Die Krallen der Feme Von Dodge Messer Der schaurige Ton schwoll an, steigerte sich dann zum entsetzlichen Heulen und li...
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Die Krallen der Feme Von Dodge Messer Der schaurige Ton schwoll an, steigerte sich dann zum entsetzlichen Heulen und ließ den alten Stuart McLaine zusammenfahren. Es war ein so gräßlicher Laut, daß der Alte den Atem anhielt und ihm ein Frösteln über seine Schulterblätter rieselte. Der grausige Schrei kam irgendwoher aus der grauen, düsteren Nebelwand, die schon vor Stunden in das Fall River Tal und den gleichnamigen Canyon gekrochen war. Der Alte richtete sich leise auf, schlug die Ölhaut zurück und griff nach seinem Gewehr. Jetzt ging der Schrei in ein fürchterliches Gurgeln über. Es hörte sich an, als würde unten im Canyon jemand erdrosselt, als hätte et was Unheimliches jemand am Hals gepackt und drückte ihm nach und nach die Luft ab. Obgleich Stuart McLaine genau wußte, woher das schaurige Geräusch kam, packte ihn doch etwas wie Angst. Das Gurgeln entstand tief unten im Canyon, wo sich einige der für dieses Gebiet typischen heißen Quellen befanden. Der Regen hatte die Hänge ausgewaschen, den Schlamm in die Tiefe gleiten lassen und zum Teil über die Spalten und Erdrisse geschoben. Jetzt quälten sich die heißen Dämpfe, die mit mehr als hundertfünfzig Grad Hitze aus dem Erdreich schossen, durch die Schlammschicht, sie trieben sie zu Blasen auf, schufen in Blitzesschnelle kleine Schlammkrater und schleu derten Schlammfontänen in die Höhe. Stuart McLaine hatte dieses Naturereignis ein dutzendmal beobachtet – und doch war heute alles anders. Es mochte der Nebel sein, dieser entsetz liche, nach Schwefel und Fäulnis stinkende und aus der Tiefe hochsteigen de Dunst, der McLaine so unruhig machte. Vielleicht aber war es auch je nes Gefühl, das McLaine seit dem Mittag beherrschte. Dem Alten war es vorgekommen, als sei er beobachtet worden. Der Dunst hatte schon am Mittag in den Tälern der Black Hills im Dakota Territorium genistet. Wenngleich sich McLaine zwanzigmal umgeblickt – er hatte niemanden gesehen. Bei diesem Wetter ritt man nicht durch die Berge. Der Alte erin nerte sich schaudernd an John Willis und Castor Lean, zwei erfahrene Fal lensteller und Pelztierjäger, die bei ähnlichem Wetter durch die Black Hills
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unterwegs gewesen waren. Von beiden hatte man nie wieder etwas gese hen. Beide hatten diese Gegend wie ihre Westentasche gekannt und waren seit einem Jahr verschollen. Hatte sie Nesho‐wan‐take, der Geist des Nebels und der heißen Dämpfe, an den die Crow‐Indianer, ihre Vettern, die Pawnees und die Sioux glaub ten, in sein schreckliches, finsteres Reich geholt? Oder waren sie von Fellmardern, wie man jenes Gesindel nannte, das in den Bergen umherschlich, Pelztierjäger ermordete und mit ihrer Fellaus beute verschwand, auf heimtückische Weise umgebracht worden? »Hol’s der Teufel!« stieß der alte McLaine durch die Zähne. Er stand auf, warf ein paar Äste in sein kleines Feuer, das er bei Einbruch der Dunkelheit zwischen den Felsklippen am Rand der Schlucht entfacht hatte und griff nach seiner Laterne. »Die Pest, der Wind hat gedreht – die Schwefelgase treiben aus dem Canyon zu meiner Seite herüber.« McLaine hatte den Finger angeleckt und hochgestreckt. Der Wind hatte nach Norden gedreht, die stinkenden Gase, die es einem übel werden lie ßen, wenn man sie zu lange einatmete, wehten dem Alten ins Gesicht. Mc‐ Laines drei Maultiere und das Reitpferd standen jenseits des Feuers zwi schen anderen Klippen. Die Tiere prusteten und schnaubten – der Gestank gefiel ihnen so wenig wie ihrem Besitzer. »Ich hätte hier nicht bleiben sollen«, sagte der Alte mürrisch. »Nun fehlte nur noch, daß die Tiere mir durchgehen, wenn ihnen der Gestank zuviel wird. Da – schon wieder!« Unter ihm erhob sich ein schrilles Pfeifen, dann ertönte ein Klatschen, als wäre jemand in den heißen Schlamm gestürzt. In der nächsten Sekunde erklang ein Heulen und Jammern, daß es dem Alten durch Mark und Bein ging. An diesem Platz war es nicht geheuer – und gerade darum hatte Mc‐ Laine hier Rast gemacht. Auch der mutigste Indianer machte um den Fall River Canyon und seine Seitenarme an dieser Stelle einen großen Bogen. Hierher traute sich auch kaum ein Weißer. Vor Jahren war Charles Peachman, ein erfahrener Scout, den jedes Kind im Dakota Territorium gekannt hatte, vor den Augen seiner Begleiter in den Schlamm dieses Sei tenarmes gestürzt. Peachman sollte noch zehn Sekunden geschrien haben, ehe er bei lebendigem Leib buchstäblich zerkocht worden war. Seitdem wagte sich auch kein Weißer mehr zu nahe an die tückischen Klippen des Hanges heran. Sie waren stets feucht und wurden von den
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schwefligen Dämpfen zernagt, so daß ihre Oberfläche abbröckelte. »Hier mache ich kein Auge zu«, knurrte der Alte finster. »Der Teufel soll es holen! Ich muß wieder aufladen und weiter.« McLaine zauderte nicht länger. Er ging zu seinen Packtieren und machte sich an das mühsame Geschäft des Tragsattelauflegens. Seine Felle lagen in mehreren dicken Bündeln am Boden auf ein paar Koniferenstangen. Nach einer Viertelstunde hatte der Alte seine drei Maultiere bepackt. Er kannte sich hier auch im Schlaf aus, schließlich hatte er den einen und schlimmsten Winter vor fünf Jahren nur dadurch überlebt, daß er sich hier am Geysir‐Seitental aufgehalten hatte, während andere Pelzjäger sogar in ihren Hütten erfroren waren. McLaine kannte jeden Weg und Steg. Die auch im Winter nie erstarrende Oberfläche des Schwefelschlammes endete mit dem nach vierhundert Schritt auslaufenden Tal vor einer Steilwand. Kurz vorher senkte sich das Gelände noch einmal. – Der Weg durch die Klippen führte dann nur noch zwei Schritt über der ständig brodelnden Schlammschicht her. Der Alte ließ das Feuer brennen. Der Nebel würde es bald löschen. So schwang sich McLaine auf seinen braunen Wallach, nahm die Laterne, hakte sie am Brustgurt ein und zog seine drei Maultiere hinter sich her. Trotz des dichten Nebels und der tiefen Nacht, die das Laternenlicht kaum zwei Schritt weit erhellte, fand McLaine seinen Weg nach Süden. Unablässiges Quarren, Klagen und Heulen begleitete ihn. »Ich will verdammt sein, wenn das eine Rothaut aushalten könnte und nicht wahnsinnig vor Angst würde«, sagte der Alte halblaut. »Wenn ich nicht wüßte, woher die verdammten Geräusche kommen, würde ich die Beine in die Hand nehmen und wegrennen. Himmel, das ist heute ja be sonders schlimm. Es wird vom Regen kommen – der hat den Schlamm dünner werden lassen, was?« Es war ihm, als schrien ihm tausend böse Geister ihre Klagerufe und Verzweiflungsschreie nach. Manchmal erscholl ein durch Mark und Bein gehendes Kreischen, grausig von den Wänden und Klippen widerhallend und selbst einen kaltblütigen Mann wie Stuart McLaine beeindruckend in seiner gräßlichen Schaurigkeit. Links neben McLaine wurde das Geblubber und Gurgeln jetzt immer lauter. Er wußte nun, daß er sich an jener tiefsten Stelle über dem Schwe felschlamm befinden mußte. Um zu sehen, ob seine Vermutung richtig war
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und der Regen sich mit dem Schlamm zu einer breiigen Masse vermengt hatte, hakte McLaine die Laterne aus. Dann leuchtete er, die Laterne in der Linken, den Boden an und lenkte sein Pferd hart an die Kante des Tales. Was dort hochstieg und sich wie giftige Dämpfe mit dem Nebel ver wischte, schillerte grünlichgelb. Nur noch drei Pferdelängen hatte McLaine zu reiten, als er den allertiefsten Punkt der Talwand erreicht hatte. Jetzt fiel das Laternenlicht sogar bis auf die schwarzblaue Schlamm schicht hinunter. Hier war die Wärme des Schlammes so groß, daß sie den Nebel in die Höhe drückte. Die graue Nebelschwadenschicht schwebte wie eine feste Wolke über der blubbernden, Blasen treibenden Oberfläche des Schlammes. Pfeifende und klagende Töne, ein grausiges Stöhnen drang zu Stuart McLaine empor, der sich tief aus dem Sattel bückte. »Gerechter Gott, so ähnlich muß der arme Charlie Peachman geklagt ha ben, ehe er zerkochte«, sagte der Alte schaudernd. »Wahrhaftig, zuviel Regen, wie? Die Luft ist zu feucht, der Regen kann nicht verdunsten – Himmel, der Schlamm steht einen vollen Schritt höher als gewöhnlich! Jesus, regnet es noch mehr, quillt er hier über die Kante und fließt in das lange Tal. Wie das Blasen treibt, wie das blubbert und spritzt! Das ist ja, als wolle er alles herauskochen, was er schon verschlungen hat. Manchmal taucht ja etwas aus dem Schlamm auf und…« Und dann verstummte der Alte. Stuart McLaines Augen weiteten sich, ehe sie dem Alten aus den Höhlen zu quellen drohten. Unmittelbar unter ihm – in der schaurigen Schwefel brühe treibend, angehoben durch einen Gasstoß, der das Schwefelgas durch den Schlamm trieb, tauchte etwas am Rande des Lichtkreises der Laterne auf. Zuerst sah es nur wie ein dicker Ast aus, der braunschwarz gefärbt aus der scheußlichen Brühe hochgedrückt wurde. Dann blies es der heiße Dampf grünlichgelb an – und in derselben Sekunde sah Stuart McLaine, daß der Ast ein Arm war. Es war ein Jackenärmel – der Ärmel einer schweren Lederjacke, zusam mengeschrumpelt und gekrumpft von jener ständigen Hitze tief unten. Der heiße Dampf befreite den Jackenärmel von der Schlammschicht – dunkel braunes Leder wurde sichtbar. Und aus dem Ärmel, plötzlich schmutzig gelb und doch ganz deutlich erkennbar herausragend, hob sich der skelet tierte Unterarm mit seiner Knochenhand Stuart McLaine entgegen.
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Vom Grausen gepackt, unfähig zur kleinsten Bewegung, glotzte Stuart McLaine auf den schrecklichen Arm herab. Zischend und fauchend, als wolle er alles, was schmutzig war und in der Tiefe des Schlammes gelegen hatte, an die Oberfläche befördern, brach ein breiter Strom Dampf aus der Schlammschicht. Das ungeheuerliche Ding unter Stuart McLaine begann sich zu drehen, es richtete sich inmitten des Dampfes auf. In der nächsten Sekunde erkannte der Alte, was der Dampf reinigte und an die Oberfläche gestoßen hatte: es war das Skelett eines Menschen, das in jener geschrumpften Lederhaut steckte – es war der Oberkörper eines Mannes ohne Kopf, den der Schlamm irgendwo unter sich begraben haben mußte. Freigeblasen vom Dampf, seltsam oval und gelblich schimmernd, bleck ten die Hornknebel des Jackenverschlusses zu Stuart McLaine empor. Das Leder der Jacke war steinhart geworden. Es hatte sich derart zu sammengezogen, daß es den Oberkörper des Toten zerquetscht hatte. Kno chen waren wie Rippen im heißen Schlamm gar gekocht worden, das Mark war aus ihnen geflossen – die Rippen glichen Stahlspangen, hatten das Leder, als es noch weich gewesen war, durchbrochen und ragten wie spitze Dorne aus der nun steinharten Lederhülle. Es war, als tauchte Nesho‐wan‐take, der Geist des Nebels und der Dämp fe, der sich in ein grausiges Skelett verwandelt hatte, aus dem Schlamm auf. In der Drehung des Torsos hob sich der rechte, versteinerte Arm und schwenkte, seine gräßliche Totenhand hebend, dem wie gelähmten Stuart McLaine entgegen. Vom Grausen gepackt und dennoch klar bei Verstand, erkannte der alte Fallensteller die Jacke – sah jene ovalen Hornknebel, die Schwefel gebleicht und Schlamm eingefärbt hatte – und er wußte jetzt, wer dort unter ihm aus dem Schlamm gekommen war. Es war John Willis – das Skelett des zerstörten Oberkörpers von John Willis, denn so hatte seine Jacke einmal ausgesehen, mit solchen selbstge fertigten Hornspangen war sie vorn verschlossen gewesen. Diese Jacke hätte Stuart McLaine unter Tausenden erkannt, denn John Willis hatte sie eigenhändig gemacht. Die Nähte waren in jenem schreckli chen Winter, der alle Pelztierjäger in den Bergen festgehalten hatte, von Willis von Bärensehnen zusammengebracht worden. Nichts, so hatte John Willis einmal stolz gesagt, würde diese Jacke jemals
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zerstören können. Er hatte recht behalten! Schaudernd, die Augen im blanken Entsetzen weit aufgerissen, glotzte Stuart McLaine auf das, was der Schlamm aus Willis und dessen Jacke ge macht hatte. Schon fiel die Dampfsäule in sich zusammen – die Kraft des Dampfstoßes schien erlahmt. Der Schlamm klatschte auseinander, bildete einen Trichter, in den die schrecklichen Überreste von John Willis gerieten. Und dann – einem Strudel gleichend, der sich jäh saugend in die Tiefe bewegte – fuhr zuerst der Arm in den Trichter hinab. Ein Riesenmaul schien sich zu öff nen; es packte die grausigen Reste von John Willis und ließ sie in einer Sekunde verschwinden. Danach glättete sich die Schlammfläche für Se kunden. Immer noch erstarrt und ungläubig auf den Fleck dort unten starrend, sah der alte McLaine, wie sich der Schlamm ruckend und zuckend beweg te, wie nochmals ein Pfeifen aus dem Grund an die Oberfläche stieg, der Schlamm jäh auseinanderspritzte und… Aus dem Schlamm, schwarz und modrig, schoß etwas empor, flog wohl einen halben Schritt in die Höhe, ehe es sich drehte und gleich einer Kugel eben dort in den Schlamm zurückklatschte, wo fauchend und heulend ein Dampfstoß in die Höhe fuhr. Dort tief unten, von McLaine hur erahnt, lief einer jener Felsrisse am Grunde der Schlucht von Nesho‐wan‐take dahin, verzweigte sich, verästel te sich, war einmal hier durch Schlamm geschlossen, öffnete sich an einer anderen Stelle und entließ den furchtbaren Druck der Gase. Dort unten fauchte nun das Gas mit dem Wasserdampf in die Höhe und erfaßte jene Kugel, aus der in Sekundenschnelle der schaurige Schädel wurde. Von außen vom Dampf angeblasen, innen noch voll Schlamm sit zend, schienen die leeren Augenhöhlen dennoch zu glänzen, steckte der Schlamm als Füllung im Schädel, bis der Dampf in den sich drehenden Totenkopf fuhr. Jetzt stießen Nasenlöcher und Augenhöhlen jenen grün lichgelben Dampf aus – und da erst rang sich ein grausiger Entsetzens schrei von Stuart McLaines Lippen. So, als wolle ihn der Schädel anspeien, so, als stieße er ihm den fauligen Schwefeldampf entgegen, drehte sich der Totenkopf und begann auf dem Dampfstrahl zu reiten. Er hob sich, schwebte dem Alten entgegen, der mit einem durch Mark und Bein dringenden Schrei zurückfuhr, seine Laterne
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hochriß und dem Pferd die Hacken einstieß. Von McLaines Schrei angetrieben, streckte das Pferd jäh die Hufe und sprang an. McLaine fuhr im Sattel zurück, als der Gaul hart anging. Schon jagte das Pferd zwischen die Klippen, schon übertönte das laute Trappeln der Hufe und Wiehern der Pferde das gräßliche Heulen, das scheinbar aus dem Mund des Totenkopfes gedrungen war, als McLaine seinen grauen haften Schock überwand und wieder zu Verstand kam. Es war unmöglich, daß Willis oder Lean im dichten Nebel in den Schwe felschlamm geraten waren. Niemals wären sie der Schluchtkante so nahe gekommen, daß sie hineingestürzt wären. Plötzlich begriff der alte McLaine, daß sich ihm das Geheimnis des spur losen Verschwindens der beiden Männer offenbart hatte. Nein, sie waren nicht hineingeraten, weil sie im Nebel die Richtung verloren gehabt hatten – sie waren hineingeworfen worden! Dies war es, was McLaine in wenigen Sekunden erkannte. Dies war der Grund ihres gemeinsamen und spurlosen Verschwindens gewesen. Hi neingestoßen, hineingeworfen, auf ewig verschwunden hatten sie bleiben sollen – und doch war wenigstens einer emporgeschleudert worden. Umgebracht, dachte der Alte entsetzt, kaltblütig ermordet und dann hi neingeworfen, aber… Er sah sich um, jagte schon den Steilhang herauf, war wieder vier, fünf Schritt von der Schluchtkante entfernt und zwischen den Klippen, als er den Schatten auf sich herabstürzen sah. Entsetzt aufschreiend, das im Laternenlicht geisterhaft bleich schim mernde, fratzenhaft verzogene Gesicht gerade noch erkennend, riß der Alte in verzweifelter Abwehr die Laterne hoch – aber es war schon zu spät. Als die grauenhafte Gestalt, deren weiter, nässetriefender Umhang ihr das Aussehen einer Riesenfledermaus verlieh, auf das Pferd stürzte, wußte McLaine, daß sein letztes Stündlein geschlagen hatte. Der Unheimliche war hinter dem Alten auf der Kruppe des Pferdes gelandet. Große, bleiche Hände packten blitzschnell zu und erwischten den Hals des alten McLaine mit einem furchtbaren Klammergriff. Dann fühlte sich der Alte nach links aus dem Sattel gerissen. Ehe er gegen die nächste Klippe schlug und sein Kopf an das harte Gestein prallte, dachte er einen Moment an sein einziges Kind, seine neunzehnjährige Tochter Nancy, die er mit Rusty Adams, sei nem Nachbarn, zu Kenndales Station geschickt hatte.
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Mein Gott, dachte der Alte, ließ die Laterne fallen und wollte noch unter die Jacke nach seinem Revolver greifen, mein Gott – Nancy wird warten, aber ich komme nie mehr nach Kenndales Station, ich komme nie mehr… arme Nancy… Der Anprall lähmte ihn, sein Kopf schien zu explodieren. Er sah nicht, daß der zweite Schatten jetzt dort, wo er gerade vorbeigeritten war, aus den Klippen sprang. Irgendwann fühlte er sich emporgehoben. Und dann war es ihm, als fiele er in die Tiefe. Unter ihm, der schon halbtot war, ehe er über den Rand der Schlucht in die Tiefe fiel und rasend schnell dem Schlamm entgegenstürzte, brodelte und kreischte es. Dort lauerte Nesho‐wan‐take, der Geist des Ne bels und der Dämpfe. Danach umgab ihn Hitze, der scheußliche, beklemmende Geruch nach Schwefel und Moder – er sank rasend schnell tiefer, aber er schrie noch einmal, ehe sich der Schlamm über ihm schloß. Das Klatschen drang bis zur Kante der Schluchtwand, der Schrei ver klang im Heulen und Fauchen, das jetzt stärker zu werden schien. »Na, was habe ich gesagt?« sagte hoch oben einer und lachte schaurig. »Habe ich euch nicht gesagt, daß wir nur zu warten brauchten, bis er kä me? Keiner hält das so hart neben dem Heulen und Brausen aus – da wird jeder verrückt und kann kein Auge schließen. Stellt euch vor, wir hätten ihn zwischen den Klippen unten packen sollen – da wäre er mit einem Satz verschwunden gewesen. Er mußte hier hochkommen, was?« Die Laterne brannte immer noch, ihr Schein fiel gleich darauf über das Deckfell des ersten Fellstapels. »Pfüüüt!« pfiff einer der Kerle durch die Zähne. »Silberfüchse – ver dammt gute Ware, was? Das sind achtzig bis neunzig Stück, wette ich. Mal sehen, was auf dem zweiten Maultier liegt…« »Hat das nicht Zeit bis morgen?« Die Stimme der Frau ließ den hageren Mann, der es so eilig gehabt hatte, nach den Fellen zu sehen, stehenbleiben. »Hast wohl Angst, daß sich der Schwefelgestank in deinem Haar festset zen könnte, was?« fragte er höhnisch. »Ich will wissen, was der Alte gehabt hat, Claire – solange kannst du warten, oder? Schließlich habe ich ihn er wischt.« »Darauf kannst du auch stolz sein, Steve«, spottete die Frau mit der tie
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fen, rauchigen Stimme. »Einen alten Mann kann jeder erwischen, dazu gehört doch wohl nichts.« »Du regst mich auf!« knirschte Steve Shringley. »Jean, hat sie schon was zu sagen, he?« »Laß ihn nachsehen, Claire«, meldete sich Jean Ribault, der eiskalte An führer der Horde Felldiebe, mürrisch. »Ich will auch wissen, was der alte McLaine bei sich gehabt hat.« »Wie du willst«, erwiderte Claire Shelton verärgert. »Immer halte nur zu deinen Freunden – du mußt ja wissen, was gut für dich ist.« Gore Shape, ein mittelgroßer, stämmiger Mann, dem das dunkle Haar strähnig über die Ohren fiel, blickte verstohlen zu der schlanken, blonden und vollbusigen Claire Shelton. Sie trug zwar Männerkleidung, aber sie hatte den Umhang abgelegt, und Shape konnte sehen, wie sich die derbe Cordjacke über ihrer Brust spannte. Wenn Jean eines Tages genug von ihr hat, dachte Shape, während ihm das Wasser im Mund zusammenlief, werde ich ihr zeigen, was ein richtiger Kerl ist. Claire Shelton nahm den Kopf herum. Sie hatte den gierigen Blick Shapes gespürt, und wenn sie auch nichts als ein Drei‐Dollar‐Girl gewesen war, so empfand sie doch tiefen Widerwillen, denn Shape zog sie mit seinen Bli cken jedesmal aus. »Es wird regnen«, meldete sich Percy Monk in diesem Moment mürrisch. »Laßt uns schnell verschwinden, dann sind die Spuren bald tot. Trödelt nicht herum, wir verlieren nur Zeit!« »Am besten reiten wir gleich nach Osten«, sagte Claire bissig. »Henry – wieviel ist die Ladung wert?« Henry Ribault, nicht ganz so groß wie sein älterer Bruder Jean, kam jetzt von den Pferden aus den Hang herunter. Sie hatten die Pferde oben am Hang zwischen den Bäumen angebunden gehabt, und er war, als er den Lärm und die lauten Stimmen unten gehört hatte, heruntergekommen. Sein erster Blick traf die Felle des alten McLaine. »Keine zweitausend Dollar«, sagte er kurz. »Das ist nicht genug, ver dammt. Wir brauchen noch eine Ladung, dann lohnt es sich schon.« »Dann muß es schon eine große Ladung sein«, brummte Jean Ribault. »Hier sind Marder‐ und Otterfelle – nicht genug für uns alle, oder, Tadd?« Tadd Morgan, der größte Mann des Rudels Raubwölfe, galt als schwer
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fällig, verfressen und faul. Dennoch täuschte seine Massigkeit jeden. Er war schnell wie eine Klapperschlange – und genauso gefährlich. »Nicht genug, lange nicht genug, obgleich das für zwei Mann reichen würde. Der Alte hat sich eine Menge Arbeit gemacht und nur auf die bes ten Felle gejagt. Zwei Jahre in derselben Gegend, das kann verdammt ris kant werden. Wir sollten nach dem oberen Fall River wechseln, dort war ich mal mit Steve – habe ich recht, Steve?« Steve Shringley, der hagere Mann, der lange unter Indianern gelebt und solange es erlaubt gewesen war, als Skalp‐ und Kopfgeldjäger eine Menge Geld verdient hatte, spuckte aus. »Ja«, brummte er. »Am Fall River kommen die Indianer von Nordwesten herunter – das könnte sich lohnen. Sie handeln mit Kenndale, dem India neragenten.« Claire Shelton zog fröstelnd die Schultern zusammen. Als sie davonging und den Hang heraufstieg, um sich eine Decke und den Umhang von oben zu holen, dachte sie an Ribaults Versprechen. Sie liebte ihn immer noch, obgleich er sein Versprechen, mit ihr nach Omaha zu gehen und dort einen Pelzhandel anzufangen, nicht gehalten hatte. Daran war sie jedoch genauso schuld wie er. Jetzt war sie das zweite Jahr mit Ribault zusammen. Hätten sie sparsam gelebt, nachdem sie die reiche Beute des letzten Winters geteilt hatten, wäre es möglich gewesen, daß sie wirklich eine Fellhandlung gehabt hätten. Sie hatten das Geld verjubelt, manch Monat mehr als hundert Dollar ausgegeben und nur vierhundert Dollar zurückgelegt. Diesmal, dachte die blonde, schlanke Frau, wird es klappen. Es muß nicht Omaha sein. Wenn man anfängt, dann gleich groß genug, und dafür ist Saint Louis gerade richtig. Was heißt das – Indianer kommen den Fall River herunter? Wollen sie etwa Indianer überfallen und ihnen die Felle abnehmen? Der Mord an Stuart McLaine hatte Claire Shelton kaltgelassen. Als die Ribaults im vorigen Jahr vier Pelzjäger umgebracht hatten, hatte sie nur der Tod des ersten Mannes mitgenommen. Sie war jetzt so weit, daß sie sich um die Toten genausowenig Gedanken machte, wie es Ribault und die anderen taten. Was wollen sie am Indianertrail, dachte Claire Shelton – das hieße ja, sie müßten noch tiefer in die Berge, aber ich will hinaus, nach Osten an den
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Missouri. Wollten die Ribaults etwa Indianer umbringen?. Es sollte nicht lange dauern, dann sollte sie wissen, was die eiskalten Ker le planten… * Nancy McLaine blickte schaudernd auf den schwarzen Sarg herab. Sie hatte das entsetzliche Gefühl, daß sich der Boden unter ihr bewegte und der Hang, auf dem sie stand, vom Regen immer weiter unterspült wurde. Das Wasser plätscherte und gurgelte an ihr vorbei, es stürzte in Kaskaden, eine Woge Schlamm mitführend, in das enge Tal hinein, durch das die vier Männer den pechschwarzen Sarg im herniederprasselnden Regen auf sie zutrugen. Die vier düsteren Gestalten in ihren weiten, wallenden schwarzen Um hängen trugen breitrandige schwarze Hüte. Der Sarg schaukelte auf ihren Schultern hin und her. Die Gestalten bewegten sich so steif und eckig wie Marionetten. Der Sarg drohte von ihren Schultern zu fallen, und als das den Steilhang herabschießende Wasser vor ihnen den Weg versperrte, die abgespülte Erdmasse sich vor ihnen auftürmte, blieben sie stehen. Im nächsten Augenblick hoben die vier Leichenträger wie auf Komman do die Köpfe. Nancy McLaine sah die Gesichter der vier Männer, erstarrte vor Grausen, denn die Männer blickten aus leeren Augenhöhlen zu ihr herauf. Sie hatten keine Gesichter mehr. Dort, wo sich einmal Haut, Fleisch und Muskeln über Jochbein, Wangen und Kinn gespannt hatten, schimmerte es bleich und gespenstisch; die Männer reckten auf eine schreckliche und grauenvolle Weise ihre mageren Halswirbel. Ihre bleichen Totenschädel schienen sich wie in einem höllischen Gelächter zu verzerren, die Kinnla den klappten auf und nieder. Während ein furchtbares, gellendes Gelächter zu Nancy McLaine herauf schallte, war es, als führe ein Sturm durch das tiefe Tal und triebe mit sei ner Gewalt die weiten Umhänge der vier grauenhaften Gestalten ausein ander. Nancy McLaine blickte wie gelähmt auf die bleich schimmernden Skelet te, die in dieser Sekunde wie wild schwankten, um dann unter der Last des
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Sarges haltlos in sich zusammenzufallen. Durch das Heulen und Brausen des Sturmes hörte Nancy, wie die Knochen klappernd übereinanderfielen. Der Sarg aber stürzte mit einem dumpfen, schmetternden Krachen auf die Seite. Der Deckel sprang wie von Geisterhänden bewegt ab. Urplötzlich war der Sarg weit offen, und Nancy McLaine sah, während sie ein unsag bares Grauen erfaßte, die hager gewordene Gestalt ihres Vaters im Sarg liegen. Schlamm und Geröll stürzten nun in breiter Front unter ihr den Hang herab. Es war, als liefe eine Schlammlawine genau auf den Sarg und die vier schrecklich bleichen Knochenhaufen neben ihm zu. Schon erreichte die erste Schlammwoge die vier Skelette, zog über sie hinweg und begrub sie unter sich, als sich die hagere Gestalt ihres Vaters langsam im Sarg aufrich tete. Stuart McLaine, gekleidet in ein langes, weißes Gewand, hob die dür ren Arme flehend seiner Tochter entgegen. Er saß aufgerichtet, einen Blick der Hilflosigkeit und der Not seiner Tochter zuwerfend, in seinem schauri gen Sarg, den die Woge aus Schlamm nun erreichte. Sie fuhr unter die vier verschnörkelten Füße des Sarges, hob den Sarg an, trug ihn einen Moment auf ihrem Rücken, bis die Riesenschlammlawine herankam. Vor Grausen und Angst laut schreiend, rang Nancy McLaine verzweifelt die Hände, aber schon stürzte der Sarg mit einem gräßlichen Klatschen auf die Seite, und vor Nancys Augen begrub die Schlammlawine den Vater. Ein furchtbares Krachen ließ sie heftig zusammenfahren. Sie spürte, wie der Boden unter ihr nachgab, glaubte einen Blitz zu sehen, grelles Licht schien vor ihr den Boden zu spalten – und während sie schrie und sich verzweifelt an irgendein Stück Holz klammerte, wurde alles von einem strahlend hellen Licht Übergossen. »Du großer Gott, Nancy!« schrie irgend jemand. »Nancy, hörst du nicht? Nancy, um Himmels willen, wach auf, Kind!« Irgendwer packte sie an den Schultern, rüttelte sie und schrie sie laut an, bis sie allmählich zu Verstand kam, verstört auf ihre Hände blickte, die sich um den Bettkasten gekrallt hatten und das Bett über sich sah. Sie lag vor dem Bett, der Angstschweiß hatte ihr langes Nachthemd so durchtränkt, daß es wie eine zweite Haut an ihrem Körper klebte, und das Licht einer starken Lampe tauchte den Raum in strahlende Helligkeit. »Nancy, Kind, was ist passiert?« fragte die ihr wohlbekannte Stimme Jeffrey Kenndales. »Nancy, großer Gott, was hast du nur geschrien! Die Tür
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war verriegelt, und wir dachten schon, jemand wäre durch das Fenster zu dir eingestiegen und wollte sonst etwas tun. Wenn Jim Gatby nicht gewe sen wäre, hätte ich die Tür gar nicht aufdrücken können. He, Leute, alles in Ordnung – ist schon in Ordnung, es ist nichts passiert, sie hat nur ge träumt! Nun, was ist, Nancy? Jim, mach doch mal die Tür heran!« Nancy blickte verwirrt an sich herunter. Das Nachthemd war ihr bis über die Knie hochgerutscht. Sie hatte, das erkannte sie jetzt, sicherlich während ihres schrecklichen Traumes um sich geschlagen und sich hin‐ und herge worfen, so daß sie schließlich aus dem Bett gefallen war. Mit dem nächsten Blick erfaßte Nancy die Männer vor der Tür des langen Blockhauses, das hinter den Palisaden von Kenndales Station dem Stationsgebäude gegenü berlag. Nancy McLaine schoß die Röte der Verlegenheit ins Gesicht. Dann zerrte sie hastig ihr Nachthemd bis an die Fußknöchel herab – die Tür flog zu, und der große, sehnige Mann lehnte sich mit dem Rücken gegen die schwere Bohlentür. »Mister – Mister Gatby«, stammelte Nancy verwirrt. »O mein Gott, Mis ter Kenndale – was ist passiert?« Jeffrey Kenndale, der Regierungsbeauftragte für die Sioux‐Reservation, ein älterer, blonder Mann mit einem Knebelbart und starken, buschigen Brauen, der eine Tochter in Nancys Alter hatte, schüttelte den Kopf. »Du hast geschrien, als wolle man dir ans Leben, Kind«, sagte er. »Ich glaube, ich sollte dich fragen, was passiert ist. Jim, sie wartet schon zwei Tage auf ihren Vater und sagt, er hätte eigentlich bereits vor vier Tagen hier sein müssen. Der Regen müßte ihn aufgehalten haben…« »Mein Gott, mein Vater!« keuchte Nancy. Sie zog sich, einen unsicheren Blick auf Jim Gatby werfend, auf die Bettkante, nahm hastig die beiden Decken hoch und schlüpfte unter sie. Dann blieb sie zitternd liegen und stammelte: »Er ist tot, Mister Kenndale – ich habe so schrecklich von ihm geträumt – er ist tot, oh, mein Gott, er ist tot, ich weiß es!« »Na, na, Kind«, murmelte Kenndale besänftigend. »Träume sind nur Schäume, das ist ein altes Sprichwort. Dein Vater ist einer der erfahrensten Männer in Dakota. So leicht kommt ein Stuart McLaine nicht um, glaube mir.« »Aber ich habe ihn tot in einem Sarg liegen sehen, den vier… vier Toten gerippe trugen. Sie trugen ihn in einem Sarg durch eine enge Schlucht…«
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Kenndale warf Gatby einen kurzen Blick zu, als Nancy ihren Schreckens traum erzählte. Gatby schwieg, sein scharfer Blick war fest auf Nancy Mc‐ Laine gerichtet. Jeder wußte, wie schweigsam und verschlossen Gatby war. Er redete nie viel und war, so hieß es, nach dem Tod seiner Frau noch schweigsamer geworden. Der große, sehnige Mann, dessen Vater bereits mit den Brules, Crews und Cheyenne Fellhandel betrieben, der von frühes ter Jugend an unter Indianern gelebt hatte und bis an den Oberlauf des Missouri vorgedrungen war, hatte die Arme über der Brust verschränkt. Für die Gatbys arbeiteten mehr als zehn Pelzjäger in den Black Hills und im Westen am Big Horn Massiv. Einzelne Jäger stellten ihre Fallen sogar weit im Westen am Yellowstone auf. Gatby, dem man nicht ansah, daß er es gar nicht nötig hatte, selbst zu ar beiten, kaufte gewöhnlich alle guten Felle in Sioux City auf. Daß er hierher gekommen war, hatte viele Männer überrascht. Es hing wahrscheinlich mit dem Tod seiner Frau, die vor etwas mehr als einem Jahr bei der Geburt ihres ersten Kindes gestorben war, zusammen. Das Kind war tot zur Welt gekommen – die schreckliche Geschichte war allgemein bekannt. Nancy kannte sie vielleicht besser als viele andere, denn sie war eine der beiden Brautjungfern gewesen, die der Braut den langen Schleppschleier nachgetragen hatten. Als Nancy stockend berichtete, was sie geträumt hatte und dann mit ei nem Seufzer schwieg, warf Kenndale Gatby einen längeren Blick zu. Dann sagte er leichthin: »Nancy, wenn alles, was man träumt, Wahrheit wäre, würde es schlimm um manchen Menschen bestellt sein. Du hast gesagt, daß dein Vater bei Jeremias Walton vorbei wollte, um ihm die geliehenen Fangeisen zurück zubringen, während du mit Rusty Adams und einem kleinen Teil eurer Fellausbeute hergekommen bist. Jim, Walton kam vor zwei Tagen – er sag te, er sei wegen des Regens früher aufgebrochen und hätte alle Mühe ge habt, mit seinen Fellen und den Maultieren durch die Berge zu kommen. Andere haben dasselbe berichtet. Es ist schlimm gewesen, Täler und Hänge sind aufgeweicht. Was denkst du, Jim?« »Könnte sein, daß Stuart in Waltons Hütte das Ende des Regens abge wartet hat«, antwortete Gatby. »Miß Nancy, wollte er dieses Jahr wieder an mich verkaufen?« »Ja, Sir«, nickte Nancy. »Sie glauben, Vater ist in Waltons Blockhütte
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geblieben? Aber – gestern kamen die Russellbrüder und sagten, es hätte längst nicht mehr so stark geregnet. Vater ist etwas passiert, ich fühle es. Dieser Traum…« »Kind, nichts als ein Traum!« brummte Kenndale. »Darüber lohnt sich nicht nachzudenken, glaube mir. Wirst sehen, Nancy, morgen früh kommt dein Vater frisch und fröhlich hier an.« »Wenn er nicht kommt, nehme ich mein Pferd und reite zu Waltons Hüt te«, sagte Nvancy entschlossen. »Mister Kenndale, ich weiß doch am besten, daß Vater bei jedem Wetter seinen Weg findet. Er hätte mich nie so lange allein gelassen. Ich halte es vor Unruhe doch nicht länger aus, morgen reite ich los.« »Um Gottes willen, Kind, das kannst du nicht!« schnaufte Kenndale er schrocken. »Nun ja, du lebst seit zwei Jahren mit deinem Vater in den Ber gen, aber – das ist zu gefährlich, habe ich recht, Jim?« »Ja«, bestätigte Gatby brummig. »Bei dem Wetter in die Berge – das ist unsinnig, Miß McLaine. Bis Waltons Hütte sind es drei Tagesritte. Ich habe mich mit meinen Leuten bei Andersons Depot verabredet und noch ein paar Tage Zeit. Andersons Depot liegt nordwestlich von Waltons Hütte – es ist kein großer Umweg. Ich reite morgen los – wenn Sie wollen, kommen Sie mit!« »Oh – danke, Sir, ich mache Ihnen auch bestimmt keine Arbeit, ganz ge wiß nicht«, stammelte Nancy. »Wann wollen Sie aufbrechen?« »Eine Stunde nach Sonnenaufgang«, sagte Gatby knapp. »Können wir gehen, Jeffrey?« »Sicher, Jim! Nancy, Kind, stelle den Stuhl an die Tür, ich repariere den Riegel morgen, jetzt schlafe lieber und träume nicht wieder so verrücktes Zeug, verstanden?« Er nickte ihr zu, ging hinaus und sagte erst im Hof: »Was hältst du davon, Jim?« »Klingt nicht gut«, antwortete Gatby karg. »Stuart McLaine müßte wirk lich hier sein.« »Dasselbe denke ich«, murmelte Kenndale und kratzte sich am Hinter kopf. »Stuart McLaine läßt sich durch ein bißchen Regen sicher nicht auf halten – aber sollte ich das dem Kind sagen? Außer dem Vater hat Nancy niemand mehr, wie du sicher weißt. Erst starb die Mutter, dann die Tante, bei der sie aufwuchs – wenn jetzt noch Stuart etwas passiert ist…«
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»Male den Teufel nicht an die Wand!« brummte Gatby. »Will ich gar nicht, aber ich kenne Stuart McLaine zu gut, Jim. Hast du wirklich Zeit, dich mit dem Mädchen zu belasten?« »Ja, genug Zeit – unsere Pelztierjäger sollen sich bis Anfang nächster Wo che bei Andersons Depot sammeln. Im letzten Jahr verschwanden Nickels und Custer – ich will nicht, daß sie wieder einzeln durch die Berge zu dir ziehen. Hier sind Fellmarder am Werk.« »Du glaubst, man hat deine beiden Männer umgebracht?« »Das glaube ich«, nickte Gatby finster. »Es geht nun schon ein paar Jahre so; immer in einer anderen Ecke der Berge. Wollen nicht hoffen, daß der alte Stuart den Halunken begegnet ist.« Gatby dachte an die vier Männer, die im letzten Frühjahr verschwunden waren – es waren zwei auf eigene Rechnung arbeitende Pelz Jäger dabei gewesen. Soviel Zufälle auf einen Haufen gab es einfach nicht. Es mußten Fellmarder in den Bergen unterwegs sein. Jim Gatby hatte keine Ahnung, daß sie bereits zugeschlagen hatten… * Das Grausen kroch in Jim Gatby hoch, ein Schauder packte ihn, ließ seine Zähne aufeinanderschlagen, das Zittern durch seinen Körper laufen. Der brüllende Donner des über zwei Stufen mit scharfen Messerklippen herunterstürzenden und mehr als siebzig Schritt in die Tiefe jagenden Wasserfalles betäubte ihn. Nebel wallte aus dem Tal und der engen Schlucht empor, durch die sich die Wassermassen des Fall River ihren Weg gefressen hatten. »Nein – nein!« stöhnte Gatby, als er die schaurige Gestalt aus dem Nebel wachsen sah – riesengroß war Nesho‐wan‐take, riesenhaft sein gewaltiger Kopf mit den furchtbar funkelnden Augen, aus denen ein grausames Licht zu brechen schien. »Nesho‐wan‐take, was willst du von mir? Ich habe sie nicht retten können, deine roten Söhne – ich bin zu spät gekommen, Nes ho‐wan‐take – laß mich leben, Geist des Nebels und der Dämpfe – laß mich leben!« Mein Gott, dachte Gatby, kauerte neben dem grünlich dahinschießenden Wasser auf einem Felszacken tief unten in der Schlucht – mein Gott, ich sterbe, ich bin verloren…
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Der Nebel kam, stieg hoch, brach in der Abenddämmerung aus der Schlucht und schien die sechs Männer und die schwarzhaarige Frau pa cken zu wollen. Mörder, dachte Gatby entsetzt, verfluchte Mörder, ihr habt sie umge bracht. Dort oben auf dem Plateau ist Blut, viel Blut, da liegen tote India ner, Nesho‐wan‐takes rote Söhne, viehisch ermordet, aus dem Hinterhalt niedergeknallt… Einer lebte noch, einer, der Häuptling der Upsarokas, der Crow‐Indianer, den sie Hinkendes Pferd nannten, weil er einmal eine Streitaxt in den Fuß bekommen hatte und seitdem hinkte. Sie hatten ihm nicht das Gehirn herausgeblasen wie den anderen. Er mußte sich bewegt haben, hatte die Kugel nur an den Kopf bekommen – lebte und… sang… sang zu Nesho‐wan‐take, dem Gott des Nebels und der Dämpfe, sang eine furchtbare, schrille und durch Mark und Bein gehende Melodie. Das Gesicht des alten Indianerchiefs sah furchtbar aus. Blut war über sein linkes Auge geronnen und hatte es verklebt, Blut war an seinen aus dem Deckenumhang gefahrenen Armen und Händen. Seine Finger hatten sich zu Krallen verkrümmt, schienen in den grauen Nebel über der Schlucht greifen und Nesho‐wan‐take her abholen zu wollen, damit er die sechs weißen Männer und die Frau für ihren Mord bestrafte. »Nesho‐wan‐take, kah, sho…« Der beschwörende, grausige Gesang wurde immer lauter, rief Nesho wan‐take an, die Bleichgesichter in den Nebel zu reißen, sie ins Wasser zu zerren und zu ertränken. Das eine Auge des alten Indianerhäuptlings war weit offen – es sah in weite Ferne, schien Nesho‐wan‐take, seinen Gott, zu erblicken, der diesem gewaltigen Wasserfall mit dem immerwährend auf steigenden Dunst seinen Namen gegeben hatte: Nesho‐wan‐takes großer Donner! »Nein – nicht, nicht hinunterwerfen!« stöhnte Gatby. »Ihr Schurken, er lebt doch, er wird zerschmettert werden wie die anderen, die ihr schon hinabgeschleudert habt, ihr Bestien! Hörst du deinen roten Sohn nicht, Nesho‐wan‐take, hörst du nicht sein Flehen? Hilf ihm doch, Nesho‐wan take, hilf ihm wenigstens, laß ihn leben. Ziehe diese Mörder herab, packe sie! Das sind sie, die Fellmarder, die schon so viele arme Pelztierjäger hin terrücks ermordet haben…«
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»Hund, hörst du auf zu heulen?« brüllte der große, stiernackige Mann oben. »Schweig, verdammte rote Hundeseele! Shringley, was singt das Schwein?« »Er beschwört Nesho‐wan‐takes Geist!« brüllte Shringley zurück und trat dem alten Indianer in die Rippen. »Hund, was soll er tun, jeden Was sertropfen, in dem sein Geist ist, vergiften, damit er wie Feuer unsere Ein geweide verbrennt? Was – er soll uns erwürgen mit seinen Krallenhänden, in das Moor, in den Sumpf, das Wasser der Flüsse ziehen und ersäufen wie Ratten? Jean, schmeißt ihn hinunter, den Hund! Na, wo bleibt denn dein Scheiß‐Gott, he? Wo ist er denn, hilft er dir, he?« Nein, dachte Gatby, nein – mein Gott, sie stoßen ihn hinab! Der Körper fiel, überschlug sich und klatschte in das reißend dahinschie ßende Wasser. Und dann geschah es – das nackte Entsetzen packte nicht nur Jim Gatby tief unten in der schmalen Schlucht, wo es schon so düster unter der Wand war, daß die Teufel dort oben nichts von ihm sehen konnten; der alte Indi aner tauchte nur ein, er verschwand nicht in dem grünlichen Wasser. Urplötzlich schien etwas den immer noch singenden und die Hände fle hend hochreckenden Alten anzuhalten. Obgleich die Strömung die ande ren Indianer fortgerissen, an Gatby vorbeigeschleudert und dann über die Klippen gefegt hatte, blieb der alte Indianer wie ein Kork im Wasser liegen. Seine nackten Arme fuhren hoch empor. Deutlich konnte Gatby die ver schrumpelte, lederartige Haut seiner Arme und Krallenhände erkennen. Auch das Gesicht, dieses längliche und von Altersrunen gezeichnete bluti ge Gesicht mit dem einen Auge, das das lange graue Haar umwehte, war genau auszumachen. Es war, als ginge plötzlich ein grünlich‐fahles Licht von der reißenden Wasserfläche aus und tauchte die schaurige Gestalt des Alten in einen grausigen Schimmer. Der Alte stand im Wasser, aus dem jetzt die Dämpfe und Nebel wie Wolken quollen. »Neeshooo – waaan – taakeeee, shoooo…« Ein langgezogener, furchtbarer Gesang brach von den welken, rissigen Lippen des Alten. Der schrille Ton seiner Worte hallte kreischend von den Wänden der Schlucht wider. Im nächsten Augenblick ballten sich die Nebel zusammen. Aus den ein zelnen Schwaden formte sich unter einem dumpfen Brausen, als führe ein
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jäher Windstoß durch die Schlucht, ein entsetzliches Bild: das Gesicht Nes ho‐wan‐takes. Jetzt, so schien es Gatby, leuchtete das eine Auge des Alten in einem furchtbaren Gleißen. Aus dem Mund des Indianers drang ein kreischendes, entsetzliches Gelächter. Über ihm aber, sich ballend, anwachsend zur furchtbaren Fratze eines Dämonen, schwebte das schreckliche Gesicht Nesho‐wan‐takes. Jäh form ten sich lange Arme mit gekrümmten, sichelähnlich besetzten Händen, die über den Rand der Schlucht greifen wollten. Im gleichen Augenblick stieß Gore Shape, das menschliche Untier unter diesem Mördergesindel, einen grauenhaften Schrei der Angst aus. Gatby sah, wie sich Shape umdrehte und mit einem zur Fratze verzerrten Gesicht, das seine rasende, irre Furcht widerspiegelte, davonstürzte. Schreiend wie vorhin jene Squaw, die einzige Frau, die die Handvoll Indi aner begleitet hatte, drehte sich Gore Shape um und rannte davon. Einen Moment dachte Gatby schaudernd an die besudelte, geschändete und dann von Shape, nachdem er sein Vergnügen gehabt hatte, erwürgte Squaw. Johlend hatten die anderen zugesehen: Tiere Bestien… Jetzt hörte er die Entsetzensschreie über sich, sah die Mörder und Teufel jäh verschwinden. Und dann trieb der alte Indianer an ihm vorbei, das eine schreckliche Auge sah ihn flehend an. »Gatby«, flüsterte der Alte, während das reißende Wasser ihn mitnahm. »Gatby, du wirst nicht sterben, du wirst leben und sie töten. Nesho‐wan take wird dir helfen…« Ich sterbe, dachte Gatby und fiel – fiel immer tiefer. Er schrie verzweifelt, als er abstürzte, schrie und riß die Augen auf. Geträumt, dachte Jim Gatby, großer Gott, ich habe wieder geträumt, doch es war kein Traum, ich habe es erlebt, ich habe alles gesehen, nur diese schwarzhaarige Frau nicht. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich das Mordgesindel erwischt. Sie hat mich kaltblütig von hinten niedergeschos sen, diese Frau ohne Gewissen… Jim Gatby hob den Kopf und fror entsetzlich. »Kriechen«, flüsterte er und spürte, wie es in seiner Hüfte brannte und fraß, wo ihn die Kugel durchschlagen hatte, »ich muß weiterkriechen, mein Pferd erreichen. Sie haben mein Pferd nicht gefunden, sie haben sich keine Zeit genommen, in der einsetzenden Dunkelheit nach meinem Pferd zu
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suchen. Kriechen, Jim, kriechen!« Er schob sich weiter, kroch auf dem Bauch, blieb nach fünf Schritten voll kommen erledigt liegen. Plötzlich drehte sich alles um ihn, wieder kamen die Bilder… Schre ckensbilder – grauenhafte Dinge geschahen… Jim Gatby sah sich laufen, er rannte und wußte doch, daß er zu spät kommen würde. Schüsse krachten, Schreie gellten vor ihm auf dem Pla teau. Er lief durch den Nebel, kam an die Klippen, stürmte zwischen ihnen durch und blieb dann wie gelähmt stehen, als er die Toten vor sich liegen und ihre Mörder lachend zu den Schleppstangen der Mustangs gehen sah, auf denen die Fellbündel der Indianer lagen. Großer Gott, was war hier geschehen! Das Gelächter gellte Gatby in den Ohren – dort ging Shape, das Untier, und schleifte die tote Squaw zur Schluchtkante. Du lachst gleich nicht mehr, Hund, dachte Gatby und duckte sich, glitt um die Klippen, war hart am Rand der Schlucht – gleich habe ich euch alle vor meinem Gewehr. Jetzt! Er kam hinter der letzten Klippe hoch, schlug blitzschnell an und sah das leere Gesicht Ribaults, den verheerenden Schreck, der sich in Shringleys Miene spiegelte. »Streckt sie hoch, hoch damit, ihr Halunken!« Shringley duckte sich, wollte den Revolver ziehen. Brüllend fuhr die Flammenzunge aus dem Lauf von Gatbys Gewehr. Die Kugel durchschlug Shringleys Oberarm, warf den Mann zu Boden. Die anderen erstarrten, glotzten den Mann an, der im Schatten des Felsens stand und sie alle vor dem Lauf hatte. »Hoch die Hände, hoch damit!« Nein, dachte Gatby, sie erkennen mich nicht, sie wissen nicht, wer ich bin, ich stehe zu tief im Schatten. Ihr verfluchten Bestien… Rumms! Der Knall war da, die Kugel traf seinen Gewehrkolben, spaltete ihn, fuhr durch, jagte in seine Hüfte, sauste heraus. Als er herumgestoßen wurde und sich nicht halten konnte, als er die Felskante der Schlucht und tief un ten das grünliche Wasser und die Nebelschwaden erblickte, sah er noch die Frau mit dem Gewehr. Sie stand links unter ihm, hatte zwischen den Klip pen gesteckt. Was sie dort zu suchen gehabt hatte, erfuhr er nie.
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Die Kugel trieb ihn über die Felskante. Das Wasser kam rasend schnell näher, der Schmerz jagte durch die Hüfte. Dann stürzte er in den Nebel und spürte die Kälte des Wassers, tauchte auf, sah den Spalt in der Fels wand, den einen Zacken wie eine Zuckerhutspitze aus dem Wasser ragen. Als er sich an sie klammerte, hörte er die Schreie über sich, preßte sich an die rauhe Wand. »Wo ist der hin – wer war der Kerl – wo ist er hin?« Sie sahen ihn nicht. Und er fror – er fror wie ein Hund, den man in den Eisregen hinausgehetzt hatte. Das Frieren ließ seine Zähne zusammen schlagen. »Was ist denn?« lallte Gatby, lag still, hob knapp den Kopf. »Großer Gott, diese Bilder! Ich werde die Bilder immer wieder vor mir sehen, solange ich noch zu leben habe…« Plötzlich erinnerte er sich an die Schleppstangen, die die Mörder ins Wasser geworfen hatten. Er war jetzt wieder munter, lag im Nieselregen, der so kalt war. Ja, dachte Gatby, die Schleppstangen, wie? Was hätten sie auch mit den Schleppstangen anfangen sollen, sie hatten ja genug Pferde und leere Pack sättel dabei, diese Bestien. Wenn sie die Schleppstangen nicht ins Wasser geworfen hätten, wäre ich längst tot. Gatby stöhnte, schob sich langsam weiter, bis er etwas Schutz an einem Felsen fand, aber das Frieren wurde immer schlimmer. Dabei hatte er schon schrecklicher gefroren, als er zwei der Schleppstangen, an denen noch die Lederriemen befestigt gewesen waren, aus dem reißenden Wasser gefischt und dann vom Felszacken aus gegen die Felswand gelehnt hatte. Hochgeklettert, dachte er, kaum noch Kraft gehabt, aber ich hatte mir die Riemen zu Schlaufen um die Fußknöchel gelegt. So brachte ich dann die Stangen durch die Schlaufen, stieg mit Hilfe der Schlingen an den beiden Stangen bis zur Wandkante empor. Als ich oben war, dachte ich, ich müßte an der Kante sterben – ich war halbtot, aber ich war Nesho‐wan‐takes gro ßem Donner entkommen. Der Regen traf ihn jetzt nicht mehr so hart, er erholte sich etwas, aber er wußte, daß er nicht mehr bis zu seinem Pferd kommen konnte – dazu reichte die Kraft nicht. »Ich muß liegenbleiben«, flüsterte Gatby, »ich muß warten. Nancy wird kommen, sie kommt bestimmt – ich habe ihr deutliche Zeichen hinterlas
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sen. Mein Gott, war das Kind am Ende… das Kind?« Nein, dachte er, sie ist kein Kind mehr, sie ist eine junge und sehr tapfere Frau. Als ich die kaum noch deutbaren Spuren an der Schlammschlucht entdeckte und sie wußte, wo ihr Vater ermordet lag, wäre sie beinahe zu sammengebrochen. Und doch fing sie sich wieder. Es war nur Haß in ihren Augen, Haß auf die unbekannten Mörder, diese Teufel. Ja, sie wußte wie ich, wo die anderen verschollenen Pelzjäger lagen – sie hatte es ja geträumt – vier Gerippe und ein Sarg… Es schüttelte Gatby heftig, seine Zähne klapperten laut aufeinander. »Ruhig, Jim!« beschwor er sich selbst. »Du mußt liegenbleiben, du brauchst noch alle Kräfte, Mann. Zuerst diese Hetzjagd, um diese Bestien einzuholen, das war für Nancy zuviel, sie klappte zusammen. Es ging nicht mehr, ich mußte sie in Waltons Hütte zurücklassen. Sie wollte nicht allein in der verlassenen Hütte bleiben, aber dann sah sie doch ein, daß ich allein schneller vorankommen würde. Das ist ein tapferes Mädchen, eine mutige junge Frau – und schön, sauber – ein feines…« Er lächelte verzerrt, als er an sie dachte, an ihre Augen, ihr rotgoldenes Haar – an das Abkommen, das sie getroffen hatten: »Jetzt sind wir Partner, Nancy, verstanden? Wir suchen die Teufel ge meinsam und erwischen sie. Bis dahin sind wir Partner!« »Ja, Jim, wenn Sie meinen…« In ihren Augen hatte er Eiseskälte gelesen, sobald sie über die Mörder ge redet hatten. Nancy McLaine würde nicht aufgeben, bis sie die Mörder gepackt hatte und alle tot waren, das wußte Gatby. So sagte es das Gesetz der Wildnis… »Du mußt dich beeilen, Nancy«, flüsterte Gatby. »Ich blute nicht mehr, aber ich bin verdammt schwach – und die Schurken sind längst fort. Sie haben für mehr als achttausend Dollar Felle geraubt, das reicht ihnen. Jetzt werden sie sich auf den Weg aus den Bergen machen und einen nehmen, der sie nicht mit ehrlichen Pelzjägern zusammentreffen läßt. Die weichen nach Süden aus, die Verbrecher, Nancy. Das wird sie viel Zeit kosten, aber sie müssen es so machen, weil sie sonst das Risiko eingehen, gesehen zu werden. Hörst du, Nancy, die Kerle brauchen zwei, drei Wochen länger bis Omaha. Bis dahin bin ich längst wieder auf den Beinen, ich bin zäh wie altes Leder, was?« Gatby lächelte verzerrt, krümmte sich zusammen, um nicht ganz so
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schlimm frieren zu müssen. Ja, überlegte er, ich muß mich schonen, ich bleibe hier liegen und warte. Und dann werden wir uns eine Geschichte für meine Pelzjäger und Kenn dale ausdenken müssen – Nancy, wir müssen lügen, verstehst du? Wir werden allen erzählen, mich hätte irgendwer von hinten angeschossen, aber mindestens vierzig Meilen von hier entfernt. Die Bestien haben mich nicht erkannt. Wenn sich auch Nachrichten schnell herumsprechen, sie werden nie auf die Idee kommen, daß ich der Mann gewesen bin. Herrgott, Nancy, beeile dich, Kind – ich brauche warmes, trockenes Zeug und deine Nähe, Kind… Wohin werden die Mörder reiten, grübelte Gatby – niemals nach Sioux City, da sind zu viele Pelzjäger, die vielleicht einen Blick auf ihre Felle wer fen könnten. Nein, die Schurken werden den Umweg nach Omaha machen und von dort aus mit dem Schiff den Missouri hinabfahren. Wenn sie ge rissen sind, tun sie genau das und verkaufen ihre Felle weder in Saint Jo seph noch in Kansas City. Sind sie ganz schlau ‐ und das sind sie bestimmt –, fahren sie bis Saint Louis mit. Ja, so würde ich es machen, denn dann haben sie alle Spuren gründlich getilgt. Es schüttelte Gatby wieder. Frierend bewegte er die Arme und zwang sich, nicht wieder einzuschlafen. »Die Ribaults«, ächzte er. »Dieses Gesindel, verfluchtes Mörderpack. Nun gut, ich bin davongekommen, ich lebe noch, aber ich kann ihnen nichts beweisen, ich habe keine Zeugen. Die Halunken würden alles ab streiten, mir höhnisch ins Gesicht lachen und behaupten, sie hätten die Felle gekauft. Nein, ihr Bestien, ich brauche keine Jury. Kein Mann in der Wildnis braucht für Mörder eine Jury, so ist das, so denkt auch Nancy. Nancy, wir werden sie haben, wir sind vor ihnen in Omaha. Kommt nur nach Omaha, ihr Bestien, kommt an den großen Fluß. Überall ist Nesho wan‐take. Er wird euch holen, alle – ohne Gnade!« Nancy, dachte er, Nancy, komm, Partner, beeile dich. Wir haben noch ei nen sehr weiten Weg, wir beide. Du und ich, Nancy, Partner! Komm, Part ner, komm, ich brauche dich! Wir müssen doch nach Omaha… * Die riesige Krallenhand fuhr aus dem Nebel heran, als sich Gore Shape
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aufbrüllend zu Boden warf. Der schrille, entsetzliche Gesang gellte in Sha pes Ohren. Dann schoß die grausige Krallenhand über ihn hinweg und packte zu. Die Hand hatte Fingernägel wie aus Stahl, lang wie Säbel. Sie packten zu, krallten sich jäh um den brüllenden, vor Angst kreischenden Henry Ribault. »Oaaah!« Der fürchterliche Schrei drang Gore Shape durch Mark und Bein, ließ ihn zittern, auf brüllend die Hände und Arme über den Kopf reißen. Er wollte nicht sehen, was mit Ribault geschah, aber es war, als hätte die andere Krallenhand jetzt sein Genick mit einem grausigen Griff erwischt. Er mußte hinsehen, wollte davonkriechen, lag aber wie festgenagelt auf den Felsen. Die grausige Krallenhand packte den zappelnden Ribault und hob ihn hoch in die Luft. Dort oben hing er nun, schrie, als drängen ihm die Krallen durch das Zeug, führen sie ihm in Haut und Fleisch, gruben sie sich in seine Rippen. Ein entsetzlicher Anblick für den gelähmten Gore Shape, ein Grausen bis in seine tiefste Seele erfaßte ihn. Er mußte zusehen, sah jetzt den Abgrund, blickte in die Schlucht und den Nebel. Und dort sah er den Alten, sah ihn mit dem Oberkörper aus dem Wasser ragen. Der Alte hatte noch die weite Decke, diesen Indianerumhang um. Seine Hände reckten sich Ribault entgegen, winkten ihm lockend, einla dend, während aus dem Mund des Alten ein schauerliches Lachen brach – und in seinen Augen die Mordlust und Rachsucht funkelte. »Komm her, komm zu Nesho‐wan‐take – komm her, Ribault, wir warten schon so lange – komm her!« Der Alte kreischte es mit durchdringender, schriller Stimme. Er winkte, lockte, wartete mit gierigen Augen. Plötzlich sprudelte und blubberte es im Wasser. Es warf Blasen an die Oberfläche – Blasen, aus denen die anderen auftauchten, die Arme wie der Alte hochstreckten. Da war White Bears zerplatztes Gesicht, da schwamm Big Foot, winkte – lachte höhnisch, gellend… Und dann tauchte die Frau auf – die Squaw starrte zu Gore empor, als der Schreckliche, als Nesho‐wan‐take, der Gott der Nebel, die Krallenhand öffnete und Ribault zappelnd wie eine Fliege, der man die Flügel ausgeris sen hatte, die auf dem Rücken lag und von einer Nadel aufgespießt worden war, in die hochgereckten braunen Arme und Krallenhände der Anbeter
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Nesho‐wan‐takes herabpurzelte. Dort unten landete Ribault, doch die Squaw sah nicht hin, als die ande ren ihre Krallenhände in den kreischenden Ribault schlugen, als sie ihn unter Wasser drückten nein, die Squaw hob die Hand. Was – was will sie, wohin zeigt sie, dachte Gore entsetzt, die zeigt ja auf mich, die schreit ihren Gott an, sie fleht zu ihm, daß… Hilfe – Hilfe, die Hand kommt, die grausige Krallenhand will mich packen! Zu Hilfe! Er sah die Frau, das von ihm aufgeschlitzte Hirschlederkleid – da schwamm sie – sah aus wie eine Nixe, war bar brüstig. Große, runde Fleischbrüste, um die das Wasser spielte… »Nein, nein!« Wegkriechen, dachte Shape, fortkrabbeln, er soll mich nicht packen. Nein, nein, du bist doch tot, Weib, verfluchtes Weib! Du bist doch tot! Ich habe dich eigenhändig erwürgt, ja, erwürgt habe ich dich, du Bestie, die mich gestochen hat. Du Bestie – nein, ich will nicht, ich will nicht! Er schrie vor Grausen, als die Hand herabschoß, die Krallen ihn packten. Plötzlich war ihm das Gesicht der Frau ganz nahe gerückt. Er sah die Au gen, diese toten, nach seinem Würgen erstarrten Pupillen, das verfärbte Gesicht… Die toten Augen glotzten ihn an. Und dann spürte er den schneidenden Schmerz, denn die Krallen gruben sich in seinen Leib. Schrie und schrie, der Gore Abraham Shape, sperrte das Maul weit auf, brüllte wie ein Tier – und flog irgendwohin, bekam einen Schlag. »Nein, nein! Ich will nicht, ich will nicht!« »Verflucht noch mal, du Idiot – du verdammter Idiot, biste verrückt ge worden, Kerl?« »Was – was ist das?« kreischte Gore Abraham Shape und schob sich rückwärts, wollte fort, wollte diesen fürchterlichen Händen entgehen, den Krallen entwischen – und bekam einen Tritt. »Ouhh – huuh – huuu, nein, nein!« Heulte wie ein getretener Hundebastard, heulte, kroch nicht mehr, spürte Schmerz in den Rippen, hob den Kopf und… »Mensch, biste irre?« brüllte Tadd Morgan. »Biste verrückt, Kerl? Was schreiste denn – was heulste hier herum, he?« »Äh – hä? Ouh, ouh, da war er, da… da…« »Wo?« fauchte der riesige Morgan und riß Gore am Kragen hoch,
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schleuderte ihn auf das Bett, aus dem Gore gerade gefallen war. »Na, du Affe, wo ist denn nun was, he? Siehste einen – ist hier jemand? Träumste mal wieder deinen Blödsinn, he?« »Täume… Träume?« Er lag auf dem Bett und sah die Kabinendecke über sich – die Lampe brannte, das Nebelhorn heulte. Was denn, wo war er denn? Nicht mehr am Fall River, nicht an der Schlucht, nicht in den Krallen der grausigen Hand? Jetzt lag er still, bewegte nur die Augen, sah sich entsetzt um. Herrgott, war das ein Traum gewesen, war es wirklich nicht passiert? »He, Mann, nun reiß dich mal am Riemen!« knurrte Tadd Morgan. »Mensch, du kannst doch nicht dauernd spinnen!« »Ich habe sie gesehen«, lallte Gore Shape und setzte sich auf, hörte das Stampfen der Maschinen der Empress of St. Joseph, dieses dreideckigen Flußdampfers, der zweimal im Monat von Saint Louis nach Omaha fuhr. »Du – du, Tadd, ich habe sie wieder gesehen. Diesmal waren es alle – alle, verstehst du?« Er saß, war schweißnaß – Hemd und Hose klebten ihm am Leib. »Du spinnst doch, du Affe!« keuchte Morgan und stieß ihm die große Faust an die Schulter. »Mann, hast du Glück, daß dich Jean nicht gehört hat! Das kommt bloß von deiner Sauferei. Wolltest ja richtig voll sein, was? Und gefressen haste, gefressen… rülps… aaah!« Jetzt lachte Morgan auch noch, er rülpste zweimal laut, klopfte sich vor den Bauch. »Mensch, das ist nun bald sieben Wochen her, nun wird es aber langsam Zeit, daß du es mal vergißt, was? War schon ärgerlich genug, daß du un terwegs dauernd davon geträumt und jede Nacht alles aus dem Schlaf gerissen hast, wenn du brüllend in die Höhe gefahren bist. Die sind alle tot, die sind Stückfleisch, hähähä!« Lachte, sah Gores irren Blick, schüttelte den Kopf. »Da, nun sauf erst mal einen anständigen Schluck!« Morgan hielt ihm die Flasche hin. Morgan trank so gut wie nie Whisky oder Brandy. Er mochte das Zeug nicht, er stand auf »Bitters«, den schar fen, wie Feuer im Hals, und im Bauch brennenden Magenschnäpsen. Da von trank er zwei Flaschen leer, wenn ihm danach war. »Öuuh, pfui Deibel!« keuchte Gore, hatte instinktiv nach der Flasche ge
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griffen und einen anständigen Zug genommen. »Bitters, äh, verdammt, da kotzt man ja gleich! Wie du das Zeug in dich gießen kannst, Mensch – das dreht einem ja erst recht den Magen um! Bäh!« Er streckte die Zunge aus, schüttelte sich angeekelt, stand auf und ging zum Waschständer, nahm die Kanne, soff gleich aus ihr – soff wie ein Vieh, spie aus… Morgan sah ihm zu. Das breite Gesicht zu einem Grinsen verzogen, erin nerte er sich an den gestrigen Tag. Zwei Tage waren sie in Omaha gewesen und hatten die Empress of St. Joseph gerade richtig abgepaßt. Es waren kaum noch Fellhändler oder Pelztierjäger an Bord gegangen. Im Unterdeck hatten sie nicht bleiben wollen, dort fuhren nur die Ärmsten der Armen mit. Suchte man Felldiebe, hatte Jean Ribault gemeint, dann würde man sie ganz sicher nicht im Mitteldeck und den besseren Kabinen vermuten. Dar um hatten sie Doppelkabinen genommen und so getan, als würden sie sich nicht kennen. Auf uns kommt niemand, dachte Morgan, während er nun nach der Fla sche griff und einen tiefen Zug tat, wir wohnen zwar alle auf dem gleichen Deck, aber wir kennen uns nicht. Das haben wir schon so in Omaha gehal ten, wir sind einzeln gekommen… Er fuhr sich, einmal richtig nachleckend, mit der Zunge über die Lippen und grinste noch breiter. »Ganz gut, daß wir zusammenwohnen«, sagte er glucksend. »Zu Shringley paßt Percy nun mal besser, was? So ist das, Gore, wir vertragen uns, höhö! Ich wette, es wird keinem auffallen, daß Henry nicht mehr bei seinem Bruder in der Kabine ist. Ob sie Spaß haben – Jean und Claire, eh?« »Die haben Spaß, darauf kannst du Gift nehmen!« versicherte Gore Sha pe. Er schüttelte sich heftig, er hatte seinen Traum immer noch nicht ver gessen. »Wie sie sich angezogen hat, was? Ganz die feine Lady, hähä. Und er bezahlt, der Narr. Na gut, ist seine Sache, Mann, aber ich würde nie was bezahlen – nicht bei so einer wie Claire, verstehst du? Teufel, das war viel leicht ein Traum!« »Hör schon auf damit«, winkte Tadd Morgan ab. »Mann, dein Gebrüll lockt uns noch mal einen der Matrosen oder Steuerleute auf den Hals.« »Kann ich was dafür?« fluchte Shape. »Wie ist es dir denn ergangen, he? Und Henry Ribault erst – der hat ein paarmal von dem verrückten Alten und seinem schrillen Gesang geträumt – hat der etwa nicht geschrien,
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wenn er aufwachte?« »Aber jetzt schreit er nicht mehr – und du auch nicht, sonst haue ich dir was auf das Maul, klar? Jede zweite Nacht brüllst du. Langsam gehst du mir auf die Nerven.« Shape riß sich das Hemd herunter. Er hatte sich in Omaha zwei andere gekauft, auch neue Hosen und eine gute Jacke, um anständig auszusehen und nicht gleich für einen Fellabzieher gehalten zu werden. »Mahn, ich kann doch nichts dafür«, knurrte er. »Wenn du so einen ver dammten Traum hättest und siehst, wie Ribault von der verfluchten Kral lenhand gepackt wird – wenn du wie gelähmt bist und all die verdammten Gesichter vor dir erscheinen, dann möchte ich dich mal sehen. Du würdest noch ganz anders heulen. Ich habe die Squaw wieder gesehen. Sie war tot, aber ihre Augen, sage ich dir – verfluchte Glotzaugen! Ich hätte sie nicht erwürgen sollen, abknallen hätte ich sie müssen, das Biest…« Er fuhr in das frische Hemd, kämmte sich, trat ans Fenster und starrte hinaus. Draußen war die frühe Nacht – der Nebel kroch über den Missouri, hing an den Aufbauten, glitt über die Reling… »Nebel«, sagte er schaudernd. »Genau wie gestern – wieder Nebel. Ne sho‐wan‐takes Nebel, was?« »Nesho‐wan‐takes Nebel, du spinnst doch!« knurrte Morgan finster. »Na, was hatten wir denn in den sechs Wochen, die wir unterwegs waren – hat ten wir nicht jeden zweiten Tag Dunst oder Nebel? Hör bloß mit dem Un sinn auf, Mann!« »Unsinn – Unsinn?« keuchte Shape. »Erzähle mir nichts von unserem Landweg – war da vielleicht ein Fluß? Warum hat Ribault denn niemals an einem Fluß gelagert, willste mir das mal verraten, Mensch? Angeblich war es ihm in Flußnähe zu feucht, zu naß. Immer schön hundert Schritt weg mit dem Lager, oder? Mach mir doch nichts vor, Tadd – sei mal ehrlich: Hättest du dich vielleicht am Ufer des Niobrara oder Loup River hingelegt? Der Alte mit seinem Fluch hat uns doch allen in den Knochen gesteckt – na?« »Nun ja – man muß ja nichts herausfordern«, brummte Morgan. »Das tun doch nur verdammte Narren! Was ist nun, kommste mit? Ich habe Hunger, ich will richtig essen, ordentlich einen zur Brust nehmen. Na, keine Lust, Mann? Vielleicht siehst du ein dralles Weibsstück, das es nötig hat, hähähä! Sagtest du nicht, du hättest da eine gesehen ‐ eine Rothaarige – gestern, he?«
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Die Rothaarige, dachte Gore Shape, der Teufel, was für ein Weib. Muß noch jung sein, sehr jung, aber angesehen hat sie mich – angesehen! Ich kenne doch den Blick, was? Ich bin Kenner! Plötzlich war dieses Gefühl wieder in ihm – der Wunsch, bald wieder ei ne Frau zu haben, sie zu packen, ihr zu zeigen, was ein richtiger Kerl war. Ja, dachte Gore, das wäre jetzt richtig – eine Rothaarige. Gestern saß sie im Speiseraum in der Ecke. Verdammt hübsch, verdammt jung – die richti ge Medizin für mich, was? Mal sehen, vielleicht ist sie heute wieder dort, sieht mich wieder an und lächelt. Pah, ich weiß doch, wie sie lächeln, ich kenne das genau. Klar, sie hat mir zugelächelt, aber in den Augen war was – weiß verdammt nicht, was das war, das habe ich noch bei keiner gesehen – kann Kühle gewesen sein, oder? Er trat noch einmal vor den Spiegel und musterte sich. Alles in Ordnung – die Haare ordentlich beschnitten, die Finger auch sauber, wie? Stand ihm doch verdammt gut, diese dunkle Jacke. Bloß nicht aussehen wie einer, der sich in den Bergen herumtreibt und anderen die Felle nimmt, nachdem er ihnen zu einer langen Reise ohne Wiederkehr verholfen hat, was? Shape hatte den Nebel draußen vergessen – den Nachdurst, den er heute beim Mittagessen bekommen hatte. Er hatte sich vollrieseln lassen, war auf das Bett gesunken und hatte geschlafen, bis ihn dieser irre Traum er schreckt und gepeinigt hatte. Blödsinnige Träumerei, was? Was konnte ihm denn schon, passieren – es war doch alles Einbildung. Dummer Aberglau be. »Also los, gehen wir, Tadd«, sagte er grinsend. »Wenn die Rothaarige un ten ist, Mann, werde ich mich an sie ’ranmachen. Wirst sehen, ich habe immer Glück – die Weiber fliegen auf mich, wetten?« Tadd Morgan stand schon an der Tür, öffnete sie und trat hinaus ‐ stand im Nebel, dieser grauen Waschküchenbrühe, die wie eine Wand über dem Missouri lag. Es war der typische Flußnebel, der kaum fünf Schritt hoch über dem Wasser schwebte. Eine Schicht, durch die die Empress of St. Jo seph pflügte, aus der sie mit den Lademasten und dem Steuerstand heraus ragte. Fahles Licht lag über dem Mitteldeck, als der Scheinwerfer von links nach rechts wanderte und bis zu den Ufern strich. Irgendwo verschwand ein Schatten im Nebel, war fort, ehe Morgan ihn bemerkte. Dumpf dröhnte das Nebelhorn durch den Nebel.
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»Elende Brühe, verdammte!« fluchte Gore Shape bissig. Er hob den Kopf und sah nach oben, wo die Umrisse des Oberdecks im Nebel verschwam men. »Keine fünf Schritt Sicht, was? Wie die das schaffen, das Schiff durch den Nebel zu bringen…« »Die können das, solange die Suppe nicht so hoch steigt, daß sie nichts mehr vom Ufer sehen«, brummte Morgan. »Was meinst du, wie gut sich diese Burschen auskennen. Ekelhafte Feuchtigkeit…« Er sah sich um, weil Shape plötzlich mit einem nervösen, starren Gesicht nach links starrte. Dort kam jemand – ein Schatten, der nach hinten zum Speisesaal ging und aus dem Mittelgang gekommen war. Der Mann fluchte unterdrückt über das nasse Geländer und die im Nebel beinahe wirkungs lose Laternenbeleuchtung des Außenganges. Dann war er verschwunden, seine Schritte verloren sich. Verfluchte Suppe! dachte Gore Shape – ich wäre lieber zu Pferd nach Saint Louis geritten. Wasser hat keine Balken – und mir geht der verdamm te alte Indianer nicht aus dem Kopf, der zu Nesho‐wan‐take, seinem Gott, schrie. Gott des Nebels und der Dämpfe, was? Hol’s der Teufel, mir ist nicht wohl, ich habe Angst. Das fing an, als ich den Fuß auf die Planken der Empress setzte. Nebel auf dem Wasser – Dunst überall. »Na, was ist, Gore?« »Nichts«, sagte er und hatte ein Frösteln im Rücken. »Gehen wir, sonst haben wir gleich klamme Sachen.« Es klang forsch, er mußte sich Mut machen, aber die Angst steckte zu tief in ihm – verfluchte Angst! * Morgan schielte, grinste breit, während er sich noch ein Stück Schinken auf den Teller packte. Verrückt, dachte Tadd Morgan, das ist ja glatt verrückt. Was ist nur an Gore dran, daß so ein hübsches Frauenzimmer lächelt? Groß ist er nicht, schön kann man ihn auch nicht nennen, obgleich er anständig angezogen ist und manierlich ißt. Ich möchte nur wissen, was die an Gore findet? Das Mädchen saß wieder in der Ecke – es war vor gut zwanzig Minuten hereingekommen, hatte kaum gesessen, als es auch schon zu ihrem Tisch hinübergeblickt hatte. Jetzt hatte das Girl seine Suppe gelöffelt, trank einen
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Schluck Tee und erhob sich dann. Als Morgan den Blick bemerkte, den die junge Frau Gore zuwarf, verstand Morgan die Welt nicht mehr. Es mußte doch irgend etwas an Go re sein, das die Frauen verrückt machte, oder? »Mann, ich glaube, die will wirklich was von dir«, sagte er leise, denn Gore legte hastig die Gabel hin. »Von Frauen verstehe ich nicht viel, aber sie hat dich angelächelt. He, was ist?« Die Tür klappte hinter der Frau. Einen Moment sah man sie noch durch die ovale Glasscheibe, dann hatte sie der Nebel verschluckt. »Ich gehe ihr nach«, zischte Gore, grinste vielsagend. »Wenn du mich erst am Morgen siehst, brauchst du dich nicht zu wundern, klar?« »Na, na – so wild wird es ja wohl nicht gleich werden«, meinte Tadd Morgan. »Geh nur, ich werde mir eine Flasche Bitters holen und vielleicht ein paar Partien Billard spielen. He, aber daß du mir erzählst, wie sie so gewesen ist, Mann.« »Klar doch«, erwiderte Shape. »Ist Ehrensache.« Er mußte sich beherrschen, um nicht durch den Speiseraum zu rennen. Bei dem Nebel draußen fand er das rothaarige, hübsche Ding vielleicht gar nicht, verdammt. Nur schnell hinaus – sie mochte nicht zu sehen, aber sie würde zu hören sein. Gore Shape stieß die Tür auf, hastete durch den Gang zum Vorschiff, blieb stehen, als er um die Ecke der Aufbauten war und lauschte mit ange haltenem Atem. »Tock‐tock…« Schritte, leichte Schritte von hohen Stiefelabsätzen… das mußte sie sein, oder? Die Schritte verstummten dort, wo das eigentliche Vorschiff begann, wo nur noch Mannschaftskabinen waren – das freie Deck lag vorn, eine Eisenleiter führte zum Vordeck und dem Bugladeraum für das Gepäck steil nach oben. Von dort aus hatte man am Tag einen prächtigen Ausblick auf den Fluß, aber jetzt – bei Nebel? Los, dachte Gore, da geht sie, ich wette, das ist sie. Was will sie bei die sem Nebel auf dem Vorschiff, he? Sollte sie etwa was mit einem von der Mannschaft haben, die Freundin eines der Steuerleute oder Maschinisten sein? Gore Shape lief beinahe, hörte ein leises Klirren, bog nun auch um die Ecke und sah die beiden Belüfterrohre vor sich neben dem flachen Kasten
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des Mannschaftsniederganges. Schatten im Nebel, feine Nebelnässe wehte ihn an. Die Nebelschicht reflektierte den Strahl des Scheinwerfers, es war ein unwirkliches Licht. »Tock – tock – tock…« Langsame, zaudernde Schritte wanderten nun von rechts nach links, ka men nicht näher, entfernten sich aber auch nicht. Anscheinend ging das rothaarige Girl nur auf und ab. Jetzt kam das Klirren wieder, während Gore Shape drei, vier Schritt vorwärts tat, das Schanzkleid vor ihm aus dem Nebel wuchs, die Reling sichtbar wurde. Und dann sah er den schma len, schlanken Schatten des rothaarigen Mädchens. »Hallo, Miß«, sagte er rauh. Dort stand sie an der Reling und ver schwamm in den Nebelschwaden, die über das Deck zogen und ihren Rock umhüllten, während das Gesicht besser zu erkennen war. »Miß…« Sie schien erschrocken, als er vor ihr auftauchte, sie wich zurück, hielt sich am Geländer fest. Es war, als entglitte sie ihm in den plötzlich stärker über das Deck ziehenden Nebel. »Hallo – Miß«, sagte Gore Shape hastig und etwas lauter. »Warten Sie doch, Miß – ich bin es, sehen Sie doch – ich, der Mann aus dem Speisesaal – he, Miß, Sie…« Verfluchter Nebel – sie war schon fort, oder? Plötzlich sah er sie nicht mehr. Dieser verdammte Nebel, der in dichten Bänken über dem Missouri lag, hatte sie verschlungen. Die »Empress of St. Joseph« fuhr mitten durch eine Nebelbank, in der die Umrisse von Schanzkleid und Reling beinahe verschwammen. Das rothaarige Girl war verschwunden, als hätte es sich im Nebel aufgelöst. Gore Shape hastete vorwärts, suchte jetzt und hielt sich am Geländer fest. Die Reling war naß, das Deck glitschig. Zum Teufel, wo war das Girl geblieben, sie… Und dann sah er sie. Sie stand dort, wo das Bugschanz kleid begann, Umrisse der Kisten und Tonnen jäh aus dem Nebel traten. »Da sind Sie ja«, sagte Gore Shape, als der Schatten wieder vor ihm sicht bar wurde. »Nun, Miß, was machen Sie denn hier so allein? Bei dem Nebel sollte eine kleine Lady – besser nicht so allein an Deck… was denn, was haben Sie?« Er schrak zusammen, denn sie sah ihn starr an, hob plötzlich die Hand, während er an der Reling entlang auf sie zukam. Schreck malte sich jäh auf ihrem Gesicht ab, Entsetzen tauchte in ihren Augen auf. »Da – da!« sagte sie entsetzt, während ihre Hand an ihm vorbei in den
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Nebel zeigte. »Da, Mister – hinter Ihnen, hinter…« Das Grauen schien ihr die Sprache, zu rauben. Ihre Augen weiteten sich, indem sie, als sähe sie etwas Furchtbares, zurückwich. In derselben Sekunde hörte Gore Shape ein seltsames Schaben hinter sich. Es war ein seltsames Geräusch, das nun durch den Nebel drang, es war, als glitte etwas über die Decksplanken, als ginge jemand auf leisen Sohlen, der das eine Bein nachzog. Jemand hinkte über die Planken! Plötzlich wußte Gore Shape, was dieses verrückte Geräusch zu bedeuten hatte und fuhr auf der Stelle herum. Nebel – Dunst… und dann ein Licht, ein heller Schimmer, als hielte je mand eine Laterne in die Höhe, als geisterte ein Irrlicht durch die grauen Schleier, in dem sich langsam Umrisse abzuzeichnen begannen. Was – was kommt da? dachte Shape und fühlte, wie sein Puls losraste, während sich die Umrisse verdichteten. Schlurfend glitt es über die Plan ken heran, schlurfend, gleitend, als ginge jemand barfuß oder auf Mokas sins, als wäre… Im nächsten Moment wurde das geisterhafte Licht heller. Es war, als fiele nun Mondschein in den Nebel. Und in dem seltsamen Schimmer war der große Schatten, wallte die Decke mit den Fransen und seltsamen bestickten Zeichen. Die Hände hoben sich, das Gesicht erschien in diesem diffusen, geisternden Licht, das zu tanzen schien. Plötzlich sah Gore Shape, während ihn das nackte Grausen überfiel und Eiseskälte nach seiner Brust zu greifen schien, um sein Herz erstarren zu lassen, wie das starre, maskenhafte Ge sicht des alten Indianers mit dem einen toten Auge und dem schrecklich weit offenen anderen aus dem Nebel trat. Da waren die Hände, lange, dürre Krallenhände, braune Haut, runzlig, schon wie altes Leder gegerbt – da waren die Arme, die nackt aus dem Umhang gefahren waren und sich jetzt langsam und beschwörend hoben. Graues, strähniges Haar umwallte das starre Gesicht – Blut am Kopf, Blut verklebte das eine Auge ‐ Blut war an den fürchterlichen Krallenhänden, die sich jetzt nach ihm ausstreckten und zupacken wollten. »Was – nein, nein!« stammelte Gore Shape und wußte, daß er diesmal nicht träumte. Das Grausen ließ ihn bis ins Mark erstarren, während die schaurige Gestalt langsam und schlurfend näher kam. »Fort – verschwinde – geh fort, du Ungeheuer, geh fort, du! Was – was willst du, was – was?« Zurück, dachte er schaudernd, zurück, fortlaufen! Meine Träume – so
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habe ich es geträumt – er kommt aus dem Nebel, er will mich holen… Der Unheimliche kam immer näher, während Gore Shape Schritt für Schritt zurückwich und jetzt das fistelnde, durch Mark und Bein gehende schreckliche Singen vernahm. »Nesho‐wan‐take… kah, sho…« Er kam, der Fürchterliche, er wollte ihn packen, in den Fluß werfen, wo Nesho‐wan‐take, der Gott des Nebels, der aus dem Wasser quoll, lauerte, um ihn in sein schreckliches Reich zu ziehen. Da, da, der verfluchte Geist des toten Indianers wich nach links aus, kam jetzt, wollte Gore den Weg abschneiden – kam herum, wollte Gore gegen die Reling drücken und dann mit seinen blutigen Krallenhänden packen. Nein, nein, dachte Gore, ich träume doch wieder – es gibt keine Geister, es gibt keine, hat Jean Ribault gesagt! Da war doch das Mädchen ‐ oder war es nicht da, habe ich nicht gegessen, mit Tadd Morgan zusammengehockt? Ich bin doch wach gewesen, ich bin doch von Tadd Morgan aus dem Schlaf gerissen worden, weil ich träumte und schrie, weil ich träumte… träumte! Träume ich noch immer? Kälte war da – Nässe war unter seinen Händen, das Eisen der Reling, er konnte es doch fühlen. Also doch kein Traum? Das Mädchen mußte in der Nähe sein, das rothaarige Mädchen, das ihn so seltsam angelächelt hatte – so ganz anders als andere, die ihn angelächelt hatten ‐ rechts mußte das Mädchen stehen ‐ oder? Gore Shape nahm den Kopf blitzschnell herum, aber da war kein Mäd chen, da war nur Nebel, waren ein paar undeutliche Umrisse, trieb der Nebel um Aufbauten und Kisten. Kein Mädchen, niemand da, nur das Schlurfen näherte sich. Wieder durchschnitt der Bug der Empress eine Nebelbank, wieder ver schwamm die furchtbare Gestalt – schien fort zu sein. Aber da tauchte sie schon wieder auf, kam schneller auf Gore Shape zu. Der wich zurück, preßte sich gegen die Reling, fühlte das Eisen im Rü cken und dann… In der nächsten Sekunde war ihm, als wäre das Geländer nicht mehr fest – es gab jäh nach. Hinter ihm schwang jenes Stück Reling, das zurückge klappt werden konnte, wenn die »Empress« anlegte und die Laufplanke von einer Kaimauer an Deck gelegt wurde, jäh nach außen. Gerade noch hatte Gore Shape die Handleiste der Reling im Rücken ge
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habt, sich gegen sie gepreßt. Jetzt schwang sie unter dem Druck seines Körpers zurück. In der nächsten Sekunde verlor Gore auch schon den Halt, er kippte hintenüber. Gore Shapes Hände fuhren Halt suchend in die Hö he, als sich sein Körper neigte, der freie Raum plötzlich hinter ihm gähnte. Ich falle, dachte Gore entsetzt, ich falle in die Tiefe. Der Fluß, das Was ser… ich stürze an der Bordwand entlang! Er kannte doch das Deck, er wußte, wie das Vordeck gebaut war, daß es überstand, den eigentlichen Rumpf überragte, daß jeder, der an der Reling stand und nach unten blickte, unter sich nichts als den Fluß hatte. »Aaaah!« Ein gellender Aufschrei, der durch den Nebel hallte, ein Körper, der blitzschnell verschwand, in die ganz dichte Nebelschicht, die grauen Schwaden über dem Wasser stürzte. Dort unten lauerte Nesho‐wan‐take, der Geist des Nebels und der Dämp fe. Ein Klatschen, als Gore Shape keine anderthalb Schritt von der Bord wand und der Scheuerleiste der Empress of St. Joseph entfernt rücklings in den Missouri fiel. Dann schloß sich das Wasser über dem tierhaften Gore, erstickte den Schrei. Kaltes Wasser, jäh Ernüchterung, als Gore nichts mehr sah, den Körper herumwarf, ruderte, aus Leibeskräften durchzog, um an die Oberfläche des Flusses zu kommen. Und dann sah er den Schatten, sah den geisterhaft bleichen Schimmer über sich, den Nebel, den der Scheinwerfer und die Lichter der Empress von oben erhellten. Plötzlich war die Bordwand vor ihm. Ein erleuchtetes Bullauge glitt an ihm vorbei, der Rumpf der Empress leuchtete weißgrau, die Scheuerleiste war braun, abgeschabt – tauchte auf, lag zu hoch für Gores nach oben schnappende Hände. »Hilfe‐Hilfe!« Ein Stampfen erschütterte die Luft, es wurde immer lauter. Die Maschi ne, dachte er, das ist der Maschinenraum, hier heizen sie die Kessel, hier schaufeln sie, hören mich nicht. »Hilfe‐Hilfe!« Das kalte Wasser hatte ihn ernüchtert, vertrieb das Grauen, das er beim Anblick des Geistes empfunden hatte. Aber dann spürte er den Sog, merk
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te, wie ihn eine ungeheure Gewalt plötzlich an das Schiff heransaugte. Es war, als hingen tausend gekrümmte Finger in seiner Jacke und seiner Hose, als zögen sie ihn unwiderstehlich an den Rumpf der Empress. Er schrie jetzt voller Angst, fühlte das zweite Grausen, denn er kam nicht fort – er konnte sich nicht aus dem Sog befreien. Was – was war das, was kam da auf ihn zu? Es klatschte im Wasser – ein rhythmisches Klatschen kam näher und näher. Die Schaufelräder, dachte er und fühlte, wie die Angst zum Würgegriff wurde, wie sie sich gleich Krallenhänden um seinen Hals legte und zupreßte – die Schaufelräder – das große Schaufelrad an dieser Schiffsseite. Er wollte fortschwimmen, drehte sich im Wasser, schrie vor Grausen und Angst, als er die Stiefel gegen die Bordwand stieß und dann rasende Schwimmstöße tat, um davonzukommen. Der Stoß brachte ihn wirklich zwei Schritt fort, aber dann packte ihn wieder der Sog des Schiffes und riß ihn zurück. Da – da, jetzt sah er es, sah die großen, breiten Schaufeln, sah den Kasten, den man über dem Schaufelrad gebaut hätte, damit kein Ruderboot unter die Schaufelflächen geriet, von ihnen in Sekundenschnelle zertrümmert, zermalmt, zerhackt werden konnte. Der Kasten kam rasend schnell auf ihn zu, seine Unterkante ragte knapp einen halben Schritt aus dem Wasser. »Oaah‐oaah!« Er schrie, als er sich hochwarf und seine Finger gegen die Unterkante schlug, die Nägel in das Holz krallte, um sich festzuhalten – er brüllte grauenhaft, aber dann rutschte er zurück und hatte nichts als das fürchter liche Klatschen in den Ohren. »Klatsch, klatsch, klatsch…« Ein entsetzlicher Schlag traf seine Beine, ein zweiter die Knie, der dritte die Oberschenkel. Da ließ er los, konnte sich auch nicht mehr an der Unterkante des Kastens halten. Schmerz raste durch seine Beine, rasender Schmerz hämmerte ge gen seinen Unterleib. Und dann sah er das riesengroße Gesicht mit den flammenden Augen und die Krallenhände, die mit messerlangen Nägeln, die scharf wie Dolche waren, nach ihm griffen. Nesho‐wan‐take packte ihn – nun wußte er es. Klatsch – klatsch – klatsch…
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Das Rad drehte sich weiter, die Schaufeln schlugen auf den Körper ein, trafen den Kopf, zermalmten ihn blitzschnell. »He – he, da schrie doch einer?« fragte jemand an Deck und rannte nach vorn, stürzte aus dem Niedergang der Mannschaftsräume im Bug. »He, du, Luke – hörst du nichts?« »Verdammt, da hat doch jemand geschrien!« sagte sein Partner und stürzte an die Reling. »Hier ist niemand, hier ist keiner, Buddy – ich sehe nichts – du vielleicht?« Die Hände des Mannes glitten über die Handleiste, berührten den Über fallhaken, erfaßten auch den Sicherungssplint und das kurze Stück Kette. Die beiden Matrosen der Empress beugten sich über die Reling und lauschten. »Wouh – wouh!« machte das Nebelhorn. »Wouuh!« Sonst nichts – Stille, kein Laut mehr außer dem regelmäßigen Klatschen der beiden Schaufelräder, dem Stampfen der Maschinen. Nichts zu sehen, niemand zu hören, der noch um Hilfe schrie. Hoch oben im Steuerstuhl stand einer am aufgeklappten Fenster und lauschte – glaubte etwas gehört zu haben. »Was ist, Wilkins?« »Mir war so, als hätte jemand geschrien, Sir«, antwortete Wilkins, der Erste Steuermann, seinem Kapitän, dem stämmigen, schwarzhaarigen Nel son Carmichel. »Kann sein, daß ich mich getäuscht habe, Sir.« Der Bootsmann schwenkte den Griff des Scheinwerfers. Der Strahl huschte zur Backbordseite, glitt dann über den Nebel zum Achterschiff, fand jedoch kein Wasser – der Nebel war zu dicht. »Na, Flenders?« »Nichts, Sir!« Wilkins lauschte, aber es kam kein Schrei, es kam kein Signal von unten, daß irgend etwas passiert war und sie stoppen sollten. Manchmal, das wußten sie im Steuerstuhl, fiel jemand auf dem nassen Deck hin, schrie, rappelte sich aber wieder auf und ging dann humpelnd weiter, hinkte viel leicht – hinkte wie jener, der dort unten irgendwo in den Nebelschwaden verschwand und aus glitzernden Augen, am Deck kauernd und durch die Reling blickend, zu den Schaufeln herabgestarrt hatte. Kein Lichtschimmer dort – nur Nebel und Finsternis, in der ein Schatten verschwand… Im Missouri trieb etwas, sank tiefer, immer tiefer, wurde von Armen
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gehalten, die ihn in das Reich Nesho‐wan‐takes zogen. * Der andere, der mit Gore, den Nesho‐wan‐take nun bekam, am Tisch ge hockt hatte, schaufelte die süßen Kartoffeln und das letzte Stück Braten in sich hinein. Tadd Morgan hatte nichts gehört, ahnte nichts von dem, was Gore Shape geschehen war. Tadd war beinahe satt und trank ein Glas Bitters, ehe er aufstand, um ein paar Partien Billard zu spielen. Er hätte auch Karten spie len können, aber er ließ seine klobigen Finger von den Karten. Darin besaß er keine Geschicklichkeit, das lag ihm einfach nicht. Shringley und Monk verstanden das viel besser. Mit denen durfte man sich nicht einlassen, die zogen einem das Fell über die Ohren. Das hatten sie gestern schon mit jemand getan, sie würden es heute wie der tun, soviel wußte Tadd Morgan. Sollten sie spielen und sich gegenseitig Zeichen machen, um andere hereinzulegen, er rührte keine Spielkarte an, er nicht. Zudem kannte er sie ja auch nicht – sie waren Fremde, wie? Alle waren sich fremd, keiner kannte die anderen beiden, die ihre Kabine hatten. Schlau gewesen – gerissen, weil Jean Ribault das so gewollt hatte. Noch vermißte niemand Gore Shape, auch Morgan nicht. Der glaubte, Gore läge nun mit dem rothaarigen Girl im Bett und zeigte ihr, was ein richtiger Mann ist. Als Tadd Morgan aus dem Speisesaal trat, sah er den Schatten nicht, der irgendwo im Nebel gewartet hatte und leise hinter ihm herschlich, ihn bis zum Pool‐Room verfolgte. Danach machte der Schatten jäh kehrt, verschwand im Nebel, machte sich an einer Kabinentür zu schaffen und öffnete sie lautlos. Irgendwann würde Tadd Morgan wiederkommen und das tun, was er gestern auch getan hatte, die Flasche Bitters an den Hals setzen und sau fen… * Er rülpste einmal, grinste, als er mit den gewonnenen zwei Dollar in der Tasche klimperte.
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Zwei Dollar – das war kein Geld für ihn, dennoch freute sich Morgan, weil er den kleinen Kerl, der ihn gestern geschlagen hatte, vorhin besiegt hatte. Es war kein großes Spiel geworden. Morgan hatte auch keine rechte Lust gehabt, war kurz in den Spielerraum hinübergegangen, wo die Kar tentrickser hockten und sich gegenseitig hereinlegten. Shringley und Monk saßen dort, die würden wieder bis weit nach Mit ternacht spielen und jemand rupfen – vielleicht den dicken, fetten Kerl, den sie gestern schon ausgenommen hatten. Morgan rülpste noch einmal, ehe er die Kabinentür auf schloß. Ich hätte nichts mehr essen sollen, dachte er, aber die Pfannkuchen sahen einfach zu gut aus, was? Teufel, bin ich voll! Sechs Pfannkuchen, war doch wohl zuviel, was? Der Kerl hinter dem Tresen hatte ihn vielleicht ange starrt, als er einen Pfannkuchen nach dem anderen verdrückt hatte. Schöne, dicke Pfannkuchen – richtig fett! »Ülps!« machte Tadd Morgan und betrat die Kabine, verlor dann, als er die Streichholzschachtel in seiner Tasche suchte und sie samt dem Taschen tuch herauszog, die Schachtel. Sie fiel zu Boden. »Mist, wo ist sie denn?« Er bückte sich, tastete mit seinen klobigen Händen über den Boden, bis er sie fand. Dabei ließ er die Luft donnernd entweichen, die sich in seinem Bauch gesammelt hatte, und lachte. »Verdammt, beinahe geplatzt, was? Wo ist denn die Lampe?« Endlich brannte sie. Die Tür stand noch offen, das gelbliche Licht fiel in den Nebel, der nun wie eine Mauer vor der Tür stand. Im Lichtschein sah Morgan, daß Gores Bett noch genauso verwühlt war, wie Gore es verlassen hatte. Das schmutzige Hemd lag noch über dem Bett – auf dem Tisch stand die Flasche Bitters. »Bitters hilft immer«, sagte Morgan grinsend, schloß die Tür, entkorkte die Flasche, setzte sich auf das Bett und trank ordentlich. »Pfui Teufel, es stößt mir nach den Pfannkuchen auf. War bestimmt zuviel, was? Drei Pfannkuchen wären auch genug gewesen, wetten?« Es stieß ihm ein paarmal auf, er trank noch einen Schluck, weil ihm bei nahe schlecht war. Dann legte er sich angekleidet hin, öffnete den Hosen bund und verschaffte sich doch keine Erleichterung. Ihm wurde immer übler. Weil ihm so schlecht wurde, trank er noch etwas, aber es war, als revoltierte jetzt sein Magen. Das fette Abendessen kam ihm hoch, die Pfannkuchen schienen in seinem Bauch zu tanzen.
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»Großer Gott, ist mir schlecht!« stieß er ächzend hervor. »Das war zuviel – üüüühhhh!« Aufstehen, dachte er, als es immer schlimmer wurde, raus, das Zeug über die Reling in den Bach spucken – bloß raus damit! Mein Gott, ist mir schlecht! Plötzlich brach ihm der kalte Schweiß aus, sein Herz pochte wie irr. Mor gan sprang auf, sah im loshasten in den Spiegel und erschrak vor seinem bleichen Gesicht und den dunklen Augen, in denen sich alles spiegelte, was er empfand. Hinaus, nur hinaus an die frische Luft, das würde ihm helfen. Gott, war ihm schlecht! So schlecht war ihm ja noch nie gewesen. Selbst der Bitters hatte nicht geholfen, der hatte es erst recht schlimm werden las sen… Als Morgan aus der Tür taumelte und in den Nebel schwankte, die Hän de auf den revoltierenden Bauch preßte und endlich an die Reling stieß, schlotterten ihm die Knie. Ihm war so übel, daß er kaum noch stehen konn te. Ausspucken, dachte er, tief durchatmen, dann wird dir besser, Tadd aus, spuck es aus, das verdammte Zeug! Morgan sperrte den Mund weit auf, beugte sich weit über die Reling, hielt sich zitternd mit einer Hand fest und steckte zwei Finger der anderen, so weit er konnte, in seinen Hals. Ich sterbe, dachte er verzweifelt und sank gegen das Geländer, ich verre cke – großer Gott, ich muß sterben. Bloß hinaus mit dem Fraß… ü üühhhggg! Da kam es, kam hoch, schoß im Bogen davon. Ganze Stücke Pfannku chen – Braten – Kartoffeln – alles schoß in den Nebel hinein, fuhr in einem Strahl über Bord. Sein Magen stülpte sich um, sein Oberkörper sank nach vorn, hing über der Reling. Die zitternden Beine konnten den schweren Körper kaum noch tragen, die Knie gaben nach – wie ein schlaffer Mehl sack hing er da, starb beinahe vor Schmerz. Bloß nicht über die Reling fallen, dachte er, während ihm war, als finge sich das Schiff mit ihm an zu drehen, bloß nicht über die Reling… ich kann doch nicht schwimmen, ich würde ersaufen müssen und… »Hay«, sagte jemand schrill hinter ihm und stieß ihn an. »Hay…« Gott sei Dank, da war einer, er war nicht mehr allein in der verfluchten Nebelbrühe, dieser elenden Waschküche.
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»Ich sterbe«, lallte Morgan und hatte es kaum gesagt, als das Pumpen wieder einsetzte und sein Mund sich aufsperrte, kein Wort mehr über seine Lippen kam, dafür der nächste Strahl halbverdauten Essens in den Missou ri klatschte. Hilf mir doch, dachte er, hilf mir, halte mich fest – halte mich, ich kippe ab, ich kann mich nicht mehr auf den Beinen halten, ich falle noch in den Fluß und ersaufe. Ah, gut, halte mich doch… Was ist, was ist das, wer singt denn da? Die Stimme – die Stimme! Der kreischt ja so, der singt so schrill, aber ganz leise, ich kann ihn kaum hören – der singt wie… wie… Er fuhr zusammen, nahm mit letzter Kraft den Kopf herum und sah… sich um. In derselben Sekunde riß er die Augen weit auf, denn er blickte mitten in das scheußliche Gesicht, das die grauen, strähnigen Haare umrahmten. Das Auge glotzte ihn an, das andere war von Blut verklebt… Der Indianer, der Indianer – im Nebel hinter ihm stand der alte Indianer. Etwas hatte Morgan am Hosenbund gepackt: Krallenhände, klauenartige Greifer… Schreien, dachte Morgan entsetzt, während ihn das nackte Grauen durch fuhr, schreien! Er wollte schreien, aber da stieg es wieder hoch. Gleichzeitig kam ein Ruck, packte etwas seine Hüfte, und danach wuchtete es ihn empor. Tadd Morgan stieß nur noch ein Gurgeln aus,, als er über die Reling stürzte und der Fluß rasend schnell näher kam. Es klatschte einmal in je nem anderen Geklatsche, das die Schaufelräder verursachten. Das Wasser kam viel zu schnell, es kam, als er gerade nach Luft rang und endlich rich tig schreien wollte. Statt der Luft saugte er nun Wasser ein. Dann sank er, drehte sich und hörte ein Tosen und Krachen über sich, ehe es ihm gelang, an die Oberfläche zu kommen. Seine Hände ruderten in der Luft umher, er würgte, spie alles aus, was er eingeatmet hatte, sperrte den Mund wieder auf, aber da war es ihm, als zöge ihn etwas an den Beinen in die Tiefe. Plötzlich hörte er den Gesang und sah den Alten vor sich, wie der, halb aus dem Wasser ragend, die Hände drohend nach ihm und den anderen ausstreckte, wie der Alte winkte. Der Gesang wurde immer lauter und schriller, zerriß beinahe seine Trommelfelle. Und dann verzog sich das Gesicht zu einer grausigen Fratze, verschwamm langsam, löste sich einfach auf.
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Das Klatschen zog weiter seine Bahn, die Schaufelräder peitschten das Wasser des Missouri. Nesho‐wan‐take hielt den zweiten Mörder in seinen Armen und zog ihn in sein Reich. Auf dem Schiff glitt ein Schatten zurück, klappte leise eine Kabinentür. Das Licht erlosch, die Tür öffnete sich spaltbreit – Schritte kamen – die Tür wurde geschlossen, bis die Schritte vorbei waren. Danach öffnete sie sich wieder und schloß sich endgültig. Etwas klatschte in den Fluß – eine Fla sche mit einem Rest Bitters. Der Missouri packte sie, der Sog riß sie auf die Schaufelräder zu. Ein Klatschen, ein mattes Klirren, dann war auch die Flasche verschwunden. Im Nebel stand die schreckliche Gestalt des alten Indianers und rührte sich nicht, als zwei Männer auf sie zukamen. Die beiden Männer kamen so dicht an dem schaurigen Schatten vorbei, daß sie beinahe über ihn gestol pert wären, doch sie sahen ihn nicht. Dafür hatten ihn zwei andere gesehen – sie hatten ihn sehen sollen und sahen nun gar nichts mehr. Zwei von sechs Männern! Jetzt waren es noch vier, die jeweils mit zwei Mann eine Kabine bewohnten und sich angeblich nicht kannten. Vier Män ner und eine Frau. Ein Mann allein in seiner Kabine, einer hielt die Frau in seinen Armen und streichelte ihre volle Brust. Sie waren nackt und glück lich. Die anderen beiden Männer saßen im Spielsaloon der Empress of St. Joseph. Keiner wußte, was geschehen war. Jene, die noch lebten, waren glücklich oder zufrieden. Zwei Männer hielten Karten in den Händen und spielten… * Narr, dachte Shringley, du dicker, fetter Narr, jetzt bist du fertig, was? Also gut, du hast einen Flush – Straightflush, die höchste Herzreihe, Mister Davis, aber vor Herz kommt immer noch Pik, was? Und wer eine Reihe mit dem Pik‐As in der Hand hält, der überbietet jeden Straight und hat den Royal Flush. Steve Shringley lächelte kaum merklich. Er hatte gerade eingekauft und zwei Karten ausgesondert. Jetzt hielt er die komplette Pik‐Reihe in der Linken – lückenlos! Fünf schöne Karten, die schönsten, die man jemals haben konnte. Genau die Folge und die Farbe. Sie saßen am runden Tisch unter der großen Lampe – links der dicke Da
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vis, George Davis, Viehhändler aus Kansas City, der zwei Schiffsladungen Hereford‐Rinder nach Omaha verschifft gehabt und einen Haufen Geld kassiert hatte. Der Narr hatte gestern haushoch verloren, aber Revanche gefordert und die nun bekommen. Er lag wirklich vorn, hatte seinen Ge winn beinahe schon über den Verlust von gestern gebracht. Vierhundert sechzig Dollar lagen auf dem Tisch. Rechts saß Cleeburn, ein Pflanzer aus Jefferson City in Missouri, ein ha gerer Mann mit abstehenden Ohren und einer Nase für ein wildes Spiel. Er war gleich zu Beginn der Runde ausgestiegen. Percy Monk hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt. Er blickte schein bar gleichgültig zum Nachbartisch, wo man noch höher spielte. Es waren Berufsspieler dabei, Männer, mit denen Shringley und Monk niemals spiel ten. Als Monks Blick träge und schläfrig zurückwanderte, hob Shringley die Hand. Er fuhr sich mit fünf Fingern durch das Haar, spreizte dabei den kleinen Finger nach außen und faßte sich danach an die Nase. Monk senkte den Kopf, er hatte verstanden, Steve hielt also das Pik‐As. Er war nicht mehr zu schlagen. Idiot, dachte Percy Monk höhnisch, während er verstohlen zu Davis schielte, da hat er das Spiel hochgetrieben, weil er fast nur Herz bekam und wild auf einen Straightflush war. Ich hatte nur vier bunte Hühner, darunter zwei Herz. Steve signalisierte mir, daß er nur eins hatte, dafür jede Menge Pik. Und Cleeburn stieg gleich aus, also hatte der nicht viel. Davis kann nur die Herzreihe halten und glaubt, daß sie nicht zu schlagen ist. »Nun?« fragte Davis. Er sah Monk kurz an, der ausgeteilt hatte. »Was ist?« Monk blickte fragend über den Tisch. »Und hundert«, sagte Steve Shringley lässig. Er schob die beiden Scheine von dem Paket, das merklich kleiner geworden war, zur Tischmitte. »Keine Karte mehr, Mister Davis. Sie können kaufen, wenn Sie wollen. Ich habe erhöht, also kaufen oder mitgehen?« »Keine Karte, aber ich gehe mit und lege noch fünfzig zu.« »Jetzt steige ich aus«, meldete sich Monk kopfschüttelnd. »Das geht mir zu hoch, ich habe genug.« Er legte die Karten hin und lehnte sich zurück. Sein, Blick streifte die Scheine und Münzen vor Steve Shringley, vier Zwanziger, ein paar Zweier
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– es war nicht mehr viel, was dort lag. Einen Moment dachte Monk an die hundert Dollar, Steve Shringleys eiserne Reserve, die Shringley stets in der rechten Außentasche seiner Jacke trug. »Also gut«, nickte Steve Shringley gleichmütig. Er schob die Zwanziger und Zweier und den Stapel Münzen lässig über den Tisch. »Hundertzehn dazu, das sind fünfundsechzig drüber, Mister. Halten Sie, oder decken wir auf?« Einen Moment schien Davis zu schwanken. Sein feistes Gesicht zuckte unruhig, doch dann klappte er seine dicke Brieftasche auf, zog mit spitzen Fingern zwei Hunderter hervor und packte sie in die Tischmitte. »Hundertfünfunddreißig mehr, Mister – na?« »In Ordnung«, antwortete Shringley, während Cleeburn wie hypnotisiert auf den Geldhaufen blickte. »Die hundertfünfunddreißig und noch fünf undsechzig, mein Freund.« Er griff in die rechte Rocktasche – dort war sein letztes Geld. Steigerte Davis jetzt noch weiter, konnte er sich nur noch von Monk dessen restliche fünfzig Dollar borgen. Danach blieb ihm nichts mehr übrig als aufzude cken. Shringley lächelte dünn, als er in die Tasche griff. Er hatte an diesem A bend ein paarmal die Hand gesenkt, sein Taschentuch gezogen, sich geschneuzt, aber nie zuvor in die Außentasche des Rockes gegriffen. Als er jetzt die Hand senkte und seine Finger in die Tasche glitten, fühlte er etwas Hartes. Er war so überrascht, daß er zusammenzuckte. Einen win zigen Augenblick erstarrten seine Finger, dann glitten sie über das, was in der Tasche steckte. Spielkarten, dachte Shringley entsetzt, Karten, verflucht! Das sind ja Spielkarten, das sind ja. Plötzlich war ihm, als schlüge ihm jemand einen Hammer auf den Schä del. Es waren sechs oder sieben Karten – er konnte sie fühlen und wußte nun, wie sie in seine Tasche gekommen waren. Nein, er hatte sie nicht in seine Rocktasche gesteckt, er nicht! Der Kerl war es gewesen – der Mann auf der Kiste, irgendein Kerl, den sie für einen Laternenanzünder gehalten hatten. Sie waren aus dem Mittelgang gekommen, hatten um die Ecke gehen wollen und waren vor die verdammte Kiste und den Mann hinter der Ecke geprallt, weil dort kein Licht gebrannt hatte. Im Nebel war ohnehin nicht
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viel zu sehen gewesen. Und dann waren sie in das dunkle Loch gekom men. »Vor…« Er hatte wohl »Vorsicht« sagen wollen, der Mann, den sie von der Kiste gestoßen hatten. Dann war er an der Wand heruntergekippt und auf Shringley gefallen, hatte nur noch geflucht, wie es Matrosen taten: nu schelnd, bissig. Ob sie keine Augen im Kopf hätten, he? Verflucht, dachte Shringley, verflucht, der hat sie mir in die Tasche ge steckt. Nichts gemerkt, gar nichts! Das sind ein halbes Dutzend Karten. Wenn die so aussehen wie die, die man hier benutzt, wenn das womöglich Asse sind – ein Joker… Seine Gedanken überschlugen sich, bis er die Hand langsam aus der Ta sche zog und die Stimme plötzlich fett und giftig sagte: »Ganz ruhig, Mister! Habe ich dich erwischt?« * In dieser Sekunde, ehe er noch den Blick heben und Davis ansehen konn te, begriff er die Falle, erkannte schlagartig, warum der Mann wie ein Narr gespielt hatte. Der Kerl an der angeblich erloschenen Laterne, er war dort im Auftrag von Davis gewesen. Der Lump hatte jemand beauftragt, die Karten in seine Tasche zu schmuggeln. Ein Viehhändlertrick, ein gemeiner, übler Trick, wie ihn nur diese Sorte Gauner anwandte. Ja, Davis war erst später gekommen, fast eine halbe Stunde später, als sie schon längst mit Cleeburn gespielt hatten. Eine Falle, dachte Steve Shringley und erstarrte, hörte das scharfe Kli cken, den heftigen Atemzug Monks – verfluchter Hund, eine Falle! Darum war der so sicher, darum spielte er so wild – Karten in meiner Tasche, der hat sie mir… Der Schock hatte Shringley leichenblaß werden lassen. Er hob langsam den Kopf und sah zuerst den kurzläufigen Colt, die fleischige, fette Hand, den Wurstfinger, der um den Abzug lag. »Na, was haben wir denn in der Tasche, Mister?« fragte Davis ölig. »Vor sicht, Freundchen, nicht unter die Jacke greifen! Laß die Karten sehen, die du in der Tasche hast, Lump!« Seine Stimme wurde laut, er schrie beinahe, als Shringleys Hand aus der
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Tasche fahren wollte. In derselben Sekunde schlug Percy Monk auch schon zu. Sein langer Arm fegte herum und traf den dicken Davis, aber der drückte im gleichen Moment ab. Das Brüllen des Schusses hallte durch den Saloon. Monk hatte blitz schnell zugeschlagen, nachdem er gesehen hatte, wie bleich Shringley ge worden war. Monk hatte nur den Colt gesehen und geglaubt, daß Davis verrückt geworden wäre. Der dicke Kerl konnte nicht verlieren, was? Woll te Steve beschuldigen, irgendwelche Karten bei sich zu haben! So einer war das also, so ein Halunke! Rumms! Das Brüllen raste durch den Saloon. Der Bullcolt spie Feuer, aber die Ku gel fauchte an Shringleys rechter Schulter vorbei, klatschte drüben in die Wand. Hund, dachte Shringley, Hund, mich hereinzulegen, mir Karten in die Tasche stecken zu lassen – mir! Er warf sich nach hinten, kippte zurück, riß die Rechte herum und sah noch, wie Monk gleich einem Tiger hochsprang, um mit seinen langen Armen nach Davis’ Revolverhand zu greifen. Dem würden sie die Suppe versalzen, dem würden sie zeigen… Shringleys Rechte schnappte nach dem schweren Revolver, ehe er am Boden lag. Er riß die langläufige Waffe mit einem – Ruck heraus, prallte auf, zog die Knie an und hörte den scharfen Schrei irgendwoher: »Laß fallen, laß…« Danach krachte es ohrenbetäubend hinter ihm. Er spürte den Schlag, glaubte noch zu sehen, wie Monk samt dem dicken Davis zu Boden fiel und hörte noch ein Krachen. In derselben Sekunde erwischte ihn ein fürchterlicher Hieb in der linken Seite. Dann verschwamm die Decke über ihm, der Tisch, an dem Monk mit Davis zu Boden gestürzt war, rückte rasend schnell davon. Es war, als söge ihn grauer Nebel blitzartig auf. Der ganze Raum war plötzlich voller Ne bel, der von draußen hereingekommen sein mußte. Durch den Nebel kam ein Schatten, ballte sich zusammen wie jene, die er einmal am Fall River zu sehen geglaubt hatte. Die Hand näherte sich Steve Shringley – eine Hand mit klauenartig verkrümmten Fingern. »Nesho‐wan‐take!« röchelte Shringley sterbend. Er hatte noch das Ge fühl, daß sich die Krallenhände in ihn schlugen und ihn zerrissen. »Nesho
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wan‐take!« Das Rauschen war da, das Donnern des Falles, über den Hinkendes Pferd, White Bear und die anderen Indianer gegangen waren, wurde im mer lauter. Kälte griff nach Shringley – er lag im Wasser, er wußte es. Die Strömung hatte ihn gepackt und riß ihn über den Fall. Er lag mitten im herabstürzenden Wasser und fiel und fiel… Monk lag still, als der Mann neben ihm schrie und der Revolver auf ihn zeigte. Monk hatte Davis die Hand umdrehen können. Der Bullcolt des Viehhändlers war davongewirbelt und irgendwo an der Wand liegen geblieben. Dafür war der Mann da, stand breitbeinig und den schweren Vierundvierziger in der Faust, neben Percy Monk. Der hatte das zweimali ge Brüllen noch in den Ohren, sah hoch, starrte in die Revolvermündung und schrie. Jetzt erinnerte sich Monk an den Mann. Er hatte ihn und drei andere mit Davis an Bord kommen sehen, Viehtreiber, Leute von Davis, die im Unter deck untergebracht worden waren. »Rühr dich nicht!« sagte der Mann eiskalt. »Harry, ich habe ihn! Boß, al les in Ordnung?« »Ja«, keuchte der dicke, fette Davis und setzte sich ächzend auf. »Ver dammt, das war knapp, was? Charlie, sieh nicht in der Tasche nach, laß es einen der Männer hier tun. He, Pullman – Mister Pullman, Sie haben die Aufsicht hier, oder?« »Ja«, antwortete Pullman, ein stämmiger, schwarzhaariger Mann mit kühlen Augen und einem jetzt wie gefroren wirkenden Lächeln. »Die habe ich, Mister Davis. Hat dieser Mann falschgespielt?« »Bestimmt, ich weiß es genau!« antwortete Davis. Er stand auf, holte sich seinen Revolver und starrte Monk grimmig an. »Mister Pullman, es soll nicht heißen, daß ich einen meiner Männer in die Tasche Shringleys greifen ließ – wollen Sie nachsehen?« »Wie Sie wollen, Sir«, brummte Pullman. Er kniete neben dem Toten nie der, griff in die Tasche und zog die Dollar und die Karten hervor. »Ver dammt, unsere Karten – das sind ja genau unsere Karten! Fehlen welche aus dem Packen auf dem Tisch?« »Und wenn keine fehlen«, knurrte Davis grimmig, »er konnte sich mit dem da verständigen – sie gaben sich Zeichen, ich bin sicher. Wie er es gemacht hat, daß er die Karten ins Spiel brachte, weiß ich nicht, Pullman.
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Hast du es gesehen, Charlie?« »Nein«, sagte sein einer Viehtreiber kopfschüttelnd. »Er griff ein paarmal im Verlauf des Abends in die Hosentasche. Ich habe ihn scharf beobachtet, aber der Hundesohn muß ein halber Zauberkünstler gewesen sein – ich konnte hinsehen, so scharf ich wollte, ich habe nicht erkennen können, wie er es machte. Da sind die Karten, die er in der Linken hielt – Royal Flush, die Pik‐Reihe!« »Und hier sind Pik‐As – alle Asse!« schnaufte Pullman. »Dazu zwei Da men und der Joker, damit konnte er schon etwas anfangen! Verdammte Sache! He, Sie – Ihr Name?« »Das – das ist nicht wahr!« stammelte Monk. Er war leichenblaß gewor den. Seine Augen flackerten, als er die Männer auf sich zukommen sah. »Mein Name ist Monk – ich… das ist nicht wahr, sage ich! Shringley war kein Falschspieler! Das ist nichts als ein verfluchter Trick – er hat nie eine Karte bei sich gehabt, wenn ich mit ihm spielte. Ich weiß es, ich…« »Aufstehen – Hände über den Kopf!« knurrte Pullman finster. »Versuche nichts, sonst saust du auch noch in die Hölle, du Gauner! Wir dulden keine Falschspieler an Bord, die fliegen herunter und werden dem Sheriff über geben. Los, die Arme hoch – an die Wand!« Sie durchsuchten ihn, und er ließ es wie gelähmt geschehen. Doch sie fanden keine Karte, obgleich sie ihn bis auf das Hemd auszogen. Erfahrene Spieler tasteten jede seiner Taschen ab, sahen in seinen neuen Stiefeln nach. »Der hat nichts«, sagte Pullman schließlich mürrisch. »Los, gib es zu – ihr habt zusammengespielt, ihr wohnt doch zusammen, oder?« »Ja, wir wohnen zusammen«, keuchte Monk. »Seht doch nach, wenn ihr wollt, dreht doch meine und seine Sachen um, ob ihr da irgendwo Karten findet. Das ist Betrug, sage ich – das hat der da eingerührt, der da!« Plötzlich erinnerte er sich an die Kiste, den Laternenanzünder, der auf Shringley gefallen war und sich an ihm festgeklammert hatte. Als er he rausgeschrieen hatte, was passiert war, starrte ihn Davis zornbebend an und fauchte: »Pullman, ich will verdammt sein, wenn ich irgend jemand gesagt habe, daß er sich als Laternenanzünder verkleiden und Shringley ein paar Karten in die Tasche schmuggeln sollte. Los, du zweibeinige Ratte – das sind mei ne vier Leute, war es einer von ihnen?« »Das – das weiß ich nicht«, erwiderte Monk giftig. »Es war dunkel, der
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verdammte Gang zudem voll Nebel. Man konnte die Hand nicht vor Au gen sehen. Wie hätte ich den Kerl erkennen können, he?« »Der lügt, Boß«, meldete sich Charlie Gates, sein Vormann, grimmig. »Pullman, daran ist kein wahres Wort. Unser Boß sagte uns Bescheid, er kam ins Unterdeck und holte uns. Von uns hat keiner jemals eine Laterne angesteckt oder ausgemacht – in dem Gang bin ich nie gewesen, auch kei ner meiner Partner. Verdammter Lump, das hat der sich schnell ausge dacht!« »Es war so!« keuchte Monk. »Ich schwöre, es war so. Da war ein Mann und…« »Was ist los, Pullman, wer hat geschossen?« Einige Leute, unter ihnen auch Wilkins, der Erste Steuermann, der beim Belfern der Schüsse nach unten gelaufen war, stürmten nun herein. »Sir, der Mann hier hatte…« Pullman erklärte kurz, was passiert war. Wilkins blickte Monk finster an. »Wir haben nicht falschgespielt!« beteuerte der verzweifelt. »Hören Sie, Mister, das ist ein verfluchter Trick oder sonst etwas. Ich weiß genau, daß Shringley niemals betrogen hat. Ich schwöre…« »Halten Sie den Mund!« fuhr ihn Wilkins scharf an. »Mister, in einer Stunde sind wir in Rulo Point und legen am Bollwerk an, bis Sie von Bord sind, verstanden? Mister Davis, schuldet der Bursche Ihnen etwas?« »Nichts mehr, ich habe mein Geld«, brummte Davis. »Alle Teufel, ein Gaunerpaar.« »Ich bin kein Gauner, du verdammter…« Monk brüllte los. Er war bleich wie eine frischgekalkte Wand und konnte sich nicht mehr beherrschen. »Los, raus mit ihm!« befahl Wilkins eisig. »Welche Kabine, Mister?« »Siebzehn!« knirschte Monk. Er zitterte vor Wut und Haß am ganzen Leib. »Schon gut, Officer, schon gut – ich werde in Rulo Point aussteigen.« Er ging zur Tür, während Davis sein Geld aufnahm, es einsteckte und dann mit seinen Männern zur anderen Seite in den Saloon ging, um dort am Tresen eine Runde zu bestellen. »Boß, ich hätte den Kerl auch noch erschießen sollen«, sagte Charlie Ga tes giftig. »Uns zu beschuldigen, wir hätten Shringley durch einen ver dammten Trick die Karten in den Rock geschoben! Erzählt da ein unglaub liches Märchen…«
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»Märchen?« murmelte Davis. Er schüttelte den Kopf und wirkte irgend‐ wie krank. »Charlie, der Mann hat die Wahrheit gesagt, fürchte ich. Halte dich fest, Junge, ich bin sicher, die Geschichte von diesem Laternenanzün der stimmt.« »Was?« stammelte Gates. »Boß, aber…« »Leise«, flüsterte Davis warnend. »Nur kein Aufsehen, Charlie! Du weißt längst nicht alles, Junge, als ich euch holte, habe ich euch erzählt, daß mir jemand den Tip gab, ich sollte auf ihre Zeichen und auf die rechte Rockta sche Shringleys besonders achten, dort hätte der Kerl Karten versteckt. Die Zeichen habt ihr doch wohl gesehen, was? Aber hast du gesehen, daß er einmal in die Tasche griff?« »Nein, aber…« »Er hat keine Ahnung von den Karten gehabt«, zischte Davis. »Er hat ge nausowenig von dem Kerl gesehen, der sie ihm in die rechte Tasche steck te, wie ich den Mann gesehen habe, der mir sagte, worauf ich mich einstel len sollte.« »Waaas?« »Ja«, flüsterte Davis. »Es war gerade dunkel, als es an meine Kabinentür klopfte. Jemand stand draußen im Nebel. Es war dunkel im Gang – ich sah nur einen Schatten, mehr nicht. Der Mann sprach heiser und warnte mich vor Shringley – er sagte, ich solle nicht näher kommen, er sei ein Freund. Ehe ich etwas fragen konnte, verschwand er. Dann holte ich euch herauf.« »Du großer Gott, Boß, du glaubst, der Bursche hat Shringley die Kar ten…« »Ja«, knurrte Davis. »Es muß so gewesen sein. Wahrscheinlich hat der Kerl gewußt, daß Shringley hundert Dollar zusammengefaltet in der klei nen Nebentasche des Rocktaschenfutters stecken hatte. Er kann Shringley gut gekannt haben – er könnte auch durch das Kabinenfenster gesehen haben wie Shringley das Geld in die kleine Nebentasche steckte. Dann löschte er im Gang die Laterne, ehe Springley und Monk kamen, ließ sich umrennen und steckte Shringley die Karten zu. So ähnlich muß es gewesen sein, Charlie. Ich sehe noch Shringleys Gesicht vor mir – er wurde bleich, verstehst du – er erbleichte, obgleich er doch hätte wissen müssen, daß er die Karten in der Tasche hatte.« »Allmächtiger!« ächzte Charlie Gates, »Du hast recht, Boß! Daran habe ich nicht gedacht. Er wurde bleich, weil er zu Tode erschrak, als er die Kar
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ten fühlte: Du hast gezogen – wir taten es auch, als er in die Tasche griff. Du hattest ja gesagt, wenn er in die Tasche griffe, sollten wir loslegen. Du großer Gott, der hat geglaubt, wir hätten ihm die Karten – du hättest ihm…« Gates verfärbte sich, seine Stimme versiegte, und sein entsetzter Blick richtete sich auf Davis. Jetzt begriffen alle, was geschehen war. »Kein Wort weiter!« zischte Davis. »Die Sache ist passiert – wie es dazu gekommen ist, können wir nur raten. Irgendwer hat gewollt, daß Shringley starb – und jetzt ist der Mann tot. Es ist nicht mehr zu ändern, Charlie. Haltet um Gottes willen den Mund – jeder hätte wie du geschossen, Char lie, ich habe es ja auch getan. Verdammt, Monk hat uns nichts vorgespielt, das war echte Wut!« Sie sahen sich an und schwiegen verstört. Jeder dachte an Percy Monk, und jeder wußte, daß er den Mund zu halten hatte. Sie konnten unmöglich hingehen und die Wahrheit erzählen. Es war nicht mehr zu ändern! * Während sie sich verstört anblickten, ballte Percy Monk kaum sechzig Schritt von ihnen entfernt die Fäuste und sah Jean Ribault mit nichts als Wut und Haß in den Augen an. »Ich bringe den Hund um!« knirschte Monk. »Jean, das ist ein verfluchter Gauner, der ist nicht besser als wir – und seine Burschen würden jeden Eid leisten, daß sie alle zusammen waren und keiner jemals im Mittelgang gewesen ist. Ich gehe hin und lege den Hund auf die Nase!« Jean Ribault hatte sich gerade auf dem Weg zum Saloon befunden, um eine Flasche für sich und Claire Shelton zu holen, als die Schüsse gefallen waren. Nach einem einzigen Blick auf den Toten war Ribault mit den Neu gierigen in den Spielsaloon gegangen, hatte ihn dann kurz vor Monk ver lassen und den Mann mit den langen Armen draußen abgefangen. Jetzt standen sie kaum zwanzig Schritt von Monks Kabine entfernt an Deck im Nebel. »Du wirst gar nichts tun!« zischte Ribault scharf. »Das überläßt du Tadd, Gore, Henry und mir, verstanden? Du gehst in Rulo Point von Bord. Kein Aufsehen, Mann – das hätte viel schlimmer werden können. Wenn Gore oder Tadd in der Nähe gewesen wären, hätten sie sofort geschossen und
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dich und Steve herausgehauen. Nimm dich zusammen, Percy! Wir dürfen nicht auffallen!« »Das schlucke ich nicht – das Schwein hat uns hereingelegt!« sagte Monk giftig. »Nun gut, ich gehe von Bord – und weiter, wie komme ich ohne Geld weiter, he?« »Immer ruhig!« besänftigte ihn Ribault. »Ich habe nur fünf Dollar einge steckt – ich sage gleich Henry Bescheid, der bringt dir fünfzig Dollar. Du gehst in Rulo Point an Land, nimmst die nächste Stagecoach oder das nächste Schiff nach Kansas City und fährst mit dem Zug voraus nach Saint Louis. Dort wartest du auf uns – wo, das weißt du ja. Mach keinen Unsinn, wir können uns das nicht leisten, Mann, begriffen? Ich kümmere mich selbst um diesen Davis, der wird sein Geld wieder los oder verschwindet spurlos, ehe wir in Kansas City sind.« »Schmeiß den Hund über Bord!« knurrte Monk finster. »In Ordnung, ich beherrsche mich, aber das sage ich dir – gib ihm was für seine verdammte Schurkerei!« Sie trennten sich. Ribault hastete nach rechts davon, während Percy Monk zähneknirschend zu seiner Kabine ging. In seiner Wut achtete Monk auf nichts, was um ihn vorging. Ihm begegnete niemand. Nur das Brüllen des Nebelhornes schallte durch den verdammten grauen Schleier, der feucht und schwer im Mittelgang lag. Das fürchterliche Auge verfolgte jeden Schritt Monks. Der unheimliche, unsichtbare Schatten ließ Monk keine Sekunde aus den Augen. Irgendwo hinter Percy Monk, mit den Nebelschwaden verschmelzend und in ihren Wirbeln zerfließend, bewegte sich etwas lautlos. Percy Monk erreichte die Kabine, öffnete die Tür und tastete sich im blei chen Licht des Laternenwiderscheines, der die Kabine in einen ungewissen Schimmer tauchte, zum Wandbrett neben dem Spiegel. »Der verfluchte Gauner Davis«, zischte Monk vor sich hin, während er ein Streichholz nahm und es über den linken Jackenärmel riß. »Wenn ich könnte, würde ich ihm den Hals durchschneiden und ihn dann in den Mis souri werfen. So ein Schweinehund! Na, die anderen werden es ihm schon besorgen, von denen weiß und ahnt der Hundesohn nichts. Die werden ihm…« Das Streichholz flammte auf. Percy Monk führte es zur Lampe. Das Licht fiel in den Spiegel, es leuchtete den Raum notdürftig aus und schien bis zur
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offenen Tür, vor der sich die Nebel drehten und ballten. Percy Monk, der Mörder mit den langen Armen, sah im Spiegel die Tür und dann den Schatten aus den Nebeln hereinschweben. Es war, als käme die schaurige Gestalt mit einer Nebelwolke hereingeglitten. Im Spiegel sah Percy Monk das schreckliche Gesicht und die fürchterlichen Krallenhände, und ihm war, als setzte sein Verstand in derselben Sekunde aus. Dort schwebte der Geist des alten Indianers herein – er kam aus dem in sich zerfließenden Nebel – eine grauenhafte und so schaurige Erscheinung, daß Percy Monk vor Grauen wie gelähmt vor dem Spiegel stehenblieb und nicht einmal merkte, daß die Flamme des Streichholzes langsam kleiner wurde, bis sie schließlich erlosch. Im nächsten Moment lag die Dunkelheit über dem Spiegel, das Bild war verschwunden. Mit einem heiseren Gegurgel nahm Monk den Kopf herum, starrte zur Tür, sah jedoch nur Nebel. Dort war niemand, stand keiner mit Krallenhänden. Wahnsinn, dachte Percy Monk, ich sehe Gespenster. Teufel, was habe ich mich erschrocken! Da ist ja nichts, nur dieser verfluchte, sich in Schwaden drehende Nebel. Nichts – nichts… Er drehte sich ganz um, glotzte zur offenen Tür und blinzelte zwei‐, dreimal heftig. Ging es ihm jetzt schon wie Gore Shape, der aus den De cken gefahren war, am Feuer gehockt und mit weitaufgerissenen Augen in den Nebel gesehen hatte, den Mund aufgesperrt, brüllend wie ein Tier, daß dort der Geist Nesho‐wan‐takes wäre? Plötzlich erfaßte Monk ein entsetzliches Frieren. Er dachte jäh an das schreckliche Geflüster Steve Shringleys, der aus großen, entsetzten Augen zur Decke des Saloons geblickt und den Namen des Indianergottes ge murmelt hatte. War da nicht ein Kratzen, war da nicht ein Schaben hinter ihm, irgendwo in seinem Rücken? Als der Mann mit den langen Armen herumfuhr und die Hand zum Gür tel nahm, um seinen Revolver herauszureißen, sah er den Schatten in der schwarzen Nacht, die in die Kabine gekrochen war, sah die Umrisse, das glimmende, schreckliche Auge und wollte noch schreien, aber dann kam die Hand. Die entsetzliche Krallenhand schoß aus der Dunkelheit heran und preßte sich um seinen Hals. Ihr folgte der Schmerz, ein grausamer, schneidender Schmerz, der sich in seine Brust fraß.
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Der Geist Nesho‐wan‐takes war gekommen und hatte auch den vierten Mann besucht… * Tot, dachte Henry Ribault, Steve ist tot, der erste von uns, den es geholt hat. Ich habe es gewußt, es mußte so kommen. Der Fluch des alten India ners erfüllt sich jetzt. Er fuhr jäh herum, als er ein Geräusch hinter sich hörte und hatte die Hand am Colt. Ribault preßte seinen Rücken an die Gangwand, lauschte, stand mit angehaltenem Atem im Nebel. Verdammt, da war doch etwas gewesen? Schon seit Tagen hatte Henry Ribault das Gefühl, daß man sie beobachtete, daß irgendwo etwas Ungreif bares lauerte. Es hatte vor Omaha angefangen – genau zwei Tage, ehe sie nach Omaha gekommen waren. An jenem Abend am Platte River, hatte er sich beobachtet gefühlt und in den Dunst gestarrt, der über das Ufer gekro chen war. Es war ihm vorgekommen, als hätte sich ein Schatten in jenen grauen Schleiern bewegt. Und dann hatte Gore wieder geschrien, war hochgefahren, um sich wie irr umzublicken, mit zitternder Hand in die Dunkelheit zu deuten und zu brüllen: »Da ist er – geh fort, du Ungeheuer, scher dich fort! Hilfe – Hilfe, er will mich packen! Der Geist des Indianers – der Geist des Alten – da – da!« Die Angst steckte in Henry Ribault. Nein, er war nicht wie sein Bruder, er besaß diese Eiseskälte nicht. Ein paarmal hatte er vom alten McLaine ge träumt, hatte die Bilder gesehen, die Toten auf dem Plateau, das Wasser, in das sie gestürzt worden waren. Seitdem schlief er nicht mehr gut, aber er gab das nicht zu, er wollte nicht als Narr gelten, der an übersinnliche Dinge glaubte. Die anderen lachten nur, wenn Gore Shape schrie und schweißge badet aufwachte. Es starrt mich an, dachte Henry Ribault und fror in der klammen, feuch ten Nebelluft – wo immer ich bin, ich höre etwas, mal ein Schnaufen, mal Schritte. Gestern habe ich nicht schlafen können, bin aus der Kabine ge gangen und in die Nähe der Kabine von Shringley und Monk gekommen. Da war Licht – es fiel aus dem Fenster in den Gang hinaus. Und dann war der Schatten wieder vor mir, ich habe ihn gesehen – er war da, der alte
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Indianer… Nichts, keine Schritte, kein Schlurfen in seiner Nähe. Aber die Tropfen fielen pitschend auf die Planken, hingen an der Kante des Oberdecks über Henry Ribault, fielen im Fahrtwind herab. Das Rauschen war zu hören, mit dem die Empress of St. Joseph durch den Missouri pflügte. Dann kam das Brüllen, der tierhafte, urige Schrei des Nebelhornes, und ließ Ribault heftig zusammenfahren. Die Angst hielt ihn in den Klauen, diese verfluchten Schatten überall im Nebel, sie machten ihn nervös. Waren dort nicht Umrisse einer Gestalt, glimmte nicht ein Höllenauge durch die Schwaden und starrte ihn drohend an? Weiter, dachte Ribault, weitergehen, da ist nichts, ich bilde mir das nur ein, oder? Er war nicht mehr sicher, ob er das Schiff jemals lebend verlas sen würde. Die Unruhe steckte zu tief, die Angst fraß ihn langsam auf. Er würde das Bild nie vergessen – den Alten tief unten mit hochgereckten Krallenhänden, das Gesicht im Nebel, gigantisch, grausig, furchtbar wie die Krallenhände Nesho‐wan‐takes… Siebzehn – die Kabinennummer glitzerte messingpoliert vor ihm. Die Tür war geschlossen, kein Licht in der Kabine, kein Laut hinter der Tür. »Monk?« fragte Ribault und lauschte dem Nachhall seiner Stimme, die so rauh und heiser klang. »He, Percy?« Ribault hatte die Tür geöffnet, sah den Schatten auf dem Bett liegen. Monk lag dort… »He, Percy, ich bin es, Henry…« Warum sagt er nichts, dachte Ribault, warum setzt er sich nicht auf? Den hat es auch geschafft, was? Soll mir doch keiner erzählen, daß er nicht auch Angst hat. Wir haben alle Angst, auch mein großer Bruder, der auch, wette ich. »Percy…« Einen Schritt, noch einen – und dann stand er neben dem Bett, bückte sich und hörte etwas, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Hinter Ribault war ein grausiges Kichern, war ein Laut, wie er ihn schon einmal gehört hatte, als der Alte die Tritte verdaut hatte – ein schrilles Ge lächter, dem das Flüstern folgte: »Nesho‐wan‐take, kah, sho…« Ribault fuhr mit einem gräßlichen, angstvollen Aufstöhnen herum und
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sah ihn den Bruchteil einer Sekunde lang mitten in der Tür stehen, sah den Umhang, der in düsteren Falten herabfiel, sah das strähnige Haar, das grausige Gesicht mit dem toten Auge und die blutbeschmierten, ver krümmten Krallenhände. Ducken, dachte Ribault und warf sich zur Seite, glitt aus, fiel über Percy Monk, der so stumm und steif auf dem Bett lag. In derselben Sekunde schlug die Tür blitzschnell zu. Das Dröhnen hallte in Ribaults Ohren wider, das helle Rechteck mit der gespenstischen, grau envollen Gestalt davor, die der Nebel umflossen und ein irrlichtener Schein in Helligkeit getaucht hatte, war verschwunden. Was ist, dachte Ribault entsetzt und lag quer über Monk, was war das? »Da stand er, ich habe ihn gesehen, ich habe ihn wirklich gesehen. Monk, hast du nicht auch gesehen, daß er dort stand? Monk, er hat die Tür zuge worfen, er hat uns eingesperrt – dich und mich, verstehst du nicht, hörst du denn nicht, Mensch? Monk, Mann!« Er wollte ihn rütteln, packte ihn an der Jacke, faßte zur Schulter und stieß gegen etwas, das aus Monks Brust ragte. Etwas Klebriges kam Ribault jäh an die Finger – es klebte, es… Blut, das war Blut! Und das, was Ribaults Hand berührte, das war ein Messerheft. Der Schrei gellte durch die Kabine. Ribault schrie vor Grausen laut auf. In der nächsten Sekunde taumelte er zurück, warf sich herum und wollte hinaus, wollte die Tür aufreißen, aber die war verschlossen. »Hilfe – Hilfe!« schrie in derselben Sekunde ein Mann draußen los. »Zur Hilfe, Leute, Hilfe, Mord – Mord! Mord in Nummer siebzehn – Mord in Kabine siebzehn – Mord – Mord! Hilfe, Hilfe – ein Mörder – ein Mörder! Ich habe ihn eingeschlossen, ich habe ihn eingesperrt. Mord in Nummer siebzehn, schnell, Leute, schnell ‐Mord, Mord!« »Mord – Mörder – Mörder!« Hell, schrill und gräßlich laut schrie es irgendwo draußen eine Frauen stimme. »Zur Hilfe, Mord – Mord in Kabine siebzehn!« Mord, dachte Ribault entsetzt, sie schreien Mord, sie schreien Mord, aber ich habe ihn doch gar nicht… ich habe ihn gefunden, ich habe ihn doch nur angefaßt und… und Blut an der Hand, das Messer in der Brust Monks! Wie denn, gehörten sie etwa zusammen, waren sie etwa Freunde? Nein, sie
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kannten sich doch nicht, keiner kannte den anderen, so war das, das hatten sie abgemacht. Für Ribault war Monk ein Fremder, nichts als ein völlig Unbekannter. Als er die grausige Wahrheit erkannte und die Stimmen laut wurden, als Stiefelgetrampel zu hören war und sich näherte, wußte Ribault, daß er verloren war, wenn er nicht augenblicklich hinauskam. Brüllend vor Angst warf er sich gegen die Tür, flog mit ihr hinaus und rutschte auf dem feuch ten, glitschigen Deck bis an die Reling. Um ein Haar wäre er noch unter ihr durchgeflogen und in den Missouri gestürzt. »Da – da ist er, er läuft davon, er läuft fort, Leute! Haltet ihn, haltet ihn auf! Mörder – Mörder, haltet den Mörder!« Da, dachte Ribault, da sitzt der Hund, der mich einen Mörder nennt, dort hinter der Ecke – ein Schatten! Ribault riß die Hand hoch und feuerte, während er aufsprang und nach links rannte, denn von rechts schrie der Kerl, von rechts kamen Rufe, pol terten schwere Tritte. Männer liefen herbei. Zweimal schoß Henry Ribault, ehe er floh und die Kabinentür neben ihm aufsprang – ein Mann heraus sah, ihn mit dem Colt sah und schreiend die Tür zuwarf, um zu kreischen: »Hilfe – ein Mörder, er schießt, er schießt! Hilfe!« »Dort vorn läuft er! Da, der Mörder, Achtung, nehmt euch in acht, er schießt! Fangt den Mörder… schneidet ihm den Weg ab!« »Halt, stehenbleiben!« Rechts lag der Mittelgang, gähnte ein dunkles Rechteck, aus dem der Schatten angeflogen kam. »Stehenbleiben oder ich schieße!« Rums! Der Mann warf sich zu Boden, als die Feuerlanze durch den Nebel raste und die Kugel haarscharf an ihm vorbeizischte. Dann schrie er, während Ribault nach rechts raste, die Treppe zum Oberdeck vor sich sah und hinter sich das Gebrüll der Männer hörte: »Da vorn ist er, er will zum Oberdeck hoch. Vorsicht an der Treppe, der Mörder kommt, der Mörder kommt, schießt ihn nieder!« Ribault hetzte die Eisenstufen empor, als jemand unten scharf schrie: »Stehenbleiben! Die Waffe wegwerfen! Halt, bleib stehen!« Hund, dachte Ribault, Hund, verfluchter, da hast du dein Teil! Er wirbelte auf der Treppe herum, riß die Hand hoch und wollte feuern,
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als es unter ihm krachte. Er sah noch den Feuerstrahl, den Mann an die Wand des Ganges fliegen und den zweiten Blitz, während ihm etwas in den Bauch fuhr und die zweite Kugel seine Brust packte. Über Ribault duckten sich zwei Männer und sahen ihn im Schein der Deckslaterne einknicken, den Halt auf der Treppe verlieren und kopfüber nach unten stürzen. Die Eisenstufen dröhnten und klirrten, als Henry Ri bault sie herabkollerte. »Der – der wollte schießen«, sagte der Mann und richtete sich mit aschfahlem Gesicht auf. »Hast du gesehen, Johnny, der Kerl wollte doch wirklich schießen! Verdammt, was ist, Johnny, hat er dich getroffen?« Sein Partner raffte sich an der Ecke zum Mittelgang fluchend auf. »Beinahe hätte der Hund mich erwischt«, keuchte er. »Schießt der Hun desohn sofort! – So ein Verrückter! He, Leute, hier liegt er, hier!« Sie liefen jetzt von allen Seiten zusammen und umstanden den Toten, bis die Frau hinten gellend schrie: »James, da liegt einer auf dem Bett… Blut, Blut!« Als sie zur Kabine kamen, lehnte die etwa dreißigjährige Frau totenbleich an der Reling. In der Kabine hatten zwei Männer, die nur zwei Türen wei ter wohnten und noch wach gewesen waren, Licht angemacht. »Zur Seite!« knurrte Wilkins finster. Er kam mit zwei Männern der Besat zung auf die sich vor der Tür drängenden Neugierigen zu. »Macht den Weg hier frei, Leute! Alle Teufel, das ist ja dieser Monk. Und da liegt Geld am Boden – der ist beraubt und erstochen worden.« »Den Mörder haben wir schon erwischt«, meldete sich einer der Umste henden finster. »Beim ersten Schrei rannten wir aus der Bar hoch – er kam uns entgegen und schoß sofort. Jemand schrie, wir sollten ihn aufhalten, aber er floh nach oben und feuerte, der verdammte Mörder. Officer, da hinten liegt er.« »Falschspieler!« knirschte Wilkins. »Was, zum Teufel, haben wir nur auf dieser Reise für ein Gesindel an Bord. Jetzt müssen wir wirklich in Rulo Point festmachen. Bringen sich die Halunken gegenseitig um! He, wer ist der Erschossene?« »Ich glaube, er heißt Ribault,« sagte jemand. »Mister Wilkins, soll ich den Paymaster wecken?« Irgendwo hinten im Nebel stand jemand und wurde kreidebleich. Jean Ribault drückte sich in den Schatten des Niederganges, als einige Männer
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an ihm vorbeiliefen. Dann machte er kehrt und floh in langen Sätzen zur Steuerbordseite und zu seiner Kabine. Tot, dachte Ribault, während er durch den Nebel stürmte, Henry ist tot, Monk ist… Plötzlich wußte er, daß sie kommen würden, um ihn zu fragen, was Hen ry in der Kabine bei Monk zu suchen gehabt hatte. Was sollte er ihnen denn sagen? – nichts! Er wußte nichts, hatte keine Ahnung gehabt, dabei mußte er bleiben. Aber da war noch etwas – da war Claire, die in seinem Bett lag. Sie muß in Henrys Kabine verschwinden, schnell, schnell, dachte Ribault. Was geht hier vor, was geschieht hier an Bord in diesem verdammten Ne bel? Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu. Monk erstochen, aber doch nicht von Henry! Steve ist tot, soll angeblich ein Kartenhai gewesen sein und war es nicht. Drei Tote, weil wir nicht zusammengeblieben sind. In diesem Moment begriff Ribault, das die Trennung ihr Verderben ge worden war und es kein Zufall war, daß drei von ihnen tot waren. Schnell, dachte er, wir müssen ganz schnell machen. Und dann bleiben wir alle zusammen, ich muß Gore und Tadd holen. Gemeinsam erwischt uns nichts, da passen drei Mann auf. Irgendwer ist da, schleicht durch den Nebel… Ribault blieb keuchend stehen, als er die Stimme wieder hörte. Was war das – woher kam der seltsame Gesang? Er fuhr herum und hatte schon den Colt in der Hand, lauschte und starr te in die ziehenden Nebelschwaden. Nichts mehr – kein Laut! Hatte er sich getäuscht? Durch den Nebel war die krächzende, schrille Stimme des alten Indianers gekommen, oder? Der Fluch des alten Indianers, dachte Ribault entsetzt, die Krallen der Vergeltung schlagen zu. Ein teuflischer Spuk sorgt dafür, daß einer nach dem anderen stirbt, aber – das ist ja Wahnsinn, es gibt keine Geister! Ribault lief weiter und wußte, daß er dahinterkommen mußte, was hier wirklich vorging. Als er die Tür zu seiner Kabine aufriß, sah er Claire im Bett liegen. Sie schlief immer nackt und lächelte, bis sie in sein Gesicht blickte und das Grauen in seinen Augen las. »Monk und Henry sind tot!« keuchte Ribault. »Schrei nicht – schrei nicht, verdammt noch mal! Schnell, durch die Tür – verschwinde, sie werden
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gleich hier sein. Raus mit dir, Claire! Es muß für sie aussehen, als wäre Henry hier gewesen!« Wenn sie nur nicht schreit und die Nerven verliert, dachte er voller Furcht und riß sie aus dem Bett. Wie lange dauert es, bis Wilkins hier ist? Er stieß die Verbindungstür auf, stürmte in Henrys Kabine, raffte dessen Sachen an sich und sah in Claires leichenblasses Gesicht und die großen vor Angst weit offenen Augen. Ein Glück, daß Claire nur das Nachtzeug in seiner Kabine und Henry seinen Packen hier gehabt hatte. Claires andere Kleider hingen drüben im Schrank. »Rühr dich nicht – verriegele die Tür!« zischte er ihr zu. »Sie kommen schon, ich höre sie.« Ribault schaffte es gerade noch, seinen Anzug in den Schrank zu hängen, eine andere Hose und Jacke über den Stuhl zu werfen, die Stiefel zu ver tauschen und sich dann in das warme Bett zu legen. Gut so, jetzt konnten sie kommen – er lag in einem warmen Bett, das andere war unberührt. Hemd, Hose und Jacke samt Stiefeln waren kalt. Sie konnten sie ruhig an fassen, sie würden das unberührte zweite Bett sehen und ihm glauben, daß er Henry gar nicht vermißt hatte, weil er geschlafen hatte. Im nächsten Augenblick klopfte es auch schon. Zweimal ließ er sie klop fen, ehe er sich mit verschlafener Stimme meldete. »Ja – was ist?« Verschlafen stellen, dachte Ribault und fuhr sich durch das Haar – ich habe geschlafen und die Lampe brennen lassen. Na, dann kommt nur! * »Was – was ist das?« stammelte Ribault. Er blickte Wilkins entsetzt an, umklammerte die Stuhllehne und tat so, als würden ihm die Knie weich. »Mister, das ist doch – unmöglich! Henry – mein Bruder… nein, nein!« Aus den Augenwinkeln sah er, wie Wilkins zum Bett ging und wie zufäl lig die Hand auf das Kissen legte. »Ja«, sagte Wilkins dann scharf, »er ist tot, er hat einen gewissen Monk erstochen, einen Falschspieler, der in Rulo Point von Bord sollte. Sie haben also geschlafen?« »Ge… geschlafen, ja, geschlafen«, stotterte Ribault verstört, sprang dann auf und keuchte: »Was reden Sie da für einen Unsinn, Mister – mein Bru
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der sollte einen Falschspieler erstochen haben? Mister, da unten liegen für mehr als achttausend Dollar Felle im Laderaum, unser Geld, verstehen Sie? Sein und mein Geld – genug, um zehn Jahre, leben zu können, wenn es sein muß. Erstochen, sagen Sie? Moment mal, Moment…« Jetzt regte er sich auf, ging zum Schrank, riß Henrys Packen aus der Ecke und öffnete ihn, um das Messer herauszunehmen. »Das ist das Messer meines Bruders – dies hier, Mister! Ein anderes Mes ser besitzt er gar nicht.« »Parker!« Parker, ein Mann der Besatzung, wickelte das Handtuch auseinander und deutete stumm auf das blutbeschmierte Indianermesser. »Kennen Sie das, Mister Ribault?« »Nein, zum Teufel!« ächzte Ribault. »Das ist ja ein Indianerknife, so ein Ding hat mein Bruder nie besessen. Hören Sie, das muß ein schrecklicher Irrtum sein! Wer hat meinen Bruder umgebracht, wer hat ihn ermordet? Wo ist der Kerl, der…« »Mister Ribault«, sagte Wilkins finster. »Sie haben gesagt, Ihr Bruder wä re etwa gegen zehn Uhr aus der Kabine gegangen, um sich die Beine zu vertreten. Er ist gesehen worden, als er die Kabinentür Monks aufbrach und mit dem Revolver in der Hand flüchtete, wobei er auf alles schoß, was ihm zu nahe kommen wollte. Es gibt keinen Zweifel, Mister Ribault, Ihr Bruder Henry flüchtete aus Monks Kabine – und Monk lag mit diesem Messer in der Brust tot auf seinem Bett. Dafür gibt es ein halbes Dutzend Zeugen. Sie wissen nicht, Sie haben auch keine Ahnung, was Ihr Bruder in der Kabine bei Monk zu suchen gehabt haben könnte?« »Das ist mir völlig rätselhaft, ich verstehe es nicht!« antwortete Ribault. »Vielleicht kannte er Monk, aber woher? Mein Bruder spielte nie. Um Got tes willen, ich will zu ihm, ich muß mich um ihn kümmern, Wilkins!« »Da gibt es nicht viel zu kümmern«, brummte Wilkins. »Ihr Bruder liegt schon in der Seilkammer, dort kommt jeder Tote hin, den es an Bord gibt. Wir haben ihn und die beiden Spieler in Rulo Point an Land zu schaffen und dem Sheriff von Rulo zu übergeben. Wenn Sie Ihren Brüder sehen wollen, müssen Sie den Kapitän fragen. Ich kann Ihnen die Erlaubnis nicht geben, Mister Ribault. Hören Sie mal…« Er trat an Ribault heran, beugte sich vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Was?« fuhr Ribault hoch. »Was, zum Teufel… nein, nein, das müßte ich
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doch wohl wissen, wenn er solche Sachen… nein, aber… mein Gott, mög lich ist alles. Ich – ich habe mich nie um seine Freunde gekümmert, ich will bald heiraten, meine Verlobte hat die Nachbarkabine… Wilkins, Mensch, das wäre eine Erklärung, aber ich glaube es nicht!« »Das weiß man nie – ich habe schön die verrücktesten Dinge in der Be ziehung erlebt«, brummte Wilkins halblaut. »Kein Grund zur Aufregung, Mister, das kommt überall vor. Nun gut, Sie wissen also nichts – nur, daß es auf keinen Fall das Messer Ihres Bruders ist, das wissen Sie genau?« »Ich kann es beschwören!« ächzte Ribault. »Du großer Geist, ich werde in Rulo Point aussteigen, ich muß ja meinen Bruder begraben… Himmel, ist mir schlecht!« »Gut, Sir, wenn Sie mit dem Kapitän reden wollen, kommen Sie zum Steuerstand herauf, aber der kann Ihnen auch nichts sagen. Wir haben noch eine knappe Dreiviertelstunde bis Rulo Point zu fahren, dann können Sie sich um Ihren Bruder kümmern. Tut mir leid, Mister…« »Ich verstehe es nicht«, stöhnte Ribault, als Wilkins mit seinen Begleitern hinausging. »Wie ist das nur passiert, wie ist das nur…« Die Tür fiel zu, die Schritte entfernten sich. Ribault sprang mit einem Satz hin, schob den Riegel vor und sauste mit zwei Sätzen zur Verbindungstür. »Mach auf!« zischte er. »Schnell, mach auf, Claire!« Er hörte, wie sie über die Tür tastete und dann den Riegel zurückzog. Als er sie sah, prallte er vor Schreck zurück. Ihre blauen Augen zeigten nichts als irre Angst, ihre Lippen bewegten sich, während sie am ganzen Körper vor Furcht zitterte. »Da… das In… Indianermesser!« lallte Claire mit vor Grauen bebender Stimme. »Der Fluch – der Fluch des alten Häuptlings! Wir sind verloren – der Fluch hat uns eingeholt. Von Bord, schnell von Bord, hier sind wir nicht sicher! Weißt du nicht, was Steve Shringley gesagt hat – weißt du es nicht mehr? Der Fluß – der Alte hat es doch geschrien – erinnere dich, Jean! – der Fluß wird uns alle umbringen. Der Geist von Nesho‐wan‐take, der in jedem Gewässer haust…« »Hör auf!« fauchte Ribault, holte aus und schlug ihr mitten ins Gesicht, ehe sie zu schreien beginnen konnte. »Nimm dich zusammen, verflucht noch mal, nimm dich zusammen! Du bleibst jetzt hier, riegelst dich ein und nimmst den Colt in die Hand. Da – setz dich in die Ecke, da kann man dich weder vom Fenster noch von der Tür aus sehen. Wer immer herein will,
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wenn es keiner von uns ist – schieß!« »Schießen – schießen?« Claire Sheltons Augen flackerten wie irr, als sie zur Tür blickte. »Schießen – kannst du einen Geist erschießen?« wimmerte sie. »Nein, nein, keine zehn Pferde können mich in der Kabine halten. Ich komme mit, wenn du Gore und Tadd holst. Keine Sekunde bleibe ich allein.« »Du bist ja wahnsinnig!« knurrte Ribault. »Aber gut – dann zieh dich an, mach schon! Wir gehen alle in Rulo Point von Bord. Die Ladung bleibt hier, die holen wir uns in Saint Louis ab. Verdammt, nimm dich doch zusam men, es gibt keinen Indianergeist, ich schwöre es dir!« »Es gibt Geister«, stammelte Claire Shelton zitternd. »Der verfluchte Geist fährt in irgendwen und lenkt eine Hand, läßt sie einen Revolver ab feuern oder ein Messer benutzen. Jean, ich sage dir, es ist so geschehen – der Geist hat Henrys Hand geführt, Henry hat gar nicht gewußt, was er tat, als er das Messer bekam und Percy Monk umbrachte. Danach wachte er auf und…« »Verflucht, bist du jetzt still?« grollte Ribault in wilder Wut. »So einen Blödsinn kann auch nur eine Frau glauben oder so ein schwachsinniger Affe wie Gore Shape. Dessen blödes Gerede hat dich angesteckt – ich hab’s die ganze Zeit gewußt! Wenn ich einen Geist sehe, dann sollst du erleben, was ich mit ihm mache! Los, zieh dich endlich an, wir müssen Gore und Tadd suchen! Reiß dich zusammen, Claire, oder du erlebst was, das schwö re ich dir!« Als er sich den Revolvergurt umschnallte und die Waffe nachsah, dachte er an Gore Shape und Tadd Morgan. Der Teufel sollte die beiden Säufer holen. Wahrscheinlich waren sie wieder so betrunken wie gestern. Die Schüsse und der Lärm hätten sie jedoch wecken müssen. Warum kamen sie denn nicht, die verdammten Narren? Lagen sie etwa vollkommen betrun ken in ihrer Kabine? Ribault trat an die Kabinentür und öffnete sie leise. Dann blickte er vor sichtig hinaus. Niemand war draußen, das Deck war gähnend leer, soweit er es im sich drehenden und heranwallenden Nebel sehen konnte. Er wür de Shape und Morgan schon munter machen! *
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Einen Augenblick hatte Ribault das Gefühl, als käme eine Faust aus dem Dunkel und schlüge ihm in den Nacken. Die Kabine war leer, von Gore und Tadd fehlte jede Spur. Kein benutztes Bett – abgestandene Luft schlug ihm entgegen. »Was – was hast du?« fragte Claire mit vor Angst vibrierender Stimme. »Jean – was ist?« »Sie sind nicht hier«, keuchte Ribault und schloß die Tür wieder. »Ver dammt, was hat das zu bedeuten? Dann können sie nur unten sein und wieder saufen und sich den Bauch vollschlagen. Aber dann müßten sie doch etwas gehört haben…« Der Nebel kroch über das Deck und legte sich wie eine milchige, feuchte Masse um die Laterne. Plötzlich war es Ribault, als gellte ihm wieder jenes grausige Singen des Alten in den Ohren. Er fuhr herum, starrte in die zie henden, sich drehenden Schwaden vor der Tür zum Niedergang. Seine Hand lag am Colt, während sich Claire an ihn drängte. »Was war das?« fragte er gepreßt. »Hast du es gehört?« »Was?« wisperte sie ängstlich, »Was meinst du, Jean?« Sie hat nichts gehört, dachte er und spürte, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach. Ich bin doch nicht verrückt, ich habe das verfluchte Singen ge hört, ich hab’s gehört – sie nicht! »Komm, wir sehen unten nach!« Irgend etwas mußte er unternehmen, er mußte Gore Shape und Tadd Morgan finden. Als er Claire mitzog und unten die Tür zum Saloon öffne te, blickte ihn der Mann hinter dem Tresen groß an. In der Ecke saßen nur noch drei Männer, jemand hing über einer Tischplatte, hatte den Kopf auf beide Arme gelegt und schlief anscheinend, aber von Gore und Tadd war nichts zu sehen. Verflucht, dachte Ribault, verfluchte Sache, wo sind sie denn? Jetzt gibt es doch kein Essen mehr – es ist doch viel zu spät… längst Mitternacht vorbei, bald ein Uhr früh. »Komm mit!« »Wo?« stammelte Claire, als sie zum Speisesaal hasteten. »Jean, wo sind sie denn? Da, der Billardraum – willst du nicht durchs Fenster blicken?« Er tat es – sah nichts von Tadd Morgan, der immer ein paar Partien spiel te. Nur der Barmann war noch hier, sonst keine Menschenseele. »Weiter – weiter!«
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Er ging zehn Schritt, als er zusammenzuckte und den Kopf jäh herumriß, so daß Claire erschrocken zusammenfuhr. Da war die schrille, kreischende Stimme wieder – der grausige Gesang kam durch den Nebel. »Was hast du, Jean?« »War da nicht etwas?« »Nein, nein, ich habe nichts gehört…« Ich werde wahnsinnig, dachte er, sie hört nichts, aber ich – ich höre es doch ganz deutlich! Da, der singt immer noch – links von uns – ganz lei se… Jetzt ist er still! Als er spürte, wie seine Handflächen feucht wurden, das Hemd zwischen seinen Schulterblättern zu kleben begann, zwang er sich ganz ruhig, über alles nachzudenken. Es stimmt, dachte Ribault, ich habe ein besseres Gehör als andere, ein viel besseres als Claire. Der Gesang ist zu leise, das ist es! Sie kann ihn nicht hören, während ich ihn höre… »Komm, komm, wir sehen oben nach – vielleicht sind sie im Spielsa loon?« Sie hasteten vorwärts. Er hatte sie an seine linke Seite genommen, um die rechte Hand freizuhaben und schießen zu können. Dann erreichten sie die Glastüren zum Spielsaloon, aber auch hier nichts von Tadd Morgan und Gore Shape zu sehen. »Jean, und wenn sie in unserer Kabine sind, wenn sie dort warten?« »Ja«, keuchte er. »Das könnte sein, du hast recht! Wir suchen sie hier, während sie längst vor der Kabine sind. Schnell, laufen wir hin…« Der Mittelgang lag vor ihnen, dann erreichten sie die Steuerbordseite, stürmten zur Kabine. Niemand hier, oder? »Gore – Tadd?« Er fragte zweimal, zuckte dann zusammen und hörte das grausige, schrille Singen. Der Nebel trug es heran – es klang höhnisch, klang den noch dünn. Und dann überfiel ihn der Gedanke, kam und fraß sich in ihm fest, ließ ihm schlecht werden… Irgendwo in ihm kicherte eine Stimme leise, lachte jemand meckernd und höhnisch, ehe er sprach: »Du irrst dich, Ribault, alles falsch, verstehst du? Steve Shringley war gar
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nicht der erste, der starb – na, begreifst du langsam, ja, geht es dir endlich auf? Nicht Steve! Tadd – oder Gore! Na, wie wäre das, Jean Ribault? Zuerst war es Gore, der ist spurlos verschwunden. Und dann kam Tadd an die Reihe – auch verschwunden, auch nicht mehr an Bord? Erinnere dich doch – denke nach, da war doch etwas, während du es mit Claire getrieben hast – da war doch ein Schrei draußen – oder?« Die Hand kam wie eine Kralle aus dem Nebel und packte seine Kehle. Es war ein Gefühl, als müßte er ersticken. In diesem Augenblick setzte das Frösteln tief unten in seinem Rücken ein, lief herauf, krallte und biß sich in sein Rückgrat. Und dann kam die Stimme schon wieder, sie kicherte breit und hämisch: »Stell dir das vor, Jean Ribault – alle tot, alle! Nur du bist noch übrig, du, Claire – sonst niemand. Na, hast du dich an den Schrei erinnert? Das war Gore – oder war es Tadd? Alle tot…« »Schnell!« keuchte er und packte Claires Schulter, schloß die Tür auf und schob sie in die Kabine. »Da – da stimmt etwas nicht. Gore und Tadd – sie müßten etwas gehört haben. So betrunken könnten sie gar nicht sein, daß sie irgendwo liegen und ihren Rausch ausschlafen. Wenn es knallt, sind sie auf den Beinen.« Ribault war mit einem Satz am Fenster, zog den Vorhang auf und öffnete die Tür zur anderen Kabine, um auch hier den Vorhang zur Seite zu reißen. In der Dunkelheit, die jetzt durch das matt und milchig von draußen he reinfallende Licht etwas erhellt wurde, sah er ihr bleiches Gesicht mit den dunklen Augen. »Du meinst, sie sind… sie sind auch…« Claire Sheltons Stimme kippte über, wurde schrill, kreischte beinahe vor Grausen und Angst. »Ruhig!« keuchte er und war schon bei ihr, nahm sie heftig in die Arme. »Du mußt die Nerven behalten, das ist alles, worauf es ankommt. Was immer du denkst, glaube keine Sekunde daran, daß es wirklich Geister gibt. Ich sage dir, es gibt keine. Man kann sich einbilden, etwas zu sehen, was in Wirklichkeit gar nicht da ist, was es nie gegeben hat. Du bist doch kein altes, abergläubisches Weib, Claire. Irgend etwas ist passiert, aber wir wissen nicht, was es ist, verstehst du? Irgendwer treibt ein satanisches Spiel mit uns. Wir müssen damit rechnen, daß Tadd und Gore auch erledigt sind.«
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»Nein, nein!« würgte sie hervor, während sie am ganzen Leib zitterte. »Jean, wenn sie auch tot sind, dann sind ja nur noch wir beide übrig, dann…« In der nächsten Sekunde spürte er, wie sie erstarrte, wie ihr Körper in seinen Armen schrecklich steif wurde und ihr Atem nach einem schreckli chen Pfeifen abbrach. Und dann hörte Ribault es – hörte das Gekrächze ganz deutlich, vernahm das leise Schaben und riß den Kopf herum. Im gleichen Augenblick, als er dorthin blickte, wohin sie über seine Schulter hinweg sah – zum Fenster, vor dem das milchige Grau des Nebels wogte und wallte, war es ihm, als zöge ihm etwas die Beine fort. Dort, dicht vor dem Fenster, so daß es aussah, als wolle es in der nächs ten Sekunde die Scheibe zerstoßen und hereinfahren, war das grausige Gesicht des alten Indianers mit dem einen weit offenen Auge. Dort schim merte das rote Blut, dort hob sich die Krallenhand und kratzte über die Scheibe. Es war Ribault, als flösse ihm Eiseskälte durch die Adern. Schon hob sich die Hand des Unheimlichen, schon schien sie durch die Scheibe wie eine Kralle hereinfassen zu wollen, als er spürte, wie Claire tief einatmete. Sie wollte schreien – der entsetzliche Anblick dieses schaurigen, fratzen haft verzogenen Gesichtes war zuviel für Claire Shelton. Als er die Hand blitzschnell hochriß und ihr mit aller Gewalt den Mund zuhielt, um sie am Schreien zu hindern, verließ ihn auch das Grausen. Sei ne Hand fuhr zum Revolver, er riß Claire mit herum, wollte schießen… und sah das Gesicht nicht mehr. Vor dem Kabinenfenster wallte nur noch der graue Nebel! * »Nein, nein… nein!« Ein gurgelndes Lallen, ein Wanken, als würde sie zusammenbrechen. »Komm!« keuchte er. »Komm mit, Claire. Nicht schreien – hörst du, nicht schreien! Das war nichts – das war kein Gesicht – kein richtiges Gesicht – nur eine Maske, verstehst du nicht?« »Er ist da, er hat sie alle geholt – er ist da…« Sie wimmerte jetzt, krallte die Fingernägel in seinen Arm. Ihr Kopf flog hin und her, ihre Augen zuckten schrecklich. Das war die Panik, die grau
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sige Angst, er wußte es und schlug zu, weil er kein anderes Mittel wußte. Im nächsten Augenblick erstarrte sie im Schmerz und blickte ihn aus weitaufgerissenen Augen an. Er hatte das Gefühl, daß sie gelähmt war. »Dann nicht!« knurrte Ribault grimmig. »Dann bleibst du hier, ver dammt! Den erwische ich, der trickst mich nicht – nicht mit mir.« Mit einem wilden Ruck riß er sich den ersten Stiefel vom Fuß, warf ihn fort, zerrte den zweiten herunter und spürte, wie sie ihn anstarrte, jedoch immer noch keine Bewegung machte. »Riegel zu!« fauchte er sie an. »Laß niemand herein, du Närrin. Das war eine Maske, sage ich – der Kerl soll sich wundern, schleichen kann ich auch!« Mit einem Satz war er an der Tür, als er das erstickte Lallen hinter sich hörte: »Warte, Jean, laß mich nicht allein, geh nicht allein!« Na also, dachte er zufrieden, schon bei Verstand, was? Ich habe es doch gewußt – sie hat Nerven, sie hat schon ganz andere Sachen erlebt und durchgestanden. »Dann los, komm schon! Hast du deinen Revolver?« »Ja, hier!« Sie kam, aber sie trug die hochhackigen Schnürstiefeletten. »Halt, warte, herunter mit den Stiefeletten!« »Jean, Jean, bist du sicher, daß es nur eine Maske war?« »Verdammt sicher! Damit hat er vielleicht Gore und Tadd verrückt ma chen können, vielleicht auch noch Monk, aber nicht mich – den packe ich mir. Fertig?« »Ja, Jean – und wenn er draußen lauert, wenn er vor der Tür ist und schießt?« »Der schießt nicht, ich weiß es, der will uns auf andere Weise umbringen. Tritt zur Seite, schnell!« Er schob sie an die Wand, packte den Riegel von der Seite, riß ihn zurück und drehte dann den Knauf um. Die Tür flog auf – Ribault hinaus und auf die Planken, den Colt in der Faust. Nur der Nebel war da, die Verschwommenen, verzerrten Umrisse der Reling, aber kein Schatten wartete, kein Schuß krachte. Totenstille, bis das Brüllen des Nebelhornes ihn zusammenfahren ließ. Langsam kam Ribault auf die Knie. Sein Blick flog zur Tür, wo der Schat
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ten Claires auftauchte. Gleich darauf stand er an ihrer Seite, ließ die Kabinentür sacht ein schnappen und preßte die Hand um ihren Unterarm, während er den Mund an ihr Ohr legte. »Paß auf«, wisperte er, »er hat nur nach links davonschleichen können. Dort braucht er nicht zu fürchten, daß ihm jemand aus dem Mittelgang in die Quere kommt. Blicke jetzt nach rechts, ich behalte die rechte Seite im Auge. Wir gehen los – wir gehen ganz leise nach rechts zum Mittelgang. Dort bleiben wir stehen, weil er kommen wird. Sobald du einen Schatten siehst, bewegst du kurz deinen Arm. Nicht schreien, was immer du siehst, verstanden – nur den Arm bewegen. Sehe ich ihn, drücke ich deinen Arm. Ganz leise – los jetzt!« Ribault starrte angestrengt nach rechts, lauschte, während sie nach rechts glitten. Einmal zuckte Claires Arm, sie hob die Hand mit dem Revolver und zeigte zur Reling. Dort war ein Schatten, hing etwas herab und beweg te sich im Nebel. Es war nur eine Jacke, die irgend jemand vergessen hatte. Zwei Revolver senkten sich wieder. Angst, dachte Ribault und grinste schief, Angst kann einem auch helfen, wenn man weiß, daß man tot sein wird, sobald man vor Angst den Verstand verliert. Immer ruhig, kaltes Blut! Wer immer das war – er hört uns nicht, das ist unser Vorteil. Warte, du Satan, wenn ich dich sehe, pumpe ich dich voll Blei. Sie glitten weiter, schoben sich lautlos über die nassen Planken und blie ben dann an der Ecke zum Mittelgang stehen. Ganz langsam schob Ribault den Kopf um die Ecke und starrte in den durch den Gang wallenden Ne bel, der die eine Laterne in der Mitte umkreiste. Nichts zu erkennen, kein Schatten – nichts außer dem dunklen Loch des Treppenaufganges zum Oberdeck. Wenn jemand kommt, dachte er, umarmen wir uns und spielen ein Lie bespaar. Verfluchte Stille, was? Der Hund muß ja kommen, er wird gehört haben, daß wir aus der Kabine sind – er muß uns suchen, er, das ist die Sache. Warte, Freundchen, ich weiß, was ich mache. Das schöne dunkle Loch dort vorn ist gerade richtig. Ribault zog Claire mit in den Gang zur Treppennische. Die Stufen oben verschwammen im Nebel, als er in die Nische blickte und Claire nachzog. Sie standen jetzt in der Kühle des Luftstromes, der durch den Gang über
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die Treppenstufen zum Oberdeck gerissen wurde. Einen Moment legte er seinen linken Arm um ihre Schulter. Seine Hand drückte kurz ihre Brust. Sie sah ihn groß an, nickte, weil sie verstanden hatte, was er ihr sagen woll te: Wir werden es schaffen, wir müssen es schaffen. Sein Kopf rucken wies zur Treppe. Sie folgte ihm, setzte die Füße sacht auf und zählte die Stufen. Wie viele wollte er hochgehen? Wer immer der Teufel war, der in die Kabine geblickt hatte – er mußte hier entlangkom men, wenn er sie suchte. War er dann auf der Treppe, konnten sie ihn er wischen, ehe er ahnte, was auf ihn gewartet hatte. Wie weit noch nach o ben? Ribault stieß sie kurz an, deutete mit dem Colt steil nach oben. In diesem Moment begriff sie, was er vorhatte. Ja, das war die ideale Fal le! Dort oben, wo das Oberdeck gähnend leer vor ihnen lag, gab es nur noch eine Treppe zum sogenannten Plattform‐Deck, auf dem sich der Steu erstand befand. Hier konnte man am Tag hoch über dem Fluß sitzen, hier standen ein paar Bänke hinter einem Schanzkleid und der nur nach hinten offenen Reling. Nach oben, dachte Claire eiskalt, er hat recht. Wenn man sich rechts und links des Aufganges zum Plattformdeck hinlegt und nicht die Geduld ver liert, sieht man den Kerl schon, sobald ihn die Laterne hier von unten her bescheint. Dann hebt er sich gegen den Nebel als dunkler Schatten ab – man kann ihn abknallen, ehe er weiß, was mit ihm passiert. Nur – wie will man dann wieder herunter? Das war das entscheidende Problem, denn knallte es hier oben, fiel je mand polternd die Treppe herab auf das Oberdeck, stürzte dort alles aus den Kabinen. Dann kam man nicht mehr an den Leuten vorbei. Genauso wenig aber konnte man über das Plattformdeck davonlaufen, denn wenn es auch hinten eine steile Treppe gab, lag sie dem Steuerstand zu nahe. Nach dem ersten Schuß würde jemand an der Treppe stehen und sie blo ckieren. Claire Shelton blickte Ribault fragend und zweifelnd an, aber er lächelte nur dünn und zog sie nach oben. Niemand war zu sehen. Der bleiche Fin ger des Scheinwerfers fuhr über die etwa zweieinhalb Schritt hoch über dem Plattformdeck schwebende Nebelschicht hinweg und tauchte sie in ein gespenstisches Grauweiß. »Warte«, flüsterte Ribault, als sie oben waren und hart am Schanzkleid kauerten. »Bleib sitzen und paß auf, Claire!«
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»Was hast du vor?« wisperte sie beklommen. »Wie willst du nach unten kommen?« Ribault lächelte kurz, dann deutete er auf das Ende des Schanzkleides. »Der Ladebaum«, antwortete er leise. »Hinter dem Steuerstand ist der Ladebaum für das Achterdeck. Man braucht gar nicht über die Treppe nach unten zum Oberdeck laufen. Kein Mensch sieht uns, wenn wir uns am Ladebaum herablassen. Ich mache nur eins der Taue los, dann komme ich zurück.« »Nein, nein, Jean, ich bleibe nicht allein – warte, ich komme mit dir nach hinten.« »Zum Teufel!« zischte Ribault. »Du bleibst hier – einer muß den Aufgang im Auge behalten! Er kann noch nicht kommen, er muß uns erst suchen, begreifst du nicht? Nimm dich zusammen, Claire, dir kann nichts passie ren.« Als er sie beschwörend anblickte, erkannte er ihre steigende Furcht. Den noch nickte sie, sank hinter dem Schanzkleid herab und blickte ihm nach, wie er im Nebel verschwand. Das stetige Brüllen des Nebelhornes schmerzte in den Ohren. Hier oben war es so schrecklich laut, daß sie schon nach wenigen Sekunden wie taub war und die Hände hob, um sie gegen die Ohren zu drücken. Claire Shelton hatte den Revolver vor sich auf das beinahe einen Yard hohe Schanzkleid gelegt. Sie lag auf den Knien, blickte starr zum Aufgang und sah doch nichts als seine Umrisse, das Ge rippe des Geländers und den sich ballenden und vorbeiziehenden Nebel. Niemand kam herauf. Das Licht der Laterne schuf einen großen gelben Hof tief unten – es war ein heller Fleck, gegen den sich alles klar abzeich nen mußte, was die Treppe herauf wollte. Das Alleinsein fraß an Claire Sheltons Nerven. Obgleich sie sicher war, daß sie den Unheimlichen sofort ausmachte, wenn er die Treppenstufen hochkam, stiegen ihre Unruhe und Furcht von Sekunde zu Sekunde. Ein mal glaubte sie ein leises Knarren im Brüllen des Nebelhornes zu hören, sie blickte sich um, sah aber nichts von Jean Ribault und duckte sich wieder. Im nächsten Augenblick erstarrte sie vor Entsetzen. Ihr Revolver war vom Schanzkleid verschwunden, als hätte er dort nie gelegen. Claire Shelton stockte das Blut in den Adern, das Grauen jagte ihr eine kalte Haut über den Rücken. Während sie wie gelähmt auf den Fleck blickte, an dem ihr Colt vor drei Sekunden gelegen hatte, bewegte sich
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etwas jenseits des Schanzkleides. Claire Shelton quollen die Augen aus den Höhlen, ihr Mund öffnete sich zu einem grauenhaften Schrei, denn unmittelbar vor ihr tauchte langsam die gräßliche Krallenhand über der Kante des Schanzkleides auf. Die hage ren Finger mit ihren tiefen Rillen und Runen öffneten und schlossen sich. Sie fuhren jetzt über die Handleiste, krallten sich um sie und umspannten sie wie die andere Krallenhand, die einen winzigen Moment später, wie aus dem Nebel hervorwachsend über das weiße Schanzkleid kroch. Zwischen den blutbesudelten Krallen aber, den dunkelhäutigen und wie zerknittert wirkenden Unterarmen, erhob sich ganz langsam der grausige Kopf des alten Indianerhäuptlings. In dieser Sekunde erkannte Claire Shelton, daß sich Jean Ribault geirrt hatte. Dies war keine Maske, kein starres Schnitzwerk aus Holz – es war das schrecklich zugerichtete Gesicht des alten Indianers, umflossen von den strähnigen grauen Haaren. »Nesho‐wan‐take«, kam es schrill aus dem furchtbar verzerrten Mund des Unheimlichen. »Nesho‐wan‐take…« Im nächsten Moment entfuhr ein grauenhafter Schrei Claire Sheltons Brust. Wie von Furien gehetzt flog sie herum, glaubte noch zu sehen, wie sich die schaurige Gestalt zur vollen Größe aufrichtete und dann über das Schanzkleid stieg. »Jean – Jean!« schrie Claire gellend auf. »Jean – Hilfe, der Geist!« Das nackte Grauen ließ Claire Shelton davonstürzen. Sie stürmte schrei end in den über das Plattformdeck wallenden Nebel hinein. Jean kam ihr zur Hilfe, gleich würde sie bei ihm sein, gleich war sie in Sicherheit vor dem grausigen Indianerspuk. »Claire‐Claire!« Irgendwo vor ihr ein Schrei, Ribaults laute Stimme, die nach ihr rief. Und dann riß ihr etwas die Beine weg. Ehe sie erkannte, was es war, das ihr in den Weg geraten war, schlug sie der Länge nach hin. Der Aufprall war so heftig, daß sie einen Moment wie betäubt an Deck liegenblieb. Dann erst sah sie das straffgespannte und knapp über den Planken herführende Seil. »Claire, hierher, hierher, Claire!« »Jean – Jean, er kommt, er kommt!« Die schrille Stimme kam von links, die Stimme war da und schrie gut sechs, sieben Schritt links vor der am Boden liegenden und sich langsam
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aufrichtenden Claire Shelton. Sie war noch vom Sturz zu benommen und begriff viel zu spät, was links vor ihr geschah. Claire, die verzweifelt und in höchster Angst Jean Ribault anrief, wäh rend der Unheimliche sich nach links und an Ribault vorbei entfernte und in den undurchdringlichen Nebelschwaden verschwand. Jean, dachte Claire Shelton, während sie schwankend und mit wildem Schmerz im linken Bein aufstand – Jean, das bin ich nicht, das bin ich gar nicht, ich bin hier, Jean – ich bin doch hier! »Jean, er kommt, der Geist kommt!« »Warte, Claire, warte doch – halt, warte!« Da – da war Jean, jetzt wußte Claire, wo sie ihn zu finden hatte. Hum pelnd, das schmerzende Bein nachziehend, lief Claire Shelton dorthin, wo Jean Ribault gerufen hatte. Im gleichen Augenblick senkte sich der breite Lichtstrahl des Scheinwer fers, aber das Licht wurde von der Nebelschicht zurückgeworfen, wenn gleich es sie etwas erhellte. Dort vorn war Jean, dort lief ein Schatten – es war Jean Ribault. Aber hin ter Claire kam der andere her, flog mit Riesensprüngen näher. »Der Geist, Jean, der Geist!« Die Stimme brach nach einem durch Mark und Bein gehenden Aufschrei ab. Der Schatten vor Claire fuhr jäh herum. Und dann zerriß der Feuer strahl des ersten Schusses den Nebel. * Ribault schrie verzweifelt, doch Claire hielt nicht an. Etwa acht bis zehn Schritt vor ihm auftauchend, kurz im Nebel erscheinend und sofort wieder verschwindend, stürmte Claire in den undurchdringlichen Schleier hinein. Ihre Stimme hatte einen so grauenhaften und durchdringenden Klang, daß Ribault die Unmöglichkeit erkannte, sie jetzt zum stehen zu bringen. Von der gräßlichen Ahnung gepackt, daß sie den unheimlichen Verfolger hinter sich haben mußte, stürzte Ribault jetzt los. »Warte, Claire, warte doch – halt, warte!« schrie er, so laut er konnte. In der nächsten Sekunde duckte er sich etwas. Der Scheinwerferstrahl er hellte den Nebel, das Licht schoß herab, drang jedoch nicht bis zum Deck durch.
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»Der Geist, Jean, der Geist!« Jetzt war Ribault sicher, daß Claire vor Angst und Grauen den Verstand verloren hatte. Mit einem wilden Fluch warf er sich herum – und im glei chen Moment sah er den heranhumpelnden Schatten, eingehüllt von Ne belschwaden. Blitzschnell riß Ribault die Faust hoch, zielte und feuerte. Er schoß wie ein Rasender, hörte den schrillen Aufschrei, sah den Schatten zusammen brechen und rannte mit einem triumphierenden Grinsen los. Im nächsten Augenblick erreichte er die zusammengesunkene Gestalt. Sie war auf der Seite liegengeblieben – Blut lief auf die nassen Planken, breitete sich blitz schnell aus. Ribaults Augen quollen vor Entsetzen aus den Höhlen. Sekundenlang starrte er, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, auf die reglose Gestalt Claire Sheltons herab. Dann erst begriff er, welchem gräßlichen Irrtum er erlegen war. »Claire.« stammelte Ribault. »Claire…« »He, da unten – was ist da los, wer hat geschossen?« Die Stimme brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Mit zuckenden Lip pen und einem so stieren Blick, einem furchtbaren Gurgeln, das sich seiner Kehle entrang, fuhr Ribault in die Höhe. »He, wer ist dort – he?« Der Hund, dachte Ribault, während er sich duckte und rasend schnell nach rechts davonrannte, der dreimal verfluchte Schurke! Wer hat Claire gespielt, wer hat wie sie geschrien, ist davongestürzt? Ich habe sie doch davonlaufen sehen, ich habe gehört, wie sie schrie oder habe ich gar nichts gesehen, nichts gehört, habe ich das Singen nicht vernommen? Ich werde wahnsinnig, ich habe Claire erschossen, ich habe sie getötet, ich! Schritte polterten klirrend über die Eisenleiter zum Steuerstand, zwei Männer schrien, aber er sah sie nicht, denn sie liefen nach links, rannten dorthin, wo er geschossen hatte. Er war schon im Bogen davongelaufen. Jetzt stürmte er nach links, sah den dunklen Finger des Lademastes, dessen unteren Baum er vorhin quer zum hinteren Plattformdeckgeländer ge schwenkt hatte, vor sich aus dem Nebel auftauchen. Rechts führte die steile Treppe herauf, und er hörte tief unten die Rufe, sah geisterhaft bleich ein Licht im grauen, alles verwischenden Dunst. Narren, dachte er frohlockend, als er vorbei war, den ausgeschwenkten
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Ladebaum und das Seil packte, kommt nur herauf, kommt nur, ich stoße mich ab, dann schwingt der Ladebaum herum, entfernt sich so weit von der Treppe, daß ich mich am Seil zum Achterdeck herablassen kann. Mich sieht keiner, mich sieht niemand mehr. Ribault schwang sich bäuchlings auf den Ladebaum. Seine Füße stemm ten sich gegen das Geländer, seine Hände umklammerten das dicke Seil. Im nächsten Moment stieß er sich ab. Leise knarrend schwang der Baum herum, aber dann… Was ist das? dachte Ribault verstört, als der Baum immer weiter nach außen schwang – halt, halt doch, warum schwenkt er denn so weit, wa rum… Sein Blick flog nach links, seine Augen weiteten sich vor Grauen. Er schwebte nun längst über dem Achterdeck, wollte sich gerade loslassen und am Seil in die Tiefe rutschen, als er den schrillen Gesang von links vernahm.« Und dann sah er die schaurige Gestalt dort, wo der Ladebaum am Mast saß, sah genau, wie sie sich einstemmte, begriff, was sie tun wollte und packte blitzschnell das Seil. Dort stand der Geist des alten Indianers und drückte den Ladebaum so schnell herum, daß Ribault nur noch eine Chance sah, er mußte sich am Seil hin‐ und herschwingen, mußte sich ablassen, sonst schwenkte ihn die ser eiskalte Schurke so weit herum, daß er weit neben der Empress of St. Joseph über dem Wasser schweben würde. Da – war das nicht schon das Achterdeck, war es nicht schon die Back bordreling, die dort tief unten im Dunst verschwand? Wasser – nichts als Wasser unter Jean Ribault, ehe seine Hände zupackten, sein Körper in die Tiefe glitt. Pendeln, schwingen und dann doch noch an Bord kommen, doch noch dem Verhängnis und der Vergeltung entgehen. Ribaults letzter Blick traf jene furchtbare Gestalt und fing das Blitzen ein. Ein Messer, dachte Ribault, während sich seine Kehle zusammenschnür te, sein grausiger Aufschrei durch die Nacht hallte – er zerschneidet das Seil, ich falle in den Missouri, ich falle! Er schrie, spürte das Rucken und fiel bereits. Es war Nebel, durch den er mit einem langgezogenen, grauenhaften Schrei stürzte und rasend schnell dem Fluß entgegenkam. Das Wasser wartete auf ihn, der immer vor ihm Angst gehabt hatte, der
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nicht schwimmen gelernt hatte. Im Wasser wartete Nesho‐wan‐take, lauer ten die Krallen der Vergeltung. Der Schrei ließ alles zur Backbordseite stürzen. Sie hörten das schwere Klatschen, als Ribault in den Missouri fiel und wie ein Stein versank. Irgendwo auf dem glitschigen Deck lag einer und war über die Frau ge fallen – lag da, starrte auf das Blut und begann zu schreien. »Mann über Bord – Mann über Bord!« »Hufe… Hilfe!« Gurgelnd, schaurig erstickend der Hilferuf auf der Höhe des Hecks. Dorthin rannten sie jetzt und hörten, wie das Stampfen leiser wurde, das Klatschen der Schaufelräder endete. »Hilf…« Noch einmal hochgekommen – aber jetzt, jetzt packten ihn die Krallen und zogen ihn in die Tiefe. »Leuchtet – leuchtet doch! Verfluchter Nebel! Der Strahl dringt nicht bis zur Wasserfläche durch, Sir!« ’:: »Das Boot aussetzen, schnell, Leute!« Der Scheinwerferstrahl zuckte herum, fand nichts, stieß nur auf Nebel schwaden. Alles war zum Heck und zur Backbordseite gerannt, niemand sah den Schatten, der sich blitzschnell an einem dünnen Strick vom Platt formdeck zum Oberdeck herabließ. Der Strick lief doppelt um die Reling oben, wurde hastig eingezogen und zusammengerollt. Irgendwo am Oberdeck öffnete sich lautlos eine Kabinentür – der Schat ten war fort. »He!« schrie jemand am Heck. »He, Mister Wilkins – Mister Wilkins, wir hören nichts mehr, er antwortet nicht!« »Verfluchter Nebel!« knirschte Wilkins. Der Steuermann schüttelte sich. »Sir – keine Spur zu sehen, der Nebel ist einfach zu dicht.« »Kommen Sie herauf, Wilkins, hier liegt eine Frau – sie ist tot, erschossen worden. Stellt die Suche ein, Leute!« Der, den sie nun nicht mehr suchten, war von der Krallenhand gepackt worden und längst fort. Männer fluch ten, hüllten sich fröstelnd und aus dem ersten Schlaf gerissen in ihre Män tel oder schnell umgeworfenen Decken. Einige Minuten später nahm die Empress of St. Joseph wieder Fahrt auf. Das Nebelhorn, das solange ge schwiegen hatte, brüllte seine schaurigen Töne durch den Nebel über den breiten Fluß.
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Irgendwann schloß Wilkins die Tür der Kabine im Mitteldeck hinter sich ab und dachte an die Frau, die sie in die Seilkammer zu den Männern ge legt hatten. Dort lagen sie jetzt – drei Männer: Henry Ribault, Percy Monk und Steve Shringley. »Hole mich der Teufel, wenn ich das verstehe«, sagte Wilkins bissig und sah Hendriks, den Zweiten Maat, der für alles, was in der Seilkammer lag, zuständig war, beklommen an. »Irgendwie, Hendriks, habe ich das ver dammte Gefühl, daß diese Männer etwas gemeinsam gehabt haben müs sen. Ich wette jede Summe – sie haben sich gekannt, wenn Jean Ribault das auch bestritten hat. Er muß es gewesen sein, der über Bord ging, er muß die Frau erschossen haben, aber warum?« »Weiß ich?« murmelte Hendriks achselzuckend. »Sagte er nicht, er hätte für über achttausend Dollar Pelze an Bord. Was wird nun aus seiner La dung, Mister Wilkins?« »Sie kommt ins Lager in Saint Louis, wie das so üblich ist, wenn sich kein Eigentümer mehr findet. Und dann wird sie versteigert, meist für den hal ben Preis oder noch weniger.« »Dann werden sie wohl die Gatbys ersteigern«, brummte Hendriks. »Jim Gatby ist auch an Bord, aber man sieht ihn kaum. Es heißt, jemand hätte ihn durch einen Schuß aus dem Hinterhalt in den Black Hills verwundet.« »Ja, ich habe davon gehört. Die Gatbys sind alle zäh wie Leder. Sein Va ter soll einmal einer ganzen Horde Upsarokas entkommen sein und sie nach und nach erwischt haben. Einen Gatby wirft so leicht nichts um. Nun gut, gehen wir – machen wir alles zum Anlaufen von Rulo Point fertig. Ich halte jede Wette, dieser trottelige Sheriff legt uns mindestens einen Tag an die Kette, ehe er mit seiner Untersuchung fertig ist.« Wilkins lehnte sich über das Geländer, spuckte in den Nebel und hörte ein kurzes Klatschen. Irgend etwas war von irgendwo in den Missouri geworfen worden. Es war ein kleines Paket Lederhaut, dünn geschabtes und braunes Leder, zusammengeklebt vom zähen Leim, mit dem man sich alles auf die Haut kleben konnte. »Erledigt«, sagte das Mädchen leise, schloß die Tür hinter sich, lehnte ich an die Wand und zog die Schultern hoch, als könnte es das Frösteln nicht ertragen. »Brauchen Sie mich noch, Jim?« Der Mann stand vor dem Spiegel, immer noch bleich, viel hagerer als loch vor Wochen und strich sich über das gerötete Kinn, an dem der Leim
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zu fest geklebt hatte. »Das ist also das Ende einer Partnerschaft«, sagte er kühl. »Jeder hat sei nen Teil erledigt – nun ist alles vorbei, das denkst du doch, oder?« »Das hatten wir abgemacht, oder, Jim?« »Ja«, sagte er, ging zum Bett und setzte sich auf die Kante. »Wenn man sich etwas vorgenommen hat, soll man keinen Gedanken an andere Dinge verschwenden – das sagt das Gesetz der Wildnis, das niemand geschrieben hat. Eine Partnerschaft hört auf, wenn die gemeinsame Aufgabe beendet ist, heißt es. Glaubst du wirklich, daß sie jetzt zu Ende ist?« »Was sollte ich sonst glauben, Jim?« fragte Nancy McLaine leise. »Sie wis sen, mir tut nichts von dem Leid, was wir getan haben. Es mußte sein, es gab keinen anderen Weg. Wir haben nichts leichtfertig getan, oder? Es ist vorbei, Jim, Sie haben es damals gesagt und heute wiederholt.« »Ich habe von dieser einen Sache gesprochen, von nichts sonst«, antwor tete er ernst. »Diese Sache ist vorbei, das ist richtig, aber wir könnten noch andere Dinge tun, weil wir uns blindlings verstehen und jeder immer ge wußt hat, was der andere wollte. Also, was will ich jetzt? Du weißt es, o der?« »Ja«, sagte sie und biß sich sekundenlang auf die Lippen. »Jim, uns ver bindet zuviel, aber ist es nicht ein Teil Dankbarkeit? Ist es wirklich sehr viel mehr? Menschen, denen man sein Leben verdankt, steht man immer sehr nahe, wenn man nichts auf die leichte Schulter nimmt. Ich glaube, wir soll ten ein paar Tage darüber nachdenken und uns prüfen.« »Du brauchst das?« »Nein, aber… Jim, ich gehe jetzt, wir reden morgen weiter.« »Wie du willst.« Er sah ihr nach, als sie zur Verbindungstür ging, zog sich aus, warf sich auf das Bett und hörte, wie sie den Riegel vorschob. Jetzt wäscht sie sich, dachte Jim Gatby, ich kenne jedes Geräusch, das von drüben kommt. Sie steht vor dem Spiegel und sieht sich an, und sie fragt sich jetzt einige Dinge, deren Antwort sie längst kennt. Wenn man nichts zu bereuen und zu bedauern hat, wenn man weiß, daß etwas sein mußte und jede Jury genauso entschieden oder jeder Pelztierjäger sie auf der Stel le erschossen hätte, ganz gleich ob von vorn oder hinten, dann denkt man auch an andere Dinge. Jim Gatby lauschte und wußte, daß sie jetzt ihr Haar kämmte und zum
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Bett gehen würde. Er wartete, hörte das Bett leise knarren, das Klirren des Lampenzylinders, als sie das Licht löschte. Es ist doch Wahnsinn, grübelte Gatby, im Grunde macht man sich etwas vor, denn man weiß ganz genau, was sein wird, was kommen muß. Es führt zu nichts, wenn man etwas vor sich herschiebt, es geschieht ja doch unaufhaltsam. Er verschränkte die Arme unter dem Nacken, starrte zur Decke und war tete. Dann stand er auf, ging zur Verbindungstür und dachte angestrengt nach. Ich werde nicht klopfen, dachte er, du hast den Riegel vorgelegt, was du sonst nie getan hast, Nancy. Stolz ist eine gute Sache, zuviel Stolz unge sund. Es gibt keine Tür, keinen Riegel zwischen uns, das weißt du, also machst du die Tür auf. Ich habe das Licht gelöscht, um es dir leichter zu machen. Es würde morgen doch passieren – oder übermorgen, vielleicht auch erst in drei Tagen, aber es ist sinnlos, wenn man drei Tage verliert. Es schabte leise, dann knackte es kaum hörbar. Stoff raschelte, die Hand berührte ihn – und die Hand war ziemlich kalt. Die Hand wanderte über seine Brust hoch, die andere kam und legte sich um seinen Nacken. Sie zitterte heftig, als er sie in die Arme nahm, hochhob und trug. »Du hast mein Leben«, sagte sie zitternd, als er sie sinken ließ. »Ich weiß«, entgegnete er. »Ich werde es schützen solange ich da bin. Du hast Angst?« »Ja, Jim.« Ich habe ihr Leben, dachte er und hielt sie fest, damit sie nicht mehr fror, ich habe ihr Leben. Welche Frau sagt das schon und bleibt auch dabei? Was immer ich tue, ich werde diese vier Worte nie vergessen und danach han deln, denn würde ich es einmal nicht tun, brächte ich sie damit um. Plötzlich war ihm, als kröche etwas sacht durch das Schlüsselloch und die Ritzen der Tür herein: Nebelschleier, die sich in einer Ecke zusammen ballten. Ein Flimmern schien durch den Raum zu geistern, unsichtbare Augen lä chelten, zwinkerten, glänzten. Hör zu, Nesho‐wan‐take, der du in jedem Wassertropfen wohnst, dachte Jim Gatby, du bist hier und neugierig, ich weiß es. Nesho‐wan‐take, Gott des Nebels und der Dämpfe, du bist ein alter, neugieriger Bursche und störst mich! Willst du nicht in deinen Fluß zurückkriechen und uns wenigs
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tens jetzt in Frieden lassen? Du hast uns guten Nebel geschickt, aber jetzt könntest du ihn mitnehmen, wenn du gehst. Na, alter Nesho‐wan‐take, tust du es? Es war, als seufzte jemand klagend. Danach verschwand das Flimmern – das Lautlose kroch hinaus. Und draußen… »Sir, der Nebel ist fort!« schrie draußen an Deck jemand. »Sir, dort vorn ist Rulo Point – klare Sicht, Sir, bei Gott!« Bei Gott und Nesho‐wan‐take, der seine riesigen Hände aus dem Wasser gereckt und den Nebel eingefangen hatte. Manchmal, sagen die Upsarokas, die man auch die Crows nennt, wenn er freundlich sein will, spannt er seinen leuchtenden Bogen aus Milliarden Wassertröpfchen von einem Himmel zum anderen und läßt ihn in allen Farben schimmern. Manchmal ist er neugierig und kriecht in jedes Haus, sieht in jeden Win kel und belauscht die roten Krieger und Squaws. Manchmal aber streckt er seine Krallenhände aus und zieht jene ins Ver derben, die nicht an ihn glauben und ihm freveln. Nesho‐wan‐take sieht alles, denn er ist überall, in jedem noch so kleinen Wassertröpfchen.
ENDE In vierzehn Tagen erscheint in unserer Serie GRUSEL‐WESTERN Band 37 Kauf dem Teufel die Seele ab! Er hatte dem Teufel die Seeleverkauft…. und nun wollte er sie
wiederhaben
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