer ist überraschend groß, ein langer Schlauch, mit einer Duschzelle, Badewanne, Toilette und Bidet, aneinander gereiht wie eine kleine Familie, die in einer Warteschlange steht, gegenüber zwei Waschbecken, alles im gleichen Ockerton wie die Bodenfliesen. Sie nimmt ein Handtuch von einem bereitliegenden Stapel und breitet es vor der Wanne aus, dreht das Wasser auf, prüft die Temperatur, steckt den Stöpsel in den Abfluss. In einem Plastikkorb findet sie ein abgepacktes Stück Seife, das sie auf den Rand der Wanne legt, außerdem ein Fläschchen mit einem sirupartigen Badezusatz, auf dem eine Rose abgebildet ist. Sie schraubt es auf und gibt die Hälfte davon ins Wasser. Während sie darauf wartet, dass die Wanne voll läuft, und Dampf den Raum erfüllt, uriniert sie in die Toilettenschüssel. Sie empfindet keine Erleichterung dabei, beobachtet das Rinnsal, das träge aus ihr herausfließt und nicht einmal das Geräusch eines Plätscherns erzeugt. Honiggelbe Tröpfchen bleiben in ihrem Schamhaar und auf der Haut an den Innenseiten ihrer Schenkel hängen. Teilnahmslos sieht sie an sich herab, wischt sich mit der bloßen Hand ab, betrachtet ihre 139
Finger. Sie reibt heftiger, bemerkt, dass die Berührung von ihrem Körper kaum mehr registriert wird. Ihre Handlungen werden zunehmend mechanisch, koppeln sich ab von dem Gefühl, das sie hatte, als sie mit ihrer Faust die Pistole umfasste. Sie stellt sich vor, dass so etwas wie diese Faust jetzt in ihr drin ist, unter ihrem Brustbein, noch fremd zwischen den Organen, frisch verpflanzt. Es schmerzt, denn ihr Inneres ist weicher und empfindlicher als die äußeren Teile ihres Körpers. Sie stemmt ihre Hände gegen die Rippen, presst ihren Brustkorb zusammen, und schon lässt der Schmerz etwas nach, als ob die Faust an einen Punkt gerutscht wäre, der für die Implantierung vorgesehen war. Sie steigt in die Wanne. Ihre erkaltete Haut brennt nicht einmal, als sie in die heiße Flüssigkeit gleitet. Der Schaum nimmt ihren Rumpf und ihre Gliedmaßen auf, schließt sich um ihre Brüste, bedeckt ihre Handrücken, lässt sich mit einem feinen Knistern auf ihren Fingernägeln nieder. Als ihr Kopf halb ins Wasser sinkt, flutet ein Hitzeschub durch ihr Gehirn und pumpt Gedanken, Erfahrungen, Erinnerungen an die neue Stelle in ihrem Leib. Wie von selbst ballt sich die Faust immer fester zusammen und beginnt allmählich zu pulsieren. Ihre Körperwärme gleicht sich an die Umgebung an. Schweißtropfen rinnen von ihren Schläfen herab, vermischen sich mit dem Schaum und dem Wasser, gehen darin auf. Das Bad schmeckt nach synthetischen Rosen. Als Mund und Nase eintauchen, nimmt ihr zweites Herz seine Funktion auf.
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18 Ich weiß nicht mehr, wie viele U-Bahn-Züge durch meinen Kopf gerast sind. Momentan fahren gerade mal keine, aber der nächste ist sicher im Anmarsch, das ahne ich schon. Zur Abwechslung würde ich ganz gern die Stille genießen. So, wie dieses High sich entwickelt, kann’s ruhig weitergehen: Hämmer-Hämmer-HÄMMER und dann wieder Glück, Glück, G-1-ü-c-k. Zuverlässig wie eine Atomuhr schwimme, verschwimme ich. Wenn diese unbekannte Stimme nicht wäre, die hin und wieder an meinen Ekstasen zerrt, könnte man sagen: ideal. In The Airs steht prinzipiell alles zum Besten. Hab mir ein paar Leute eingeladen, die sicher bald eintreffen werden. Ein Blockhaus am See, franklloydwrightartig, zum Reden und Sitzen und Schauen, mit einem Boot zum Rausrudern und einer Anlegestelle zum Füße-ins-Wasser-Hängenlassen. Was mir ein bisschen Sorgen bereitet, sind die Algen. Im Grunde ist die gesamte Wasserfläche von einem grüngelben Film bedeckt, keine Ahnung, wie das Zeug da reingekommen ist und wie man es wieder wegmacht, vielleicht mit ein paar Tonnen Chlor? Sieht jedenfalls ungesund aus, nicht besonders einladend, ich meine, wer möchte schon in einer Umweltkatastrophe baden? Und die klare Sicht bis zum Grund und weiter hinunter auf den Planeten ist auch verdorben. Trotzdem, und das verstehe ich nun ganz und gar nicht, gibt’s neuerdings jede Menge Aale in dem See. An sich ist das nichts Besonderes, so war das auch vorgesehen, Fische gehören nun mal in einen See, das ist was Lebendiges, macht Laune, wenn man sie vom Ufer aus rumgründeln und hin und her paddeln sieht, als wär’s das Einfachste von der Welt. Leicht gerät man da in die eine oder andere philosophische Stimmung. Aber Aale, 141
wo kommen denn die her? Und warum fühlen die sich wohl in dieser Brühe? Es ist immer wieder erstaunlich, was einem auf einem ordentlichen Drogentrip so alles unterkommt. Also Aale. Ich schaue sie mir etwas genauer an, weil sie schon einmal da sind in meiner ansonsten wirklich astreinen Vision – bisher habe ich in The Airs meistens ultramoderne und ultracleane Sachen installiert, 70er Jahre Science-FictionRequisiten, weil die am plausibelsten nach Zukunft aussehen. Aale gehören da definitiv nicht dazu, aber so ist das bei Visionen, in denen sich Sehnsüchte und Erinnerungen vermischen wie Champagnersabayon mit ausgespucktem Sperma: Man weiß nicht so recht, wo dieser Cocktail herkommt, der da im Großhirn herumquirlt und stetig mit Tetrahydrocannabinol aufgespritzt wird, so dass es nur so zischt und pfeift wie in einem Sodabereiter. Die glitschigen Kerle knabbern an irgendwas herum, so viel ist sicher. Langsam steigt es empor, ein längliches torkelndes Etwas. Es dreht sich ohne Hast um die eigene Achse. Ich meine, einen schwarzen Halbschuh zu erkennen, Hosenaufschläge und etwas Gedunsenes darüber. Jetzt tauchen auch Arme und so etwas wie ein Kopf auf, mit Haaren, die quallenartig durchs Wasser wabern. Na, wenn das keine Wasserleiche ist! Das Gesicht sieht aus wie eine einzige – besser, ich beschreibe es nicht. In welchem See, hörst du? Wo war das? Scheiße, das ist Musti! Wo der jetzt wohl herkommt? Ich sehe ihn noch friedlich auf dem Betonboden in der Fabrikhalle liegen, überhaupt nicht aufgedunsen, wenn auch nicht mehr ganz in einem Stück. Am schwierigsten war es, die Knochen zu durchtrennen. Mit dem schartigen Bolzenschneider, den Phil bis zu meinem Eintreffen aufgetrieben hatte, ging die Arbeit nur mühsam vonstatten. Seine Klamotten habe ich ihm absichtlich angelassen, damit es für mich nicht allzu widerlich wurde. Offen gestanden: Es hat nicht viel genützt. Natürlich war es widerlich, 142
und ich glaube, es wird mich noch eine Weile verfolgen, so einfach steckt man das nicht weg, vor allem die Geräusche, das Knacken der Knorpel, das Gluckern des Blutes, das wird so in den nächsten Jahren der Soundtrack meiner Träume sein, das weiß ich genau. Wie auch immer: Es ist bedeutend widerlicher, einen nackten Körper zu zerlegen als einen angekleideten. Im ersten Fall fühlt man sich wie ein Schlächter, im zweiten wie ein Schneider, zumindest ein wenig und wenn man ganz fest daran glaubt. Wer hat ihn umgebracht? Wer war es? Komm zu dir, verdammt noch mal! Wird das hier ein Verhör, oder was? Der Mann war schon tot, als ich hinkam, ha ha. Ich weiß, das klingt nicht besonders glaubwürdig, aber ich kann auch nichts dran ändern. Ich bin doch nicht fähig, einen Menschen zu töten, das nicht. Aber einen Toten beseitigen, da finde ich eigentlich gar nichts dabei. Irgendjemand muss es ja tun. Es gibt ’ne Menge Länder auf der Welt, in denen das die Angehörigen machen. Entkleiden, waschen, ein bisschen herausputzen, damit die Nachbarn nicht sagen: Wie sieht der denn aus! Der Umgang mit dem Tod, tja, natürlich ist das keine angenehme Sache. Wirft einen auf die eigene Endlichkeit zurück, stimmt’s? Das haben wir hübsch verdrängt: Heute funktioniert alles noch wunderbar, und morgen sind nur noch ein paar Einzelteile von uns übrig, verbuddelt neben einer Autobahn. Wenn überhaupt. Jedenfalls brauche ich mir nichts vorzuwerfen. Im Grunde habe ich Erste Hilfe geleistet. So geht das schon die ganze Zeit. Er hat nicht mal die Augen auf. Ich hab die Schnauze voll von diesem Gequatsche. Was soll das bringen? Scheint so, als sei meine Lippe aufgeplatzt. Ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll. Wer quatscht mir da eigentlich 143
andauernd in mein High rein? Wahrscheinlich ist es Tony, das würde zu ihm passen. jetzt hat er den Namen gesagt. Gib’s zu, Tony war es. War was? Na ja, egal. Also das mit dem See in The Airs lasse ich lieber bleiben. Wer weiß, was da noch alles drin rumschwimmt und an die Oberfläche will. Da kann ich ja gleich in Therapie gehen. Nicht, dass ich’s nicht probiert hätte. Psycho natürlich, nicht Drogen. Dieser Kerl hat alles Mögliche mit mir veranstaltet, wollte den ganzen alten Dreck aus mir rauskratzen wie den Fettschmodder, der in einem Dunstabzugsschacht hängen bleibt. Aber er kam einfach nicht tief genug rein in diesen Scheißschacht, keine Chance. Sogar mit Hypnose hat er’s irgendwann mal versucht, Hypnose, da kann ich nur lachen! Ich meine, was ist so eine Hypnose gegen ein anständiges Halluzinogen? Dann hätte ich ja auch versuchen können, Musti mit einem Schweizer Taschenmesser zu zerschnippeln. Man möchte meinen, diese zerfaserten Psychokäuze hätten noch nie einen Joint geraucht. Oder lassen sie sich den falschen Stoff andrehen? Verstehst du mich? Verstehst du, was ich sage? Eine zweite Stimme. Keine Zeit dafür jetzt, denn, o, là, là, da kommt wieder einer dieser Züge angeapokalypst. Mit einem 10.000-Watt-Scheinwerfer vorne dran und einem Rumoren von ganz tief unter der Erde. Wird ja immer besser. Also gut, also gut, also gut. Neuer Push, neues Glück. Aber warum hält das Ding direkt auf mich zu? Sonst sind die Babys doch immer mit einem Überschallknall an mir vorbeigerauscht. Wird wohl das Beste sein, stehen zu bleiben und einen auf Hologramm zu machen. Nichts dämlicher, als sich gegen ein gutes High zu wehren. Komm schon, Zug! Geht das nicht schneller? Mach noch ein bisschen Tempo, knall in mich rein, na los, da geht nichts kaputt! 144
Ich breite meine Arme aus. Weit. Oh ja. Halt die Klappe! Jaah. Ich bestehe nur aus Licht – Licht? Wer bist du? Schwwwärze. Wo ist mein Zug? Was soll ich mit dir machen? Eine ganz andere Stimme. Tiefer. Meinst du, ich lasse dich wieder von hier fort? Ungeschoren? In der Villa. Verdammt, ich bin in der Villa. Du hast mich bedroht. Ich will da nicht hin! Nicht jetzt! Wie komm ich hier raus? Wehr dich nicht. Das hat keinen Zweck. Es ist Ferro. Seine Bodyguards haben mich an einen Stuhl gefesselt. Ich kann nicht weg. Es gibt einen Preis, für alles. Zu spät reagiert. Hab zu spät reagiert. Die Waffe auf dem Parkettboden, nutzlos. Hab seine Hand nicht gesehen. Und ich setze ihn fest. Er wusste es. Ferro wusste, dass sie unter dem Mantel war. Hat mich sofort durchschaut. Es muss in meinen Augen gewesen sein. Eine Sonnenbrille. Mit Sonnenbrille wäre – Warum antwortest du nicht? Das ist kein High mehr, verdammt, das ist der alte Dreck. Alter fettiger Dreck. Spürst du den Schmerz? Kannst du ihn sehen? Sill. Hab zu sehr an sie gedacht. Konnte nicht abdrücken, als er auf mich zukam. 145
Wie heißt du, Arschloch? Werde die Augen einfach geschlossen halten, bis – keine Ahnung, bis der nächste Zug kommt oder die Ruhe nach dem Sturm oder, was weiß ich! Du kannst auch schweigen. Es ändert nicht viel. Der Versuch, mein Gesicht mit den Schultern zu schützen. Du bist keine Bedrohung für mich. Schläge, überallhin, wahllos, schnell hintereinander. Mein Nasenbein bricht. Du sitzt in der Falle. Ein Hammer auf meinem Fuß. Du kannst es auch anders haben. Worte dringen aus meinem Mund. Immer mehr. Kein Geheimnis, weil es kein Geheimnis gibt. Nur der Wunsch nach Vergeltung. Einer Vergeltung, wie ich sie mir ausgemalt hatte, blind, ohne zu wissen, wer oder was mich erwartete. Ob Ferro eine Schuld an Sills Tod traf oder nicht. – Aber das ist Vergangenheit, scheiße noch mal, kapier das doch endlich, Vergangenheit! Macht ihn los! Ich will in meine Gegenwart zurück. Ich will – Legt ihn auf den Boden! Bevor das Auge völlig zuschwillt, öffne ich es für einen Augenblick. Die Terrassentür. Sie steht immer noch offen, wie zum Hohn. Gibt etwas Landschaft und Himmel frei. Ein purpurner Sonnenuntergang, davor eine Reihe Zypressen. Zähne, mit einer Feile angespitzt. Es ist, als ob über den Baumwipfeln die andere Hälfte dieses Kiefers erscheinen würde, zuschnappt und die Sonne verschluckt.
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Wieder bei Null. Reset. Einen Versuch ist es wert. Jetzt. Der Rand eines Glases an meinem Mund. Eine beißende Flüssigkeit. Ich glaube, seit einer Ewigkeit nichts mehr getrunken zu haben, schlucke gierig. Es schmeckt nach Frucht, sauer. Das Schlucken tut weh. »Zum letzten Mal. Hat. Tony. Ihn. Umgebracht?« Ich mache die Augen auf. Wieder ein Licht. Ich mache die Augen zu. Ich mache sie auf. Ein Mann steht vor mir. Er zieht an einem Zigarillo, legt ihn weg. Sein Gesicht erinnert mich an jemanden, den ich kenne. Glatte, gleichmäßig braune Haut, wie eine Schicht sorgfältig aufgetragenes Make-Up. Neben ihm ein anderer Mann. Offenbar hat er sich am Arm verletzt, weil er ihn in einer Schlinge trägt. Er hält ein leeres Glas in der Hand. Beide schauen mich an, als ob sie etwas Wichtiges von mir wissen wollten. Sofort. Unaufschiebbar. Sie wirken verärgert. Ich sitze auf einem Stuhl. Stahlrohr. Sitzen ist zu viel gesagt. Ich klemme halb liegend zwischen den Armlehnen, wie ein Betrunkener, fühle mich auch so. Ich kann meine pelzige Zunge kaum bewegen, unterdrücke den Brechreiz. Ein stechender Schmerz in meinem Rückgrat, als ich versuche, mich ein wenig aufzurichten. Der Zigarillo-Mann: »Sag mir, ob ich dich töten muss.« Er meint es ernst. Ich sage nicht Nein. Ich sage nichts. Der Schlingen-Mann, nach einer respektvollen Pause: »Der 147
Zitronensaft wirkt. Er kommt wieder zu sich.« Ohne dass ich etwas dagegen unternehmen kann, drohen meine Augenlider wieder zuzufallen. Mein Kopf kippt zur Seite. Der Schlingen-Mann stellt das Glas beiseite und gibt mir eine Ohrfeige. »Heh! Er hat dich was gefragt.« Er wischt seine Hand an meinem Hemd ab, angewidert. Ich versuche, die Augen offen zu halten, was mich einige Anstrengung kostet, denn sie wollen und wollen zufallen. Es gelingt mir, mich ein Stück hochzurappeln. Ich schaue an mir herunter. Das karierte Burberry-Muster auf meinem Hemd ist bedeckt mit Blutflecken, meine Hose auch, es sieht aus wie ein Desert-Storm-Tarnanzug. Ich taste in meinem Gesicht umher. Wangen, Fleisch, Haut, alles fühlt sich fülliger an als sonst. Vorsichtig berühre ich meine Oberlippe – und bereue es sofort. Ein Band aus Schmerz wickelt sich um meinen Kopf, Bahn um Bahn, immer schneller, hüllt ihn vollständig ein. Von einer Sekunde auf die andere ist mein Gesicht eine einzige anschwellende Wunde, die Nervenenden spielen verrückt, überall Risse, Löcher, Schwellungen. Die Gegend um die Nase zerbirst wie ein Autoscheinwerfer bei einem schweren Aufprall. Ich reiße den Mund auf. Eine Hand legt sich darauf. »Wenn du schreist, stirbst du«, sagt der Schlingen-Mann. »Sofort.« Ich schaue ihn mit zusammengekniffenen Augen an, nicke. Die Hand senkt sich, bleibt aber in der Nähe. Der Zigarillo-Mann holt einen Stuhl und setzt sich rittlings darauf. »Also noch mal von vorn …, Viktor. Ist dir deine Lage klar?« Unter dem Schmerz, unter einer seiner dicht an dicht übereinander liegenden Schichten, bilden sich Gedanken. Es sind nur ein paar, aber allmählich kullern sie an die dafür vorgesehenen Stellen. Die Fabrikhalle. Musti. Der Gummisack. Der Autobahnrastplatz. Der Jag. Der Friedhof. Der schwarze 148
Benz. Der Bettler in Bockenheim. Das Schild, das er um den Hals trägt. Der schwarze Benz. Ein Schemen auf dem Beifahrersitz. »Erdem?« Der Zigarillo-Mann nickt mit den Augen. Wartet. Wieder Musti, diesmal, als Phil ihn mir gezeigt hat. Tot, aber noch kenntlich. »Was wollt ihr von mir?«, frage ich so leise wie möglich. Phil, als sie in meine Arme kroch. »Du hast die Leiche beseitigt. Versenkt, nehme ich an. In einem See. Aber das ist nicht wichtig. Nicht wirklich.« Er greift in sein Jackett und holt einen Gegenstand unter der Achsel hervor. Es ist eine Pistole, klein, schwarz, mit kurzem dickem Lauf. Ich kenne sie. Tonys Beretta. Das Korn zum Zielen sieht aus wie die Rückenflosse eines Fisches. Er richtet sie auf meinen Bauch. »Ich lege keinen Wert auf Begräbnisse. Ich will die Wahrheit. Ist Tony der Mörder meines Bruders?« Das Hotel. Der Shit. Dort müssen sie mich geschnappt haben. Und Tony? Anscheinend ist er ihnen entwischt. Wie kommt Erdem an die Waffe? »Ich weiß es nicht.« Er hält die Mündung gegen mein linkes Knie. »Wenn du lügst, fangen wir hier an.« Er hält sie gegen mein rechtes Knie. »Oder hier? Was ist dir lieber?« Ich zucke zurück. »Also reiß dich zusammen. Denk nach.« Was weiß er? Und was vermutet er? Er kennt meinen Namen. Wahrscheinlich, weil sie meine Geldbörse haben. Ich spüre, dass sie nicht mehr in der Gesäßtasche steckt. Aber was ist das schon: mein Name? 149
Sein Finger am Abzug. Der Druck der Mündung auf meinem Knie. Tony. Ist er das wert? Phil liebt ihn. Sagt sie. Sie setzen ihre Hoffnungen in mich. Wie kommt Erdem an die Waffe? Waffe, die Tiefgarage. Was hat sie damit angestellt? Wollte sie sie loswerden, wie den Shit? Und Phil ganz in Weiß mittendrin. Du gibst doch dein Einverständnis, oder? Ich werde ihn nicht verraten. Ist das dumm? »Ich glaube nicht, dass es Tony war.« Er schaut mich argwöhnisch an. Überlegt. Tu es, verdammt! Tu einmal das Richtige! »Du glaubst?« Aber das ist nicht wichtig. Nicht wirklich. »Mehr kann ich dir nicht sagen. In der Fabrik. Als ich dort ankam. Da war alles schon vorbei. Keine Ahnung, wer es getan hat. Vielleicht einer seiner Leute.« Er wirft einen Seitenblick auf den Schlingen-Mann. »Samir wurde gestern angeschossen. Von dem Großen, demjenigen, der davor auf Tony gezielt hat. Meinst du ihn?« Die Versuchung, mit Gwizdek einen Ersatzschuldigen zu präsentieren. Beute in Aussicht zu stellen. Keine leichte Beute, aber dennoch. Ein Ziel. »Nein. Er stieß erst in Pisa zu uns. Tony ist allein hier.« Ein Rucken seines Kopfes. Er denkt nach. Dann: »Was heißt das: uns? Was hast du mit der Sache zu tun?« »Ich habe mich um die Leiche gekümmert. Das war alles.« »Warum?« Die Konturen seines Gesichts verschwimmen für ein paar Sekunden. Ich kneife die Augen zusammen, um wieder besser sehen zu können, schüttele die aufsteigende Übelkeit ab und registriere dabei, wo ich mich befinde. Ein Hotelzimmer, nicht größer als die Dunkelkammer, in der ich zu Hause meine Fotos 150
entwickle. Ein durchgelegenes Bett, ein kleiner Tisch, ein Schrank. Der Stil passt nicht zum Luna. Die Einrichtung wirkt abgegriffen, die Luft riecht muffig. Vor das einzige Fenster des Raumes ist ein dicker Stoffvorhang gezogen. Erdem hebt die Waffe und lässt den Griff auf mein Knie niedersausen. Ein neuer Schmerz, hart, giftig. Damit ich mich nicht an den alten gewöhne. Samirs Hand auf meinem Mund, bis sich die Spannung in meinem Körper ein wenig löst. »Sieh mal, ich gebe mir ja alle Mühe, in der Scheiße, die du mir hier erzählst, eine Logik zu erkennen. Aber du siehst mir nicht nach jemandem aus, der berufsmäßig Leichen verschwinden lässt.« Er hebt die Waffe erneut. Instinktiv weiche ich auf meinem Stuhl zurück, ein paar Zentimeter, weiter geht es nicht, ein paar Zentimeter zwischen dem Schmerz, wenn massiver Stahl auf Knochen trifft, und mir. Aber er schlägt nicht zu. Sein Arm mit der Pistole verharrt in Brusthöhe zwischen uns. Er zielt, ohne mich zu sehen. Zielt. Ein langer geheimer Gedanke schlendert durch seinen Kopf. Einmal rundherum. Und hält inne. Dann, mit einer blitzschnellen Bewegung, lässt er die Waffe wie ein Revolverheld um den Abzug rotieren, fasst sie am Lauf und hält sie mir entgegen. »Nimm!« Verständnislos starre ich das Griffstück an. Es ist mit einer Riffelung bedeckt, kleine viereckige Noppen, Pyramiden genauer gesagt, um einen festen Griff zu gewährleisten. Alle anderen Stellen, die man beim Schießen anfassen muss, sind abgerundet. Das Material unterscheidet sich von dem mattierten Stahl, aus dem der Rest der Waffe besteht. Vielleicht Hartgummi oder ein vergleichbarer Kunststoff. »Na los. Greif zu!« Ich strecke die Hand aus und schließe sie um den Griff. Er ist warm und rau. Erdem lässt los. Die Pistole wiegt mehr, als ich 151
gedacht habe, zieht mein Handgelenk nach unten. Ich habe noch nie eine Waffe benutzt. Einmal hatte ich den Willen dazu, aber es kam nicht so weit. Es ist ein merkwürdiger Gegenstand, sorgfältig gearbeitet wie ein teures Schmuckstück und dennoch klar auf seinen Zweck ausgerichtet. Stark. Bewundernswert. Und abstoßend. Ein mildes Lächeln. »Nein. Du warst es nicht. Du kannst niemanden umbringen.« Er nimmt mir die Pistole ab, holt das Magazin aus einer seiner Jacketttaschen und schiebt es in das Griffstück. Mit einem Klicken rastet es ein. »Machen wir weiter. Warum hast du die Leiche beseitigt?« Eine wahre Geschichte. Gar nicht so übel, es mal mit einer wahren Geschichte zu probieren. »Weil mich Phil darum gebeten hat.« Er stutzt, betrachtet die Waffe in seiner Hand. »Woher kennst du Tonys Mädchen?« Mein Mädchen. »Ich … hab mal ihre Mutter gekannt. Sie wusste nicht, an wen sie sich wenden sollte. Tony hat sie mit der Leiche allein gelassen.« »Also doch Tony.« »Nein. Tony hat ihn nicht umgebracht.« »Warum bist du dir so sicher?« »Das würde sie nicht zulassen. Phil, meine ich. Sie passt auf ihn auf.« »Sie passt auf ihn auf?«, fragt er verblüfft. Lange halte ich das nicht mehr durch. Eine wahre Geschichte, ja, aber nicht zu viel davon. Sie beginnt sich in meinem Kopf zu drehen, verändert sich. »Phil fühlt sich für ihn verantwortlich. Er weiß nichts davon.«
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Er verarbeitet diese Information. Bekommt Zweifel. »Haben sie sich gestritten?« »Ja«, antworte ich schlapp. »Ziemlich heftig sogar.« »Hat sie ihn verlassen?« Warum interessiert er sich dafür? Was darf ich ihm sagen? »Keine Ahnung.« Wieder ein Schwindelgefühl. Die Decke entfernt sich, kommt näher, entfernt sich. »Heh, mach die Augen auf! Wir sind noch nicht fertig!« Er gibt mir ein paar Klapse auf die Wangen, rüttelt an meiner Schulter. »Wer ist dieser Ferro? Wer ist Sill? Gehören sie zu Tonys Familie?« Wie kommt er auf diese Namen? Wann … Ich würge, spucke, würge, ringe nach Luft, kann nicht mehr. Die Schwäche überkommt mich wie ein Wolkenbruch bei Nacht. Ist Nacht? Höre ich für den Bruchteil einer Sekunde aus weiter, unendlich weiter Entfernung Regentropfen auf einem Blechdach? Mein Oberkörper kippt unkontrolliert nach vorne, meine Arme hängen schlaff herunter. Ich fange an, alles auszukotzen, was in mir drin ist, kotze auf meine Beine, Schuhe, den Teppichboden, saue alles ein, gebe alles von mir, den Shit und den Alk, die Lügen und die Angst und den Hass und die ganze verdammte Besessenheit.
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19 Sie schlägt die Enden des Bademantels übereinander und nimmt auf der Ledercouch Platz. Der Mann, der sie vom Aufzug zur Suite gebracht hat, beobachtet sie. Der Mann, dessen Griff sie kennt. Ihr Gesicht lächelt. Seines bleibt unbewegt. Erdems Handy liegt auf dem niedrigen Tisch, daneben ihres, ein ungleiches Paar. Ihr fällt ein, dass sie es in ihrem Cardigan vergessen haben muss. Aber das ist jetzt unwichtig. Ihre Kleidungsstücke hängen säuberlich auf Bügeln an ein paar Haken neben der Tür. Sie trocknen wie Phils Haut und ihr Haar, warten auf spätere Benutzung. Als sich die Tür öffnet, erstarrt die Faust in ihrem Körper. Ihr zweites Herz setzt für einen Moment aus, ist noch nicht gewöhnt an plötzliche Anstrengungen. Ihre Hand knetet die Stelle unter ihrem Brustbein, macht Muskeln und Sehnen geschmeidig, weiß, was zu tun ist. Nach ein paar unregelmäßigen Schlägen geht das Pochen wieder in einen langsamen echsenhaften Rhythmus über. Erdem schickt den Mann, den er mit Burak anredet, hinaus. Er geht zu dem Couchtisch, nimmt sein Handy und wirft einen Blick auf Phil. Sie sitzt aufrecht in den Lederpolstern. Ihre Wangen sind von dem heißen Bad noch gerötet. Ihre Augen geben vor, dass sie sich blendend fühlt. Frisch. Gut erholt. Wie ein Model auf dem Cover einer Filmzeitschrift. Ein fröhliches Mädchen mit einem Echsenherz, faustgroß. Sie summt eines der Lieder, die sie bei der Modenschau gehört hat. Er dreht sich von ihr weg, drückt ein paar Tasten auf dem Handy und wartet, bis die Verbindung zustande kommt. Er spricht Türkisch. Seine Sätze sind kurz und bestimmt, erwarten keine Fragen, sondern lediglich Bestätigung. Die einzigen verständlichen Worte sind San Paolo und Remo. Sie klingen wie 154
Instruktionen, die für den Ernstfall mehrmals geprobt worden sind. Nachdem er das Handy ausgeschaltet hat, bleibt er vor den zugezogenen Vorhängen der Fensterfront stehen, schiebt den Stoff ein Stück beiseite und schaut hinaus in die Dunkelheit der Stadt. Ein Schauspieler, der kurz vor der Vorstellung in den Zuschauerraum blickt, sein Publikum taxiert, den Applaus im Voraus berechnet. Er zündet sich einen Zigarillo an und bläst den Rauch gegen die Fensterscheibe, sagt etwas auf Türkisch, gibt sich selbst eine Antwort, nickt bedächtig. Als er ein Geräusch hört, wendet er sich wieder Phil zu und sieht sie gerade noch im Schlafzimmer verschwinden. Der weiße Bademantel liegt auf dem Boden. Er legt sein Handy auf den Tisch, drückt den Zigarillo aus, schlüpft aus seinem Jackett, schnallt das Holster mit der Pistole ab und wirft es auf die Couch. Sie kniet auf dem Bett, stemmt die Arme in die Hüften und drückt ihren Bauch heraus. Ihre Finger haben den Verschluss des Piercings bereits geöffnet, als er danach greift. Er entfernt es behutsam, verlässt kurz den Raum, kommt wieder. Setzt sich auf den Rand des Bettes. Ein Kichern von PhilO mena,
während sie in Position geht und sich fest gegen das Bettlaken presst. Ein sich durchbiegender Rücken. Sich hebende Hüften. Helfende Mädchenhände, die beiseite geschoben werden und beginnen, woanders Halt zu suchen. Rosenduft, der ihrem präparierten Körper entströmt. Dann das Nachgeben eines Muskels, ein lautloser Schrei in dem Laken, gefolgt von Zähnen, 155
Speichel, Fingernägeln. Ihre Knie, die sich in die Matratze bohren. Ihre Schenkel, die unter dem Druck beben. Fremde Laute beginnen aus ihrem Mund zu quellen. Sie hören sich an wie das Gequäke einer sprechenden Spielzeugfigur, faustgroß: Hug me, ha-ha-ha-ha Hug me, ha-ha-ha-ha, worauf sich die Stöße in ihr beschleunigen, genau so, wie sie es beabsichtigt hat, begleitet von einem Keuchen hinter ihr, über ihr: Hug me, ha-ha-ha-ha. Die Spielzeugfigur wird zusammengepresst, worauf die Töne aus dem kleinen Lautsprecher in ihrem Inneren ins Stocken geraten. Sie heben immer wieder von Neuem an: Hug me, haHug me, haund ersterben, als ihr Bauch endlich auf das Laken sinkt. Ein Messer, das in einen Fluss fällt. Fern von hier. Das Keuchen ist jetzt neben ihrem Ohr, ein schweres Gewicht senkt sich auf sie, bedeckt sie vollständig. Das Echsenherz schlägt laut und vernehmlich, schickt neue Impulse durch ihren Körper – sie schöpft Mut. »Wo ist Viktor?«, will sie wissen. Das Keuchen verstummt. Ein Ruck, der sie freigibt, entlässt. Zurückgleitendes Gewebe. Teigig gewordene Muskeln. Plötzlich ein Gefühl. Sie ist überrascht, identifiziert das Gefühl: Aufgegebensein. Wie ein verfallenes Haus, durch dessen Dach es hereinregnet. Bis sich überall Pfützen bilden. Ein Haus, aus dem die Seele herausgefahren ist. Das nur noch aus feuchtem Mauerwerk, verzogenen Dielenbrettern und bröckelndem Putz besteht. In dem die Türen offen stehen und durch den ungehindert hereinwehenden Luftzug gegen die Schwellen schlagen. Schnell ein Kichern von 156
PhilO mena,
um das Haus mit einem Geräusch zu erfüllen. Und ihre voreilige Frage nach Viktor zu überspielen. Aber das Gefühl bleibt, nistet sich ein. Hockt neben dem Echsenherz und verspottet es. Spielt in den Pfützen. Er lässt sie allein, geht weg. Sie hört seine Schritte, eine Tür, das Rauschen des Wassers im Badezimmer. Kurz darauf seine Stimme im Wohnraum. Er gibt an der Rezeption eine Bestellung auf. Dann Geräusche. Sie hört genauer hin. Er bedient die Tastatur eines Handys. Klick-klick. Klick. Klick-klick. Es dauert eine Weile. Wie beim Verschicken einer SMS. Nach einer Weile telefoniert er wieder, bellt Anweisungen auf Türkisch. Er demonstriert Macht, versetzt seine Leute in Bereitschaft. Bevor das Gefühl sie ganz auszufüllen droht, bevor PhilO mena
ihren Körper verlässt und das Echsenherz seinen Widerstand aufgibt, dreht sich ihr Körper vom Bauch auf die Seite. Ihre Hände bedecken die Stelle, wo das Gefühl eingedrungen ist. Ihre Finger forschen danach, betasten es, versuchen es herauszupulen, wegzumachen. Als er wieder im Schlafzimmer erscheint, trägt er einen Bademantel und raucht einen Zigarillo. »Warum interessiert du dich für Viktor?« Er wirft ihr ein Handtuch zu. 157
Die Finger ziehen sich zurück. Sie nimmt das Handtuch, wischt sich ab und setzt sich mit angewinkelten Beinen an das Kopfende des Bettes. »Ich …« Ihre Stimme flattert. Sie schluckt das Flattern hinunter. »Ich mache mir Sorgen um ihn. Er hat mit all diesen Dingen nichts zu tun.« Er zieht einen Stuhl heran, setzt sich, hört zu. Das Bettlaken zwischen ihnen sieht aus wie eine gekräuselte Wasserfläche, ein See, über den der Wind in weitem Bogen dahinstreicht. »Er gehört zu niemandem von uns«, sagt sie. »Er ist allein. Lass ihn gehen. Wenn er noch lebt.« Seine Augen funkeln. »Er lebt. Aber so einfach ist das nicht. Erst muss er mir sagen, was er weiß.« Er nimmt einen tiefen Zug. »Bist du wegen ihm hergekommen?« Sie spannt die Muskeln an und presst das Gefühl aus sich heraus, spürt, wie es in das Handtuch sickert. Ein Messer, das in einen Fluss fällt, glitschig von Mustis Blut. Das Echsenherz triumphiert. »Na? Was meinst du?« Die Spielzeugstimme. Sie lässt sich auf allen vieren nieder und krabbelt langsam über das Bett auf ihn zu. »Wofür hält mich der böse Mann?« Sie richtet sich auf, nimmt ihm den Zigarillo ab und zieht daran. »Für ein böses Mädchen, ha-ha-ha-ha?« Ihre suchende Hand unter seinem Bademantel. Sie wird sich mehr Mühe geben. Das Gefühl fern halten. Ihren Körper der Umgebung anpassen. Zur Abwechslung mal Spaß haben. Ein Klopfen an der Tür. Erdem schüttelt sie ab und erhebt sich. Sie betrachtet kurz ihre Hand, legt sie weg wie einen unbenutzten Gegenstand und schaut Erdem voller Bedauern nach. Er öffnet die Tür, wechselt ein paar Worte mit … Burak war sein Name, oder? Daraufhin betritt eine Frau den Raum. Sie trägt ein Tablett mit Tellern, Gläsern und einer Flasche in einem 158
Sektkübel, stellt es mit einem leichten Klappern auf dem Couchtisch ab. Als sie die Hand nach der Flasche ausstreckt, befiehlt ihr Erdem, sich wieder zu entfernen. Ihre Augen eilen durch den Raum, springen hierhin und dorthin. Bemerken das Piercing, das neben den Handys auf dem Tisch liegt. Die Waffe auf der Couch, den Alukoffer daneben. Erblicken Phil in der offenen Tür zum Schlafzimmer. Ihren Mund, der ein lautloses Wort formt. Barfüßige Schritte. Erdem herrscht sie an, endlich zu verschwinden. Lidia verbeugt sich und wünscht ihm einen schönen Abend. Sie bleibt für einen Moment stehen, streckt die Hand aus, als ob sie auf ein Trinkgeld warten würde. Gewinnt Zeit. Er drängt sie zur Tür und schiebt sie hinaus.
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20 Gwizdek fesselt den bewusstlosen Nachtportier mit einem Telefonkabel an ein Heizungsrohr. Zur Sicherheit. Er knüllt die Socken, die er ihm ausgezogen hat, zusammen, und stopft sie ihm nacheinander in den Schlund. Dann fixiert er den Knebel, indem er die Krawatte des Mannes um dessen Kopf schlingt, ihm durch den Mund zieht und fest verknotet. Die Stelle, wo der Griff des Stiefelmessers den Schädel getroffen hat, schwillt bereits an. Ein fernes Ping! deutet darauf hin, dass der Aufzug im Erdgeschoss angekommen ist. Vorsichtig verlässt Gwizdek die kleine Küche, in der das Hotelpersonal Kaffee und Snacks zubereitet und Lidia die Bestellung fertig gemacht hat. Soweit er von der Rezeption aus sehen kann, ist das Foyer immer noch leer. Er umrundet die Theke und späht in den Gang, der zum Fahrstuhl führt. Zwei Stimmen, die auf Türkisch miteinander sprechen. Zu sehen ist nichts. Aber offenbar hat derjenige, der den Aufzug bewacht, Verstärkung bekommen. Von dem Punkt, wo die Türken stehen, haben sie den Hoteleingang im Blickfeld. Im Schussfeld, denkt Gwizdek mit Bedauern. Seine Pistole steckt nutzlos in ihrem Holster. Er braucht Patronen. Oder eine neue Waffe. Um an Erdems Männern vorbeizukommen. Der Aufzug fährt wieder nach oben. Wenn Lidia wieder da ist, müssen sie etwas unternehmen. Aber was? Sie wissen zu wenig. Wenn er Phil nicht zum Palazzo degli Orsi gefolgt wäre, hätten sie überhaupt nichts machen können. Aber im Container wusste er bereits, dass sie kurz davor stand, eine Dummheit zu begehen. Sie suchte nach Viktor, das war klar. Zuerst im La Luna, dann hier. Dazwischen hat er gesehen, wie sie telefonierte. Vielleicht mit Viktor. Das hieße, dass er sie in dieses Hotel bestellt hat. 160
Und dass Erdem davon erfahren hat. Als sie auf der Brücke stand und auf den Fluss hinunterstarrte, hatte er sich schon bereitgemacht, hinterherzuspringen. Das wäre einfacher gewesen als das hier. Lidia ist inzwischen mit dem Aufzug angekommen. Die Türken unterhalten sich mit ihr. Wollen sie loswerden. Raten ihr, sich in der nächsten Zeit nicht blicken zu lassen. Sie klingen angespannt, scheinen sich auf etwas vorzubereiten. »Phil ist hier. In Erdems Zimmer«, flüstert sie, als sie Gwizdek in der Küche ihre Beobachtungen mitteilt. Eine eindeutige Situation. Erdem im Bademantel. Phil nackt auf dem Bett. Mit einem Gesicht, das ihr Angst gemacht hat. So hart und leer. Als ob sie von allem Abschied genommen hätte. »Hier geht’s nicht nur um Drogen, verdammt. Da steckt mehr dahinter.« Leise erzählt er ihr von der Sache mit Musti. Von der Feindschaft zwischen den Banden, den Familien. Dem alten und dem neuen Hass. Und dem Shit. Dass er vieles nicht begreift, vor allem nicht Phils Rolle in dieser Fehde. Dass er nur eines weiß: Er wird Phil beschützen. Auf eigene Rechnung. Viktor und der Shit, das gehöre nur zu seinem Auftrag. Ein kleiner Auftrag, nicht weiter schlimm, wenn er ihn nicht ausführen würde. Ein Auftrag, der sich im Grunde schon erledigt hat. Von dem er sich entbunden fühlt. »Wir müssen sie rausholen«, sagt Lidia. »Unbedingt. Und falls Viktor sich hier irgendwo herumtreibt, nehmen wir ihn mit. Wegen ihm ist Phil da oben.« Sie denkt an Erdem. Ein Raubtier mit gefletschten Zähnen. »Die haben sich mit jemandem eingelassen, der über Leichen geht.« Gwizdek verschweigt, dass er das normalerweise auch tut. Ohne Hass, überhaupt ohne Emotion, nur weil es sein Geschäft ist. Was ihn nicht unbedingt besser macht. Vernünftiger, ja, aber nicht besser.
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Er fragt Lidia nach den Einzelheiten, beginnt zu planen. Ein Mann vor Erdems Zimmer. Zwei Männer am Aufzug. Und Erdem selbst. Sie könnten die Treppe nehmen. Aber dann hätten sie die beiden vom Aufzug im Rücken. Vielleicht könnte Lidia sie ablenken. Wie sie es schon bei dem Portier gemacht hat, während er selbst durch den Hintereingang eingedrungen ist. Der Gang zum Aufzug verläuft u-förmig um das Treppenhaus und den Fahrstuhlschacht herum und führt wieder zur Rezeption. Wenn er sich von der Rückseite her nähern würde und Lidia von vorn käme – Im Foyer ertönen Schüsse. Eine MPSalve. Gwizdek stößt die Küchentür auf, lässt sich zu Boden fallen, robbt nach draußen und kauert sich hinter die Rezeptionstheke. »Bleib drin!«, zischt er Lidia zu. Als sie ihm folgen will, knallt er die Tür mit dem Fuß zu. »Wo ist er?«, brüllt eine Stimme. »Wo ist das Türkenschwein?« Eine weitere Salve, gefolgt von einzelnen Schüssen aus der Richtung des Aufzugs. Tony. Kurwa, wo kommt der jetzt her? Eigentlich müsste er noch in dem Container am Schiefen Turm eingeschlossen sein. Gwizdek öffnet die kleine Schwingtür, durch die man von der Rezeption ins Foyer gelangt. Durch einen Spalt sieht er Tony hinter einem Sessel knien, die Maschinenpistole im Anschlag, bereit, wieder aufzuspringen und mit seinem Geballer alle Bullen anzulocken, die bei den Demonstrationen noch nicht auf ihre Kosten gekommen sind. Und Erdem. Der Idiot macht alles kaputt. Dobrze, dann muss es eben ganz schnell gehen. »Hey, Tony!«, sagt Gwizdek so leise wie möglich. Der Lauf der MP zuckt in seine Richtung. Aufgerissene Augen, die in einem Meer aus Wut schwimmen. Ihn erkennen. Zögern. 162
Gwizdek zeigt ihm eine Zahl an. Zehn. Tippt auf seine Armbanduhr. Macht mit den Fingern Zählbewegungen. Tonys Kiefer mahlen. Er nickt. Eins. Gwizdek kriecht zum rückwärtigen Bereich der Rezeption und zieht sein Stiefelmesser. Drei. Er springt auf und läuft den Gang hinunter. Läuft. Hört die MP. Sechs. Er späht um die Ecke. Sieht wie die beiden Türken Tonys Feuer erwidern. Schätzt die Entfernung ab. Neun. Tonys MP drängt die Türken in ihre Deckung zurück. Einer lehnt an der Aufzugstür, trägt einen Arm in einer Schlinge, vielleicht vier Meter von ihm entfernt. Der andere steht weiter hinten im Foyer, hinter einem Pfeiler, aus dem die MP-Kugeln ein Stück nach dem anderen herausnagen. Wechselt umständlich sein Magazin. Lautlos schiebt sich Gwizdek in den Gang. Zwei lange Schritte an der Treppe vorbei. Er schlägt mit aller Kraft zu, wieder mit dem Messergriff, schräg über den Schädel zur Stirn hin, weil das am zuverlässigsten ist. Der Mann sinkt zu Boden. Er entwindet ihm die Pistole, richtet sie auf den anderen hinter dem Pfeiler, der ihn gerade bemerkt hat und seine Waffe heben will. Und wieder senkt. Die MP schweigt. Schritte im Treppenhaus. Gwizdek klemmt sich die Klinge zwischen die Zähne, streckt den freien Arm aus der Deckung und winkt, um Tony zu signalisieren, dass er nicht mehr schießen soll. Dabei hat er den Mann hinter dem Pfeiler immer im Blick. Und den auf der Treppe im Kopf. An seiner Schulter das erleuchtete Rechteck der Aufzugstür, durch das ein Streifen Licht aus der Kabine fällt. Die Schritte verstummen, waren eben ganz nah, vermutlich schon in der Nähe des Fahrstuhlschachts. Wo bleibt Tony, verdammt noch mal? 163
Der Mann, den Gwizdek in Schach hält, hat die Schritte ebenfalls gehört. Er wartet auf seine Gelegenheit, lauert. Hat die Waffe immer noch gesenkt. Gwizdeks kaum vernehmbarer Atem. An der Klinge in seinem Mund, die davon beschlägt. Was er nicht weiß: Wie viele Kugeln noch in der erbeuteten Waffe sind. Ob Tony noch lebt und ihm zu Hilfe kommen kann. Was er weiß: Dass er niemanden umbringen will. Wenn es sich vermeiden lässt. Mit einem Rumpeln schließt sich die Kabinentür. Ein dunkles Rumoren der Hängekabel. Jemand holt den Aufzug nach oben. Der Mann hinter dem Pfeiler will den Ablenkungseffekt auszunutzen, hebt seine Pistole – und lässt sie schreiend fallen, weil das Stiefelmesser die Sehnen in seinem Oberarm durchtrennt hat. Den Schwung des Wurfs mitnehmend wirft sich Gwizdek nach vorn auf den Boden, rollt um die eigene Achse, weg von dem Aufzug und der Treppe, kommt wieder auf die Beine, hört zwei Schüsse, kurz hintereinander. Der verletzte Türke krümmt sich zusammen. Offenbar wurde er in den Bauch getroffen. Neben seinem Körper ist die Mündung einer Waffe aufgetaucht. Jetzt ist auch Tonys Gesicht zu sehen. Er hält den stöhnenden Mann fest, benutzt ihn als Schutzschild. Aber die MP gibt nur noch ein Klicken von sich. Er wirft sie weg, geht in die Knie, umschlingt die Taille des Mannes wie bei einem Ringkampf. Nach ein paar Sekunden lässt er ihn los, versetzt ihm einen Stoß und richtet sich langsam auf. Gwizdeks Arme schnellen um die Ecke, suchen nach einem Ziel. Der Türke, der die Treppe heruntergekommen ist, liegt reglos auf dem Boden. Wo sein Kopf sein müsste, ist ein Klumpen aus Hirn und Haar. Das Ping! des Aufzugs. Gwizdek fährt herum. Im Rechteck der erleuchteten Kabine sieht er einen Schatten. Tony tritt neben ihn, die Pistole des verletzten Türken im Anschlag. Sie warten, dass sich die Aufzugstür öffnet. Aber nichts geschieht – bis 164
Gwizdek bemerkt, dass der Körper des bewusstlos geschlagenen Türken die Tür blockiert. Er bückt sich, fasst den Mann unter den Schultern und zeigt Tony an, was er vorhat. Dann zerrt er den Körper mit einem Ruck beiseite und hebt sofort wieder die Pistole. Beide haben den Finger am Abzug. Vier Arme, die strahlenförmig auf einen imaginären Punkt gerichtet sind. Die Tür schwingt auf. Tony und Phil stehen sich gegenüber. Schießen nicht. Visieren sich über ihre Waffen hinweg an. Holen Atem. Sie trägt einen Bademantel, der vorne offen steht. Tony registriert, dass sie das Piercing nicht mehr trägt. Wie er befürchtet hat. Wie es ihm von Erdem per SMS übermittelt wurde. Von Erdem, der das San Paolo in die Luft jagen ließ. Daran gibt es keinen Zweifel. Tonys Schwester hat ihm am Telefon gesagt, dass eine Bombe in dem Restaurant hochgegangen ist, völlig aufgelöst, weil Aldo bei dem Anschlag schwer verletzt worden ist. Weil er vor einer halben Stunde ins Krankenhaus gebracht wurde und niemand weiß, ob er durchkommt. Und Phil ist unter dem Bademantel nackt. Ihre Brüste sind sichtbar, vor allem ihre Scham. Sie zittert. Er fängt sie auf, bevor sie kraftlos zu Boden sinkt. Nimmt ihr die Beretta ab und steckt sie ein. Hüllt den Mantel um sie. Weiß nicht, wie er Phil festhalten soll, die ihm zu entgleiten droht. Sie stammelt unzusammenhängendes Zeug, mit einer seltsamen Kinderstimme. Es klingt wie ein Lachen. »Wir haben nicht viel Zeit«, sagt Lidia, die inzwischen zum Aufzug gekommen ist und die Lage erfasst. »Die Polizei muss bald hier sein.« Sie hilft Tony, Phil aus der Kabine zu befördern. Sie tragen sie zu einem der Sessel im Foyer. »Wo ist Viktor?«, fragt Lidia und legt eine Hand auf ihre Wange. »Verstehst du mich? Wo ist dein Vater?« Phil schüttelt den Kopf. »Weiß nich. Ich weiß nich.« 165
Abwesend, apathisch. »Was ist mit Erdem?«, schaltet sich Tony ein. »Was hat er mit dir gemacht?« Sie schüttelt wieder den Kopf. Abwehrend diesmal. »Warum bist du hergekommen. Zu ihm?« Wieder das Lachen. Tony muss sich beherrschen, ihr keine runterzuhauen. »Lass sie in Ruhe!«, sagt Lidia. Tonys Kopf zuckt hasserfüllt in ihre Richtung. Aber er rührt sich nicht. Gwizdek knöpft sich den verletzten Türken vor, dessen Blut bereits eine große Lache gebildet hat. Er zieht das Stiefelmesser aus seinem Oberarm und macht ihm klar, dass er seine Hände fest auf die Wunde pressen muss. Um den Blutverlust einzudämmen. Bauchschüsse töten langsam. Wenn er jetzt, mit Gwizdeks Stiefelmesser an seiner Kehle, nicht lügt, habe er eine Chance, zu überleben. »218«, kommt es schließlich aus dem wimmernden Mann heraus, ganz nah an Gwizdeks Ohr. Von weitem ist eine Polizeisirene zu hören. Gwizdek überprüft das Magazin seiner Pistole, stellt fest, dass es noch fast voll ist, und hastet die Treppe hinauf. »Warte!« Tony wendet sich von Phil ab und folgt ihm. Mit vorgehaltener Waffe nehmen sie jede Biegung, sichern sich gegenseitig, so gut es geht, erreichen auf diese Weise das zweite Stockwerk. Ein Wegweiser. Zu den Zimmern 201 bis 211 geht es nach links, 212 bis 220 liegen auf der rechten Seite. Gwizdek eilt im Laufschritt den Gang entlang, biegt zweimal um eine Ecke und bleibt dann vor Nummer 218 stehen. Er bedeutet Tony, die Klinke herunterzudrücken. Für den Fall, dass die Tür verschlossen ist, macht er sich bereit, sich dagegenzuwerfen. 166
»Das ist meine Sache«, sagt Tony gedämpft. »Ich hab hier noch ’ne Rechnung zu begleichen.« Gwizdek schaut ihn kurz an. »Deshalb sind wir nicht hier.« Er probiert selber die Klinke, erfolglos, nimmt Anlauf und tritt die Tür ein. Außer Viktor, mit einem Kabel an einen Stuhl gefesselt und voller Kotze, ist niemand in dem kleinen Raum. Er schläft, röchelt dabei. Gwizdek schneidet ihn mit seinem Messer los und wirft sich den Körper über die Schulter. »Und jetzt weg. Du gehst voran!« Tony rührt sich nicht von der Stelle. »Zuerst töte ich Erdem. Wo ist er?« »Keine Zeit. Geh voran!« »Wir brechen die anderen Türen auf. Wir finden ihn! Er muss doch irgendwo in der Nähe sein.« »Das hoffe ich nicht.« »Du hast ja keine Ahnung, was hier auf dem Spiel steht, Mann! Mein Vater schwebt in Lebensgefahr. Sie haben sein Restaurant in die Luft gejagt. Das ist eine Kriegserklärung.« »Vielleicht ist Erdem schon tot«, entgegnet Gwizdek. »Du hast Phil gesehen.« »Und ob ich sie gesehen habe. Für wie blöd hältst du mich? Sie hat die Seiten gewechselt, scheiße noch mal, und wahrscheinlich hat sie sich von ihm ficken lassen. Sie hat mich hintergangen. Du weißt nicht, was ich weiß!« »Jestesz szalony«, sagt Gwizdek knapp. »Tu, was du willst. Aber komm mir nicht in die Quere.« Als er das Zimmer verlassen will, bemerkt er eine Art Rucksack, der auf einem kleinen Tisch liegt. Er zögert, setzt sich schließlich in Bewegung und läuft mit Viktor über der Schulter den Gang zum Aufzug zurück. Verflucht sich für das Risiko, das er eingeht. Erreicht die Treppe und steigt sie hinunter, so schnell er kann. 167
Tony folgt ihm widerstrebend. Er hat das Bodybag ebenfalls gesehen. Und an sich genommen.
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21 Vor dem Hotel haben sich Menschentrauben gebildet, eine dunkle amorphe Masse unter den Lichtkegeln der fahlen Straßenbeleuchtung. Der Verkehr auf der Piazza Vittorio Emanuele II ist zum Erliegen gekommen, ein paar Fahrzeuge stehen am Straßenrand. Aber niemand schaut in die Richtung des schwach erleuchteten Foyers. Die meisten Augen sind nach rechts gewandt, zum Ende des Corso Italia. Dort wird das Gedränge dichter. Fahnen und Transparente ragen wie Feldzeichen daraus hervor, nebelige Schwaden hängen darüber. Ein anschwellendes Brummen, ganz anders als das gut gelaunte Rufen, Singen, Skandieren auf der Piazza dei Miracoli, liegt in der Luft. Die Leute begegnen sich nicht wie alte Bekannte. Sie sammeln sich. Beginnen, einer Strömung zu folgen. Motorradhelme schwimmen auf der Masse wie Seerosen in einem zugewachsenen Teich, tanzen auf und ab. Stöcke, Latten und improvisierte Schilde begleiten die wogende Bewegung der Menschen. Viele Gesichter sind vermummt. Einige tragen Atemschutz- oder Gasmasken, haben Arme und Beine mit Schaumstoff umwickelt. Das Heulen von Sirenen schneidet durch die Nacht. »Keine Ahnung, was da vor sich geht«, sagt Lidia, die das Geschehen durch eine der Frontscheiben beobachtet. »Für heute war keine Demo mehr gemeldet. Das muss eine spontane Kundgebung sein.« Als Gwizdek mit Viktor ins Foyer kommt und ihn von seiner Schulter gleiten lässt, eilt sie hinzu. Phil, die wieder auf den Beinen ist und immer noch ihren Bademantel trägt, kümmert sich bereits um ihren Vater. Sie betastet seinen Körper, streicht ihm über die Stirn, prüft die Pupillen. »Ich glaube, es ist nichts Ernstes.« Sie nimmt seinen Kopf in 169
die Arme und drückt ihn an sich. »Sein Gesicht sieht übel aus. Aber das wird wieder.« »Er riecht nach Alkohol«, sagt Lidia. »Ist wahrscheinlich nicht das Einzige, was er intus hat. Wir müssen ihn irgendwie wach kriegen. Moment, ich bin gleich wieder da.« Sie geht zur Rezeption und verschwindet hinter dem Tresen. Währenddessen wirft Gwizdek einen Blick auf den verletzten Türken, der anscheinend die Besinnung verloren hat. Er überzeugt sich davon, dass der andere, der den Arm in einer Schlinge trägt, noch außer Gefecht gesetzt ist. Dann tritt er an die Eingangstür und schätzt die Lage ab. »To jest wybitny. Was Besseres hätte uns gar nicht passieren können.« Schließlich wendet er sich Phil zu. »Wszystko w porzadku?« Sie nickt, ohne ihn anzusehen. »Geht schon.« Und: »Danke, Gwi. Danke, dass du ihn da rausgeholt hast. Ich hab’s nicht hingekriegt.« »Warum hast du das getan? Ganz allein. Ich hätte dir doch geholfen.« »Sei nicht böse, aber das verstehst du nicht.« Sie fasst sich an ihre Brust, verzerrt das Gesicht. Ein Pochen, immer noch faustgroß. »Und Erdem? Was ist mit ihm?« »Er ist nicht tot, wenn du das meinst.« Ein langer Blick auf ihre Hand. »Ich konnte es nicht, nicht mal das. Hab ihm mit der Pistole eins übergezogen.« Gwizdek will etwas erwidern, aber Lidia kommt mit einem Krug Wasser aus der Küche zurück. »Vielleicht macht ihn das wieder munter.« Sie schüttet Viktor den Inhalt des Kruges ins Gesicht. Ein Zucken durchläuft seinen Körper, er hustet, wacht davon aber nicht auf. Jetzt erscheint auch Tony im Foyer, mit einem Bodybag auf dem Rücken. Er betrachtet Viktor, dessen Kleidung mit dunklen 170
Flecken besudelt ist. Das Wasser hat einen Teil des getrockneten Blutes verflüssigt und über sein Gesicht verteilt. Phil tupft es mit einem Ende ihres Bademantels ab. »Die Türken haben ihn ganz schön in der Mangel gehabt.« Keiner sagt etwas. »Hey, schaut mich nicht so an! Das hab ich nicht gewusst. Ich dachte, er ist mit dem Shit abgehauen. Im Luna sah alles danach aus.« Tony macht eine Pause. »Vielleicht stimmt das sogar, und sie haben ihn erst später geschnappt.« »Wir müssen weg«, sagt Gwizdek. »Hier können wir nicht bleiben.« »Phil braucht was zum Anziehen«, sagt Lidia. Sie schiebt ihren Rock ein Stück hoch und steigt aus ihrem Slip. »Hier.« Phil schaut sie verdutzt an. Dann nimmt sie die Hand voll Slip entgegen und schlüpft hinein. Lidia reicht ihr den Blazer ihres Business-Kostüms. Darunter trägt sie ein Trägertop. »Ist zumindest besser als ein Bademantel.« Phil lächelt und zieht auch den Blazer an. Sie holt ihr Handy aus dem Bademantel und steckt es ein. »Immer erreichbar«, witzelt sie. »Das ist das Einzige, was ich noch habe.« Dann geht sie hinter die Rezeption, fischt ihre Sandaletten aus dem Papierkorb und schlüpft hinein. »Und die hier.« »Los jetzt«, sagt Gwizdek. »Tony! Wir nehmen Viktor zwischen uns.« Er hakt sich Viktors linken Arm um den Nacken und zieht den schlaffen Körper hoch. Tony, der sich an dem verletzten Türken zu schaffen gemacht und etwas in dem Bodybag verstaut hat, geht auf die andere Seite. Sie setzen sich in Bewegung, gefolgt von Lidia und Phil. Gemeinsam verlassen sie den Palazzo degli Orsi und betreten den Gehsteig davor. Schon nach ein paar Metern ziehen sie die Aufmerksamkeit der Menge auf sich. Köpfe recken sich in ihre Richtung, das Blitzlicht einer Kamera. 171
»Was ist denn mit dem los?« Augenblicklich sind sie von Demonstranten umringt, werden von einer Drift erfasst wie ein steuerloses Boot. Aufgerissene Augen vor ihnen, neben ihnen. Rucksäcke, die im Weg sind. Eine Fahne flattert Gwizdek ins Gesicht. Tony wird angerempelt. »He, schaut euch das mal an!« Staunen, Betroffenheit, Rufe der Entrüstung. Die Drift lässt ein wenig nach. »Scheiße, ist der tot?« »Nur bewusstlos«, sagt Tony barsch und fährt den Ellenbogen aus. »Macht Platz!« Aber die Leute weichen nur zaghaft zurück, wollen sich überzeugen vom Anblick des Verletzten. Sie nehmen ihn als abschreckenden und zugleich erregenden Beweis für die Gefahr, auf die sie sich zubewegen, für den brutalen Ernst, dessen Hauch sie jetzt zu spüren beginnen. »Der hat ja ganz schön was abgekriegt«, sagt ein junger Mann mit einer orangen Regenjacke. Er hat sich die Kapuze über den Kopf gezogen, macht einen besorgten Eindruck. »Braucht ihr Hilfe?« »Wäre nicht schlecht«, sagt Phil auf Englisch und drängt sich an Tony vorbei. »Wir müssen erst mal aus dem Gewühl hier raus.« »Klar, natürlich.« Er dreht sich um und rudert mit den Armen durch die Luft. »Na los, Leute, geht zur Seite! Seid ihr beschissene Schaulustige, oder was?« Von einem der Umstehenden schnappt er sich eine Fahne, stemmt die Stange wie eine Lanze schräg gegen die Hüfte und wedelt damit geschäftig herum. »Aus dem Weg! Wir haben einen Verletzten! Hier gibt’s nichts zu gaffen.« 172
Allmählich treten die Demonstranten zurück und lassen die Gruppe durch. Ein paar klopfen Gwizdek und Tony auf die Schultern und rufen ihnen ein paar aufmunternde Worte zu. Nach einer Weile erreichen sie die andere Seite der Piazza und gehen Richtung Bahnhof weiter, wo merklich weniger los ist. An einem Zeitungskiosk mit heruntergelassenen Rollläden machen sie Halt. Der junge Mann stellt sich mit »Pino« vor. Sie unterhalten sich auf Englisch. Phil bemerkt, dass er sich über ihren Aufzug zu wundern beginnt. Verständlich, da Lidia und vor allem sie selber nicht gerade passend für eine Demo gekleidet sind. Zur Begründung erfindet sie etwas, sagt ihm, dass in ihrem Hotel eine Hausdurchsuchung stattgefunden habe. »Diese Schweine!«, erwidert er. »Was nehmen die sich noch alles raus? Führen sich auf wie die Faschisten.« »Was genau ist eigentlich los?« Am Ponte di Mezzo sei es zu einem Schusswechsel gekommen, sprudelt es aus Pino heraus. Keine Anti-RiotGeschosse, sondern mit richtig scharfer Munition. Das habe sich in Windeseile herumgesprochen, worauf in der ganzen Stadt Unruhen aufgeflammt seien. Die Tumulte hätten sich auf den Corso Italia verlagert. Die Polizei dränge die Demonstranten mit äußerster Brutalität zurück, nehme wahllos Verhaftungen vor. Daraufhin habe sich ein regelrechter Straßenkampf entwickelt. Es gebe ein Gerücht, wonach eine Gruppe von Autonomen einen Wagen der Carabinieri überfallen und ihn danach schrottreif geschossen hätte. Waffen wären dabei entwendet worden, aber das sei sicher nur ein Vorwand, mit dem die Polizei ihr gewaltsames Vorgehen rechtfertige. Irgendetwas fänden die immer. »Jetzt haben sie den Krieg, den sie wollen«, sagt er bitter. »Demnächst heißt es vermutlich, dass wir mit der Mafia unter einer Decke stecken würden.« 173
Tony gibt ein spöttisches Zischen von sich. »Und was machen wir jetzt?«, fragt Lidia in die Runde. »Zurück ins La Luna?« »Meinst du das Hotel?« Pino winkt ab. »Keine Chance. Da kommt ihr nie hin. Überall Straßensperren. Die haben die ganze Innenstadt abgeriegelt.« »Wir müssen so schnell wie möglich raus aus dieser verdammten Stadt!«, sagt Tony. »Das wäre am klügsten«, pflichtet ihm Pino bei. »Bevor sie hier noch den Ausnahmezustand ausrufen.« »Zum Flughafen?«, schlägt Gwizdek vor. »Keine gute Idee«, sagt Tony. »Wenn sie einen von uns suchen«, er lässt die Worte eine Zeit lang im Raum stehen, zuckt mit den Schultern, »ist dort Endstation.« Pino schaut ihn überrascht an. »Ihr werdet gesucht?« »Kann man so sagen.« »Woher kommt ihr?« Tony mustert ihn misstrauisch. »Ich will dir ja nicht zu nahe treten, Pino, aber du könntest ein Polizeispitzel sein.« »Ein Spitzel?« Er gerät in Rage. »Ich glaub, ich muss kotzen. Was denkst du von mir! Ich bin seit über einem Jahr im Movimento. Ich war in Göteborg dabei, bin wegen Steineschmeißen festgenommen worden. Du hast sie wohl nicht alle?« Er senkt den Kopf, beruhigt sich wieder. »Aber du hast Recht. Angeblich hat die forza nuova Provokateure eingeschleust. Die Faschisten schrecken vor nichts zurück. Da kann man nicht vorsichtig genug sein.« Tony öffnet sein Bodybag, holt die erbeutete Pistole des Türken heraus und hält sie ihm hin. »Wenn du weißt, wie man damit umgeht, gehört sie dir.« Pinos Augen werden tellergroß. Seine Hand zuckt vor, verharrt einen Moment über der Waffe. Die Verschlagenheit eines 174
Schuljungen, der einen Streich plant. Eines etwa zwanzigjährigen Schuljungen. Dann zieht er sie wieder zurück. Erschrocken. Aber auch ein wenig stolz. »Ich weiß, wie man damit umgeht«, sagt er mit Nachdruck. »Pack das Ding wieder ein. Ihr könnt mir vertrauen.« »Wie du meinst.« Tony steckt die Waffe wieder ein. »Ich bin mit ein paar Freunden vom Movimento hier. Wir haben einen Mini-Bus. Steht ganz in der Nähe. Wenn ihr wollt, bringe ich euch nach Livorno. Dort könnt ihr Andrea erzählen, was passiert ist. Andrea macht die Presse für No Global.« Er deutet auf Viktor. »Das muss unbedingt in die Medien.« »Wir kommen mit«, sagt Phil. Sie legt eine Hand auf seine Schulter. »Du bist unsere Rettung.« Pino lächelt, entspannt sich. Er zeigt Richtung Bahnhof. »Da lang.« Die Gruppe setzt sich wieder in Bewegung. Pino geht voran, unterhält sich mit Phil, diesmal auf Italienisch. Er fragt sie, ob Viktor einen Arzt brauche. Das käme darauf an, antwortet sie. Erst müsse er wieder zu sich kommen. Vielleicht habe er innere Verletzungen. Sie hätten noch keine Gelegenheit gehabt, ihn genauer zu untersuchen. Nach etwa hundert Metern erreichen sie den Parkplatz. Pino holt einen Schlüsselbund hervor und lässt sie nacheinander in den Mini-Bus einsteigen, auf dessen Dach ein Megafon angebracht ist. Auf der Kühlerhaube steht in roter Farbe Contro violenza geschrieben, darunter Movimento No Global- Livorno. Bevor Lidia in den Wagen steigt, hält Phil ihre Hand fest, drückt sie. »Willst du wirklich mitkommen? Du hast schon genug für uns getan.« »Erst wenn ich weiß, dass Viktor wieder in Ordnung ist«, antwortet sie. »Und wenn ich mit ihm gesprochen habe.«
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Die Schiebetür fällt mit einem Scheppern ins Schloss. Pino startet den Motor. »Wie sieht eigentlich der Bulle aus, der euren Freund so zugerichtet hat?« »Es waren mehrere«, meint Tony beiläufig. Pino stutzt, räuspert sich und legt einen Gang ein. »Es macht euch doch nichts aus, wenn ich was rauche?« Er fummelt in der Ablage herum, fördert einen ramponierten Joint zutage und hält ihn mit einem Grinsen hoch. Schweigen. »Tu dir keinen Zwang an«, sagt Tony. Als sie den Bahnhofsvorplatz überqueren, blickt ihnen ein groß gewachsener Mann hinterher, der gerade dabei ist, sein Handy zu aktivieren. Er trägt einen Arm in einer Schlinge.
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22 Ich wundere mich, warum es mir nicht schlechter geht. Es tut höllisch weh, wenn ich mein linkes Bein bewege. Mein Gesicht fühlt sich an wie ein frisch aufgeworfener Bombentrichter, vor allem die Nase. Und die Kleidungsstücke, die ich trage, sind für Notleidende in einem fernen Staat bestimmt, den es inzwischen wahrscheinlich gar nicht mehr gibt: ein heller Troyer mit durchgescheuertem Kragen und ausgewaschene No-NameJeans. Aber sonst ist eigentlich alles in Butter. Muss an diesem Golden Pollum liegen. Dass die Qualität vom Feinsten ist, habe ich schon gesagt, oder? Und: Kotzen erleichtert ungemein. Nichts gelernt und nichts begriffen, heißt es jetzt wahrscheinlich wieder. Von wegen! Dass Drogen den Verstand vernebeln, trifft nur teilweise zu. Blanker Eskapismus, von mir aus, aber manchmal ergibt sich dabei eben auch eine unerwartete Klärung der inneren Verhältnisse. Gut, vielleicht sollte ich in dieser Beziehung etwas kürzer treten, ha ha. Vielleicht sogar ganz damit aufhören, bringt einen anscheinend ja nur in Schwierigkeiten und um Ende vielleicht um, das kann schon sein. Vielleicht, vielleicht. »Moze byc«, würde Gwizdek sagen. Ich weiß genau, was passiert ist. Was mit mir passiert ist, meine ich. Es setzt sich langsam zusammen, listet sich auf, wie E-Mails, die man sich nach und nach vom Server runterholt. Hab ’ne Menge Glück gehabt, das steht außer Zweifel. Aber das braucht man, wenn man mehr über sich selbst erfahren will. Glück und Schmerzen. Und Menschen, die es schlecht mit einem meinen. Menschen, die einen Scheiß darauf geben, ob man in den Abgrund stürzt oder sich gerade noch fangen und wieder hochhangeln kann. Dann kommen die interessantesten Dinge ans Tageslicht, wenn man an so einer Felskante 177
herumbaumelt. Ein Arm hängt am Leben und der andere rudert im Nichts. Hab auch wieder an The Airs gedacht. Sieht ganz fürchterlich aus da oben. Alles verseucht, wohin man nur blickt. Die Anlage ist richtig ungemütlich geworden. Das mit der Wasserzufuhr klappt nicht mehr. Der Gebirgssee sieht aus wie eine einzige Sickergrube. Und die Aussichtsröhre ist an mehreren Stellen geborsten. Keine Ahnung, ob sich das wieder reparieren lässt. Es ist ein trauriger Anblick, vergleichbar mit einem Glaspalast, in dem Hooligans hausen. Aber um The Airs werde ich mich später kümmern müssen. Phil glaubt mir, und das ist schon mal das Wichtigste. Dass ich Tony nicht verraten habe, meine ich. Mein Mädchen sitzt neben mir auf einem verbeulten Kordsofa, das schon bessere Tage gesehen hat. Über ihr Handy sperren wir unsere Kreditkarten. Dann schlingen wir Spaghetti ohne alles in uns hinein und kommen zu Kräften. Es ist früh am Morgen. Pino, unser neuer No Global-Freund, ist nach Pisa zurückgefahren, wie ich von Phil erfahren habe. Er hat uns seine Wohnung überlassen, besser gesagt sein Zimmer, das aus einem mit Backsteinen improvisierten Schreibtisch und dem alten Sofa besteht. Die anderen WG-Insassen sind auch alle in Pisa. Wahrscheinlich machen sie die Nacht durch und reagieren sich noch ein wenig an der Polizei ab. Es muss ein großes Ereignis für sie sein, Aufruhr, Krawalle, Straßenschlachten, das hat man nicht alle Tage, nirgendwo in Europa. Davon werden sie noch lange erzählen können. Etwas zu erzählen haben – ist es nicht das, was uns einigermaßen bei der Stange hält? Wir haben uns überlegt, in Livorno in ein Hotel zu gehen. Aber mit Hotels haben wir bisher nicht die besten Erfahrungen gemacht. Außerdem werden dort normalerweise die Personalien registriert, und das können wir momentan gar nicht gebrauchen, oh nein. Egal, wo wir unsere Daten hinterlassen: Erdem könnte 178
uns auf die Spur kommen. Und die Polizei, aber die ist zurzeit ja anderweitig beschäftigt. Als Phil mit ihren Nudeln fertig ist, erzählt sie mir, was es mit dem Piercing auf sich hat. Dass Erdem es ihr in einer Bar in Frankfurt abgenommen hat. Dass er Tony verunsichern wollte, indem er es in dem Shit versteckt hat und ihm durch Musti zukommen ließ. Verunsichern, eifersüchtig machen, zu einem Fehler verleiten – eine Macho-Botschaft eben, eine Ich-bin-andeiner-Frau-dran-Botschaft, etwas in der Art. Phil hat das Piercing aus dem Shit entfernt, als sie am ersten Abend in Pisa mit Francesco unterwegs war. Sie bittet mich um Verzeihung, weil sie mich nicht eingeweiht hat, aber sie wollte nicht, dass Tony oder irgendjemand sonst von der Sache erfährt. Das hätte sogar klappen können, denke ich, aber dann kam Aldos Anruf, als wir auf dem Weg zum Flughafen waren, und alles fing von vorne an. Jetzt hat sich Erdem das Piercing wiedergeholt. Und Tony hat doch davon erfahren, per SMS von Erdem. Hört sich an wie eines dieser albernen Spiele, die auf Kindergeburtstagen ein echter Renner sind, Topfschlagen oder so etwas, ist aber todernst, wie immer, wenn es um Liebe und Hass geht. Das mit dem Hass ist mir klar: Erdem hasst Tony, und Tony hasst Erdem, vor allem, weil Erdem seit neuestem Tonys ganze Familie bedroht und eben mal das Restaurant von Aldo samt Aldo in die Luft gesprengt hat. Nur: Wer wen liebt, da steige ich nicht ganz durch. Damit tue ich mich richtig schwer. Tony, der mit den anderen draußen in der Küche sitzt, geht die Geschichte jedenfalls schwer an die Nieren. Ich müsste ihm eigentlich dankbar sein, weil er mich zusammen mit Gwizdek rausgehauen hat. Aber Tony ist sauer auf Phil, und das führt mich zu dem Punkt, über den mich mein Mädchen noch im Dunkeln gelassen hat.
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Ich bin der Letzte, der sie zu irgendwas drängt. Hab schon gemerkt, dass da was in ihr ist, wovon ich nicht die geringste Ahnung habe. Etwas Kaltes, Lebendes. Anscheinend hat sie versucht herauszukriegen, wo mich die Türken festgehalten haben. Ist schnurstracks zu Erdem marschiert und hat ihn zur Rede gestellt. Mehr hat sie nicht gesagt, als wir fünf vorhin eine kleine Lagebesprechung abgehalten haben. Zur Rede gestellt, was immer das heißen mag. Tony hat sie nur angesehen ohne ein Wort zu sagen, mit einem Lauern in den Augen, das jeden von uns stumm gemacht hat. Ich glaube, er versteht überhaupt nichts mehr. Für seine Verhältnisse ist er ziemlich einsilbig geworden. Hängt dauernd an seinem Handy, um mehr über den Zustand seines Vaters zu erfahren. Spielt mit seinen Waffen herum – was Gwizdek überhaupt nicht leiden kann, Gwizdek, ohne den wir total aufgeschmissen wären, da machen wir uns nichts vor. Jetzt hat er sich, ganz Profi, als Einziger von uns schlafen gelegt. Wunder wirken kann er natürlich auch nicht. Ihm ist nicht entgangen, dass Tony den Shit aus Erdems Hotel mitgehen ließ. Und er hat immer noch das Geld von Jerzy bei sich, vierzigtausend, das ist kein Vermögen, aber immerhin so viel, dass es die meisten Menschen zu der einen oder anderen unüberlegten Handlung hinreißen kann, mich eingeschlossen. Er hat das Geld Tony angeboten, im Tausch für den Shit. Tony hat abgelehnt. Er verschweigt uns, was er damit vorhat. Vermutlich weiß er es selber nicht so genau, möchte das Zeug einfach nur behalten, vielleicht, weil es das Einzige ist, was er Erdem abgenommen hat. Sein Hass auf ihn ist unbändig, steckt in all seinen Bewegungen. Es ist, als ob er eine neue Bestimmung erfahren hätte, über der er jetzt brütet mit der düsteren Gewissheit eines Erwählten. Phil und ich machen Witze. Über ein Poster an der Wand, auf dem eine Weltkugel abgebildet ist. Invendibile steht in Äquatorhöhe darauf, unverkäuflich. »Na klar«, sagt sie, »ich 180
würde das olle Ding auch nicht nehmen. Viel zu teuer im Unterhalt. Und die Mieter sind unkündbar.« Durch solche Kalauer schützen wir uns vor alten und jungen Demütigungen. Bevor sie alles in uns zum Stillstand bringen. Phil trägt einen weiten Rollkragenpulli und eine Hose mit aufgenähten Taschen, beides aus dem Schrank einer Mitbewohnerin von Pino. Sie erzählt mir, dass sie jetzt ein wenig mehr über mich weiß, von Lidia. Ich solle mich mal mit ihr unterhalten. Ob mir nichts aufgefallen sei, als sie mit mir geschlafen hat. Ob mir zumindest ihr Körper bekannt vorgekommen sei. Einen Körper, den vergesse man doch nicht, das sei etwas anderes als ein Gesicht. Als ich ihr erkläre, dass mein Verhältnis zu Körpern etwas zwiespältig sei, dass ich nicht mal mit meinem eigenen vernünftig zu Rande käme und deswegen fortgesetzt an ihm herummodeln würde, wie ich mich da an fremde Finger, Schenkel, Genitalien erinnern könnte, das sei zu viel verlangt – als ich ihr das erkläre, sagt sie mir, Lidia sei das Mädchen gewesen, durch das ich Sills Tod vergessen wollte, vor zehn Jahren, kurz nachdem sie gestorben war. Sie habe das schon analysiert. Dass ich Lidia an die Nadel gebracht hätte, sei so etwas wie eine doppelte Penetration gewesen, Vereinigung im Tod. Ihr brauchte ich nichts zu erzählen, sie wisse inzwischen, wie sich das anfühlt. Ich solle wenigstens versuchen, einen winzigen Teil davon wieder gutzumachen. Wiedererkennen sei doch schon mal ein erster Schritt. »Streng dich an.« Sie erhebt sich und schlüpft in vergammelte Asics-Sneakers, die sie vor dem Sofa abgestellt hat. Sie müsse mit Tony sprechen, der brauche sie jetzt mehr als ich. Damit lässt sie mich auf dem schrecklichen Sofa zurück, aus dem die Erinnerungen herausmüffeln wie Schweiß aus einem alten Schuh.
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Lidia heißt gar nicht Lidia, sondern Sophia. Ich finde, mit Sonja lag ich gar nicht so schlecht. Lidia ist ihr zweiter Name. Sie hat ihn sich als Rufnamen eintragen lassen, als sie volljährig wurde. Sagt sie mir, nachdem ich eine Weile auf Phils Worten herumgekaut habe. Nachdem ich sie mit Haut und Haaren geschluckt habe, weil sie nicht kleinzukriegen waren. Nachdem ich die Tür zur WG-Küche geöffnet und sie gefragt habe, ob sie nicht reinkommen möchte, um, na ja, um zu reden. »Eigentlich wollte ich dich umbringen«, sagt sie. Hätte sie mal tun sollen. Alte Liebe, das war es doch, oder nicht? Ich weiß nicht, darf ich sie umarmen, so wie sie da steht? Würde sie das zulassen? »Wie geht’s dir?« Sie sieht nicht so aus, als ob sie berührt werden wollte. Von irgendwem oder irgendwas. »Nicht so übel, wie ich dachte.« Ich bin noch etwas wacklig auf den Beinen, muss mich wieder setzen. Umarmen ist jetzt nicht drin, falls das überhaupt eine gute Idee war. Meine Generation hat diesen Klammerreflex. Wenn man verlegen ist und nicht genau weiß, was man von einer Situation zu halten hat, schließt man sein Gegenüber erst mal in die Arme, nicht richtig fest, nur lose, wie beim Abtasten an einer Flughafenkontrolle. Was die Verlegenheit normalerweise erhöht. »Ich hab deiner Tochter alles erzählt«, sagt sie und lehnt sich gegen den Schreibtisch. »Ich fand, sie sollte es wissen. Könnte ja sein, dass ihr das Gleiche passiert wie mir.« Nicht mal ihre Stimme kommt mir bekannt vor, selbst jetzt, da ich weiß, wer sie ist. Sie klingt viel tiefer als vor zehn Jahren, ohne Dialekteinschlag. Mag sein, dass sie ein Sprechtraining absolviert hat oder so etwas. Bei ihrem Job ist eine gute Mikrofonstimme bestimmt wichtig. Früher hatte sie ihr Haar orangerot gefärbt, ein rebellischer Annie-Lennox-Schnitt. 182
Damals rieb sie ihr kurzes Haar an meinem Hals, bis die Haut juckte. Jetzt ist es schwarz und lang, zu gleichmäßigen Strähnen geglättet. Früher hatte sie kaum Busen, kleine lustige Knabenbrüste, die sich nicht weiter entwickeln wollten, vielleicht aufgrund der Drogen, was weiß ich, wie sich das aufs Wachstum auswirkt. Jetzt haben ihre Hormone zwei flakonförmige Ausbuchtungen hervorgebracht, die sich auf ihrem Top abzeichnen, Öl und Essig, wie eine Menage. »Warum hast du mich nicht erkannt letzte Nacht?« »Warum hast du mit mir geschlafen?«, frage ich zurück. »Um zu sehen, wie es ist«, sagt sie lakonisch. »Was sich verändert hat.« Eine Liebe, wie sie zustande kommt, wenn alle Umstände am ungünstigsten erscheinen. Eine Liebe aus Trotz. Um sich von nichts beschweren zu lassen. Mehr ein Widerstand. Aber Liebe klingt besser, wenn man in einer Stadt wie Berlin darangeht, sich gegenseitig die Adern aufzuklopfen und den nächsten Löffel einer braun blubbernden Brühe aufzukochen. »Und? Zu welchem Ergebnis bist zu gelangt? Du hast dich auf jeden Fall verändert, nicht nur äußerlich.« Sie zieht die Augenbrauen hoch. »Nimm es als Kompliment.« »Ich weiß nicht«, sagt sie. »Wahrscheinlich hast du Recht. Ich bin jetzt vierundzwanzig, Viktor. Ich hab einiges erlebt. Und ich hab noch einiges vor. Ich führe sogar eine Beziehung, stell dir vor, mit einem Rechtsanwalt, bisschen älter als du, aus Charlottenburg. Er ist sehr zärtlich, wenn wir uns mal sehen.« Sie dreht sich zu einem der Fenster des Raumes, durch das ein schmaler Kanal mit zahllosen Segelbooten zu sehen ist. Bewegungslos liegen sie an ihrer Vertäuung, wie auf einem sorgfältig ausgeführten Gemälde in einem Museum. Die Spitzen
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der Maste warten auf das erste Licht der Morgensonne. Kein Fotomotiv. »Aber wenn ich in einer dieser Hotelbars sitze«, fährt sie fort, »wie gestern Abend, dann ist nichts mehr davon da, verstehst du? Ich fühle mich nicht einsam oder so, bestimmt nicht. Ich sehne mich auch nicht nach der Nähe zurück, die zwischen uns war. Davon hab ich mich verabschiedet, spätestens gestern Nacht. Zu viel Nähe ist nicht gut. Sie macht uns zu Mördern.« Nachdenklich ordnet sie die Enden ihrer Haare, überlegt. »Ich wollte einen schönen Abschied haben. Das war es wohl.« Ihr Blick scheint an etwas haften zu bleiben, hält inne, richtet sich dann wieder auf mich. »Es ist so gekommen, wie ich es erwartet habe. Wie immer. Es fällt mir leicht, die Dinge vorherzusehen. Das ist mein Talent, wie du weißt. Du hättest dir die Modenschau anschauen sollen. Alles lief nach Plan. Ich habe den Leuten das gegeben, was sie sich wünschten: Unterhaltung. Sie haben sich amüsiert, jeder auf seine Weise. Es war ein Erfolg auf der ganzen Linie.« Sie betrachtet die Innenseiten ihrer Handflächen, wischt darüber. »Aber dann ist etwas geschehen, was ich nicht erwartet habe. Ich meine die Ausschreitungen in Pisa, die Eskalation. Als wir das Hotel verließen, habe ich in die Gesichter der Menschen gesehen. Die Modenschau war für sie nur ein Aufschub. In Wahrheit haben alle, auch die Polizei, nur auf einen Anlass gewartet, um aufeinander loszugehen. Ich fühlte mich plötzlich so ahnungslos und, mehr noch, nutzlos. Am liebsten wäre ich in die Menge eingetaucht und hätte mich an einen Punkt schwemmen lassen, an dem es richtig zur Sache ging. Dann hätte ich mit bloßen Händen drauflos gedroschen, egal auf wen. Ich stand kurz davor.« Sie schaut mich forschend an, wartet auf eine Reaktion. »Meinst du, das würde etwas ändern?«, frage ich, überrascht, dass sie mir auf einmal diese Gewaltphantasie erzählt. Was ist in sie gefahren? Hat sie Angst, einen Trend zu verpassen? Dann 184
schon lieber Burberry-Hemden und die gleichen Hosen dazu, obwohl das nicht zusammenpasst. »Wenn du die Welt verbessern willst, wünsche ich viel Vergnügen.« »Ach, überhaupt nicht. Was soll sich schon ändern? Es geht nur darum, dabei zu sein, unkoordiniert natürlich, ich will doch nicht Partei ergreifen in diesem Schlamassel, fällt mir doch gar nicht ein.« »Wo dabei sein?« Langsam werde ich ein wenig ungehalten. »Wenn die sich gegenseitig die Fressen einschlagen? Das kannst du auch intimer haben, so von Mensch zu Mensch, ohne eine aufgegeilte Menge um dich rum. Sieh mal, ich hätte momentan allen Grund, loszuziehen und irgendjemandem was Schlimmes anzutun, weil die Leute, die höchstpersönlich auf mir rumgetrampelt haben, gerade leider nicht greifbar sind. Aber ich sitze hier, esse brav meine Nudeln und halte mein Maul, während du mir was von unkoordiniert die Sau rauslassen erzählst. Wenn du mich fragst, hat dich dein Job ganz schön vom Leben entfernt. Gewalt ist Gewalt. Das gilt auch für ExJunkies.« Der letzte Satz ist mir so rausgerutscht, aber ich kann nichts dafür. Bei so einem Gerede kommt mir die Galle hoch. Nichts, aber auch gar nichts, lässt sich rechtfertigen, indem man es anonymisiert, schon gar nicht Aggression. Das ist immer eine Sache zwischen dir und mir, zwischen dem einen und dem anderen, nicht zwischen denen und uns. »Ihr« sagen nur Leute, denen »du« scheißegal bist. Wer sich erst umständlich Feinde suchen muss, der kennt seine wahren eigenen nicht. »Besser als unkoordiniert Shit einzuwerfen«, gibt sie bissig zurück. »Und andere mit reinzuziehen.« »Du hast die Anklageschrift schon aufgesetzt, stimmt’s? Schleppst das seit Jahren mit dir rum, und jetzt haust du’s mir um die Ohren. Also gut, mea culpa, ich bekenne mich in allen Punkten schuldig. Ich hab mich scheiße verhalten, hab dich 185
ausgenutzt, hab mit deinem Körper Sachen angestellt, die man nur an sich selber ausprobieren sollte. Aber wo, steht geschrieben, dass man in dem Alter, in dem du damals warst, Typen wie mir vertrauen darf?« Sie ignoriert meine Frage und schweigt. Für einen kurzen Moment verspüre ich eine himmelweite Trauer, die in mich hineingreift wie Flügelschläge aus Polarluft. So war das also. Ich hätte sie an die Nadel gebracht. Hat zumindest Phil gesagt, aber das waren bestimmt nicht ihre Worte, sondern Lidias, diese Erziehungsratgebersprache passt zu ihr, die Sprache der Konvertiten. Was außerdem nicht ganz stimmt. Wenn ich mich richtig erinnere – und das tue ich gerade sehr angestrengt – war sie so spitz auf ihren ersten Schuss, dass ich dachte, sie krepiert, wenn sie ihn nicht kriegt. Das soll keine Entschuldigung sein. Ich hätte es besser wissen müssen, zehn Jahre besser. Die Frage ist, ob sich deswegen etwas geändert hätte. Jetzt hat sie’s hinter sich, besser früher als später. Mit Zynismus hat das gar nichts zu tun, oh nein, sondern mit der verbreiteten Vorstellung davon, was in welchem Abschnitt des Lebens das Richtige sei. Dafür müsste man erstmal klären, was unter Vorstellung, Leben und dem Richtigen zu verstehen ist, aber zum Klugscheißen fehlt es mir gerade an Konzentration. »Was ist mit deiner Tochter? Sie braucht Hilfe!« »Das hab ich auch schon gemerkt«, erwidere ich unwillig. »Ich bin doch nicht blind.« »Dieser Tony bringt ihr nur Unglück. Der ist noch egoistischer als du. Und unberechenbarer.« »Mag schon sein, aber das weiß sie selbst am besten. Manchmal muss man ein Stück rausschwimmen, weit genug, dass man nicht mehr ohne weiteres ans Ufer zurückkommt. Ich mische mich da nicht mehr ein. Das bringt Unglück. Es entzweit uns, und das ertrage ich nicht. Ich brauche sie, so wie sie ist, so wie sie sein will.« 186
»Auch das ist Egoismus.« »Als du davon gesprochen hast, dass sie Hilfe braucht, dachte ich mehr daran, was sie bei Erdem gesucht hat. Was sie bei ihm verloren hat.« »Sie hat mit ihm geschlafen, das ist doch sonnenklar. Und es ist nichts dabei. Eine Übersprunghandlung. Vielleicht, um sich ihren Wert zu beweisen. Vielleicht, weil sich da schon seit längerem etwas angebahnt hat. Du sagtest doch, sie wüsste selbst am besten, was sie tut.« »Erdem ist Tonys Rivale. Wenn sie es wirklich mit ihm getrieben hat, ist das keine Scheiß-Übersprunghandlung, sondern die reine Verzweiflung, eine Kurzschlussreaktion. Außerdem ist noch gar nicht raus, ob sie es getan hat.« »Und warum verschweigt sie es dann vor dir?« »Sie sagt mir’s schon noch. Sie hat keine Geheimnisse vor mir, jetzt nicht mehr. Wir sind ehrlich zueinander, das schweißt uns zusammen. Ich gebe ihr noch etwas Zeit.« Aber es beunruhigt mich dennoch. Als Erdem sein kleines Gespräch mit mir führte, war er ungewöhnlich stark daran interessiert, wie es zwischen Phil und Tony steht, ob sie sich getrennt hätten. Das war natürlich, bevor Phil ihm eins übergezogen hat, wie sie mir sagte. »Gut, dann lass uns über Geheimnisse reden.« Lidia entschließt sich, neben mir auf dem Sofa Platz zu nehmen. Sie winkelt ein Bein an und wendet sich mir zu, locker, aufgeräumt, ganz Kumpel. Während ihre Riemchenschuhe auf den Boden fallen, legt sich mir ein brennendes Eisen auf die Brust. Ihre Füße sind immer noch so klein wie früher. An sich ist das nichts Besonderes, was sollte schon mit den Dingern passieren, außer dass die Haut an Sohlen und Zehen mit den Jahren ein bisschen rauer wird. Aber Lidias Füße haben nach wie vor etwas Engelsgleiches, man traut sich gar nicht, sie zu anzufassen, so schmal und zerbrechlich wirken sie. Man kommt gar nicht auf 187
den Gedanken, dass sie Tag für Tag damit rumlaufen muss, da ist kein Zeichen einer Abnutzungserscheinung, keine Verformungen, keine Hornhäute, keine hervortretenden Adern, nur dieser seidige Mitternachtsschimmer. Und wenn noch dazu ihr Rock ein gutes Stück hochrutscht, so wie jetzt, dann senkt sich mir das brennende Eisen ins Fleisch. Als sie meinen Blick bemerkt, werden ihre Augen stumpf. Sie zerrt an ihrem Rock, so heftig, dass die Nähte knacken, und schlägt die Füße unter. »Was ist damals geschehen, vor zehn Jahren? Als du mit dem Fotografieren aufgehört hast und für ein paar Wochen weg warst? Als du uns dann richtig in die Scheiße geritten hast. Was ist mit dir passiert?« Das Eisen fällt in einen Bottich voller Eiswasser und kühlt zischend ab. Eigentlich hat sie keine Antwort verdient. Damals vielleicht schon, aber jetzt nicht mehr. »Ich hab versucht, meine Frau zurückzubekommen.« »Aber die ist doch gestorben.« »Genau.«
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23 Aus der WG-Küche ist das Klirren von zerspringendem Glas zu hören, gefolgt von einem Poltern, als ob jemand ein schweres Möbelstück gegen die Wand werfen würde. Lidias Kopf fährt herum. »Warum verstehst du das nicht, verdammt noch mal!« Es ist Phils Stimme. Sie schlägt mit ihren Worten um sich, schreit sich die Seele aus dem Leib. »Das hat nichts mit uns zu tun. Nicht das Geringste.« Lidia springt auf, aber ich halte sie am Arm fest. »Die müssen das selber klären.« Sie zögert, schüttelt meine Hand ab, bleibt aber stehen. »Es war unser Zeichen.« Tony. Ruhiger, aber genauso laut. »Und du hast es dir einfach abnehmen lassen.« »Was sollte ich denn dagegen tun?« »Hast du dich nicht gewehrt? Ihr wart doch nicht allein in der Bar, oder?« »Sie waren zu mehreren. Sie haben mich festgehalten, in dem Gang zu den Toiletten.« Sie reden leiser, so dass man sie nicht mehr versteht. Dann: »Wenn du das wirklich denkst, dann hat er gewonnen. Dann hat er genau das erreicht, was er wollte.« »Ich weiß nicht mehr, was ich überhaupt denken soll«, erwidert Tony. »Du warst mit ihm zusammen, jetzt schon zum zweiten Mal. Du hast mir nichts davon gesagt. Du warst so gut wie nackt, als du von ihm weggegangen bist. Du warst völlig fertig. Wonach sieht das wohl aus?« Wieder ist nur unverständliches Gemurmel zu hören. Ich stehe auf und gehe näher an die Tür. Lidia und ich wechseln Blicke, 189
alte Blicke, bemerken unsere Befangenheit. Und beschließen dennoch zu lauschen. »Du machst mir Angst.« Tony. »Wie kann man nur so kalt sein?« Ein Schluchzen. Schwer zu sagen, ob von Phil oder von Tony. Geräusche, die von tiefen Empfindungen herrühren, sind rein nach Gehör schwierig zuzuordnen. »Wir hätten schon einen Weg gefunden. Wir hätten ihn da rausgeholt. Ich verstehe dich nicht.« »Glaubst du, ich hätte mir einen bestimmten Plan zurechtgelegt? Dass ich mir zuvor alles genau ausgedacht hätte? Ich habe getan, was ich tun musste. Was ich seit der Nacht in der Fabrik hätte tun müssen. Ich wusste nur nicht, wie. Das hat sich erst Schritt für Schritt ergeben. Bis es kein Zurück mehr gab.« Schweigen. »Hat er dich vergewaltigt? Heißt es das?« »Spielt das eine Rolle?« »Bist du verrückt? Natürlich …« »Nein, ab einem gewissen Punkt spielt es keine Rolle mehr. Ab einem gewissen Punkt ist nicht mehr zu unterscheiden, ob man sich ein Leid zufügen lässt oder ob man es sich selber zufügt. Ich habe gebüßt. Für das, was in der Fabrik passiert ist. Wenigstens das hat funktioniert.« »Wie bitte? Du hast gebüßt?« »Was meinst du, wie ich das sonst wieder loswerden soll?« Ihre Stimme überschlägt sich. »Was ist schon ein Scheißfick gegen einen Mord? Gar nichts, damit komm ich mit links klar! Das steck ich ohne weiteres weg.« »Das war kein Mord, Phil.« Tony klingt fassungslos. »Es war Notwehr. Er hat versucht, uns reinzulegen. Er wollte den Shit behalten.« 190
Phil, ruhiger: »Ich hab ihn umgebracht.« »Sonst hätte er dich umgebracht. Oder mich, wahrscheinlich uns beide.« »Wann fängt Notwehr an, Tony? Wenn man sich bedroht fühlt? Verdammt, ich hab richtig zugestochen, so fest ich konnte. Ich wollte ihn nicht bloß verletzen. Ich wollte ihn töten. Und damit kann ich nicht für den Rest meines Lebens herumlaufen. Es erdrückt mich.« Sie macht eine Pause, redet leise weiter. Ich presse mein Ohr an die Tür, denke einen einzigen Gedanken: Mein Mädchen hat mich belogen. »Als ich bei Erdem war, habe ich gemerkt, dass es auf diese Weise gehen könnte. Er hat das nicht von mir verlangt. Er weiß nicht, dass ich seinen Bruder getötet habe. Aber darauf kommt es nicht an.« »Ich glaub dir kein Wort, Phil. Du hast mich betrogen, wer weiß, wie lange schon, und ausgerechnet mit Erdem, das ist am schlimmsten.« Sie hat Musti umgebracht. Sie hat ihn auf dem Gewissen. Ich muss es für mich wiederholen, damit ich es glaube. »Es hat wehgetan. Körperlich, meine ich. Er hat’s mir richtig gezeigt, auf die brutale Art.« »Schluss! Ich will das nicht mehr hören.« Sie redet weiter. »Ich hab immer noch Schmerzen, alles brennt, ich weiß gar nicht, wie ich mich hinsetzen soll. Und das Gefühl danach, das war so … hoffnungslos. So muss es sein, habe ich gedacht, damit lösche ich es aus.« »Hör endlich auf!« »Aber ich hab’s nicht richtig an mich rangelassen. Den Schmerz, ja, aber nicht das Gefühl. Mein Herz hat die ganze Zeit über nur mir gehört. Ich hab’s weggesperrt vor ihm, verstehst du? So tief konnte er gar nicht in mich eindringen, dass 191
er in seine Nähe gekommen wäre. Dass er es berührt hätte. Ich habe es unerreichbar für ihn gemacht, auf meine Weise. Und das Gefühl, die Hoffnungslosigkeit, die hab ich danach aus mir rausgepresst, das ist jetzt weg, zusammen mit der Schuld. Ich hab nicht mal geweint, stell dir vor, keine einzige Träne. Das beweist doch, dass er mir nichts anhaben kann. Dass er uns nichts anhaben kann. Wir sind jetzt frei, Tony. Es dauert nicht lange, und Phil kann wieder Phil sein.« »Was redest du da? Ich hab dir doch gesagt, was mit Babbo passiert ist. Erdem will meine Familie ausradieren. Der Sprengsatz im San Paolo war erst der Anfang. Außerdem habe ich in dem Hotel einen seiner Leute erschossen. Macht mit Musti zwei tote Türken. Jetzt heißt es: er oder wir. Du solltest dich entscheiden, auf welcher Seite du stehst. Bevor es richtig losgeht.« Für eine Weile ist nichts zu hören. Schließlich spricht wieder Phil, ganz langsam: »Wenn es sein muss, gehe ich noch einmal zu ihm.« Pause. »Vielleicht kann ich ihn umstimmen.« »Bist du komplett durchgedreht? Was zum Teufel ist los mit dir?« »Wir müssen herausfinden, was er verlangt. Ob es sich irgendwie wieder gutmachen lässt. Ich könnte ihn anrufen. Ihn fragen.« »Das machst du nicht!« »Aber irgendetwas müssen wir tun. Sonst geht das immer so weiter. Bis wir alle tot sind.« »Zuerst mal müssen wir herausfinden, wo er sich aufhält. Alles Weitere überlässt du mir.« »Nein, Tony.« »Ich folge ihm, bis ich ihn habe. Wenn er nach Frankfurt zurückfährt, nehmen wir uns am besten einen Mietwagen. Wenn er aus irgendwelchen Gründen hier in Italien bleibt, lasse ich ein 192
paar Kontakte spielen. Es gibt Zweige meiner Familie, die uns nach wie vor verpflichtet sind.« Er macht eine kurze Pause. Dann: »Leg das Handy weg!« Sie antwortet nicht. »Mach das verdammte Ding wieder aus!« »Nein! Ich weiß, was ich tue.« »Du weißt überhaupt nicht mehr, was du tust! Du bist dabei, den Verstand zu verlieren!« Ich höre, wie ein Gegenstand zersplittert. »Gib mir den Shit«, sagt Phil. »Was?« Tony ist außer sich. »Der Shit. Gib ihn mir. Ich bringe ihn zurück.« Eine Tür wird aufgerissen und schlägt gegen eine Wand. »Okay, das war’s dann. Ich halte diesen Schwachsinn nicht länger aus. Irgendwas ist anders an dir, seit du bei ihm warst. Und ich glaube nicht, dass ich dieses Andere an dir mag. Du hast Umgang mit meinen Feinden, du nimmst sie in Schutz. Das geht nicht, Phil. Es bringt uns auseinander.« Kurze Stille. Dann fährt er ein wenig ruhiger fort. »Ich danke dir für alles, was du für mich und meine Familie getan hast. Aber jetzt trennen sich unsere Wege. Leb wohl.« Ein Zögern. »Pass auf dich auf.« Die Tür fällt ins Schloss. Stille. Lidia wirft mir einen viel sagenden Blick zu, wartet noch einen Moment und begibt sich dann in die Küche. Ich bleibe in Pinos Zimmer und schließe die Tür, die mich von meiner Tochter trennt. Sie hat mich getäuscht. Von Anfang an, seit sie mich in Frankfurt angerufen und um Hilfe gebeten hat. Um mein Vertrauen zu gewinnen? Um mich in Sicherheit zu wiegen? Aus Gewissensbissen? Als sie Gelegenheit hatte, es aufzuklären, hat sie mich belogen. Hab doch ein bisschen Phantasie. Traust du mir ernsthaft zu, einen Menschen zu töten? Sie hat mich verhöhnt. Mich und meine Einschätzung von ihr. 193
Ohne die beiden Frauen zu beachten, durchquere ich die Küche und gehe in das Zimmer, in dem sich Gwizdek schlafen gelegt hat. Er ist wach, hockt auf der Bettkante. Ratlos schüttelt er den Kopf. Ich bitte ihn, mir einen Hunderter zu leihen. Er kramt in seiner braunen Lederjacke, die er immer noch trägt, und reicht mir schweigend das Geld. Während ich die Wohnung verlasse, fragt Lidia, wohin ich gehe. Sie sitzt neben Phil am Küchentisch und hat einen Arm um sie gelegt. Ich sage, dass ich frische Luft brauche. Phil hebt den Kopf und schaut mir wortlos hinterher.
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24 Das Viertel, in dem Pinos WG liegt, heißt Venezia in Anspielung auf die schmalen Kanäle, von denen es durchzogen ist. Kleine gebogene Brücken überspannen die Wassergräben wie ein Gespräch, das man über sie hinweg führt. Oder ein Zuruf, je nach Länge. Ansonsten erinnert nichts an Venedig und den Zauber, der ihm in den weniger frequentierten Teilen der Stadt innewohnt. Dafür ist mehr alltägliches Leben sichtbar, die kruden Verrichtungen der Gewohnheit, aus denen ich keinen Trost ziehen kann. In Livorno gibt es so gut wie keine Spaziergänger, zumindest nicht zu dieser morgendlichen Stunde. Sill hätte das gefallen: sich unbeachtet zwischen Menschen zu bewegen, die den neuen Tag hinnehmen wie eine milde Gabe. Sie freuen sich nicht, sie ärgern sich nicht. Sie legen abwägend den Kopf zur Seite und warten auf das nächste Ereignis, das um die Ecke biegen mag. Ich versuche, an nichts Bestimmtes zu denken, mache Atemübungen. Breitbeinig hinstellen. Langsam Luft einsaugen. Sich vorstellen, wie der Körper mit allen Poren neue Energien aufnimmt. Beim Ausatmen die Arme heben, Hände zu einer Pistole formen und alles Schädliche aus dem Körper herausschießen. Es funktioniert nicht. Bin ich ungerecht? Phil hat versucht, mich zu retten. Sie ist weit gegangen, vielleicht zu weit. Es ist nicht so, dass ich das nicht zu schätzen weiß, ganz im Gegenteil. Ich liebe sie dafür, mehr als zuvor. Aber ihre Lüge wirft einen Schatten über alles, und ich kann nicht so tun, als ob es mich unberührt lassen würde. Es verletzt mich, verunsichert mich. Ich weiß noch nicht, wie tief es geht und was davon bleibt. Ob es wirklich so schlimm ist, wie ich vermute. Ob es darauf überhaupt ankommt. Aber warum, verdammt noch mal, hat sie mir nichts davon 195
gesagt? Das wäre doch ein Anfang gewesen für uns beide. Oder glaubt sie ernsthaft, ich würde sie dafür verurteilen, dass sie jemanden getötet hat? Hält sie mich für einen Scheißmoralisten? Na ja, vielleicht hat sie damit gar nicht so Unrecht. Es macht einen Unterschied. Selbst, wenn sie es wollte, käme sie aus der Sache nicht mehr ohne weiteres heraus. Erdem sucht den Mörder seines Bruders. Er ist davon überzeugt, dass es Tony war, will ihn deshalb umbringen, ihn und seine ganze Familie. Und nebenbei wahrscheinlich auch einen unliebsamen Konkurrenten ausschalten, aber das steht nicht im Vordergrund, ist nur ein Vorwand für die immer offensichtlicher werdende Absicht, all seine Feinde auszurotten. Was passiert, wenn er die Wahrheit erfährt? Besteht eine Möglichkeit, dass er sie erfährt? Und von wem? Wie weit reicht seine Rache? Was wäre, wenn ich Phil davon überzeugen könnte, all diesen Dingen den Rücken zu kehren? Tony hat sie verlassen, vermutlich unwiderruflich. Der Konflikt, in dem sie sich befindet, und die Schuld, an der sie trägt, übersteigt seinen Verstand. Oder er wird überdeckt von der Sorge um seinen Vater. Oder von seiner Eifersucht, seinem Hass. Jedenfalls ist Tony keine Hilfe mehr für sie. Und keine Perspektive. Er wird Erdem immer ähnlicher. Ich frage mich, welche Zukunft mein Mädchen hat. Kann ich ihr eine geben? Dafür, dass sie erst sechzehn ist, hat sie schon viel von dem Abgrund gesehen. Ein Arm hängt am Leben und der andere rudert im Nichts. Es wäre meine Aufgabe gewesen, sie davon fern zu halten. Jetzt blickt sie hinein, und ich habe keine Ahnung, was sie dort unten sieht, kann es nur vermuten. Aber was sind meine Erfahrungen gegen ihre? Ich wäre ja schon froh, wenn sie nicht die gleichen Fehler machen würde wie ich. Obwohl ich nicht glaube, dass das zu befürchten ist. Die Fehler, die sie begehen kann, sind viel gefährlicher. Sie könnten sie vernichten. Dafür gibt es keine Therapien, zumindest keine, die etwas ausrichten. 196
Livorno ist mit sich selbst beschäftigt. Ein antriebsloser Umschlagplatz, halb im Meer, halb an Land. Hin und wieder machen sie ein Boot los, das in einem der Kanäle vertäut ist, um – ja, um was zu tun? Um es in den Frühnebelschwaden an einen anderen Liegeplatz zu verlegen? Um einen dieser Gräben auf und ab zu schippern und dann wieder vor Anker zu gehen? Oder um rauszufahren und diese städtische Kloake, die den Schiffsrumpf mit Algen und anderem widerlichen Bewuchs bedeckt hat und nach Diesel und Abfall stinkt, ein für alle Mal hinter sich zu lassen? Venezia – wer sich den Namen ausgedacht hat, hätte mal ein bisschen an seinen Projektionen arbeiten müssen. Da könnte ich ja jedes Scheißhaus zu meiner Villa erklären. Na ja, die meisten Leute tun’s und fühlen sich gut dabei. Ich spucke drauf, will mich jetzt nicht gut fühlen. Von mir aus saufen alle diese Boote jetzt und sofort ab, versinken in ihren Einsargungsgräben, so dass nur noch die Masten und ein paar Wimpel rausschauen. Dann wissen die Erben wenigstens, wo sie was zu bergen haben. Falls sie sich die Mühe machen, danach zu suchen. Ich komme an einem Fotoladen vorbei. Im Schaufenster sind verschiedene Aufnahmen ausgestellt. Sie zeigen ausnahmslos Soldaten, in Gruppen und einzeln. Irgendwelche Marineeinheiten, wenn ich die weißen Käppis und die dunkelblauen Leibchen richtig deute. Gaultier-T-Shirts tragen die sicher nicht, so mannhaft wie die sich in die Brust werfen für die Mamma zu Hause oder irgendeine ragazza, die sie am Wochenende mal kurz zum Vögeln ausführen, Mamma, ragazza, für die ist das eh das Gleiche. Der Laden scheint gut zu gehen. Der Türstock ist mit rotem Marmor verkleidet und die Inneneinrichtung sieht nach einem Designversuch in Holz und Stahl aus. Das mögen sie hier: einen Auftritt, der nach richtig was aussieht. Militär, Polizei, Handelsmarine, sogar die Postboten tragen hier eine schnieke Uniform, in der sie sich fürs Familienalbum ablichten lassen. Ich 197
denke, die Nachfrage nach solchen Bildnissen wird eher noch steigen, ob mit oder ohne Uniform. Für einen Augenblick festhalten, für wen man sich hält oder was man aus sich macht – diesen Wunsch können nur Fotografen erfüllen. Und je weniger man seiner selbst sicher ist, desto häufiger lässt man eine Aufnahme von sich machen. In einer Uniform oder im Anzug, in einem Sporthemd oder einfach nackt, je nach Uniform, Anzug, Sporthemd, Körper. Oder in einem weißen T-Shirt mit einem Aufdruck darauf. Ich sollte mich mehr auf Portraits verlegen und die Industriefotografie ein wenig reduzieren, der Nachfrage des Marktes folgen. Ich sollte ihnen geben, was sie wollen. Es kann doch nicht so schwer sein, ein bisschen wirtschaftlich zu denken und sich in primitive Bedürfnisse einzufühlen: Sex, Erfolg, ein Bild von sich selbst. Bei den Politikern, die ich fotografiert habe, geht das fließend ineinander über. Das Schaufenster ist frisch geputzt. Eigentlich könnte ich hier auch so eine Bude aufmachen, überlege ich mir. Wie Sill in Pisa, die hatte den richtigen Riecher. Vielleicht würde das Phil gefallen. Für eine Weile aus Deutschland rauszukommen, täte ihr ganz gut. Bestimmt gibt es auch in Italien irgendwelche Hochbegabtenprogramme. Wir werden schon was für sie finden, da habe ich keine Bedenken. Wenn sie möchte, versteht sich. Die Chancen, dass wir wieder zusammenkommen, stehen vielleicht gar nicht so schlecht. Gut, eine Menge ist zu Bruch gegangen, lässt sich wohl nicht vermeiden, wenn’s hart auf hart kommt. Aber sind wir nicht an einem Punkt angelangt, von dem aus wieder alles möglich ist? Ich muss ihr nur verzeihen, denke ich und bin schon dabei, es zu tun, verzeihe ihr, während ich diesen Gedanken in mir zum Blühen bringe. Er reckt sich, treibt aus, trinkt Licht. Diesmal werde ich es nicht verpfuschen, nehme ich mir vor. Diesmal kann sie bedingungslos auf mich zählen. Gemeinsam werden wir alles, was geschehen ist, vergessen. Wir graben ein 198
Loch, werfen alles hinein und pflanzen einen Ginsterschössling darauf. Oder wir suchen uns eine Marmorschublade, verstauen den ganzen Kram darin und lassen alte Fotografien von uns auf Porzellanplatten drucken, die wir außen anbringen. Eine Lüge ist manchmal der erste Schritt auf dem Weg zur Wahrheit. Man kriegt ein Gefühl dafür, was einem die ganze Zeit gefehlt hat. Als ich die alte Festung am Hafen erreiche und die Zollschranke zum so genannten Porto Mediceo durchschreite, regt sich in mir allmählich ein anderer Gedanke. Große Fährschiffe liegen hier vor Anker. Sie kommen aus Korsika und Sardinien. Mit ihren geöffneten Heckklappen sehen sie aus wie Meeresungeheuer, die auf ihr nächstes unvorsichtiges Opfer warten, gefräßig und zugleich geduldig auf Beute wartend. Das wäre auch eine Möglichkeit, Livorno zu verlassen. Nicht unbedingt mit so einer Fähre, aber auf dem Wasserweg, der sicher nicht so gut kontrolliert wird wie der Flughafen. Und nach den Vorfällen in Pisa sind vielleicht auch die Straßen nicht mehr sicher, falls die Polizei eine Ringfahndung ausgerufen hat. Ich gehe weiter die Straße am Pier entlang, vorbei an einer Reihe von Schleppern in Richtung einer lang gestreckten Mole. Zahlreiche Segel- und Motoryachten sind hier vertäut und dümpeln friedlich vor sich hin wie eine Herde wiederkäuendes Vieh. Dahinter, auf der anderen Seite der Mole, ragen im Dunst des Morgens mehrere Lastkräne auf, Reste des ehemaligen Industriehafens, der inzwischen im Norden der Stadt liegt, wo er sich ungehindert ausbreitet und die Küstenlinie mit seinen weitläufigen Verladeanlagen verunstaltet. Ein steinerner Leuchtturm wirkt neben den viel höheren Kränen wie ein Wachhäuschen, das man der Form halber stehen gelassen hat, eine mindere Attraktion, untauglich jetzt, es sei denn, sie haben einen Peilsender darauf installiert, um die Computer der einund auslaufenden Schiffe mit ein paar zusätzlichen Daten zu versorgen.
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Ein merkwürdiges Gefühl beschleicht mich, als ich an einem niedrigen Flachbau vorbeigehe. Old Fashioned Boats steht auf einem handgemalten Schild, das an dem Schiebetor angebracht ist. Durch die schmutzigen Scheiben sind ein paar hölzerne Schiffsrümpfe ohne Masten zu erkennen. Anscheinend werden hier alte Boote restauriert. Aber ich sehe niemanden in der Halle arbeiten, vielleicht ist es noch zu früh am Tag. Das Gebäude liegt halb im Schatten. Es ist ein diffuser, bedrückender Ort. Wenn ich mir einen Umschlagplatz für illegale Waren oder so etwas Ähnliches aussuchen müsste, würde ich mich für diese Halle entscheiden. Wie um das Schild Lügen zu strafen, hat am Pier auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein nagelneuer Katamaran festgemacht, aus Kohlefaser, wie ich vermute. Verspiegeltes Plexiglas umgibt das Steuerhaus zwischen den beiden Rümpfen. Ein schmaler Metallrost, wohl eine Art Gangway, ist hochgeklappt und mit einer Kette gesichert. Das wäre doch ein passables Gefährt, denke ich, obwohl ich noch nie gesegelt oder auf einem Segelboot mitgefahren bin. Mit so einem Katamaran könnte man, sagen wir, nach Marseille schippern, oder nach Barcelona oder noch weiter, über das Mittelmeer hinaus, in den Atlantik und dann wer weiß wohin. Zugegeben sieht er etwas protzig aus, zu auffällig für eine Flucht. Aber erstens wirkt er bei weitem nicht so protzig wie die futuristischen Motoryachten, an denen ich vorbeigekommen bin, und zweitens können auch protzige Gegenstände einen gewissen Stil haben, ich sage nur: Versace-Batikhemd. Außerdem liegt bei diesem Boot der Gedanke nahe, dass sich sein Besitzer nicht unbedingt an die Polizei wendet, um seinen Verlust zu melden und es – ha ha – wiederzubekommen. Il Gru steht in Schönschrift auf dem Rumpf und daneben ist ein Vogel mit weiten Schwingen dargestellt, vielleicht ein Reiher oder ein Kranich. Wenn dieser Katamaran richtig gesteuert wird, fliegt er bestimmt über das Wasser. 200
Solche Dinge gibt es in The Airs nicht. Falls da oben überhaupt noch etwas wie geplant funktioniert. Als ich das letzte Mal an die Stadt in den Wolken gedacht habe, hatte sie bedenklich an Höhe verloren, so sehr, dass sie kurz davor war, abzustürzen. Ich habe keine Ahnung, wie ich sie wieder stabilisieren kann. Seit ich sie mir vorstelle, schwebt sie in der Stratosphäre, von alleine, ohne dass ich etwas dazu tun müsste. Wenn wir uns nicht um unsere Visionen kümmern, gehen sie irgendwann zum Teufel. Das ist wie bei einem Aktiendepot, in dem man ab und zu selber herumfummelt. Wenn man nicht dauernd auf die Kurse und den ganzen anderen Scheiß achtet, ist davon ruckzuck nur noch Wechselgeld übrig. Mit Bedauern reiße ich mich von dem Katamaran los. Weiter vorne endet die Molenstraße an einem Platz mit parkenden Autos. Sie stehen vor einem Gebäude, in dessen Fassade der Schriftzug Capitaneria di Porto und ein Anker gemeißelt sind, vermutlich das Hafenamt. Das Zeichen des Roten Kreuzes glimmt über einem der bogenförmigen Eingänge. Ich kehre auf der Molenstraße um und verlasse den Porto Mediceo. Damit ich mir einen Kaffee leisten kann, wechsle ich in einer Bank am Hafen den Hunderter, den Gwizdek mir geliehen hat. Die Sicherheitskräfte sind bis an die Zähne bewaffnet, aber schick ausstaffiert – wieder ein Argument für mein Fotostudio. Und im Gegensatz zu dem gelangweilten Schalterbeamten, der mir in Alzheimertempo meine Euro aushändigt, sind sie sehr freundlich. Einer von ihnen schultert seine MP, als er mir die Türe aufhält. Grazie, grazie. Leider reicht mein Italienisch nicht aus, um ihm gleich an Ort und Stelle einen Fototermin vorzuschlagen. Mit Phils Sprachkenntnissen könnte ich noch hier und heute ein Geschäft eröffnen. Mal sehen, was sie dazu sagt. In der nächsten Bar trinke ich im Stehen einen Cappuccino, kaufe mir eine Packung blaue Gauloises, weil ich die verdammten MS nicht mehr leiden kann, und rauche, nur ein 201
paar Züge für den Geschmack. Sie spielen Depeche Mode, noch dazu ihr bestes Lied, Personal Jesus, das Einzige, was noch was taugt aus dem ganzen Endachtziger-Musikmüll. Reach out and touch faith schallt der Refrain aus den Boxen, nachdem Dave Gahan davon gesungen hat, dass es gar nicht so schlecht wäre, seinen eigenen persönlichen Jesus zu haben, someone to hear your prayers, someone who cares, someone who’s there. Wie das jetzt hierher kommt, ist mir schleierhaft. Aber es baut mich richtig auf. Könnte Robbie Williams nicht mal Depeche Mode covern? Und könnte Gahan nicht wieder schwere Drogen nehmen, wie er es damals getan hat, als er das Album »Violator« eingespielt hat? Oder beide, wenn ich schon keine mehr nehme? Ich drücke meine Kippe aus und lenke meine Schritte zurück zu Pinos WG, mit einer Menge neuer, durchaus brauchbarer Ideen im Kopf, wenn man so will. Als ich wieder in das Venezia-Viertel gelange, macht es schon einen besseren Eindruck auf mich. Eine Seebrise hat die trübe Suppe in den Kanälen vertrieben und einen Geruch nach Garnelen mitgebracht. Die riechen ja nicht nach Fisch, sondern frischer, meeriger, rosa eben, vor allem, wenn sie noch nicht ganz aufgetaut sind. Ich biege um die Ecke einer verwinkelten Kanalstraße – und sehe Tony an einem Mäuerchen lehnen. Er unterhält sich mit einem jungen Mann, der eine orange Regenjacke trägt und sich gerade eine Zigarette anzündet, eine dicke, selbst gedrehte, wie ich feststelle. Der abgefuckte Mini-Bus, auf dessen Stoßstange er sich jetzt setzt, könnte der sein, in dem ich auf der Fahrt nach Livorno fast gekotzt habe – wenn ich meinen gesamten Mageninhalt nicht schon Erdem vor die Füße gespien hätte. Demzufolge könnte der junge Mann mit dem Joint Pino sein. Phil hat mir von ihm erzählt. An sein Gesicht kann ich mich nicht mehr erinnern. Die beiden stehen vor einem Gebäude, an dessen Fassade ein Transparent angebracht ist: Movimento No 202
Global hat jemand in roter Leuchtfarbe darauf gesprayt. Die Tür steht offen. Als mich Tony bemerkt, versteckt er etwas hinter seinem Rücken. Ein mir wohl bekanntes Bodybag, wie ich mit einem Seufzer registriere. Plötzlich überlegt es sich Tony anders, zuckt mit den Schultern und stellt ihn wieder neben sich auf das Mäuerchen. Das Ding kommt mir viel schwerer vor als zu dem Zeitpunkt, als ich es zum letzten Mal gesehen habe. Pino erkennt mich. »Ciao! Na, schon auf den Beinen? Wie geht’s dir?« Bevor ich etwas erwidern kann, fährt er enttäuscht fort. »Scheiße, du siehst ja wieder wie ein Mensch aus. Dann können wir die Fotos vergessen, die wir von dir machen wollten.« »Welche Fotos?«, frage ich und stelle mich neben die beiden. Der Geruch des Joints dringt in meine gebrochene Nase. Nicht unangenehm, jetzt, mit einer Portion Spaghetti und einem Kaffee im Bauch. »Für unsere Dokumentation der polizeilichen Übergriffe. Wir wollten dich groß rausbringen. Du wärst auf die Titelseite unserer Zeitung gekommen, und natürlich ins Internet. Und einen Flyer wollten wir mit deinem Bild auch machen.« »Ich kann mich ja noch mal zusammenschlagen lassen, wenn’s der Sache dient«, sage ich. Er lacht dämlich, schaut dann anerkennend auf seinen Joint und flüstert Tony etwas ins Ohr. Wenn mich nicht alles trügt, ist da ein Handel im Gange. Tony flüstert etwas zurück, worauf Pino nachdenklich den Kopf wiegt. »Ich hole Andrea«, sagt er schließlich und wendet sich wieder mir zu. »Dem musst du unbedingt erzählen, was passiert ist. Wenn wir schon keine Fotos kriegen, dann wenigstens eine Story.« Er überquert die Straße und nimmt gerade die ersten Stufen, die in das No-Global-Gebäude führen, als das Aufheulen eines 203
Motors zu hören ist. Im nächsten Moment kurvt ein schwerer Wagen um die Ecke. Schwarz. Benz. Mit quietschenden Reifen hält er vor dem Büro des Movimento. Zwei Männer springen heraus. Sie haben Schnellfeuergewehre mit langen, gebogenen Magazinen, bringen sie in Anschlag und ballern los. Pino erwischt es auf der Schwelle. Sein Körper wird von den Geschossen für ein, zwei Sekunden in die Luft genagelt, als würde ihm jemand helfend unter die Schultern greifen. Die Kugeln schlagen in Lunge, Herz, Leber, Rippen und einigen Wirbeln ein, zerfetzen Kehlkopf und Kiefer, bis Pino schließlich von nichts mehr gehalten wird und in sich zusammenfällt. Die Kugeln schwirren über ihn hinweg. Von drinnen sind Schreie zu hören. Löcher werden aus den Ziegelsteinen um die Tür gesprengt. Die Scherben und Späne des Oberlichts prasseln auf Pino herab. Jetzt richtet sich das Feuer auf Fensterscheiben, die sofort zersplittern, und fräst sich in die dahinterliegenden Räume. Ein Kopf erscheint in der Etage darüber. Er zerplatzt, als ihn einer der Männer bemerkt und das erste Stockwerk unter Beschuss nimmt. Der andere wirft seine leergeschossene Waffe in den Wagen und nestelt an seinem Gürtel herum. Dann hat er eine Handgranate gepackt, zieht den Sicherungsstift heraus und wirft sie in das Gebäude, locker von unten, wie eine Bocciakugel. Man hört, wie sie über den Boden kullert und liegen bleibt. Daraufhin hechten die Männer zurück in den Wagen, während der Fahrer bereits Gas gibt und losfährt. Der Benz braust an uns vorbei und biegt in die nächste Gasse ein. Tony und ich haben uns hinter den Mini-Bus geduckt. Trotzdem reißt uns die Druckwelle zu Boden, gefolgt von einer Eruption aus Holzsplittern, Metallteilen und Flugblättern, die zusammen mit Pinos Leiche auf die Straße geblasen werden. 204
Als Tony in dem Bodybag zu kramen beginnt, zerre ich ihn auf die Beine. Die Luft um uns ist so warm wie an einem Hochsommertag. Mein Körper fühlt sich taub an. Benommen suche ich an einem Außenspiegel des Mini-Busses Halt und starre auf das schwarze Loch in dem Gebäude, dann auf Pino, der verdreht auf dem Pflaster liegt. Der Joint, der noch zwischen den Fingern seiner Hand klemmt, ist ausgegangen. Tony hat seine Beretta gefunden und will die Türken verfolgen. Ich halte ihn fest, brülle ihm ins Ohr, dass das keinen Sinn hat. Dass wir so schnell wie möglich von hier weg müssen. Er gibt einen einzelnen Schuss in die Richtung ab, in die der Benz verschwunden ist, hält seinen Arm mit der Waffe kurz in der Schwebe, ein Wegweiser der Ohnmacht. Schließlich steckt er die Beretta weg. Wir schlagen die entgegengesetzte Richtung ein, zwingen uns, nicht zu rennen. Die Straße ist wie leergefegt. Zuschlagende Türen, Rollläden, die hastig heruntergelassen werden, fernes Hupen von jemandem, der noch nichts weiß von fünf toten NoGlobal-Mitarbeitern, die auf vieles gefasst gewesen waren nach den Ereignissen der vergangenen Nacht, aber nicht auf einen Anschlag wie diesen, den die Medien mal der Mafia, mal den Postfaschisten und mal einer Geheimloge der Polizei zuschreiben werden. Wir richten die Blicke zu Boden und entfernen uns von dem Gebäude. Das Transparent ist gerissen und hängt an einer Seite schlaff herunter, der Schriftzug unlesbar. Das erste Geräusch, das ich nach dem anhaltenden Pfeifton in meinen Ohren wieder wahrnehme, ist das Klingeln eines Handys. Ich mache Tony darauf aufmerksam. Er schaut mich entgeistert an, greift dann in seine Hosentasche und nimmt das Gespräch an. Er hält den Hörer wie eine scharf gemachte Mine, die jederzeit hochgehen kann, sagt nichts, hört im Gehen zu. Bleibt stehen, erstarrt. Wiederholt zwei Worte. Ospedale Civile, 205
verstehe ich. Dann beendet er die Verbindung. Ein blickloser Satz: »Phil hat versucht, sich umzubringen.«
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25 Das Wasser ist hellrot. Es droht überzulaufen, schwappt über den Rand. Ein paar von Phils Haarsträhnen schwimmen darauf, umspielen ihre Brüste. Die Finger ihrer rechten Hand sind zum Gruß gespreizt. Sie treiben auf der Oberfläche wie dürre Zweige – Das Echsenherz ist geschrumpft. Es kauert in einem Winkel ihres Leibes, zu dem es nicht mehr zu gehören scheint. Als ob es zu einer Abstoßungsreaktion gekommen wäre, die das zweite Herz abgetrennt hat von den anderen lebenswichtigen Organen. Als ob es nicht mehr gebraucht würde zur Aufrechterhaltung der Körperfunktionen. Ein Kunstfehler. Eine Fehlkalkulation. Lächerlich zu glauben, dass es auf Dauer in Betrieb bleiben könnte. Mit fast leerem Akku liegt das Handy auf dem Flokati neben der Badewanne. Sie weinte nicht, keine einzige Träne, als die Stimme erneut an ihr Ohr drang. Feindlich war sie jetzt, voller Hohn über Phils erneute Schwäche. Zumindest interpretierte Erdem ihren Anruf als Schwäche. Sein Rachedurst ließ nur diesen Schluss zu. Der Hieb, den sie gegen ihn geführt hatte, als Lidia aus der Suite verschwunden war, hatte ihm nur eine leichte Verletzung zugefügt und seine Wut erst richtig angestachelt. Eine Wut, die noch größer wurde, als sie ihm den Mord an seinem Bruder gestand. Sie spürte es in dem Schweigen, das ihr durch den Hörer entgegenkroch wie eine sehnige Eisenhand. Das Lachen, das sie für diesen Moment bereitgehalten hatte, erstarb ihr auf den Lippen. Das Gefühl kehrte wieder, der eiskalte Luftzug in dem leeren Haus. Es war, als ob es durch die Öffnung, in die er vor vielen Stunden eingedrungen war, in sie zurückfuhr, um einiges schmerzhafter und bedrohlicher. Und das Echsenherz begann zu schrumpfen, bis es nur noch eine knotige Verwachsung war, nutzlos und inoperabel. 207
Er glaubte ihr nicht. Warf ihr vor, dass sie Tony in Schutz nehmen wolle. Aber es klang nicht besonders überzeugt. Sie legte auf, hatte gesagt, was gesagt werden musste. Wieder im Wasser. Als ob es der einzige verbliebene Ort sei, um sich zu finden und zu verlieren. Sie wusste nicht, wo sie sonst hin sollte, um das zu tun, was ihr unvermeidlich erschien. Ihre Bemühungen waren umsonst, das steht jetzt klar vor ihrem Auge. Mehr noch: Wo sie sich einmischte, hatte sie alles verschlimmert. Es gibt keine Vergeltung, jedenfalls keine, die sich von ihr ins Werk setzen ließe. Das erkannte sie jetzt. Selbst das Messer, das in einen Fluss fiel, fern von ihr, ist nicht untergegangen, sondern unvermutet wieder aufgetaucht. Sie stieß in den Schubladen der WG-Küche darauf, als sie nach etwas Suizidtauglichem suchte, und versteckte es in einem der weiten Ärmel ihres Pullis. Dabei stand sie mit dem Rücken zu Lidia, die dachte, Phil habe sich wieder gefangen, wie sie sich amüsanterweise ausdrückte. Das Messer ist scharf. Es hat ihre Pulsader kurz unter dem Handgelenk mühelos durchtrennt. Zu wissen, dass ein Schnitt tausend Stöße endet. Sie spürt, wie ihr kurzes Leben davonfließt, wie es sich im Wasser verteilt, verdünnt und sie umflutet, eine letzte Blutung, die zu ertragen ihr leichter fällt als ihr Scheitern und alle Kränkungen und Enttäuschungen, seien es ihre eigenen oder die ihres Liebhabers oder ihres Vaters. Schwerelos wird sie dadurch und zugleich immer kälter, denn ihr Körper hebt sich durch den zunehmenden Auftrieb Millimeter um Millimeter aus dem warmen Wasser und gibt ihre nassen Haare, Schlüsselbeine und Knie, ihre Brüste und ihre Scham frei. Das Wasser verdunstet und ein klammes Tuch breitet sich dabei über sie, beginnt an ihr zu haften und sie nach und nach ganz zu umschließen. Als die Badezimmertür mit einem Krachen aus den Angeln gerissen wird, ist Phil bereits so leicht wie ein Bogen Papier. Jemand hebt ihn empor, behutsam, ohne ihn zu knicken. Er hängt an den Seiten herab. Die Enden berühren sich fast. 208
DRITTER TEIL
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26 Das Taxi setzt uns direkt vor dem Eingang des Hospitals ab. Lidia erwartet uns bereits, die Arme vor der Brust verschränkt und von einem Fuß auf den anderen tretend. Ihr Blick sagt: »Endlich.« Verärgert, aber auch verängstigt. Während wir mit dem Aufzug in den dritten Stock fahren und sie uns durch schmuddelige hellgraue Gänge führt, erzählt sie, dass sich Phil im Badezimmer eingeschlossen habe und ihr, Lidia, erst mit Verzögerung klar geworden sei, zu welchem Zweck sie sich an diesen ungestörten Ort zurückgezogen habe. Dass sie die schrittweise von ihr abfallenden Hemmungen nicht bemerkt habe. Dass sie nicht registriert habe, wie Phil sich aufgegeben hat. Als ob einem Selbstmordversuch, zumal einem Selbstmordversuch meines von Hemmungen und ähnlichen moralisch-konventionellen Bedenken gänzlich freien Mädchens, nicht auch einfach ein Zustand fundamentaler Ernüchterung und Erschöpfung hätte vorangehen können. Als ob man sich hassen müsste, um sich umzubringen. Vielleicht verwechselt Lidia da etwas. Wahrscheinlich hat sie noch nie versucht sich umzubringen, ernsthaft, meine ich, ohne ihren Was-wäre-wennMindfuck. Jedenfalls habe Gwizdek die Tür aufgebrochen. Gemeinsam hätten sie Phil dann ins Krankenhaus gebracht, nachdem Gwizdek Phils Handgelenk abgebunden und die Blutung dadurch ein wenig gestillt habe. Als wir vor Phils Zimmer ankommen, dürfen wir es nicht betreten. Die behandelnde Ärztin dirigiert uns in einen Warteraum, der direkt daneben liegt. Sie bittet uns, Platz zu nehmen, sagt, dass mein Mädchen noch nicht über den Berg sei. Dass ihr Leben noch in der Schwebe hinge. Ich begreife allmählich. Das Wort »Versuch« beinhaltet nicht, 210
dass dieser Versuch zwangsläufig fehlgeschlagen ist. Phil kann immer noch sterben, vielleicht in diesem Moment, in dem ich daran denke. Aber seltsamerweise bin ich gar nicht aufgeregt. Die Ärztin sagt, dass es kein Problem gewesen sei, die Adern zu nähen. Es sei ihr auch gelungen, den Blutverlust mit entsprechendem Plasma auszugleichen. Besorgniserregend sei die Menge ohnehin nicht gewesen. Da Phil rechtzeitig eingeliefert worden sei, müsste es ihr eigentlich schon wieder besser gehen. Aber etwas in ihrem Körper weigere sich, in die Welt zurückzukehren. Dagegen könne sie nichts tun. Jemandem neue Lebenskraft einzuhauchen liege nicht in ihrer Macht. Sie habe jedoch den Eindruck, dass der Mann, der gerade bei ihr sei, etwas ausrichten könne. »Gwizdek?«, frage ich erstaunt. »Er hält ihre Hand«, erwidert die Ärztin, »redet auf sie ein. Ist er ihr Vater?« Ich verzichte darauf, ihren Irrtum richtig zu stellen. »Eher so etwas wie ein Familienangehöriger. Sie vertraut ihm.« Die Ärztin mustert mich skeptisch. »Wissen Sie, warum sie sich umbringen wollte?« Wir schauen in verschiedene Richtungen. Musti? Erdem? Nichts, was mir einfällt, nichts, was in den letzten zwei Tagen geschah, ist geeignet, es dieser Frau mitzuteilen. Es scheint, als ob wir uns von der Gesellschaft entfernt hätten. Schritt für Schritt sind wir aus dem organisierten, allgemein verbindlichen Kreis der Ereignisse herausgetreten. Inzwischen stehen wir so weit außerhalb, dass wir nichts mehr über uns zu sagen wissen, ohne uns zu verraten und uns dadurch in Schwierigkeiten zu bringen. Uns und Phil. Für die Ärztin fällt mir nicht einmal eine plausible Lüge ein. »Sie hat es getan, weil ich mit ihr Schluss gemacht habe«, stößt Tony hervor. Er ringt mit sich, beißt auf seine Lippe. »Das 211
war vor ein paar Stunden. Wir haben uns gestritten. Sie war in keiner guten Verfassung. Irgendwie kam sie mir verwirrt vor.« Er stützt die Ellenbogen auf die Knie, lässt seinen Kopf hängen und starrt auf das Bodybag, das er zwischen seinen Füßen abgestellt hat. »Ich hätte ihr noch Zeit geben sollen. Das war alles zu viel für sie.« »Was meinen Sie damit?«, fragt die Ärztin. »Was war zu viel für sie?« Tony schaut zu ihr hoch. Einen Augenblick lang glaube ich, dass er der Frau alles erzählt, jetzt gleich. Von dem Shit. Von den Morden, den Leichen. Von Erdem. Dass er einer Fremden alles beichtet. »Ich habe ihr Vorwürfe gemacht, schwere Vorwürfe. Das hat sie wohl nicht verkraftet«, sagt er schließlich. Die Ärztin betrachtet ihn eine Weile, schaut dann zu Lidia und mir. Ich merke, wie sie einen Zusammenhang herzustellen versucht – wer von uns welche Rolle spielt, wie unser Verhältnis zu Phil ist, in welchem Verhältnis wir zueinander stehen – und es mit einem Blick auf ihre Armbanduhr aufgibt. »Warten Sie hier. Es gibt nichts, was Sie sonst tun könnten. Ich schicke bei Gelegenheit jemanden vorbei. Sie müssen ein paar Formulare ausfüllen.« Sie schickt sich an, den Raum zu verlassen, bleibt aber in der Tür stehen. »Nur aus Liebeskummer hat sich dieses Mädchen ganz gewiss nicht eine Pulsader geöffnet.« Sie wartet kurz, aber keiner von uns erwidert etwas. »Wir sprechen uns noch.« Damit dreht sie sich um und schließt die Tür hinter sich. Wir sind allein. Ich zünde mir eine Zigarette an. Tony wirft mir einen fragenden Blick zu. Ich zögere, gebe ihm dann die Packung und ein Feuerzeug. Aus einem Trinkwasserbehälter hole ich mir einen Becher Wasser und nippe daran. Die Flüssigkeit schmeckt wie frischer Schnee.
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»Das habt ihr ja fein hingekriegt.« Lidia steht von ihrem Stuhl auf und stellt sich mit dem Rücken zum Fenster. »Zieht ihr eigentlich immer den Schwanz ein, wenn euch die Menschen, die euch lieben, am meisten brauchen?« »Mag schon sein«, sagt Tony. Er steckt sich eine Gauloise an und nimmt einen tiefen Zug. »Ist das alles, was dir dazu einfällt?« Er bläst den Rauch zu Boden und malt mit dem Finger ein Zeichen auf die Innenseite der Hand, mit der er die Zigarette hält. Einen Kreis, oder ein Kreuz, vielleicht auch Buchstaben. Es ist nicht zu erkennen. »Hat’s dir die Sprache verschlagen? Kannst du nur Leute erschießen oder was? Du hast sie auf dem Gewissen, wenn sie stirbt. Machst du dir darüber keine Gedanken?« »Ich mache mir Gedanken darüber«, sagt er drohend. »Und ich fühle mich nicht gut dabei, falls dir das Vergnügen bereitet. Aber ich mache mir auch Gedanken über Erdem.« »Er ist in Livorno«, werfe ich zur Erklärung ein. »Anscheinend hat er Verstärkung bekommen. Seine Leute haben im No-Global-Büro ein Blutbad angerichtet. Kurz bevor du Tony auf dem Handy erreicht hast. Wir waren da. Mit ein bisschen Pech wären wir auch draufgegangen.« »Und er hat mindestens genauso viel Schuld an Phils Zustand, wie du mir anhängen willst«, sagt Tony zu Lidia. »Du denkst wohl …« »Halt die Klappe!«, fährt er sie an. »Das geht dich alles einen Scheiß an! Mein Vater liegt im Sterben. Meine Verlobte kratzt vielleicht ab. Und du willst mir einreden, dass ich dafür verantwortlich bin?« »Na ja«, wende ich ein. »Wenn du nicht diesen Drogendeal angeleiert hättest …«
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»Fängst du jetzt auch noch an, Viktor? Na klasse, zwei alte Junkies versuchen mir zu erzählen, wie ich meine Familie aus einem Scheißbandenkrieg raushalten soll. Ich sag dir mal was: Mein Babbo wollte, dass ich diesen Deal durchziehe. Er hat’s mir ins Gesicht gesagt: Wenn ich nicht hart genug wäre, das über die Bühne zu bringen, auf Biegen und Brechen, hat er gesagt, dann könnte ich meine Sachen packen und woanders als Laufbursche anfangen.« »Warum hast du dann nicht deine Sachen gepackt?« »Er ist mein Vater, verstehst du? Einen anderen habe ich nicht. Ich wollte ihn nicht enttäuschen.« »Aber ich dachte, Aldo hat sich aus dem Drogengeschäft zurückgezogen?« »Ich kann mir schon vorstellen, was du gedacht hast. Tony soll sich noch die Hörner abstoßen. Tony macht auf Jungmafioso. Tony muss erst den Revolverhelden spielen, damit er erwachsen wird. Aber so ist es nicht! Was glaubst du, was für einen Schiss ich bei der Sache hatte. Erdem, dieses wandelnde Napalm, und Musti, sein Drecksbruder, dem Phil das Messer reingerammt hat wie ’ne Verrückte und den die Würmer ficken sollen, bis nur noch weißer Matsch von ihm übrig ist – das sind keine Typen, denen man bei einem Gläschen Grappa fünf Kilo Shit vertickt. Nicht mal ein Kilo, nicht mal einen lächerlichen Scheißjoint. Bei denen heißt es: ein Zeichen der Schwäche, und du bist fällig! Die verzeihen keine Fehler. Und schon gar keinen Mord.« Er wirft seine halb gerauchte Kippe auf den Boden und trampelt sie entnervt aus. Sein Atem geht schnell. »Und Phil war um keinen Deut besser. Sie hat sich in diese Piercing-Geschichte reingesteigert. Das wusste ich natürlich nicht, aber inzwischen ist es mir klar geworden. Sie wollte auch, dass ich den Handel abschließe. Und jetzt frage ich dich: Wie komme ich aus dieser Sache wieder raus? Ich bete, dass Phil und mein Babbo bei mir bleiben. Dass ich sie nicht verliere.« 214
Er keucht, schluckt. Ich merke, wie er mit den Tränen kämpft. Langsam begreife ich, unter welchem Druck er steht. »Aber es gibt einen anderen Weg.« Er hebt das Bodybag hoch, stellt es auf den Stuhl neben sich und zieht den Reißverschluss auf. Nacheinander holt er seine Waffen heraus. Zuerst die Beretta und dann eine weitere Pistole, größer und kantiger. »Hab ich von dem Türken aus dem Hotel. Hoffentlich ist er an seinem Bauchschuss krepiert.« Er hält eine Hand voll Magazine hoch. »Wenn mir Erdem das nächste Mal über den Weg läuft, tragen wir es endgültig aus.« »Wie stellst du dir das vor?«, frage ich. »Wir rufen ihn an.« Er deutet auf Lidia. »Sie hat Phils Handy. Darin ist bestimmt Erdems Nummer gespeichert. Wir setzen uns mit ihm in Verbindung und locken ihn in einen Hinterhalt.« »Wen meinst du mit wir?« »Dich und mich. Vielleicht hilft uns Gwizdek. Zu dritt müssten unsere Chancen ganz gut stehen.« »Die haben Schnellfeuergewehre. Außerdem wissen wir nicht, wie viele es sind. In dem Benz saßen schon mal mindestens drei. Plus Erdem.« »Plus dem Typen mit der Armverletzung«, ergänzt Tony. »Gwizdek hat ihn nur niedergeschlagen. Ich hätte ihn abknallen sollen, aber das wäre dann wirklich Mord gewesen. Und feige dazu.« »Samir, wenn ich mich richtig erinnere. Macht fünf. Erdem könnte noch mehr Leute zu sich gerufen haben.« »Könnte er. Aber für eine eigene Privatarmee ist er noch nicht mächtig genug. Abgesehen davon hat sich sein Personal in der letzten Zeit leicht dezimiert.« Er lächelt schwach. »Wie auch immer, ich rechne mit fünf. Keine Ahnung, wie die neuen Leute nach Italien gekommen sind, vielleicht mit dem Flugzeug, wenn man bedenkt, dass sie es so schnell geschafft haben. Die Waffen 215
haben sie sich wahrscheinlich hier besorgt. Oder sie hatten noch welche in dem Benz.« »Und im Gegensatz zu uns sind es Profis«, wende ich ein. »Du hast doch gesehen, was die vorhin angerichtet haben. Ich nehme an, das war eine Vergeltungsaktion. Dafür, dass uns Pino geholfen hat. Was du da planst, ist Selbstmord.« »Wenn das Überraschungsmoment auf unserer Seite ist, nicht.« »Auf die Gefahr hin, dich zu enttäuschen: Ich hab noch nie mit so was geschossen. Das heißt, dass du mich aus deiner Rechnung gleich wieder rausnehmen kannst.« Er steht auf und hält mir wortlos die Beretta hin. Ich betrachte den matten dunklen Stahl. Ein Stück Kohle in seiner Hand. Na los, greif zu! Erdems Stimme in meinem Kopf. Und: Du kannst niemanden umbringen. »Es ist ganz einfach, oder?«, frage ich zweifelnd. Er nimmt das Magazin heraus, entfernt die Patrone, die im Lauf verblieben ist, und erklärt mir den Sicherungsmechanismus: ein Umschalthebel, den man zum Entsichern nach oben schiebt, worauf ein roter Punkt sichtbar wird. Dann spannt er den Hahn, legt Richtung Fenster an und drückt ab. Der Verschluss gibt ein scharfes Klicken von sich, als der Hahn zuschnappt. »Hier. Probier’s!« Er hält sie mir wieder hin. Ich nehme die Waffe in die Hand, packe zu, spüre, wie sich meine Finger an den ergonomisch geformten Rahmen anpassen. Plötzlich erfasst mich eine seltsame Zuneigung zu dieser Waffe. Ich ziele und ziehe den Abzug durch. Der Widerstand ist nicht so stark, wie ich vermutet habe. Ganz anders als bei dem unförmigen Ding, das ich mir vor zehn Jahren besorgt habe. Das mir Ferro aus der Hand geschlagen hat, bevor ich es benutzen konnte. Was soll ich mit dir machen? Vergangenheit, von der 216
Sonne verschluckt. Ich versuche, mich wieder auf Tonys Anweisungen zu konzentrieren. »Halt sie ein bisschen lockerer. Das ist kein Vorschlaghammer.« Ich tue, was er sagt. Du hast mich bedroht. Locker bleiben. »Gut so.« Er nimmt sie mir wieder ab. »Okay, das ist eine Neun-Millimeter, Retro-Look, zumindest was den externen Hahn betrifft. Und sie hat einen freiliegenden Schlitten. Achte darauf, dass er ein Stück zurückkommt, wenn du scharf schießt. Sonst reißt du dir beim Rückstoß die Hand auf.« Er schiebt den Schlitten demonstrativ zurück und bringt ihn wieder in die Ausgangsposition. »Wenn du genug Zeit dafür hast, spannst du am besten den Hahn und drückst erst dann ab. Single Action nennt man das. Der Druckpunkt ist dann niedriger, und du verreißt die Waffe nicht so leicht, als wenn du voll durchziehen würdest.« »Woher weißt du diesen ganzen Scheiß?« »Hat mir der Kerl erklärt, der sie mir besorgt hat. So was merkt man sich, damit man bei jemandem wie dir Eindruck schinden kann.« Ein schiefes Lächeln. Ich grinse zurück. »Was ist mit dem Rückschlag? Muss ich den irgendwie einkalkulieren?« »Lass sie langsam von oben nach unten ins Ziel sinken. Dadurch hältst du automatisch ein bisschen tiefer und gleichst den Rückschlag aus.« Er schiebt mir die Pistole wieder in die Hand. Ich mache es, wie er gesagt hat, und drücke ein paarmal hintereinander ab, versuche, mir den Rückstoß vorzustellen, ein Reißen im Arm oder so etwas. »Das war’s schon.« Er nimmt die Waffe, drückt die einzelne Patrone, die im Lauf gewesen war, zurück ins Magazin und
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schiebt es wieder in das Griffstück. »Die Dinger sind so gemacht, dass sie jeder Idiot bedienen kann. Narrensicher.« »Wie viel Schuss habe ich?« »Zwölf.« Er gibt mir die Beretta, und ich stecke sie in meinen Hosenbund, nachdem ich mich überzeugt habe, dass der Sicherungshebel den roten Punkt verdeckt. Ich ziehe den Troyer darüber und gehe ein paar Schritte. Abrupt bleibe ich stehen und ziehe die Waffe. Der Hahn bleibt an dem Stoff des Troyers hängen. Ich fluche, befreie die Pistole von einem Stofffaden und richte sie auf das Fenster des Warteraums. »Ich guck mir das nicht mehr länger an«, legt Lidia los. Sie hat unser Gespräch mit wachsendem Unmut verfolgt. Ungehalten schiebt sie meinen ausgestreckten Arm beiseite und tritt zwischen mich und Tony. »Habt ihr sie noch alle? Phil stirbt da drinnen, und ihr veranstaltet hier einen Crashkurs in Handfeuerwaffen.« »Lass mal das Handy sehen«, sagt Tony zu ihr. »Was?«, erwidert sie ungläubig. »Gib mir Phils Handy. Wegen Erdems Nummer.« »Bist du meschugge? Denkst du im Ernst, ich helfe euch bei diesem …, diesem Scheißkrieg?« »Darf ich dich an etwas erinnern?« Ich lege eine Hand auf ihre Schulter. Sie schüttelt sie wütend ab. »Es geht nur darum, dabei zu sein. Das waren deine Worte. Du wolltest Gewalt? Einmal mit bloßen Händen drauflos dreschen? Kaputtmachen, was dich kaputtmacht? So hieß das doch früher. Bitte, das kannst du jetzt nachholen. Bei jemandem, der es verdient hat. Nicht bei den Bullen, die nur ihren miesen, schlecht bezahlten Job machen, sondern bei einem richtig Bösen. Einem bösen Menschen. Einem, bei dem alles anfängt.« 218
Sie funkelt mich an. So wie sie da steht, ist sie kurz davor, mir in die Eier zu treten. In Kampfhaltung. Ihre Nasenflügel beben. »Hey, langsam«, versucht Tony zu schlichten. »Wir brauchen nur das Handy, mehr nicht. Sie hat uns schon ein paarmal geholfen, das hab ich nicht vergessen.« Er wendet sich Lidia zu. »Ich hab auch nicht vergessen, dass du unten im Hotel dabei gewesen bist. Das war mutig. Du hast mehr getan, als man von dir verlangen kann. Aus welchen Gründen auch immer.« Ein Seitenblick zu mir. Während mich Lidia immer noch böse anschaut, fährt er fort: »Du hast Recht: Es ist ein Scheißkrieg. Aber es ist nicht deiner. Du hast nichts damit zu tun. Gib mir das Handy. Dann endet für dich alles, hier und jetzt.« Er streckt ihr die Hand entgegen. Sie löst ihren Blick von mir, dreht sich in Tonys Richtung – und zieht mir mit einer plötzlichen Sichelbewegung das Standbein weg. Noch während ich zu Boden falle, versetzt sie mir mit der flachen Hand einen Schlag vor die Brust, so dass ich nach hinten kippe. Im nächsten Moment kniet sie über mir, zieht die Beretta aus meiner Hose und stößt mir den Lauf in den geöffneten Mund. Mit dem Daumen schiebt sie den Sicherungshebel hoch. »Nicht, wenn das Überraschungsmoment auf meiner Seite ist«, sagt sie zu Tony. Nach ein paar Sekunden habe ich den ersten Schreck überwunden. Ich versuche zu lächeln und greife in ihren Blazer, um nach dem Handy zu suchen. Dabei berühre ich ihre Brust, schön sanft, damit sie nicht aus Versehen etwas Dummes tut. Sie lächelt zurück, spannt den Hahn und schiebt mir den Lauf bis zur Luftröhre. Das Korn über der Mündung ritzt an meinem Gaumen. Ich ertaste das Handy in der Innentasche ihres Blazer und ziehe es heraus, worauf sie es mir mit dem Lauf der Pistole aus der Hand schlägt, so schnell, dass ich den Mund nicht schließen
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kann, bevor sie die Beretta wieder reinsteckt. Das Handy schlittert über den Boden. Als ich höre, wie sich die Tür des Warteraums öffnet, lässt sie die Waffe unter meinem Troyer verschwinden. Ich drehe den Kopf. Ein junger Mann mit Dreadlocks und weißem T-Shirt steht im Türrahmen und starrt uns an. Er hält eine Kladde in der Hand. »Kommen Sie später wieder«, sagt Lidia. »Wir sind beschäftigt.« Mit einem »Scusi« zieht er sich zurück und schließt die Tür. Lidia holt die Beretta wieder unter dem Troyer hervor, sichert sie und schüttelt tadelnd den Kopf. »Pass auf, dass Erdems Leute nicht näher an dich rankommen. Sonst bist du keine große Hilfe.« Sie steigt von mir herunter, wartet, bis ich mich hochgerappelt habe. Dann gibt sie mir die Waffe zurück. »Hat’s wehgetan?« »Geht so.« Ich schlucke blutigen Speichel herunter, huste und betaste meinen Kiefer. »Das war nicht ganz fair, oder? Ich meine, mit Bein stellen.« »Ko Uchi Gari«, sagt sie knapp und zupft ihren Blazer zurecht. »Kleine Innensichel. Sieht nicht besonders elegant aus, erfüllt aber ihren Zweck.« »Wenn ihr mit eurer kleinen Einlage fertig seid, müsst ihr euch das mal anschauen«, sagt Tony. Er kauert auf dem Boden und beugt sich über das Handy, besser gesagt seine Einzelteile, die über dem Boden verstreut sind. »Verdammt!«, stoße ich hervor. »Das war’s dann wohl mit unserem heißen Draht zu Erdem.« Tony legt einen Finger auf seinen Mund und bedeutet mir, nicht mehr zu sprechen. Er winkt uns zu sich. Wir kommen näher, achten darauf, nichts zu zertreten, und betrachten die Überreste des Geräts. Muss ziemlich billig gewesen sein, wenn 220
es so leicht in die Brüche geht. Oder es hatte schon einen Knacks. Jedenfalls sehen wir: Plastiksplitter, die von dem aufgesprungenen Gehäuse stammen, Blechteile, vermutlich zur Abschirmung der Strahlung, das Display, ein Mikrolautsprecher, etwas, das aussieht wie eine Computerplatine mit Widerständen und Transistoren, nur alles in klein. Tonys Finger zeigt auf einen runden Gegenstand, der an eine Knopfzelle erinnert. Er ist in Harz eingegossen. Ein Drähtchen ragt wie eine Miniantenne aus ihm heraus. Tony holt sein eigenes Handy heraus und drückt ein paar Tasten. Dann zeigt er uns das erleuchtete Display. Wanze steht da. Woher will Tony das wissen, denke ich. Für mich sieht dieser ganze Elektronikkram gleich aus. Ich meine, man erkennt, dass es Elektronik ist, und ich weiß noch ein paar technische Begriffe aus frühen Computertagen, aber mehr auch nicht. Gwizdek sollte das Ding mal unter die Lupe nehmen. In diesem Moment höre ich merkwürdige Geräusche aus dem Nebenzimmer, Lidia und Tony auch, denn sie heben die Köpfe und lauschen. Da pfeift jemand. Es klingt wie ein Kinderlied. Die Melodie ist getragen, eine etwas traurige Weise, die mir nicht bekannt vorkommt. Während die Töne an mein Ohr dringen, erinnere ich mich daran, wie ich Phil, als sie noch ganz klein war, etwas aus einem Liederbuch vorgesungen habe. Sie gab nicht eher Ruhe, bis wir das ganze Buch durch hatten, vor allem an dem letzten Abend, den ich mit ihr verbrachte, bevor ich sie und Sill sitzen ließ – anders kann man es ja nicht sagen. Sill war auf irgendeine Party gegangen, zu der wir die Kleine nicht mitnehmen konnten. Kinder waren bei den Leuten, mit denen wir damals Umgang hatten, nicht erwünscht. Denen kam es spießig vor, nicht abzutreiben. Wahrscheinlich wurde ihnen dabei nur bewusst, wie alt sie mit Anfang zwanzig schon waren und welche Möglichkeiten sie im Leben schon unwiederbringlich 221
ausgelassen hatten. Vielleicht sahen sie auch nur ihre eigene Kindheit vor sich und missgönnten Phil die Zeit, die sie noch vor sich hatte. Jedenfalls tauchten Sill und ich auf Partys immer nur einzeln auf, aus Angst, dass wir sonst nicht mehr eingeladen würden. Und das war dann der Anfang vom Ende. Phil mochte es am liebsten, wenn wir zusammen Ri-ra-rutsch, wir fahren in der Kutsch sangen. Wir fahren über Stock und Stein. Da bricht das Pferdchen sich ein Bein. Ri-ra-rutsch! Es ist nichts mit der Kutsch. »Kutsch«, bekräftigte Phil immer, wenn ich mit der ersten Strophe zu Ende war. »Da, lesen«, sagte sie dann, und wir sangen das verdammte Lied weiter, bis sie müde wurde und in meinem Arm einschlief. Es scheint so, als nähmen die auf- und absteigenden Tonfolgen Gestalt an. Sie werden zu Schritten, wie man sie kurz vor dem Erwachen vernimmt, aus einem entfernten Zimmer, das man lange nicht mehr betreten hat. Man hört genauer hin, aber die Geräusche bleiben undeutlich, ein vages Tapp-Tapp-Tapp, Tapp-Tapp-Tapp, zu mehr kommt es nicht. Man nimmt sich vor, gleich nach dem Aufstehen nachzusehen, was denn da sei, dämmert aber weg und schläft unruhig weiter. Wenn man dann wirklich erwacht, hat man die Schritte vergessen, oder man schreibt sie einem seltsamen Traum zu, weil sie inzwischen verstummt sind. Trotzdem begleitet einen das Tapp-Tapp-Tapp noch eine Weile durch den Tag, wie ein Abdruck, den ein zerknitterter Kissenbezug auf der Wange hinterlassen hat. Irgendwann wird es von anderen, lauteren Geräuschen abgelöst. Und verblasst. Aber es sind keine Schritte. Nur ein Mann, der ein Lied pfeift. Ich hole die Beretta hervor und fasse sie am Lauf. Mit einem entschlossenen Schlag zertrümmere ich die Wanze. Oder was immer es war.
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27 Es fühlt sich so an, als tasteten geschulte Hände sie von innen ab. Sie sind in ihr drin, obwohl sie nur eine schwache Berührung spürt wie von einer Handfläche, die jemand auf die Stelle zwischen ihren Brüsten legt. Die Hände folgen den Bahnen, von denen ihr Körper durchzogen ist, den Knochen, Bändern und Sehnen, den Adern und Venen, den Nervensträngen. Sie erkunden die Meridiane in alle Richtungen, messen den schwächer werdenden Puls. Sie untersuchen Verzweigungen und Verästelungen, schlüpfen in Falten, Knicke und Taschen, verharren in Hohlräumen. Dabei folgen sie einer Spur, die sie von Anfang an aufgenommen haben. Einer Art Ausblühung von Kälte, dem einzigen Hinweis auf eine verborgene Wunde oder eine vergleichbare Quelle des Schmerzes. Schließlich gelangen sie zu einem Bereich, der gefroren zu sein scheint. Hart und spiegelglatt an der Oberfläche, aber noch nicht zur Gänze abgestorben. Unter der starren, überglänzten Hülle dieses Bereichs strömt eine eingeschlossene Kraft. Sofort beginnen die Hände, die Stelle zu erwärmen. Die Hülle wird weicher und nachgiebiger. Die Hände kneten, reiben, massieren sie und holen dadurch nach einer Weile einen Teil des Lebens zurück. Aber die Kälte ist noch nicht verschwunden. Die Hände forschen weiter. Phil spürt, dass nichts vor diesen Händen verborgen bleibt. Da sie nicht eindringen, sondern nach etwas suchen, ist es nicht unangenehm. Eine Reihe von Empfindungen kehrt zurück. Jemand liest ihren Körper wie ein Buch, durchkämmt ihn nach bestimmten Begriffen, nach vertrauten Mustern ebenso wie nach unvermuteten Wendungen. Es ist ein stetiges Umwenden der Seiten, auf denen geschrieben steht, wer sie ist, Kapitel für Kapitel. Sie selbst wäre nicht in der Lage, diese Seiten zu lesen. 223
Vielleicht wird sie es nie sein. Aber die Hände vermitteln ihr eine Ahnung von dem, was sie auf ihrer Suche wahrnehmen. So sollte es sein, wenn ihr Geliebter in ihr und um sie ist. Er müsste ihr Weisheit und Heilung schenken, wie es diese Hände tun. Und darüber hinaus noch etwas anderes. Bedingungslose Liebe, stellt sie sich vor. Sie weiß noch nicht, wie sie sich anfühlt. Aber sie wird sie erkennen, wenn es so weit ist. Die Hände setzen ihre Suche fort. Nach einiger Zeit haben sie alle Körperteile erforscht. Sie können keinen weiteren Befall feststellen. Und doch muss es da etwas geben, was den Fluss des Lebens hemmt, etwas, was nicht zu diesem Körper gehört, was ihm etwas entzogen hat. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Phil ist nicht vollständig. Die wichtigsten Seiten fehlen. Als die ersten Töne eines Liedes erschallen, kommt es zu einer Reaktion. Ein kindliches Lachen durchläuft ihr Inneres, gedämpft und kaum wahrnehmbar. Die Hände gehen dem Signal nach, folgen ihm zu seinem Ursprung, verlassen dabei die bekannten, miteinander verbundenen Bahnen, Kreisläufe. In der Nähe ihres Herzens stoßen sie auf etwas, das nicht da sein dürfte, wo es ist, abgetrennt von allem anderen. Es wirkt wie ein Knoten ohne Enden, eine Ballung, die sich erst vor kurzem gebildet hat. Das Lachen strömt erneut durch ihren Körper, worauf die Ballung sich etwas lockert. Die Hände bekommen einen Strang des Knotens zu fassen und beginnen, ihn vorsichtig zu lösen. Nach einer Weile finden sie ein loses Ende, wo vorher nur eine kompakte Verschlingung war, legen es frei und entwirren nach und nach den Rest des Gebildes. Die Enden des Strangs stellen neue Verbindungen her, geben die Gedanken, Erfahrungen, Erinnerungen ab, die in dem Knoten eingeschlossen waren. Daraufhin werden die fehlenden Seiten des Buches sichtbar. Sie sind leer. 224
Das Echsenherz, faustgroß, ist verschwunden. Phil bekommt sich zurück.
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28 Schweigend stehen wir um Phils Bett herum. Wir haben uns zu ihrem Zimmer Zutritt verschafft, ohne dass uns jemand bemerkt hätte. Auf der verwaisten Station ist keine Schwester, geschweige denn ein Arzt zu sehen gewesen. Vielleicht machen sie gerade Mittagspause. Oder sie bereiten irgendeine OP vor. Jedenfalls hat sich niemand blicken lassen, als wir uns über den Gang geschlichen haben. Gwizdek beachtet uns nicht. Er ist ganz vertieft in das Lied, das seine gespitzten Lippen formen. Dabei hält er Phils Hand wie ein kostbares Geschenk. Als der letzte Pfeifton verklungen ist, beginnt sich mein Mädchen zu regen. »Phil?«, rufe ich sie. Sie schlägt die Augen auf, wirkt überrascht, dass sie ihren Namen hört. Ihr Blick fällt auf einen Schlauch, der von ihrem Handrücken zu einer Infusionsflasche an einem fahrbaren Ständer führt. Sie zieht die Kanüle aus ihrer Vene, saugt an dem Einstich, setzt sich auf. Tony lässt sich vor ihr auf die Knie nieder. Wortlos neigt er den Kopf und legt ihn auf das Laken. Sie sieht ihn eine Weile an, beobachtet, wie er leise in den Stoff hineinweint. Der Fleck um die Stelle, auf die er seine Augen presst, wird größer. Seine Art, um Verzeihung zu bitten, nehme ich an. Nicht die schlechteste. Schließlich legt Phil ihm eine Hand auf den Nacken und streicht ihm mit der anderen über das Haar. Sie konzentriert sich ganz auf diese Bewegung. Ein Lächeln huscht dabei über ihr Gesicht, sechzehnjährig, so jung, wie sie sein sollte. Nach einiger Zeit schaut sie zu Gwizdek. Er nickt, als gäbe er sein Einverständnis. Daraufhin erhebt sie sich. Ich trete hinzu, um sie 226
zu stützen, aber sie wehrt ab und gibt mir einen nassen Kuss auf die Wange. »Ich bin in Ordnung, Paps. Mir geht’s gut.« Mit einem Stirnrunzeln betrachtet sie die frische Naht an ihrem Handgelenk. »So gut wie lange nicht mehr.« Vor Glück kriege ich fast einen Kicheranfall wie auf Shit, so froh bin ich darüber, dass sie lebt, ach was, nicht nur lebt, sondern anscheinend voll auf der Höhe ist, dass sie einen gesunden, unversehrten Eindruck macht. Zumindest kann ich keine Anzeichen von Bedrücktheit feststellen, nichts, was auf einen Blick in den Abgrund hindeutet oder gar auf einen langen tiefen Fall, von dem sie sich vermutlich niemals wieder erholt hätte. Ist Gwizdek im Nebenberuf so eine Art Wunderheiler, ein masurischer Medizinmann, der einem kurz mal die Hand auflegt und das Leid mit all seinen Ablegern austreibt? Mag sein, dass er zu solchen Dingen in der Lage ist. Killer auf Urlaub verfügen über mehr Fähigkeiten, als man gemeinhin glaubt. Und Gwizdek erst recht. Phil nimmt die Kleidung entgegen, die Lidia für sie bereithält. Sie legt das weite OP-Hemd ab, das sie ihr im Hospital angezogen haben, macht dabei keine Anstalten, ihren nackten Oberkörper zu bedecken. Dann schlüpft sie in Hose, Pulli und Sneakers. Sie geht zu Tony, der immer noch die Augen in dem Laken vergraben hat, und hilft ihm auf die Beine. Er will etwas sagen, kann ihr dabei aber nicht ins Gesicht sehen. Sie umarmt ihn, birgt seinen Kopf an ihrer Schulter. »Bleib noch ein bisschen bei mir, Tony. Ich bin jetzt wieder ich selber. Du kannst mir vertrauen.« Es sieht so aus, als ob er es täte. Wir alle tun es. Hör auf zu flennen, Tony, sonst fang ich auch gleich mit dem Scheiß an. Ich erzähle Gwizdek von dem Gegenstand, den wir in Phils Handy gefunden haben, zeige ihm die Überreste, sage ihm, dass wir es für eine Wanze halten. »Das würde zumindest einiges erklären.« 227
»Ich hab mir schon so was gedacht«, antwortet er, überlegt kurz. »Das heißt, sie wissen, wo wir jetzt sind.« Phil lässt Tony los und dreht sich zu uns um. »Mein Handy war verwanzt?« »Sieht so aus«, sage ich. »Aber wie …?« »Vielleicht, als sie dir das Piercing abgenommen haben. Sie haben deine SIM-Card rausgenommen und in ein präpariertes Gerät gesteckt. Das geht ganz schnell. Sie mussten nur wissen, welches Modell du hast.« »In Erdems Zimmer habe ich einen Koffer gesehen«, wirft Lidia ein. »Da könnte ein Ortungsgerät drin gewesen sein.« Phil begreift. »Dann lasst uns von hier verschwinden«, sagt sie alarmiert. »Meinst du, du schaffst das?«, frage ich sie. »Es ist viel Kraft in ihr«, sagt Gwizdek an Phils Stelle. »So viel, dass es nicht ratsam ist, sie falsch einzusetzen.« Er wirft ihr einen eindringlichen Blick zu. »In Zukunft musst du vorsichtig sein.« »Versprochen«, erwidert Phil, geht zu ihm und drückt ihn an sich. »Danke, Gwi.« Seine Augen glänzen. Er wirkt erschöpft. Dann zieht er seine Lederjacke aus, legt sein Holster ab, knöpft sein Hemd auf und öffnet die Klettverschlüsse seiner Kevlarweste. Aus den Innentaschen ragen ein paar Geldbündel hervor. Er nimmt sie heraus, stopft sie in die Lederjacke, entledigt sich der Weste und reicht sie Phil. »Hier. Zieh das an.« »Meinst du, das ist notwendig?« »Proszę cię.« Widerstrebend schlüpft sie aus ihrem Pulli. Er legt ihr die Weste an, vergewissert sich, dass sie gut sitzt. Dann kleiden sie 228
sich wieder an wie zwei Freundinnen, die ihre Lieblingskleidungsstücke ausgetauscht haben. »Wie sieht’s mit deiner Munition aus?«, fragt Tony, als Gwizdek sein Holster umhängt. »Tak sobie. Zwei Schuss. Hab ich von dem Türken aus dem Hotel.« Tony öffnet das Bodybag, das er auf den Boden abgestellt hat, und gibt ihm ein Magazin. »Schau mal, ob das Kaliber passt.« Gwizdek holt eine Patrone heraus und sieht sie sich genau an. »To extra! Neun Millimeter Parabellum.« Er lädt seine Waffe nach. »Dziękuję.« Ein fester Blick. »Grazie a lei«, entgegnet Tony. Ist ja wunderbar, dass sich jetzt wieder alle verstehen. Ich öffne die Tür und spähe nach draußen. Im Gegensatz zu vorhin herrscht jede Menge Rummel auf der Station. Sanitäter schieben eine Rolltrage nach der anderen in den Gang. Es schaut aus wie in einem Feldlazarett. Alle reden durcheinander. Die Verletzten auf den Tragen diskutieren mit den Pflegern und Ärzten, die um sie herumspringen. Viele tragen Verbände um den Kopf. Nach den Aufdrucken auf ihren T-Shirts zu schließen sind es AntiGlobo-Demonstranten. Scheint so, als seien der Klinik in Pisa die Kapazitäten ausgegangen. Als sich eine junge Frau mit einem Mikrofon und einem Aufnahmegerät nach vorne drängelt und auf einen der Verletzten einredet, bricht ein Tumult aus. Aufgebrachte Rufe, Flüche, Protestschreie. Immer wieder sind die Worte attentato und no global zu hören. Ein kahlrasierter Junge, auf dessen T-Shirt eine zähnefletschende Bulldoge abgebildet ist, blutet über das ganze Gesicht. Die anderen rempeln ihn an, überschütten ihn mit Beschimpfungen. Er grinst. Zwei Pfleger gehen dazwischen. Wir schieben uns aus Phils Krankenzimmer und gelangen unbehelligt ins Treppenhaus. Nach den ersten paar Metern hören wir schwere Schritte. Plötzlich kommt uns eine Gruppe schwer 229
bewaffneter Polizisten entgegengestampft. Gwizdek, der vorangeht, zuckt zusammen. Einer der Polizisten stellt auf Italienisch eine Frage. Phil antwortet ihm und deutet auf die Tür, durch die wir gekommen sind. Die Polizisten eilen weiter, pressen ihre MPs an sich. Wir atmen auf und setzen unseren Weg fort. Gwizdek hat jetzt eine Hand unter der Achsel verborgen, bereit seine Waffe zu ziehen. Tony ist direkt hinter ihm. An jeder Biegung der Treppe warten wir kurz, bis Gwizdek signalisiert, dass wir weiter können. Als wir eine Tür erreichen, auf der eine große Eins das Stockwerk angibt, bedeutet er uns stehen zu bleiben. Allein schleicht er die nächsten Stufen hinunter, bis er den weiteren Verlauf der Treppe einsehen kann. Dann winkt er uns, ihm zu folgen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie uns über das Handy geortet haben. Aber ich glaube nicht, dass die Türken uns in dem Hospital auflauern. Dafür sind hier zu viele Menschen unterwegs, und die Polizei scheint ja auch präsent zu sein, in voller Bewaffnung. »Lasst uns in die Eingangshalle gehen«, schlage ich vor. »Falls uns Erdems Leute da draußen erwarten, können sie uns ja wohl schwerlich vor allen Leuten umlegen.« »Dort haben sie uns auf dem Präsentierteller«, sagt Tony. »Wenn sie die Ausgänge kontrollieren, ist das egal«, gibt Gwizdek zu Bedenken. »Wir müssen nur schnell genug sein. Vielleicht können wir sie abhängen.« »Und wie stellst du dir das vor?«, fragt Tony. »Wohin wollen wir überhaupt?« »Die Stazione Centrale ist ganz in der Nähe«, sagt Lidia. »In einem Bahnhof knall ich dir jeden ab«, wendet Gwizdek ein. »Da findet sich immer eine Gelegenheit.« »Wie wär’s mit dem Hafen?«, schlage ich vor. »Ich war heute Morgen da. Wir mieten uns ein Boot, oder klauen eins, und fahren aufs Meer hinaus. Damit rechnen sie bestimmt am wenigsten.« 230
Die anderen brauchen eine Weile, um sich mit der Idee anzufreunden. »Und wer soll das Boot steuern?«, will Lidia wissen. »Ich mach das«, sagt Tony. »Hat mir mein Babbo beigebracht. Meine Familie stammt aus Pescara. Wir haben mal ’nen gemeinsamen Segeltörn durch die Ägäis gemacht. Bei einem Boot mit Motor krieg ich das schon hin.« »Wir nehmen Taxis«, sage ich. »Vorhin stand eine ganze Schlange vor dem Eingang. Wir lassen uns an der Zollschranke vor dem Porto Mediceo absetzen. Keine Angst, bei Leuten, die wie Passagiere aussehen, machen die keine Kontrollen. Wir tun so, als würden wir auf einem der großen Touristenpötte einchecken.« »Irgendwelche Einwände?« Tony blickt fragend in die Runde. Niemand widerspricht. »Gut, dann machen wir’s so.« Als wir die Eingangshalle betreten, starren uns zwei Polizisten, die vor dem Treppenhaus Wache schieben, verwundert an. Sie schließen die Tür hinter uns, pflanzen sich davor auf und bedeuten uns weiterzugehen. Anscheinend sollen sie die Zugänge zu den Stationen abriegeln. Wie ich vermutet habe, ist die Halle voller Menschen. Die Empfangsschalter sind von Journalisten und Demonstranten umlagert. Vor den Aufzügen haben Polizisten Aufstellung genommen. Ich frage mich, was für eine Politik das sein soll. Ein Krankenhaus zu besetzen mitten in Livorno – besonders clever ist das nicht gerade. Dann können sie ja gleich eine Ausgangssperre verhängen. Rasch gehen wir zum Haupteingang. Die Flügel der gläsernen Schiebetür gleiten zur Seite. Wir betreten die Freitreppe, die zu dem Hospital hochführt. Gwizdek schaut sich um. Ich deute in Richtung Taxistand. Wir eilen die Treppe hinunter, gelangen zu den beiden vordersten Wagen und steigen ein. Zusammen mit Lidia nehme ich das erste Taxi. Phil, Tony und Gwizdek 231
springen in das andere. »Porto Mediceo« will ich ihnen noch zurufen, aber sie werden uns schon nicht verlieren. Ich schließe die Wagentür und wende mich dem Fahrer zu – er trägt den Arm in einer Schlinge.
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29 »Können Sie damit fahren?«, frage ich auf Englisch. Er tut so, als verstünde er mich nicht. »Dove?«, fragt er mit rauer Stimme, zündet sich eine Zigarette an und legt einen Gang ein – richtiges Multitasking, wenn man sein Handicap bedenkt. Es ist nicht Samir, aber meine Hand zuckte schon unter den Troyer. Muss cooler werden. »Porto Mediceo«, weise ich ihn an und kratze mein Italienisch zusammen. »Pronto, per favore.« »Sono sempre pronto«, sagt er und fährt los. Ich drehe mich um und beobachte, wie das andere Taxi aus der Schlange ausschert und uns folgt. Von Erdems Leuten ist bisher nichts zu sehen gewesen. Auch den schwarzen Benz habe ich nirgends entdecken können. Wenn ich Erdem wäre, hätte ich diesen Leichenwagen ohnehin ganz schnell in einer Tiefgarage verschwinden lassen. »Hast du irgendwas bemerkt?«, frage ich Lidia, während wir an der nächsten Ampel warten. »Hat uns jemand beobachtet?« Sie überlegt. »Nein. Aber das hat nichts zu bedeuten. Die können überall gewesen sein.« Der Fahrer biegt rechts ab. Ein Seiteneingang des Hospitals kommt in Sicht. Das Portal liegt im Schatten der steigenden Sonne. Ich sehe zwei Männer neben der gläsernen Eingangstür stehen. Einen Moment lang halte ich sie für Polizisten in Zivil, weil sie Anzüge tragen. Ich sehe genauer hin. Einer ist Erdem. Er telefoniert über Handy, schaut für einen Moment auf. Unsere Blicke kreuzen sich. Ein Wimpernschlag. Dann erkennt er mich. Bluttag in seinen Augen. 233
Ein Arm schnellt vor. Die Mündung eines Schalldämpfers. Ein Finger, der den Abzug durchzieht. »Sie sind hinter uns?« Tony dreht sich auf dem Beifahrersitz des Taxis um. »Ein silberner Kombi«, sagt Gwizdek. »Sie sind zu zweit.« »Scheiße!« »Die wissen genau, was sie tun.« Gwizdek beobachtet den Kombi von der Rückbank aus. »Haben seelenruhig auf unseren ersten Zug gewartet.« »Was machen wir jetzt?« In Tonys Stimme steigt Panik hoch. Gereizt starrt er auf die rote Ampel, an der sie gehalten haben. »Wir müssen sie abschütteln!« »Zumindest wissen sie nicht, wohin wir fahren«, sagt Phil, die neben Gwizdek sitzt und die Verfolger ebenfalls nicht aus den Augen lässt. »Einer ist gerade mit seinem Handy zugange.« »Wir haben es mit mindestens fünf Männern zu tun«, erklärt Tony. »Vielleicht sind es mehr. Sie brauchen eine Weile, bis sie sich untereinander verständigt haben.« Endlich setzt sich das Taxi wieder in Bewegung. »Aber sie sind an uns dran«, wendet Phil ein. »Dann müssen wir den Wagen irgendwie aufhalten!« Als Gwizdek und Tony ihre Waffen hervorholen, wird der Fahrer nervös. »Rilasciati«, sagt Tony zu ihm und legt eine Rolle Geldscheine auf die Ablage. »Bring uns zum Hafen, dann passiert dir nichts.« Gwizdek kurbelt die Fensterscheibe herunter. Ich folge Erdem mit den Augen. Sein Arm schwenkt herum, von uns weg. Ich höre einen lauten Knall. Denke im selben Moment, dass diesen Schuss nicht Erdem abgefeuert haben kann. Hinter uns sehe ich das Taxi der anderen. Gwizdeks Arm 234
ragt aus dem Fenster. Er zieht ihn wieder zurück. Ich bemerke, dass er eine Waffe in der Hand hält. Erdem scheint uns nicht getroffen zu haben. Als er mich erkannt hat, waren wir schon fast an ihm vorbei. Unser Wagen hat ein gutes Tempo drauf, das heißt, Erdem hatte das erste Taxi nur ganz kurz im Visier. »Irgendwas stimmt da nicht«, sagt Lidia. Tony hat sich nach innen gedreht, um zwischen den Kopfstützen hindurch den Kombi zu beobachten, während Gwizdek bereits auf die Reifen des Wagens zielt. Die Schüsse fallen fast gleichzeitig. Zerreißen Gummi und Fleisch. Fräsen sich durch einen Stahlgürtel und Organe. Lassen Luft entweichen und Leben. Gwizdeks Kugel bleibt in der Felge des Kombis stecken, verformt zu einem scharfkantigen, hässlichen Klumpen. Erdems Kugel durchschlägt die Beifahrertür des Taxis und tritt wieder aus. Nimmt Haut, Teile einer Niere und die Stofffasern eines Ralph-Lauren-Rollis mit sich. Bohrt sich in die Mittelkonsole und bringt die Plastikhüllen von Musikkassetten zum Tanzen. Tony kippt auf den Fahrer, der ihn mit dem Ellenbogen wegschiebt, um den Wagen unter Kontrolle zu behalten. Dann sinkt sein Körper auf dem Sitz in sich zusammen. Gwizdek und Phil beobachten, wie der Kombi ausbricht und gegen ein parkendes Auto prallt. Phil jubelt für ein paar Augenblicke, Herzschläge eines kindlichen Triumphes. Bis sie den Blick wieder nach vorne richtet und die Blutspritzer auf der Windschutzscheibe bemerkt. Der Wagen hinter dem zweiten Taxi stößt mit dem Heck eines parkenden Autos zusammen und kommt quer zur Fahrbahn zum Stehen. Anscheinend hat Gwizdek auf ihn geschossen. Ich nehme an, es waren Erdems Leute. Sie müssen uns vor dem Haupteingang abgepasst haben und uns dann gefolgt sein. Erdem läuft uns ein Stück hinterher. Er winkt den anderen 235
Mann zu sich. Dann gerät er außer Sicht. »Es hat jemanden erwischt«, sagt Lidia. »In dem Wagen ist alles voller Blut.« Ich versuche, etwas zu erkennen. Sehe, wie sich Gwizdek und Phil zwischen den Sitzen hindurch nach vorne beugen. Gwizdeks Waffe an der Schläfe des Fahrers. Von Tony ist nichts zu sehen. Ein Stöhnen. »Tony!« »Verdammter Dreckskerl.« Phil schiebt sich an Gwizdek vorbei, tauscht mit ihm den Platz und presst sich an die Rückenlehne des Beifahrersitzes. Sie sucht nach Tonys Hand. Findet sie, nass von Blut. »Wie schlimm ist es?« Er stößt einen Schrei aus, wütend über die Feuerbahn in seinem Körper. »Ist es noch weit bis zum Hafen?«, fragt Phil den Fahrer. Tränen brechen aus ihr hervor. Die Finger ihrer rechten Hand krallen sich in die Kopfstütze. »Solo pochi minuti«, antwortet der Fahrer. Sein T-Shirt ist von Tonys Blut gesprenkelt. Seine Hände umklammern das Lenkrad, zittern, obwohl sie fest zupacken. »In jedem Hafen gibt es einen Doktor«, sagt Gwizdek. »Ich schaff s schon«, flüstert Tony. »Klar schaffst du das.« Phil hält weiter seine Hand, versucht, nicht weinerlich zu klingen, ihr Entsetzen zu verbergen. Den Taumel. »Bleib bei mir.« Sie schaut zu Gwizdek. Er beugt sich wieder nach vorne, betrachtet Tony. Als er sich wieder zurücklehnt, blickt er an ihr vorbei. Seine Finger huschen über sein Gesicht, als wollten sie es für einen Moment bedecken. 236
Sie schließt die Augen. Öffnet sie. Schließt sie. Drückt Tonys Hand und spürt den Schmerz. Den Teil, der für sie bestimmt ist. Das Ospedale Civile verschwindet hinter der nächsten Biegung. Die Taxis halten fast gleichzeitig an den Parkplätzen vor der Zollschranke. Ich springe mit Lidia aus dem Wagen, der sofort wendet und in die Stadt zurückfährt. Der Fahrer des anderen Taxis steigt aus und rennt weg, ohne sich umzublicken. Ich halte die zurückschwingende Tür fest und beuge mich ins Wageninnere. Phil sitzt in Tonys Blut. Sie muss während der Fahrt über den Sitz geklettert sein, um ihm näher zu sein. Jetzt schmiegt sie sich an ihn. Seine Augen sind geschlossen. Sie murmelt etwas, aber ich kann es nicht verstehen. Einen Wunsch? Eine Bitte? Lidia steht neben mir und starrt besorgt in den Wagen. Gwizdek steigt aus. »Er braucht sofort Hilfe«, sagt er ernst. Ich spüre, wie jemand hinter uns tritt, fahre herum. Ein Mann in dunkelblauer Marineuniform spricht mich auf Italienisch an, versucht an mir vorbei in den Fahrerraum zu schauen. »Ein Verkehrsunfall«, sage ich auf Englisch. »Wir haben einen Schwerverletzten.« »Er verblutet«, setzt Lidia hinzu. »Helfen Sie uns!« Der Zollbeamte wirft einen Blick auf Phil und Tony, schrickt zurück und gibt seinem Kollegen an der Schranke ein Zeichen, worauf sich der Schlagbaum hebt. Er deutet in die Richtung, wo ich vor einigen Stunden spazieren gegangen bin. »Sehen Sie das Rot-Kreuz-Zeichen?« 237
Ich nicke, schwinge mich auf den Fahrersitz und starte den Motor. Lidia und Gwizdek steigen hinten ein. Wir fahren die Molenstraße entlang, vorbei an den Fähranlegern und Schleppern. Ich schaue zu Tony hinüber. »War das Erdem?« Keiner antwortet. Als wir eine kurze Brücke erreichen, die den Porto Mediceo von den kleineren Hafenbecken trennt, bittet mich Phil anzuhalten. Das Blut steht in der Fußmatte, bedeckt das Gittermuster. Es schwappt hin und her. »Wirf das weg«, sagt Phil, sie reicht mir Tonys Bodybag. Zuerst begreife ich nicht, was das jetzt soll. Tony ist dabei abzukratzen, und Phil macht sich Gedanken über – über den Shit? Als ob das etwas an seinem Zustand ändern würde. »Schmeiß das verdammte Zeug ins Meer!«, schreit sie mich an. »Ja! Ich mach ja schon!«, schreie ich zurück, schnappe mir das Bodybag und steige aus. Ich gehe zu dem verrosteten Brückengeländer, hole Schwung und schleudere das Ding in den milchigen Himmel. Noch während es durch die Luft segelt, denke ich an das Geld in Gwizdeks Lederjacke. Dann an das Piercing, an Francesco in der Bar, an den Geschmack in meinem Mund, meinen Zähnen. An die Kotzerei in dem Hotel. An den Joint zwischen Pinos toten Fingern. Trotzdem bereue ich es ein bisschen. Es war guter Stoff, der beste, den ich je hatte. Für ein paar Tage hat er mich ganz schön auf Trab gehalten. Mich an Dinge erinnert, die zu klären waren. Die noch zu tun sind. Oder die niemals zu ändern sein werden. Mich aus der Zeit herausgerissen und mir gleichzeitig meine Zeit zurückgegeben. Das Bodybag hat den höchsten Punkt erreicht und beginnt zu fallen. 238
Den Verfall von The Airs konnte der Shit allerdings nicht aufhalten. Es scheint so, als sei die Stadt in den Wolken abgestürzt. Jedenfalls finde ich sie nicht mehr in meinen Gedanken, bin auch nicht in der Lage, sie in meiner Vorstellung erneut heraufzubeschwören. Im Zuge der Geschehnisse, die auf mich eingestürmt sind, dieser hochdosierten Realität, die weit über alles hinausgeht, was ich mir an Bildern auszumalen imstande bin, hat sie sich aufgelöst wie ein Hochdruckgebiet. Aus dem Westen nähern sich Ausläufer eines Tiefs, das in der kommenden Nacht über ganz Mitteleuropa hinwegziehen wird. Sill wird nicht mehr erscheinen können. Wenn sie überhaupt je gekommen wäre. Ich glaube, The Airs ist von Anfang an nichts für sie gewesen. Zu wenig los, da oben. Zu einsam. Zu abgelegen. Einfach zu weit weg. Das Bodybag klatscht auf das Wasser. Keine Ahnung, ob es schwer genug ist, um zu versinken. Ich wende mich ab und setze mich wieder hinter das Steuer. »Das war auch höchste Zeit«, sagt Lidia. Ich will ihr antworten, dass sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern soll, halte aber lieber den Mund und gehe wieder aufs Gas. Wir kommen an einer langen Reihe Segelyachten vorbei. Der Mast des Katamarans taucht auf, die anderen weit überragend. »Wir brauchen nicht mehr weiterzufahren«, sagt Phil tonlos. »Es ist vorbei.« Die Straße macht eine Biegung, bevor sie nach etwa hundert Metern am Hafenamt und der Rot-Kreuz-Station endet. Ich steuere den Wagen in die Kurve. »Hörst du? Tony ist tot! Halt die verfluchte Karre an!« Ich bremse, fahre rechts ran und stelle den Motor ab. Wir starren geradeaus, hören uns gegenseitig atmen. Von fern ist das Horn eines Fährdampfers zu hören, voll und tief, wie aus dem Bauch eines hungrigen Riesen. 239
Phil umklammert Tonys Pistole mit beiden Händen. Der Lauf zeigt auf den Boden. Neben ihr ein toter Körper, den sie bereits vergessen zu haben scheint. Mit weißen hervortretenden Knöcheln spannt sie den Hahn. Lässt ihn behutsam zurückschnappen. In diesen beiden Bewegungen ist alles, was sie mit Tony verbindet. Mein Mädchen ist die Waffe, die Tony spannte. Sie ist die Hand, mit der er sie umfasst hielt. Der Mumm, der ihn dazu brachte. Der Zweifel, der ihn zögern ließ. Und beide, Phil und diese Pistole, sind das Einzige, was von ihm übrig geblieben ist. Dem Mafioso, der wie einer aussah, aber keiner sein wollte. Nach einer Weile blicke ich auf den Weg zurück, den wir gekommen sind. Zwei silberne PKWs fahren gerade unter der Zollschranke hindurch und rollen langsam auf das Hafengelände. Sie bleiben stehen, als nähmen sie Witterung auf. Dann beschleunigen sie. Biegen auf die Molenstraße ein. »Sie kommen«, sage ich. Ohne den Kopf zu heben, spannt Phil wieder den Hahn. Gwizdek beobachtet die sich nähernden Autos, versucht, die Situation einzuschätzen. »Wir müssen raus hier.« Er verlässt den Wagen und überquert die Straße. Rasch folgen wir ihm. Während Phil auf meiner Seite aussteigt, fällt Tonys Leiche zur Seite. Das Letzte, was ich von ihm sehe, ist eine zähflüssige schwärzliche Masse, die aus der Wunde in seiner Brust quillt, glitzernd und funkelnd, als wären die Eingeweide mit Brillanten bestickt.
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30 Mein Gefühl hat mich nicht getrogen: die Werkhalle, Old Fashioned Boats. Gwizdek zieht die Schiebetür hinter uns zu. Mehrere Bootsrümpfe sind hier in zwei parallelen Reihen aufgebockt, manche eingerüstet. Zwischen den Gestellen liegt Werkzeug umher, Schleifmaschinen, Stichsägen, Stemmeisen. Der Boden ist mit feinem Holzstaub von den Schleifarbeiten bedeckt. In einer Ecke steht eine Batterie Farbtöpfe. »Sie haben Schnellfeuergewehre«, sage ich und klopfe gegen die Wellblechwand. Ein hohles Scheppern ertönt. In Augenhöhe verläuft über die gesamte Länge des Raumes eine verschmutzte Glasscheibenfront. Von den Metallrahmen blättert graue Farbe ab. Gwizdek dirigiert uns zu einem kleinen Büro. Es liegt am Ende der Halle, von der es durch ein paar grob zusammengenagelte Holzbohlen abgetrennt ist. Fotografien in rahmenlosen Bildhaltern hängen an der Wand. Sie zeigen Segelund Motorboote, jeweils vor und nach der Restaurierung, im Trockendock und auf See. Darunter stehen Namen: Il Gabbiano, La Torcia, La Venere. Die Aufnahmen sind nicht gerade professionell. Dennoch berühren sie mich. Die Linien der Boote. Ihre geblähten Segel. Die Bewegung, in der sie der Fotograf eingefangen hat. Als die ersten Schüsse die dünnen Wände durchschlagen, werfen wir uns auf den Boden. Erdems Leute machen es so ähnlich wie bei dem No-Global-Büro. Sie bestreichen das Gebäude der Länge nach und von oben nach unten, hüllen uns in eine Gewitterwolke aus Geschossen, die alles um uns herum zum Prasseln, Pfeifen, Jaulen, Bersten bringen. Die Bilder an der Wand zersplittern und regnen auf uns herab. Holzspäne, so lang wie Kindersärge, bohren sich in die Wände und werden von 241
den nachfolgenden Kugeln zerhackt. Unsere Deckung löst sich nach und nach auf. Wir pressen uns auf den Boden und wagen nicht mehr aufzuschauen. Du bist keine Bedrohung für mich. Dum-dum-dum trommeln die Einschläge in die Bootsrümpfe. Du kannst es auch anders haben. Die Wände zittern. Legt ihn auf den Boden! Dann verstummen die Gewehre. Wenn sie jetzt noch ein paar Handgranaten werfen, ist es aus. Aber ich höre kein verdächtiges Kullern, überhaupt kein Geräusch außer dem Ächzen von Holz. Der Beschuss geht nicht weiter. Das heißt wohl, sie kommen rein. Ich richte mich vorsichtig auf, Lidia neben mir. Aber Gwizdek und Phil sind verschwunden. In der Halle kann man kaum die Hand vor den Augen sehen. Die Luft ist dick von Holzstaub, die Boote sind nur als Schemen erkennbar. Und das einfallende Licht lässt die Konturen noch mehr verschwimmen. Ich ducke mich hinter einen der zerrupften Rümpfe, entsichere die Beretta, spanne den Hahn. Jemand macht sich an der Schiebetür zu schaffen. Ein Wunder, dass sie noch nicht aus ihrer Schiene gerissen wurde. Dann das Knirschen von Schritten. Schwer zu sagen, von wie vielen Personen sie stammen. Zwischen der Schiebetür und mir befinden sich vier oder fünf Boote, ich weiß es nicht mehr genau. Muss einen Hustenreiz unterdrücken. Mehrere Schüsse, kurz hintereinander, von weiter vorne. Die Antwort besteht aus einer Automatik-Salve, gemischt mit Einzelfeuer. Ein Schusswechsel. Ich schiebe mich um den Bug des Rumpfes herum und haste zum nächsten Boot. Stille. Ein metallischer Gegenstand schrammt über den Boden, worauf ein einzelner Schuss fällt. Wahrscheinlich ist Gwizdek da vorne. Ich spüre einen Lufthauch, der durch die geöffnete Schiebetür und die Löcher in den durchsiebten Blechwänden hereindringt. Der Dunst beginnt 242
sich etwas zu lichten, aber besonders viel ist immer noch nicht zu sehen. Viele Schritte jetzt. Sie nehmen Aufstellung, verteilen sich. Wo ist Phil, verdammt noch mal! Ich verlasse die Deckung und arbeite mich geduckt zum nächsten Rumpf vor, der von einem Gerüst umgeben ist. Den Mittelgang, der die beiden Bootsreihen voneinander trennt, wage ich nicht zu überqueren. Ich bücke mich und sehe auf der anderen Seite des Bootes jemanden kauern. Der Rücken einer Lederjacke. Ich klopfe dreimal gegen die Wandung des Bootes. Gwizdek erstarrt. Er wirft einen schnellen Blick über seine Schulter, lässt seine Waffe sinken und deutet nach rechts. Ich nicke. Während ich mich an der Bootswand entlangschiebe, höre ich Klopfgeräusche aus dem Inneren des Rumpfes. Ich fahre zusammen. Dann wische ich den Staub von einem Bullauge und erkenne Phil. Wachsam. Sie deutet in die andere Richtung, hält zwei Finger hoch. Scheiße, was soll das jetzt bedeuten? Dass zwei von Erdems Leuten drüben bei den anderen Booten sind, nehme ich an, muss ich annehmen, was anderes bleibt mir kaum übrig. Ich nicke und bewege mich weiter in die Richtung, die Gwizdek mir angegeben hat. Ein Blick unter dem Kiel hindurch sagt mir, dass er das Gleiche tut. Das heißt, auf unserer Seite müssen auch welche sein. Ich lehne mich an den Bug, spähe drunter weg. Vorne neben dem ersten Boot der Reihe sehe ich zwei Körper liegen. Gwizdeks Werk, wie es aussieht. Unser Boot ist das dritte in der Reihe. Hinter dem zweiten Boot nehme ich eine Bewegung wahr. Es ist der größte Pott in der Halle, keine Ahnung, wie sie den reingeschafft haben. Jetzt sehe ich Gwizdeks Kopf. Er muss den Mann hinter dem nächsten Boot auch bemerkt haben. In seiner Hand hält er einen Stecker. Rammt ihn in eine Verteilerdose auf dem Boden. Ohrenbetäubendes Kreischen zerteilt die Luft, schneidet sie in Scheiben. Eine Schleifmaschine, denke ich, während von überall 243
her Schüsse fallen. Ich springe hinter dem Boot hervor. Gwizdek ist direkt vor mir, die Waffe im Anschlag. Eine Kugel säbelt den Mann hinter dem großen Pott von den Füßen. Im Fallen richtet er ein Schnellfeuergewehr auf uns. Aber Gwizdeks nächste Kugel trifft ihn richtig, schleudert ihn nach hinten. Er rollt um die eigene Achse, bleibt liegen. Aus den Augenwinkeln sehe ich Phil im Heck des Bootes stehen. Ich fahre herum. Sie gibt einen Schuss nach dem anderen ab, feuert in die Richtung, in die sie vorhin gedeutet hat. Ich bemerke einen Mann zwischen den Booten auf der anderen Seite. Er läuft mir entgegen, hat seine Waffe erhoben, aber er zielt nicht auf mich, sondern schräg nach oben, auf Phil. Der Einschlag einer Kugel reißt ihre Schulter herum wie ein Fausthieb. Mit einem Seufzer sinkt sie zu Boden. Der Mann trägt einen Arm in einer Schlinge. Er schießt mit einer Hand. Deswegen braucht er vielleicht ein bisschen länger, als er es gewohnt ist, um seine Pistole auf mich zu richten. Ich mache es, wie Tony es mir gesagt hat. Die Waffe von oben nach unten ins Ziel sinken lassen. Druckpunkt finden. Abdrücken. Der Rückstoß reißt meinen Arm hoch. Ein bisschen lockerer halten. Mit den ausgestreckten Armen zielen. Das Ganze noch mal. Samir prallt gegen eine Bootswand. Er schwankt. Meine nächste Kugel schwirrt irgendwohin, vorbei. Als er mir wieder seine Breitseite zuwendet, gebe ich mir richtig Mühe. Visiere eine Stelle auf seiner Brust an. Lasse die Kugel losfliegen. Wünsche sie ihm ins Herz. Ein Ruck geht durch seinen Körper. Er kippt nach vorne und schlägt hin. Ich springe auf das Gerüst und von da über die Reling. Höre weitere Schüsse. Schlagartig verstummt der Lärm der Schleifmaschine. Ich stolpere an dem Steuerhaus vorbei. Verheddere mich in einer losen Leine, während ich sehe, wie sich Phil hochrappelt, ihre Schulter befühlt, schwer atmet. Das Kevlar, denke ich. Danke, Gwizdek. Dann schließt sie wieder die Faust um ihre Pistole. Sie beugt sich über die Reling auf der 244
anderen Seite, die Hand mit der Waffe vorneweg. Ihr Rücken wird steif. »Lass sie fallen!« Erdems Stimme. Im Befehlston. »Weg damit!« Er klingt beunruhigt. Phil verharrt in ihrer Position. Es sieht aus, als lehnte sie sich über Bord, um ein Netz oder eine Boje oder irgend so einen Kram einzuholen. »Viktor! Hörst du mich?« Ich kauere mich hinter das Steuerhaus, halte mich an der Beretta fest. Der Staub beißt mir in den Augen. »Ich weiß, dass du irgendwo da drüben bist.« Er weiß einen Scheiß. »Euer Beschützer ist tot.« Gwizdek? Er lässt die Worte wirken. »Komm raus und ergib dich! Sonst erschieße ich das Mädchen.« Ich schaue mich hektisch um, suche nach einer Möglichkeit, unbemerkt an ihn ranzukommen. »Warum tust du’s nicht sofort?«, höre ich Phil sagen. Das Klappern einer Waffe auf dem Boden. Sie scheint ihre Pistole fallen gelassen zu haben. »Glaubst du mir immer noch nicht, dass ich deinen Bruder umgebracht habe?« Schweigen. »Das böse Mädchen hat dich angelogen. Damit du es durchvögelst.« Sie spricht mit einer Kinderstimme, die ich noch nie von ihr gehört habe. Sie reizt ihn. »Tony konnte ihn nicht töten.« Ihre Stimme wird wieder normal. »Darum hab ich’s getan. War ganz einfach.« Wenn sie so weitermacht, geht das übel aus. Ich steige über die Reling, klettere von dem Gerüst herunter und trete an den 245
Bug des Bootes, immer noch in Deckung. Der Lauf der Beretta zeigt auf den Boden. »Okay, Erdem, ich komme.« Zwei Schritte und ich stehe ihm gegenüber. Eine Bootslänge zwischen uns. Kernschussweite, hab ich irgendwann mal gehört. Phil hat sich aufgerichtet und schaut auf Erdem herab. Er hat zwei Pistolen. Mit der einen bedroht er Phil. Die andere ist auf mich gerichtet. Gwizdek sitzt mit dem Rücken an dem Gerüst, als ob er schliefe. Sein Gesicht ist Erdem zugewandt, die Augen sind geschlossen. Er hält seine Pistole noch in der Hand, die Lederjacke steht offen. Mehrere Einschusslöcher zeichnen sich auf seiner Brust ab. Zerfetzte Geldscheinbündel saugen das Blut auf. Ein Zucken in meinem Arm. »Tu das nicht.« Erdem ist ganz cool, überhaupt nicht beunruhigt. Steht mit ausgebreiteten Armen da, wie ein Personal Jesus. Einer mit dem Tod in seinen Fäusten. »Hab ich eine Wahl?«, gebe ich zurück. Nicht denken, einfach handeln. Das hilft. Der Holzsplitter bohrt sich von hinten durch Erdems Bauch, eine lange gezackte Klinge. Seine Arme fallen nach unten wie bei einer Gliederpuppe, Schüsse lösen sich aus seinen Waffen. Er sinkt auf ein Knie nieder, betrachtet die Spitze des Splitters, die aus seinem Körper ragt. Lidia zieht die Hände zurück und schlägt ihm mit zwei schnellen Fußtritten die Pistolen aus den Händen. Er wankt, hält aber die Balance, beobachtet, wie Phil sich von dem Gerüst herunterschwingt und vor ihm auf dem Boden landet. Ich bin jetzt dicht neben ihr. Sie bückt sich und hebt die Pistole auf, die sie fallen gelassen hat. Richtet sie auf Erdems Kopf. Hält inne. Plötzlich greift sie mit einer Hand an ihre Brust, als suche sie nach etwas. »Bist du verletzt?«, frage ich besorgt. 246
Sie schüttelt den Kopf, aber ich sehe, dass in ihrem Gesicht ein Schmerz nagt, so tief wie ein Fluss. »Na los!«, röchelt Erdem. Von fern sind Sirenen zu hören. In Italien klingen sie wie in amerikanischen Filmen. Phil macht einen Schritt nach vorn und setzt Erdem den Lauf auf die Brust. »Mach schon!« Sein kalter Blick. »Du warst gar nicht so schlecht im Hotel. Ich hoffe, das tröstet dich, wenn ich dir gleich mitten in die Fresse schieße.« Er spuckt sie an. Auf eine Stelle an ihrem Bauch. Sie scheint es nicht wahrzunehmen. »Wenn du Tony am Leben gelassen hättest, würdest du jetzt nicht da knien. Aber du wolltest ja deine Rache. Jetzt kriegst du sie.« Ein leises Geräusch lässt mich herumschnellen. Gwizdek hat die Augen aufgeschlagen. Seine Lippen bewegen sich. Ich lege Phil eine Hand auf die Schulter. Sie horcht auf, ohne sich umzudrehen. Es sind polnische Wörter, ein weiches Verschleifen der Silben, wie wenn zwei Menschen miteinander tuscheln. Sie formen sich zu einer brüchigen Tonfolge, auf- und absteigend, Tapp-Tapp-Tapp, Tapp-Tapp-Tapp. Als ich zu ihm eile, bricht die Melodie ab. Gwizdeks Mund ist leicht geöffnet. Er spricht nicht mehr. Phil atmet heftig aus, gibt dabei einen Schluchzer von sich. Sie nimmt die Hand von ihrer Brust, lässt den Arm mit der Waffe sinken und legt den Kopf in den Nacken. Eine Weile steht sie so da. Als ob sie die Delinquentin wäre, die es gleich treffen wird. Dann zieht sie Erdem die Pistole über den Schädel. Einmal. Er bricht zusammen. Noch einmal. Mit beiden Händen. Sie spannt den ganzen Körper an, zieht voll durch. Holt erneut aus.
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Ich falle ihr in den Arm und zerre sie weg. Phil lässt es geschehen. Das Wasser im Hafenbecken ist wärmer, als ich gedacht habe. Wir lassen uns neben dem Katamaran hineingleiten und hangeln uns an den vertäuten Booten entlang, weg von den Carabinieriund Polizeiwagen, die an der Zollschranke auftauchen, weg von den Toten, den Schmerzen, dem Unglück, weg von der Sühne, der Rache, den Geständnissen, weg von den zerspringenden Herzen und dem ganzen eingebildeten Dreck. Weg.
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Epilog Ein purpurner Sonnenaufgang, davor eine Reihe Zypressen. Die Beretta liegt neben mir auf dem Beifahrersitz. Im Radio spielen sie All I Need von Air. Ich schlage den Takt auf dem Lenkrad mit, nehme einen Schluck Kaffee. Für einen Moment bekomme ich Lust auf eine Zigarette. Aber ich hab schon vor ein paar Monaten mit dem Rauchen aufgehört und das kiepige Gefühl legt sich wieder. Stattdessen mache ich meine Atemübungen. Es ist sieben Uhr dreißig am Morgen, genau seine Zeit. Der Eingang zur Villa liegt etwa hundert Meter von der Einmündung entfernt, an der ich den Wagen geparkt habe. Ich habe damals nicht gewusst, was kommt, habe mit allem gerechnet. Dass er mich totmacht. Dass er mich vollpisst. Dass er oder einer seiner Leute ihre Schwänze in mich reinstecken. So in dieser Reihenfolge. Aber dann ist er einfach gegangen. Hat mich auf dem Parkett liegen lassen und ist rausgegangen. Vielleicht war das aus seiner Sicht ein Akt der Gnade. Schließlich war ich nur der Ex seiner tragischerweise verunglückten Ex. Leute wie Ferro überlegen sich genau, wen sie umbringen. Ich war ihm wohl zu unbedeutend. Und zu ungefährlich. Eines Mordes auf seinem eigenen Grund und Boden nicht würdig. Ein wenig meinen Körper zu demolieren, reichte ihm aus. Ich sollte mich einfach wieder verziehen, verschwinden wie ein lästiges Insekt, das sich bei geöffnetem Fenster ins Schlafzimmer verirrt hat. Was ich auch tat. Nach einiger Zeit richtete ich mich auf und verließ das Grundstück auf dem Weg, den ich gekommen war. Über die Mauer, die, wie ich sehe, mittlerweile von einer Stacheldrahtrolle gekrönt ist. All in all there’s something to give. All in all there’s something to do. All in all there’s something to live, singt Beth Hirsch und 249
fügt hauchend hinzu: With you. Das Lied würde Lidia gefallen. Falls sie noch Lounge-Geplätschere hört, seit sie bei der deutschen Sektion von Attac angeheuert hat. Sie organisiert jetzt Demos, was sich kaum von dem unterscheidet, was sie vorher gemacht hat. Sogar Phil hat eine Zeit lang bei Attac mitgemacht. Dann ist sie bei einem Hochbegabtentest durchgerasselt, mit Absicht, nehme ich an, und hat sich für das erstbeste Highschool-Stipendium entschieden, das zu kriegen war, irgendwo im amerikanischen Mittelwesten. Oder war’s Kanada? Jedenfalls bleibt sie jetzt für ein Jahr da drüben und wird sich bald wieder melden, zumindest hat sie das versprochen. Die Mädchen machen sich nützlich. Ihr Problem. Tony und Gwizdek sind unter der Erde. Nachdem sich Aldo Remo von seinen Verletzungen erholt hatte, richtete er die Beisetzung seines Sohnes aus. Wegen der vielen Zivilfahnder konnten Phil und ich nicht hingehen. Phils Verhältnis zu den Remos ist ohnehin merklich abgekühlt. Zu einer Aussprache kam es nie. Eine Zeit lang hat sie das belastet. Aber jetzt ist sie drüber weg. Gwizdeks Leiche wurde in seine Heimat nach Allenstein überführt. Von seiner Tochter Ada. Als ich sie in Frankfurt getroffen habe, wurde mir einiges klar. Sie ist Anfang zwanzig, lebt in Warschau. Der Kontakt zu ihrem Vater war abgerissen, weil Gwizdek alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte – eine unvermeidliche Killerregel. Mit Phil hat Ada nicht viel Ähnlichkeit, aber jetzt kann ich mir zumindest vorstellen, was in dem großen Kerl vorging. Worunter er litt. Was ihn antrieb. Bei wem sein Schweigen war. Die Stahltür gleitet zur Seite. Zwei Bodyguards erscheinen, ganz in Schwarz. Scheint eine Art Uniform zu sein. Dann kommt Ferro mit seiner verschissenen Töle. Deutscher Schäfer, was sonst? Hier geht’s ja zu wie auf dem Obersalzberg, denke ich, trinke den Kaffeebecher leer und schalte das Radio aus. Für eine Sonnenbrille ist es eigentlich zu früh am Tag. Aber meine 250
neue Gucci ist nicht so stark getönt wie die alte. Ich überprüfe den Sitz im Rückspiegel. Schließlich muss ich eine gute Figur machen, wenn ich Ferro wieder begegne. Das bin ich mir schuldig. Ich fahre los. Lasse die Scheibe auf der Beifahrerseite per Knopfdruck herunter. Elektronische Fensterheber waren die einzige Bedingung, als ich den Wagen gemietet habe. Ist ja inzwischen kein Luxus mehr, gehört zur Grundausstattung. Ach ja, und die Seitenfenster sind ziemlich groß. Es ist überhaupt ein großer Wagen. Gibt mir ein Gefühl von Schutz. Und ein vernünftiges Schussfeld habe ich dadurch auch. Ich schiebe den Sicherungshebel nach oben. Hier. Probier’s. Der rote Punkt wird sichtbar.
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