Rudolf Wolter
ALLES LÜGE? Ein Weihnachtsbuch
Rudolf Wolter
ALLES LÜGE? Ein Weihnachtsbuch (2005)
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littera scripta manet
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. Ausgabe, November 2005 © Rudolf Wolter 2005 für den Text © Luis Höger 2005 für das Titelbild © eBOOK-Bibliothek 2005 für diese Ausgabe Das Titelbild zeigt eine Höger-Krippe, entworfen und geschnitzt von Holzbildhauer Luis Höger (http://www.bildhauer-hoeger.de).
Inhalt Alles Lüge? Advent, Advent … Adventslicht Ein Stück vom Stern Fünf oder mehr Warum der Nikolaus nur zu den Kindern kommt Vier Wochen Zeit zum Vertragen Mareille sucht Weihnachten und findet es auch Wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren Eine Frau steigt aus Heimlichkeiten Christiane spielt nicht mit Rolands Spielzeug Wo sind nur die Lichter? Die schönsten Tage im Jahr Das betriebsbedingte Weihnachten Der blaue Planet Das ganz andere Weihnachten Eigentlich hatte er mit der Kirche nichts im Sinn Der Stern zieht weiter Der verwünschte Weihnachtsbaum Ein frommer Wunsch Menschen hinter dem Zaun Der verlegte Schlüssel
Die Menschen in Dosen … Die schlimme Geschichte von Weihnachten Ein kleines schwarzes Mädchen Kein Ersatz für Weihnachten Lucies Wahrheit Josephs Tod Man muß doch einmal tief atmen können Nur Papier Marzipankartoffeln Um der Hirten willen Weihnachten läßt sie kalt Wie Christoph mit Weihnachten anfängt Wie stark doch ein Licht ist Krippenspiele • Erstes Krippenspiel • Zweites Krippenspiel • Drittes Krippenspiel
Alles Lüge? Eine weihnachtliche Geschichte zu 2. Korinther 1, 18 – 22
Der letzte Schluck Bier schmeckte bitter und schal. Aber das lag nicht an der Brauerei und nicht am Ausschank. Es waren auch nicht die Biere davor, die den schlechten Nachgeschmack verursachten. Das Gespräch war schuld, mein Freund war schuld. Der bittere Klang seiner Stimme, seine gallige Abrechnung war’s. Wir hatten über Gott und die Welt geredet, wie man es eben macht, wenn man sich mit einem Freund nach langer Zeit einmal wieder zum Bier verabredet. Wir waren uns bei vielen Themen einig, wie früher auch schon, er hatte sich wenig verändert, aber dann wechselte der Wirt die heruntergebrannte Kerze des kleinen adventlichen Gestecks auf dem Tisch. In wenigen Tagen war Weihnachten. Wir sollten auch etwas davon haben. Als die Flamme der frisch angezündeten Kerze so langsam zu Kräften kam, brach es aus meinem Freund hervor. Mit einer heftigen zornigen Armbewegung wischte er die Tannenzweige samt Adventslicht von Tisch. „Alles Lüge, alles Lüge!“ belferte er. Ich erschrak, sah mich ängstlich um, ob die anderen Gäste diese Verachtung, diese Wut in seiner Stimme gehört hatten. Doch ringsum lachten nur freundliche Gesichter, allein das Mädchen, das einsam am Ecktisch saß, schaute ungerührt ernst in sein Glas Guinness, wie sie es schon den
ganzen Abend getan hatte. Niemand hatte das Attentat auf die vorweihnachtliche Stimmung mitbekommen. Und dann erzählte er. Wie sie sich alle unter dem Tannenbaum träfen und mit süßlichem Lächeln „Frohe Weihnachten!“ wünschten und allen Schmutz unter den Teppich gekehrt hätten, jeden Streit aus dem Weg gingen, aber nur für diesen einen Abend, schon am nächsten Morgen ginge das Gezänk und der Betrug weiter. Seine Kinder würden sich über die diesmal schmäleren Weihnachtsgeschenke aufregen, seine Frau würde sich bei ihren Freundinnen über sein Versagen beklagen, seine Schwiegereltern versicherten ihrer Tochter, sie wäre ihnen die Liebste, aber das Geschäft bekäme doch der Älteste, schließlich sei er ein Mann, was man nicht von jedem sagen könne … Ja, verlogen alle, genau wie sein Chef, der ihn noch vor einem Jahr als besten Verkäufer geehrt hatte, und nun hatte er seine Papiere bekommen. Das Geschäft verkauft — und niemand hatte eine Ahnung davon gehabt. Mitte fünfzig arbeitslos, das war doch hoffnungslos. Und die mitleidigen Gesichter der anderen, ihre Beileidsbekundungen, ihre Trostversuche. Er wäre doch ein geborener Verkäufer, er hätte es doch zu etwas gebracht, aber er sah hinter ihren Stirnen das unausgesprochene Wort: Loser! Er freue sich schon auf die Ansprache des Kanzlers zum Heiligen Abend, ob wohl dieser Kanzler mit weniger Lügen auskäme als sein Vorgänger? Etwas tun gegen die Arbeitslosigkeit, das sagten sie alle, und er zählte nur die vier Millionen, die ihn bisher nichts angingen. Sie lügen alle, wie in der Werbung, bei der einem speiübel werden könne, wenn man es ansähe in diesen Wochen vor Weihnachten, all dieses Glück durch unsinnige
Produkte, er hatte ja jetzt Zeit genug, das Fernsehen anzuschalten, sie lügen alle, und er selbst auch, wenn die Nachbarn ihn sahen, wie er in seinen Golf stieg, den er sich erst im Februar gekauft hatte und den er sich eigentlich nicht mehr leisten könne. Ich wollte ihn nicht vorschnell mit billigen Worten besänftigen. Ich hob nur das Gesteck vom Boden auf und entzündete die Kerze aufs neue. Und ich versprach, ihn bald anzurufen, zwischen den Tagen vielleicht oder auch eher. Auf dem Heimweg durch die regnerischen Straßen mit dem bitteren Geschmack im Mund ging es mir durch den Kopf. Hatte er nicht recht, mein vergrätzter, enttäuschter Freund? Oder stahl er mir nur in der Maske des Freundes meine Weihnachtsfreude, die mich ein Leben lang begleitet hatte? Der warm leuchtende Weihnachtsbaum mit seinen bunten Kugeln, dem glitzernden Lametta, den Kringeln aus Fondant und Spritzschokolade, und die weiß-rot-beperlten standen vor meinen Augen. Ich sah mich auf der Erde liegen und mit dem Mountainexpress spielen, einem lärmenden Blechspielzeug aus Nachkriegstagen, ich sah mich später den langen Flur entlangrutschen mit dem ersten Fernlenkauto, einem Porsche, die großen Weihnachtsgeschenke der Kindheit. War gelogen, was Mutter sich von ihrer Rente absparte, und sie brauchte zwei Jahre, um sich einen neuen Mantel leisten zu können? War es gelogen, wenn uns bei der Bescherung nie die Frage gestellt wurde: Bist du auch immer artig gewesen? Erst als Helfer im Kindergottesdienst lernte ich verstehen, warum auch die ungezogenen Kinder Geschenke bekommen, trotzdem, und eben dies der Sinn der Weihnacht sei, trotzdem. War das Lüge?
Die verbitterten Worte meines Freundes hatten mich erschüttert, ohne Frage. Es war mir, als ob das feste Pflaster unter mir wankte. Alles Lüge. Alles Lüge. Gibt es unter unseren Füßen denn keinen festen Grund mehr? Die Bilder von den letzten Erdbeben geisterten vor meinen Augen, die schiefstehenden Häuser, die zusammengebrochenen Gebäude, die weinenden und schreienden Menschen, die keinen festen Boden mehr unter ihren Füßen hatten. Ist das unsere Lebenswirklichkeit? Eine Erde, die sich schüttelt, um uns loszuwerden, bodenlose Verzweiflung und hilfloses Erschrecken? Gibt es denn nichts anderes? Ich dachte an meinen Konfirmationsspruch, der mich all die Jahre enger begleitet hatte, als ich es je von einem Satz erwartete. „Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“ Später, wenn ich Grund hatte zur Angst, wenn ich mit Recht verzweifelt war, dann hörte ich diesen Satz, und ich hörte das weihnachtliche „Trotzdem“ dahinter klingen. Ich mag dich trotzdem. Ohne dieses Versprechen hätte ich mein Leben nicht durchgestanden. Das war der Boden unter meinen Füßen, eine unerschütterliche Zuversicht kam aus diesen Worten. Ohne dieses „Trotzdem“ könnte ich doch vor keinen Spiegel treten. Aber konnte man sich ernsthaft darauf verlassen? Vor dem Schaufenster des Blumengeschäftes blieb ich stehen. Tannengrün und rote Kerzen und Bänder, Amaryllis in weißer und rotglühender Pracht, silberne Kugeln spiegelten die Straße und meine Gestalt verzerrt. In der Ecke war eine Krippe aufgebaut, alles war da: Ochse und Esel, Maria und Joseph, die knienden Hirten, der Stern und die Könige auf ihren Kamelen und eben die Krippe, das kleine Kind in
dem Futtertrog. Alles Lüge? Dieser kleine Mensch in dem Futtertrog, er wenigstens stand für sein Wort. Das steht fest. Er blieb bei seinem Wort, als sie ihn alle verließen, als selbst seine Freunde schliefen. Er blieb standhaft in den Verhören, er starb aufrecht am Kreuz. Auch er hatte seine Zweifel, gewiß, fühlte sich von Gott verlassen, aber er überwand diese Schwäche. Und nur weil er den festen Boden unter seinen Füßen spürte, feiern wir nach zweitausend Jahren noch dieses Fest. Auf dem Dach des kleinen Stalls schwang ein Engel ein Spruchband. Ich konnte die Schrift nicht entziffern, aber ich stellte mir vor, es stünden darauf die Versprechen, die in dieser Nacht gemacht wurden. Sind sie denn wahr geworden? Wo ist der Friede geblieben, der bei allen Menschen sein soll? Unter meinen Kinderbüchern ist auch eines von der Kriegsweihnacht 943, und noch nicht einmal diese Erinnerung verhinderte einen neuen Krieg in Europa. Der löcherige Stall, das Kind in der Krippe, der Ruf an die Hirten, all das singt das Hohe Lied der Armut. Haben wir sie besiegt? Wie viele Kinder in unserem Land feiern Weihnachten von Sozialhilfe und wie viele Kinder verhungern oder müssen ihre Körper verkaufen? In einem schwachen Kind erscheint der Herr der Welt. Aber wie viele Kinder wurden von den Herren der Welt vergast und von Tretminen verkrüppelt? Sind die vor dem Kind auf die Knie gefallenen Könige nicht auch eine Lüge? Wann werden schon einmal die Mächtigen vom Thron gestürzt? Wir warten noch immer darauf. Ich wandte mich ab von dem Schaufenster und der Krippe und lauschte in mich hinein. In mir erklangen plötzlich Weihnachtslieder, trotzdem. Das ist es eben. An diesem „Trotzdem“
liegt es. Wir feiern trotzdem Weihnachten. Auf das Wort eines Freundes muß man sich verlassen können. Er hat sein Wort gehalten, nun liegt es an uns. Er hat uns Frieden geschenkt, nun müssen wir den Frieden schließen. Er hat uns reich gemacht, nun müssen wir die Armut tilgen. Er stärkt uns den Rücken, nun müssen wir den Schwachen unsere Hand reichen. Es ist nur dann alles Lüge, wenn wir nicht die Wahrheit sagen. Ich werde ihn anrufen, meinen mutlosen Freund. Ich werde ihm dieses Wort sagen, das mein Leben beherrscht hat. Es ist nicht mein Wort. Es ist das Wort, in dem Weihnachten und Ostern zusammenfallen. Es ist Gottes Wort: „Trotzdem“.
Advent, Advent oder
Das schrecklich schöne Warten auf Weihnachten Wer kennt es nicht? Jeder kennt es. Mike kennt es auch. „Advent, Advent, ein Lichtlein brennt, erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, dann steht das Christkind vor der Tür.“ Mike kennt es sogar noch anders. „Advent, Advent, ein Lichtlein brennt, erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, und wenn das fünfte Lichtlein brennt, dann hast du Weihnachten verpennt.“ Mike weiß nicht so ganz genau, was „verpennt“ bedeutet, aber das muß etwas Lustiges sein. Von diesem Vers hatte Mike auch seine Idee. Es war ja nicht mehr auszuhalten mit der Spannung. Zuerst lagen in Papas Zeitung Spielzeugprospekte. Die bekam immer Mike. Er konnte sie immer wieder anschauen, Bild für Bild. Und er konnte sich vorstellen, wie alle diese schönen Dinge einmal unter dem Christbaum lagen. Dann sah er immer öfter in der Werbung, heimlich natürlich, wenn Mama in der Küche war und vergaß, nach der Sesamstraße den Fernseher auszuschalten, dann sah er also in der Werbung tolles Spielzeug mit lauter lachenden Kindern. Er wollte auch lachen. Mit neuem Spielzeug gibt es keine Langeweile mehr. Bestimmt nicht. Dann kam auch noch Mama und sagte, er solle mal einen Wunschzettel malen. Malen mag Mike nicht, aber kleben. So
schnitt er aus den Prospekten alles aus, von dem er glaubte, er könne es gebrauchen. Am meisten wünschte er sich die Weltraumstation mit den Wesen von anderen Sternen. Er schnitt alles aus — gar nicht so leicht ist das, wenn man nichts abschneiden möchte — und klebte es auf einen weißen Bogen. Die Klebe war noch abends an seinen Fingern und ging ganz schwer ab. Von jetzt ab war dies Mikes liebste Frage: „Wie lange ist es noch bis Weihnachten? Wie viele Tage noch? Wie oft muß ich noch schlafen?“ Er fragte es immer wieder. Er fragte Mama und Papa, er fragte Oma und Opa, er fragte Christel im Kindergarten. „Wie lange ist es noch bis Weihnachten?“ Dann gab es den Adventskalender. Eine Tür für jeden Tag, und hinter jeder Tür war eine Leckerei. Doch erst der Adventskranz brachte ihn auf seine Idee. Jeden Morgen zündet Mama eine Kerze an. Heute morgen sogar zwei. Jede Woche eine mehr. Advent, Advent … Wenn es so ist, denkt Mike, wenn es so ist … Die Streichhölzer liegen im Bücherregal, ganz oben, aber wozu gibt es Stühle? Auf Stühle kann man klettern, dann ist man ganz groß. Das Anzünden ist gar nicht so einfach, wenn man sich nicht brennen will. Man muß sie ganz hinten anfassen, aber dann reibt es sich schlecht an der Schachtel. Aber es klappt. Die erste Kerze brennt, die zweite brennt, die dritte, er muß mit beiden Backen pusten, ih, ist das heiß, er muß noch ein neues Streichholz nehmen, die vierte brennt. Jetzt ist es soweit. Mit klopfendem Herzen geht Mike zur Tür. Aber da steht niemand davor. Erwachsene lügen. Das steht fest. Oder muß er erst noch die Türen im Adventskalender aufmachen? Das ist
auch schnell getan. Nur der Mund ist so voll mit Schokolade. Er muß sich noch etwas aufheben, sonst kann er gar nicht kauen. Aber wieder steht niemand vor der Tür. Die Erwachsenen lügen. Das muß er Mama sagen. „Ihr lügt alle. Alle lügt ihr.“ Mama sieht die brennenden Kerzen und den Adventskalender mit den offenen Türen. Mike hält ihn in der Hand. „Es wird gar nicht Weihnachten“, sagt Mike. Mama versteht. „Auf Weihnachten muß man warten“, sagt Mama. „Maria hat auch gewartet, neun Monate hat sie gewartet, bevor das Christkind kam.“ „Ich will nicht warten“, sagt Mike. Jetzt hält Mama eine Rede. Wenn es schwierig wird, hält Mama immer Reden. „Auf Weihnachten muß man warten“, sagt sie. „Und das ist das schönste Warten überhaupt. Wir sitzen zusammen vor dem Adventskranz, wir essen leckere Kekse, morgen wollen wir auch welche zusammen backen, übermorgen kommt der Nikolaus, morgen mußt du schon die Schuhe rausstellen, aber sie müssen vorher noch geputzt werden, hörst du, wir erzählen uns Geschichten von Weihnachten früher, die du so gerne magst, wir reden von deinen Wünschen, nächste Woche holen wir einen Tannenbaum, wir schmücken ihn dieses Jahr zusammen, du bist ja schon groß. Und weißt du, was am schönsten ist? Wir überlegen, was wir den anderen schenken können, weil wir sie lieb haben. Hast du schon deine Geschenke für Oma Hamburg und Oma Kiel?“ Mike hat sie noch nicht fertig. Er will Bilder kleben für seine Omas. Opa Hamburg kriegt zwei Hustenbonbons in Goldpapier eingewickelt. Den Opa Kiel gibt es nicht mehr. Der kriegt nichts. Mike hat etwas verstanden. Zu keiner Zeit im Jahr gibt es jeden Tag so leckere Kekse. Zu keiner Zeit im Jahr klopft
das Herz so schön, wenn die Kerzen angezündet werden, und Mama zum Kaffee ruft, zum Kaffee mit warmem Kakao. Es könnte auch sein, daß Mama etwas weniger schimpft in dieser Zeit. Sie hatte noch gar nichts gesagt zu den vier brennenden Kerzen, obwohl sie sonst immer schimpft, wenn er Streichhölzer anzünden möchte. Es gibt auch ein schönes Warten. Sonst lag er nicht jeden Abend im Bett und sah all die schönen Dinge vor sich, die er sich wünschte. Wünschen ist schön. Es wird einem dabei ganz warm in der Brust und man kann sein Herz schlagen hören. Mike sieht auf die brennenden Kerzen. Ja, so ist es. Im Dämmerlicht der Stube scheinen sie ganz hell. Das Licht erinnert ihn an den Christbaum. Wenn die Kerzen am Christbaum brannten, machte Mama immer das große Licht aus. Der Christbaum war hell genug. So ist es mit Weihnachten. Es wirft sein Licht voraus. Es strahlt auf alle Tage vorher und hinterher. Es macht alles hell. Noch immer sagte Mama nichts zu den brennenden Kerzen. Sie sagte nur: „Warten und Wünschen ist so schön. Manchmal ist es schade, wenn es soweit ist. Wollen wir nächste Woche mal in die Stadt fahren und all die Weihnachtslichter sehen?“ Da war schon wieder etwas zum Freuen. Mama ging bestimmt mit ihm in alle Spielzeugabteilungen. Es stimmte. Warten ist schön.
Adventslicht
Langsam kroch das Grau des beginnenden Abends durch das Fenster ins Zimmer. Die Straßenlaternen setzten goldleuchtende Kronen auf, die harten Konturen des Bettgestells und des Schrankes verschwammen zu weichen Linien, der trokkene Blumenstrauß formte sich zu einem geheimnisvollen Gespinst. Sie liebte die Stunde vor der Nacht, die wachsende Dämmerung, die das matte Grau des Tages in das beruhigende Blau der Nacht verzauberte. Das war immer die Stunde des Gespräches gewesen, damals am Küchentisch, wenn man sich näher kam, wenn die Herzen sich zu öffnen schienen, als wäre alle Härte des Tageskampfes vergessen und vergeben. Damals, als die Kinder noch klein waren, damals, als Maxl selig noch lebte, damals, als sie noch eine Familie hatte, damals, als alles gar nicht so einfach war, denn in Maxls Lohntüte war nicht immer genug drin, und es war so viel Arbeit, das Waschen, das Bügeln, das Flicken, das Nähen, und sie wußte oft nicht, was sie auf den Tisch bringen sollte, damals war das eine schöne Zeit. Auch Schweres kann schön sein, jawohl, auch wenn sie es heute nicht wahrhaben wollen, auch Schweres kann schön sein. Damals waren die Taschen so schwer nach dem Einkauf, und alles zu Fuß, die Kartoffeln und die
Milch, was haben die für Milch getrunken damals, sie hätte sich manchmal einfach in einen Vorgarten fallen lassen und einschlafen können, einfach so einschlafen, so müde war sie gewesen, so lang waren ihr die Arme geworden vom Schleppen, aber wie war es doch schön, das nach Hause zu tragen, wovon sie leben würden, wieder einen oder zwei Tage würden leben können. Es ging ja manches Mal nur mit Anschreiben, wenn der Kaufmann es wollte, der Schlachter tat sich am schwersten damit, aber Fleisch brauchte man auch nicht jeden Tag. Heute mochte sie gar kein Fleisch mehr. Auspacken und Wegräumen — das war immer wie ein kleines Fest gewesen, als ob sie die Sachen geschenkt bekommen hätte, obwohl doch der Maxl selig schwer hat arbeiten müssen dafür, ziemlich schwer, so daß er dann verbraucht war, als es hätte schön werden können für sie beide, aber da waren dann nur noch die Kinder. Langsam kroch das Grau des beginnenden Abends in ihr Zimmer. Die Kinder kamen auch nur noch selten. Kein Wunder, da sie doch ausgeflogen waren in alle Welt, kaum daß sie flügge waren. Das müßt ihr selbst wissen, hatte Maxl selig gesagt, was für euch gut ist, das müßt ihr selbst wissen, das ist euer Leben. So waren sie nun verstreut über die Welt, in München, in Berlin, in Rom und in Amerika. Nur die Irmtraut war noch in Hamburg, aber sie hatte es auch schwer genug ohne Mann und dazu die drei Kinder, der Beruf und die Sorgen um den Ältesten, der die Hand nicht von der Flasche lassen konnte und nun wohl auch noch Drogen nahm, nein, die Irmtraut hatte genug zu tun und den Kopf voll, und sie kam immerhin jede Woche, wenn auch nur kurz, aber das konnte ihr keiner verdenken. Und die Enkel — nun ja, was sollen die mit einer
alten Frau schon anfangen, die haben doch ganz andere Probleme in dieser Zeit, als eine Dämmerstunde bei einer alten Frau zu machen. Die hätten auch gar keine Ruhe dazu, der Walkman würde ihnen fehlen oder das Fernsehen. Außerdem gab es etwas, das half gegen jedes Gefühl der Einsamkeit an den langen Abenden der Weihnachtszeit. Sie wußte es und hütete es wie einen Schatz. Angefangen hatte sie damit, als die Irmi aus dem Haus war. Zuerst dacht sie, was soll so ein Quatsch, für mich allein so einen Kranz, wo doch keine Kinder mehr da sind, und so ein Kranz kostet doch schließlich Geld, und nicht wenig, und war das nicht sentimental, so allein vor einem Kranz sitzen und sich auf Weihnachten freuen? Aber dann wußte sie, das war richtig. So einen Kranz brauchte sie, und sie brauchte die Lichter, erst eines, dann zwei und dann drei und dann vier. Wenn die Lichter am Kranz entzündet waren, dann waren sie alle wieder da, die Gefährten ihres Lebens, ihre Kindheit, ihre Geschwister, ihr Bruder gefallen und die Schwester unter den Trümmern, sie waren alle wieder da. Ihre Familie, der Maxl selig, den sie vielleicht doch nicht genommen hätte, wäre der Margarinefabrikant noch da gewesen, den sie verschmäht hatte, weil Margarine doch falsche Butter war und bestimmt kein gutes Geschäft, und später hatte sie dann doch nur Margarine aufs Brot kaufen können, und die Kinder so laut und lärmend wie immer, sie waren alle wieder da. In der Vorfreude auf Weihnachten waren sie alle wieder da, wo immer sie auch waren. Ein Pastor hatte einmal gesagt, Advent hieße Ankunft, und man müsse sich freuen, daß Jeseus käme, und sie freute sich auch darüber. Denn genau das war es doch.
Wenn das Licht am Kranz brannte, dann konnte sie ganz leise für sich sagen, wofür sie so dankbar war. Für ihr Leben, für ihre Kinder, für die Enkel, und sie konnte auch sagen, was ihr Herz schwer machte, was ihr Angst bereitete, sie konnte alles vor ihm ausbreiten, dessen Ankunft das Licht ansagte. Mit dem Licht am Adventskranz konnte sie reden, wie ein Strom konnte sie reden, wie ein reißendes Wasser flossen die Gedanken aus ihrem Herzen. Das hatte sie schon am Anfang erfahren, als Irmi gerade aus dem Haus war, und das stimmte immer noch, auch wenn es nun kein Kranz mehr war, sondern nur ein Tannenzweig und eine Kerze auf dem Nachttisch. Wenn das Licht der Ankunft entzündet war, dann war sie nicht mehr allein. Dann war einer da, dem sie alles sagen konnte, der extra deshalb gekommen war, damit sie alles sagen konnte, was in ihrer Brust war, was ihr das Atmen schwer machte, dann war jemand da, der nur gekommen war, um zu hören, und dessen Gegenwart wie ein Streicheln war, wie eine warme Hand. Wäre es nicht grausam, wenn die Menschen allein wären für immer, und keiner da, dem sie ihre Sorgen vor die Füße legen könnten und ihre Freude, ihren Dank? Gleich, einen Augenblick noch, dann wird sie die Kerze anzünden, und dann wird er wieder da sein und sie wird ihm alles sagen könen, und auch sie werden wieder da sein in ihren Gedanken, all die Gefährten ihres Lebens. Wie eine wärmende Freude war es in ihrem Herzen in dieser Dämmerstunde, bevor sie das Licht entzündete. Solange die Menschen Advent und Weihnachten feiern, dachte sie, solange ist kein Mensch allein. Im Glanz des Lichtes hört einer zu.
Ein Stück vom Stern
Mama sagt: „Fernsehen ist nichts für Kinder. Du sitzt viel zu lange vor dem Kasten!“ Papa sagt: „Du bekommst noch viereckige Augen! Schau in den Spiegel, zwei Ecken haben deine Augen schon!“ Tine aber denkt, ihr Käsebrot schmeckt nirgends so gut wie vor dem Fernseher. Doch heute gibt’s kein Fernsehen zum Abendbrot. Mama sagt: „Vor Weihnachten essen wir immer mit dem Kranz.“ Darum sitzen sie heute alle am Tisch und in der Mitte steht der Adventskranz. Zwei Kerzen brennen. Wenn Tine die Augen zusammenkneift, senden die Flammen Strahlen aus. Wie Sterne werden sie, sie leuchten wie Weihnachtssterne. Mama sagt: „Nun seht doch mal, wie müde unsere Kleine ist, ihr fallen schon die Augen zu!“ Tine ärgert sich: „Ich bin nicht müde. Ich sehe nur die Weihnachtssterne.“ Sie verrät aber nicht, wo sie die Sterne schimmern sieht. Sie kneift weiter die Augen zu. Und dann sind plötzlich die Bilder da, die Bilder aus dem Fernsehen. Häuser sieht sie, die haben keine Dächer mehr und die Fenster sind wie tote Augen. Ein kleiner Junge läuft durch ein Zimmer, in dem nichts mehr heil ist. Der Tisch ist umgekippt, weil er nur noch drei Beine hat. Die Stühle sind zerbrochen. Überall glitzern Scherben. Der Junge hebt ein
zerrissenes Buch auf. Er blättert traurig die zerfetzten Seiten. In seiner Stadt ist Krieg. Soldaten haben das Haus kaputtgemacht. Soldaten dürfen das. Tine denkt an ihre Weihnachtsfreude. Sie wünscht sich ein Video vom König der Löwen. Der Junge wird kein Video bekommen. Bestimmt nicht. Sie sieht Kinder mit brauner Haut. Die nackten Körper zeigen alle Knochen. Sie sind so mager wie Gespenster. Sie haben ganz große Augen. Ihre Arme und Beine sind wie dürre Stöckchen. Ein Mädchen ißt mit den Fingern trockenen Reis aus einer Schale. Tine denkt an ihren Adventskalender und die leckeren Schokoladenfiguren. Das Mädchen stopft sich trockenen Reis in den Mund. Ob sie weiß, wie Schokolade schmeckt? Tine sieht auch einen alten Mann. Er deckt sich gerade mit einer schmutzigen Wolldecke zu, aber er ist nicht Zuhause. Er ist in der U-Bahn, in einem Tunnel. Menschen hasten an ihm vorbei. Ein Wächter mit Hund bleibt stehen. Er stößt den Mann mit dem Fuß an, und der Mann muß wieder aufstehen. Er sieht müde aus. Tine denkt an ihr Bett mit den Kuscheltieren. Der alte Mann hat nur eine Flasche. Jetzt muß Tine etwas wissen. Zwei Kerzen brennen am Adventskranz, zwei Weihnachtssterne. Sie kennt das Lied, das jedes Kind kennt. „Advent, Advent, ein Lichtlein brennt, erst eins, dann zwei, dann drei dann vier, dann steht das Christkind vor der Tür …“ Sie fragt: „Wenn nun Weihnachten wird, wird dann überall Weihnachten?“ „Natürlich“, sagt Mama, „Weihnachten wird auf der ganzen Welt.“ Aber Tine glaubt das nicht. Sie sieht auf die Weihnachtssterne am Adventskranz und glaubt es nicht.
Nach dem Abendessen geht sie ins Wohnzimmer. Papa macht den Fernseher an. Erwachsene bekommen keine viereckigen Augen vom Fernsehen. Tine geht zum Fenster. Sie löst vorsichtig den goldenen Stern vom Fenster, den Mama jedes Jahr vor Weihnachten an die Scheibe klebt. Aus der Küchenschublade holt sie sich die große Küchenschere. Sie schneidet den goldenen Stern in viele kleine Sternensplitter. Als Mama ins Wohnzimmer kommt, schreit sie laut auf: „Joachim, paß doch mal auf! Wenn du fernsiehst, dann siehst du nichts mehr! Sieh doch mal, was das Kind macht! Tine macht unseren Stern kaputt! Unseren schönen Weihnachtsstern!“ Tine verteidigt sich: „Das ist nicht unser Stern. Das ist der Weihnachtsstern.“ „Und warum machst du den denn kaputt?“ fragt Mama. Tine sagt: „Ich mache ihn nicht kaputt. Ich verteil ihn nur. Damit jeder etwas davon abbekommt.“ Tine muß das erklären. Manchmal verstehen die Erwachsenen rein gar nichts. Sie erzählt von dem Jungen im kaputten Haus, von dem Mädchen mit der Schale voll trockenem Reis, von dem alten Mann, der sein Bett im U-Bahnhof machen will. Niemand beschwert sich, daß sie zuviel fernsieht. Sie beraten nun alle zusammen, wer alles etwas von dem Stern abbekommen müßte. Mama und Papa wissen ganz viele. Mama hat vorhin beim Abendbrot geflunkert. Weihnachten wird doch nicht überall. Weihnachten muß man erst überall hinbringen. Tine meint, auch Carola müsse einen Sternensplitter haben, weil sie nie von Weihnachten redet, sondern nur von der Kelly-Familie.
Fünf oder mehr
Sie sind vier bei Tisch, Thomas weiß das genau, vier, keiner mehr und keiner weniger, vier: die Mama, natürlich kommt sie zuerst, obwohl sie immer zuletzt kommt, denn sie bringt ja das Essen, der Papa, Ulli und ich, vier sind das. Aber nun stehen fünf Stühle rund um den Tisch, fünf. In der Mitte auf dem Tisch steht der Adventskranz. Vier Lichter sind darauf. Thomas denkt sich: für jeden eins. Aber eigentlich weiß er, daß das die Wochen sind, die Wochen vor Weihnachten. Heute brennen zwei Lichter. Wenn alle vier brennen — Thomas mag gar nicht weiter denken, denn dann ist bald Weihnachten, und Weihnachten möchte er ganz viel Geschenke haben, riesenschlangenlang war sein Wunschzettel, ganz oben stand ein Fahrrad und ein Dino, am besten ein Tyrannosaurus Rex. Mama deckt den Tisch. Fünf Tassen stellt sie hin und fünf Kuchenteller. In der Küche schneidet sie den Honigkuchen. Ulli darf die Krümel essen und Thomas die Mandeln. Thomas mag Mandeln. Am liebsten nähme er auch welche aus der Mitte der Kuchenstücke, aber Mama sieht immer hin, und auf jedem Stück ist nur eine drauf. Mama rückt den Adventskranz
zur Seite, ganz nahe an das fünfte Gedeck, die Tasse und den Kuchenteller. Nun sitzen sie alle am Tisch, die Mama, aber sie steht noch und gießt Kaffee ein und warme Schokolade, der Papa, der Thomas und Ulli. Papa muß auch noch mal aufstehen und holt sein Feuerzeug. Doch er will nicht rauchen, was so stinkt, sondern zündet die Kerzen an. Thomas und Ulli zählen mit: eins, zwei. Bald ist Weihnachten. Zwei Wochen noch und zwei Tage, sagt Papa. Sie fangen an zu essen. Thomas schaut immer zum fünften Stuhl hinter dem Adventskranz. „Kommt noch einer?“ fragt er endlich, als er den Mund leer gekaut hat. Er greift nach dem zweiten Stück Honigkuchen. Mama blickt Thomas an und lacht. „Darf denn noch jemand kommen?“ fragt sie. Thomas sieht auf seinen Teller und auf die Kuchenplatte in der Mitte. „Ist noch Kakao da?“ fragt Ulli und hält seinen Becher hoch. Mama gießt ein. Es ist noch genug warme Schokolade da. Thomas sieht auf den Honigkuchen und denkt an die Mandeln, die so weiß glänzend leuchten. Eigentlich … , denkt er, und es tut ihm nur um die Mandeln leid. „Ja“, sagt Thomas dann, „es ist ja noch genug da.“ „Ihr meint also, wir haben noch Platz?“ fragt Mama. Ulli schaut sich um und nickt. „Es könnte also noch einer kommen?“ sagt Mama, und sie erzählt den Kindern eine Geschichte: „Wißt ihr, Freitag beim Einkaufen, da war ich bei der Pro. Neben dem Parkplatz steht doch die Mauer, auf der Ulli immer balancieren will, und ich soll ihn immer hochheben, obwohl mir der Rücken weh tut. Auf diese Mauer hat jemand
geschrieben in so großen Buchstaben: Ausländer raus! In Rot steht das da, in riesigen roten Buchstaben: Ausländer raus! Und da hab’ ich mir gedacht, wir feiern doch jetzt Advent. Wir freuen uns, daß jemand kommt, wir zünden Kerzen an und warten auf Weihnachten, wo Jesus geboren wurde. Da können wir doch nicht sagen: Ausländer raus! Jesus war doch auch Ausländer, und da hab’ ich gedacht, wo vier satt werden, da werden auch fünf satt, und ich wollte nun mal sehen, ob ihr das auch meint.“ Thomas sieht auf den Kuchenberg und nickt. Ulli möchte noch eine Tasse Kakao. „Und wann kommt er denn, dein Ausländer?“ fragt Papa. „So schnell habe ich keinen gefunden“, entschuldigt sich Mama, „so viele gibt’s ja gar nicht bei uns, und ich wollte erst mal sehen, ob wir denn auch Platz haben für ihn.“ Mama macht eine Pause. „Das ist das wichtigste“, sagt sie dann, „daß wir Platz haben.“ Thomas und Ulli freuen sich auf den Besuch, aber Thomas will nachher in der Küche noch schnell die Mandeln vom Kuchen abpuhlen, denn ein Ausländer weiß ja nicht, daß Mandeln auf den Honigkuchen gehören, oder? Auf jeden Fall: Zu Weihnachten, wenn Jesus geboren wird, werden sie fünf sein oder mehr, und sie freuen sich darauf.
Warum der Nikolaus nur zu den Kindern kommt
Das ist jedes Jahr so. Wenn Niki die erste Tür in ihrem Adventskalender öffnet, dann möchte sie springen, singen, tanzen, lachen und weinen zugleich. Ihr Herz klopft ganz laut und im Bauch kribbelt es. Die Weihnachtsfreude wächst in ihrem Bauch, sie wächst so schnell, daß Niki kaum noch Luft bekommt. Und Niki läuft zum Schuhschrank und holt die größten Schneestiefel hervor, um sie zu putzen. Denn nun bald, bald ist Nikolaus. Schade, daß sie nicht Vatis Stiefel nehmen darf, da geht doch viel mehr rein! Und Vati braucht die Stiefel doch gar nicht. Kein Vater stellt seinen Stiefel ans Fenster zum Nikolaustag und keine Mutter. Der Nikolaus kommt zu den Kindern. Niki sitzt vor dem Schuhschrank und denkt nach. Warum eigentlich kommt der Nikolaus nicht zu den Großen? Warum stellt kein Großer seine Stiefel vor’s Fenster? Eigentlich möchte Niki gerne groß sein. Dann kann sie die „Schwarzwaldklinik“ sehen und die „Lindenstraße“. Große dürfen immer fernsehen. Und sonnabends gäbe es dann „Sesamstraße“ und nicht so eine langweilige Sportschau mit Fußball. Und außerdem gäbe es dann nur das zum Mittag, was Niki auch mag, nicht Suppe und so etwas mit Dingern drin. Die Großen mögen immer alles, was es gibt. Niki nicht.
Außerdem mögen die Großen abends allein im Haus sein. Niki nicht. Niki wäre eigentlich gerne groß. Eigentlich. Aber über die Sache mit dem Nikolaus muß sie noch nachdenken. Warum stellen die Großen keine Schuhe raus? Wenn man etwas wissen will, muß man fragen. Also fragt Niki; Niki fragt Frau Kluge im Kindergarten. Frau Kluge weiß fast alles. Frau Kluge nimmt Niki bei der Hand und geht mit ihr auf den Flur. Vor einem Bild bleibt sie stehen. Niki will es genauer sehen. Frau Kluge nimmt sie auf den Arm, und da ist es weich und gemütlich. Auf dem Bild sieht Niki ein Kind. Das Kind ist fast ganz nackt und guckt sehr traurig. Das Kind ist auch ganz dünn. Niki sieht alle Knochen. „Hat das Kinder Hunger?“ fragt Niki. „Ja“, sagt Frau Kluge, „das Kind hat Hunger. Viele Kinder haben Hunger in der Welt. Sie brauchen Brot.“ „Warum kriegt es denn kein Brot?“ fragt Niki. „Weil die Großen ihm nichts geben“, sagt Frau Kluge. „Und solange Kinder Hunger haben, Niki, so lange dürfen die Großen keine Stiefel ans Fenster stellen!“ Als Niki nach Hause kommt, ist Mama ganz aufgeregt und traurig. In der Stresemannallee, fast vor Nikis Haus, ist ein Kind überfahren worden. „Paß bloß auf“, sagt Mama, „paß bloß auf! Die Straße ist so gefährlich. Die Autos fahren so schnell. Du darfst nur bei der Ampel gehen! Hörst du, nur bei der Ampel!“ Ganz laut redet Mama, und Niki merkt, Mama hat Angst. Und Niki denkt, so lange die Autos so schnell fahren und Kinder übergefahren werden, so lange dürfen die Großen
bestimmt keine Stiefel rausstellen zum Nikolaus. Niki findet es gemein, wenn die Autos so schnell fahren und nicht halten, wenn da Kinder sind. Nachmittags kommt Oma. Oma kommt oft zu Weihnachten. Niki mag das. Mit Oma kann sie so gut reden, weil Oma immer Zeit hat. Niki sagt Oma, daß sie ihr leid tut, weil sie keine Schuhe rausstellen darf. „Bist du traurig“, fragt Niki, „weil du nichts zum Nikolaus kriegst?“ Aber Oma ist nicht traurig. Und als Niki ihr erzählt, warum die Großen keine Schuhe ans Fenster stellen dürfen, da sagt Oma: „Ja, das ist so, aber es wird nicht immer so sein. Irgendwann, Niki, stellen auch die Großen ihre Schuhe wieder ins Fenster. Dann nämlich werden keine Kinder mehr überfahren und alle Kinder kriegen Brot. Irgendwann, das hat Jesus versprochen, werden wir Großen wieder mit euch Kindern zusammen die Stiefel rausstellen. Ich freu mich darauf. Weißt du, Niki, Jesus ist nämlich ein Freund der Kinder. Und wenn wir Großen auch Freunde der Kinder sind, wenn wir allen Kindern in der Welt genug zu essen geben, wenn wir unsere Autos langsam fahren, dann dürfen wir uns mit ihnen freuen. Das hat er uns versprochen.“ Niki findet das in Ordnung und sie mag Jesus. Sie stellt ihre Schneestiefel auf das Fensterbrett und kann gar nicht einschlafen, weil sie sich so freut.
Vier Wochen Zeit zum Vertragen
Sophie hat Christian gezeigt, wann Weihnachten ist. Du nimmst einen Kalender, sagt Sophie, da gibt es für jeden Tag ein Blatt. Wenn der Tag vorbei ist, dann reißt du das Blatt ab, und der nächste Tag fängt an. Und schau mal da, wenn hier eine 2 und eine 4 steht, 24, weißt du, dann ist Weihnachten. Christian mag Weihnachten. Zu Weihnachten wünscht er sich den Zoo von Playmobil mit Nilpferden und Büffeln. Und mit Krokodilen, die haben nämlich ganz viel Zähne und können sogar Menschen fressen. Vielleicht auch Schwestern wie Sophie, die immer alles wissen. Nun sitzt Christian in seinem Zimmer und will, daß nun Weihnachten ist. Den Kalender hat er sich aus der Küche geholt. Mit einem Hocker kommt er da schon dran. Er möchte nicht mehr warten auf den Zoo. Und das Krokodil. Christian zupft Blatt um Blatt von Kalender. Wie Schneeflocken fallen sie rund um ihn zu Boden. Eins zwei drei … , zehn, elf, zwölf … , zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Nun ist Weihnachten. Heute ist Weihnachten. Aber Papa geht zur Arbeit. Er zieht die alte Hose an und nimmt seine Werkzeugtasche und geht aus der Tür.
Heute ist Weihnachten, aber Mama nimmt die Gardinen ab und geht in den Keller zur Waschmaschine. Zieh dich an, ruft sie noch, du mußt in den Kindergarten! Heute ist Weihnachten, aber es gibt Müsli zum Frühstück und keine Kekse, Haferflockenmüsli mit Milch. Christian schleicht ins Wohnzimmer. Bei dem Fenster steht die alte Leiter. Kein Tannenbaum mit Kringeln und bunten Kugeln und dem goldenen Stern obendrauf. Nur die Leiter. Heute ist Weihnachten und da steht nur die alte Leiter vom Gardinenabnehmen. Es liegen auch keine Geschenke unter dem Baum, der nicht da ist. Da liegen nur seine Legosteine von gestern unter der Leiter, und Mama hat sie zusammengeschoben und sie wird gleich sagen: Räum deine Sachen weg! Du hast doch eine Spielkiste! Heute ist Weihnachten und es gibt keine Geschenke! Auf dem Wohnzimmerschrank stand zu Weihnachten doch immer der Stall mit den Hirten, den Schafen und den Ochsen mit den großen Hörnern. In den Stall konnte man hineinsehen, da war eine kleine Krippe drin mit einem winzigen Baby und das trug eine Krone. Und Maria und Joseph, die Eltern des Königskindes, standen davor und staunten, und Joseph hatte einen schwarzen Bart und schielte, die Maria aber war wunderschön mit einem blauen Mantel und Strahlen um den Kopf. Über dem allen schwebte ein Engel, aber in Wirklichkeit hing er an einem Faden, der zwischen die Bücher im Regal geklemmt war. Aber es gab keinen Stall auf dem Wohnzimmerschrank. Da lagen nur Papas Sportzeitungen. Papa darf immer alles liegenlassen. Heute war doch Weihnachten, oder?
Sophie ist dumm. Auf dem Kalender steht die 24, und es ist gar nicht Weihnachten. Christian überlegt. Also, zuerst einmal muß die Leiter da weg und dann muß der Stall mit dem Kind da stehen und ein Christbaum muß mit vielen Kerzen leuchten. Papa und Mama müssen auf der Couch sitzen und sich freuen, bunte Teller mit Keksen und Schokolade müssen auf dem Tisch stehen, dann erst ist Weihnachten. Als Mama aus dem Keller kommt, fragt Christian: „Mama, wann ist denn endlich Weihnachten?“ Mama muß auch nachdenken. Dann sagt sie: „Weihnachten? Weihnachten feiern wir erst, wenn du dich mit Sophie vertragen hast, denn Weihnachten ist das Fest des Friedens. Deswegen wurde doch das Kind geboren, damit die Menschen sich vertragen.“ Christian erschrickt: „Aber, aber … ich will mich nicht mit Sophie vertragen. Sie läßt mich nie in ihr Zimmer und sie nimmt sich immer meine Kassetten ohne mich zu fragen.“ „Du hast auch noch vier Wochen Zeit“, sagt Mama, „vier Wochen feiern wir Advent vor Weihnachten. Das ist lange genug, um sich zu vertragen.“ Christian weiß nicht, ob das reicht. Er muß sich auch noch mit Tobias im Kindergarten vertragen und mit Jochen, der ihn immer umschubst beim Fußballspielen.
Mareille sucht Weihnachten und findet es auch
Bald ist Weihnachten. Oma hat’s gesagt. Mutti hat’s gesagt. Vati hat’s gesagt. Bald ist Weihnachten. Und sie haben die erste Kerze angezündet am Adventskranz. Aber Mareille merkt gar nichts von Weihnachten. Mutti schimpft über die Unordnung im Kinderzimmer. Vati ist abends immer unterwegs. Niemand hat Zeit, niemand will mit ihr spielen. Da beschließt Mareille, Weihnachten zu suchen. Denn Warten ist langweilig, wenn niemand Zeit hat und mit ihr spielen will und Mutti schimpft. Wenn alle sagen: Bald ist Weihnachten, dann will Mareille Weihnachten suchen, und sie will es herbeiholen, denn Weihnachten ist schön. Da haben alle Zeit und Lust zum Spielen und niemand schimpft. Zuerst sucht Mareille in allen Zimmern zu Hause. Aber im Wohnzimmer baut Vati noch ein Regal für Weihnachten, in der Küche backt Mutti noch Kuchen für Weihnachten und sagt: „Steh nicht im Weg!“ und im Schlafzimmer fehlen die Gardinen, die sind in der Wäsche für Weihnachten, und in ihrem Kinderzimmer kann Weihnachten auch nicht sein, weil es da so unordentlich ist, und Oma hat gesagt, in solcher Unordnung wird nie Weihnachten. Nein, zu Hause ist Weihnachten nicht.
Mareille nimmt ihr Fahrrad und fährt los. Der Regen stört sie nicht, auch wenn ihre Hosenbeine ganz kalt und naß werden. Sie sucht Weihnachten. Dort, wo die Lichter sind, dort muß es sein. Lichterketten, Tannenbäume, Engelbabys, Sternenlicht, dort ist Weihnachten. Es riecht auch schon so nach Lebkuchen und Süßigkeiten, und Spielzeug ist in den Schaufenstern und Weihnachtslieder sind zu hören. Mareille muß ihr Fahrrad schieben. Lauter nasse Mäntel drängeln sich um Mareille herum. Mareille wird geschubst und ein Mann schimpft. Er hat sich an ihrem Fahrrad gestoßen. Mareille will den Mann fragen, der an seinem Stand Kerzen verkauft, große und kleine, dicke und bunte. Wo ist Weihnachten, will sie fragen, aber der Mann sagt nur: „Geh mal weg da, Kleine, laß die Leute ran!“ Mareille merkt: hier ist Weihnachten nicht. Da schiebt sie weiter ihr Fahrrad durch die eiligen Beine und sieht den Weihnachtsmann. Einen langen weißen Bart hat er und einen großen Sack. Ob darin wohl Weihnachten ist? Er hält ein Kind auf dem Arm. Mareille zupft an seinem nassen roten Mantel. „Hast du Weihnachten in deinem Sack?“ will sie fragen. Aber der Weihnachtsmann reißt ihr nur den nassen Mantelzipfel aus der Hand. Er wird jetzt fotografiert. Und er nimmt das nächste Kind auf den Arm und das nächste, aber Mareille nie, nie Mareille. Mit jedem Kind wird er geknipst. Und dann klappt der Weihnachtsmann sein Gesicht hoch und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Da weiß Mareille: der hat Weihnachten auch nicht. Er ist blaß und müde und lächelt gar nicht. Traurig macht Mareille sich wieder auf die Suche. Im Wartehaus an der Bushaltestelle will Mareille sich ausruhen. Da
kann sie sich hinsetzen und ihr Rad anlehnen. Da ist es nur noch kalt, aber nicht mehr naß. Auf der Bank im Wartehaus sitzt eine alte Frau, sie ist so alt, daß ihr Kopf schon wackelt. Oder sie friert, denkt Mareille. „Ja, setz dich, Kind“, sagt die alte Frau, „setz dich. Du bist ja ganz durchgefroren“, sagt sie, „setz dich zu mir.“ Mareille rückt an die alte Frau heran. Die kramt in ihrer riesigen Ledertasche und knistert mit einer Tüte. Und dann reicht sie Mareille einen braunen Kuchen hin. An ihrer Nase hängt ein silberner Tropfen. Zusammen essen sie braune Kuchen, die beiden, die Alte und die Junge. „So war es wohl auch in dem Stall“, sagt die alte Frau, „weißt du, damals mit Maria.“ Mareille kaut und nickt. „Aber das Kind hatte es warm“, sagt Mareille, als ihr Mund leer ist. „Ja, das Kind hatte es warm“, wiederholt die alte Frau, „nur die Mütter frieren.“ Und die alte Frau erzählt von dem Stall und den Hirten, von dem Kind und dem Stern und dem Frieden. Mareille sitzt gar nicht mehr in dem Wartehaus an der Bushaltestelle. Sie sitzt jetzt mitten in dem Stall und das Kind ist da, und die Leute mit den Schirmen sind wie die Hirten, und mit einem Mal ist alle Traurigkeit weg und Mareille weiß: dies ist Weihnachten. Sie hat es gefunden. Als sie nach Hause kam, hat sie es allen erzählt, wie sie Weihnachten gefunden hat: den Stall, die Hirten, Maria, das Kind, und daß Weihnachten ist wie eine alte Frau und wie eine große Ruhe. Aber niemand hat es ihr geglaubt.
Wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren Das Volk, das noch im Finstern wandelt Als sie die dritte Kerze anzündete, zitterte leicht ihre Hand. Macht nichts, dachte sie, mit fünfundsiebzig darf eine Hand zittern. Drei Kerzen, dachte sie, bald ist es wieder soweit. Sie mochte diese Zeit vor dem großen Fest, sie hatte sie immer gemocht. Sie mochte auch Weihnachten, auch wenn die anderen ihr immer weismachen wollten, das wäre nichts besonderes, sondern eben auch nur ein Fest, an dem man allein bleibt. Sie aber hatte Weihnachten immer gefeiert, sogar in den schlimmsten Zeiten. Sie sah die drei Flammen, die sich aufgerichtet hatten und ihren Schein verschwendeten. Fünfundsiebzig bin ich nun, und drei Kerzen sind es, eine für fünfundzwanzig Jahre. Immer eine für ein Drittel meines Lebens. Was waren das für Zeiten gewesen, in denen sie mit fast heiliger Scheu die Kerzen des Kranzes entzündet hatte. Seit damals ihre Mutter ihr die Streichhölzer in die Hand gegeben hatte, ließ sie es sich nie nehmen, die Adventskerzen zu entzünden. Ihre Mutter, die magere, immer ein wenig müde Frau, die ihr viertes und fünftes und sechstes hatte wegmachen lassen von der Engelmacherin in Altona in der Bürgerstraße, sie hatte es schwer gehabt in schwerer Zeit. Golden waren diese Jahre für andere, nicht für die, die ihre Männer bei
Johannsens von der Theke holen mußten, am Freitag. Golden waren sie für die, deren Männer nicht nach dem Stempeln einer Fahne hinterherliefen und ihre Wunden mit Bier begossen. Golden waren sie für andere, die nicht mit schmerzendem Rücken über der Ruffel standen und im schwelenden Dampf des Waschkessels die Wäsche wrangen. Sie mußte schon früh der Mutter helfen, nicht nur beim Anzünden der Kerzen, sondern beim Kohlentragen und Brikettstapeln, an der Mangel und am heißen Herd. Wenn sie nicht in der Schule war oder bei den Jungmädels, dann mußte sie ran. Sie schämte sich so ihrer roten Hände, als sie zum Tanzen ging, aber der nette Schwarzhaarige störte sich nicht daran. Aber er wollte ihr seine Adresse nicht geben. Es ist nicht gut, wenn du das weißt, sagte er, ich bin nämlich Jude. Da ist sie nicht mehr zu den Jungmädels gegangen, weil ihr so einiges klar wurde, und sie mußte noch öfter ihrer Mutter zur Hand gehen. Wie schön, sagte ihre Mutter, daß sie dir nicht mehr den Kopf verdrehen. Man darf die Hoffnung nie aufgeben. Aber ihre Überzeugung hatte ihrer Mutter nicht geholfen, als die Engländer die Bomben warfen, sie warfen sie einfach auf alle. Man darf die Hoffnung nie aufgeben, das war es, was sie nie vergaß. Die Adventszeit war so eine Zeit der Hoffnung, die man nicht aufgeben darf. Der Friede wird kommen, er wird kommen für alle, dachte sie auch in den schrecklichen Adventszeiten; als sie ihre Mutter so sehr vermißte, hielt sie diesen Gedanken fest und entzündete die Kerzen mit fast heiliger Scheu. Das Tannengrün für den ersten Adventskranz im Frieden hatte sie aus dem Volkspark mitgenommen. Sie mußte einfach einen Kranz haben, einen Kranz für die Hoffnung. Und
dann ging es auch bergauf. Das Wohnungsamt schickte ihr den Günther ins Haus, und das war das einzige Mal, daß sie einem Amt dankbar war. Auch wenn Günther nur ein Bein hatte, das andere lag in Rußland unter dem Schnee, auch wenn er hin und wieder trinken mußte gegen die Gespenster aus diesem Krieg, sie war dankbar, daß es ihn gab. Aber die Kinder mußte sie großziehen, und es war wirklich ein schwieriges Ziehen. Zwei Hände hat mit der liebe Gott gegeben, aber es sind doch drei Kinder, sagte sie manchmal, ich glaube, er kann nicht zählen. Als die Kinder endlich aus dem Gröbsten heraus waren, als sie einmal verreisen wollten, es sich gut sein lassen wollten, da fand ihr lieber Günther eine andere, und war weg von einem Tag zum anderen. Man darf die Hoffnung nicht aufgeben, dachte sie damals, einmal kommt die Zeit, in der alle satt werden, und sie nahm die Putzstelle an auf dem Flughafen, wo die anderen in den Urlaub flogen. Einmal glaubte sie, auch ihren Günther zu sehen, sehr vornehm im dunkelblauen Dufflecoat von Ladage und Oelke und lauter hellen schweinsledernen Koffern, aber sie kann sich auch getäuscht haben, es ging alles so schnell und sie mußte noch die Treppe machen bis morgens um sechs. Als sie fünfzig war, saß sie zum ersten Mal wieder allein vor dem Adventskranz. Nun war der Jüngste auch ausgezogen. Aber sie ließ sich den Kranz nicht nehmen. Ein Zeichen der Hoffnung braucht der Mensch. Es wird eine Zeit kommen, in der niemand mehr allein ist, das wußte sie mit Bestimmtheit. Das Kind war nicht umsonst geboren worden. Zumindest ihr hatte es immer geholfen. Die Leute sagen immer: Die Alten werden fromm. Aber sie war es immer gewesen, eben
auf ihre Art. Und wenn es auch fast nur in dieser Zeit war, vor Weihnachten im Advent, aber es machte sie stark für das ganze Jahr. Man darf die Hoffnung nicht aufgeben. Das hatte sie auch nie getan. Sie war es, die zu Fischscholz ging und bettelte, weil sie doch etwas zu essen brauchten. Der Scholz gab ihr die Schellfischköpfe und sie kochte Suppe darauf. Nach dem Krieg bekam sie den Lebertran von der alten Kaasbohm unten im Haus, die immer so nach Fisch roch. Ich glaube, sie trinkt den Lebertran wie andere Bier, sagte sie, aber sie hatte etwas für ihre Kleinen. Man darf die Hoffnung nicht aufgeben. Sie dachte an die langen Nächte voller Tränen, als der Günther weg war, und die Kinder durften nichts hören, denn sie vertrauten ihr doch. Ihre Nachbarin war es, die mit einem Wermut zu ihr rüberkam und sagte, Sie schaffen das schon, Sie schaffen das auch allein. Das war zu Weihnachten gewesen, an diesem schrecklichen ersten Weihnachten, als sie immer daran dachte, wie Günther mit der anderen feierte. So hatte sie es auch durchgestanden, als sie ganz allein war im Advent, und dachte, es ist ganz gleich, ob ich tot umfalle oder nicht, ob ich einschlafe und der Kranz brennt ab und ich mit ihm, wen kümmert es schon. Da klingelte das Telefon und die Große war dran und sagte, es werde ein Kind geboren, wenn sie nichts dagegen täte, denn es wäre doch viel zu früh, und sie wollte doch ihren Doktor machen und außerdem hätten sie sich gerade die Wohnung gekauft. Da war sie ganz glücklich und sagte, das wäre doch ein schönes Weihnachtsgeschenk, das schönste, das sie sich denken könnte, und sie solle nur ihren Doktor machen, wozu gäbe es denn Großmütter in der Welt, denen die Männer weggelaufen sind.
Nein, die Hoffnung muß man festhalten. Und es ist schön, daß es eine Zeit dafür gibt im Jahr, die alle daran erinnert. Sie saß vor den drei Kerzen, sah in das goldene Licht und dachte: Lichter der Hoffnung sind das, alle drei. Und die Zeit wird kommen, hat sie ihrer Enkelin neulich erzählt, der ältesten, die sie damals so lange bei sich gehabt hatte, damit die Tochter den Doktor machen konnte. Schön hört sich das an, Dr. Homeyer, und der Doktor ist eine Frau. Die Zeit wird kommen, hat sie ihr erzählt, in der die Menschen vernünftig werden und alle Waffen im den tiefsten Stollen eines Bergwerks versenken, und dann werden sie keine schlimmen Versuche machen mit grausamer Strahlenkraft, und sie werden Wale und Haie zu ihren Geschwistern zählen, und die Wälder werden gesunden und wachsen, du wirst es sehen. Gott hat diese Welt nicht aufgegeben, hatte sie gesagt, und die Anja hatte gerufen: Du wirst ja fromm, Oma, du bist süß, und hat sie geküßt. Es ist schon eine arge Zeit, dachte sie, wenn die Hoffnung in der Hand der alten Leute liegt. Aber vielleicht müssen sie nur häufiger mit den Jungen reden und mit ihnen Advent feiern, damit sie es auch wieder lernen, daß man die Hoffnung nicht aufgeben darf.
Eine Frau steigt aus
Eigentlich ist dies ein günstiges Jahr. Das war ihr erster Gedanke gewesen, als Weihnachten nach den Herbstferien der Kinder in ihren Blick geriet. Sechs Tage nach dem vierten Advent, bevor es Heiligabend wird. Das war ein Gefühl von ganz viel Zeit. Ganz viel Zeit ist ein schönes Gefühl, wenn ständig zwei Kinder durch die Stadt zu kutschieren sind und eine alte Mutter jeden Tag besucht und bekocht werden muß, weil sie nicht mehr laufen kann mit ihren offenen Beinen. Sechs Tage noch. Morgen wird sie erstmal Fenster putzen. Man kann ja kaum noch rauskucken, die Tage sind sowieso so dunkel. Was in einer Stadt alles für Dreck in der Luft ist, es regnet nicht weiches Wasser, Brühe regnet es. Im Grunde müßte sie alle drei Wochen fensterputzen. Dienstag will sie das Wohnzimmer umräumen, es muß ja Platz da sein für den Tannenbaum. Hoffentlich hat er diesmal Zeit, den Baum zu holen. Letztes Jahr war das eine schöne Schinderei, alles zu Fuß, das Auto hatte er mit im Betrieb, und der kleine Stand in der Nähe war nicht mehr da, sie mußte bis zum Markt laufen. Nur Till hatte ihr geholfen, nun ist er ja doch schon groß. Seine Oberlippe schimmert schon dunkel. Mittwoch kommen die Gardinen
dran, waschen, naß aufhängen, hoffentlich werden ihr die Arme nicht wieder so lahm. Donnerstag will sie die Gans holen und all das andere. Vielleicht ist es dann noch nicht so voll. Diese Fresserei zum Fest ist fürchterlich. Freitag wollte sie backen und den Rotkohl kochen. Wenn der schmecken soll, dann muß er aufgewärmt werden. Als sie sich dies alles zurechtlegte, sah sie sich von riesigen Mauern umgeben, wie ein tiefer trockener Brunnen kam es ihr vor, sie war ein kleines Mädchen, das auf dem Grunde saß, rings um sich die himmelhohen Mauern, nur hoch oben ein kleiner Lichtfunken. Wie kalter Schweiß lag es auf ihrer Stirn, und Hitzewellen stiegen in ihr auf. Wer hatte sie in diese Tiefe verbannt? Warum wurde es nicht auch für sie Weihnachten? Warum gehörte Weihnachten nur den anderen? Da war ein Erinnern in ihr, an die schönen Tage, als sie selbst noch ein Kind war, als ihr Herz vor Aufregung schneller schlug, als sie sich an den Kachelofen schmiegte und schmökerte, alles um sie herum versank, alles war nur noch schön und gemütlich. Weihnachten, ein Zauberwort, eine Erlösung aus den diesigdunklen Alltagen. All das war so weit fort, so weit wie der Lichtfunke da oben, nahe waren nur die kalten nassen Wände ihres Gefängnisses. Nein. So nicht. Auch wenn es keine Sprossen und Stufen gab, sie wollte hinaus. Sie wollte sich ein Stück von Weihnachten zurückerobern. „Nein!“ sagte sie so laut, daß er von seiner Sportschau hoch sah. „Nein! Was ist Nein?“ fragte er und sah beunruhigt aus. Sie mußte innerlich lachen. Aber sie verzog keine Miene. Er sah aus, als wäre ihm ein Teller heruntergefallen und zersprungen. Dabei wußte er noch gar nichts von
seinem Glück. So gut verstanden sie sich immerhin noch nach all den Jahren. „Ich mache nicht mehr mit“, sagte sie fest und bestimmt. „Was machst du nicht mehr mit?“ Er hatte ein schlechtes Gewissen. Sie sah es ihm an. „All dieses Hetzen und Jagen vor den Tagen“, sagte sie. „Morgen gehe ich in die Stadt und schaue mir in aller Ruhe die Lichter an. Ich will Kaffeetrinken und den Leuten zusehen, wie sie durch die Geschäfte hasten. Übermorgen treffe ich Christiane, ich rufe nachher an, ob sie Zeit hat. Mittwoch gehe ich zum Frisör. Donnerstag könnte ich ins Kino gehen. Du hast ja doch keine Lust. Ich war schon so lange nicht mehr im Kino, ich weiß gar nicht mehr, ob man im Kino klatscht, wenn es einem gefällt. Freitag will ich mal in aller Ruhe Briefe schreiben. Du weißt, ich schreibe so gerne, aber ich bin abends immer so müde. Ich brauche Zeit für so etwas.“ Sie sah es ihm an, wie es langsam in ihm dämmerte. Noch sagte er nichts. Die Pause wurde lang. Nur die Leute beim Eishockey schrien, und der Sprecher war heiser. Dann sagte er: „Sonnabend ist Heiligabend.“ Das war schon fast eine Drohung. Es ist weit gekommen, wenn man mit dem Wort Heiligabend jemanden erschlagen kann. „Ich weiß,“ sagte sie, „deswegen ja.“ Und dann sagte sie: „Du bist dran. Dieses Jahr bist du dran.“ Als sie die Stube verließ, hörte sie noch das Knacken des Fernsehers. Er hatte ausgeschaltet. Wenig später hörte sie ihn rufen. „Till! Marlene!“ Die Kinderzimmertüren klappten. Sie vermeinte, eine leichte Panik in seiner Stimme zu vernehmen. Es dauerte lange, fast zwei Kapitel lang, als es leise an der Tür klopfte. Sie ließ das Buch
sinken und sie dachte, Weihnachten wäre schon heute, es war genau das Gefühl in ihr, wie damals am Kachelofen. Marlene stand in der Tür mit einem Tablett. Heiße Schokolade dampfte im Becher und auf dem kleinen Teller lagen die weißen Spekulatiuskekse, die sie so gerne mochte. Jetzt muß ich stark sein, dachte sie, sonst bleibt alles beim alten. Aber dann stand er hinter Marlene und sagte: „O. K.“ Mehr nicht. Er sagte: „O. K.“, und lächelte. „Du bist dran“, sagte er noch. Dann saßen sie alle auf dem Bett, und sie dachte, die Steppdecke wird ganz kraus, aber sie schob den Gedanken schnell weg. Heiligabend — kein Fondue mit zig Saucen. Würstchen und Salat tun’s auch. Die Gans und der Rotkohl, nun ja, es war schon etwas Schönes, so eine Gans. Aber Hawaii-Toast ging schneller. Den konnte Marlene auch schon. Also Heiligabend Papa, am ersten Feiertag Marlene und am zweiten? Till stimmt für die Tiefkühlpizza. Die traut er sich zu. Papa verspricht einen trockenen Rotwein dazu. Fensterputzen? Muß das sein? Dann aber nicht die Gardinen. Das hat doch Zeit bis zum Frühjahr. Drei zu eins. Demokratie lebt von Kompromissen. Wenn das alles so einfach war, dann wußte sie nur nicht, warum sie sich so schwer getan hatte in all den Jahren. „Ich komme mir vor wie die Maria“, sagte sie. Die anderen sahen sie erstaunt an. „Nein“, sagte sie, „so nicht. Nicht wie die in dem Stall. Da gibt es noch etwas anderes. Marlene, hol doch mal die Bibel!“ Sie hatte die Stelle schnell gefunden. Lobgesang der Maria. Das war ihr schon immer so toll erschienen. Nicht so sanft und kitschig. „Nun hebt er seinen gewaltigen Arm“, las sie, „und fegt die Stolzen hinweg samt ihren Plänen. Nun stürzt er die Mächtigen vom Thron und richtet
die Unterdrückten auf …“ „Du gehst ganz schön hart mit uns um“, sagte er. „Aber vielleicht hast du recht.“ „Backen werde ich trotzdem“, sagte sie. „Etwas will ich auch für Weihnachten tun. Ich glaube, dies wird unser erstes richtiges Weihnachten, eines, das wir alle vorbereitet haben. Ich freue mich“, sagte sie. Aber in ihrer Freude war und blieb eine kleine Traurigkeit. Für sie konnte Weihnachten werden. Doch da waren die anderen, deren müde Gesichter ihr letztes Jahr aufgefallen waren, als sie sich in der Stadt wunderte, warum so kurz vor Weihnachten die Menschen so wenig fröhlich aussahen. Sie stellte sich ein Heer von Sklaven vor, die für ein Fest ihrer Herren sich plagten und rackerten. Es saßen noch viele Schwestern im Brunnen. Zu viele …
Heimlichkeiten
Es gibt eine Menge Leute, die schwärmen von der schönen Vorweihnachtszeit. Ich nicht. Die gemütlichen Stunden im Schein der Adventskerzen, der dampfende Kaffee — oder Grog wäre noch besser —, die leckeren knusprigen Kekse, die schon seit dem Herbst in den Regalen liegen, die verwunschene Zeit der Heimlichkeiten und süßen Geheimnisse. Da freut man sich doch das ganze Jahr drauf. Ich nicht. Seit der alte Burmeister im Altersheim ist, hasse ich die Tage vor Weihnachten. Nicht etwa, weil wir nun für die Kinder keinen Weihnachtsmann mehr hätten. Der alte Burmeister hatte zwar einen gewaltigen weißen Bart, aber als Weihnachtsmann war er nie zu gebrauchen. Die Kinder hätten ihn sofort am Geruch erkannt. Er strömte stets eine dicke Schwade Knoblauchdunst aus, denn er aß diese Wunderzwiebeln stückweise, um nicht alt zu werden, aber das hat ihm nachweislich auch nicht geholfen. Jedenfalls ist er nun wegen seiner Verkalkung im Altersheim, und wir haben niemanden mehr, bei dem wir unsere Heimlichkeiten und süßen Geheimnisse verstecken können. Die neue junge Nachmieterin ist zwar schön, aber auch schön neugierig, neugierig und geschwätzig. Sie wußte vor mir, daß wir in diesem Jahr keine Lohnsteuererstattung
vom Finanzamt bekommen, der Brief war aus Versehen bei ihr gelandet. Sie hat meiner Frau auch meine Nachnahme vom Versandhaus verraten. Ich hatte große Mühe, meiner Frau zu erklären, daß es sich nicht um das anrüchige Versandhaus der Hilfsmittel handele, sondern nur um einen neuen Schachcomputer, den ich mir von der Autoreparatur abgespart hatte. So ein Versteck wie den alten Burmeister braucht man, wenn man zwei Töchter hat, die nicht auf dem Kopf gefallen sind. Sie finden alles. Sie haben auch meine Briefe von früher gefunden und ihrer Mama auf den Schreibtisch gelegt. Tagelang nervten sie mich mit solchen Fragen, wer denn nun die Kuschelmaus wäre und wer der wilde Tiger, von denen in den Briefen die Rede war. Dabei wußten sie das schon, weil sie die Briefe in meiner untersten Nachttischschublade entdeckt hatten, und zwar in meiner alten Kassette, für die es leider keinen Schlüssel mehr gab. Aber sie freuten sich, weil ich jedesmal rot wurde. Drei Tage brauchte ich, bis meine Frau wieder mit mir sprach, und das auch nur, weil sie mich darüber informierte, von jetzt an wäre die Speisekammer stets verschlossen zu halten, denn das Fahrrad für die Jüngste und die anderen Geschenke für die Mädchen müsse sie da hineinstellen, weil der alte Burmeister doch nun im Altersheim sei. Den Schlüssel würde sie in die Kaffeedose stecken, aber ich war mir nicht sicher, ob unsere Töchter nicht plötzlich auf die Idee kämen, uns an einem Adventsmorgen mit einer Tasse Kaffee zu überraschen, obwohl sie sich ansonsten stets schon um das Abtrocknen drückten. Wir einigten uns auf die Schuhputzkiste. Die mieden sie wie den bissigen Hund der Nachbarn.
Für meine Frau war das Problem der Heimlichkeiten und süßen Geheimnisse damit gelöst, aber was soll ein Familienvater machen? Es begann schon mit dem reizenden Granatarmband aus dem exklusiven Laden am Jungfernstieg. Ich verbarg es in der Jackettasche. Im Büro würde ich es schon nicht verlieren. Aber ich hatte nicht mit ihrer Fürsorge gerechnet. Sie bürstete das Jackett aus. Zornentbrannt stand sie vor mir: „Seit wann machst du deiner Kollegin solche teuren Geschenke!?“ Natürlich klebte auf der Verpackung das edle Siegel des Juweliers. Meine lange Erklärung klang selbst in meinen Ohren ziemlich unglaubwürdig. Zwei weitere Tage Schweigen waren angesagt. Aber dabei blieb es nicht. Was kann ich dafür, wenn unser Elektrogroßmarkt außer Espressomaschinen auch Computer führt? Ich hatte mir diesen chromblitzenden Apparat zurücklegen lassen, zwei Tage vor dem Fest wollte ich ihn abholen, aber die Quittung mußte ich doch mitnehmen, nicht wahr? Und dann brauchte sie Geld, und ich sagte, in meinen Portemonnaie wäre noch etwas, und da fiel der Kassenbon heraus. Wie ein Fahrstuhlführer aus früheren Tagen leierte ich daher, was alles in diesem Laden zu kaufen wäre: Waschmaschinen, Tümmler, Küchenherde, Bügeleisen und Computer, Fernseher, Radios und Kameras. Aber es half nichts. Es blieb der Verdacht, ich hätte mir heimlich eine neue Festplatte für meinen PC geleistet. „Du liebst deinen Computer eben mehr als mich“, schluchzte sie. Erst das Bettenüberziehen für Weihnachten befreite mich von dem Makel. Ich hatte das Prunkstück in Chrom nämlich hinter der Bettwäsche verstaut. Schließlich hatte sie die Betten erst letzte Woche frisch überzogen.
Und die Sache mit dem zauberhaften Kostüm war meine Schuld. Seit Jahren stand auf unserem Schlafzimmerschrank die alte große Blechdose mit dem pausbäckigen, bezopften Mädchen darauf. Kemm’s Braune Kuchen stand auf der Trumm. Meine Frau sammelt solche Altertümer. Und darin war Wolle und Strickzeug. Sie haßt das Stricken, ich war mir ganz sicher. Nach der Entsorgung von Wolle und Nadeln paßte das Kostüm da wundervoll hinein. Wenn es ein wenig kraus würde, nun ja, etwas aufbügeln könnte sie es ja, bevor sie es anzieht. Doch am Tag vor Heiligabend sagt sie doch zu unseren beiden Süßen, die vor Aufregung nicht mehr still sitzen konnten vor dem Fernseher: „Wollen wir nicht diesmal noch vor Weihnachten ein paar Kekse backen? Das wollte ich schon immer einmal, aber es war immer viel zu viel zu tun. Habt ihr nicht Lust?“ Natürlich hatten sie Lust. Allein schon, um mich in Bedrängnis zu bringen. Denn selbstverständlich sollten die Kekse in genau diese alte Blechdose. So stand ich dann mit dem Rücken an der Küchentür und verteidigte eine alte Blechbüchse. Jedenfalls weiß ich diesmal schon am Heiligen Abend bei der Bescherung, was ich mir zum nächsten Weihnachtsfest wünschen werde. Einen alten Sekretär, und den werde ich mir selbst aussuchen und ganz allein. Denn nur ich weiß, was für ein Sekretär es sein soll. Es ist egal, wie er aussieht, er kann sogar rosa gestrichen sein. Nur ein Geheimfach muß er haben, ein Geheimfach.
Christiane spielt nicht mit Rolands Spielzeug
„Ich wünsche mir ein Rennrad!“ sagte Christiane. „Und ich möchte Soldaten haben!“ rief Roland. „Und einen Panzer und Kampfflugzeuge und ein Kriegsschiff!“ Roland ist Christianes Bruder. „Was du alles haben willst!“ wunderte sich Christiane und sie fragte vorsichtig: „Ob ich wohl auch den Kaufmannsladen bekomme?“ „Sicher“, meinte Roland. Bald, bald ist Weihnachten! dachte Christiane. Mutti sagt, beim Schlafen vergeht die Zeit schneller. Christiane wühlte sich in ihre Decke und kniff ihre Augen zu. Bald, bald ist Weihnachten. Christiane sah den Tannenbaum vor sich. Er war heller und höher als sonst, seine Spitze war spitzer als sonst, die Kugeln bunter und mehr Kringel hingen an den Zweigen als jemals zuvor. Aber das war noch langst nicht alles. Unter dem Tannenbaum, man glaubt es kaum, türmten sich zu Bergen die Geschenke. Da blitzte und funkelte das Fahrrad für Christiane, ein rotes Rennrad. Von Waren bunt gefüllt war der Kaufmannsladen, den sie sich gewünscht. Mollig und weich wellte sich der Wintermantel über die Berge von
Büchern. Christiane konnte sich nicht satt sehen an all diesen Herrlichkeiten. Neben ihr sprang vor Freude der Roland wie ein Gummiball auf und nieder. Roland ist, wie gesagt, Christianes Bruder. Er wußte kaum, wohin er schauen sollte. Alle seine Wünsche waren Wirklichkeit geworden: Ein Panzer, der wirklich schießen konnte, die Soldaten in grünen Uniformen, das Kriegsschiff und die Kampfflugzeuge. Roland hatte eine ganze Armee bekommen. Ja, noch nie war Weihnachten so schön gewesen. Vati hatte so viel Zeit zum Spielen, wie noch nie an einem Heiligen Abend. Mutti war lustig und lachte, obwohl sie doch so viel kochen mußte, die Oma erzählte eine Geschichte aus der Zeit, als sie noch ein kleines Kind war. Ganz warm wurde Christiane vor Freude, und sie sang aus vollem Halse: „Stille Nacht, Heilige Nacht …“ Aber dann verstummte sie plötzlich. Da war ein Geräusch, ein Rattern und Rasseln, ein Summen und Brummen, ein Sirren und Klirren, und es wurde lauter und lauter … Christiane traute ihren Augen kaum, sie sah wie Rolands Panzer mit der großen Kanone sich langsam bewegte und vorwärts rollte, der Motor brüllte, die Ketten rasselten, die sanfte Weihnachtsmusik wurde verschluckt vom Motorengebrumm, das Ungetüm wälzte sich über den Wintermantel, rollte mitten hinein in den Kaufmannsladen, rempelte gegen die Regale, brach durch die Rückwand, rollte über das blanke Fahrrad, walzte es platt, platt wie ein Blatt Papier. Und Christiane hörte den Schritt und Tritt von Soldatenstiefeln und Donnergrollen von Kanonenschlägen. Rote Flammen tanzten vor ihren Augen, Funken sprühten, zuerst brannte
der Kaufmannsladen, dann brannte der Tannenbaum — aber seltsam, sonderbar : es wurde nicht warm in dem Flammenmeer. Wild loderten die Flammen, aber sie wärmten nicht. Eisig wehte der Wind, kein Dach, keine Wand bot mehr Schutz vor dem Winterwind. Christiane fror. Sie zitterte in Angst und Kälte. Sie begriff, wie nun der Krieg das Weihnachtsfest auffraß und sie schrie vor Schreck und Schmerz. „Aufwachen, aufwachen, es ist Weihnachten!“ Die Stimme der Mutter war weich und warm. „Du hast dich ja ganz bloß gestrampelt, Christiane!“ Christiane rieb sich die Augen. Was war Traum, und was war wahr …? „Es ist Weihnachten!“ sagte die Mutter. Christiane mußte schlucken. Und dann fragte sie: „Du Mutti, ist jetzt kein Krieg?“ „Nein, Mädchen, bei uns ist jetzt kein Krieg. Bei uns ist Weihnachten“, sagte Mutter. Christiane dachte nach. Mutter hatte „bei uns“ gesagt, „bei uns“. Und sie fragte ihre Mutter: „Bei anderen Kindern, ist denn bei anderen Kindern Krieg?“ Die Mutter strich Christiane über das Haar. „Ja, Christiane, bei anderen Kindern ist Krieg. Sie weinen, hungern und sterben in Südafrika, weit weg von uns, in Namibia und Zimbabwe, in Argentinien, Brasilien und Chile, in Irland und Israel und …“ Christiane ließ ihre Mutter nicht ausreden: „Überall ist Krieg?“ rief sie, „überall rollen Panzer und schießen Soldaten und werfen Bomben?“ Christiane überlegte lange. „Wird denn da nie Weihnachten?“ fragte sie schließlich. Die Mutter schüttelte den Kopf: „Noch nicht, Christiane“, sagte sie, „noch nicht.“
Christiane schloß traurig ihre Augen. „Warum fragst du danach, Christiane?“ Aber Christiane gab keine Antwort. An diesem Weihnachtsfest, so nahm sie sich ganz fest vor, fasse ich Rolands Spielzeug nicht an. Doch dann dachte sie: Ich werde Roland von meinem Traum erzählen, nicht gleich, aber irgendwann, und irgendwann wird Weihnachten dann überall sein. Und sie sagte laut: „Du, Mutti, weißt du was, ich freue mich auf Weihnachten!“
Wo sind nur die Lichter?
Zum ersten Advent wollte sie fertig sein, fertig mit allem. Dann wollte sie in der neuen Wohnung sein, den Umzug hinter sich haben, die Kartons ausgepackt. Sie wollte wieder die Sterne in den Fenstern hängen haben und den Leuchtstern im Flur. Sie wollte einen Adventskranz haben mit roten Kerzen und dem Schmuck von früher. Alles sollte so sein wie immer, wenn sie fertig war. Nur die Scheidung würde noch nicht durch sein, aber das ließ sich nicht ändern. So vieles läßt sich nicht ändern. Vielleicht zahlte er ja endlich im Dezember. Sie wenigstens wollte es schön machen für die Kinder. Ihnen sollte nichts fehlen, ihnen nicht. Darum wollte sie auch alles fertig haben zum Advent. Sie hatte es ja auch fast schon geschafft. Nur die Gardinen mußte sie noch ändern im Wohnzimmer, sie waren zu kurz. Man kann nicht alles mitnehmen in einen neuen Anfang. Wenn sie jetzt nur wüßte, wo die roten Kerzen sind, die dicken, die sie vor dem Umzug gekauft hatte. Sie hatte doch schon alle Kartons ausgepackt. Wo waren sie nur? Im Küchenschrank? Nein. In der Abseite bei den Reinigungsmitteln? Nein. Im Wohnzimmer, ganz hinten im Schrank, wo auch die Krippe war und die Weihnachtssachen, die sie mitgenommen
hatte, ganz einfach ohne zu fragen, wie ihre Kinder, das war doch selbstverständlich. Auch nicht. Wo hatte sie nur die Lichter gelassen, alles hatte sie fertig, nur die Lichter noch. Sie ging über den Flur. Das Atmen des Kleinen im Schlaf war sanft zu hören in der stillen Wohnung, wie ein Streicheln, so weich. Da war doch noch Licht bei Christian — oder nicht? Das Licht flackerte. „Christian!“ rief sie und stieß die Tür auf. Da saß ihr Großer auf dem Teppich, mitten im Zimmer saß er, und vor ihm auf dem Fußboden brannten Kerzen, alle vier dicken roten Kerzen standen vor ihm auf dem Boden und brannten. „Was machst du denn da“, rief sie in Panik, „gib sofort die Streichhölzer her, du sollst doch nicht mit Feuer spielen!“ Da hob ihr Großer seinen Kopf und sagte ganz ernst: „Ich spiel nicht mit Feuer. Wirklich nicht, Mama!“ Sie beugte sich herunter, griff nach der Streichholzschachtel, riß sie an sich, stopfte sie in ihre Jeans und blies auf die Flammen. „Nein, nicht, Mama, nicht“, schrie Christian, und die Kerzenflammen zuckten und fauchten. „Nein, Mama“, sagte Christian noch einmal leise, und sie sah leuchtende Tränen in seinen Augen. „Ich habe Angst im Dunklen“, sagte er tapfer. Da blies sie die Kerzen nicht aus, sondern kniete sich auf den Boden und zog den Christian an sich, nahm seine leichten fünf Jahre auf den Arm. „Warum denn, du Dummchen“, sagte sie, „ich bin doch da!“ Christian schüttelte den Kopf und biß die Lippen zusammen. Da fiel es ihr wieder ein, alles war wieder so wie früher, als wäre es gestern gewesen oder eben erst, der Zank, der Streit,
der Haß, das Schreien, das Türenschlagen, und immer war es nachts passiert, die Kinder waren schon im Bett, und als sie einmal nach ihnen sah, weil der Streit so hart und so laut gewesen war, da lag Christian in seinem Bett und biß die Lippen zusammen. Alles war wieder da, obwohl sie doch fertig war mit allem, bis auf die Lichter, die nun vor Christian brannten. Sie drückte ihren Großen ganz fest. „Komm mit in die Küche“, sagte sie, „und die Kerzen nehmen wir mit“, sagte sie. Über den finsteren Flur trugen sie die Kerzen in die Küche. Vorsichtig steckte sie die Kerzen in die Halter am Kranz. Die Kerzen leuchteten hell wie ein Versprechen, und sie glaubten die Wärme zu spüren, als sie vor dem Kranz saßen, Christian auf ihrem Schoß, und sie tranken das Licht in sich hinein. „Christian“, sagte sie, „weißt du … Mama hat vieles falsch gemacht, bestimmt. Aber nun wird bald Weihnachten. Nun fangen wir neu an. Wir wollen uns lieb haben, uns und alle, die wir kennen. Wir wollen allen Streit vergessen und von vorn anfangen, Mama, du und unser kleiner Niki. Wir schaffen es bestimmt“, sagte sie, und sie dachte: Lieber Gott, hilf mir! Christian schlang die Arme um sie, und sie sahen in die Lichterflammen, lange saßen sie so und schauten, und irgendwann sagte sie noch: „Wenn du lange in dieses Licht siehst, Christian, ganz lange, dann nimmst du es mit, wohin du auch gehst, und wenn es noch so dunkel ist, du hast es dabei, in dir drin, da leuchtet es weiter.“ Sie wollte noch etwas sagen vom Spielen mit Feuer, aber sie ließ es dann. Ihre Gedanken trieben davon, weit zurück in ihre Kinderzeit. Hatte sie nicht eben sogar gebetet? Da mag schon etwas dran sein: Das einmal entzündete Licht, wir nehmen
es mit in jede Nacht, in jeden Morgen. Amen, sagte sie bei sich, Amen. Nur Christian hatte noch etwas zu sagen vor dem Schlafengehen. Er sagte: „Zu Weihnachten wünsche ich mir eine Taschenlampe, eine ganz große!“
Die schönsten Tage im Jahr
Was hatte sie sich immer auf diesen Tag gefreut! Heiligabend, Karpfen blau mit zerlassener Butter und Sahne — Meerrettich, dazu einen Weißwein. Morgens ganz früh, noch in der Dämmerung zu Fisch-Scholz, den Karpfen holen. Gleich nach dem Krieg mußte sie hintenrum gehen und ein Pfund Kaffeee mitbringen, Fisch-Scholz hatte dann immer etwas für sie. Und dann, daheim, die Tränen, was mußte sie immer weinen beim Meerrettichreiben, aber es geht nun einmal nichts über frisch geriebenen Meerrettich. Eine Schuppe vom Karpfen kam jedes Jahr in ihr Portemonnaie, damit das Geld nicht ausgeht. Was hatte sie sich immer auf diesen Tag gefreut, Heiligabend. Heute schmeckte ihr nicht einmal mehr der Karpfen. Sie sah es immer noch vor sich. Weihnachten in der Wohnküche. Der Tannenbaum auf dem Tisch in der Ecke und darunter die Geschenke für die Kinder. Das war gar nicht leicht damals. sie wußte ja nicht, was sie schenken sollte, sie hatte ja nichts, es gab ja nichts. Da bekam ihr Junge die Soldatenburg ihres Bruders, die auf dem Boden bei ihrer Mutter den Krieg überstanden hatte. Nie wollte sie Kriegsspielzeug verschenken. Bruder und Mann gefallen, die Wohnung ausgebombt — aber wenn sie doch nichts anderes hatte, dann mußte es eben die
Soldatenburg sein für ihren Jungen. Er war doch noch ein Kind, und er mußte etwas haben zu Weihnachten, zum Heiligen Abend. Ihre Gedanken flogen zurück, von Weihnachtsfest zu Weihnachtsfest. Das Weihnachten, als sie den Puppenwagen mit den hohen Rädern bekam, sie im Matrosenkleid, und das Kleid kniff in den Hüften, es war zu eng geschnitten. Das Weihnachten mit ihrem Mann, zur Untermiete noch, und keine Geschenke, nur Sekt aus vornehmen Gläsern, und in der Stube standen nur Bett, Tisch und Stuhl. Weihnachten auf dem Bauernhof, bei der Ausquartierung, und sie aßen fettige Bratkartoffeln, sie, die Städter, und die Bauern feierten in der Stube mit schwarzgeschlachtetem. Da kam es wie ein tiefer Friede über sie. Sie sah die glitzernden Lichter am Weihnachtsbaum und wie ein warmes Bad umspielte sie das Licht der Weihnachtskerzen. Das war schon so. Diese Tage waren immer die schönsten im Jahr gewesen, nicht der Urlaub in Spanien oder Portugal, nicht die anderen Glanzlichter ihres Lebens, sondern diese Tage. Und war es nicht komisch, nicht sonderbar und geheimnisvoll: Wo immer das Leben sie hingetrieben hatte, welche Stürme auch immer die Geschichte durchtosten, Weihnachten war immer geworden. Als Vater keine Arbeit hatte, im Luftschutzkeller, in ihrer neuen Wohnung und wieder zur Untermiete mit den Kindern, und auch jetzt in der Einsamkeit ihres Alters, Weihnachten war immer geworden. Wie ein Zauber waren die Worte: Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot ausging … Sie wußte, so sehr sie auch nachdachte, keine Worte, die sich so wenig abnutzten, wie diese: Es begab sich aber zu der Zeit,
daß ein Gebot ausging … Sie klangen wie ein Akkord, und sie entfalteten sich zu einer volltönenden Sinfonie, Jahr um Jahr. Sie stand nicht mit Gott auf Du und Du. Dazu, dachte sie, hab ich zuviel erlebt. Wo war denn Gott, als Rudi fiel, in Rußland im Schnee, wo war er denn da? Nein, sie stand nicht mit Gott auf Du und Du. Sie war immer eher kritisch gewesen, und in der Kirche war sie auch nicht oft. Auch für so etwas muß man erst einmal Zeit haben, hatte sie immer gesagt, Sonntags morgens um zehn. Am Grab ihres Bruders wußte der Pastor auch nichts zu sagen. Aber der Zauber dieser Worte wirkte immer wieder auf sie: Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot ausging … Mit diesem Kind da in Armut geboren, im windschiefen Stall, da hatte etwas angefangen, das nie mehr aufhörte. Ihr fiel nicht ein, wie sie es nennen könnte. Es war wie ein Strom aus lauter Licht, wie eine Quelle, aus der reines Wasser fließt, oder sollte sie sagen: Liebe? Jedes Jahr fließt es zusammen in diesen Tagen, in den Menschen, und es wäscht hinweg, was weh tut, die Tränen, die Not, die Einsamkeit, die Sorge, alles spült es hinweg. Was freute sie sich immmer wieder auf diesen Tag, Heiligabend. Und jetzt, gerade in diesem Augenblick vor dem Christbaum mit strahlendem Licht, da wußte sie es genau: Dies war ein wunderschönes Leben, in dem es immer wieder Weihnachten wird. Im Grunde, dachte sie, im tiefsten Grunde, bin ich nie groß geworden. Jedes Jahr habe ich es wieder gefühlt, dieses warme Empfinden aus Kindertagen: Es hat mich jemand lieb, was immer auch ist, es hat mich jemand lieb. Und sie wagte zu sagen: Ich dank dir, Gott, ich danke dir.
Das betriebsbedingte Weihnachten
Das Radio hatte er ausgeschaltet nach dem vierten White Christmas. Irgendwann reicht es. Nun ist es still um ihn, friedhofsstill, totenstill. Vier nackte Wände sind nicht sehr gesprächig. Er hatte es vorher gewußt, dieser Tag würde schwer werden. Dies war immer ein schwerer Tag für die Menschen, die keine Schulter haben, an die sie sich lehnen können. An solchem Tag kann niemand seine Gedanken festketten und einsperren. Sie laufen davon, ob man es will oder nicht, sie erheben sich in die Luft und fliegen in das Land von Gestern. Er sitzt an dem Tisch, dessen Furnier sich abhebt, und dessen Beine wackeln, wenn er sich zu fest auflehnt. Das Muster des verschlissenen Teppichs gibt ihm Rätsel auf. Welche Farben mochte er gehabt haben, als er aus dem Laden getragen wurde? Alles fängt anders an als es endet. Er empfindet so etwas wie Zuneigung zu diesem alten Teppich. Werd’ nicht sentimental, schilt er sich, aber er ist es schon. Letztes Jahr um diese Zeit war er breit gewesen. Das Jahr davor auch. Eigentlich immer an diesem Tag. Was soll man auch sonst tun an einem solchen Tag ohne Kinder, ohne Christbaum, ohne Bescherung, ohne ein vertrautes Lächeln. Weihnachten ist eine Gemeinheit für Menschen, die man
allein gelassen hat. Was blieb einem schon anderes übrig, als die Gefühle wegzuknallen. Die lärmende Musik aus der Box, das melodiöse gleichförmige Dudeln der Spielautomaten, selten nur, viel zu selten, das Klappern fallender Geldstücke, der Geruch von Rauch und Bier, das Brennen des Klaren in der Kehle, das schwebende Gefühl wachsender Trunkenheit, das alles, bis auch dieser Wirt seinen Laden zumacht, um Weihnachten zu feiern mit seinen Lieben. Danach lag er dann immer auf seinem Bett und wartete auf den Schlaf, der nicht kommen wollte, die Flasche in der Hand, und jedes Mal dachte er immer an Menschen, die mit einer brennenden Zigarette im Bett einschliefen, und er war neidisch auf sie. Seit sie ihm seine Kinder gestohlen hatte, seit sie ihm die Tür wies, hatte er nichts mehr für diesen Tag. Und heute hatte er noch nicht einmal eine Flasche. Zum vierten Mal zieht er sein altes Portemonnaie hervor und zählt nach. Dreizehn fünfunddreißig. Es wird nicht mehr. Das wäre schon eine Flasche gewesen, aber das Jahr ist ja nicht mit Weihnachten zu Ende. Da kommen noch ein paar Tage. Nun hatte man ihm selbst das noch genommen, die Flasche am Heiligen Abend. Es war eine betriebsbedingte Kündigung gewesen, da kann man nichts machen. Wenn sie den Laden zumachen, brauchen sie keine Buchhalter mehr. Und wer braucht heutzutage überhaupt noch Buchhalter? Vor allem so alte. Er glich dem alten Teppich. Abgelatscht. Sperrmüll. Das war’s. So ist er also zu diesem betriebsbedingten Weihnachten gekommen, ohne Flasche, eingesperrt in vier Wände, festgehalten am wackeligen Tisch und keine Chance, die Gedanken
festzuhalten. Weihnachten. Um diese Zeit, wenn die Dämmerung sich senkte, war immer Bescherung gewesen. Die Kinder hielten es nicht länger aus. Die Kerzen anzuzünden, war seine Sache gewesen, und dann das Läuten mit der kleinen Glocke. Sie bestand darauf, daß die Weihnachtsgeschichte gelesen wurde, bevor die Kinder sich auf die Geschenke stürzten. „Es geschah aber zu der Zeit, das ein Gebot ausging von dem Kaiser Augustus …“ Er kannte die Worte noch auswendig. Diese Art Weihnachten hatte sie in der Familie eingeführt. In seiner Kinderzeit hatte Weihnachten nichts mit der Bibel zu tun. Sein Vater hielt nichts davon. Dies war schon ein komischer Tag. Alle Gefühle strömen zusammen, bilden einen tiefen See, in dem Menschen ertrinken am Tag der Liebe. Ob die Erfinder dieses Tages das bedacht hatten? Grausamer kann man es gar nicht machen — alle, die reich sind, die Menschen haben, die sie lieben, die werden mit Glück und Liebe überhäuft, und die anderen, die Einsamen, die Verlassenen, sie dürfen zuschauen, sich sattsehen am Glück der anderen. Und haben vielleicht nicht einmal eine Flasche, so wie er mit seinem betriebsbedingten Weihnachten. Die alten Worte gingen ihm wieder durch den Kopf. Die Kinder hörten kaum noch zu, sie schielten nach den Paketen unter dem Baum. Sie dachten nicht an den Stall und das Paar ohne Wohnung. Sie sahen nur die Geschenke und wollten endlich freigelassen werden zur großen Freude. Er hätte es nicht für möglich gehalten, daß diese Worte sich so tief in ihn eingegraben hatten. Nun geht ihm dieser Stall nicht mehr aus dem Sinn. Stall. Tiefer kann niemand fallen. Stall. Kein Geld. Kein Dach. Nur ein Stall.
Seine Augen gleiten über die verschossenen Tapeten. Mühsam steht er auf vom wackeligen Tisch. Irgendwo muß ich doch noch eine Kerze haben. Für den Fall, daß die Sicherung durchgeht. Da ist sie. Die Schublade klemmt auch. Lang ist sie ja nicht und angebrannt auch. Aber Kerze ist Kerze. Er legt sie auf den Tisch, wo sie weiterrollt, bis der Riß im Furnier sie aufhält. Er sieht sich im schummerigen Zimmer um. Wenn schon, denn schon, sagt er, und er macht das Bett, schüttelt es ordentlich auf, deckt die blaue Wolldecke darüber und zieht sie glatt. Sie wird sich wundern, denkt er, als er den Staubsauger aus der Flurgarderobe holt. Den ganzen Monat macht er nichts, aber am Heiligen Abend. Aber die Wirtin steckt den Kopf nicht vor die Tür. Wahrscheinlich ist sie eingeschlafen. Ist auch ein armes Luder. Der Sohn in Australien, der Mann in Ohlsdorf. Nur sie ist übriggeblieben. Einen Staubsauger hatten die im Stall nicht. Ich fege den Stall mit dem Staubsauger aus, denkt er. Eine seltsame Erregung breitet sich in ihm aus. Wie ein Aufbruch ist es. Er erinnert sich an das Weihnachten, als er sein Fahrrad bekam. Damals fühlte er sich auch wie ein neuer Mensch. Er hatte es gleich ausprobieren müssen auf der Straße, und er weiß noch heute, wie enttäuscht er war, weil niemand ihn sah mit seinem blitzenden Rad mit der Gangschaltung wie ein Auto. Aber die waren alle zu Hause am Heiligabend, die Straßen waren leer. So leer wie heute, denkt er. Aber das ist gut so. Niemand schaut zu, wie er sich von der Tanne auf dem Platz einige Äste abbricht. Als die Nadeln ihn stechen, muß er lachen. Er hätte es nicht für möglich gehalten, daß er heute noch einmal lachen kann. Das hatte sich also nicht geändert.
Jedesmal vergaß er seine Handschuhe, wenn er den Tannenbaum holte. Und wie immer regnet es, wenn er den Baum holt. Das Tannengrün und die Kerze verwandeln selbst seinen Stall. Er hält einen kleinen Zweig in die Flamme. Es knistert, und der alte Geruch verbreitet sich im Zimmer. „Es geschah aber zu der Zeit, daß ein Gebot ausging von dem Kaiser Augustus …“ Er schämt sich nicht, diese alten Worte laut zu sagen. Mit diesen Worten fängt etwas neues an. Mit diesen Worten ist Armut keine Schande mehr. Mit diesen Worten wird die Welt auf den Kopf gestellt. Eigentlich ist es nicht fair, daß auch die anderen, die alles haben, diese Worte hören. Die Hirten liefen ja nicht zu den Palästen. Zum Stall liefen sie und fielen auf die Knie. Aber das soll ihm egal sein. Ihm ist es für diesen Augenblick genug, daß er ein Gefühl der Brüderlichkeit in sich empfindet, ein Gefühl der Brüderlichkeit mit dem Kind in der Krippe.
Der blaue Planet
Der blaue Planet drehte sich in majestätischer Ruhe. Im gleißenden Sonnenlicht leuchteten weiße Wolkenbänder auf. Das schwarzdunkle Kleid der Nacht war mit goldenen Punkten übersät. Der Pracht dieses universellen Schauspiels fehlte nur noch die Fülle himmlischer Harmonien, um vollendet zu sein. Aber im Himmel schlugen die Türen. Gottvater war zornig. Der Heilige Geist saß muksch in hintersten Winkel der ewigen Wohnstube und zog einen Schmollmund. Ab und zu schluchzte er auf, wenn es wieder mit mächtiger Stimme tönte: „Umsonst, umsonst war das doch alles! Sie kapieren’s nicht! Sie begreifen es einfach nicht! Zweitausend Jahre hatten sie Zeit.“ Der Herr der Welt war wirklich erbost. Vergeblich versuchte der Sohn, den Vater zu besänftigen. „Es war doch schön damals mit der Geburt im armen Stall. Weißt du noch, wie die Hirten kamen, diese diebischen Bösewichter und Gauner, und vor Andacht wurden sie ganz still? Und dann kamen die Machthaber, die prächtigen Könige, und sie fielen vor einem nackten Kind in die Knie! Das war doch ein guter Anfang!“ „Guter Anfang“, äffte der alte Herr die sanfte Stimme des jungen Mannes nach, „ein guter Anfang für die Scheiterhaufen, auf denen sie Frauen und Männer verbrannten, fürwahr!
Ein guter Anfang für den Mord an meinen lieben indianischen Völkern! Und was haben sie mit meinem erwählten Volk gemacht, he?“ Seine Stimme schlug höhnisch über. Der Sohn probierte es noch einmal. Begütigend sagte er: „Aber das siehst du nicht richtig. Denk doch einmal an den Heiligen Franz, an die Klöster und die vielen anderen Hilfswerke! In jedem der zwanzig Jahrhunderte gab es Menschen, die aus meiner Krippe Konsequenzen zogen!“ Der Heilige Geist in seiner Ecke blickte hoffnungsvoll auf. Er liebte solche Fremdworte nicht, aber er war dankbar, daß wenigstens der Sohn seine Arbeit anerkannte, schwer genug war sie ja gewesen. Doch die Wut des großen Vaters erstickte den Hoffnungsfunken schnell. Mit spitzem Finger zeigte der Herr auf den still vorbeitreibenden Erdball. Der bedrohliche Finger wies auf den Südosten Europas. „Seht euch diese zerschossenen Häuser an, da hätten wir keine Mühe, einen Stall zu finden für die Geburt des Gotteskindes! Das waren einmal blühende Dörfer, und was haben sie daraus gemacht? Und da“, sein richtender Finger zeigte auf den Osten Afrikas, „seht doch meine Kinder, die sich der Fliegen nicht mehr erwehren können, weil sie vor Hunger zu schwach geworden sind! Und da, dieser Bengel“, sein Finger streckte sich auf Hamburg, „dieser Flegel, der sauer ist, weil er zu seinem Gameboy nicht auch noch die Rollerblades bekommen hat! Hat der Joseph sich deshalb mit Maria auf den weiten Weg gemacht? Um jeden Schritt der schwangeren Frau tut es mir leid! Und da, schaut euch das Computerspiel an! Nur Schießerei und Vernichtung, was glaubt ihr denn, warum ich die Engel hab vom Frieden singen lassen!“
Jetzt wurde es dem Sohn zuviel. „Du siehst das zu negativ“, sagte er mit allem Respekt zu seinem Vater. „Genau dahin werde ich gehen. Und du wirst sehen, daß sie sich immer noch der ethischen und spirituellen Werte aus der Tradition bewußt sind.“ Er nickte dem Heiligen Geist im Winkel des Himmels zu. „Komm, wir versuchen es noch einmal!“ Der schmollende Geist erhob sich zögernd. „Aber red’ nicht so geschwollen daher“, verlangte er, „das verstehen sie nicht.“ Der Sohn sah liebevoll auf den Geist herab. „Ich werde gar nichts sagen“, meinte er. So machten sich die beiden auf den Weg. In der Halle des Flughafens tobte das Leben. Mitten darin leuchtete aus hunderten von Glühbirnen ein riesiger Weihnachtsbaum, unter ihm und um ihn herum wimmelten die Reisenden zwischen den Koffern. In den Shops klingelten die Kassen pausenlos für die vergessenen Geschenke. An den Schaltern drängten sich Ratlose und Eilige. Die geschminkten Damen nahmen professionell lächelnd Flugkarten entgegen, hämmerten auf Tasturen, blinzelten auf Bildschirme, gaben Auskunft. Sie mußten so viel Lächeln vorweisen, daß sie Mühe haben würden, daheim unter dem Christbaum die schmerzenden Wangen zu glätten. „Bloß weg aus dem Rummel“, sagte die jungen Frau zu ihrem Begleiter, der hastig an seiner Zigarette zog. „Wie schön, daß wir dem Weihnachtstrubel entkommen“, meinte die saubere rundliche Dame zu ihrem Mann. „Wenn ich allein schon daran denke, wie lange ich letztes Jahr noch Nadeln im Teppich gefunden habe.“ Dicht neben diesem Paar wischte sich eine ältere Frau Tränen aus den Augen. „Nun komm, Mutti, mach es uns doch nicht so schwer, wir brauchen die Erholung, wir müssen mal raus hier,
das verstehst du doch! Wir rufen dich auch an am Heiligen Abend! Du kannst doch auch die Frau Schuster von oben einladen, die ist ebenso allein zu Weihnachten. Feiert doch zusammen!“ Die alte Frau schluckte tapfer. In all dem Gerenne, Gerede und Getümmel fiel das kleine braune Mädchen gar nicht auf, das vor dem Tresen der Fluggesellschaft kauerte. Die eiligen Erwachsenen beugten sich über sie hinweg, verhandelten mit der rougegepflasterten lächelnden Servicedame vor dem Bildschirm. Wann geht der Flieger, Raucher oder Nichtraucher, werden wir abgeholt vom Flughafen, so wirbelten die Worte über das Mädchen hinüber und herüber. Silberhell rannen Tränen über die dunklen Wangen der Kleinen. Sie kauerte am Boden, stumm, still, unbewegt und weinte. Es war eine blauhaarige junge Frau, deren Augen den Kontakt zum Erdboden nicht verloren hatten. „Du, schau mal Norbert, das Mädchen!“ Noch bevor der Norbert irgend etwas sagen konnte, ging sie vor dem Kind in die Knie. Sie strich mit scheuer und behutsamer Hand dem Kind über das krause Haar. „Wo kommst du denn her, du Schöne?“ fragte sie. Und sie grub in ihrer Tasche nach einer Näscherei, hielt sie dem Mädchen hin. „Möchtest du?“ Das Mädchen schaute unter seinen Tränen nicht auf. Norbert verhandelte unterdes mit dem Grinsen hinter dem Schalter über das Gewicht des Gepäcks. Die junge Frau aber sprach leise auf das wortlos schluchzende Mädchen ein. Suchend sah sie sich um, aber nirgends war jemand, der Anspruch auf dieses Kind erhob. Wieder wandte sie sich dem Kind zu. So langsam wurde ihr klar, daß ihre Freundlichkeit nicht ausreichte, diese kleine
Frage im riesigen Terminal zu beantworten. Sie nahm das Kind aus seinem Winkel, barg es in ihrem Arm. „Du, Norbert, das Kind hat niemanden hier. Wir müssen uns kümmern!“ Was half dem Norbert sein Hinweis auf das abgehende Flugzeug, auf die immer dringender klingenden Aufrufe, sich bei der Abfertigung einzufinden. Was half ihm sein Klagen, sie würden noch den Flug verpassen und daheim bleiben müssen, in der nassen Kälte, statt in südlicher Sonne zu braten. Er mußte mit zur Dienststelle der Polizei, er mußte sein Taschentuch hergeben, die Tränen zu trocknen, er wurde geschickt, ein Brot zu holen, Milch und eine Mandarine, Flugzeug hin oder her, das Kind mußte etwas zu essen haben. Dann war das Flugzeug weg. Sie saßen auf der harten Bank der Dienststelle, zwischen sich das kauende Findelkind. Der Notdienst würde schon kommen, wurden sie wieder vertröstet, und sie sollten sich doch nicht aufhalten lassen, es ginge nun alles seinen Gang mit dem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling. Aber die beiden jungen Leute wollten nun nicht mehr weggehen von diesem Kind. In einem unbeobachteten Augenblick schlichen sie sich aus der Hektik des Wachzimmers, das Kind mit seinem dünnen Kleidchen unter ihren Mänteln wärmend. War es nicht gleichgültig, ob der Notdienst heute oder in drei Tagen kam …? Sie jedenfalls waren sich später bewußt, noch nie so ein schönes Weihnachten erlebt zu haben, wie dieses unerwartete Fest mit ihrer kleinen Himmelskönigin. Der Heilige Geist war sichtlich stolz. „Siehst du, es war doch gar nicht so schwer“, bemerkte er triumphierend. „Und ich habe nichts gesagt“, pflichtete der Sohn bei. „Das wird den Vater
überzeugen.“ Der aber lächelte längst. Es war doch eine gute Idee mit dem Kind und dem Stall, dachte er bei sich. Und eine gute Idee setzt sich schon durch. Ich muß nur Geduld haben mit meinen Menschen.
Das ganz andere Weihnachten
Kinderaugen sehen alles. Er hatte sich erst daran gewöhnen müssen. Aber als die beiden Kleinen eines Morgens vor dem Ehebett standen, mitten während des Kuschelns, manchmal möchte man einen Tag ja auch gut beginnen, so wie die Helden aus der Zeitung, da konnte er nur hektisch wie in vergessenen jungen Tagen das Deckbett hochziehen, und er wußte: Kinderaugen sehen alles. Kinderaugen finden den Bußgeldbescheid wegen zu schnellen Fahrens, sie finden den Einkaufszetttel für ihren Geburtstag, sie entdecken mit unfehlbarer Sicherheit das heimlich gekaufte und auf dem Autobahnparkplatz schnell eingebaute Autoradio. Viel schneller als seine Eheliebste entdecken sie in unermüdlichem Forscherdrang den neuen Laptop auf dem Schreibtisch. Kinderaugen sehen alles. Natürlich will er wache Kinder, die sich im Leben nichts vormachen lassen. Wenn jeder Bürger so aufmerksam wäre wie seine Kinder, dann traute sich kein Politiker mehr Geld zu nehmen. Aber zu Weihnachten sind wache Kinder ein Problem. Doch es wäre ja gelacht, wenn ein Vater nicht schlauer wäre als seine Brut. Nach der Einkaufsfahrt in Berlin, während die Kinder bei der Oma geparkt waren, schlug er den neugierigen Kinderaugen ein Schnippchen. Er ließ einfach
alle die Pakete und Tüten im Kofferraum. Den konnte er abschließen und den Schlüssel bekamen auch die Kinder nicht in die Hand. Nun gut, weil der Kofferraum voll war, mußte er den Weihnachtsbaum auf den Rücksitzen transportieren, und auch ein frischer Weihnachtsbaum nadelt, und Harzflecke macht er auch. Aber sei’s drum, wenigstens wußten die Kinder nicht, was für sie unter diesem Baum liegen würde. Eine leichte Unruhe bei seinen Kindern bewies ihm, wie recht er getan hatte. Nirgendwo im Haus war ein Schrank abgeschlossen — die Schrankschlüssel waren eh austauschbar. Nirgendwo türmten sich auf den Schränken irgendwelche dikken Taschen. Alle Kellertüren standen offen. Sie hatten nichts zu verbergen. Und der Heilige Abend kam immer näher. Die Kinder wurden immer unruhiger. Dann war es soweit. Leidlich gerade stand der Weihnachtsbaum in seinem Fuß. Ein bißchen drehen und man konnte ihn fast kerzengerade nennen. Nur zwei Glaskugeln waren zerbrochen, die mit den Wachstropfen hängte er einfach nach hinten. Die Kringel für den Baum mundeten ausgezeichnet und weckten in ihm die Erinnerung an die schönen Weihnachtstage der Kindheit. Er freute sich, daß Fondant auch nach fünfundzwanzig Jahren noch genauso künstlich schmeckte. Zu Mittag bestand er trotz aller Sorge um gesundes Fleisch auf dem Rindswürstchen zum Kartoffelsalat, sollten Frau und Kinder doch Buletten essen aus Schweinefleisch. Während seine Frau in der Küche die Soßen zum Fondue rührte, die Kinder in ihrem Zimmer Weihnachtsgeschenke einwickelten, ging er nach draußen, um die Geschenke zu holen. Sorgfältig sah er noch mal nach, ob seine neugierigen Kleinen auch
beschäftigt waren. Als er sie hinter der Tür streiten hörte, wußte er, jetzt wäre ein günstiger Augenblick. Also: raus auf die Straße und alles reintragen. Er würde mindestens dreimal gehen, nein, laufen müssen, denn ein feiner Regen machte diesen Heiligen Abend vollkommen. Weiße Weihnacht gibt es nur in Liedern. Das Auto. Die Parkbucht war leer! Sein Auto! Hatte er weiter unten geparkt? Menschenleer dehnte sich in der Dämmerung die Straße. Vor jedem Haus ein parkendes Auto, nur vor seinem nicht, als hätte er seine Rechnungen nicht bezahlt. Wo war sein Auto? Langsam dämmerte es ihm. Gestohlen. Man hatte sein Auto gestohlen! Am Heiligen Abend gestohlen. Schöne Bescherung! Er lief noch einmal die Straße rauf und runter, aber es war nicht da, sein Auto. Mit müden Schritten schlich er ins Haus. In die Küche. Der Mixer surrte. Seine Liebste hatte vor Eifer rote Bäckchen. „Du, Doris!“ Sie mixte weiter die Soßen. „Du, Doris!“ Jetzt drückte sie Tomatenmark unter die Creme für das Fondue. „Du, Doris, mach doch mal den Mixer aus!“ Jetzt erst sah sie auf, der Mixer verstummte. „Du, unser Auto wurde gestohlen, ich muß die Polizei rufen.“ Sie war gar nicht erschüttert, im Gegenteil. Sie lachte. „Wir brauchen doch heute am Heiligen Abend kein Auto.“ „Sag mal, verstehst du nicht, unser Auto wurde gestohlen, ich muß die Polizei anrufen.“
„Quatsch“, sagte sie lapidar. Quatsch. Ein Auto wurde gestohlen am Heiligen Abend, und sie hatte nicht mehr zu bemerken als: Quatsch. Fast hätte er gebrüllt. Am Heiligen Abend gebrüllt. Sein Auto war weg. „Thomas hat unser Auto, Thomas von nebenan.“ Er starrte sie ungläubig an. „Wieso hat Thomas …?“ „Stell dich doch nicht so an! Er wollte seine Freundin in Berlin besuchen, da hab ich ihm unser Auto geliehen. Morgen abend bringt er es zurück. Schließlich ist Weihnachten.“ Aber das war’s ja, es war Weihnachten und die Geschenke fuhren in Berlin spazieren und da oben warteten die Kinder auf die Bescherung! Als seine Frau begriff, was Sache war, wurde sie bleich. „Mann, wie kannst du nur!“ Aber wozu hat man eine Frau, eine Frau für alle Fälle. Sie hatte sich gleich wieder im Griff. „Dann müssen wir eben dieses Jahr anders feiern“, meinte sie trocken. Und so machten sie es auch. Sie machte alles fertig für das Fondue, ganz so, als wäre nichts passiert, dann ging sie nach oben und er hörte sie kramen. Mit einem Stapel Bücher und, tatsächlich, mit ihrer alten Gitarre kam sie die Treppe wieder herunter. Sorgsam wischte sie den Staub von dem dunklen Holz. „So, ich glaube, es ist schon dunkel genug, du kannst die Kerzen anzünden und die Kinder rufen. Wie immer mit der Weihnachtsglocke. Sie warten bestimmt schon.“ Folgsam trottete er ins Weihnachtszimmer. Beim Anzünden der Kerzen zitterten ihm die Finger. Polternd rannten die Mädchen die Treppe herunter, stürmten herein. Wie jedes Jahr fing der Glanz des Weihnachtsbaums ihre Augen.
Noch kam kein Schrei, weil der Platz unter dem Baum leer war. Mit sanftem Lächeln schaffte Doris es. Seine Bewunderung wuchs von Minute zu Minute. Sie brachte die Kinder dazu, sich auf den Teppich zu setzen, dann schlug sie das alte Buch auf und begann mit langsamer, leiser Stimme zu lesen: „Es begab sich aber zu der Zeit …“ Und immer wieder legte sie das Buch zur Seite, griff nach der Gitarre, und dann kam ein Lied. Die Mädchen lasen die Texte aus den Büchern, die Doris ihnen reichte. Der Klang der Gitarre und der jungen Stimmen füllte das Haus. Es brauchte zwei Lieder und drei Strophen, dann sang er mit. Sie mochten gar nicht aufhören zu singen, verstohlen hatte er auf die Uhr gesehen, die Minuten wurden fast zu Stunden. Dann bauten die Mädchen mit Doris die Krippe auf, den schiefen Stall, die Schafe und Ochsen, das Heilige Paar, die kleine Krippe mit dem Kind, die dunklen Hirten und die prächtigen Könige. Ganz leise und still ersetzte er die heruntergebrannten Kerzen im Baum. Als sie die Hirten in die Krippe einstellten, begann Doris zu erzählen. Sie redete von den Straßenkindern in Rio und bei uns in den Städten, von den Weihnachtsfeiern bei Kaviar und Sekt in den feinen Wintersportorten. Es war halb zehn geworden, als die Mädchen zum ersten Mal nach ihren Geschenken fragten. Da mußte er erzählen. Hinterher schmausten sie alle beim Fondue. Nicht eine einzige Träne versalzte die leckeren Soßen.
Eigentlich hatte er mit der Kirche nichts im Sinn
Eigentlich hatte er mit der Kirche nichts im Sinn. Die reden zuviel. Er hielt es mehr mit seinen zupackenden Händen. Wenn er eine zentnerschwere Pleuelstange ausgebaut und eingesetzt hatte, und wenn die Maschine dann wieder anfing zu leben, die schweren Teile sich wieder bewegten, dann wußte er, was er getan hatte. Mit Schönreden ist das nicht gemacht. Im Konfirmandenunterricht, ja, er hatte das alles hinter sich, seine Mutter war so eine, die dem Pastor hinterherlief, Kanzelschwalben nannte er das bei sich, damals in diesen Stunden im Pfarrhaus sah er lieber den Mädchen auf die Beine, das war allemal besser als das eintönige Gerede da vorn. Was hatten die auch schon verändern können, zweitausend Jahre hatten sie Zeit gehabt. Wenn er so gearbeitet hätte, wäre keine Schiffsmaschine wieder ins Laufen gekommen. Vom Zuschauen allein und von guten Worten bewegt sich kein Zylinder wieder. Nein, er hatte mit diesem ganzen Kram nichts im Sinn. Nur eines mußte er ihnen lassen, diese Sache mit Weihnachten, die machte ihnen keiner nach. Auch wenn er jetzt mit zitternden Händen die dritte Kerze an seinem Adventskranz ansteckte, waren es nicht die Tannenbäume mit ihrem
Lametta, die leuchtenden Kinderaugen, die sich in den Weihnachtskugeln spiegelten, die ihn beeindruckten. Es ging ihm nicht um Schmalzkekse und Klöben, obwohl so ein saftiger Gänseschenkel und der mulschige Rotkohl nicht zu verachten war, aufgewärmt muß er sein und richtig fett, dann schmeckt er am besten. Nein, das ganze Drumrum konnte ihm gestohlen bleiben. Er schüttelte seinen Kopf über das Gerenne nach den Geschenken, über die Weihnachtslieder auf dem Markt, die armen Verkäuferinnen, was wollten die sich für Musik anmachen zur Bescherung, denen mußte doch das „White Christmas“ zu den Ohren rauskommen. Wenn er seinen Enkelkindern zusah, wie sie das bunte Papier von den Geschenken rissen, fragte er sich, ob sie wohl noch in seinem Alter wissen würden, was sie in welchem Jahr geschenkt bekommen hätten. Er konnte es noch aufzählen. In einem Jahr war es die Angel gewesen, davor hatte er den Roller bekommen. Er konnte sich auch an das Schuco-Auto erinnern, das niemals vom Tisch fiel. An der Tischkante fuhr es einfach eine scharfe Kurve. Im Laden schien es Zauberei zu sein; als er es in der Hand hatte, sah er sofort das querlaufende Rad in der Bodenplatte, und das Geheimnis hatte seinen Reiz verloren. Seine Gedanken liefen immer wieder zu dem Stall nach Bethlehem. Das war es, was ihnen niemand nachmachen konnte. Er hatte Ställe genug gesehen in seinem Leben. Es gibt sie bei jeder Hafenstadt, wie mit magischer Kraft zogen sie ihn an seit damals. Damals, das war seine erste Reise gewesen, zum erstenmal Weihnachten nicht zu Hause. Weihnachten in Rio, kein Regen, kein Schnee, fünfunddreißig Grad im Schatten. Das Schiff liegt drei Tage fest und man hat Zeit, Zeit
und Durst. Zu mehreren sind sie durch die Kneipen gezogen, warmes Bier an der Copa Cabana, weißer Strand und braune Haut, einer nach dem anderen konnte den nackten Busen nicht widerstehen. Zum Schluß waren sie allein, Jochen und er. Jochen war nicht so einer und er nahm ihn dann mit auf die Berge hinter der Stadt. Zuerst dachte er, Jochen wolle ihm die Hochhäuser von oben zeigen. Aber das war es nicht. Aus den Villen und herrschaftlichen Häusern wurden Bretterbuden. Mühsam wühlten sich ihre Füße durch den Staub der Wege, es stank bestialisch. Wie lästige Fliegen umschwärmten sie Wolken von lärmenden Kindern, nackt, in zerrissenen Kleidern, dünne Ärmchen und schmutzige Füße. Viel Geschrei und Krach aus den Hütten. So langsam beschlich ihn ein komisches Gefühl, halb Angst, halb Ekel. Er schloß seine Hand um die restlichen Münzen und Scheine in seiner Hosentasche, die ihm noch geblieben waren. Dann war da eine Ansammlung an einer der stinkenden Wegkreuzungen. Viele Kinder und Frauen drängten sich im Schein einer Lampe. Er wunderte sich noch, wie sich eine Straßenlaterne in dieses Elend verirrt hatte, aber wie gut das war, denn den wenigen Männern in der Menge hätte er nicht im Dunklen begegnen mögen, sie sahen nicht gerade vertrauenswürdig aus und es war auf einen Schlag Nacht geworden. Aus der Hütte drang schrilles Schreien. Als ob ein Schwein geschlachtet wird, dachte er. Jochen machte nicht den Eindruck, als wolle er weitergehen. Mitten in der Menge waren sie stehengeblieben. Seine Hand krampfte sich noch fester um das Geld in seiner Tasche. Er traute sich noch nicht einmal, sich
eine Zigarette anzuzünden, denn dazu hätte er seine Hand aus der Hosentasche nehmen müssen. Jochen blieb eisern stehen. Aber dann, in all dem Gedränge und Geschiebe, wurden sie an die Tür der Hütte gespült. Es war eine Hütte aus modrigem Holz und alten Autoblechen. Der Eingang war niedrig. Sie mußten sich tief bücken, um in das Halbdunkel des Stalls zu sehen, nein, Stall, das war noch geprahlt. So lebt kein Tier bei uns, dachte er noch, und da hörte er schon das leise Wimmern unter den fremden Lauten des Geredes und Geschreis. So langsam dämmerte es ihm: hier war ein Kind geboren worden. Jochen schob ihn durch die niedrige und schiefe Tür. Noch nie hatte er so viel Blut gesehen, wie auf dem schmutzigen Lager der erschöpften und schwitzenden Frau. Jochen sagte nichts, er stieß ihn nur in die Seite und dann kramte er aus seinen Hemdtaschen alles, was er hatte. Reals und Centavos, Dollars waren auch dabei, sein Feuerzeug, die Zigaretten, die Armbanduhr aus seiner Hosentasche. Alles das legte er lächelnd der Frau auf das fleckige Laken. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als er Jochen so auspacken sah, da mußte er es ihm gleichtun. Auch er leerte seine Taschen. Bei seinem Taschenmesser mit silbernem Heft zögerte er ein wenig, er hatte es von seiner Mutter zu Weihnachten bekommen, weil er doch nun schon groß sei, es hatte nämlich seinem Vater gehört. Aber hier war es richtig. Hier gehörte es hin. Es würde schon einige Real auf dem Markt bringen. Auf dem Rückweg schwiegen sie beide. Vor ihnen, unten an der Küste, lag die golden leuchtende Stadt. Als sie so über die holperigen Wege stolperten, ging es ihm durch den Kopf. Ja, er hatte etwas gesehen, was all die da unten in dem Glanz
noch nie geschaut hatten. Er hatte Weihnachten gesehen. Die hatten doch gar keine Ahnung, was diese Sache mit dem Stall bedeutete. Er kannte die Geschichte von den Eltern, die keinen Platz für sich und ihr Kind hatten, und ihm war nun klar geworden, was die Erzähler mit dieser Geschichte hatten sagen wollen. Das wehrlose Kind in der Armut als König der Welt — wenn sie das verstünden, dann wäre es der Himmel auf Erden. Sie beide hier, auf dem staubigen Weg in die Stadt, mit keinem Centavo in der Tasche, sie waren reich. So richtig wurde ihm dieser Reichtum erst später bewußt, als es ihn in jeder Hafenstadt dieser Erde in die Vorstädte trieb. Er machte kein Wesens drum, er tat es einfach, weil es richtig war. Er kam, schenkte und ging reicher, als er gekommen war. Er fühlte sich einfach leichter, wenn er dort gewesen war. Andere mögen so denken, wenn sie aus der Kirchentür kommen. Seit diesem Spaziergang in Rio, als sie zu Weihnachten arm wie Kirchenmäuse wieder an Bord kamen, seit diesem besonderen Abend, nahm er die Weihnachtslieder wortwörtlich, und immer, wenn sie vor dem Kind in der Krippe sangen, wenn sie es König nannten und Herr der Welt, dann wurde ihm komisch. Man sagt, Seeleute wären fromm, weil sie die Mächte und Allgewalt der Naturkräfte erlebten. Für ihn war das nicht der Punkt. Das war mehr eine Sache der Technik, und er war ein guter Ingenieur. Für ihn waren es diese Vorstädte in den Häfen, die streunenden Kinder, die Mädchen, die sich verkaufen. Er war auch nicht eigentlich fromm. Das hätte er immer weit von sich gewiesen. Es war nur so: er wußte, was falsch lief in dieser Welt. Sie hätten sich alle bücken sollen und in den Stall hineingehen, dann wäre es anders gekommen.
Der Stern zieht weiter
Zuerst hatte er auf dem Balkon gestanden und war nichts anderes als ein Tannenbaum. Seine Zweige waren naß und grün und bewegten sich im kalten Wind. Mama war begeistert: wie gerade er gewachsen ist, wie schöne Zweige er hat und was für eine herrliche Spitze und gar keine braunen Nadeln! Für Kristin aber war es nur ein Tannenbaum, der da im nassen Wind in der Balkonecke stand. Aber dann war er weg, der Tannenbaum, und das Wohnzimmer war zugeschlossen. Selbst durch das Schlüsselloch konnte Kristin nichts mehr sehen, Mama hatte da etwas vorgehängt, gestern abend hatte sie das wohl gemacht, Kristin in ihrem Bett hörte Kramen und Rascheln, Lachen und Klirren, als sie nicht einschlafen konnte, weil doch nun bald Weihnachten ist. Jetzt war es wohl doch schon ein Christbaum, da im verschlossenen Wohnzimmer, mit Kugeln, Kerzen, glitzernden Sternen, mit Lametta und Kringeln, und darunter lagen gewiß schon … Ob sie da schon lagen, die Geschenke, von denen Kristin träumte, ein Gameboy vielleicht, vielleicht auch ein Fahrrad mit 8 Gängen oder die Puppe, die sogar in die Windeln machen kann? Eines wußte Kristin bestimmt, auch wenn das
Schlüsselloch verhängt war, die Krippe würde wieder da sein mit dem zierlichen Kind, dem bärtigen Joseph und der Maria im Goldhaar, über das sich so schön streicheln ließ, weil es so glänzend seidig und glatt war. Auch der Esel würde dabeistehen mit echtem Fell, von dem Kristin einmal gesagt hatte, der sieht aus wie Opa, weil Opa doch auch graue Haare hatte, und der Ochse, der aber einen Euter hatte, und die Könige in bestickten Gewändern, die würden wieder zu Füßen des Christbaums stehen. Bald, bald, gleich ist es soweit. Gleich klingt die Glocke und die Tür geht auf. Kristin sah das zierliche Kind in der Krippe, sah das Licht um seinen Kopf. Aber wo war die Maria im Goldhaar, wo war der bärtige Joseph, wo waren Ochs und Esel und auch der Stern? Die dunklen Hirten waren wohl gegangen, bis auf einen, der nun bei der Krippe stand und Wache hielt. Natürlich waren die Hirten gegangen, sie mußten doch die Herden hüten, den Wolf vertreiben, die Schafe zusammenhalten im Dunkel der Nacht. Die Hirten konnten nicht stehen und staunen, loben und beten die Nacht hindurch. In der Ferne heulten unheimlich die Wölfe, und die Schafe blökten ängstlich. Waren die Könige auch weitergezogen, nachdem sie ihre Gaben niedergelegt und das Kind gesehen hatten, lichtumglänzt in seiner Krippe? Kristin verwunderte sich und wagte zuerst nicht zu fragen. Der Hirte bei der Krippe sah so finster und fremd aus, aber dann faßte sie sich ein Herz und sie fragte: „Wo — wo sind sie denn alle hin? Warum sind sie nicht mehr da?“ Der Hirte schaute Kristin an, und sie sah, daß er ganz gütige Augen hatte über dem schwarzen Bart. „Weißt du das nicht?“
fragte er, und weil Kristin ihren Kopf schüttelte, erzählte der Hirte ihr die Fortsetzung der Weihnachtsgeschichte, die Kristin schon so oft gehört hatte. Die Geschichte war immer damit zu Ende gewesen, daß die Hirten und die drei heiligen Könige kamen. Der Hirte aber wußte, wie es weiterging. „Weißt du, Kristin, der Stern, der Stern über dem Stall, der ist nicht stehengeblieben. Der hatte nur eine Pause gemacht. Dann ist er weitergezogen. Die drei heiligen Könige, Maria und Joseph sahen das, und da packten sie die Gaben, vor allem das Gold zusammen, beluden den Ochsen und den Esel und zogen dem Stern hinterher, nur ein wenig ließen sie liegen, so viel, wie das Kind wohl brauchte. Sie zogen dem Stern hinterher — und sieh, er blieb stehen über drei Bettlern, die kein Bett und kein Brot hatten, und Maria und Joseph ließen etwas Gold in deren Hüte regnen. Der Stern aber zog weiter und hielt erst vor Kindern wieder an, die vor Hunger weinten. Auch ihnen sollte geholfen werden mit den Gaben, und dem Stern hinterher zogen Maria und Joseph weit durch die Welt und brachten, was sie nicht nötig brauchten, zu den Traurigen der Erde.“ Jetzt hatte Kristin aber eine Frage: „Die Welt war doch so riesengroß, reichte denn das, was Ochs und Esel trugen für alle aus? Oder zogen sie zum Schluß mit leeren Händen weiter?“ Der Hirte bei dem Kind in der Krippe lachte. „Kristin, das kennst du doch! Wenn es nicht reicht, dann muß man teilen. Die Körbe auf Ochs und Esel müssen aufgefüllt werden, immer wieder aufgefüllt, dann reicht es rund um die Welt. Der Stern zieht weiter, unentwegt, auffüllen müssen wir, der Stern zieht weiter …“
Kristin nickte. Diese Geschichte mußte sie Mama erzählen, gleich noch, vor der Bescherung. Es mußten ja nicht 8 Gänge an ihrem Fahrrad sein, eigentlich brauchte sie doch nur drei. Da wäre bestimmt etwas übrig.
Der verwünschte Weihnachtsbaum
Wer durch den Winterwald wandert, kann es spüren. Wenn auf den Wegen weicher Schnee wie Watte den Ton der Tritte verschluckt, wenn ein leises Knirschen jeden Schritt verrät, wenn weiße Pelze das Tannengrün verdecken, an jenen hellen klaren Tagen träumen die jungen Fichten ihre wunderbarsten Träume. Manchmal hörst du dann ein schrilles, ein peitschendes Krachen und Knacken — dann ist so ein junger Tannenbaum erschrocken aufgewacht. Wovon träumen die junge Fichten an solchen Wintertagen? Sie träumen von warmen Weihnachtszimmern, von Kerzenglanz in Kinderaugen, von Sternen, Kringeln und Lametta. Denn jede junge Fichte kann das Glück haben, zur Weihnacht ausgesucht zu werden, um das schönste Geräusch der Welt zu hören: Kinderlachen. Da stand auch am Stadtrand gleich neben der Kaserne in einem kleinen Wäldchen eine junge Fichte. Tag für Tag gingen die Soldaten an ihr vorüber und sahen sie nicht. Aber auch die junge Fichte sah bald nicht mehr hin, wenn die Soldaten kamen; die sind ja wie ich, dachte sie, einer sieht aus wie der andere, ich kann sie nicht unterscheiden, sie tragen alle ein
grünes Kleid, eins wie das andere, mal naß und mal trocken, ganz wie das Wetter ist. Eines Tages aber klang leises Klimpern an ihr Ohr. Es kam näher und näher, und die junge Fichte neigte sich im Wind weit über, um besser sehen zu können. Was war das? Da kamen Männer in grünen Uniformen, aber auf dem eintönigen Grün glitzerte, glänzte und funkelte es in wahrer Pracht. „Das sind Generale“, sagte ihre Nachbarin, ein alter Baum, der schon viel gesehen hatte. „Auf tausend Normale kommt einer von den Bunten“, sagte die alte Fichte, als ihre junge Schwester seufzte. „Das ist auch nichts Besonderes.“ Aber die junge Fichte wußte nun, was sie gerne werden wollte: ein richtiger Generalsweihnachtsbaum, und sie wünschte sich das mit jeder Faser ihres schlanken Leibes, von den Wurzeln bis zum Wipfel hatte sie nur diesen Wunsch: ein richtiger Generalsweihnachtsbaum zu werden, und dieser Traum verfolgte sie tags und nachts. Darum war sie auch gar nicht erstaunt, als an einem regnerischen Dezembertag Soldaten kamen, es waren ganz normale grüne, einer wie der andere, mit Axt und Säge, und vor ihr stehen blieben. „Den nehmen wir“, sagte einer von den Männern, der — wenn man ganz genau hinsah — ein klein wenig Rot auf seiner grünen Uniform hatte. Mit jedem Schlag der Axt hüpfte das Herz der jungen Fichte ein wenig höher. „Jetzt werde ich ein Generalsweihnachtsbaum“, jubelte sie. Und richtig: die Soldaten trugen sie durch ein großes Tor in die Kaserne und durch eine vornehme Tür aus feinem Holz über der stand: Offiziere. In einem großen Saal mit weißgedeckten Tischen wurde sie aufgestellt. Und viele grüne
Männer eilten heran, um sie zu schmücken für ihren großen Tag. Aber was wurde da in ihre Zweige gehängt? Statt Sternen waren es Raketen; kein Kringel war darunter, nur Kanonen, für die Kugeln nahmen die Männer Flugzeuge, und Panzer für die Pracht der roten Äpfel. Laut lachten die grünen Männer über den Spaß, den sie sich machten. Die junge Fichte war zufrieden mit der kriegerischen Zier. Sie reckte ihre Zweige und war glücklich, ein Generalsweihnachtsbaum geworden zu sein. Sie freute sich aufs große Fest, und das Kinderlachen klang schon hell in ihren Ohren. Doch als es soweit war, da lachte gar kein Kind. Es waren Kinder da, doch standen sie nur stumm um diesen Baum herum und wollten sich nicht freuen über diesen Weihnachtsbaum, der so ganz anders war, als sie sich Weihnachtsbäume wünschten. So fremd erschien er ihnen, daß sie ihn nicht einmal erkannten als das, was er doch war: ein Weihnachtsbaum. „Gar keine Kringel“, klagte leise ein Kind, „und keine Kugeln.“ „Nur Kanonen“, murmelte ein anderes, „und Flugzeuge“ flüsterte ein drittes. „Und Raketen“ raunte da ein viertes. Und kein Kind lachte. Da weinte unsere junge Fichte harzige Tränen und verwünschte sich und ihre Weihnachtswünsche. „Ach käme doch jemand, der mich verwandeln könnte in einen Kinderweihnachtsbaum voll Kerzen und voll Kugeln und läge doch Lametta auf meinen Zweigen und hingen Kringel drin, damit ich Kinder lachen hören könnte“, klagte die kriegerisch Gezierte. „Krieg ist doch nichts für Kinder“, hatte sie gelernt, und auch: „Zu Weihnachten muß Frieden werden“, weinte sie und wartete
mit wehem Herzen auf den, der sie verwandeln könnte in einen Weihnachtsbaum voll Frieden und Versöhnung, auf den doch alle Kinder warten in der Welt. Bist Du bereit, ihr diesen Wunsch auch zu erfüllen?
Ein frommer Wunsch
Ihren achtzigsten hatte sie nicht feiern wollen. Immer lag ihr Geburtstag am Totensonntag oder am Buß- und Bettag, wenn keiner Lust hatte, fröhlich zu sein. Die Tage so grau, die Nächte so lang, jeder wartete auf den Beginn der Adventszeit, wenn es gemütlich wird mit den Kerzen und den würzigen Keksen, mit Honigkuchen und Aachener Printen. Wenn sie die doch nur noch beißen könnte … Alle hatten ihr zugeredet, aber sie wollte nicht feiern. Sie kaufte sich deshalb eine Karte für das Sinfoniekonzert, die Fünfte, die Schicksalssinfonie, sie ließ sich von einem Taxi in die Konzerthalle fahren, sie war also nicht zu Hause, da mußten sie sich fügen. Sie hatte nur einen Wunsch: Weihnachten, Weihnachten sollten sie einmal wieder alle zusammensein, nicht am ersten oder zweiten Weihnachtstag, sondern am Heiligen Abend, ob das nicht einmal möglich wäre. Sie ginge in ihrem Alter ja doch früh schlafen, und sie könnten doch gegen sechs alle nach Hause fahren und ihre eigene Weihnachtsfeier machen. Maulend oder erfreut waren die Reaktionen. Kinder sind eben verschieden, das waren sie schon immer, ihre vier. Aber alle sagten denn doch zu. Die Vorbereitungen fielen ihr nicht mehr leicht mit ihren Jahren, aber weil sie es wollte, schaffte sie es auch. Es sollte so
sein wie damals, genau so. Um eins sollten alle da sein, dann gab es heiße Wiener Würstchen mit Salat, mit ihrem Kartoffelsalat, mit selbstgemachter Mayonnaise und ausgebratenen Speckstückchen darin. Dann kam das Warten, das Reden von Weihnachten und den Wünschen, während sie mit der Ältesten zusammen im Wohnzimmer den Tannenbaum schmückte. Nur dies war anders: Sie saß im Sessel und ließ ihre Älteste machen. Die konnte das noch, stieg wie eine Junge auf den Stuhl und steckte die silberne Spitze mit dem roten Stein auf die Spitze, als wäre das nichts. Der Weihnachtsbaum sollte wieder bunt werden, so wie sie es alle am liebsten mochten, und mit viel Lametta. Von draußen hörten sie die Weihnachtsmusik aus dem Radio und die Stimmen der anderen, die mal lauter, mal leiser von ihren häuslichen Weihnachtsvorbereitungen erzählten. Sie wußte, was sie zu sagen hatten, sie kannte ihre Kinder. So schloß sie ihre Augen, hörte die da draußen reden, dachte sich ihr Teil. Nur dann und wann half sie mit Rat aus, wenn die Älteste sich nicht sicher war, an welchem Zweig die bunte Kugel oder der silberne Stern am besten passen würde. Ihr Jüngster hielt nichts von dem Getue um Weihnachten. Er gab damit an, Atheist zu sein. Das ist doch alles nur ein riesiges Geschäft. Seht auf den Buchhandel, die machen 70 % ihres Umsatzes in der Vorweihnachtszeit! Und dann nach den Feiertagen, die Sturmwelle des Umtausches in der Stadt. Hier werden doch Gefühle vermarktet. Seine ältere Schwester hatte da schon mehr für dieses Fest übrig. Für sie als Erzieherin in einem Tagesheim war es Hochsaison. Erst das Laternenbasteln, dann die Räume schmücken,
mit den Kindern die Weihnachtslieder und -gedichte lernen, dann die Geschenke für die Eltern basteln, jedes Jahr das gleiche, aber die Kinder müssen es ja irgendwo mitbekommen, in vielen Familien wird gar nicht mehr richtig gefeiert. Sie fahren lieber in den Süden oder in die Berge. Nur die Sache mit der Weihnachtsgeschichte, damit hatte auch sie ihre Probleme. Wie sollte sie den Kindern erklären, was ein Heiland ist, sie wüßte es doch selbst gern. Weihnachten mit den Kindern, das ergab einen Sinn, auch das Feiern einer Geburt, Kinder sind eben die Zukunft, aber alles andere, das Heilige, damit konnte sie nichts anfangen. Für ihren Zweiten war Weihnachten aus einem anderen Grunde wichtig. Damals, nach seiner Scheidung war er am Heiligen Abend immer zu ihr gekommen und hatte den ganzen Abend fast nur geweint, weil er nicht mit seinen Kindern feiern durfte, die er doch so sehr liebte. Aber dann hatten er sich mit seiner Frau geeinigt: am zweiten Feiertag durften die Kinder bei ihm sein, und so hielten sie es noch heute, obwohl sie schon erwachsen waren. Sie hatten ihm gestanden, daß es immer sehr schön für sie gewesen sei, zweimal Bescherung zu haben, und er hatte auch immer die Kerzen an seinem Weihnachtsbaum erst angezündet, wenn die Kinder bei ihm waren, und sie wußten das. Ihre Älteste, die jetzt das Lametta auf den Zweigen verteilte, weil sie mit den Kringeln fertig war, für sie war Weihnachten die Gelegenheit, die Welt zu verbessern. Sie wühlte fast das ganze Jahr über für den Basar zugunsten der schwarzen Kinder in Südafrika, sie kam schon im November mit den Postkarten von der Unesco und konnte nicht genug davon
loswerden, und dann brachte sie die Sammeldose von Brot für die Welt. Weihnachten, sagte sie, das hat doch alles nur einen Sinn, wenn es besser wird in der Welt. Wir können uns doch nicht nur egoistisch den Bauch vollschlagen, wenn andere hungern. Weihnachten muß man sich verdienen, sagte sie. Anfangs waren die anderen drei nicht einverstanden gewesen, am Heiligen Abend alle zusammen zur Kirche zu gehen. Was sollen wir da? Sie waren seit Jahren nicht mehr zu Weihnachten in der Kirche gewesen. Aber sie hatte darauf bestanden und die Älteste hatte sie unterstützt. Wer zu Weihnachten nicht in die Kirche geht, der dürfte eigentlich gar nicht Weihnachten feiern. So waren sie alle aufgebrochen zur Kirche, als die Glocken zum erstenmal läuteten. Und wirklich, es wurde so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Schon der schlichte Lichterbaum neben dem Altar tat das Seine. Sie blieben wie andächtig in dem Portal stehen und sahen sein Leuchten. Und dann die feierliche, gedämpfte Orgel, das wiegende Klingen der alten Lieder, an die sie sich alle erinnern konnten, sie sah, wie sogar ihr Jüngster die Lippen bewegte. Die Predigt machte auch nichts kaputt. Die Pastorin erzählte den Kindern die Geschichte von den Menschen, die in der Kälte der Nacht sich sehnten nach Wärme und Liebe, die unter der Macht der römischen Soldaten sich den Frieden herbeiwünschten, und wie dann alles in dem kleinen Kind in der Krippe erfüllt wurde: Der Stern brachte das Licht, die Nähe der Tiere erwärmte den Stall, die rauhen armen Hirten erfuhren, was für sie Liebevolles geschehen war, die Könige fielen auf die Knie und legten die Schwerter nieder und brachten dem armen Kind der Maria ihre Geschenke. Sie sah von
der Seite, wie gebannt ihre eigenen Kinder, diese erwachsenen Menschen, fasziniert auf die Kinder schauten, die der Geschichte lauschten. Und dann erschallte brausend und jubelnd das „Oh du fröhliche“, das sie stehend sangen. Wie von selbst fanden sich ihre Hände. Wieder bei ihr daheim gab es einen starken Kaffee und sie holte die Dosen mit den Schmalzkeksen und den braunen Kuchen, den Anisplätzchen und den Haferflockenkeksen. Sonderbar still waren alle. „Irgendwie“, sagte der Jüngste, und das Wort blieb lange allein in der Stille, dann erst sprach er weiter, „irgendwie ist da doch etwas dran.“ Sie wußten alle, was er meinte, er, der Atheist unter ihnen, der aus der Kirche ausgetreten war. Aber das waren ja auch die beiden anderen. Und sie waren es, die dem zustimmten. „Ja wirklich“, pflichtete die Erzieherin ihm bei, „die Menschen müßten sich nur mehr daran halten. Ich muß immer an die vielen Kinder ohne Väter denken. Der Joseph hat seine Maria nicht im Stich gelassen. Und so ein Kind, das ist doch wie eine Hoffnung für die Welt, wenn es das Richtige lernt und sich engagiert später.“ Das gefiel ihrer Ältesten. „In unserer Gemeinde arbeiten vier Wehrdienstverweigerer, und bei amnesty international haben wir eine ganz große Jugendgruppe. Das macht schon Hoffnung.“ Das konnten die anderen nur bestätigen. Es gibt viele junge Menschen, die von einer besseren Welt träumen und auch etwas dafür tun. Das war das Stichwort für ihren Zweiten. „Weihnachten, das ist wie ein Traum, aber es ist auch mehr. Wißt ihr damals, nach meiner Scheidung, als die Kinder noch klein waren, habe ich das ganze Jahr über von einer heilen Welt geträumt, und das war eben zu Weihnachten,
wenn die Kinder bei mir waren. Und zu Weihnachten war das plötzlich kein Traum mehr, dann war das Wirklichkeit.“ Als sie sich danach unter den brennenden Kerzen des Weihnachtsbaumes umarmten, da spürte sie das, was sie sich von diesem Tag gewünscht hatte: Sie fühlte, wie das Kind in der Krippe sie alle verwandelt hatte. In zweitausend Jahren war dieser Zauber nicht erloschen, und sie hatte dazu beitragen können in ihren achtzig Jahren. So verschieden ihre Kinder auch waren, in dem Erleben der Weihnacht waren sie sich einig, und sie alle hatten etwas davon in sich aufgenommen, das sie weitergegeben hatten und immer weitergeben würden …
Menschen hinter dem Zaun
Opa möchte schlafen, aber er kann nicht schlafen. Bei Katharina ist das anders. Jeden Abend. Katharina muß ins Bett, aber sie will nicht schlafen, Sie will lieber aufstehen, mit den Großen fernsehen oder spielen. Papa sagt: Bleib im Bett, und wenn du nicht schlafen willst, dann liegst du einfach im Bett und machst dir schöne Gedanken. Katharina will sich keine schönen Gedanken machen. Immer, wenn sie sich schöne Gedanken macht, schläft sie ein. Opa aber kann nicht schlafen. Die da drüben machen abends so viel Lärm, die halbe Nacht hindurch. Sie feiern, singen, lachen, rufen die halbe Nacht hindurch da drüben. Da drüben durfte Katharina früher nicht spielen, obwohl da so viele schöne Büsche waren und kinderhohes Gras. Es gibt eine Menge böse Menschen, sagte Oma, Mitschnacker und Kinderentführer. Deswegen durfte Katharina da drüben nicht spielen. Nun sind die Büsche weg und das Gras auch, das kinderhohe. Nun stehen da Container. Opa sagt: Blechdosen mit Fenstern. In diesen Containern leben Menschen. Asylanten, sagt Opa. Katharina findet das lustig: Menschen in Blechdosen. Katharina möchte zu gerne einmal in so eine Blechdose
hineinschauen. Aber da ist ein Zaun um die Container, und hinter dem Zaun sind die Asylanten. Asylanten sind schwarze und braune Menschen, dachte Katharina lange Zeit, aber nun sind auch hellere dabei, doch auch die waren zu lange an der Sonne gewesen, denn sie sind dunkler, brauner als Katharina, und Opa kann nicht schlafen. Die Asylanten feiern nachts und machen Lärm. Opa sagt, sie nehmen auch Autos weg. Opas Auto ist geklaut worden. Aber Katharina weiß, daß die Asylanten das Auto nicht haben. Hinter dem Zaun hat sie es nie gesehen, und in eine Blechdose geht es nicht rein. Opa sagt, man müßte die Blechdosen anzünden, dann wäre wieder Ruhe. Aber Blechdosen brennen nicht. Katharina weiß das. Katharina mag die Menschen hinter dem Zaun und schaut ihnen immer zu, wenn sie bei Opa ist. Katharina hat schon einmal so ein kleines schwarzes Baby auf dem Arm gehabt. Da war alles dran, und gelacht hat das Baby mit den braunen Augen. Katharina kennt auch ein Geheimnis. Die braunen Babys haben weiße Hände, innen sind die Hände ganz hell. So ein Schwesterchen möchte Katharina haben, aber Mama sagt, das geht nicht, weil Papa zu weiß ist. Was jetzt geschehen ist, hat Katharina gar nicht mitbekommen. Das muß passiert sein, als Katharina schlief. Mama sagt, das war so: Katharina stand am Zaun bei den Containern. Das weiß Katharina auch noch, aber dann weiß sie nichts mehr. Sie ist über die Straße gelaufen, das Auto war da, Katharina flog durch die Luft, und nun hat sie ein Bein ganz steif in einem weißen harten Verband und auf dem Kopf einen weißen Turban. Das Auto ist weggefahren. Nur die Menschen aus den Blechdosen waren da. Sie haben den Krankenwagen gerufen
und die Polizei. Sie haben Katharina auf die Seite getragen und auf eine Decke gelegt. Wenn Katharina wieder aus dem Krankenhaus kommt, dann will Opa mit ihr zu den Menschen hinter dem Zaun gehen und mit ihnen feiern. Das hat er versprochen. Und er sagt auch gar nicht mehr, daß er nicht schlafen kann. Er sagt, es gibt solche Menschen und solche. Er sagt, braune Menschen haben auch ein Herz. Katharina freut sich. Endlich wird sie einmal so eine Blechdose von innen sehen. Opa sagt, die sollen Häuser bauen für die Menschen hinter dem Zaun. Aber Katharina hofft, daß sie gesund wird, bevor die Häuser fertig sind. Denn sie möchte zu gerne einen Container von innen sehen. Opa sagt auch, sie sollen den Zaun wegmachen, das wäre eine Schande. Katharina findet das auch, und wenn sie ein Schwesterchen bekommt, dann soll es braun sein.
Der verlegte Schlüssel
Die 49 Euro für die lange überfällige Inspektion seines Autos gaben ihm den Rest. Der Teppichboden für 3000, der ja unbedingt sein mußte, der alte liegt doch nun schon fünfzehn Jahre und durchgetreten ist er im Flur und unter dem Eßtisch, lag ihm auch noch im Magen, die neuen Brillen für die Kinder, zusammen auch nur 575 Euro — sie können doch nicht mit Kassengestellen rumlaufen, wenn sie schon einen Sehfehler haben, dann sollen sie wenigstens gut aussehen, nicht wahr? Schließlich war der Sommerurlaub in Dänemark auch noch nicht bezahlt, da fehlten immer noch 500 Euro, und die vier Wochen Dänemark lagen schon fünf Monate zurück. Aber unter vier Wochen ist es doch keine Erholung, nicht wahr? Die Zahl unter seinem Kontoauszug von der Sparkasse sah beeindruckend aus, wenn nur nicht der kleine waagerechte Strich davor wäre … Aber Geld ist schließlich nicht alles. Wenn alles andere stimmt, dann kommt es auf das Geld nicht an. Aber das andere — es stimmte eben auch nicht. Seit der Voigtmann Abteilungsleiter war, quälte jeder Schritt auf dem Weg ins Büro. Es war doch reine Schikane, wenn alle stumpfsinnigen Arbeiten auf seinem Schreibtisch landeten. Eigentlich müßte er doch
jetzt die Schadensabteilung leiten, hatte er sich nicht in den letzten zwei Jahren reichlich bewährt, hatte keine Überstunde verweigert, hatte die schwierigsten Fälle zur Zufriedenheit des Chefs geklärt, sogar die Sache mit dem gestohlenen LKW und der Regreßklage wegen der versäumten Lieferfristen. Vor Gericht hätten sie vielleicht schlecht ausgesehen, es war doch sein Verhandlungsgeschick gewesen, daß sie sich verglichen hatten. Aber als der Westphal in Frührente ging, da wurde der Voigtmann Abteilungsleiter. Nur weil er studiert hatte und mit dem Chef im gleichen Club Tennis spielte. Als ob er das nicht wüßte … Aber der Voigtmann mit seiner angeberischen Hornbrille und dem Anzug von Hugo Boss konnte auch gut Tennis spielen, Kinder hatte er nicht und Freundinnen wechselte er wie das Hemd. Wenn wenigstens damit alles in Ordnung wäre, aber selbst das bekam er nicht auf die Reihe. Immer häufiger hatten sie Streit miteinander. War es seine Schuld, wenn sie ihre Stellung verlor, weil die Engländer ihre Firma aufgekauft hatten? Er war doch nicht der Erfinder der Globalisierung! Und dann diese ständige Auseinandersetzung um seine Überstunden. In jedem Kriminalfilm kann man es sehen: die Frauen haben alle keine Ahnung davon, daß man arbeiten muß, manchmal auch mehr als nur acht Stunden am Tag, wenn man es zu etwas bringen will. Er mochte seine Frau, gewiß, aber mußte sie immer hinter ihm her sein, wenn er einmal zum Kegeln wollte oder zum Fußball? Er sollte sich mehr um seine Kinder kümmern, aber er war eben zu müde, um sich nach zehn Stunden Arbeit auch mit den blödsinnigen Hausaufgaben seiner Kinder zu beschäftigen. Die Tochter — warum
kapierte sie die Textaufgaben auch nicht! Sie waren doch ganz einfach … Darum war der Brief seines Onkels wie ein Wunder gewesen. Sein Onkel, der mit fünfzig aufhören konnte, zu arbeiten, weil er genug zusammengerafft hatte, und der seitdem von seinem Ersparten lebte, und das war genug. Es mußten Millionen sein. Nun war er achtzig und hatte seinen Besuch angekündigt. Er wollte mit ihm einmal reden, weil er doch nun sein Testament machen müßte, in seinem Alter und keine Kinder … Bisher hatte er gedacht, das gäbe es nur in Romanen: Erbonkel. Aber Onkel Eduard war sein Onkel, war alt, unverheiratet und kinderlos und wollte sein Testament machen. Nach einem Gespräch mit ihm, seinem Neffen. Sonntag morgen. Um zehn. Schließlich brauche ein alter Mann nicht mehr so viel Schlaf. Nun gut, an ihm sollte es nicht liegen. Das wäre die Lösung all seiner Probleme … Er benötigte viel Überredungskunst, um seine Familie für dieses Wochenende bei Schwiegereltern einzuquartieren. Quarkende und streitende Kinder am Sonntagmorgen, das wäre für einen alten Mann bestimmt zu nervig. Und darauf konnte er wetten: es würde Streit geben und Gemecker, denn der Fernseher stand im Wohnzimmer und sie sahen doch immer das Kinderprogramm am Sonntagmorgen, und schließlich konnte er einen Erbonkel nicht in der Küche empfangen. Aber dann waren sie gefahren, er winkte ihnen zu, schloß die Wohnungstür ab und machte sich einen schönen Abend mit Bundesligafußball und Flaschenbier, mit einem Video voller Action. Den Film sah er zweimal, so großartig waren die Stunts.
Er wurde erst vom Klingeln wach. Das war nicht der Wecker, wie ihm so langsam bewußt wurde, das war die Haustür. Onkel Eduard! Blitzartig fiel es ihm ein. Scheibenkleister … Das war noch immer ein besserer Fluch, als bei jeder Gelegenheit das andere zu sagen, brachte er immer wieder seinen Kindern bei, die mit den Wörtern aus der Hose sehr freigiebig waren. Füße aus dem Bett, die Hausschuhe, wo ist denn der andere, es klingelt, natürlich unter dem Bett, schnell den Morgenmantel, wieder das Klingeln, einen Blick in den Spiegel, mit der Hand über das Haar, wieder das Klingeln, über den langen Flur zur Tür, Riegel zurück — aber was ist das? Die Tür ist abgeschlossen. Ja richtig, er hatte gestern selbst abgeschlossen. Es klingelt. Fordernder, stürmischer diesmal. Wo ist denn nur der Schlüssel, sonst läßt er ihn doch immer stecken. Diesmal eben nicht. Wo ist der verflixte Schlüssel!? Wo hat er ihn gelassen? Wieder das Klingeln. So endgültig diesmal. Auf dem Tisch in der Küche. Mein Gott sieht das hier aus! Er hätte noch abwaschen sollen, und draußen klingelt der Erbonkel. Hier ist der Schlüssel auch nicht. Im Wohnzimmer, auf dem Couchtisch. Natürlich! Zwischen all den leeren Bierflaschen und dem vollen Aschenbecher muß er liegen. Warum hat er nur nicht aufgeräumt, bevor er schlafen ging? Hier kann er doch keinen Erbonkel reinlassen! Aber erst einmal den Schlüssel finden. Wo hat er ihn nur gelassen gestern? Er hatte immer nur an das Erbe gedacht und an den freien Abend. Es klingelt wieder. Etwas verloren klingt es jetzt. Ja richtig, in seiner Anzughose, die er gestern anhatte, da wird der Schlüssel sein. Die Hose liegt hinter dem Sessel. Und seinen Kindern macht er immer Vorwürfe, wenn sie ihr Zeug nicht ordentlich weglegen, und
die schmutzigen Unterhosen auf dem Fußboden im Kinderzimmer. Es klingelt. Ziemlich abschließend schrillt die Klingel an der Haustür. Da, wie konnte es auch anders ein, in seiner Hosentasche, das Schlüsselbund. Zur Tür, mit zittrigen, hastigen Fingern den Schlüssel ins Schloß, umdrehen, die Tür aufreißen — da ist gar keiner. Das Treppenhaus ist eine gähnende Leere. Nicht einmal das Treppenhauslicht brennt. Nur ein etwas feuchter, muffiger Geruch steigt ihm in die Nase. Altbau eben. Kein Besuch. Kein Erbonkel. Schweißgebadet wacht er auf. Es braucht einige Zeit bevor er seine Augen aufbekommt und sich klarmachen kann, was geschehen ist. Das war ein Traum. Und sein Pyjama ist naß von Schweiß. Kalt klebt der Stoff auf seiner Haut. Er hat geträumt. In seinem Alter und solche Alpträume! Traumdeuter müßte man sein. Wie ist er nur auf einen solchen Traum gekommen. So nach und nach fällt es ihm ein. Das hatte mit dem Blumenladen zu tun, an dem er jeden Morgen vorbeikam auf dem Weg zur U-Bahn. Da waren ihm die Kränze aufgefallen. Ein Wort mit vier „tz“: Atzventzkrantzkertze. Außer diesem Kalauer, der ihm sofort einfiel, hatte er sich über den Preis gewundert: 25 Euro für einen Kranz mit vier roten Kerzen und einem roten Band. War es das wert? Und dann hatte er die ganze Fahrt mit der Bahn daran gedacht: warum das alle machen, diese Sache mit einer Kerze nach der anderen. Er konnte die Leute nicht leiden, die alle Kerzen gleichmäßig herunterbrennen und es nicht abwarten können: erst die eine, dann die zweite, dann die dritte, wie es sich gehört … Dieses Warten — worauf eigentlich warten sie alle? Auf Geschenke? Die Kinder bestimmt. Das ist ihr gutes Recht. Aber
die Erwachsenen? Auf die schönen Tage? Auf Frieden? Auf Glück? Auf Gerechtigkeit? Auf Vergebung? Auf dieses Kind, das da geboren wurde vor zweitausend Jahren? Daß es auch zu ihnen käme und all das mitbrächte, Frieden, Glück, Gerechtigkeit, Liebe? Viele bereiten sich in diesen Wochen vor. Wie auf einen hohen Besuch. Sie putzen, schmücken, räumen. Manche machen sich lustig darüber. Aber ist es nicht wie ein Besuch? Wenn Maria und Joseph an die Tür klopfen, dann sollten sie ins Haus kommen können und nicht nur Platz im Stall finden. Er erinnerte sich an die Krippenspiele seiner Kindheit. Und dann war er bei dem Gedanken gelandet, ob er sich denn auch auf Weihnachten vorbereiten würde, nicht nur mit dem Geschenke kaufen, sondern auch anders. Aber wie … Welchen Besuch erwartete er und wie bereitete er sich darauf vor? Das mußte der Ursprung seines Traumes vom verlegten Schlüssel sein. Er hatte gar keinen Erbonkel. Nur die Inspektion für 49 Euro, die war echt. Und die Sache mit dem verlegten Schlüssel — war sie auch echt? Vielleicht sollte er darüber mal still werden. Er hatte schon lange nicht mehr die Hände gefaltet.
Die Menschen in Dosen oder
Wir haben den Stall gefunden Nun fehlten doch noch Kugeln am Tannenbaum. Das kam aber nur, weil Papa sich auf die ganze Schachtel draufgesetzt hatte. Papa blieb heil. Die Kugeln nicht. Das waren gerade die schönsten, sagte Mama, die mit den weißen Sternen überall. Heute morgen sagte sie: Ihr müßt noch einmal los, in die Osterstraße. Vielleicht hat Budni noch welche. Aber wieder so große. Tommy war es recht. Erstens geht die Zeit schneller mit Papa in der Osterstraße, zweitens kauft er vielleicht noch etwas Süßes, und drittens muß ein Weihnachtsbaum ganz viele Kugeln haben. Weil das Wohnzimmer doch schon zugeschlossen war, und weil er Mama immer zwischen den Beinen herumlief und Mama sagte: Wenn ihr nicht gleich verschwindet, hat Budni zu, und wir kommen nicht rechtzeitig in die Kirche, und ohne Kirche feiere ich kein Weihnachten; weil es auch langweilig war mit all seinen alten Sachen ohne den Zoo von Playmobil, den er sich wünschte, zogen sie sich an und gingen los. Zuerst fiel ihm der fremde Junge gar nicht auf. Es war nur ein Junge im Gedränge der Großen in den engen Gängen zwischen den Regalen. Aber dann sah er, wie eine Babyflasche unter dem Pullover verschwand. Ein Junge, der eine Nuckel-
flasche klaut, das war schon etwas Besonderes. Nun nahm er auch noch Lätzchen aus dem Regal und einen einzelnen Schnuller. Blitzschnell verschwand beides in dem Halsloch seines grauen Pullovers. Vor den Fächern mit der Babynahrung wurde der dünne Junge ganz dick. Wenn er sich bewegte, klapperte es leise. Die Großen achteten nicht auf ihn. Sie schubsten ihn nur, weil sie durchwollten. Tommy sah sich ängstlich um. Der fremde Junge klaute, und er hatte Angst. Heute ist Weihnachten, und der Junge klaut. Der kriegt bestimmt nichts zu Weihnachten, der war nicht brav. Papa wollte zuerst nichts wissen von dem Jungen. Er hatte seine großen Kugeln gefunden, nur waren sie rot diesmal, aber er dachte, das macht nichts, das ist auch einmal schön, und die anderen waren ausverkauft. Dann aber, nachdem sie durch die Kasse waren — es gab nichts Süßes, heute ist Heiligabend, heute abend gibt es vielleicht einen bunten Teller, nur rauchen darf Papa schon heute morgen — da beugte sich Papa herunter zu ihm. Du, Papa, der Junge da drin, der klaut. Welcher Junge? Na, der da drin. Gleich kommt er raus. Schnell erzählte Tommy, was er gesehen hatte. Schon kam der Junge heraus. Er drängelte sich einfach an den Großen vorbei, die vor der Kasse standen. Niemand beachtete ihn. Wer kümmert sich schon um Kinder am Heiligabend. Sie achteten auf die Waren und das Geld. Wir gehen ihm nach, Papa, bitte! Papa wollte auch noch nicht nach Hause. Da war es ihm zu unruhig. Er sollte noch den Keller aufräumen, weil Mama sonst gar nicht an die Geschenke herankäme. Keller aufräumen war für Papa wie Gemüse essen für Tommy. Es gab immer
Streit deshalb. Der fremde Junge ging schnell. Sie konnten sogar die Gläser klappern hören unter seinem Pullover. Er sah sich nicht um. Der Junge ging in das Geviert des Maschendrahtzauns, wo die Menschen in Dosen wohnen, wie Opa sagte. Er verschwand in der dritten Dose. Tommy wußte, daß das keine Dosen, sondern Container waren für Menschen, die hier wohnen, weil bei ihnen Zuhause Krieg ist oder nichts zu essen. Papa sah ihn an. Wollen wir? Atemlos nickte Tommy. Sie gingen hinein und klopften an der Tür. Irgend etwas Fremdes wurde darinnen gesagt, und die Tür ging auf. Ein großer Mann mit schwarzem Bart sah sie fragend an, lachte und machte die Tür frei. Mit einer Handbewegung lud er sie ein. Am Tisch vor dem Fenster saß Maria. Sie hatte wirklich ein blaues Kleid an und ein Kopftuch. Nur das Baby leuchtete gar nicht um den Kopf. Es lag in ihrem Arm und sabberte. Tommy fand ja, daß alle kleinen Babys sabbern und schreien. Warum denn nicht auch das Jesuskind. Nur schrie es nicht, sondern blubberte zufrieden. Der fremde Junge war auch da. Er saß auf einem Etagenbett und packte seinen Pullover aus. Er grinste sie beide an. „Meine Schwester“, sagte er. „Ausgewiesen. Sollen zurück. Verstecken sich jetzt. Wollen nicht nach Kroatien. Krieg und böse Leute. Sehr böse Leute. Gefängnis. Keine Wohnung. Nur Lager. Ihr seid auch im Laden gewesen? Seid mir nachgegangen?“ Papa nickte. Tommy nickte. Aber der Junge wurde nicht rot. Er sagte nur: „Heute ist Weihnachten.“ Er sagte es so, daß es wie eine Forderung klang, so etwa wie: Laßt mich in Ruhe! Papa sagte nichts. Er nahm nur sein Portemonnaie heraus
und fingerte drei Scheine hervor. „Eben“, sagte er dann, „deshalb ja.“ Sie haben noch Tee getrunken im Container, und Mama hat sich sehr gewundert, daß es bei Budni so voll war. Aber am Heiligen Abend haben viele etwas vergessen. Die Geschenke hatte sie schon selbst aus dem Keller geholt. Doch das Schlüsselloch der Wohnstube war von innen verhängt. Als sie in der Kirche waren, war Tommy das einzige Kind, das genau wußte, wo der Stall des Jesuskindes stand. Er und sein Papa, sie hatten ihn gefunden, bestimmt, er war da, wo die Menschen in Dosen leben, wie Opa sagt, und sie hatten auch Maria und Joseph gesehen. Und die Hirten, sie sahen aus wie er und Papa und wie ein fremder Junge, der bei Budni klaut … So war es und nicht anders. Ehrlich.
Die schlimme Geschichte von Weihnachten
Mama putzt und putzt. Seit Tagen putzt sie die Fenster, die Schränke, den Fußboden und die Lampen. Alles was ihr unter die Finger kommt, putzt sie, im Vorbeigehen sogar des kleinen Jakobs Nase. Damit das Christkind kommen kann, sagt sie. Mama kocht und backt und kocht und backt. Seit Tagen kocht und backt sie, Kuchen und Stollen, Kekse, Braten und Pudding. Sogar eine tote Gans und ein Karpfen kommen in die Tiefkühltruhe. Alles für die Feiertage, sagt sie. Tina schreibt und schreibt. Seit Tagen schreibt Tina auf, was sie sich zu Weihnachten wünscht. Eine Baby-Born-Puppe, einen Discman, Schlittschuhe, mehr Möbel für das Puppenhaus, einen richtigen kleinen Herd, damit sie ihren Puppen Milchsuppe kochen kann, ein rotes Fahrrad mit ganz dicken Reifen, einen Schirm, und … und … Ihr Wunschzettel ist meterlang. Die Finger tun ihr weh vom vielen Schreiben. Nur wenn sie eine Schüssel auslecken darf von Mamas Backen, macht sie eine Pause. Papa hat auch keine Zeit. Er bastelt und flucht. Die Lichterkette für den Christbaum funktioniert nicht. Dreimal hat es schon geblitzt, aber die Lämpchen wollen nicht leuchten. Aber Papa kann auch schlecht basteln mit einer Hand. Die
andere steckt in einem weißen Verband. Papa hat sich in den Finger gesägt, als er den Christbaum holte. Gestern war das. Und bald ist Weihnachten. Sechsmal werden wir noch wach, heißa, dann ist Weihnachtstag … Aber Tina kommt aus der Schule und will von Weihnachten nichts mehr wissen. Sie will keine Kekse, keinen Adventskranz und keinen Tannenbaum mit Kerzen, Kugeln und Lametta. Sie will noch nicht einmal Geschenke. Ihre Lehrerin hat es erzählt, in Wirklichkeit war alles ganz anders. Und das — das kann man nicht feiern. Mama hört auf zu putzen, setzt sich an den Küchentisch und läßt sich die schlimme Geschichte erzählen. Es war einmal, und Tina weiß sogar wann, nämlich vor 2000 Jahren, ein Kaiser, und der hieß August. Der wollte immer mehr Geld von den Leuten in seinem Reich und zwang sie alle, in die Stadt zu wandern, in der sie geboren waren. Dort sollten sie in lange Listen eingeschrieben werden. Und es war ein Zimmermann, der hieß Joseph, und er mußte wie alle anderen sich auf die weite Reise machen. Das war noch nicht schlimm, Zimmerleute müssen oft weit reisen, um Arbeit zu finden. Aber der Joseph hatte eine Frau, und die sollte ein Kind bekommen. Ihr Bauch war schon ganz dick, und die Geburt sollte schon bald sein. Maria, so hieß sie, konnte kaum noch laufen, ihre Füße waren geschwollen und sie war müde. Aber sie mußten nach Nazareth. Als Maria keinen Schritt mehr machen konnte, sahen sie in der Ferne das Licht in den Häusern der Stadt. Joseph stützte seine Frau, und sie klopften an die Tür des ersten Hotels. Aber der Wirt schickte sie weg. Alle Zimmer
sind belegt, sagte er. Maria schleppte sich mit Joseph zum nächsten Gasthaus. Aber der Wirt ließ sie auch nicht rein, das Haus sei voll, sagte er. So gingen die beiden Müden von Tür zu Tür, und niemand gab ihnen ein Bett für die Nacht. In jedem Haus jagte man sie davon. Als Maria schon weinte und Joseph wütend die Lippen zusammenkniff, da klopften sie an das schäbigste Gasthaus am Stadtrand. Auch dieser Wirt wollte sie davonjagen, aber als Joseph auf den dicken Bauch seiner Maria zeigte, da hatte der Wirt ein Herz und ließ sie in den Stall. Unter dem löcherigen Dach zwischen Ochsen und Eseln, im pieksigen Stroh bekam Maria noch in dieser Nacht ihr Kind. Und weil sie kein Bett für das Baby hatte, legten sie es in eine Futterkrippe. So war das zu Weihnachten, und so böse Wirtsleute kann man doch nicht feiern, sagt Tina. Mama hört ihrer Tochter ganz gespannt zu. Das ist aber nicht die ganze Geschichte, sagt sie und streicht Tina über den Kopf. Erstaunt schaut Tina ihre Mama an. Jetzt muß Mama erzählen. Weißt du, Tina, vor der Stadt waren in dieser Nacht wieder Hirten, die waren arm, und niemand wollte mit ihnen zu tun haben, weil sie nur die Schafe hüteten. Diese finsteren Gestalten hatten von dem Kind im Stall gehört, und stell dir vor, sie rannten in die Stadt zu diesem alten Gasthaus, liefen in den Stall, und als sie das kleine Kind in dem Futtertrog liegen sahen, da wurden sie ganz still, einige fielen sogar auf die Knie, so sehr bewunderten sie das Kind. Es war der älteste der Hirten, der zu Maria sagte: Dein Kind, liebe Frau, dein armes Kind wird einmal der König aller armen Leute sein, ein König, der sie reich macht. Maria wollte das gar nicht glauben, aber dann geschah noch etwas Sonderbares: Knarrend
und quietschend ging die Stalltür auf, und drei Männer in prächtigen Kleidern stolperten in den Stall. Kaum sahen sie das Kind in der Krippe, breiteten sie Teppiche aus und legten kostbare Geschenke für das Kind darauf. Dann fielen auch sie auf ihre Knie und riefen: du sollst auch unser König sein, ein König, der uns allen endlich Frieden bringt. Und dann zeigten sie Maria und Joseph einen hellen Stern am Himmel, der in der Dunkelheit funkelte. Dieser Stern hat uns hierher geführt, sagten sie, das ist der Königstern. Meinst du nicht, Tina, das wäre doch ein Grund zum Feiern? Tina dachte nach. Einen König, der arme Leute reich macht, das gefiel ihr. Ein König, der für den Frieden ist, auch. Das konnte man wirklich feiern, feiern mit Tannenbaum und Kerzen und mit Geschenken für Kinder.
Ein kleines schwarzes Mädchen
Mama hat den Karton aus dem Keller geholt, den Karton mit dem Bild vom Fernseher drauf. Aber da ist kein Fernseher drin, Tina weiß das. In diesem Karton ist die Weihnachtskrippe, und niemand darf sie aufbauen, nur Tina darf das. Vorsichtig öffnet sie die Kiste. Da ist der Stall, sie erkennt ihn gleich wieder, aber der kommt noch nicht. Zuerst sucht sie die Maria und den Joseph. Da sind sie. Tina spielt. „Habt ihr nicht eine Wohnung für uns? Meine Maria ist ganz müde und kriegt ein Kind!“ „Nein, haut ab, wir haben keinen Platz für euch!“ „Habt ihr nicht eine Wohnung für uns? Maria ist müde und kriegt ein Kind!“ „Ach was, geht weiter, wir haben nichts für euch!“ „Mußt nicht traurig sein, Maria, wir versuchen es da drüben noch einmal.“ „Haben sie nicht ein Bett für Maria, sie kann nicht mehr!“ „Haut ab hier, wir geben nichts!“ „Aber sie muß doch ein Kind kriegen in dieser Nacht!“ „Na gut, dann geht in den Stall. Da im Mist könnt ihr schlafen!“ Tina nimmt nun den Stall. Sie stellt die Tiere hinein, die Ochsen, Schafe und Esel. Maria und Joseph kommen auch in
den Stall. Dann holt Tina die Krippe aus dem Karton. Und das Jesuskind. Tina sieht das kleine Kind an. Irgendwie gefällt ihr das nicht. Schnell läuft sie ins Kinderzimmer und holt ihren Malkasten. Sie malt das Jesuskind schwarz an, und dann holt sie noch ein buntes Tuch und macht ein Kleid daraus. Nun ist es richtig. Sie legt das schwarze Mädchen in die Krippe. Mama brüllt. Sie schimpft. Auch wenn bald Weihnachten ist, schimpft sie. „Tina, was hast du nur gemacht! Du kannst doch nicht einfach das Jesuskind anmalen, ganz verhunzt hast du die Krippe!“ Aber Tina findet das gar nicht. Als Mama Luft holt und das Jesuskind in ihren Fingern hin und her dreht, kann Tina etwas sagen. „Das Jesuskind ist doch arm, oder?“ „Ja, sicher“, sagt Mama. „Das Jesuskind hat doch keine Wohnung, oder?“ „Ja, sicher“, sagt Mama. „Dann ist es auch schwarz und ein Mädchen!“ sagt Tina. Und sie erinnert Mama an neulich abend. Da war Tina mal wieder nicht früh ins Bett gegangen, sondern noch auf, als sie die Nachrichten im Fernsehen zeigten. Und da waren lauter kleine schwarze Kinder unterwegs, alle barfuß, und die Mädchen in den bunten Kleidern trugen Bündel auf dem Kopf, und Mama hatte es Tina erklärt: „Das sind Kinder in Afrika, die fliehen vor den Soldaten. Sie haben kein Zuhause mehr und nichts zu essen. Niemand will sie haben, diese Kinder.“ Mama weiß nun, warum das Jesuskind schwarz sein muß. Sie schimpft nicht mehr. Aber Oma, Onkel Theo und Mamas Freundin, die Renate, die wundern sich alle über das schwarze
Jesuskind im Mädchenkleid, und Tina muß es immer wieder erklären, sie hat schon gar keine Lust mehr. Aber Jesus war arm und hatte keine Wohnung, und zu Weihnachten feiern die Menschen seine Geburt, damit so etwas nicht wieder vorkommt: Kleine schwarze Mädchen, die vor den Soldaten fliehen, kein Zuhause mehr haben und hungern müssen. So etwas soll es nie wieder geben, darum feiern wir Weihnachten, sagt Mama. Und Mama hat recht, auch wenn sie nicht wußte, warum das Jesuskind ein schwarzes Mädchen ist.
Kein Ersatz für Weihnachten
Abends, wenn kein Kind mehr Durst hat und keines mehr Hunger, abends, wenn kein Kind mehr eine Zipfelpuppe zum Einschlafen sucht und unbedingt etwas erzählen muß, etwas ganz wichtiges, abends also, wenn die Erwachsenen beieinandersitzen und sich unterhalten — was reden die nur immer! — dann wird es plötzlich ganz still … und alle lauschen auf das Tapptapp von kleinen nackten Füßen auf dem Flur: da ist er wieder, Tommy, der traurige Tommy, Tommy, der schlecht geträumt hat und aus dessen Augen leise Tränen laufen. Ja, da kann ich ihn nur in den Arm nehmen, da muß ich seine Tränen trocknen und ihn trösten. Gegen schlechte Träume hilft nur eines, und das ist Liebhaben. Neulich habe ich schlecht geträumt. Aber wohin soll man gehen, wenn man so groß ist wie ich, um sich trösten zu lassen? Auch große Leute brauchen das Liebhaben, wenn sie schlecht träumen. Ich will euch meinen Traum erzählen. Es war kurz vor Weihnachten. Wenn Weihnachten näher kommt, kann man es riechen. Es riecht nach — Zimt und Nelken, nach Marzipan, nach glimmendem Kerzendocht und — ja, und nach Harz und Tannen. Zu gern tue ich das, ich breche ein kleines Zweiglein ab und halte es über die Flamme,
ganz vorsichtig, damit nichts herunterfällt, ich sehe die Nadeln aufflackern, ich höre das Knistern und Knacken, und ich rieche Weihnachten. Aber dieses Mal war gar nichts zu riechen. Weihnachten war ganz nahe — und ich roch gar nichts. Ich hatte wirklich nicht einen einzigen Tannenzweig im Haus. Wo ich auch hinsah, wo ich auch suchte — kein Tannengrün, in der ganzen Wohnung nicht. Nun hast du alles vorbereitet, du hast schon alle Geschenke besorgt, der Nikolaus kann kommen, die Kekse sind gebacken, der Stollen angeschnitten, und keine Tanne ist im ganzen Haus! Ich lief hinaus, nur schnell, schnell, den Adventskranz und den Tannenbaum kaufen, damit Weihnachten werden kann. Ich rannte durch die Straßen, über Kreuzungen und Plätze. Es war furchtbar. Ich sah nur Steine, Asphalt und Beton. Kein Grashalm wuchs zwischen den Steinen, kein Baum behauptete sich, kein Gebüsch säumte die Straßen. Kalt und tot erstarrten Steine, Asphalt und Beton. Ich brauche Tannengrün für Weihnachten! Ich brauche einen Christbaum, ich brauche einen Adventskranz! Ich hastete weiter. Endlich! Da standen die Leute dichtgedrängt. Und zwischen den dicken Mänteln und unter dem Dach der Regenschirme, da und da, da schimmerte es grün. Da gab es Tannen! Grün und dauerhaft, platzsparend zusammenklappbar, alle Jahre wieder der gleiche Baum, fast wie echt! Ein Tannenbaum aus Plastik! Ein Plastikweihnachtsbaum! Immergrün und unverwüstlich! Was sollte ich denn machen? Ich nahm ihn mit, den Plastikweihnachtsbaum. Ich trug ihn nach Hause und stellte ihn auf. Wirklich, er sah aus wie ein echter Baum. Wenn ich die Augen ein wenig zusammenkniff, sah ich
keinen Unterschied mehr. Wie ein echter Christbaum sah er aus, mit seinen Kringeln und Kugeln, der Plastikweihnachtsbaum. Außerdem würde ich nun nie wieder Tannennadeln aufsaugen müssen. Ein Plastikbaum nadelt nicht. Und dann feierten wir Weihnachten, Weihnachten mit Keksen und Geschenken, mit Kerzenschein und Karpfenessen. Ich nahm mir einen Keks vom bunten Teller und biß hinein — und schrie auf: der Keks war aus Plastik! Ich griff zur Tasse, um einen Schluck zu nehmen vom Weihnachtskaffee: es ging nicht. Es war Plastik in der Tasse. Da fing auch Tommy an zu weinen. Der Schokoladenkringel, in den er beißen wollte: er war aus Plastik. Ich nahm Tommy in den Arm, um ihn zu trösten. Tommy war ganz leicht und steif: Tommy war aus Plastik. Alles, was ich anfaßte, wurde zu Plastik. Erschrocken wachte ich auf. Ein furchtbarer Traum! Ich bin dann zu Tommy gegangen. Zum Liebhaben und Tröstenlassen. Tommy atmete ruhig und schlief warm und fest. Pst. Er träumt von Weihnachten. Von einem Weihnachten mit Liebhaben und Einander-Gut-Sein. Tommy weiß, daß es keine Plastikliebe gibt und kein Plastikweihnachten. Tommy weiß: Weihnachten wächst aus dem Herzen, aus seinem Herzen, heiß und froh aus unseren Herzen. Ihr könnt es selbst spüren, wenn ihr den Duft von Harz und Tannen riecht, und in euch die Freude wächst, euch heiß durchströmt, die Freude auf Weihnachten, die Freude auf Liebe und Geschenke. Wenn ihr das in euch fühlt, dann wißt ihr genau: Weihnachten ist der schöne Traum der Menschen von Liebe, und dafür gibt es keinen Ersatz.
Lucies Wahrheit Zu 1. Korinther 2, 1 – 10
Erinnerst Du Dich? Nein. Du erinnerst Dich nicht. Du warst noch nicht einmal 0 Jahre alt. Da sind Deine Eltern mit Dir beim Arzt gewesen, nicht beim Kinderarzt. Du hattest kein Fieber, kein Bauchweh, keinen Beinbruch. Aber Du warst verletzt, tief in Deiner Seele warst Du verletzt. Deine Eltern waren mit Dir beim Seelenarzt. Er sollte helfen, wo sie nicht weiter wußten. Warum fängt ein kleiner, gesunder Junge ganz plötzlich an zu weinen? Mutti, ich bin so traurig, sagtest Du, Mutti, ich bin so traurig. Mehr nicht. Nur manchmal kam noch etwas dazu: der nächste Weltkrieg, die Atomstrahlen, das Sterben der Natur, vor allem die Wale waren’s bei Dir, die Wale. Du liebtest die Wate, weiß Gott, warum. Die Wale. Ich glaube, sie waren 0 Mal mit Dir beim Seelendoktor. Aber er gab es auf. Du bist normal, sagte er, ein normaler, empfindsamer, gesunder Junge. Am liebsten mochtest Du, wie Du es nanntest, Scheiß bauen, Leute ärgern, also Streiche machen und Fußball spielen. Bettwäsche von Bayern München wünschtest Du Dir zu Weihnachten. Ein gesunder, normaler Junge, empfindsam. Irgendwann später erzähltest Du vom Pendeln und Tischerücken. Du durftest abends schon lange raus damals, und irgendwo saßet ihr beisammen und
habt Tische gerückt und mit Toten geredet, Teufelskram interessierte euch. Irgendwann kam es heraus, ihr rauchtet auch Gift. Rauschträume suchtet ihr, Traumräusche, wie Menschen auf der Flucht. Ach, wenn ich Dir nur helfen könnte, nun hast Du doch schon alles versucht. Du hast Politik gemacht, Du hast viel Geld verdient, Du hast es ausgegeben, Du hast dies gelesen und jenes. Wenn ich Dir nur helfen könnte! Aber was kann eine alte Frau schon einem jungen Mann helfen? Ich habe nur mein Leben und die Erinnerung. Mein Leben liegt hinter mir, und ich weiß, wie oft ich in die Irre ging. Aber glaub’ mir, mein Junge, ich hab’ mir auch Sorgen gemacht, und die Angst schnürte mir die Luft ab. Eines aber weiß ich jetzt, auch wenn ich es zu nichts gebracht habe, nur achttausend Mark auf dem Sparbuch und zwei Kinder durch den Krieg gebracht, das ist gewiß nicht viel, aber eines weiß ich jetzt, die Wahrheit, Junge, die Wahrheit ist ganz einfach … Erinnerst Du Dich an Lucie, Deine Tante Lucie? Klein und verhutzelt war sie, die Lucie, und wir haben sie begraben, wir waren nicht viele am Grab. Du warst auch nicht da. Aber damals, an ihrem Grab, da wußte ich es auch. So eine wie diese alte Frau, die hat gewußt, was Sache ist, sie hat es gewußt. Sie hat nie viel reden können, das lag ihr nicht. Sie hatte ja nur Volksschule und dann die Arbeit auf dem Hof und in der Fabrik. Sie hat es nie gesagt, aber jeder konnte es sehen, es fühlen: sie wußte, worauf es ankam. Sie hatte den Werner, ihren kleinen Bruder, geistig zurückgeblieben, behindert war er, sie hat ihn nie verlassen, ein Leben lang, ihr ganzes Leben lang. Sie war nie verheiratet, sie hatte keine Kinder, nur die Arbeit hatte sie und ihren Werner. Sie war immer da für ihn,
niemand durfte ihm was tun. Erst als er starb, wurde sie alt und schwach. Weißt Du, Junge, diese Frau war eine Heldin. Sie hat es geschafft, ihrem Leben einen Sinn zu geben. Als wir wenigen da an ihrem Grab standen, da wußten wir alle: nun ist es gut, hier ist nichts nachgeblieben, nichts unerledigt, kein Fragezeichen, so soll es sein, wußten wir. Die Wahrheit ist so einfach, so einfach wie Deine Tante Lucie. Ich bin mir nicht sicher, ob Du mich verstehst. Ich kann und will auch keine großen Worte machen. Das liegt mir nicht, und ihr habt ja doch immer eure Widerrede. Ihr redet und redet, und am Ende weiß ich gar nicht mehr, wovon. Aber eines will ich Dir sagen, vielleicht lachst Du darüber, vielleicht auch nicht. Ich bete zu Gott, er möge euch helfen. Eure Rechnung geht nicht auf. Sie geht nicht auf. Ihr seid immer auf der Suche nach eurem Glück, egal wie ihr es nennt. Ich will was vom Leben haben, hast Du gesagt, Selbstverwirklichung sagt ihr, ihr sagt, ihr wollt euch selbst finden, ganz bei euch selbst sein, wollt ihr. Ach, was ihr nicht alles versucht! Nichts ist euch komfortabel genug. Ich kann euch dabei nicht helfen. Ich bin nur eine alte Frau, die ihr Leben hinter sich hat. Ich hab’ nur meine Erinnerung. Was ist das schon, Glück, ihr könnt euch auf den Kopf stellen, ihr werdet es nicht finden. Nur euer Hunger wird wachsen und eines Tages schaut ihr verwundert auf eure leeren Hände. Es geht nicht ums Glück, bestimmt nicht. Mir ging’s zu Weihnachten wieder durch den Kopf. Nun singt ihr wieder und feiert das Kind. Aber schaut doch mal: neben der schönen Krippe, neben dem Weihnachtsbaum mit seinen elektrischen Kerzen, steht auf dem Altar das Kreuz, man sieht es kaum im Weihnachtsglanz, aber es ist da.
Es wird auch immer da sein, das Kreuz. Das ist die Wahrheit. Daran kommen wir nicht vorbei. Ihr seid doch sonst so realistisch und gerade Du. Wir sind wirklich nicht zu unserem Vergnügen auf der Welt. Niemand hat uns das versprochen, und niemand kann das. Das andere, das ganz andere, das Leiden, die Arbeit, das Scheitern, das Verlieren, es gehört dazu. Das ist nun mal so. Und ihr müßt trotzdem euren Weg finden, euren Sinn, euer Ziel. Wissen, wofür das alles, für wen. Weißt Du, ich hab’ jetzt keine Angst vor dem Sterben. Ich hab’ mein Lebensbuch vollgeschrieben, das letzte Kapitel, und wenn etwas falsch war, dann wird er es schon richten, er, der mich auf den Weg geschickt hat. Darauf muß ich vertrauen. Gott helfe, Dir, mein Junge, Du hast noch einen weiten Weg.
Josephs Tod
Es blieb ihm nicht viel Zeit, sein Ende zu bedenken. Zuerst durchbohrte ihn wie ein Blitz das Stechen in der Brust, es wandelte sich in ein glühendes Schwert von grausamen Mächten gedreht und gewendet in seinen Eingeweiden. Ihm fiel das Beil aus der schlaffen Hand, die doch sonst so stark und zupackend war. Dann brach er neben dem Block zusammen. Zwischen den Spänen, dem Sand und dem Staub der Straße krümmte er sich wie ein verendender Hirsch, den der gerissene Jäger endlich erlegt hat. Die Knechte liefen herbei und umstanden den gefällten Mann. Ihre Augen spiegelten Schrecken, Neugier und Mitleid. Sie sahen nicht die engen Räume und sich öffnenden Weiten, die seine Seele windschnell durcheilte auf ihrem Weg zu ihrem letzten Ziel. Nur seinen zitternd mit flatternden Lidern geschlossenen Augen taten sich diese Bilder auf. Die kleine Maria, die sich schüchtern lächelnd versteckte hinter der Mauer des Hauses, wenn er einmal wieder ihren Vater besuchte. So eine wollte er haben. Sie war es, die ihn zu diesem Haus zog, ihr glänzend schwarzes Haar, das in wogenden Wellen ihre Schultern überwallte, ihre dunkel leuchtenden Augen, deren Wimpern wie Sternenstrahlen auf das Feuer ihres Blickes
wiesen. Sie wollte er zu der Seinen machen, sie und keine andere von den Mädchen am Brunnen des Dorfes, wo er sie zum ersten Mal gesehen. Dann aber jene schlimme Nacht, als sie zwischen Ziegenstall und Holzschuppen dieses schreckliche Geständnis machte. Die Dunkelheit des Neumondes ließ ihn nicht einmal ihre Augen erkennen, das machte ihn so hilflos. Er, ein anständiger Mann, ein ehrlicher Handwerker, und ein Kind ohne Vater. War das Leben nicht schwer genug in diesen kriegerischen Zeiten, der Anfang als Handwerker nicht beschwerlich genug bei diesen horrenden Steuern, den ständigen Unruhen? Ein Kind ohne Vater, und sie sagte es ihm mit hörbarem Lächeln. Ja gut, sie waren in den lauen Nächten des Frühlings in den Bergen gewesen, sie hatten einander alle Liebe ihrer jungen Herzen geschenkt im Licht der millionen Sterne. Es wußte das, und würde es nie vergessen, aber nun, wo es um die Ehe ging, um Nachbarn und Freunde, um anständige Bürger und Kunden, um das Getuschel der alten Weiber, das Spötteln der trunkenen Gesellen — Heirat mit so einer? Er redete ihr gut zu, was sollte er auch sonst tun, erst auf dem Heimweg durch die engen Gassen legte er sich alles zurecht. Sein Werkzeug wäre schnell gepackt, das Haus müßte er eben lassen, aber er würde schon wieder eine Werkstatt finden, irgendwo, in Jerusalem vielleicht, vielleicht auch in Hebron, oder sollte er in die zehn Städte gehen, zu den Griechen, die immer gut für gutes Handwerk zahlten? Im Morgengrauen würde er sich auf den Weg machen, durch das Tor der Stadt und den Staub von seinen Füßen schütteln … Aber dann, als er sein Bündel schon geschnürt hatte, da kam es über ihn. Wie eine Zentnerlast legte es sich ihm auf die
Brust. Er würde nicht nur sein Haus zurücklassen, nicht nur Steine und Balken, sondern auch sie, die kleine Maria, und es wog noch lastender als alles andere: ein Kind ohne Vater, ein Hohn und ein Spott für alle Bösen, und derer gab es viele. Wie oft wollte er sich fragen, morgens, mittags, abends, nachts, was wohl aus diesem Kind geworden wäre, dessen Lachen er nicht kennen würde, dessen Tränen er nie getrocknet hätte. Und dann sah er sich auf dem Weg aus der Stadt, aber neben ihm ging die kleine Maria, und unter dem Leinen rundete sich schon ihr Leib. Er schwitzte unter der Last seines Werkzeuges, Maria aber lächelte ihm zu, obwohl auch sie schwer beladen war mit dem bißchen Haushalt, Stoff und Erinnerung, die sie nicht zurücklassen wollte. Die staubigen Wege dehnten sich endlos über die Hügel und Berge, kaum ein Schatten kühlte sie. Sie tranken das Wasser aus den Brunnen der Dörfer, und es schmeckte ihnen wie Wein. Wie trunken lachten sie einander an und aus, und dann gingen sie weiter. Im schäbigen Bethlehem verbellten sie die Hunde, die Türen schlugen knarrend zu, wenn sie um Unterkunft baten, nur für eine Nacht, für eine Nacht nur, Sie sehen doch, wie es meiner Frau geht. Aber sie fanden keinen Platz zum Leben, sie waren fremd hier. Es schien, als hätte der Staub der Straßen alles Menschliche an ihnen verdeckt, niemand erkannte in ihnen den Bruder oder die Schwester. So war es nur recht, daß ein widerwillig gutes Herz ihnen einen Platz im Stall zuwies, neben den Schafen und Böcken. Er hielt der kleinen Maria die Hand, als sie niederkam in dieser sternenhellen Nacht, er legte das Kind in den Futtertrog, und die Schafe bliesen ihren warmen Atem über den Jungen, den
sie ihm geschenkt. Und es war wie ein Wunder, der winzige Junge, den er nicht hatte haben wollen, er war wie ein Wunder. Die polternden Hirten, die wohl Lämmer aus dem Stall stehlen wollten, sie standen atemlos leise vor dem Kind, sie holten aus ihren Beuteln und Taschen, was sie nur hatten und was den jungen Leuten vielleicht helfen könnte für die nächsten schweren Tage. Und die weisen Männer, die ihnen folgten, sie unterbrachen ihren Disput, kamen durch die windschiefe Tür herein, um zu sehen, was hier geschehen war, und sie verneigten sich vor dem neuen Leben. Ja, diese Nacht, die so abweisend begonnen hatte, sie war eine Nacht der Hoffnung. Neue Bilder flogen zitternd an seinen Augen vorüber. Fünf Söhne und zwei Töchter schenkte ihm seine kleine Maria. Er hatte wahrlich nichts zu bereuen gehabt. Aber dann war der Erstgeborene verschwunden, sang- und klanglos nahm er Abschied, wollte nicht Dächer richten und Häuser bauen, sondern wollte, nein, mußte, wie er es ausdrückte, eines anderen Meisters Zimmermann sein. Schau sie dir an, diese Welt, sagte er, muß es nicht anders werden? Glaubst du denn, daß er sie so gewollt hat, als er sie schuf? Sieh sie dir an, die Armen, die an den Feldrainen das Korn raufen, sieh dir die Krieger an, wie sie mit ihren Waffen alles kurz und klein schlagen, und nicht einmal die Kinder verschonen sie. Soll es denn ewig so bleiben? Und höre auf dein Herz, schlägt es nicht manchmal dröhnend vor Schuld? Steigt nicht auch dir manchmal Schamröte ins Gesicht und bleibt nicht auch dir manchmal die Luft weg, weil du dich erinnerst an Irrwege und Versagen?
Da dachte er an jenen Weg von der kleinen Maria in sein Haus, als er sein Bündel schnüren wollte, und war ganz still, ließ den jungen Mann ziehen. Friede sei mit dir, sagte er zu sich, Friede sei mit dir auf allen deinen Wegen. Lange sah er ihm nach, als er den schmalen Weg in die Wüste ging, seine Gestalt wurde immer kleiner unter der brennenden Sonne. Und mit einem Male war da nur noch dieses Licht, und er wußte, daß er angekommen war.
Man muß doch einmal tief atmen können
Als der Pastor da vorn auf die Kanzel stieg und die Orgel ausklang im langen Nachbau, dachte sie: „Lieber Gott, laß ihn jetzt nur nicht von Weißrußland oder Somalia reden. Laß ihn nicht sagen, was ich tun soll. Ich kann nicht mehr. Ich will doch nur hier sitzen und wieder atmen können.“ So war es wirklich gewesen. Sie war aufgestanden heute morgen, hatte sich gewaschen, angezogen, war hinausgestürzt aus ihrer Tür, sogar die falschen Schuhe hatte sie an, die braunen, die gar nicht zu ihrem Mantel paßten, sie hatte sich keine Zeit genommen, die Augenbrauen nachzuziehen und ein wenig Rot aufzulegen, furchtbar mußte sie aussehen, sie war in die Kirche gestürzt wie jemand das Fenster aufreißt, weil er keine Luft mehr bekommt, weil er glaubt, ersticken zu müssen. Schon der Glockenklang, das schwere, tiefe Geläut, ließ in ihr Versunkenes, Vergessenes schwingen und klingen, nahm sie auf und trug sie hinein durch das große Portal, sie war froh, in dem riesigen Raum Abstand zu haben zu den wenigen, die diesen Weihnachtsmorgen sich auf den Weg durch die im Tageslicht schlafenden leeren Straßen gemacht hatten. Sie tauchte ein in das Klangmeer der Orgel, ließ sich mitnehmen, aufnehmen und tragen
von den Läufen der Klänge, bettete und streckte sich aus auf den langgehaltenen tiefen Tönen. Sie atmete auf und ließ sich fallen in die Strophen des Liedes: Lobt Gott, ihr Christen alle gleich, in seinem höchsten Thron, der heut’ schleußt auf sein Himmelreich und schenkt uns seinen Sohn und schenkt uns seinen Sohn und schenkt … Der Busfahrer sah sie richtig böse an, als sie mit ihren Taschen und Paketen kaum durch die Tür kam. Ihr Rücken tat ihr weh und die Tüten schnitten in ihre Finger, trotz der Handschuhe, die sie angezogen hatte, und die Stufen in den Bus sind so hoch, viel zu hoch eigentlich. Als sie dann endlich da war bei ihrem Sohn, konnte sie sich auch nicht setzen, sondern hatte erst mal den Salat gemacht, du weißt ja Mami, keiner kann den so wie du, und dann war sie mit den Kleinen spazierengegangen, weil die sich vor lauter Aufregung und Spannung stritten und Susanne wieder am Ende war mit ihren Nerven und schon den dritten Cognac getrunken hatte, doppelstöckig versteht sich. Sekt hatte sie trinken müssen zur Feier des Tages, im Stehen auch nur, ein Kaffee im Sitzen wäre ihr lieber gewesen, und dann mit den Kindern und der Tasche in das Johannesstift zu ihrer Mutter, denn die hatte sie ja auch noch, und wieder die Vorwürfe, die Anschuldigungen, sie hätte sie abgeschoben, sie wollte ja nur die Sparbücher und das vor den Kindern, die ganz verschüchtert guckten und dann die Kerze anzünden, das Nachthemd anprobieren, Flanell ganz warm, und das weinerliche Klagen: Faß mich nicht so hart an, du willst mich wohl umbringen. Die Bescherung war auch nicht das gewesen, was sie erwartet hatte. Die Anja fragte immerzu nach den Zimmern
für das Playmobilpuppenhaus, aber waren 249,– Mark für ein Puppenhaus nicht schon genug? Und mußte Thomas nun gleich so laut diese Musik anmachen? Überhaupt war ihr ganz schlecht geworden, wie die Kinder achtlos das Papier von den Paketen rissen und wie es kein Ende nehmen wollte mit den Geschenken, und nachher stand sie in der Küche und wusch ab und hörte dabei den Gruß auf See wie jedes Weihnachten. Aber dann mußte sie wieder rein in die Stube und Susanne trank und Robert sprach nur von seinem Auto, für das ihm noch ein paar tausend Mark fehlten. Hatte sie nicht immer alles getan, um alle glücklich zu machen? Nichts war ihr wichtiger gewesen. Wie hatte sie sich um ihren Mann gemüht, was hatten sie nicht alles versucht, aber die Krankheit war doch stärker gewesen. Zwei Jahre von Klinik zu Klinik und Pflege zu Hause und Waschen und Anziehen und Füttern … Wie lange hatte sie ihrer Mutter den bitteren Weg ersparen wollen ins Heim, und ihr Robert, sein Studium, und die Enkelkinder, die sie beaufsichtigt hatte, weil Susanne wieder arbeiten wollte, und nun trank die Susanne. … heut schleußt er auf sein Himmelreich und schenkt uns seinen Sohn … Mit einem Male fühlte sie sich wie auf einer Insel. Mitten im wildbewegten Meer stand sie auf einem festen Boden. Wie alt solche Worte waren: schleußt auf … Das haben sie gesungen schon vor Jahrhunderten. Nichts war geblieben wie damals. Wie viele Menschen sind gestorben, wurden geboren, haben gelebt, gelacht, geweint, sind gestorben, und die Worte klingen gleich: … heut schleußt er auf sein Himmelreich …
Das muß schon immer so gewesen sein, daß die Menschen auf etwas warteten, sich etwas wünschten, das sie nicht erreichen konnten. Dies Gefühl, das sie auch kannte: vor einem dunklen Tor zu stehen, hinter dem alles licht und hell und klar war, und das doch nicht aufzubringen war, so sehr man auch rüttelte und drückte. Nur manchmal, das hatte sie auch erlebt, dann war das Tor aufgegangen, sie war glücklich gewesen, goldumstrahlt, voll heller Freude — und wenn sie darüber nachdachte, hatte niemals sie selbst etwas dazu getan. Ja, so wie damals, als sie den Robert in ihrem Arm hatte, zum ersten Mal. … und schenkt uns seinen Sohn … Das war auch wie ein Geschenk gewesen, ein Wunder, ein Geheimnis — sonderbar, daß viele heute keine Kinder wollen … Irgendwie war es immer so gekommen, daß alles Glück ihres Lebens Geschenk war. Sie hatte nichts dazu getan. Plötzlich war’s da. So wie damals ihr Mann vor ihr stand, zum ersten Mal. Sie wollte nur den Zaun streichen, und plötzlich stand er da und nahm ihr den Farbeimer und den Pinsel aus der Hand. Ich hab das gelernt, sagte er. Ihre Augen glitten die hohen Fenster hinauf, während der da vorn redete. Höher und höher hinauf glitten ihre Augen. Das ist schon richtig, dachte sie, daß sie die Kirchen so hoch bauen. Wie so eine Verbindung war das, von oben nach unten, wie eine Brücke. Hier, wo sie saß, hier unten auf ihrem Stuhl in der vorletzten Reihe traf sie etwas von ganz woanders her. Sie spürte, wie etwas von ihr genommen wurde, eine Decke, eine Last, ein Deckel, sie konnte durchatmen, Luft holen, sich ausdehnen. Sie fühlte sich leicht, vogelfederleicht, schwang sich hoch mit den Klängen der Orgel und saß doch fest und sicher auf ihrem Stuhl.
Dies war ihr Weihnachten. Nicht gestern abend, sondern heute morgen. Darauf hatte sie sich gefreut, jetzt sah sie es klar. Wie schön ist es doch, daß es Weihnachten gibt, wie schön. Hier sitzen, weit werden, sich beschenkt fühlen und zu wissen: Nun ist alles gut.
Nur Papier
Alle Welt feiert Weihnachten am 24. Dezember. Herr Holzmann, der kleine Herr Holzmann nicht. Ihm war bewußt, daß auch die Russen ihren eigenen Termin für Weihnachten haben, aber was, dachte er, sind schon die Russen. Auch bei ihm war die Angst von Verachtung abgelöst worden. Der kleine Herr Holzmann feierte sein Weihnachten stets am 6. November. Er hieß übrigens der kleine Herr Holzmann im Gegensatz zu dem großen, bei dem er beschäftigt war. Am 6. November hob der kleine Holzmann das Weihnachtsgeld von seinem Konto ab, das dreizehnte Gehalt oder die Gratifikation. Am 24. Dezember gab es nichts mehr zu feiern. Dann war das zusätzliche Geld längst nur noch schmerzliche Erinnerung, hatte sich verwandelt in die Stereo-Anlage für den Sohnemann, das Rennrad für die flotte Tochter, die Spülmaschine für seine Frau und in den Schwamm für den kleinen waagerechten Strich vor seinem Kontensaldo. Am 6. November aber ging er nach der Arbeit ins Café, bestellte sich zwei Schnitten Marzipantorte und einen Becher Schokolade mit Sahne, das Ganze abgerundet mit einem großen Schwenker französischen Cognacs. Im Kopf überflog er seine Möglichkeiten: für einen Augenblick, für einen winzigen Augenblick
war er reich. Am Ende seines Festmahls war er wieder ein armer Schlucker. Er wußte, was Weihnachten kostet. In diesem Jahr war alles anders. Der große Holzmann war nämlich auch zum armen Schlucker geworden, das Weihnachtsgeld war gestrichen. Es war ein deprimierender 6. November, ohne Marzipantorte, ohne Schokolade, ohne Cognac aus Frankreich. Auf den hätte er noch am ehesten verzichten können, er schmeckte ihm immer ein wenig nach Seife. Aber das Geld! Wovon sollte er die großen Wünsche seiner Kinder bezahlen, wie seiner Frau eine Freude machen? Heutzutage kostet alles viel Geld, der Tannenbaum, die Weihnachtsgans, der Karpfen am Heiligen Abend. Das Minus auf seinem Konto wirkte wie eine militärisch scharf bewachte Schranke vor einem Atommeiler. Nichts ging mehr, rien ne va plus. Er hatte nicht einmal den Mindesteinsatz für das Kasino. Als er betrübt in der U-Bahn saß, fielen ihm die Sünden seiner Kinderzeit ein. Er sah sich und seine Schwester, wie sie am Sonntagmorgen, nach dem Kindergottesdienst mitten in der Allee suchend hin und her liefen. Immer, wenn ein Spaziergänger sich näherte, fingen sie an, zu schluchzen. Die Erfolgsquote lag bei über fünfzig Prozent. Am besten war sie bei alten Damen. Sie waren fast immer zum Mitleiden bereit. Die Geschichte war das verlorene Geldstück, für das sie dem strengen Vater die Zigaretten aus dem Automaten holen sollten. Nur selten mußten sie die Schläge mit dem Rohrstock ausmalen. Meistens glänzte das Geldstück schon vorher auf ihrer Hand, noch warm von der Manteltasche der Barmherzigen. Nur die Bösartigen beließen es bei einem ermahnenden: Ihr müßt eben besser aufpassen! Und in die Hölle kamen
bestimmt diejenigen, die einfach vorübergingen und in die Wipfel der Bäume oder auf die andere Straßenseite schauten. Dort würden sie in Ewigkeit gebraten werden. Auch seine Großtante Emma würde einen fetten Braten abgeben. Reich wie sie war, hatte sie ihm noch nie etwas zukommen lassen. Das war sicherlich der Grund ihres Reichtums, von dem in der Familie nur andächtig geraunt wurde. Er hatte es schon selbst gesagt, wenn die Wünsche seiner Kinder unverschämt wurden, mitten im Jahr eine neue Reitausrüstung für die Tochter, Turnschuhe mit Luftsohle für den Sohn, man stelle sich das vor: dreihundert Mark für Luft unter den Füßen. Ich bin nicht Tante Emma, pflegte er dann zu sagen. Die könnte, aber sie tut nicht, deshalb ist sie auch so reich. Großtante Emma, die kleinzügige, denn großzügig war sie noch nie. Aber könnte er nicht …? Sollte er nicht …? Vielleicht nur auf Kredit …? So blieb er einfach sitzen, als der Zug seine Heimatstation erreichte. Er fuhr weiter in die Walddörfer, wo die kleine alte Frau eine große alte Villa bewohnte. Schon das riesige eiserne Tor machte ihn kleinlaut. Er mußte alles zusammenraffen, sein Herz, seinen Mut, seine Schulden, seine Verzweiflung angesichts fehlender Geschenke unter dem kaum zu bezahlenden Weihnachtsbaum. Die alte Dame machte es ihm leicht. Sie war schon überglücklich über seinen Besuch, als er noch an dem Kloß in seinem Hals würgte. Wie es ihm denn ginge? Was seine Frau machte und die Kinder? Ob er einen Tee mittränke? Natürlich trank er Tee, obwohl er Pfefferminztee nicht ausstehen konnte, ständig mußte er an seine Halsentzündungen von früher denken. Die dazu gereichten Kekse kannte er
auch. Sie kaufte offensichtlich auch bei Aldi. Aber vielleicht ließ sie ja liefern. Leisten könnte sie es sich. Aber er wurde seine Geschichte los. Jaja, das Geld, meinte die Alte. Mehr nicht. Also noch eine Tasse von dem wundervollen Kräutertee und noch ein krümeliger Keks aus der Dose. Weiter im Text: die fällige Inspektion, bevor das alte Auto zum TÜV konnte, die Skiklassenreise der Tochter, die Kanufahrt des Sohnes in Frankreich im nächsten Jahr. Jaja, die Ansprüche heute. Mehr nicht. Kann ich noch einen Tee? Der blitzende Goldzahn im faltigen Gesicht brache die Wende. Er erzählte mit stockender Stimme, seine Frau brauche zwei neue Kronen und eine Brükke — verzeih mir, Annemarie, dachte er —, da war der Safe geknackt. Er bekam einen Scheck. Dreitausend Mark. Wirklich, eine Großtante, diese Emma. Kaum daheim, für die Bank war es nach den Walddörfern und drei Tassen Pfefferminztee zu spät, schloß er den Scheck in seinen Schreibtisch ein. Er verriet nichts, um keine großen Wünsche zu wecken. Er versteckte das Wertpapier auch gut: in diesem Heft Glanzpapier wird schon niemand nachschauen. Nur eines ließ er sich nicht nehmen: Wenn es schon in diesem Jahr mit dem Café nichts geworden war, so lud er doch seine Annemarie auf ein Bier in die Kneipe ein. Können wir uns das denn leisten? Ach, wird schon gehen, beruhigte er ihr schlechtes Gewissen. Die dreißig Mark sollten ihm nicht leid tun, das war nur ein Prozent. Aber am nächsten Morgen war der Scheck weg. Drei Dutzend Mal blätterte er das Heft Glanzpapier durch. Nichts. Jede Seite einzeln umgeblättert. Nichts. Was nun? Eine Staatsaktion? Diebstahl, Polizei? Seine Kinder klauten nicht. Seine
Frau entschuldigte sich hundertfach, wenn sie Wechselgeld aus seinem Portemonnaie nahm. Und sollte er wirklich gestehen, bei Großtante Emma gewesen zu sein und gebettelt zu haben? Lieber hätte er sich die Zunge abgebissen. Was nun? Nichts. Ein kleineres Weihnachten eben. Heringssalat statt Karpfen. Heringssalat schmeckt wirklich nicht schlecht auf frischem Baguettebrot. Rinderbraten statt Gänsefleisch. Seine Frau hatte genau darauf geachtet, woher das Fleisch kam. Das konnte man getrost essen. Zwei Bücher und zwei CDs für die Kinder. Mehr war eben nicht drin. Sie freuten sich doch. So groß sind sie schon. Die Erwachsenen brauchten sich zu Weihnachten nichts zu schenken. Sie verlegten ihr Weihnachten vor die Bescherung. Es war sehr feierlich in der Kirche. Unter dem etwas krummen Weihnachtsbaum, den er diesmal erst am Heiligen Abend selbst gekauft hatte, er bekam ihn auch billiger so kurz vor Ladenschluß, unter dieser Kümmerkiefer, die dennoch ein schöner Christbaum geworden war, da tauchte auch der Scheck wieder auf. Er war zu einer Rose und einem Stern zerschnitten auf der wunderbaren Verpakkung des Rasierwassers von Aldi, das seine Tochter ihm in die Hand drückte. Auf der Rückseite des roten Glanzpapiers erkannte er das verheißungsvolle blaue Muster des geldwerten Papiers. Auf einem Schnipsel konnte er sogar die zitterige Unterschrift der alten Dame entdecken. Sie erschien ihm wie ein höhnischer Weihnachtsgruß aus den Walddörfern. Aber er schluckte nur einmal und sagte nichts, obwohl es heiß hinter seinen Augen war. Zwischen den Tagen kam, ein wenig verspätet, der Weihnachtsgruß der Tante Emma. Er war etwas länger ausgefallen
als sonst und steckte in einem Umschlag. An meinem Kontoauszug habe ich gesehen, schrieb sie. Du hast dich sicherlich geschämt, schrieb sie. Aber es ist kein Kredit, es ist ein Geschenk, schrieb sie und heraus flatterte ein Euroscheck.
Marzipankartoffeln
Weihnachten ist nur etwas für die Kinder. Eine alte Frau muß so denken. Eine Greisin, die sich auf den Kerzenschein und den Tannenbaum freut, das paßt nicht. Das wäre so, als färbte sie sich ihre Haare rot und trüge einen Minirock. Schon als junges Mädchen hatte sie mit der Anständigkeit ihre Probleme. Sie hörte den undeutschen Jazz und Blues, als Frau deutsch zu sein hatte, sie rauchte auf der Straße, als ein deutsches Mädel gar nicht rauchte, sie trug Hosen, bevor der Männermangel Frauen Schaffnerinnen werden ließ. Sie war keine Freude für ihre Lehrer und Chefs. Nur ihre Mutter verstand sie, sie sagte: mach’ man, Mädchen, Mädchen mach’ man, wer weiß, wie lange du das noch kannst … Sie freute sich auf Weihnachten wie ein Kind. So leuchtete es in ihren Augen auf, als die ersten Christstollen bei Aldi im Regal erschienen. Und die Marzipankartoffeln. Marzipankartoffeln waren ihre Schwäche. Pfundweise konnte sie Marzipankartoffeln essen, aber in den Cellophantüten waren immer nur so wenig drin. Sie stopfte die appetitlichen braunen Kugeln nicht einfach in den Mund. Nein, sie nahm jede Kugel einzeln und biß hinein, ganz wenig nur, und dann gekaut, so daß sie das Rosenwasser und die Mandeln einzeln schmecken
konnte, Bißchen für Bißchen. Und braune Kuchen, braune Kuchen auf Rundstück mit Butter, braune Kuchen zum Kaffee, das war Weihnachten. Aber Weihnachten wird es nicht im Sommer, solange das Laub noch an den Bäumen hängt. Auf Weihnachten muß man warten können. Die Menschen heute können nicht mehr warten. Sie wollen Weihnachten am liebsten das ganze Jahr. So kommen die leckeren Weihnachtssachen in die Geschäfte, bevor noch die Winterkleidung, die dicken Mäntel und Jacken vom Boden geholt worden sind. Verdienen, verdienen — sie kennen nichts anderes. Sie selbst machte einen großen Bogen um Marzipankartoffeln und braune Kuchen. Nicht vor dem ersten Advent, nicht vor der ersten Kerze. Erst wird der Adventskranz gebunden, dieses Jahr hatte sie zum ersten Male einen fertigen Kranz gekauft, und sie schämte sich fast deshalb, aber ihre Finger waren so steif geworden in der letzten Zeit, dann wurde die Wohnung weihnachtlich gemacht, und dann kamen die Marzipankartoffeln und die braunen Kuchen. Eher nicht. So saß sie am diesem Morgen, als die erste Kerze auf dem gekauften Kranz brannte, vor ihrem Fenster, die Kaffeetasse auf dem Fensterbrett, die Tüte mit den Marzipankartoffeln vor sich, warum lassen sich die Tüten nur so schwer öffnen, sie mußte wieder eine Schere nehmen, und sie sah auf die verlassene Straße, in der nur sie einen adventlichen Schimmer sah. Sie war sich dessen bewußt, sie war nicht naiv, auch wenn sie sich wie ein Kind auf Weihnachten freute, sie war sich bewußt, daß dieser Schimmer aus ihrer eigenen Vorfreude kam, die anderen werden ihn nicht sehen. Aber die anderen wünschen ihr auch immer ein langes Leben, noch viele Jahre. Sie denken,
man könne nicht genug bekommen von dieser Welt, sie wollen mehr und mehr von diesem Leben haben, wie des Fischers Fru kamen sie ihr vor, Mantje, Mantje, Timpete, Buttje, Buttje in de See, mine Fru, de Ilsebill … Sie können nicht warten, sie wollen alles, und sie wollen es sofort. Langes Leben, ihr Leben war lang genug. Auch wenn sie es genoß, dieses ruhige Sitzen am Fenster mit dem Kaffee und den Marzipankartoffeln und dem Blick auf die stille Straße, beschienen vom adventlichen Glanz aus ihrem Herzen, auch wenn sie das genoß, es war lang genug. Sie fürchtete sich nicht vor dem Sterben. Der Gedanke war ihr schon vor einigen Jahren gekommen. Der Himmel, der muß sein wie Weihnachten. Schon als Kind war es ihr wie ein Schauer über den Rücken gelaufen, dieses Wort vom Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Als ihr erster Freund nach Spanien ging, um für die gute Sache zu kämpfen, hatte sie Schluß gemacht mit ihm. Sie wollte nicht um einen Freund weinen müssen. Sie wußte, dies war der falsche Weg. Blut vergießen ist der falsche Weg. Krieg ist Irrsinn. Wie kann man etwas kaputtmachen, was Menschen noch gebrauchen können. Wie kann man dieses Wunder Mensch töten und zerstückeln — auch wenn es ein Wunder mit kleinen Fehlern war. Aber schau dir nur ein Kind an, ein kleines Kind, da wird man doch stumm vor Staunen, die Schmerzen sind vergessen, wenn sie es einem in den Arm legen, wie können sie nur so etwas umbringen. Friede auf Erden — sie wollen ihn alle, aber sie schießen ihn kaputt. Das war der falsche Weg. Der richtige Weg, der hatte mit der Krippe zu tun, mit dem kleinen Kind, das da in einem Stall zur Welt kommt, arm und
hilflos, und doch kommen die Hirten und die Könige und der Stern leuchtet darüber. Wie so ein Kind, so kommt der Friede. Oder wie der König, der auf einem Esel reitet in seine Stadt, diese Geschichte hatte ihr immer gefallen, weil sie so ehrlich war, nicht mit Waffen und in prächtigen Kleidern, so kommt der Friede. Die mit den feinen Kleidern hatten noch nie viel mit Frieden im Sinn. Frieden hat etwas mit Anfangen zu tun, man muß anfangen damit. Alles andere kommt dann von selbst. So stellte sie sich das vor. Und der Himmel muß sein wie Weihnachten. Leuchtend wie die Kerzen am Tannenbaum, lächelnd wie Mutter, wenn sie die kleine Glocke läutete, ein Gefühl der freudigen Spannung, die das Herz schier platzen lassen will — so muß der Himmel sein. Oder wie Marzipankartoffeln oder wie braune Kuchen auf dem Rundstück — ein Wohlbefinden, ein Wohlgefallen … Sie erinnerte sich an eine Sache aus Kindertagen — immer noch stieg es heiß in ihr auf, die Scham wird wohl nie vergehen. Sie konnte die Spannung einfach nicht mehr ertragen, so sehr wünschte sie sich die Puppe mit den Schlafaugen, und sie wußte doch, Mutter hatte wenig Geld, es gab ja keine Arbeit für Papa. Da öffnete sie die Schränke und sah überall nach. Die Puppe lag im Schlafzimmer, unter Mutters Wäsche, und sie hatte Schlafaugen. Nur daß die Schlafaugen irgendwie in den Kopf zurückfielen, als sie sie untersuchte. Schnell stopfte sie die Puppe zurück, und es war eine schlimme Zeit, bis es diesmal Weihnachten wurde. Dann war es soweit, sie konnte vor Scham ihr Gedicht nicht mehr, und da war auch die Puppe, aber sie hatte jetzt ein blaues Kleid, das andere war rot
gewesen, und die Schlafaugen gingen auf und zu, und Mutter sah sie an, nahm sie in den Arm und war gar nicht böse. Papa maulte über den Pferdefleischbraten zu Weihnachten, aber er sagte nichts, weil er ja keine Arbeit hatte. Sie hatte nie mit ihrer Mutter darüber gesprochen, aber sie wußten doch voneinander. So muß Weihnachten sein, so muß der Himmel sein. Eigentlich war es kein Wunder, daß sie sich immer noch wie ein Kind auf Weihnachten freute. Und es war auch kein Wunder, daß sie jetzt am Fenster saß, auf die Straße schaute, die Marzipankartoffeln nach Rosenwasser schmeckten, und sie keine Angst vor dem Sterben hatte. Das Weihnachten aus den Kindertagen hatte sie stark gemacht für ihr ganzes Leben, für alles, was noch kam, und es waren keine leichten Jahre gewesen, bestimmt nicht. Darum wird sie sich auch dieses Jahr wieder einen Tannenbaum kaufen, und sie wird ihn schmükken, und sie wird die Kerzen anzünden am Heiligen Abend, sie wird Kaffee trinken, sie wird sich ein schönes Buch kaufen und lesen, ganz so wie früher. Alle ihre Bekannten finden das lächerlich. Sie aber lächelt bei diesem Gedanken. Dies ist ihre Art, ihren Eltern zu danken und Gott. Sie konnte sich sonst nie etwas unter diesem Wort vorstellen: Gott. Zu viele Leute gebrauchten es, und sie gebrauchten es falsch. Sie schoben ihm alles unter, womit er doch nichts zu tun hatte. Sie machten daraus ein Friedhofswort, verbanden es mit Krieg und Not. Aber das war nicht ihr Gott. Ihr Gott hatte mit Weihnachten zu tun. Sie freute sich auf Weihnachten und auf ihn. Sie freute sich wie ein Kind.
Um der Hirten willen
Es ist nur ein Traum. Nur ein Traum war das. Ein Alptraum. Es ist gar nicht so. Ich werde mir ein Glas Milch aus dem Kühlschrank holen und wieder einschlafen. Es war nur ein Traum. Ein schlimmer Traum. Es war kurz vor Weihnachten. Zeit, den Tannenbaum zu holen, die letzten Geschenke zu kaufen. Für Tante Nina, für Opa und Oma, aber nichts Süßes diesmal, sie hat ja jetzt Zukker. Für die Große habe ich auch noch nicht alles zusammen. Außerdem muß ich den Karpfen bestellen und die Gans holen. Ein paar neue Kugeln für den Christbaum könnte ich auch noch kaufen. Ich geh’ also los. Sonderbar. Überall vor den Geschäften sind Tische aufgebaut, gehäuft voll mit Weihnachtsartikeln. Und überall steht: Sonderangebot! Herabgesetzt! Ausverkauf! Der Tannenbaumhändler wischt sich den Tropfen von der Nase und sagt: „Sie sind der erste heute.“ Ich sehe es selbst. Er kann noch kaum etwas verkauft haben. Die schönsten Bäume liegen noch zu Bergen in seinem Geviert. In den Blumengeschäften war es mir schon aufgefallen. Es lagen in den Ecken die unverkauften Adventskränze herum. Sie gehen dieses Jahr überhaupt nicht, sagte man mir. Bei Aldi ist es nicht anders.
All die schönen Süßigkeiten der Weihnachtszeit — sie werden billiger angeboten, Restbestände … Aber die Reste sind riesig. Was soll das bedeuten? Fällt Weihnachten dieses Jahr aus? Haben die Menschen Weihnachten vergessen? Also frag ich den Tannenbaumhändler: „Wieso bin ich der erste heute? Kaufen die Leute keine Tannenbäume mehr? Ohne Christbaum ist es doch kein Weihnachten.“ Er nimmt mit seiner rotkalten Hand die Zigarette aus dem Mund und sagt: „Copyright. Gesetzlich geschützt.“ Ich versteh gar nichts mehr. Er muß es mir angesehen haben. Er sagt mit heiserer Stimme: „Neue Bestimmung. Sie wissen doch: EU, Europa. Die machen jetzt alles anders. Weihnachten ist jetzt gesetzlich geschützt.“ „Und was heißt das?“ frage ich ängstlich. Er bietet mir einen Schluck aus seiner Thermosflasche an. Ich schüttele den Kopf. Wieder löst sich ein Tropfen von seiner Nase. „Tut aber gut“, meint er, „wenn sowieso nichts los ist. Weihnachten ist nur noch für die, die in der Kirche sind. Alle anderen dürfen nicht mehr.“ „Das kann doch nicht wahr sein sein“, sag’ ich. „Doch“, besteht er darauf, „so ist es. Und es wird noch schlimmer“, sagt er. Nun nehme ich doch einen Schluck aus seiner Thermosflasche. Tee mit Rum. Das tut wirklich gut. Jetzt merke ich auch die schneidende Kälte. „Wieso?“ frage ich, jetzt auf fast alles gefaßt. „Na“, sagt er, „nächstes Jahr dürfen nur noch die, die auch zur Kirche gehen. Am Heiligabend. Wenigstens am Heiligabend.“ Der Schreck saß tief. Hatte ich erst noch gedacht: Naja, 40 Prozent, die Weihnachten feiern, das ist knapp die Hälfte, das mag ja noch angehen. Aber nur noch ein knappes Drittel von denen wieder … Das sind ja nur noch ganz wenige …
Hamburg ohne Weihnachten. Fast ohne Weihnachten. Da bin ich aufgewacht. So geht das nicht. Weihnachten ist doch für alle da. Alle Menschen vergeben einander und fangen von vorn an, so wie Gott es wollte. Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen … Und zum Zeichen dafür die Geschenke für alle und das Fest. Nein, lieber Gott, das kannst du nicht machen, denke ich, und lege mich mit dem Glas Milch wieder schlafen. Schließlich haben damals auch die Hirten vor dem Stall gestanden. Das waren auch keine frommen Leute. Um der Hirten willen, das kannst du nicht machen. Weihnachten ist für alle da. Und wenn schon ein Copyright für Weihnachten, dann doch nur so für ein Jahr mal, oder zwei, damit die Menschen merken, was sie verloren haben …
Weihnachten läßt sie kalt
Im Grunde genommen hatte sie sich nicht geändert, in all den fast achtzig Jahren war sie doch dieselbe geblieben. Morgens ging sie in die Schule und saß bei den Mädchen, aber das war immer nur in der ersten Stunde so, schon in der zweiten spätestens fand sie sich auf der Seite der Jungen wieder, strafversetzt, denn wer sich nicht wie ein wohlerzogenes Mädchen benahm, der mußte sich umsetzen lassen, und die ganze Klasse lachte. Dabei hatten sie auch schadenfroh gelacht, als der Herr Schubert sich auf den nassen Schwamm setzte, hatten gelacht, als sie seine alte, lederne Aktentasche am Kartenständer hochzog, und er sah unter jedem Schulpult nach, als es klingelte. Sie fanden es auch sehr lustig, als sie den Harzerkäse unter den Klassenschrank nagelte. Und wie sie erst kicherten, als sie sahen, wie sie aus den Menschen im Biologiebuch richtige Männer und Frauen gemacht hatte. Damals war alles unter dem Gürtel noch Geheimnis, es würde noch früh genug gelüftet werden, wenn sie dem Richtigen ausgeliefert wurden … So war ihr auch die Idee gekommen, als ihre Enkelin sagte, Weihnachten ließe sie kalt. All das Gedudel gefühlsseliger Lieder, all der Glitter und die Kerzen, und an die Sache mit
dem Stall und dem Kind in der Krippe glaube sie sowieso nicht. Das könne man den Kindern erzählen, aber nicht ihr. Sie wolle am liebsten in die Sonne in diesen Tagen. Auf die Malediven vielleicht, obwohl sie sich nicht ganz sicher war, wo die überhaupt lagen. Es kostete die alte Dame einige Mühe, alles zu arrangieren. Sie mußte den Schulbus nehmen, um in die Stadt zu fahren, und das Reisebüro machte erst um Neun auf, die Cafés waren noch geschlossen, und so lief sie durch die Straßen, sah in die Schaufenster. So ganz unrecht hatte ihre Enkelin ja nicht, was hat schon ein Blutdruckmesser mit Weihnachten zu tun, oder gar so ein Handy, so viel Wichtiges gab es ja gar nicht mitzuteilen, daß sie nicht warten konnten, bis sie wieder zu Hause am Telefon waren. Hinterher mußte sie auch noch viel telefonieren, aber das konnte sie zu Hause erledigen. Doch die Sache mit Weihnachten machte diesen Ausflug in die Stadt nötig. Das mußte sie von Angesicht zu Angesicht mit jemandem besprechen. Obwohl Weihnachten sie kalt ließ, aß ihre Enkelin mit ihrem Freund die ganze Schale Schmalzkekse und braune Kuchen leer, zweimal mußte sie nachholen, auch wenn sie selbst erst am Heiligen Abend Weihnachtskekse essen würde, so wie sie es immer gehalten hatte. Die Freude der jungen Leute war groß, als sie den Umschlag öffneten und den Reisegutschein fanden. Das Auto hatte doch mehr gekostet, als ihre Enkelin gedacht hatte, aber wenn ihr Freund schon einmal gerne einen fast neuen Wagen fahren wollte, und sie selbst brauchte einen neuen Laptop, dann waren die Malediven eben weiter weg, als sie gedacht hatte.
Schade, daß es nur die Prignitz war, aber die beiden machten gute Miene zum schlimmen Spiel. Besser als gar nichts war das. Aber warum dann die Bahnkarten, für das Geld hätten sie doch auch in den Süden fliegen können. Einem geschenkten Gaul — der Freund sagte das wortwörtlich. Zu dieser Adventure-Tour gehört nun einmal die Bahnfahrt. Es wäre auch nicht das gewesen, was es sein sollte, hätten sie das Auto dabei gehabt. Der Anschluß klappte wunderbar. Als sie in der Kreisstadt aus dem Zug stiegen, stand der letzte Bus am Bahnhof. Nur zwei alte Frauen stiegen mit ihnen zusammen in den wartenden Wagen, sie waren schwer bepackt mit Paketen, wahrscheinlich fuhren sie heute am 24. Dezember zu ihren Kindern und brachten die bestellten Weihnachtsgeschenke mit. Dann war das Dorf erreicht. Nach der Hitze im überheizten Bus traf sie der kalte Regen fast schmerzhaft. Die Türen schlossen sich, der Motor brummte dunkel auf, die roten Schlußlichter verschwanden in der Dämmerung. Im gelbtrüben Licht der einzigen Straßenlaterne fingerte er den Gutschein aus seiner Jeans. „‚Vier Linden‘ heißt das“, las er, „wird wohl mitten im Dorf liegen.“ Sie schulterten ihre Rucksäcke und wandten sich nach links. Da schimmerten weitere Laternen. „Da drüben“, zeigte er und wischte sich den Regen aus dem Gesicht. Hinter kahlen Ästen duckte sich ein Haus mit großer Tür. Näherkommend konnten sie das Schild auch lesen. ‚Vier Linden‘, richtig. Lübzer Bier gab’s, Jever wäre ihm lieber gewesen. Sie faßte an die Tür, wollte sie öffnen. Aber nichts tat sich. Die Tür war verschlossen. „Wir müssen klingeln“, meinte er klug, aber da war keine Klingel. Das Klopfen übernahm er. Seine
Fingerknöchel taten fast schon weh, als endlich im ersten Stock ein Fenster aufging. „Wir sollen hier übernachten“, rief er zu dem mürrischen Gesicht nach oben. Die Antwort war ein Schock. „Hat sich geändert“, meinte der Ärgerliche da oben, „Sie sind umgebucht. Am Schafsee werden sie erwartet.“ „Und wo ist das?“ Die Stimme des jungen Mannes war sehr laut in der beginnenden Nacht. „Da runter“, der Wirt zeigte nach rechts. „Weit noch?“ fragte sie schüchtern. „Zwei Kilometer etwa, das schaffen sie leicht!“ Am Ende des Dorfes umfing sie die Nacht. Der Regen drang tiefer in das Gewebe ihrer Jacken. Dann sahen sie das Licht. „Das muß es sein!“ munterte er sie auf. Es war’s auch. ‚Zum Schafsee‘, Hotel und Restaurant. Hier gab es wenigstens Warsteiner, seine Laune besserte sich augenblicklich. Die Enttäuschung kam am Tresen. „Alles besetzt“, knappste die Weißbeschürzte. Sie sah sehr kritisch auf ihre Rucksäcke. Ernste Kellner trugen riesige kalte Platten vorüber. Lachs, Roastbeef und Kaviar, Sekt im Kühler. „Alles voll. Versuchen Sie es mal ‚Am Sandberg‘, das ist nur auf der anderen Seite des Sees, am besten gehen sie links herum, da stehen ein paar Laternen.“ Auch dieser Weg endete einmal. Ihr war im Wald sehr unheimlich gewesen, auch wenn er meinte, Strolche wären in dieser Nacht bestimmt nicht unterwegs, aber sie hatte eigentlich mehr Angst vor Wildschweinen. Der Wirt vom Sandberg hatte nur Flaschenbier, aber er zeigte Einsehen. „Ich hab noch ein kleines Zimmer hinten raus. Das können sie haben.“
Angekommen über halbdunkle Treppen und Flure, warfen sie sich so wie sie waren auf das Bett. Das Bett knarrte. Die Deckenlampe war eine Funzel. Doch die Risse und Flecken der Tapete waren auch im matten Schummer gut sichtbar. Die Möbel konnten ihr Alter ebenso nicht verstecken. „Hier müffelt es aber“, stellte er fest. Er öffnete die Fenster. Ein ländlicher Geruch von Stall und Mist drang herein und füllte das Zimmer. Sie hatte ihre Augen geschlossen und sagte leise: „Du, stell dir mal vor, ich wäre schwanger.“ Stille. Ein Knacken irgendwo im Gebälk des alten Hauses. Stille. Tief sogen sie beide den ungewohnten Duft ein. Nur das Geräusch ihres Atems. Fern bellte ein Hund. Unruhiges Schurren im Stall. Stille. Da spürte sie seine Hand. Sie war warm. „Deine Oma ist geil. Voll fies hat sie sich das ausgedacht. Aber cool. Die weiß, was sie will.“ Er sprach ganz leise, fast flüsternd. Lange sagten sie beide nichts. Aber, es war als ob sie sich abgesprochen hätten, da standen sie beide auf, tappten durch die muffigen Flure, die Treppe hinunter, hinaus in den Regen, und bei der ersten Fichte holte er sein Messer raus, und sie hatten ihre Zweige. Der Wirt gab ihnen auch eine Kerze zu den fünf Flaschen Bier, und sie lagen auf dem knarschenden Bett in den tiefen Kuhlen, sahen in den leuchtenden Kranz der Kerzenflamme, und sie hatten sich nichts zu schenken als ihre Zärtlichkeit. Silvester erzählten sie ihren Freunden von der schönsten Weihnacht ihres Lebens, aber die konnten damit nichts anfangen. Weihnachten ließ sie kalt. Nur die neuen Handys wurden herumgezeigt.
Wie Christoph mit Weihnachten anfängt
Fast wäre Weihnachten ausgefallen in diesem Jahr. Kein Tannenbaum, kein Kerzenlicht, kein Gabentisch, nur ein normaler Abend, an dem alle Kinder zu früh ins Bett müssen. Fast wäre Weihnachten wirklich ausgefallen, und das kam so: „Wenn du nicht endlich dein Zimmer aufräumst, fällt Weihnachten aus!“ brüllte Vati und schlug die Tür zu, so schnell und so laut, daß nun das Fußballbild schief hing, die Gardine am Fenster sich bewegte und Christoph vor Schreck sein Herz klopfen fühlte. Vati war auf einen Legostein getreten, und weil er auf Strümpfen ging und ohne Hausschuhe (Väter dürfen das wohl), hatte es weh getan. „Wenn du nicht endlich dein Zimmer aufräumst …“ Christoph schluckte. Wer weiß nicht, wie ein Zimmer aussieht beim Basteln vor Weihnachten! Papier, Papier, groß und klein, besonders in kleinen Schnitzeln, 27 Filzer und Klebe und Klötzer, Bilder und Bücher, Bälle und Bänder, Spiele und Zeug, alles durcheinander, übereinander, untereinander, beieinander, auseinander. Ich glaube, der Teppich darunter ist rot, sehen kann ich ihn nicht. Und heute ist Weihnachten, nachher, wenn die Kirche aus ist. Christophs Hände waren schwer wie Blei und um den Hals
war ihm eng wie im kleinsten Pullover und in seinen Augen brannte es heiß. „Wenn du nicht endlich dein Zimmer aufräumst, fällt Weihnachten aus …“ Das war heute vormittag. „Wenn du nicht artig bist, feiern wir nicht Weihnachten“, schimpfte Mutti am Mittag. Christoph zuckte zusammen. Christoph wollte die Vase nicht umwerfen. Die Vase war nur gefallen, weil der Stuhl dagegen stieß als er umkippte, und Christoph kippte den Stuhl nur um, weil er nach einem Lappen laufen wollte. Christoph brauchte den Lappen schnell, weil der Traubensaft auf dem Tischtuch immer weiter auseinanderfloß. Der Traubensaft aber kam auf das Tischtuch, weil Christoph den Soßenfleck wegwischen wollte, der vorher auf dem Tischtuch war, und der war nur entstanden, weil Christoph am Heiligen Abend mit Messer und Gabel essen wollte und das Fleisch beim Schneiden vom Teller flutschte. „Wenn du nicht artig bist, feiern wir nicht Weihnachten!“ schimpfte Mutti, und Christoph weinte, als er die Scherben der schönen Vase sah. „Wenn du dein Gedicht nicht kannst, gibt es keine Geschenke!“ sagte Oma und hielt Christoph bei der Hand. „Versuchs doch mal, sag’s mir doch mal auf!“ Christoph holte tief Luft: „Weihnacht will werden im ganzen Land, alle Kinder sind sehr gespannt, was das Christkind wohl bringt, wenn das Glöckchen erklingt und ruft sie herein in den glänzenden Schein der vielen Lichter am Weihnachtsbaum.
Ihre Gesichter, du glaubst es kaum, leuchten viel heller, ihr Herz schlägt schneller … ihr Herz schlagt schneller … schneller … Christoph konnte sein Gedicht nicht mehr. „Wenn du dein Gedicht nicht kannst, gibt es keine Geschenke“, hatte Oma gesagt, und er konnte es nicht! Christoph träumte sich in das Krippenbild hinein, hinter dem die Kerze brannte, weil es nun dämmerig wurde. Maria lächelte, auch Joseph sah freundlich drein, und das Christkind lag auf weißen Windeln, goldumglänzt … „Wenn du dein Zimmer nicht aufräumst … wenn du nicht artig bist … wenn du dein Gedicht nicht kannst … Christoph war traurig, tränentraurig, und dachte die immer gleichen Gedanken: „Wenn du …“ Bestimmt war das Christkind artig. Bestimmt hatte Maria aufgeräumt und Joseph kannte sein Gedicht, bestimmt. Da stand Christoph auf, der kleine Christoph, reckte sich hoch, ganz groß machte er sich, blies mit geblähten Backen die Kerze aus hinter dem Krippenbild. Nun war’s dunkler im Zimmer, grauer war es, so grau wie Christoph traurig war. Und Christoph ging in sein Zimmer, trat auf Papier und Filzer, Kleben und Klötzer, Bilder und Bücher, Bälle und Bänder, Spiele und Zeug. Aus dem Versteck — pscht — das verrate ich euch nicht, holte er, was er gebastelt hatte, das bunte Bild vom Weihnachtsbaum für die Oma, Walnußweihnachtsmann mit Wattebart für Vati und den goldglitzernden, glänzenden Engel für die Mutti.
Christoph stapfte, beide Hände beladen, mit Weihnachtsmann und Engel, das Bild unter dem Arm durch sein Zimmer, über den Flur, zum Eßtisch, an dem die Großen saßen und müde Minen machten. Und Christoph legte seine Geschenke auf den Tisch, mitten zwischen Teller und Tassen, Schüsseln und Gläser und sagte: „Da!“ Und nach einer langen Pause stummer Stille sagte er noch: „Weil Weihnachten ausfällt.“ Mehr sagte er nicht. Mehr konnte er nicht sagen, weil Mutti ihn küßte, ganz weich und warm, und weil Vati ihn drückte, ganz fest und sicher, und Oma seine Hand hielt. „Weihnachten fällt nicht aus“, sagte Vati. „Wir feiern doch Weihnachten“, sagte Mutti. Und Oma sagte: „Geschenke gibt es doch auch nachher.“ Warum?“ fragte Christoph, als er wieder Luft bekam. „Weil Weihnachten für alle Menschen wird“, sagte Vati. „Weil wir Weihnachten so sein dürfen, wie wir wirklich sind“, sagte Mutti. Und Oma sagte: „Weißt du, Christoph, mit dem da“, sie zeigte auf die Geschenke mitten auf dem Tisch zwischen Tellern und Tassen, Schüsseln und Gläsern, „mit deinen Geschenken hast du den Anfang gemacht, den Anfang von Weihnachten. Ich glaube, du hast uns sehr lieb.“ Ja, fast wäre Weihnachten ausgefallen in diesem Jahr. Aber Christoph hat mit Weihnachten angefangen. Und er freut sich darauf, wenn Weihnachten weitergeht, genau wie du und ich.
Wie stark doch ein Licht ist
Draußen war es trüb und regennaß. Die Straßen glänzten im Licht der Autos und Reklamen. Wild wedelten die Bäume mit blattlosen Ästen. Feuchtes Laub roch modrig in den Ecken. Eiskalt schnitt der Wind durch die Häuserschluchten. Yana lag auf ihrem Bett und genoß die Wärme. Langsam wurde es dunkel in ihrem Zimmer. Die Schatten der Schränke griffen immer weiter in den Raum, die scharfen Kanten der Dinge rundeten sich. Yana mochte die Dämmerung, früher mochte sie die Dämmerung. Aber nun packte sie die Angst im Dunkeln. Seit damals hatte sie Angst im Dunkeln, als der Papa sie im Keller einschloß, der böse Papa, der jetzt weg war, der Bier- und Schnapspapa mit der Brüllstimme, die tief im Magen so weh tat. Yana lag auf ihrem Bett und schloß die Augen. Sie dachte an morgen, an warmen Kakao und den grünen Kranz, den Mama vorhin gebunden hatte: Tannengrün und rotes Band nahm sie, einen roten Ständer auf rotem Stern, und obenauf kam in sattem Gelb wieder ein Stern, dicke rote Kerzen steckte sie auf, vier an der Zahl, und morgen wird Yana die erste entzünden zu warmen Kakao und geheimnisvoll würzigem Rosinenbrot. Morgen wird die erste Kerze brennen, leuchtend
gelb und golden wird sie ihre Strahlen aussenden und Glanz in Augen und Gesichter zaubern, morgen. Yana dachte an das Licht, und sie sah sich mit einem großen Sack durch eine kalte dunkle Welt laufen, und sie sammelte alle Fetzen Dunkelheit auf, die sie fand, und sie stopfte sie in ihren Sack. Das erste waren die Dunkelheiten aller Kinder ohne Papa, deren Papa weg war, wie der ihre, weil sie nach Schnaps rochen, laut brüllten und ihre Kinder in den Keller sperrten. Dann griff sie nach den Finsternissen der Kinder im Keller, die das Schloß in der Tür knacken hörten und nun wußten: sie sind ganz allein, allein mit Finsternis und Spinnen an feuchten Wänden. All dieses Dunkel füllte sie in ihren Sack auf dem Rücken, trug es nach Haus. All dieses Dunkel in ihrem Sack trug sie zum Tisch in der Stube, zum Licht an dem Kranz, und dort goß sie es aus über dem strahlenden Schein — und die Flamme flackerte nicht einmal. Danach zog Yana aus, das Dunkel der Kinder im Krieg zu sammeln. Bis nach Jugoslawien zog sie mit ihrem Sack, obwohl sie doch gar nicht wußte, wo Jugoslawien lag. Sie kam sogar nach Afrika, wo die Kinder hungern, und sie fing auch dort die dunkle Angst ein, lud sie in ihren Sack und trug sie zum Licht. Auch diese schwarze Nacht verlöschte die Kerze nicht, die nur noch heller zu strahlen schien und weiter warmes Licht vergoß. Yana war unermüdlich. Sie kehrte die finsteren Gedanken der großen Jungen zusammen, die immer nur die Mädchen ärgern, und all die dunklen Machenschaften der Weltkaputt-
macher nahm sie in ihren Sammelsack und schüttete sie über der Flamme aus. Aber das Licht durchdrang alles, alle Finsternis dieser Welt, das eine Licht war stärker. Und bald werden es noch mehr Lichter sein, zwei, drei, vier. In Yana fing es an zu singen, Advent, Advent, und Freude wuchs in ihr. Sie lag auf dem Bett und spürte, wie sich in ihrem Bauch die Weihnachtsfreude zusammenballte. Irgendwie, fand sie, war die Sache mit dem Gott schon ganz toll. Adam und Eva, das war schon mal eine gute Idee, und die Sache mit Noah erst recht, die Tiere in der Arche, damit sie nicht ertrinken, und zum Schluß dann der Regenbogen, der bunte. Das beste war aber die Idee mit dem Weihnachtsfest. Das war richtig gut gegen die blöde Angst. Und Geschenke gab’s auch.
KRIPPENSPIELE Erstes Krippenspiel
Auf der linken Bühnenseite sind zwei Schaufenster, dekoriert mit populären Spielsachen und Süßigkeiten der Weihnachtszeit. Auf der rechten Bühnenseite steht eine kleine Krippe aufgebaut. Ein Verkäufer zieht ein mit einem Berg von Paketen.
. VERKÄUFER: Geschenke! Spielzeug für die Lieben! Das große Fest der Geschenke! Moutainbikes und Eisenbahnen! Rollerblades und Barbiepuppen! Geschenke! Leute kauft ein! Kauft, Leute, kauft! Das Fest der Geschenke! Ein zweiter Verkäufer zieht ein mit einem Bauchladen voller Süßigkeiten. 2. VERKÄUFER: Marzipan und Stollen! Leckeres zur Weihnacht! Eßt, Leute, eßt! Schokoladenherzen und Lebkuchen! Kringel und Weihnachtsmänner! Baumkuchen und Zimtsterne! Braune Kuchen! Marzipan!
Unter solchen Rufen ziehen beide Verkäufer zu den Schaufenstern. Wenn sie die Schaufenster erreicht haben, werden sie in strahlendes Licht getaucht. Die Verkäufer wiederholen sehr laut ihren Text. Währenddessen entzündet ein Kind vor der Krippe vier Kerzen. . KIND (singt): O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit! Welt ging verloren, Christ ist geboren: Freue, freue dich, o Christenheit! Das . Kind zieht sich zurück. Eine Kindergruppe stürmt lärmend herein. Vor der Bühne bleiben sie wie gebannt stehen. Sie treten zu den Schaufenstern. Die Verkäufer wiederholen ihren Text. Aber die Kinder gehen an ihnen vorbei, als wären sie gelangweilt. Sie gehen zur Krippe. 2. KIND: Schau mal, der Stern! 3. KIND: Der Stall! 2. KIND: Wie verfallen der ist … 3. KIND: Das Dach ist voller Löcher. 2. KIND: Niemand hat sie aufgenommen.
4. KIND: Mein Bruder sucht auch eine Wohnung, schon lange. 5. KIND: Da sind auch der Ochse und der Esel. Sie sehen zu. 6. KIND: Ist die Maria nicht schön? Sie freut sich. 5. KIND: Obwohl sie arm sind. 7. KIND: Nicht mal ein Bett! 4. KIND: Ein Kind aus meiner Klasse hat auch kein eigenes Bett. Maura heißt sie. Sie kommt aus Afrika. 3. KIND: Aus der Krippe fressen sonst die Tiere. 2. KIND: Ist das Kind nicht süß? Und so klein! Es schläft. 3. KIND: Stroh ist auch weich und warm. Aber es piekst manchmal. 5. KIND: Das ist der Joseph. Der sieht nur zu. 4. KIND: Mein Vater hat auch nichts zu tun. Er hat keine Arbeit.
5. KIND: Das sind die Hirten. Sie sind ganz andächtig. 2. KIND: Die Engel sind auch da. Sie singen ein Lied. 4. KIND (tritt nahe zur Krippe und zeigt darauf): Feiern wir deshalb Weihnachten? 2. KIND: Ja. 4. KIND: Nur weil der geboren ist? 6. KIND: Ich finde Babys süß. 7. KIND: Außerdem hat er Frieden gebracht. 2. KIND: Er war auch für die Armen und Kranken und hat ihnen geholfen. 5. KIND: Der war auch zu Ausländern gut. 2. KIND: Und zu schlechten Menschen war er auch gut. 7. KIND: Ich finde, Weihnachten ist das schönste Fest.
4. KIND: Weil du Geschenke kriegst! 7. KIND: Nein. Gar nicht. Weil dann alle so nett sind. 2. KIND: Ich mag auch die Lieder so gern. 3. KIND: Alles ist immer so feierlich. 5. KIND: Zu Weihnachten kommen immer Opa und Oma, die sind sonst nie da. 6. KIND: Die Kerzen, der Tannenbaum und so, das ist wirklich schön. 4. KIND: Dann sollte aber öfter Weihnachten sein. Viel öfter. Am besten jeden Tag. ALLE KINDER: Genau: Weihnachten jeden Tag! Sie singen: O du fröhliche … Alle Kinder gehen ab, das Licht erlischt. Nur die Kerzen bleiben brennen.
Zweites Krippenspiel
Auf der Bühne liegen viele Schachteln und Pakete mit Geschenken. Ein kleines Glöckchen klingelt. Die Kinder stürmen herein, stürzen sich auf die Geschenke und reißen die Schachteln und Pakete auf. das Papier fällt achtlos herunter. Die ausgepackten Geschenke scheinen die Kinder nicht sonderlich zu interessieren.
. KIND (hält eine Taschenlampe hoch und schaltet sie ein): Das ist der Stern! Der Stern von Bethlehem! Der Stern! 2. KIND (nimmt einen großen Karton und stellt ihn auf): Ich hab’ einen Stall. Das hier ist der Stall. 3. KIND (nimmt eine Barbiepuppe und stellt sie in den Stall): Das ist die Maria, die Maria ist das! Das blonde Haar macht nichts. Alle Barbies sind blond. 4. KIND (nimmt zwei Modellautos und stellt sie in den Stall): Ochs und Esel gehören auch dazu! Die kommen hierhin. 5. KIND (nimmt eine Cognacflasche und stellt sie neben die Maria): Die Flasche ist der Joseph.
6. KIND (nimmt eine Schmuckschatulle): Kann das die Krippe sein? Da war ein Ring drin. . KIND: Ein bißchen zu vornehm, oder? 2. KIND: Macht nichts. Maria ist auch zu fein. Das 5. Kind stellt die Schatulle in die Krippe. 7. KIND (hält einen Dinosaurier hoch): Ich hab’ die Hirten hier. Aber nur zwei. Mehr waren da nicht drin. 8. KIND: Uns fehlt noch das Wichtigste. Wir haben noch kein Jesuskind! 9. KIND: Aber die drei Heiligen Könige habe ich hier! (Es hält Rollerblades hoch und einen Skistiefel, und stellt sie um die Krippe.) . KIND: Wir brauchen noch das Jesuskind! Was können wir denn da nehmen? 3. KIND: Wie wär’s hiermit? Ein Sektkorken ist das, glaub’ ich. der sieht oben so aus, als wäre das ein Heiligenschein. 2. KIND: Geil, den nehmen wir. (Es legt den Korken in die Schatulle.)
Das 3. und 5. Kind nehmen Maria und Joseph aus der Krippe und gehen vor den anderen Kindern hin und her. 3. KIND: Wir sind auf der Reise. Ich bin müde. Mein Mann muß mich stützen. Endlich sind wir da. Wir suchen ein Hotel. Aber alle sind voll. (Die anderen Kinder machen abwehrende Handbewegungen.) Niemand will uns haben. 5. KIND: Nur einer hat ein Herz mit uns Ausländern. Er gibt uns den Stall. Ein Kind macht eine einladende Geste auf den Stall hin. Maria und Joseph werden abgestellt. 4. KIND (nimmt Ochs und Esel auf und schüttelt sie): Ochs und Esel wundern sich über das Kind. (Stellt die Figuren wieder hin.) 3. KIND: Das Jesuskind strahlt und schläft gleich ein. (Es nimmt den Sektkorken hoch und legt ihn wieder hin.) 6., 7. UND 9. KIND (nehmen die Stiefel und gehen hinter dem . Kind hinterher, das mit der Taschenlampe voran geht. Sie sprechen im Chor):
Wir sind die Könige aus dem Morgenland und suchen den König. Der Stern zeigt uns den Weg. (Sie singen) Stern von Bethlehem, zeig uns den Weg … (Am Ende des Liedes stehen sie an der Krippe und stellen die Hl. Könige ab.)
8. KIND: Ich hab die Geschenke! (Es nimmt eine Tüte mit Süßigkeiten und schüttet sie vor den Stiefeln aus.) . KIND: Jetzt sind wir die Hirten und singen ein Weihnachtslied. (Die Kinder stellen sich auf und singen alle): Kommet, ihr Hirten, ihr Männer und Frau’n …
Drittes Krippenspiel
SPRECHERIN (verkündigend): Als Gott, der Herr, (nachdenklich) oder war das nicht doch die Frau und Mutter in ihm, (verkündigend) als sie also sah, daß in einem der reichsten Länder dieser Erde kein Platz war für Flüchtlinge und Fremde, als sie dort sogar begannen, Frauen und Kinder in die Heimat des Hungers und Krieges zurückzuschicken, da erbarmte sie sich der hartherzigen Menschen, und ließ dies also geschehen, damit man sich fortan davon erzähle und alljährlich daran erinnere: . und 2. Kind (Joseph und Maria) ziehen mit einer Fackel den Gang entlang in die Kirche ein. . KIND: Halt aus, Maria, halt doch noch ein Weilchen aus. Wir werden von der nächsten Tür nicht weichen, auch wenn sie uns mit Hunden jagen. 2. KIND: Ich weine nicht um mich, Joseph, es soll an mir nicht liegen. Aber es kann doch kein Kind auf der Straße geboren werden,
solange es noch Häuser gibt. Die Herzen der Menschen sind härter als die Steine, über die unsere müden Füße gehen. . KIND: Gott weiß es, Maria, Gott weiß es. Er ist mit uns auf diesem Weg. 2. KIND: So wollen wir sehen, wo wir ihn betten. Sie kommen vor die Altarstufen. Ein Wirt (3. Kind) lehnt an der Hoftür. . KIND: Ist Raum in Eurer Herberge, werter Herr? 2. KIND: Um Gottes willen, habt doch ein Herz! 3. KIND: Wann werdet Ihr es begreifen, Ihr Fremden: Das Schiff ist voll! Alle Räume sind belegt, nächstes Jahr werde ich anbauen müssen. 2. KIND: Ein Kind braucht doch nicht viel Platz! Ein ruhiges Eckchen nur, ein Dach über dem Kopf. 3. KIND: Nicht für Geld und gute Worte. Das Haus ist voll! . KIND: Schickt uns nicht fort von Eurer Schwelle, Herr. Gott ist mit
unserem Volk durch die Wüste gezogen, er ist auch bei uns auf diesem Weg. Jagt ihn nicht fort! 3. KIND: Vielleicht … Im Stall könntet Ihr noch ein Eckchen finden. Drängt das Vieh beiseite. Dann mag’s wohl reichen. Er öffnet die Hoftür und läßt die beiden ein. SPRECHERIN: Gott dachte für sich: Nicht des Kaisers und seiner Minister sollen sich die Menschen erinnern in fernen Zeiten, sondern dieses Mannes, des Wirtes, der Gott einen Raum bot in einem Stall. Dieser Stall, so dachte sie bei sich, soll mehr Ruhm genießen, als die schönste Kathedrale, die sie mir bauen werden. Denn in diesem Stall will ich wohnen für immer. Maria und Joseph haben um eine Krippe Platz genommen. Sie werden in Licht getaucht. Eine Hirtenschar zieht ein und umringt das Paar mit dem Kind. 4. KIND: Jetzt wohnen sie schon in den Ställen, wie wir, das Gesindel. 5. KIND: Aber schau nur, sie haben ein Kind! 6. KIND: Ein Kind in einer Krippe! Daß sie sich nicht schämen! Das Lämmchen hat es besser, als ein Menschenkind in dieser Zeit!
Nimmst du nicht in Nacht und Kälte das neugeborene Lamm mit seiner Mutter in dein Zelt, in die Nähe des Feuers? 5. KIND: Ein Kind in einer Krippe, in einem Stall … Die Menschen sind sonderbar … Sie bauen Tempel und Paläste, aber für Menschenkinder ist kein Platz da. 4. KIND: Dann wollen wir dies Kind ehren, wie es sich gehört. Wir haben zwar nicht Geld und Gut, doch können wir Gott bitten, daß er dieses Kind bewahre. Sie fallen auf die Knie und beten. SPRECHERIN: Als sie die Ärmsten und Schlechtesten so beten sah, beschloß sie in ihrem Herzen, auch diese in das Gedächtnis der Menschheit aufzunehmen. Und Gott ließ erzählen von den Hirten auf dem Felde, denen, obwohl sie doch arm und verachtet sind, Friede und Wohlergehen versprochen wird. Drei Könige ziehen ein. Sie tragen den Stern und singen: Stern von Bethlehem, zeig uns den Weg … 7. KIND: Hier muß es sein! 8. KIND: In einem Stall?
9. KIND: Ein König wird in einem Stall geboren! Unglaublich — und doch wohl wahr! Seht, der Stern verharrt. 7. KIND: Wir sind am Ziel. 8. KIND: Gottes Weisheit hat uns hergeführt. 9. KIND: Zu diesem Stall! 7. KIND: Dann ist also all unser Geld und all unser Reichtum gar nichts wert … 8. KIND: Dann ist also all unsere Macht und Pracht nichts wert in seinen Augen … 9. KIND: Das will heißen: Wenn du Gott suchst, dann mußt du unter dich blicken, in den Staub der Straße, ist es so? Hat uns der Stern hierher geführt, damit wir das erkennen? 7. KIND: So wird es sein. Laßt uns zu ihm beten. Sie fallen nieder und beten. SPRECHERIN: Als Gott sah, wie die Mächtigen zur Einsicht kamen, beschloß sie in ihrem Herzen, auch die Geschichte der drei Könige
erzählen zu lassen. Seit diesen Tagen also wird es Jahr für Jahr laut auf dem ganzen Erdenrund verkündet: „Es begab sich aber zu der Zeit …“ und „Da Jesus geboren war zu Bethlehem im jüdischen Lande, siehe, da kamen Weise vom Morgenland …“ Und so hören und feiern wir es noch heute.