Ljudmila Ulitzkaja
Die Lügen der Frauen
Ljudmila Ulitzkajas Buch ist eine erzählerische Erkundung der weiblichen Seele...
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Ljudmila Ulitzkaja
Die Lügen der Frauen
Ljudmila Ulitzkajas Buch ist eine erzählerische Erkundung der weiblichen Seele. Warum lügen Frauen, und warum tun sie es so anders als Männer? 'Die Lügen der Frauen' ist ein Zyklus gewitzter und weiser Geschichten und zugleich das Porträt einer hinreißenden Frau, Shenja, die nach und nach von der Zuhörerin zur eigentlichen Hauptfigur avanciert.
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Ljudmila Ulitzkaja Die Lügen der Frauen Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Carl Hanser Verlag
Die russische Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel Skvoznaja linija bei EKSMO in Moskau.
2003
ISBN 3-446-20360-5 © Ljudmila Ulitzkaja 2002 Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe: © Carl Hanser Verlag München Wien 2003 Satz: Filmsatz Schröter, München Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany
Inhalt
Diana.................................................................................. 5 Bruder Jurotschka ............................................................ 35 Ende der Geschichte ........................................................ 52 Eine Naturerscheinung..................................................... 63 Der Glücksfall.................................................................. 77 Die Kunst zu leben......................................................... 106
Diana
D
as Kind hatte Ähnlichkeit mit einem Igel: störrisches, stachliges dunkles Haar, eine neugierige lange, spitze Nase, das amüsante Gebaren eines selbständigen Geschöpfs, das ständig an allem herumschnüffelte, und schließlich eine totale Unzugänglichkeit für Zärtlichkeiten, Berührungen, geschweige denn mütterliche Küsse. Doch auch seine Mama war allem Anschein nach ein Igelwesen - sie berührte es kaum, reichte ihm nicht einmal auf dem steilen Pfad vom Strand hinauf zum Haus die Hand. Der Junge kletterte vor ihr her, sie lief langsam hinter ihm, ließ ihn allein an Grasbüscheln Halt suchen, sich hochziehen, abrutschen und wieder hinaufsteigen, den kürzesten Weg zum Haus anstelle der sanft aufsteigenden Straße, die normale Urlauber benutzten. Er war noch keine drei Jahre alt, doch bereits von so ausgeprägtem Charakter, so unabhängig, daß auch seine Mutter manchmal vergaß, daß er noch ein Kleinkind war, und ihn behandelte wie einen erwachsenen Mann, von dem sie Schutz und Hilfe erwartete; dann besann sie sich, nahm den Jungen auf den Schoß, ließ ihn aufhüpfen, sang »Hoppe, hoppe, Reiter...«, und er juchzte, wenn er in den aufgespannten Rock zwischen den Knien der Mutter rutschte. »Fällt er in den Graben...« sagte die Mutter. »Fressen ihn die Raben!« erwiderte er freudig. So lebten sie eine ganze Woche zu zweit in dem großen Haus, in dessen kleinstem Zimmer - die übrigen warteten blitzblank geputzt auf ihre Bewohner. Es war Mitte Mai, die Saison begann gerade erst, zum Baden war es noch zu kühl, aber dafür war das subtropische Grün noch frisch, voller Saft, und die Morgen waren so klar und rein, daß Shenja, seit sie -5-
eines Tages zufällig im Morgengrauen erwacht war, keinen Sonnenaufgang mehr versäumte, das tägliche Schauspiel, das sie bislang nur vom Hörensagen gekannt hatte. Sie lebten hier wunderbar friedlich, so daß Shenja sogar Zweifel kamen an den Diagnosen, die Kinderpsychologen ihrem lebhaften, zappeligen Sohn gestellt hatten. Er war nicht bockig, bekam keine Tobsuchtsanfälle, man hätte ihn sogar als artig bezeichnen können, wenn Shenja eine Vorstellung davon gehabt hätte, was genau »artig« bedeutete. In der zweiten Woche hielt eines Tages zur Mittagszeit vor dem Haus ein Taxi, und ihm entquoll ein ganzer Haufen Leute: erst der Fahrer, der ein sonderbares Eisengestänge unbekannter Bestimmung aus dem Kofferraum nahm, dann eine große schöne Frau mit einer Löwenmähne aus rotem Haar, dann eine krumme Alte, die unverzüglich in das Vehikel verfrachtet wurde, das aus dem flachen Gestänge entstanden war, dann ein Junge, etwas älter als Sascha, und schließlich die Hausherrin Dora Surenowna, festlich herausgeputzt und noch hektischer als sonst. Das Haus stand an einem Hang, windschief und ganz für sich; die Chaussee verlief unterhalb, eine zweite, unbefestigte Straße oberhalb des Anwesens, und ein Stück abseits davon lag ein Pfad - der kürzeste Weg zum Meer. Dafür war das Grundstück selbst wunderbar angelegt: In der Mitte stand ein großer, von Obstbäumen umringter Tisch, und zwei einander gegenüberstehende Häuser, Dusche, Toilette und ein kleiner Schuppen waren darum gruppiert wie eine Theaterkulisse. Shenja und Sascha saßen am Ende des Tisches und aßen Makkaroni, doch als die ganze Gesellschaft in den runden Hof einfiel, verging ihnen der Appetit. »Hallo, ihr beiden!« Die Rothaarige warf Koffer und Tasche ab und ließ sich auf die Bank fallen. »Euch habe ich hier noch nie gesehen!« Damit war sofort klargestellt: Die Rothaarige war hier -6-
Stammgast, also die Hauptperson, Shenja und Sascha dagegen waren neu und damit zweitrangig. »Wir sind das erste Mal hier«, sagte Shenja beinahe entschuldigend. »Einmal ist immer das erste Mal«, erwiderte die Rothaarige darauf philosophisch und ging in das große Zimmer mit der Terrasse, auf das Shenja anfangs spekuliert hatte, das ihr aber von der Gastgeberin entschieden verweigert worden war. Der Taxifahrer schleppte die Alte in ihrem Käfig herunter, und die Alte quiekte mit schwacher Stimme etwas, das nicht russisch klang. Sascha stand vom Tisch auf und entfernte sich mit stolzer, unabhängiger Miene. Shenja räumte die Teller ab und trug sie in die Küche: Ein Kennenlernen war ohnehin unvermeidlich. Die Rothaarige verlieh diesem Sommer schlagartig einen neuen Akzent. Der weißblonde Junge mit der Stupsnase und dem unglaublich schmalen Schädel wandte sich eindeutig auf englisch an die Rothaarige, doch was er sagte, konnte Shenja nicht verstehen. Sehr wohl dagegen die Worte der rothaarigen Mama, die ihn unterbrach: »Shut up, Donald.« Shenja hatte noch nie leibhaftige Engländer gesehen. Und diese Rothaarige und ihre Familie entpuppten sich als echte Engländer. Das eigentliche Kennenlernen geschah am für südliche Begriffe späten Abend, als die Kinder im Bett lagen, das Abendbrotgeschirr abgewaschen war und Shenja unter der Tischlampe, über die sie ein Tuch gebreitet hatte, damit der schlafende Sascha nicht geblendet wurde, »Anna Karenina« las, um einige Ereignisse ihres zerbröckelnden Privatlebens zu vergleichen mit dem echten Drama einer richtigen Frau - die einen schneeweißen Hals hatte, Ringellöckchen, weibliche Schultern, Spitzenbordüren am Negligé und ein handbesticktes -7-
rotes Täschchen in der schmalen Hand. Shenja hätte nicht gewagt, zur neuen Nachbarin auf die Terrasse hinauszugehen, doch diese pochte mit ihren kräftigen polierten Fingernägeln ans Fenster, und Shenja ging hinaus, nachdem sie einen Pullover über den Schlafanzug gezogen hatte - nachts war es noch empfindlich kalt. »Was habe ich wohl gemacht, als ich am Bonzenladen vorbeikam?« fragte die Rothaarige streng. Shenja schwieg irritiert, ihr fiel nichts Geistreiches ein. »Ich habe zwei Flaschen Krimwein gekauft. Oder magst du vielleicht keinen Portwein, trinkst du lieber Sherry? Na, komm schon!« Shenja legte »Anna Karenina« beiseite und folgte wie hypnotisiert dieser prachtvollen Frau, die in eine Art Poncho oder Plaid gehüllt war, jedenfalls etwas Flauschiges, grün-rot Kariertes. Auf der Terrasse herrschte ein wildes Durcheinander. Koffer und Tasche waren ausgepackt, und Shenja staunte, welche Unmenge an bunten Klamotten sie dabei hatten - alle drei Stühle, das Klappbett und der halbe Tisch waren damit überhäuft. In dem Rollstuhl saß die Alte, ein offenbar vor langer Zeit vergessenes entschuldigendes Lächeln im bleichen, etwas schiefen Gesicht. Ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, goß die Rothaarige den süßen Rotwein in drei Gläser; in das letzte etwas weniger - das reichte sie ihrer Mutter. »Zu Mutter kannst du Susan Jakowlewna sagen, aber du kannst es auch lassen. Sie versteht kein Wort Russisch, vor dem Schlaganfall konnte sie ein bißchen, aber danach hat sie alles vergessen. Englisch auch. Sie kann nur noch Holländisch. Die Sprache ihrer Kindheit. Sie ist ein reiner Engel, aber völlig ohne Verstand. Trink, Granny Susi, trink.« Zärtlich reichte sie ihr das Glas, und die Greisin nahm es mit beiden Händen. Voller Interesse. Es schien, als habe sie doch -8-
noch nicht alles auf der Welt vergessen. Der erste Abend war der Familiengeschichte der Rothaarigen gewidmet - sie war beeindruckend. Der geistesschwache Engel holländischer Abstammung hatte eine kommunistische Jugend gehabt und sein Schicksal mit einem irischstämmigen Untertanen des Vereinigten Königreichs verbunden, einem Offizier der britischen Armee und sowjetischen Spion, der gefaßt, zum Tode verurteilt, schließlich gegen etwas Gleichwertiges ausgetauscht und in die Heimat des Weltproletariats gebracht wurde. Shenja hörte mit offenem Mund zu und merkte gar nicht, wie sie sich betrank. Die Alte im Rollstuhl schnarchte leise, dann rann ein diskreter Strahl an ihren Reinen herab. Ireen Leary - was für ein Name! - klatschte in die Hände. »Ach, jetzt hab ich nicht aufgepaßt, hab vergessen, sie auf den Topf zu setzen. Na, nun ist es sowieso egal.« Sie erzählte noch eine weitere Stunde lang ihre beneidenswerte Familiengeschichte, und Shenja wurde immer berauschter, nicht mehr vom Wein, den sie bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken hatten, sondern weil sie so hingerissen und begeistert war von ihrer neuen Bekannten. Sie trennten sich erst nach zwei, nachdem sie die vom Schlaf ganz benommene und absolut nichts begreifende Susi flüchtig gewaschen und umgezogen hatten. Am nächsten Tag ging es laut und geschäftig zu - am Morgen machte Shenja Frühstück, fütterte alle mit Haferbrei und ging dann mit den beiden Jungen spazieren. Der englische Junge Donald, dessen Stammbaum ungeachtet seiner Geburt in Rußland ebenfalls beachtlich war - sein Großvater väterlicherseits war ein richtig berühmter, allerdings ebenfalls enttarnter Spion gewesen und gegen etwas noch Wertvolleres ausgetauscht worden als der Großvater mütterlicherseits -, erwies sich als wahrer Schatz: freundlich, wohlerzogen, und, -9-
was Shenja für ihn nicht weniger einnahm als für seine rothaarige Mutter, er behandelte den zappeligen, nervösen Sascha liebevoll und großmütig, wie ein Älterer einen Jüngeren. Er war ja auch älter als Sascha, immerhin schon fünf. Er offenbarte sofort eine irgendwie erwachsene Großzügigkeit: Er überließ Sascha ohne zu zögern sein raffiniertes Spielzeugauto und zeigte ihm, wie man die Karosserie hochklappen konnte. Als sie den Getränkekiosk erreichten, wo Sascha jedesmal nörgelte und ihm Shenja meist ein Wasser in einem trüben Glas kaufte, schob der fünfjährige Junge das ihm hingehaltene Glas beiseite und sagte: »Nach Ihnen. Trinken Sie erst.« Ein richtiger kleiner Lord. Als Shenja nach Hause kam, saß Ireen mit der Vermieterin am Tisch im Hof, und die Art, wie die stolze Dora um die neue Urlauberin herumscharwenzelte, offenbarte, daß Ireen hier hoch geschätzt wurde. Dora bewirtete sie alle mit Hammelsuppe, die heiß und zu scharf war. Der englische Junge aß langsam und sehr gesittet. Vor Sascha stand eine Schüssel, und Shenja machte sich darauf gefaßt, gleich leise auf Sascha einreden zu müssen, der beim Essen sehr eigen war: Er aß nur Kartoffelbrei mit Buletten, Makkaroni und Haferbrei mit gezuckerter Kondensmilch. Sonst nichts. Niemals. Doch Sascha sah den kleinen Lord an und tauchte seinen Löffel in die Suppe. Und aß, wohl zum ersten Mal in seinem Leben, etwas, das nicht auf seiner Liste stand. Dann hielten die Kinder Mittagsschlaf, die Frauen blieben am Tisch sitzen. Dora und Ireen schwatzten über die vorige Saison, erzählten Lustiges über Leute, die Shenja nicht kannte, und lange zurückliegende Urlaubsgeschichten. Susi saß im Rollstuhl, auf den Lippen ihr ständiges Lächeln, das ebenso unverrückbar und fehl am Platz wirkte wie das braune Muttermal zwischen Nase und Mund. Shenja blieb noch eine Weile sitzen, trank eine Tasse von Doras ausgezeichnetem -10-
Kaffee und zog sich zurück - sie legte sich neben Sascha und wollte zu ihrer »Anna Karenina« greifen. Doch am hellichten Tag zu lesen erschien ihr irgendwie ungehörig - sie legte den zerfledderten Band beiseite und nickte ein, wobei sie sich im Halbschlaf vorstellte, wie sie am Abend mit Ireen auf der Terrasse sitzen würde, ohne Dora. Und Wein trinken. Und wie schön das sein würde. Und hoch oben, wie die Wolken am Himmel, schwebte plötzlich der Gedanke, daß sie schon den zweiten Tag, seit Ireens Ankunft, kein einziges Mal an das verheerende Unglück in ihrem Leben gedacht hatte, die Katastrophe - diese bucklige, schwarzbraune Krabbe, die sie von innen aushöhlte. Ach, zum Teufel damit, so spannend war das nun auch wieder nicht, dieses ganze Theater um LiebeTriebe. Dann sank sie tief in den Schlaf hinab. Als sie erwachte, schwebte sie noch immer ein wenig auf der Wolke, denn plötzlich verspürte sie eine Heiterkeit wie schon lange nicht mehr; sie weckte Sascha, zog ihm Hosen und Sandalen an, und sie gingen in die Stadt, wo ein Karussell stand, das Sascha sehr liebte, und gegenüber davon befand sich der Bonzenladen. Warum eigentlich Bonzenladen? Das muß ich Ireen fragen, dachte Shenja. Zwei Flaschen Portwein. Mit Wein sah es in diesem Jahr gut aus: den hatte noch kein Gorbatschow angerührt, und Kolchose, Sowchose und ein paar alte Bauern stellten Krimwein her - roten und weißen, Portwein und Sherry, trockenen und halbtrockenen, reinen und verschnittenen, teuren und billigen. Zucker, Butter und Milch dagegen gab es nicht. Aber das vergaß man, das war unwesentlich. Denn wesentlich war das Leben selbst. Am Abend tranken sie auf der Terrasse erneut Wein. Nur die Mutter brachten sie heute früher ins Bett. Sie widersetzte sich nicht. Überhaupt nickte sie immer nur, bedankte sich in einer fremden Sprache und lächelte. Hin und wieder rief sie plötzlich: »Ireen!«, doch wenn ihre Tochter kam, lächelte sie -11-
verlegen, weil sie inzwischen nicht mehr wußte, warum sie nach ihr gerufen hatte. Ireen hatte den linken Arm auf den Tisch gestützt und die Wange in die Hand. In der Rechten hielt sie das Glas. Spielkarten lagen über den ganzen Tisch verstreut - Reste einer zerstörten Patience. »Seit einem Monat probiere ich daran herum. Sie will einfach nicht aufgehen. Was hältst du eigentlich von Karten, Shenja?« »Ich weiß nicht. Als Kind habe ich mit Großvater Schafskopf gespielt...« Shenja wunderte sich über die Frage. »Ist vielleicht auch besser. Aber ich mag Karten. Zum Spielen und zum Wahrsagen. Als ich siebzehn war, da hat eine Wahrsagerin mir etwas prophezeit. Ich hätte es vergessen sollen. Habe ich aber nicht. Und tatsächlich läuft alles haargenau so, wie sie damals gesagt hat.« Ireen nahm ein paar Karten, streichelte ihre bunte Rückseite und warf sie auf den Tisch - zuoberst lag die Kreuzneun. »Die kann ich nicht leiden, aber sie drängt sich dauernd auf... Hau ab! Die macht mich ganz schwach.« Shenja überlegte eine Weile und fragte dann: »Das heißt, du weißt immer, wie es ausgeht? Ist das nicht langweilig?« Ireen hob ihre gelben Augenbrauen. »Langweilig? Du hast ja keine Ahnung. O nein, keine Spur langweilig. Ach, wenn ich dir erzählen würde...« Ireen verteilte den Rest der ersten Flasche. Sie trank einen Schluck, dann schob sie das Glas beiseite. »Du hast bestimmt schon mitgekriegt, Shenka, daß ich schwatzhaft bin, oder? Ich plaudere alles aus, behalte kein Geheimnis für mich. Auch fremde nicht, denk dran, ich warne dich für alle Fälle. Aber eins habe ich noch nie jemandem erzählt. Das erzähle ich nur dir. Ich weiß auch nicht, warum, -12-
aber mir ist plötzlich danach...« Sie lachte spöttisch, zuckte die Achseln. »Ich staune selbst.« Shenja stützte ebenfalls den Ellbogen auf den Tisch und die Wange auf die Hand. Sie saßen sich gegenüber und starrten sich nachdenklich und versonnen an, als sähen sie in einen Spiegel. Auch Shenja staunte, daß Ireen ausgerechnet sie zur Vertrauten für ihre Offenbarung erkoren hatte. Und fühlte sich geschmeichelt. »Meine Mutter war eine Schönheit, sie sah aus wie Deanna Durbin, wenn dir das was sagt. Und sie war schon immer eine Idiotin. Das heißt, keine Idiotin, aber schwachsinnig. Ich liebe sie sehr. Aber in ihrem Kopf herrschte immer ein heilloses Durcheinander: einerseits ist sie Kommunistin, andererseits Protestantin, und dann schwärmt sie auch noch für den Marquis de Sade. Sie konnte jederzeit ohne Zögern alles hergeben, was sie besaß, und zugleich meinem Vater eine Szene machen, weil sie auf der Stelle den Badeanzug haben wollte, den sie neunzehnhundertdreißig auf dem Boulevard Saint-Michel gekauft hatte, an der Ecke, die ganz nahe am Luxembourg liegt. Als Vater starb, war ich sechzehn, von da an waren wir beide allein. Sie war - ich bewundere meinen Vater und verstehe bis heute nicht, wie er das bei ihrem unglaublich schweren Leben ausgehalten hat - von geradezu triumphaler Hilflosigkeit: Sie ging nicht einen Tag arbeiten, denn sie beherrschte zwar zwei Muttersprachen, Englisch und Holländisch, hat aber nie Russisch gelernt. In vierzig Jahren! Vater arbeitete beim Rundfunk, man hätte auch sie eingestellt. Aber selbst dort, wo Russisch im Grunde nicht nötig war, hätte sie zumindest ›Guten Tag!‹ sagen oder das Schild ›Ruhe! Aufnahme!‹ lesen müssen. Das konnte sie nicht. Vater starb, und ich ging sofort arbeiten, ohne jede Ausbildung, aber ich kann erstklassig Maschine schreiben, in drei Sprachen. -13-
Also. Zur Wahrsagerei. Ich hatte eine alte Freundin, eine Engländerin, die in den zwanziger Jahren in Rußland hängengeblieben war. Es gibt bei uns eine kleine Kolonie russischer Engländer. Die kenne ich natürlich alle. Das sind entweder Kommunisten oder Techniker, die in den zwanziger Jahren, noch in der NÖP-Zeit, nach Rußland gekommen sind und hier Wurzeln geschlagen haben. Diese Anna Kork also, die war wegen ihrer Liebe hiergeblieben. Die Liebe wurde erschossen, aber sie hatte Glück und überlebte. Hat natürlich gesessen, klar. Und ein Bein verloren. Sie ging fast nie aus dem Haus. Sie gab Englischunterricht. Und betätigte sich als Wahrsagerin. Fürs Wahrsagen nahm sie kein Geld. Nur Geschenke, die nahm sie. Ich habe einiges von ihr gelernt, aber ich bin ihr auch nützlich gewesen. Einmal, als ich gerade bei ihr war, kam so eine Schönheit zu ihr, die Frau von einem General oder einem Parteiboß. Sie konnte wohl keine Kinder kriegen oder wollte einen Rat, ob sie ein Kind adoptieren sollte. Meine Anna redete mit ihr in ihrer üblichen Art, radebrechte, was das Zeug hielt, mit unglaublichem Akzent. Dabei sprach sie nicht schlechter Russisch als du und ich, das kannst du mir glauben Kunststück, nach acht Jahren Lager. Aber wenn sie es für nötig hielt, legte sie einen heftigen Akzent auf. Und fluchen konnte sie - dagegen ist das Künstlertheater gar nichts! Sie erklärt also dieser Schönen - nicht ja, nicht nein, verschnörkelt und vielsagend, wie es sich für eine Wahrsagerin gehört: ›Du wirst vielleicht ein Kind haben, aber besser, du hättest keins...‹ Dann dreht sie sich plötzlich zu mir um und sagt: ›Und du fängst mit dem fünften an, denk daran. Mit dem fünften.‹ Mit dem fünften? So ein Quatsch. Ich habe es sofort wieder vergessen. Doch als die Stunde kam, fiel es mir wieder ein.« Ireen ließ das Kinn wieder in die Hand sinken. In ihren Augen saß ein leises animalisches Funkeln, wie bei einer Katze. Sanft, behaglich und ein wenig gefährlich. -14-
Shenja hatte Freundinnen aus der Studienzeit, mit denen sie über wichtige und substantielle Dinge sprach, über Kunst und Literatur oder über den Sinn des Lebens. Sie hatte eine Diplomarbeit über die russischen Dichter der Moderne geschrieben, und ihr Dissertationsthema war für die damalige Zeit äußerst elitär: »Poetische Gemeinsamkeiten von Dichtern modernistischer Strömungen und die Symbolisten«. Shenja hatte großes Glück: Ihre Diplombetreuerin war eine bejahrte Professorin, die sich in der russischen Literatur so heimisch fühlte wie in ihrer eigenen Küche. Diese von den Studenten und namentlich den Studentinnen vergötterte Anna Weniaminowna kannte alle diese Dichter nicht nur vom Hörensagen, sondern persönlich: Sie war so gut wie befreundet mit Anna Achmatowa, hatte Tee getrunken mit Majakowski und Lilja Brik, sie hatte Mandelstam lesen gehört und sogar Kusmin noch kennengelernt. Durch Anna Weniaminowna lernte auch Shenja renommierte Leute kennen, sie verkehrte in bedeutenden intellektuellen Kreisen und hoffte, mit der Zeit selbst etwas Bedeutendes zu werden. Wenn sie ehrlich war, hatte sie derart banales Geschwätz wie an diesem Abend noch nie gehört. Doch merkwürdigerweise steckte in dieser Banalität etwas Wichtiges, Substantielles und sehr Lebendiges. Womöglich sogar der vielbeschworene Sinn des Lebens? Shenja freute sich am leichten Weinrausch, an der Stille und der Dunkelheit draußen, in der das Licht der Lampe als heller Fleck in den Blättern des Feigenbaumes zitterte, und genoß zugleich die, wie sie ahnte, kurzzeitige Freiheit von den ungelösten wichtigen - waren sie wirklich so wichtig? Problemen ihres Lebens. Ireen fegte die Karten vom Tisch - ein Teil fiel zu Boden, ein Teil landete auf einem Stuhl. »Susi lag von morgens bis abends auf dem Sofa und lutschte Bonbons. Heute weiß ich, das waren Depressionen, aber damals sah ich nur, daß sie zu meinem Kind wurde. Wie -15-
gesagt, das war noch vor ihrem Schlaganfall. Füttern mußte ich sie natürlich nicht direkt, aber hätte ich ihr die Suppe nicht auf den Teller gefüllt, hätte sie glatt drei Tage lang nichts gegessen. Ich beschloß, mir sofort ein Kind anzuschaffen, ein eigenes, richtiges Kind, denn ich hatte absolut keine Lust, zur Mutter meiner eigenen Mutter zu werden. Dann würde sie vielleicht wenigstens Großmutter spielen, den Kinderwagen schieben. Ich heiratete Hals über Kopf, den erstbesten. Einen Jungen aus dem Nachbarhaus. Er sah gut aus, war aber ein absoluter Schwachkopf. Ich wurde schwanger und trug meinen Bauch neun Monate rum wie einen Orden. Von wegen Übelkeit, Unwohlsein, Kreislaufprobleme und was Schwangere noch so haben sollen! Bei mir - keine Spur davon. Ich bin direkt von der Schreibmaschine in den Kreißsaal gegangen. Ich war gerade mitten in einer Arbeit. Macht nichts, hab ich gedacht, ich krieg erst mal schnell mein Kind, dann tipp ich das Zeug zu Ende. In zwei Tagen bin ich fertig. Aber es kam alles anders. Nabelschnurumschlingung. Mein Kind starb - die Hebamme war ein blutjunges Ding, der Arzt ein Volltrottel. Sie haben mein Kind draufgehen lassen. Dabei wäre nur eine erfahrene Hebamme nötig gewesen. Und ich Idiotin war gerade achtzehn. Zähl mit: So starb mein erster, David sollte er heißen, zum Gedenken an Vater. Die Milch lief aus mir raus wie verrückt, und ich hab Sturzbäche geheult.« Aufmerksam, die Augen zu Schlitzen verengt, sah Ireen Shenja abschätzend an, als überlege sie, ob sie weiterreden sollte. »Saschka hatte auch die Nabelschnur um den Hals«, sagte Shenja leise. Sie wußte, wie gefährlich das war fürs Kind, begegnete aber zum ersten Mal einer Frau, die ihr Kind verloren hatte wegen dieser dummen Schlinge, die dem Baby neun Monate lang treu gedient hatte, um es dann plötzlich zu erwürgen. »Zwei Monate später wurde ich wieder schwanger. Du -16-
kennst mich nicht: Wenn ich etwas will, dann kriege ich es auch. Ich war also wieder schwanger. Nicht mehr ganz so heiter - Übelkeit, Blähungen, taube Glieder. Aber ich war trotzdem guter Dinge. Mein Mann, der Hornochse, war Autoschlosser. Wie gesagt, ich hab den erstbesten geheiratet. Alles, was er verdient hat, das hat er gleich versoffen. Ausgesehen hat er wie Alain Delon, nur größer war er. Ich hab also an meiner Schreibmaschine gesessen und emsig getippt. Für Susis Bonbons hat's gereicht. Beim ersten Mal wußte ich genau, daß es ein Junge wird. Diesmal hatte ich ein Mädchen geplant. Mein Bauch wurde immer dicker, und ich kannte nur eine Freude: Sobald ich ein paar Kopeken verdient hatte, bin ich sofort ins Kinderkaufhaus gerannt, Strampler kaufen, Jäckchen, Hemdchen, Strümpfchen. Alles so richtig sowjetisch - grob und häßlich. Ich bin ja als Hofkind aufgewachsen, hab immer draußen rumgehangen. Meine Eltern wurden anfangs unter fremdem Namen in Wolshsk angesiedelt. Erst mit zehn erfuhr ich meinen richtigen Familiennamen. Dann wurde die Geheimhaltung aufgehoben, und Mutters Schwester schickte das erste Paket. Da war auch eine Puppe drin. Aber ich konnte Puppen nicht ausstehen, ich wollte auch kein Mädchen sein. Ich hab geheult, wenn ich in einen Rock gesteckt wurde. Und als mir Brüste wuchsen, hätte ich mich beinahe aufgehängt.« Ireen reckte die Schultern, ihr üppiger Busen bebte vom Hals bis zur Hüfte. Shenja betrachtete sie mit stillem Neid: was für eine Biographie! Und Ireen war sich ihrer Bedeutsamkeit unverkennbar bewußt. »Das Mädchen war schon bei der Geburt eine Schönheit, vom ersten Augenblick an. Anders als Neugeborene sonst, die Haut nicht schmierig, nicht rot, nicht rauh. Blaue Augen, lange, schwarze Haare. Das hatte sie vom Autoschlosser. Ansonsten kam sie äußerlich nach mir: meine Nase, mein Kinn, mein ovales Gesicht.« -17-
Shenja betrachtete Ireen, als sähe sie sie zum ersten Mal: Hinter der markanten Rothaarigkeit nahm man nicht gleich wahr, daß sie schön war. Ja, das ovale Gesicht, die Nase, das Kinn... Sogar die Zähne, die bei einer anderen wie ein Pferdegebiß gewirkt hätten, waren bei ihr einfach englisch: lang, weiß, ein wenig vorstehend, genau so weit, daß die Lippen nicht ganz geschlossen waren, sondern stets einladend, erwartungsvoll geöffnet. »Ich sah sie und wußte sofort, daß sie Diana heißt. So und nicht anders. Sie war klein und wohlproportioniert - eine weibliche Figur und lange Beine. Und ein Knuddelpo. Sie war das schönste Mädchen der Welt. Nein, das ist keine mütterliche Übertreibung. Alle waren von ihr entzückt. Den Autoschlosser hab ich rausgeschmissen, zwei Tage nachdem ich aus der Klinik entlassen war. Er war einfach eine Beleidigung für meine Augen. Als er sie das erste Mal auf den Arm nahm, war mir sofort klar: Diana braucht einen anderen Vater. Nicht meinetwegen. Ich war noch gar keine richtige Frau. Mit dem Autoschlosser funktionierte es nicht, aber das war mir nicht einmal bewußt. Er nahm sie auf den Arm, und da sah ich, wie primitiv er war. Das hat meine Tochter mir demonstriert. Sie war klug und ruhig. Noch nie habe ich so eine - ja, lach nicht -, so eine Frau getroffen. Sie wußte genau, wie sie mit wem umgehen mußte, was sie von jemandem erwarten konnte. Stell dir vor, sie behandelte Susi mit Nachsicht. Sie weinte nicht, wenn ich sie mit der Oma allein ließ. Sie wußte, daß das keinen Sinn hatte. Sie war vier Monate alt, als ich anfing, ihr vorzulesen. Wenn es ihr gefiel, sagte sie ›Ja-ja-ja‹, wenn nicht ›Nein-nein-nein‹. Mit einem halben Jahr verstand sie absolut alles, mit zehn Monaten fing sie an zu sprechen. Einen Monat lang hat sie gelallt, dann sagte sie: ›Mama, da, Fliege.‹ Da war wirklich eine Fliege. Ich habe sie lange gestillt. Die Milch wurde nicht weniger, und sie mochte die Brust. Sie hat sich angepreßt und getrunken, -18-
und hinterher hat sie die Brust gestreichelt und ›Danke‹ gesagt. Aber dann bekam ich eine Grippe. Ich hatte über vierzig Fieber und lag flach. Stillen konnte ich nicht mehr. Meine Freundinnen haben Diana mit Kefir und Brei gefüttert, sie war schon fast ein Jahr. Sie wollte zu mir, aber sie ließen sie nicht, damit sie sich nicht ansteckte. Sie rief aus dem kleinen Zimmer: ›Mama, das verstehe ich nicht!‹ Susi hat es auch erwischt. Das muß eine ganz schlimme Infektion gewesen sein, auch meine Freundinnen haben sich eine nach der anderen bei mir angesteckt. Ich kann mich an nichts erinnern.« Ireen schirmte mit der Hand ihre Augen ab, als werde sie geblendet. Ihr Haar verdeckte ihr Gesicht fast völlig. Shenja wußte schon, daß gleich etwas Schreckliches passieren würde, bereits passiert war - doch trotzdem hoffte sie noch ein wenig. »Dann bin ich aufgestanden und zu Diana gegangen - sie glühte«, fuhr Ireen fort, und Shenja bemerkte, daß die Nüstern und die blassen Schläfen der Engländerin sich gerötet hatten. »Ich rief einen Arzt. Der spritzte ihr sofort ein Antibiotikum. Nach zwei Spritzen bekam sie eine allergische Reaktion. Überall Ausschlag. Na ja, sie war eben meine Tochter. Ich bin ja auch Allergikerin. Sie bekam auch Seduxen verschrieben, genau wie ich. Nur in zwanzigfach geringerer Dosis. Und mir ging es immer schlechter. Vierzig Fieber, manchmal war ich richtig weggetreten. Wenn ich zu mir kam - Kefir für Diana, Kefir für Mama. Ab und zu kam jemand vorbei und ging wieder. Ich hatte Krach mit der Ärztin, die auf sofortiger Einweisung ins Krankenhaus bestand. Freundinnen waren da. Die Nachbarin. Ich weiß noch, der Autoschlosser kam auch angetrabt. Betrunken. Ich hab ihn weggejagt. Wie im Halbschlaf bin ich aufgestanden, habe Diana auf den Topf gesetzt, sie umgezogen, ihr eine Tablette gegeben. Vom Spiegel hat sie sich weggedreht, meine Schöne, hat gesagt: ›Nein‹. Der Ausschlag im Gesicht gefiel ihr nicht. Die Packungen, Shenja, waren völlig identisch, mein -19-
Seduxen und ihrs. Ich weiß nicht, wieviel Seduxen ich ihr gegeben habe. Ich hatte auch kein Zeitgefühl. Bei vierzig Fieber sieht man nicht auf die Uhr. Ich hatte keine Ahnung, ob Morgen war oder Abend. Aber ich wußte genau, daß ich Diana ihre Tabletten geben mußte. Es war Dezember - rund um die Uhr dunkel. Am einundzwanzigsten Dezember, genau zur Wintersonnenwende, bin ich aufgestanden, zu Diana gegangen, hab sie angefaßt - und sie war kalt. Das Fieber ist runter, dachte ich. Die Nachttischlampe brannte. Ich sah, daß ihr Gesicht ganz weiß war. Der Ausschlag war weg. Ich wollte sie nicht wecken und bin wieder schlafen gegangen. Dann bin ich wieder aufgestanden, ich dachte, Zeit für die Tabletten. Da erst hab ich begriffen, daß meine wunderschöne Diana tot war, mausetot.« Shenja sah das Bild vor sich wie im Film: Ireen, im langen weißen Nachthemd, beugt sich über das Kinderbettchen und nimmt das Mädchen, auch im weißen Nachthemd, aus dem Bett. Nur das Gesicht des Mädchens konnte Shenja nicht sehen, denn es war verdeckt von dem feuerroten Haar, das noch immer lebendig glänzte, lockig und leuchtend. Aber Diana war tot. Weinen konnte Shenja nicht mehr, in ihrem Herzen saß ein bitterer Kloß. »Mein Mädchen wurde ohne mich begraben.« Ireen blickte Shenja so direkt und schonungslos in die Augen, daß Shenja dachte: Mein Gott, wie kann ich mir Gedanken machen um Nichtigkeiten, wenn anderen so etwas passiert. »Ich hatte eine Hirnhautentzündung bekommen, drei Monate lag ich in verschiedenen Krankenhäusern, dann mußte ich alles neu lernen: laufen, einen Löffel halten. Ich bin zäh wie eine Katze.« Ireen lachte bitter. Ja, Ireen hatte eine ungewöhnliche Stimme - wer sie einmal gehört hatte, vergaß sie nicht wieder: heiser und weich, wie die Stimme einer Sängerin, die sich absichtlich zurückhält, denn würde sie singen, müßte jeder, der diese Stimme hört, heulen -20-
und schluchzen und ihrem lockenden Sirenenlaut folgen. Dieser potentielle wunderschöne Gesang erschütterte Shenja, und die schmerzhafte Bitterkeit dieser Geschichte brach nun doch in Tränenströmen aus ihr heraus. Ireen gab ihr ein weißes Taschentuch, ein nach Parfüm duftendes Spitzentuch, das Shenja im Nu durchnäßte. »Sie wäre jetzt bald sechzehn. Ich weiß ganz genau, wie sie aussehen, wie sie reden und sich bewegen würde. Ihre Größe, ihre Figur, ihre Stimme - das alles kenne ich ganz genau. Ich weiß, welche Menschen ihr gefallen würden, wem sie aus dem Weg gehen würde. Was sie am liebsten ißt. Und was sie nicht ausstehen kann.« Ireen machte eine Pause, und Shenja hatte den Eindruck, als blicke sie in die Dunkelheit, als stünde dort in der Ecke ein Mädchen - schlank, mit blauen Augen und schwarzem Haar, aber vollkommen unsichtbar. »Ihre Lieblingsbeschäftigung ist Malen«, sagte Ireen, ohne die Augen von der sich verdichtenden Dunkelheit zu wenden, »schon als sie drei war, zeichnete sich ab, daß sie zur Künstlerin bestimmt war. Ihre Bilder waren völlig verrückt. Mit sieben erinnerte sie am ehesten an Ciurlionis. Dann malte sie kräftiger, aber das Mystische und Weiche blieb...« Sie ist wahnsinnig, dachte Shenja. Richtiggehend wahnsinnig. Sie hat ihr Kind verloren und ist darüber verrückt geworden. Doch das sagte sie nicht laut. Ireen aber lachte, schüttelte ihre kupferrote, drahtige Mähne. Ihr Haar schien zu klingen. »Ja, wenn du so willst, ist das Wahnsinn. Obwohl es für jeden Wahn eine rationale Erklärung gibt. Ein Teil ihrer Seele ist in mir geblieben. Manchmal packt es mich, dann will ich unbedingt malen, und ich male. Das, was meine Diana gemalt hätte. In Moskau zeige ich es dir, ganze Mappen voller Bilder von Diana aus all den Jahren.« -21-
Der Wein war längst alle. Es war schon nach drei, und sie gingen auseinander - es gab ohnehin nichts mehr hinzuzufügen. Am Morgen brachen sie auf zu einem großen gemeinsamen Spaziergang. Sie gingen zur Post, telefonierten mit Moskau. Dann aßen sie auf der Strandpromenade, in einer Imbißstube. Shenja war sicher, daß der Genuß der verlockend duftenden gefüllten Teigtaschen eine klassische Magen-Darm-Infektion nach sich ziehen würde, hoffte aber, daß Sascha seinem Ernährungsminimalismus treu bleiben und die dreieckigen Teigtaschen ablehnen würde. Doch Sascha sagte ja und aß erneut etwas, das nicht auf seiner heiligen Liste stand. Bereits zum zweiten Mal. Ihre gemütlichen Weinabende waren vorbei, zumindest in diesem engen Kreis: Am nächsten Tag sollten zwei Freundinnen von Ireen anreisen, die eine, Vera, kannte Shenja gut - von ihr hatte sie die Adresse dieses Urlaubsquartiers bekommen. Shenja bedauerte ein wenig, daß es mit der Freundschaft zu zweit vorerst vorbei war. Der letzte Abend begann später als sonst, denn Sascha war lange bockig und ließ Shenja nicht weg. Kaum eingeschlafen, wachte er wieder auf, nörgelte, schlief wieder ein, und Shenja, die neben ihm ein wenig döste, schlief ebenfalls ein, und hätte Ireen nicht kurz nach elf an ihr Fenster geklopft, hätte sie wohl bis zum nächsten Morgen in Hose und Pullover durchgeschlafen. Wieder hatten sie zwei Flaschen Krimwein auf dem Tisch und draußen die Finsternis. Diesmal waren sie sogar ohne Lampenlicht, denn es war Stromausfall - zwei dicke weiße Kerzen, eigens für einen solchen Fall aus Moskau mitgebracht, erleuchteten die Terrasse. Susi und Donald schliefen längst, und Ireen saß, in ihre rotgrünen Karos gehüllt, in einem tiefen Sessel auf der Terrasse, Karten vor sich ausgebreitet. »Das ist ›Der Weg zum Schafott‹, eine alte französische -22-
Patience, die geht höchstens einmal im Jahr auf. Und während ich hier gesessen und auf dich gewartet hab, da ist sie aufgegangen. Das ist ein Zeichen der Sympathie für dieses Haus, diese Stunde, diesen Ort. Und auch für dich. Obwohl, du hast ganz andere Beschützer, aus einem anderen Element...« Shenja, die sich von Mystik vage angezogen fühlte, sich aber für diesen Atavismus ein wenig genierte, faßte Mut und stellte die erwartete Frage: »Was ist denn mein Element?« »Das, was man von der Bushaltestelle aus sieht - das Wasser. Dein Element ist das Wasser. Schreibst du Gedichte?« fragte Ireen lebhaft. »Früher mal. Aber ich habe eine Diplomarbeit zur Geschichte der russischen Lyrik des vorigen Jahrhunderts geschrieben«, bekannte Shenja verschämt. »Das sehe ich doch - Fische sind poetische Naturen. Sie leben im Wasser.« Shenja schwieg erschüttert - sie war tatsächlich im Sternzeichen Fische geboren. »Mit zwanzig, Shenja, war ich Mutter zweier toter Kinder«, fuhr Ireen ohne Einleitung an der Stelle fort, wo sie gestern stehengeblieben waren. »Zwei Jahre habe ich gebraucht, um weiterleben zu lernen. Ich bekam natürlich Hilfe. Keine Frage.« Mit einer unbestimmten Geste deutete sie mehr oder weniger zum Himmel. »Und dann traf ich den Mann, der mir bestimmt war. Er war Komponist, ein russischer Aristokrat, seine Familie war während der Revolution nach Frankreich geflohen und nach dem Krieg zurückgekehrt. Er war fünfzehn Jahre älter als ich. Und seltsamerweise nie verheiratet gewesen, obwohl sein Leben mit Frauen reich gesegnet war. Sein Vater war stellvertretender Minister gewesen, eine Zeitlang Mitglied der Staatsduma. Gewissermaßen der totale Gegensatz zu meinen englisch-holländischen kommunistischen Vorfahren. Trotzdem war sein Vater, Wassili Illarionowitsch - den -23-
Familiennamen nenne ich nicht, er ist in Rußland zu bekannt meinem Vater unheimlich ähnlich, äußerlich wie innerlich. Gegen Kommunisten hegten alle in seiner Familie eine heftige Abneigung. Doch mich akzeptierten sie trotz meiner kommunistischen Herkunft. Andererseits: Sie hatten sowieso keine Wahl - Goscha und ich waren irrsinnig verliebt, wir waren uns auf Anhieb in die Arme gefallen, und am nächsten Morgen hatte er mich zum Standesamt geschleppt, überzeugt, daß die Sache entschieden war, unumstößlich. So begann mein zweites Leben, in dem nichts von meiner Vergangenheit geblieben war bis auf meine Mama, die, das muß man ihr lassen, einfach nichts mitkriegte. Aber denk nicht, das wäre nach ihrem Schlaganfall gewesen. Nein, das war davor! Sie bekam tatsächlich nichts mit, sprach meinen zweiten Mann hin und wieder mit dem Namen meines ersten Mannes an, und Goscha und ich lachten nur darüber. Er hatte in Frankreich und England studiert, neunzehnhundertfünfzig waren sie nach Rußland zurückgekehrt und mußten erst eine Weile in der Verbannung leben. Na, du weißt ja, die übliche Geschichte. Wir lernten uns in dem Jahr kennen, als ihre Familie endlich den Zuzug für Moskau bekam und eine Zweizimmerwohnung in Beskudnikowo - als Nachfahren von Dekabristen. Als Ersatz für die Datscha auf der Krim und das Haus an der Moika in Petersburg.« Der vage Gedanke, nach welchem geheimnisvollen Gesetz so seltene, ganz besondere Menschen wie die Tochter eines russischen Spions englischer Herkunft und der in der Emigration in Paris geborene Nachfahre eines Dekabristen wohl zueinanderfanden, kam Shenja in den Sinn, sie wollte ihn sogar Ireen mitteilen, genierte sich aber, deren gemächlichen, beinahe meditativen Erzählfluß zu unterbrechen. »Ich wurde sofort schwanger.« Ireen lächelte nicht Shenja an, sondern in die weite Ferne. »Georgi wußte nicht, daß ich bereits zwei Kinder verloren hatte. Das habe ich ihm -24-
verheimlicht - ich wollte nicht, daß er mich bemitleidete. Es war die glücklichste Schwangerschaft der Welt. Der Bauch wuchs unheimlich schnell, und Goscha legte nachts seinen Kopf darauf und horchte. ›Was hörst du denn da?‹ hab ich ihn gefragt. ›Worüber sie reden.‹ Er war überzeugt, daß es Zwillinge werden. Schließlich stellten auch die Ärzte zwei Herzschläge fest. Und ich brachte zwei wunderbare Jungen zur Welt, der eine war rothaarig, der andere schwarzhaarig. Beide wogen über drei Kilo. Ob du's glaubst oder nicht: sie waren sich von der ersten Stunde an spinnefeind, und zwar derartig, daß sie sogar die Eltern unter sich aufteilten, der rothaarige Alexander entschied sich für mich, der schwarzhaarige Jakow für Goscha. Es war furchtbar schwer. Wenn der eine einschlief, schrie der andere. Wenn ich den einen stillte, brüllte der andere sich die Seele aus dem Leib, selbst wenn ich ihn schon gestillt hatte. Dann lernten sie beißen, spucken, sich prügeln. Wenn der eine aufstand, warf der andere ihn sofort zu Boden. Man durfte sie keine Minute allein lassen. Aber sobald man sie trennte, vermißten sie einander. Wenn sie sich wiedersahen, stürzten sie aufeinander zu, küßten sich ab, und schon prügelten sie sich wieder. Meine Zwillinge hatten ein ganz besonderes, intensives Verhältnis zueinander. Ich sprach mit den Kindern Englisch, Goscha sprach mit ihnen Französisch. Und als sie anfingen zu sprechen, teilten sie auch die Sprachen: Alexander sprach Englisch, Jakow Französisch. Na ja, das war ganz normal. Miteinander sprachen sie Russisch. Aber denk nicht, das hätten wir ihnen extra beigebracht. Sie wählten alles selbst, sie zu irgend etwas zu zwingen war unmöglich. Goscha und ich, wir beobachteten die beiden und waren hingerissen: eindeutig unsere scheußlichen Gene - Sturheit und Eigensinn. Wir wohnten das ganze Jahr über in Puschkino, dort hatten wir eine winterfeste Datscha gemietet, auch Granny Susi lebte -25-
bei uns. Damals war sie noch einigermaßen fit. Das heißt, sie hat noch Romane gelesen. Irgendwie nützlich oder eine Hilfe war sie natürlich nicht, wie du dir vorstellen kannst. Goscha bekam schließlich eine Stelle, als Lehrer an einer Musikschule. Er unterrichtete Komposition. Er war hyperüberqualifiziert dafür. Er hätte ans Konservatorium gehört. Aber seine westliche Ausbildung schreckte alle ab. Manchmal schrieb er Filmmusiken. Meistens aber verdiente er sein Geld mit Übersetzungen, und ich übernahm noch immer Schreibarbeiten, obwohl er schrecklich empört war, wenn ich zu Hause arbeitete. Er besaß ein klappriges Auto, einen Moskwitsch, mit dem er nach Moskau fuhr; wenn er zurückkam, mußte er es jedesmal reparieren. Ein kluges Autochen, es ging immer erst zu Hause kaputt. Wir waren wahnsinnig glücklich - und konnten uns vor Müdigkeit kaum auf den Beinen halten. Im Frühling, wenn die Bäume blühen, bin ich immer krank. Pollenallergie. In dem Frühjahr war es besonders schlimm, ich hab die ganze Zeit gekeucht und kaum Luft gekriegt. Solange es regnete, kam ich mit Tabletten noch irgendwie über die Runden. Aber dann wurde es heiß, und am zweiten Tag hatte ich richtige Atemnot. Quincke-Ödem heißt das. Das nächste Telefon war auf der Post, und der Notarztwagen ist in Puschkino ein genauso seltener Vogel wie der Strauß. Also weckte Goschka mitten in der Nacht die Jungs, zog ihnen rasch was an, packte sie ins Auto - wir ließen sie nicht gern bei Susi, sie wurde mit ihnen nicht fertig. Mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen, waren sie ganz friedlich und prügelten sich nicht, sondern setzten sich Arm in Arm auf den Rücksitz. Dann holte Goscha mich, verfrachtete mich auf den Beifahrersitz und fuhr los, ins Krankenhaus. Er raste mit Vollgas, denn mein Atem war nur noch ein leises Pfeifen, und mein Gesicht hatte die Farbe roter Bete.« Ireen schloß die Augen, aber nicht ganz, ein kleiner -26-
Lichtstreifen drang hindurch, wie unter einer geschlossenen Tür. Shenja glaubte, Ireen sei ohnmächtig. Sie sprang auf und rüttelte an ihrer Schulter. Ireen kam wieder zu sich. Sie lachte, ihr besonderes, melodisches Lachen. »Das ist alles, Shenja. Jetzt habe ich dir alles erzählt. Die Schwellungen waren so schlimm, daß ich nichts sah und spürte. Den auf uns zurasenden Kipper habe ich nicht gesehen, auch den Aufprall habe ich nicht gespürt. Ich habe als einzige überlebt. Als ich auf dem Operationstisch lag, war das Quincke-Ödem weg - es war bei dem Unfall verschwunden. Absolut unglaublich. Aber ich blieb am Leben.« Ireen warf das Haar auf der rechten Kopfhälfte zurück - eine tiefe Narbe zog sich vom Ohr den ganzen Schädel entlang. Shenja fuhr mit dem Finger darüber - sie wußte selbst nicht, warum. »Sie ist vollkommen unempfindlich, diese Narbe. Ich bin ein medizinisches Phänomen. Meine Schmerzempfindlichkeit ist fast Null. Wenn ich mich zum Beispiel in den Finger schneide, merke ich das gar nicht. Erst wenn ich das Blut fließen sehe. Das ist gefährlich. Aber manchmal auch bequem.« Ireen griff nach der auf dem Tisch liegenden Tasche, holte eine längliche Schachtel heraus, dreimal so groß wie eine Streichholzschachtel, entnahm ihr eine dicke Nadel und jagte sie in die schneeweiße Haut ihrer Daumenwurzel. Mühelos drang die Nadel tief ins Fleisch ein. Shenja schrie auf. Ireen lachte. »Das ist mit mir passiert. Ich habe die Schmerzempfindlichkeit eingebüßt. Als ich erfuhr, drei Wochen nach dem Unfall, daß ich keinen Mann und keine Kinder mehr habe, war das so.« Ireen zog die Nadel heraus, es bildete sich ein kleiner Blutstropfen. Ireen leckte ihn ab. »Auch den Geschmackssinn habe ich fast völlig verloren. Ich kann nur süß und salzig unterscheiden, mehr nicht. Manchmal denke ich, -27-
auch das ist nur eine Erinnerung an den Geschmack, aus der Zeit, als ich noch alles fühlen konnte.« Ireen goß den restlichen Wein in die Gläser und stand auf, wobei sie geräuschvoll den Sessel zurückschob. Ihre Unterkunft war die komfortabelste in Doras Anwesen: Außer der Terrasse besaß sie noch eine separate Küche in der Diele. Dort bewahrte Ireen einen kleinen Weinvorrat auf: sechs Flaschen, gekauft für die morgige Ankunft der Freundinnen. Sie wühlte lange im Dunkeln herum und brachte schließlich eine Flasche Krimsherry. Shenjas Tränen waren bereits gestern versiegt, neue hatten sich in den vergangenen vierundzwanzig Stunden noch nicht gebildet. Ihr Hals war trocken, in der Nase juckte und kitzelte es. »Die englische Hexe Anna Kork hat recht behalten: Donald ist mein fünftes Kind. Genau, wie sie prophezeit hat: Du fängst mit dem fünften an.« Die Dunkelheit hatte sich allmählich gelichtet, dann wurde der Himmel grau und die Vögel sangen. Als Ireen ihre Geschichte beendete, war es schon richtig hell. »Soll ich vielleicht Kaffee kochen?« fragte Ireen. »Nein, danke. Ich geh ein bißchen schlafen.« Shenja ging in ihre Kammer und legte sich mit dem Gesicht aufs Kissen. Bevor sie einschlief, dachte sie noch: Wie dumm ich doch lebe, genaugenommen lebe ich überhaupt nicht. Was ist das schon ich liebe den einen nicht mehr und habe mich in einen anderen verliebt. Nein, was für ein Drama! Arme Ireen - vier Kinder zu verlieren. Besonders leid tat es ihr um die langbeinige blauäugige Diana, die jetzt sechzehn Jahre alt wäre. Gegen Abend kam aus Moskau eine ganze Mannschaft angereist: Vera mit ihrem zweiten Mann Valentin, der zuvor in erster Ehe mit Nina verheiratet gewesen war, Nina und Ninas ältester Sohn - von Valentin. Außerdem Ninas zwei jüngere -28-
Töchter, beide schon aus zweiter Ehe. Vera hatte zwei Kinder dabei - der jüngere Sohn war von Valentin, der Vater der Tochter war unbekannt, das heißt, keiner der Bekannten ihres ersten Mannes kannte ihn. Alles in allem eine harmonische moderne Familie: Die sexuelle Revolution ging bereits zu Ende, die zweiten Ehen hielten besser als die ersten, und die dritten waren fast perfekt. Doras Hof füllte sich mit Kindern verschiedenen Alters, und die Nachbarn rechts und links beneideten Dora darum, daß bei ihr die Urlaubersaison einen Monat früher begann und zwei Monate später endete als bei allen anderen. Und das schon seit vielen Jahren. Sie ahnten nicht, daß das an Ireen lag: Wo sie hinfuhr, dort scharte sich um sie sofort ein ganzer Pulk, dort erblühte ein buntes Feuerwerk, versammelte sich eine Maidemonstration von Büstenhaltern mit überquellenden Milchdrüsen und Bikinis mit Bauchnabeln und Pobacken, die sämtliche einheimischen Nachbarinnen so erzürnten, daß sie den schamlosen Dirnen am liebsten das Quartier verweigert hätten - doch das ließ ihr Geiz nicht zu. Dora betrieb eine Art Pension, doch ihr Service hieß nicht »Bed and Breakfast«, sondern »Bett und Mittag«. Doras Mann war Chauffeur im Ferienheim »XVII. Parteitag«, er fuhr einen Bus, holte die Urlauber aus Simferopol ab und erledigte auch Lebensmitteleinkäufe. Dora kochte für ihre Quartiergäste und verdiente in der Saison so viel, daß sie sich mühelos vom Ortspolizisten und dem Steuerinspektor freikaufen konnte, ohne dadurch große Verluste zu erleiden. Die ersten drei Tage verbrachten alle damit, sich einzurichten. Die kinderreiche Nina war schrecklich häuslich und sorgte für Behaglichkeit und einen durchorganisierten Alltag. Als alle Vorhänge aufgehängt, alle Vasen verteilt, alle Läufer ausgeschüttelt waren, stellte sie einen Plan auf, nach dem jeden Tag zwei Mütter bei den Kindern blieben, während die anderen beiden vormittags einkauften und sich den Rest des -29-
Tages erholten. Am Morgen des vierten Tages hatten Shenja und Vera kinderfrei. Sie wollten als erstes Valentin zum Bus begleiten, der, nachdem er beide Familien hergebracht und damit seine Aufgabe erfüllt hatte, nach Moskau zurückkehrte; dann wollten sie, wenn sie Glück hatten, Milch kaufen und anschließend Natur pur genießen, ohne Ballspiele, ohne Kinder, ohne Geschrei und Gekreisch. Sie brachten also den Mann zum Bus, kauften keine Milch, weil keine geliefert worden war, und liefen die Chaussee entlang in Richtung Hügel, von dem ein Duft nach frischem Gras und süßer Erde herüberwehte und wo rosa-lila Tamariskenwolken in voller Blüte standen. Sie verließen die Chaussee, und obwohl der Pfad bergauf führte, fühlten sie sich frei und leicht. Sie redeten nicht einmal viel miteinander, wechselten nur hin und wieder ein paar belanglose Worte. Dann erreichten sie eine Akazienfamilie, setzten sich in den schütteren Schatten der kleinen Blätter und rauchten. »Kennst du Ireen schon lange?« fragte Shenja, die, obwohl inzwischen schon einige Tage vergangen waren, sich noch immer nicht vom Schicksal der rothaarigen Engländerin losreißen konnte, gegen das Anna Kareninas altmodischer Selbstmord verblaßte und wirkte wie die Laune einer überdrehten feinen Dame: Er liebt mich, liebt mich nicht, küßt mich, küßt mich nicht... »Wir sind im selben Hof aufgewachsen. Sie war eine Klasse höher. Ich durfte nicht mit ihr befreundet sein. Sie war eine ganz Wilde.« Vera lachte. »Aber ich fühlte mich von ihr angezogen. Wie wir alle eigentlich. Bei ihnen in der Wohnung hing immer der halbe Hof rum. Und Susan Jakowlewna war vor ihrem Schlaganfall unheimlich nett. Bonbonniere haben wir sie genannt - sie hat immer allen Kindern Karamelbonbons geschenkt.« -30-
»Ein schreckliches Schicksal«, seufzte Shenja. »Du meinst ihren Vater? Das Spionieren, oder was?« fragte Vera leicht erstaunt. »Nicht doch, ich meine die Kinder.« »Welche Kinder, Shenja?« fragte Vera noch erstaunter. »Diana. Und die Zwillinge...« »Welche Diana? Wovon redest du?« »Von Ireens Kindern. Die sie verloren hat«, erklärte Shenja, von einer schrecklichen Ahnung erfaßt. »Erzähl doch mal genauer. Welche Kinder hat sie verloren?« Vera hob die Brauen. »David, ihr erstes Kind, starb bei der Geburt, Nabelschnurumschlingung, dann Diana, sie war ein Jahr alt, und ein paar Jahre später kamen bei einem Autounfall ihr Mann, der Komponist, und die Zwillinge Alexander und Jakow um«, leierte Shenja mit Grammophonstimme herunter. »Ach du Sch...!« sagte Vera erschüttert. »Und wann ist ihr das alles passiert?« »Hast du das etwa nicht gewußt?« wunderte sich Shenja. »David hat sie mit achtzehn bekommen, Diana mit neunzehn und die Zwillinge etwa drei Jahre später.« Vera drückte ihre Zigarette aus und steckte sich eine neue an - die feuchte Zigarette wollte nicht brennen, und während Vera sich damit abmühte, schüttelte Shenja krampfhaft eine neue Schachtel, aus der sich partout keine Zigarette lösen wollte. Vera schwieg, sog den bitteren Rauch ein und sagte schließlich: »Hör zu, Shenja, ich muß dich enttäuschen. Oder im Gegenteil. Es ist nämlich so, unser Haus wurde erst vor zehn Jahren geräumt, also neunzehnhundertachtundsechzig, da war Ireen fünfundzwanzig. Und bis dahin hat sie scharenweise Liebhaber gehabt und wahrscheinlich Dutzende Abtreibungen, -31-
aber nicht ein einziges Kind - ich schwöre! Und auch keinen Ehemann. Donald ist ihr erstes Kind, und geheiratet hat sie nie, obwohl sie ziemlich berühmte Liebhaber hatte, sogar mit Wyssozki war sie mal liiert.« »Und Diana?« fragte Shenja dümmlich. »Und Diana?« Vera zuckte die Achseln. »Wir haben die ganzen Jahre im selben Aufgang gewohnt. Meinst du etwa, ich hätte davon nichts mitgekriegt?« »Und die Narbe am Kopf von dem Autounfall?« Shenja rüttelte an Veras Schulter, Vera entzog sich träge. »Die Narbe? Eine Narbe, ja und? Die stammt von der Eisbahn. Kotik Krotow hatte Schnelläuferschlittschuhe, messerscharf, Ireen ist hingefallen, und er ist mit einer Kufe direkt über ihren Kopf. Hat saumäßig geblutet. Er hätte sie tatsächlich beinah umgebracht. Die Wunde mußte genäht werden.« Zuerst weinte Shenja. Dann lachte sie wie eine Irre. Dann fing sie wieder an zu heulen. Dann waren beide Schachteln Zigaretten alle, die sie bei sich hatten. Und schließlich besann sich Shenja - sie hatte Sascha noch nie so lange allein gelassen. Sie eilten nach Hause. Shenja hatte Vera Ireens ganze Geschichte erzählt, die Ireen vermutlich aus dem Stegreif erfunden und Shenja präsentiert hatte. Vera erzählte ihr die Gegengeschichte, die wahre. Ausgerechnet das unwahrscheinlichste Detail stimmte bei beiden überein: die Spionagevergangenheit des irisch-britischen Kommunisten, der zum Tode verurteilt und gegen einen russischen Spion ausgetauscht worden war. Zu Hause angekommen, fühlte Shenja sich wie ausgelaugt. Die Kinder hatten bereits gegessen und spielten brav am großen Tisch Kinderlotto, bei dem die Karten statt Zahlen Rüben, Möhren und Handschuhe zeigten. Sascha, eine Lottokarte umklammernd, winkte seiner Mutter zu, rief: -32-
»Hurra! Ich hab den Hasen!« und legte seine Karte auf den Hasen. Er war ein Gleicher unter Gleichen, keineswegs zurückgeblieben, krank oder hypernervös. Die anderen saßen bei Ireen auf der Terrasse und tranken Sherry. Susi nahm mit seligem Gesicht kleine Schlucke aus ihrem Glas. Vera gesellte sich zu den anderen. Shenja ging in ihr Zimmer. Die Frauen riefen nach ihr, doch sie antwortete, sie habe Kopfschmerzen. Sie legte sich aufs Bett. Kopfschmerzen hatte sie nicht. Aber sie mußte etwas unternehmen. Irgend etwas, wonach sie wieder Wein trinken, mit den Freundinnen schwatzen und mit ihren anderen, klügeren und gebildeteren Freundinnen in Moskau reden konnte. Die Kinder waren fertig mit dem Lotto. Shenja wusch Sascha die Füße, brachte ihn ins Bett und löschte das Licht. Eine der Freundinnen rief in lautem Flüsterton: »Shenja! Komm, Kuchen essen!« »Saschka schläft noch nicht. Später«, erwiderte Shenja in ebenso theatralischem Flüsterton. Sie lag im Dunkeln und untersuchte ihre seelische Wunde. Es war eine zwiefache Wunde. Vom sinnlos verausgabten Mitgefühl mit den nichtexistenten, genial erfundenen und unmenschlich getöteten Kindern, besonders mit Diana. Das schmerzte wie ein amputiertes Bein - etwas, das nicht mehr da war. Ein Phantomschmerz. Schlimmer noch - etwas, das nie existiert hatte. Der zweite Schmerz rührte daher, daß sie sich fühlte wie ein dummes Kaninchen, das einem sinnlosen Experiment unterzogen worden war. Das heißt, vielleicht hatte es ja einen Sinn, aber sie verstand ihn nicht. Wieder klopfte jemand leise ans Fenster. Sie riefen nach ihr. Doch Shenja reagierte nicht - allein die Vorstellung, wie Ireen sie ansehen würde, wenn sie begriff, daß sie entlarvt war. Und ihre Stimme. Und Shenjas eigene Scham angesichts des -33-
Beschämenden dieser Beschämung... Shenja lag wach, bis das Licht auf der Terrasse erlosch. Dann stand sie auf, schaltete die kleine Wandlampe ein und warf alles durcheinander in ihren Koffer - saubere und schmutzige Wäsche, Bücher, Spielzeug. Nur Saschas schmutzige Gummistiefel wickelte sie in ein benutztes Handtuch. Am frühen Morgen verließen Shenja und Sascha mit dem Koffer das Haus. Sie gingen zur Busstation, und Shenja wußte nicht, wohin sie nun fahren sollten. Vielleicht nach Moskau. Doch an der Busstation stand nur ein einziger Bus, uralt, vermutlich noch ein Vorkriegsmodell, und daran stand »Nowy Swet«. Sie stiegen ein, und zwei Stunden später waren sie ganz woanders. Sie mieteten ein Zimmer direkt am Meer und verbrachten dort noch drei Wochen. Sascha benahm sich geradezu ideal: keinerlei hysterische Anfälle, die Shenja und den Ärzten solche Sorgen machten. Er schlenderte barfuß am Ufer entlang, lief manchmal ein Stück ins flache Wasser hinein und stampfte mit nackten Füßen darin herum. Er aß und schlief gut. Vermutlich hatte auch er die Grenze zu einem bestimmten Reifestadium überschritten. Genau wie Shenja. In Nowy Swet war es einfach wundervoll. Noch blühten die Glyzinien, die Berge waren gleich nebenan, direkt hinterm Haus erhob sich ein steiniger Hang, über den man in zwei Stunden Fußweg zu einem runden Gipfel gelangte, der in seiner Akkuratesse an japanisches Design erinnerte und von dem aus man die flache Bucht sehen konnte und die Meeresklippen mit den altgriechischen Namen, die seit der Erschaffung der Welt dort aus dem Wasser ragten. Doch hin und wieder durchzuckte es Shenja: Ireen! Warum hatte sie sie alle getötet? Besonders Diana.
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Bruder Jurotschka
A
m Abend erhob sich ein böiger Wind, der den Frauen die Röcke blähte und die Beine kühlte, und am Morgen regnete es. Die Milchfrau Tarassowna brachte ein Dreiliterglas Milch, frisch gemolken, und erklärte Shenja, nun werde es sieben Wochen lang regnen, denn heute sei Siebenschläfer. Shenja bezweifelte das zwar, erschrak aber trotzdem: Vielleicht war ja doch was dran. Sie saß seit Sommeranfang mit vier Kindern auf dem Land, ihren Söhnen, Sascha und Grischa, ihrem Patenkind Petja und Timoscha, dem Sohn ihrer Freundin. Vier Jungen zwischen acht und zwölf, eine kleine Gruppe. Mit Jungen kam Shenja gut zurecht: ihre Spiele, Kräche und Prügeleien waren unkompliziert. Eine Woche vor dem Regen, der sich in der Tat als dauerhaft erwies - ob er sieben Wochen dauerte, war noch nicht abzusehen, aber jedenfalls war der ganze Himmel bedeckt, und es regnete unablässig -, hatte die Vermieterin der Datscha ihre zehnjährige Tochter Nadja hergebracht, die eigentlich in ein Ferienlager im Süden hatte fahren sollen, das aber abgebrannt war. Das Mädchen erstaunte Shenja durch ihre rosige, dunkelhäutige Schönheit, die indisch oder zigeunerhaft wirkte, vermutlich aber einfach südrussisch war. Seltsam, daß eine grobschlächtige Bärin einen so edlen Sproß hervorbringen konnte. Nur eins hatten Tochter und Mutter gemeinsam: eine muskulöse Kompaktheit, die keine ungesunde Fettleibigkeit war, sondern das, was man auf dem Land als »stramm« bezeichnete. Solange das Wetter noch schön war, hatte Nadjas Ankunft keinen Einfluß auf das eingefahrene Leben. Die Jungen bauten -35-
auf einer Waldlichtung ihre dritte Laubhütte, brachen gleich morgens auf in den Wald, wo sie wie die Indianer bei E. T. Seton Holz hackten und an einem Laubdach flochten und knüpften. Nadja machte einen Versuch, sich ihnen anzuschließen, wurde aber wortlos und entschieden abgewiesen. Sie war zwar nicht sonderlich enttäuscht, erklärte aber geringschätzig: »Mein großer Bruder Jura, der hat letztes Jahr ein Baumhaus gebaut. Aber der ist ja auch schon vierzehn.« Sie lebte zwar nicht im Dorf, galt aber auch nicht als Feriengast - das Haus gehörte seit Generationen ihrer Familie, einer fast ausgestorbenen Sippe, die den Namen Malofejew trug, ebenso wie Nadjas Mutter, die Moskauerin. Nadja kannte alle im Dorf, Kinder wie Erwachsene; sie ging morgens aus dem Haus, drehte eine Runde durchs Dorf, kam pünktlich zum Mittagessen nach Hause, spülte dann, auch ohne Shenjas ausdrückliche Anweisung, das Geschirr, erstaunlich flink und sauber, und ging bis zum Abendbrot wieder aus dem Haus, Nachbarn besuchen. Am dritten Tag stellte sich heraus, daß sich die männlichen Datschabewohner, trotz der zur Schau gestellten Verachtung, doch für Nadja interessierten. Aber sie war entweder beleidigt oder ganz mit ihren hiesigen Freundinnen beschäftigt, die sie ein ganzes Jahr nicht gesehen hatte, jedenfalls drängte sie sich den Jungen nicht mehr auf, ging nur mit zur biologischen Forschungsstation, wohin Shenja die Kinder führte - zu einem alten Studienfreund, der schon seit zehn Jahren mitten im Wald von Nefjodowo lebte und Vögel beobachtete und andere Tiere, die für seine geliebten Vögel entweder Futter bedeuteten oder den Tod. Er zählte und registrierte alles, beschrieb ausführlich und pedantisch Natur und Wetter. Bei ihm wohnten ein paar ältere Schüler, junge Naturforscher: Der eine beobachtete die Spechte, der andere die Ameisen, der nächste die Regenwürmer; jeder hatte sein Spezialgebiet, alle führten -36-
Tagebuch. Shenja hatte die Datscha eigentlich vor allem mit der Absicht gemietet, die Kinder bei den Naturforschern unterzubringen und selbst in der Hängematte zu liegen, zu lesen und über ihr mißglücktes Liebesleben nachzudenken. Doch daraus wurde nichts - ihre Söhne interessierten sich nicht für die lebendige Natur in ihrer ursprünglichen Form, sondern gingen lieber den Vergnügungen nach, die bei Jungen auf dem Land üblich waren: Sie badeten in dem flachen Flüßchen, fuhren Fahrrad und gingen an einem entlegenen Teich angeln, wobei sie sich ausschließlich für die Anzahl und das Gewicht der gefangenen Fische interessierten und keineswegs dafür, zu welcher Gattung sie gehörten oder welche Würmer in ihren zarten Eingeweiden lebten. Und als dann Petja und Timoscha kamen, nahmen sie Größeres in Angriff, wie den Bau von Laubhütten. Auf dem Weg zur Forschungsstation redete Nadja ununterbrochen, aber Shenja hörte nicht genau hin, was sie den Jungen erzählte. Das Mädchen kannte sich aus im Wald und führte sie ein Stück abseits vom Weg zu einem alten Unterstand aus dem Krieg, der noch nicht völlig vom Unterholz überwuchert war. Hier war gekämpft worden, die Dörfer im Umkreis hatten zwei Monate unter den Deutschen gelebt, es gab noch viele Augenzeugen. »Tante Katja Trufanowa hat sogar ein Kind von einem Deutschen gekriegt«, teilte Nadja mit und wollte schon die im ganzen Dorf bekannten Einzelheiten erzählen, doch Shenja lenkte das Gespräch schnell in eine Richtung, die auch mit der lebendigen Natur zu tun hatte, aber eher mit Botanik - sie zeigte auf eine alte Birke, deren Stamm mit Baumpilzen überwuchert war, und forderte die Jungen auf, die Pilze sauber abzuschneiden, denn dies sei, wenn sie nicht irre, der berühmte Baumschwamm, aus dem man Zunder und Feuerschwämme mache. Das Mädchen zeigte sich verständig, begriff, daß Shenja das Gespräch nicht zufällig abgebrochen hatte, doch -37-
während die Jungen mit ihren Taschenmessern den steinharten Pilz abschnitten, erzählte es Shenja in eindringlichem Flüsterton die Geschichte von Tante Katja, dem bei ihr einquartierten Fritz und dem aus dieser Einquartierung entstandenen Kostja Trufanow zu Ende. Shenja hörte zu und staunte nur, wie verschieden Jungen und Mädchen doch waren. In Shenjas Familie waren die Männer stark in der Überzahl, ihre Mutter hatte Brüder, sie selbst hatte einen jüngeren Bruder, und auch in der letzten Generation wurden bisher nur Jungen geboren, noch kein einziges Mädchen. Und Gott sei Dank. Wäre dieses lüsterne kleine Klatschmaul ihre Tochter, hätte Shenja ihr jetzt einen anständigen Katzenkopf verpaßt. »...und dann nach der Armeezeit ist er nicht wieder zurückgekommen. Tante Katja sagt, das hat er richtig gemacht. Hier wurde er ständig von allen ›Fritz‹ gerufen, dabei war er ein netter Kerl und viel klüger als die anderen bei uns im Dorf. Mein Bruder Jura, der hänselt nie jemanden, weil, warum sollte einer, der stark und klug ist, andere hänseln? Stimmt doch, oder? Wer andere hänselt, der ist selber schlecht.« Bei diesen Worten bekamen Nadjas Augen einen dunklen, klugen Glanz, in ihrer Stimme und in ihren Mundwinkeln lag echtes Mitgefühl, und die Geste, mit der sie ihren Worten Nachdruck verlieh, hatte nichts Bäurisches, sondern etwas Stolzes, Spanisches. Shenjas Gereiztheit klang ab, sie lachte. »Ja, natürlich, wer andere hänselt, ist selber schlecht.« Das Mädchen war schon toll, und wie gewandt sie den unebenen Weg nahm, indem sie leichtfüßig von einer Wagenspur in die andere hüpfte, in ihren abgetretenen, aber eleganten und gar nicht kindlichen Schuhen, mit denen sie immer wieder auszugleiten drohte. Noch ein richtiges Kind mit molligen Handgelenken wie ein Kleinkind -, rund und drall wie eine Babypuppe, sprang sie umher wie eine Ballerina. -38-
»Ich kann euch noch die heilige Quelle zeigen, aber das ist von Kirjakowo zwei Stunden zu laufen«, bot Nadja an, und auf ihrer Nasenwurzel bildete sich eine steile Falte vom tiefen Nachdenken: Was könnte sie den Feriengästen noch Schönes bieten? Dann fiel es ihr ein: »Da drüben, auf der anderen Seite der Bahnlinie, hinter der Schneise, da ist eine alte Mönchsklause, die hat mir mal jemand gezeigt. Und eine Bärenhöhle, Bären sind hier jede Menge...«, dann stockte sie und fügte der Wahrheit halber dazu: »gewesen, früher. Ich habe keine gesehen, aber Jura, mein Bruder, der ja. Aber das ist schon lange her.« Dann schloß Nadja sich wieder den Jungen an, und Shenja hörte die ganze Zeit ihre helle Stimme, die immer den amüsanten Tonfall von Offenbarung, Begeisterung und weiblicher Überlegenheit hatte. Shenja hörte genauer hin und merkte, daß sie gar nicht miteinander sprachen: Nadja erzählte, was ihr gerade in den Sinn kam, und die Jungen redeten über ihre eigenen Angelegenheiten: daß sie sich auf der Forschungsstation ein paar Angelhaken ausleihen wollten und wo wohl die Zoologen angelten. Doch hin und wieder, wie zufällig, richteten Sascha oder Timoscha eine Frage an Nadja: »Wo denn, Nadja?« »Wer sagt das, Nadja?« Shenja ahnte, daß es in der minderjährigen Gruppe bereits um dasselbe ging wie überall auf der Welt, wie auch in ihrem eigenen Leben: Liebt mich, liebt mich nicht, küßt mich, küßt mich nicht... Unmerklich veränderte sich etwas - nach kaum einer Woche stellte Shenja fest, daß nicht mehr der ältere, vernünftige Sascha den Ton angab, sondern das lachlustige Plappermaul Nadja. Diese Entdeckung fiel mit dem vorhergesagten Regen zusammen. Nun mochte niemand mehr rausgehen, die durchgeweichte unfertige Laubhütte im Wald hatte ihren Reiz -39-
verloren, und die Kinder saßen zu Hause, um das Ende des Regens abzuwarten. Am Morgen wollten sie den großen Ofen heizen, der bislang nicht benutzt worden war - sie waren mit dem kleinen Herd in der Küche ausgekommen und mit einer Gasflasche, wenn der Strom ausfiel. Nadja verstand sich darauf, den Ofen anzuheizen, was Shenja am Anfang der Saison vergebens versucht hatte. Nadja reinigte ein Ofenrohr, öffnete und schloß immer wieder die Ofenklappe, um ausreichend Zug zu erzeugen. Schließlich, nach etlichen Versuchen, brannte der kleine Haufen aus Birkenrinde, den sie nach allen Regeln bäuerlicher Kunst aufgeschichtet hatte, dann auch die darum herum errichtete Hütte aus Spänen und so weiter, bis zu dem großen, dicken Scheit, der direkt in der Kehle des Ofens steckte. Dann folgte ein ausgiebiges Mittagessen mit roter Grütze und Keksen zum Nachtisch; anschließend räumte Nadja das Geschirr ab, trug es in die Sommerküche und sagte zu Shenja: »Wir lassen es stehen, ja? Ich wasche nach dem Abendbrot alles zusammen ab.« Shenja willigte ein - auch sie hatte keine große Lust auf den Abwasch in der fettigen Schüssel, und sie zog sich mit Vergnügen in das kleine Zimmer zurück, in das gerade ihr Klappbett und ein kleines Regal mit Büchern paßten. Sie legte sich hin, sann wieder einmal über ihr verkorkstes Liebesleben nach, dann vertrieb sie diesen Gedanken, den sie nach nunmehr zehn Jahren eigentlich satt hatte, und griff zu einem klugen Buch, das ein bißchen zu schwierig für sie war, ihr aber aus unerfindlichen Gründen notwendig erschien. Sie setzte ihre Brille auf, bewaffnete sich mit einem dünnen Bleistift für die Fragezeichen am Rand - und schlief augenblicklich ein bei der wundervollen vielstimmigen Musik, die in einem Haus auf dem Lande bei Regen ertönt: Tropfen pladderten auf Bäume, fielen gegen die Fensterscheibe, platschten auf die dunkle Wasserfläche der Regentonne, rauschend lief das Wasser aus der Dachrinne ab, jeder Windstoß löste eine sanfte Klangwelle -40-
aus. Ein Ton war beunruhigend: das erst helle, dann dumpfere Aufschlagen der Tropfen auf den Grund der Schüssel, die unter einer undichten Stelle im Dach auf dem Boden stand. Als Shenja aufwachte, saßen die Kinder am Tisch und hatten Karten vor sich liegen. Grischa, der Jüngste, strahlte vor Glück: Er durfte mitmachen! Sie spielten Schafskopf, »um eine Geschichte« - das war Nadjas Idee. Wer verlor, mußte eine Geschichte erzählen - lustig, gruselig, komisch, je nach Wunsch der anderen. Nadja schwadronierte gerade, phantasievoll und ohne die geringste Glaubwürdigkeit, wie sie letzten Sommer zu Filmaufnahmen in Spanien war, ein Pferd bekam, das zuvor bei Stierkämpfen aufgetreten, aber wegen nervlicher Zerrüttung zum Filmstudio versetzt worden war. Darin folgte die Geschichte ihrer Beziehung zu dem Pferd, einem Pfleger aus dem Gestüt und dessen Tochter, einer jungen Zirkusreiterin. Diese Rosita wollte Nadja sogar zu Gastspielen mitnehmen, denn Nadja besuchte die beste russische Reitschule und war Moskauer Meisterin im Reitsport generell oder in einer speziellen Disziplin dieses aristokratischen Sports. Shenja hätte das Mädchen für diese dreiste Lügerei gern zurechtgewiesen, aber erstens erzog Shenja prinzipiell keine fremden Kinder, weil sie fand, das sollten die Eltern tun und nicht fremde Leute, und zweitens schwindelte Nadja doch sehr amüsant und irgendwie außergewöhnlich, darum fragte Shenja aus ihrer Ecke nur: »Nadja, wie bist du noch mal nach Spanien gekommen? Das hab ich vorhin nicht gehört.« »Ich gehe doch in eine Spanischschule, und im Winter waren Spanier bei uns in der Schule und haben drei Mädchen ausgewählt fürs Schulfernsehen. Wir dachten, das ist alles Quatsch, aber dann war es doch kein Quatsch, sondern echt. Und ich bin nach Spanien gefahren.« Dann aßen sie zu Abend, belegte Brote und dicke Milch, und Nadja hielt ihr Versprechen. Sie zog Gummistiefel und den riesigen Regenmantel ihrer Mutter an und ging hinaus in die -41-
Sommerküche, das Geschirr spülen. Am nächsten Morgen war der Regen nicht mehr so heftig, aber dafür hoffnungslos: So werden aus akuten Krankheiten chronische, die man dann lange nicht mehr los wird. Dieser chronische Regen schien wirklich die sakralen sieben Wochen dauern zu wollen, also eine ganze Ewigkeit. Sie mußten lernen, mit dem Regen zu leben, und Shenja überwand ihre Schläfrigkeit und befahl allen, sich wetterfest anzuziehen, um in den Ort zu gehen, Brot holen. Nadja erbot sich, ob nun aus Altruismus oder aus Vernunftgründen, allein zu gehen - wozu sollten alle im Regen naß werden? Doch die Jungen riefen einhellig: »Ich komme mit!«, und damit war die Frage geklärt - sie gingen alle zusammen. Shenja gab das Geld aus irgendeinem Grunde Nadja und die Tasche Sascha. Zu Mittag waren sie zurück, klitschnaß und aufgeregt. Nadja hatte in der Einkaufsschlange von den ortsansässigen Omas erfahren, daß im Nachbardorf ein Mord geschehen war; den ganzen Heimweg lang hatten sie das Verbrechen erörtert, und nun vernahm Shenja, die den Tisch deckte, Satzfetzen von Nadja - diesmal ging es um die Psychologie des Verbrechers. Sie meinte, wenn man im Hof des betreffenden Hauses Leute postierte, zum Beispiel ein paar Naturforscher, die Vögel beobachten und zählen, wie oft eine Meise ihren Kindern Würmer bringt, dann würde man den Verbrecher auf jeden Fall kriegen, denn der kehre immer an den Ort des Verbrechens zurück. Darauf folgte eine Geschichte, wie sie vor drei Jahren auf diese Weise einen Verbrecher gestellt hatte. Die Einzelheiten konnte Shenja im Nebenzimmer nicht hören, aber einiges bekam sie mit. In der Geschichte spielte ein Phantombild eine Rolle, ein Mann in einer dunklen Jacke und mit einer Lammfellmütze und eine Medaille, die Nadja für ihre Hilfe bei der Verbrecherjagd bekommen habe. Verblüffend, dachte Shenja, Jungen schwindeln doch auch. -42-
Aber immer zu einem bestimmten Zweck: um einer Strafe zu entgehen, um eine Untat zu verheimlichen. Nadja war einfach ein Schatz. Sie dachte sich ständig neue Beschäftigungen für die ganze Mannschaft aus. Sie holte alte Karten ihres großen Bruders Jura vom Boden, einmal eine selbstgezeichnete geographische Karte der Umgebung, und anderthalb Tage saßen alle da und malten sie eifrig ab, um, sobald der Regen aufhörte, die Orte zu erforschen, die Jura so verführerisch dargestellt hatte. Dann spielten sie drei Tage lang das von Nadja ersonnene Spiel »Planet«: Jeder dachte sich einen Planeten aus, mitsamt Bevölkerung und Geschichte, und Shenja staunte nur, wie begabt die kleine Schwindlerin war. Als Shenja sie einmal unwillkürlich lobte, lächelte sie so breit wie eine Zeichentrickfigur und sagte freudig: »Das hat sich mein großer Bruder Jura ausgedacht!« Am vierten Tag der kosmischen Spiele brachen Kriege aus. Der Planet »Timofeja« erklärte dem Planeten »Primus«, Petjas Phantasieprodukt und Eigentum, den Krieg. Die Brüder Sascha und Grischa wahrten vorerst Neutralität, doch der Planet »Jurna«, eine Ableitung der Namen von Nadjas großem Bruder Jura und ihrem eigenen, neigte zur Kooperation mit »Primus« und brachte damit die edle Neutralität von Shenjas Söhnen ins Wanken. Shenja vernahm aus dem großen Zimmer Bruchstücke einer Debatte über Flugapparate, Raketen, Sternenflieger und anderen Unfug und hörte nicht weiter hin. Bis Nadja auf einmal in eine abrupt eingetretene Stille hinein sagte: »Diese Untertasse, Ufo heißt so was, flog auf unseren Garten zu, blieb in der Luft darüber hängen, ganz niedrig, und dann kamen drei Strahlen aus ihrem Bauch geschossen, die trafen auf der Erde zusammen, und davon ist die Erde richtig geschmolzen. Ich hab gleich nach Mama gerufen, Mama kam rausgerannt, aber da hatten sie ihre Strahlen gerade wieder eingezogen und sind weggeflogen, hinter den Wald da drüben. Das war vorletzten -43-
Sommer, und auf der Stelle wächst bis heute kein Gras.« Da wurde Shenja plötzlich furchtbar wütend: Diese Schwindelei war zwar harmlos, aber trotzdem Gift. Sie würde mit Nadjas Mutter reden müssen, das war ja einfach krankhaft sie war ein so liebes Mädchen, aber warum log sie die ganze Zeit? Vielleicht mußte sie mal zum Psychiater? Nadjas Mama, die Hausbesitzerin, sollte am Wochenende kommen, und Shenja beschloß, auf jeden Fall mit ihr zu sprechen. Am Freitag morgen hörte der Regen plötzlich auf, dann wehte ein starker Wind, der bis zum Abend anhielt, und schließlich waren alle Wolken vom Himmel verschwunden, er war nackt, stahlblau und klar, mit den Resten schwindender Abendsonne. Die Milchfrau Tarassowna, die meist am Dorfrand auf die von der Weide heimkehrende Herde wartete, führte ihre Kuh Notschka die Dorfstraße entlang, blieb vor Shenjas Haus stehen und sagte zu ihr: »Na, jetzt hat es sich abgeregnet, nun wird's langsam wieder trocken.« »Sie haben doch gesagt, das dauert sieben Wochen«, erinnerte Shenja sie nachtragend. »Wer zählt schon die Tage... Regen können wir jetzt nicht brauchen. Ganz und gar nicht. Morgen wieder drei Liter Milch? Oder wieviel?« Shenja fiel ein, daß morgen vielleicht ihre Vermieterin kommen würde, und bat die Tarassowna, ihr fünf Liter zu bringen. Am nächsten Morgen animierte Nadja die ganze Mannschaft, ihre Mutter vom Bus abzuholen, und schon um zehn standen sie alle an der Haltestelle. Anna Nikitischna kam gegen Mittag, hochrot, mit erhitztem, schweißnassem Gesicht und zwei riesigen Taschen. Sascha und Timoscha trugen die eine prallgefüllte Tasche, jeder faßte an einem Henkel an, nach -44-
der anderen griffen Petja und Grischa, die sie aber nicht anheben konnten, also nahmen sie Anna Nikitischna und ihre Tochter, ebenfalls jeder an einem Henkel. Sie war eine großzügige Natur, die einstige Dorfbewohnerin Anna Nikitischna. Sie hatte seit langem einen guten Posten in Moskau, bei der Verwaltung des Diplomatischen Korps, war zuständig fürs Putzen, Waschen und Kochen bei den hochrangigen Diplomaten. Ihr unterstand ein Mitarbeiterstab von hundert Frauen, der Job war sehr einträglich und verantwortungsvoll; Fehler durfte man sich dort nicht leisten. Doch die Nikitischna war klug und diplomatisch und besaß zudem einen Schutzpatron ganz oben. Shenja kannte diese Details nicht und war deshalb verblüfft, als die Datschavermieterin ihre Taschen auspackte und der Tisch überquoll von Lebensmitteln geradezu überirdischer Herkunft, was Grischa prompt zu dem Kommentar veranlaßte: »Kosmonautennahrung, nicht?« Genau, und Kosmonautengetränke. In Büchsen und kleinen Fläschchen und ein orangefarbenes Pulver, das, in Wasser aufgelöst, zu Orangensaft mit Sprudel wurde. »Für die Jungs, das habe ich für deine Jungs mitgebracht. Du hast mir so geholfen, Shenja. Sonst würde Nadja jetzt in Moskau rumsitzen, und hier ist sie wenigstens an der frischen Luft. Ich hab mit Kolja gesprochen, also, wir haben beschlossen: Für August nehmen wir kein Geld von dir. Du kümmerst dich ja um Nadja, also werden wir unsererseits... Verstehst du?« Anna Nikitischna zwinkerte Shenja zu, und die staunte erneut, wie ähnlich Nadja, eine ausgesprochene Schönheit, ihrer Bärin von Mutter war, die eine niedrige Stirn hatte, winzige Äuglein, eine grobe Nase und einen breiten Mund, von einem Ohr zum anderen. »Ich verstehe, Anna Nikitischna. Danke für die Geschenke, so etwas haben die Jungs noch nie gesehen. Aber mit dem Geld... Das ist nicht nötig, wirklich. Sie sehen ja, wie mein -45-
Sommer aussieht, ich habe sowieso noch zwei dazugekriegt, da spielt eins mehr oder weniger keine Rolle. Und Nadja ist einfach Gold wert. Eine echte Hilfe. Ganz was anderes als die Jungs. Ihr Mädchen ist toll.« An Nadjas Schwindeleien dachte Shenja in diesem Moment nicht, verblüfft von der Großzügigkeit dieser einfachen Frau. Die Kinder gingen an diesem Abend spät ins Bett, sie saßen lange am Abendbrottisch und probierten die nie gesehenen Delikatessen aus den Tüten: Süßes und Salziges, Nüsse und Gummitiere, Kaugummi, der nach Hirnbeere oder Apfelsine schmeckte... Dann wuschen sie sich die Füße, putzten sich die Zähne und gingen schlafen, woanders als sonst, denn das große Hauptbett wurde Anna Nikitischna und Nadja überlassen, und Sascha wurde auf Nadjas Platz umquartiert. Endlich waren die Kinder zur Ruhe gekommen, und Anna Nikitischna holte aus der Sommerküche eine Flasche Wodka, ein Dreiliterglas hausgemachte Salzgurken und ein Glas eingelegte Reizker; das alles an die Brust gepreßt, stampfte sie mit schweren Schritten über den aufgeweichten Weg. Sie saßen noch lange auf der Terrasse, und Anna Nikitischna erzählte Shenja von ihrem heroischen Leben, wie sie alles allein erreicht hatte, ganz allein, ihren Posten und ihren Wohlstand. Sie könne noch mehr haben, aber das wolle sie nicht, denn alles habe seinen Preis, und was sie erreicht habe, sei für sie genau richtig, mehr brauche sie gar nicht. Anna Nikitischna trank, von drei Gläsern abgesehen, die ganze Flasche Wodka allein, aß, abgesehen von einer mittelgroßen Gurke, das Dreiliterglas leer - zwischen den Gurken lagen auch kleine Kürbisse und grüne Tomaten -, und dann trennten sie sich, durchaus zufrieden miteinander. Das Mädchen ist in Ordnung, beurteilte Anna Nikitischna Shenja. Ein exotisches Exemplar, dieses Weib, entschied Shenja. -46-
Am Morgen wunderte sich Shenja über Anna Nikitischnas Kälte; sie kam nicht darauf, sie dem Kater nach dem gestrigen Abend zuzuschreiben. Die Vermieterin zog die Gummistiefel an und ging in den Garten - die im Unkraut fast erstickten Reste der Radieschen retten. Nadja folgte ihrer Mutter; überhaupt wich sie nicht von ihrer Seite, war anhänglich wie ein Kälbchen. Am Abend rüstete sich Anna Nikitischna zum Aufbruch. Die Taschen waren nun vollgestopft mit Grünzeug aus dem Garten und Frühkartoffeln von der Tarassowna. Auch ein paar Gläser Eingelegtes vom Vorjahr nahm sie mit. »Dieses Jahr werden wir kaum etwas ernten«, erklärte Anna Nikitischna Shenja, »im Frühjahr haben Nikolai und ich eine Urlaubsreise bekommen, deshalb konnten wir nichts anpflanzen. Faktisch liegt der ganze Garten dieses Jahr brach.« Dann brachten sie alle Anna Nikitischna zum Bus. Der Sechsuhrbus fiel aus, also mußten sie auf den nächsten warten. Die Kinder hatten es bald satt, auf den Baumstämmen zu sitzen, und liefen zum Fluß hinunter. Shenja, nun mit ihrer Vermieterin allein, streckte vorsichtig die Fühler aus: »Sagen Sie, war Nadja von der Schule aus in Spanien?« »Ja«, antwortete Anna Nikitischna gleichmütig, »ich sage schon manchmal zu Nikolai, warum schlägst du sie denn, sie ist gut in der Schule, sie hilft zu Hause, aber er - nein, sagt er, Erziehung muß sein. Vielleicht hat er ja recht - Nadja ist Klassenbeste. Sie haben Schüler für einen spanischen Film gesucht, und aus der ganzen Schule wurden nur drei genommen. Anderthalb Monate, sie haben alles bezahlt, Flug, Essen und Hotel. Hat uns alles keine Kopeke gekostet. Nadja sollte sogar noch Geld kriegen. Aber Nikolai war dagegen, das nimmst du nicht, hat er gesagt, denen ihr Geld, damit machst du dich bloß schmutzig, das bleibt an dir hängen. Wir arbeiten schließlich beim Diplomatischen Korps, nicht in irgendeiner Fabrik.« Sie polkte mit dem Finger in ihren Backenzähnen -47-
herum, kaute und schnalzte mit der Zunge. »Spanisch, das ist nicht schlecht, das sprechen sie in Kuba und in Lateinamerika. Ich denke, wir lassen sie Sprachen studieren.« So, dachte Shenja, mit Spanien ist alles klar. »Nicht vielleicht lieber Jura? Mit ihrer Milizmedaille?« warf Shenja eine weitere Angel aus. »Was heißt hier Medaille, Shenja! Das ist doch nichts weiter! Bloß ein Ehrenabzeichen. Sie war noch klein, da haben sie ihr damit den Kopf verdreht - eine Medaille, eine Medaille! Hat sie dir das erzählt? So eine Plaudertasche! Bei uns im Haus hat es einen Mord gegeben, eine Alte wurde mit der Axt erschlagen. Sie haben ein Phantombild ausgehängt, alle Nachbarn zusammengeholt und uns instruiert, wenn wer jemanden sieht, der so aussieht, soll er es melden. Das Milizrevier ist gleich bei uns im Hof. Na ja, und mein Kind hat ihn gesehen, einen Mann mit Lammfellmütze, da ist sie gleich hingelaufen, und dann haben sie ihn sofort festgenommen. Er war der Neffe von der Alten. Den hatten sie sowieso in Verdacht, aber nun war er sogar selber aufgetaucht, und Nadja hat ihn nach dem Phantombild erkannt. Sie ist sehr aufmerksam. Und hat Glück, ihr fliegt irgendwie alles zu.« »Und Ihr Sohn, ist der genauso?« »Welcher Sohn?« fragte Anna Nikitischna erstaunt. »Wir haben keinen Sohn.« »Wie? Und Jura? Sie redet doch dauernd von ihrem großen Bruder Jura.« Shenja war noch erstaunter. Anna Nikitischna lief rot an, zog die Brauen zusammen, und man ahnte, weshalb man sie bei der Verwaltung des Diplomatischen Korps zu schätzen wußte: »Dieses Luder! Sie hat also im ganzen Hof rumerzählt, daß sie einen Bruder hat. Die Nachbarinnen, für die war das ein gefundenes Fressen, die haben gleich das Gerücht verbreitet, daß mein Kolja einen unehelichen Sohn hat. Da kommt das also her! Na, Shenja, die -48-
kann was erleben!« Mit schallender Stimme rief sie: »Nadja! Komm her!« Nadja lief sofort los, die Jungs hinterher. Sie rannten die Uferböschung hoch, der Weg war rutschig, noch feucht vom langen Regen, Shenja sah, wie Grischa hinfiel und Petja mitriß, wie beide sich im nassen Gras wälzten und wie Nadja aus Leibeskräften rannte. Da kam der Bus um die Ecke und wollte schon an der Haltestelle vorbeifahren, doch Anna Nikitischna schwang die Faust, die Vordertür öffnete sich, sie quetschte sich mitsamt ihren Taschen hinein, drehte sich noch einmal zu Shenja um und rief: »Nächsten Sonnabend komme ich mit ihrem Vater, der wird's ihr zeigen, dem Luder. Diese Lügerei... Da hat sie sich was Schönes angewöhnt.« Nadja kam angerannt, sah den Bus abfahren und fing an zu weinen - zum ersten Mal in diesen zwei Wochen sah Shenja das Mädchen weinen. Weil sie sich nicht von ihrer Mutter verabschiedet hatte. Sie ahnte nicht, was ihr bevorstand. Shenja mußte lachen. Sie nahm Nadja in den Arm. »Nun heul doch nicht, Nadjuscha. Du siehst ja, wie die Busse heute fahren, halten sich an keinen Fahrplan - der eine ist gar nicht gekommen und der hier viel zu früh.« Nun interessierte Shenja nur noch eine einzige Frage, das heißt, die Antwort darauf: Was war dahinten im Garten, gab es da diese kahle Stelle, von der Nadja gesprochen hatte? »Komm, zeig mir doch mal, wo bei euch im Garten die Erde von den Strahlen verbrannt wurde.« »Ja, klar, mach ich.« Nadja nahm Shenjas Hand. Ihre Hand war weich und drall, sie fühlte sich angenehm an. Sie gingen zurück zum Haus und liefen an der Terrasse vorbei nach hinten, wo der eigentliche Garten in offenes Feld überging, denn der Zaun war umgestürzt, und Nikolai hatte ihn wegen -49-
der Urlaubsreise im Frühjahr noch nicht reparieren können. Erst hielt Shenja es für eine Kanalisationsluke mit einem ganz normalen gußeisernen Deckel. Dann erkannte sie, daß die Fläche doppelt so groß war. Und als sie genauer hinsah, bemerkte sie, daß die Naht fehlte. In der Mitte sah es wirklich aus wie Eisen, es glänzte sogar ein wenig, dann wurde es heller, und am Rand dieser verbrannten Erde wuchs Gras, erst dünn und blaß, nur vereinzelte Halme, bis es schließlich dichter wurde und so hoch, daß es längst hätte gemäht werden müssen. Shenja stampfte mit dem Fuß, der in einem Gummistiefel steckte, auf die Fläche - na schön, kein Eisen, aber vielleicht war es ja Asphalt. Dann setzte sie sich mitten in den Kreis und bat Nadja, ihr noch einmal zu erzählen, wie sich das alles abgespielt hatte. Und Nadja erzählte ihr bereitwillig noch einmal die ganze Geschichte, zeigte ihr, wo die fliegende Untertasse aufgetaucht war, wo sie gedreht hatte, wie sie in der Luft hing und wohin sie verschwand. »Und die Strahlen sind genau hier zusammengetroffen, wo diese kahle Stelle ist.« Nadjas wunderschönes Gesicht strahlte, sie freute sich und verströmte die reine, geradezu heilige Wahrheit. Shenja schwieg eine Weile, dann drückte sie Nadja an sich und fragte sie leise, den Mund ganz dicht an Nadjas Ohr, damit die Jungen nichts hörten: »Aber das mit deinem Bruder Jura, das ist geschwindelt, oder?« Nadjas braune Augen erstarrten, als wären sie versiegelt. Ihr Mund öffnete sich einen Spalt, sie stopfte fast alle Fingerspitzen zugleich hinein und kaute fieberhaft darauf herum. Shenja erschrak. »Nadjuscha, was ist denn? Was hast du?« Nadja schmiegte ihr Gesicht und ihren ganzen weichen, drallen Körper an Shenjas magere Seite. Shenja streichelte ihr dickes braunes Haar, den dicken, seidenweichen Zopf und -50-
ihren glatten, unter dem groben Mantel bebenden Rücken. »Na, na, mein Mädchen. Nadja, was hast du denn?« Nadja riß sich von Shenja los, und ihre Augen funkelten schwarz und haßerfüllt. »Ich habe einen Bruder! Ich habe einen Bruder!« Dann weinte sie bitterlich. Shenja stand auf der Eisenplatte, die die Strahlen der fliegenden Untertasse gebrannt hatten, und verstand überhaupt nichts. Ende der Geschichte.
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Ende der Geschichte
M
itte Dezember. Am Ende des Jahres. Am Ende der Kräfte. Dunkelheit und Wind. Das Leben stockt irgendwie, alles steckt an einer unguten Stelle fest wie ein Rad im Straßengraben, dreht sich auf der Stelle. Im Kopf kreisen zwei Gedichtzeilen: »Es war in unseres Lebensweges Mitte, als ich mich fand in einem dunklen Walde...« Absolute Dunkelheit und nicht der geringste Lichtblick. Schäm dich, Shenja, schäm dich. Im kleinen Zimmer schlafen zwei Jungen, Sascha und Grischa. Deine Söhne. Da auf dem Tisch liegt deine Arbeit. Setz dich hin, schreib. Da, der Spiegel - er zeigt eine fünfunddreißigjährige Frau mit großen, leicht nach unten abgeschrägten Augen, einer üppigen Brust, ebenfalls leicht abwärts geneigt, und schönen Beinen mit schlanken Fesseln; sie hat vor kurzem den nicht mal schlechtesten Ehemann rausgeworfen, übrigens nicht den ersten, sondern bereits den zweiten. Außerdem zeigt der Spiegel einen Teil der kleinen, aber sehr schönen Wohnung in einem der besten Viertel Moskaus, nämlich auf der Powarskaja-Straße, im Hof, das halbrunde Fenster geht auf den Vorgarten hinaus. Später wurden sie natürlich hier ausquartiert, aber damals, Mitte der Achtziger, wohnten sie noch gut. Auch Shenjas Familie war wunderbar. Eine große Familie mit Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen jeden Grades, allesamt hochgebildete, angesehene Leute: Wer Arzt war, galt als guter Arzt, wer Wissenschaftler war, als vielversprechend, wer Künstler war, als renommiert. Na ja, der Künstler war natürlich kein Glasunow. Aber er bekam Aufträge von Verlagen, war ein guter Buchausstatter, fast einer der besten. In seiner Zunft genoß er Ansehen. Von ihm wird noch die Rede -52-
sein. Außer Cousins und Cousinen ersten und zweiten Grades wuchs inzwischen schon eine Generation zahlreicher Nichten und Neffen heran - Katjas, Maschas, Daschas, Saschas, Mischas und Grischas. Darunter auch eine gewisse Ljalja, dreizehn Jahre alt. Sie hatte bereits einen Busen. Allerdings auch noch Pickel. Und eine lange Nase, und die für immer. Nun, die konnte man ja später korrigieren lassen. Aber erst später. Ihre Beine waren ebenfalls lang. Schöne Beine. Doch das bemerkte noch niemand. Aber in ihr tobten bereits die Leidenschaften. Das Mädchen hatte eine irrsinnige Affäre mit ihrem Onkel, dem Grafiker. Eines Tages hatte die langnasige Ljalja ihre Cousine zweiten Grades Dascha besuchen wollen und deren Vater angetroffen. Er saß zu Hause, in seinem abgelegenen Zimmer, und zeichnete. Wunderhübsche Bilder Vögel in Käfigen, zu irgendwelchen Gedichten. Wie gesagt, er war Buchillustrator. Schwarzes Haar, gewellt und lang. Bis zu den Schultern. Eine blaue Jacke, darunter ein blaurot kariertes Hemd. Unterm Hemd ein Halstuch mit winzigen Blümchen, nicht größer als ein Komma waren die Blümchen. Oder nein, es waren keine Blümchen und auch keine Kommas, sondern eher Gürkchen. Aber ganz kleine, winzige... Sie verliebte sich. Nun kommt also das Mädchen Ljalja zu ihrer erwachsenen Verwandten Shenja, der zu besagter Dezemberzeit so gar nicht nach ihrer entfernten Nichte zumute ist. Aber Shenja ist die Cousine des Künstlers. Ersten Grades. Und das Mädchen Ljalja gesteht ihre Liebe. Und erzählt Shenja die ganze Geschichte: Wie sie Dascha besuchen wollte, und er saß im hinteren Zimmer und malte Vögelchen und hatte ein Tuch mit Gürkchen drauf um den Hals. Und wie sie später noch einmal hinging und nicht zu Dascha wollte, wie sie bei ihm im Zimmer saß. Er malte, und sie saß still daneben. Schweigend. Jeden Dienstag und Donnerstag hat Mila, die Frau des Künstlers, vormittags Sprechstunde, ab acht. Montags, -53-
mittwochs und freitags am Nachmittag. Sie ist Frauenärztin. Dascha geht jeden Tag in die Schule. Sie fährt auf den Prospekt Mira, in die französische Schule. Sie geht fünf vor halb sieben aus dem Haus. Dienstags und donnerstags, aber nicht jede Woche, sondern eine Woche am Dienstag, eine Woche am Donnerstag, kommt Ljalja um halb neun in das hintere Zimmer. Mal schwänzt sie Geschichte und Englisch, mal eine Doppelstunde Literatur. Ja, sie ist erst dreizehn. Na und? Was tun? Was kann man schon dagegen tun? Wenn es wahnsinnige Liebe ist. Er betet sie an. Seine Hände zittern, wenn er sie auszieht. Das ist umwerfend. Der erste Mann in ihrem Leben. Sie ist überzeugt, daß es nie einen anderen geben wird. Schwanger werden? Nein, davor hab ich keine Angst. Das heißt, daran habe ich noch gar nicht so gedacht. Aber man kann ja die Pille nehmen. Kannst du nicht Mila anrufen, daß sie dir die verschreibt, für dich... Shenja ist außer sich. Ljalja ist genauso alt wie Sascha. Beide sind dreizehn, aber sie ist ein Mädchen. Das sind offenbar verschiedene Zeitrechnungen. Sascha hat nur die Astronomie im Kopf. Er liest Bücher, bei denen Shenja nicht einmal die Kapitelüberschriften versteht. Und diese kleine Idiotin denkt an Liebe und macht ausgerechnet sie, Shenja, zur Vertrauten ihrer Herzensgeheimnisse. Ein schönes Geheimnis: Ein anständiger vierzigjähriger Mann hat ein Verhältnis mit seiner minderjährigen Nichte, einer Freundin seiner Tochter, und trifft sich mit ihr in seiner eigenen Wohnung, während seine Frau drei Häuser weiter ihre Sprechstunde abhält und strenggenommen jeden Moment reinplatzen kann, auf eine Tasse Tee zum Beispiel. Und Ljaljas Eltern? Ihre Mutter, Shenjas Cousine Stella mit dem dicken Hintern, was denkt die sich eigentlich? Daß die Tochter in die Schule gegangen ist, die abgewetzte Schultasche schwingend? Und ihr Papa Konstantin Michailowitsch, der bescheuerte Mathematiker, was denkt der sich? Was die verstorbene Tante Emma, die leibliche -54-
Schwester von Shenjas leiblichem Vater, dazu sagen würde, das ist gar nicht auszudenken. Ljalja schwänzt die ersten Stunden. Manchmal kommt sie, wenn Sascha und Grischa in der Schule sind, zu Shenja Kaffee trinken. Wenn der Künstler keine Zeit hat oder sie einfach keine Lust, in der Schulbank zu sitzen. Rausschmeißen kann Shenja das Mädchen nicht - womöglich springt sie dann aus dem Fenster? Shenja hört ergeben zu. Und ist verzweifelt. Als ob sie nicht genug eigene Probleme hätte: Sie hat ihren Mann rausgeschmissen, weil sie sich in einen weit entfernten Herrn verliebt hat. Er ist mit Leib und Seele Theatermann. Regisseur. In einer wunderschönen, beinahe ausländischen Stadt. Ruft jeden Tag an und fleht sie an zu kommen. Und nun auch noch diese Ljalja. »Ljaletschka, meine Liebe, dieses Verhältnis muß sofort aufhören. Du hast den Verstand verloren!« »Aber warum denn, Shenja? Ich liebe ihn wahnsinnig. Und er liebt mich auch.« Shenja glaubt ihr das - denn Ljalja ist in letzter Zeit sehr viel schöner geworden. Sie hat schöne Augen, groß und grau, die Wimpern sind schwarz angemalt. Die Nase ist lang, aber schmal, mit einem edlen Höcker. Die Haut ist wesentlich reiner geworden. Und der Hals - ein wundervoller Hals von seltener Schönheit: schlank, sich nach oben hin noch verjüngend, und wie schön der Kopf auf diesem geschmeidigen Stiel sitzt... Verdammt! »Ljaletschka, meine Liebe, wenn du nicht an dich denkst, dann denk doch wenigstens an ihn: Ist dir klar, was passiert, wenn das rauskommt? Er wird auf der Stelle eingesperrt! Sag bloß, du hast kein Mitleid mit ihm? Acht Jahre Gefängnis!« »Nein, Shenja, nein. Keiner wird ihn einsperren. Wenn Mila das rauskriegt, schmeißt sie ihn natürlich raus, das ja. Und läßt ihm keine Kopeke. Dann muß er zahlen. Sie ist furchtbar -55-
geldgierig. Er verdient sehr viel. Aber wenn er in den Knast kommt, kann er keine Alimente zahlen. Nein, nein, sie wird keinen Skandal wollen. Im Gegenteil, sie wird alles unter den Teppich kehren«, malt Ljalja kalt und berechnend die Zukunft aus, und Shenja erkennt, so ungeheuerlich das ist, daß sie wohl recht hat: Milka ist wirklich furchtbar geldgierig. »Und deine Eltern, meinst du, die machen sich keine Sorgen? Überleg mal, wie denen zumute ist, wenn sie das erfahren!« versucht Shenja es von einer anderen Seite. »Die sollen lieber den Mund halten. Meine liebe Mama schläft mit Onkel Wassja.« Shenja macht große Augen. »Weißt du das etwa nicht? Papas Bruder, mein Onkel Wassja. Mama ist verrückt nach ihm, schon immer. Ich weiß nur nicht genau, ob sie sich schon in ihn verliebt hat, bevor sie Papa geheiratet hat, oder erst danach. Und was Papa angeht, dem kann sowieso alles egal sein, der ist doch überhaupt kein Mann. Verstehst du, was ich meine? Den interessieren doch nur seine Formeln, sonst gar nichts. Auch nicht Mischka und ich.« Mein Gott, was tun mit diesem minderjährigen Ungeheuer? Schließlich ist sie erst dreizehn. Ein Kind, das Schutz braucht. Und unser Künstler, der ist auch gut! Dieser asketische Ästhet! Samtjackett! Halstuch! Gepflegte Hände! Für die Maniküre kommt extra eine Frau ins Haus. Er hat in Shenjas Beisein mal gesagt, für seine Arbeit brauche er tadellose Hände, wie ein Pianist. Eigentlich wirkt er eher schwul. Aber nein, offensichtlich ist er pädophil. Andererseits, Ljalja ist kein Kind mehr. Bei den Juden wurden früher die Mädchen mit zwölfeinhalb Jahren verheiratet. Rein körperlich ist sie längst erwachsen. Und im Kopf ist sie mehr als erwachsen - wie sie das mit Mila erklärt hat, das würde nicht jede Frau so klar sehen. Aber was soll sie, Shenja, tun? Sie ist die einzige -56-
Erwachsene, die in die Geschichte eingeweiht ist. Also trägt sie die Verantwortung. Und sie kann sich mit niemandem beraten. Auch zu ihren Eltern kann sie damit nicht gehen. Mama kriegt einen Herzinfarkt! Ljalja kommt fast jede Woche zu Shenja, erzählt vom Künstler, und alles, was sie sagt, überzeugt Shenja davon, daß diese alptraumhafte Verbindung ziemlich stabil ist - wenn ein verheirateter Mann das Risiko eingeht, seine minderjährige Geliebte jede Woche bei sich zu Hause zu empfangen, dann hat er wirklich den Kopf verloren. Verhütungspillen, ziemlich teure übrigens, hat Shenja natürlich ohne Milas Hilfe gekauft, sie Ljalja gegeben und ihr eingeschärft, sie unbedingt jeden Tag zu nehmen. Dennoch empfindet Shenja einen großen moralischen Druck. Ihr ist klar, daß sie etwas unternehmen muß, bevor es zum Skandal kommt, weiß aber nicht, von welcher Seite sie es anpacken soll. Schließlich entscheidet sie: Das einzige, was sie unter diesen Umständen tun kann, ist, mit dem verdammten Künstler zu reden. Ihr Regisseur ruft an, bittet sie, wenigstens für einen Tag zu kommen. Er steht kurz vor einer Premiere, arbeitet zwölf Stunden am Tag... Aber wenn sie jetzt in die wundervolle, warme, helle Stadt fliegt, dann ist es aus, dann ist sie verloren! Und wenn sie nicht hinfliegt? Sie muß etwas tun mit dieser verrückten Ljalja-Geschichte. Dabei geht es gar nicht so sehr um den unvermeidlichen Skandal. Aber schließlich zerstört hier ein Erwachsener das Leben eines Kindes. Herrgott, was für ein Glück, daß sie Söhne hat. Was gibt es da schon groß für Probleme? Saschas Astronomieaufgaben. Und Grischa muß man mit Gewalt von den Büchern wegzerren, sonst liest er die ganze Nacht, mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke. Manchmal prügeln sich die beiden. Aber in letzter Zeit immer seltener. Endlich entschließt sich Shenja, Ljaljas Geliebten anzurufen. Sie tut es an einem Nachmittag, an dem Mila Sprechstunde hat. -57-
Er freut sich sehr, lädt sie sofort ein vorbeizukommen, es sei ja zum Glück nicht weit. Shenja sagt, besuchen komme sie ihn lieber ein andermal, diesmal müßten sie sich an einem neutralen Ort treffen, nicht zu Hause. Sie treffen sich vor dem Kino »Chudoshestwenny«, er schlägt vor, ins Café »Praga« zu gehen. »Ist was passiert, Shenja? Du siehst so mitgenommen aus«, erkundigt sich der Künstler freundlich, und Shenja fällt ein, daß er immer sehr anständig zu seinen Verwandten war. Einmal hat er einer ziemlich entfernten Cousine geholfen, die eine schwierige Operation machen lassen mußte, ein andermal einem Rotzlöffel aus der Verwandtschaft nach einem mißglückten Autodiebstahl einen Anwalt bezahlt. So kompliziert ist der Mensch beschaffen, so viel Verschiedenes hat er in sich. »Entschuldige, aber ich muß etwas Unangenehmes mit dir besprechen. Es geht um deine Geliebte«, beginnt Shenja schroff, weil sie befürchtet, die Flamme der Empörung über diese häßliche Geschichte könne sonst erlöschen. Er schweigt lange. Hartnäckig. Unter der dünnen Haut pulsieren die Adern. Er ist gar nicht so schön, wie ihr früher schien. Oder die Schönheit ist mit den Jahren verblaßt. »Shenja, ich bin erwachsen, du bist nicht meine Mutter und nicht meine Großmutter. Warum soll ich dir also Rechenschaft ablegen?« »Darum, Arkadi«, explodiert Shenja, »weil wir uns für alles, was wir tun, am Ende verantworten müssen. Und wenn du erwachsen bist, dann mußt auch du für deine Situation die Verantwortung übernehmen...« Er nimmt einen großen Schluck aus der kleinen Kaffeetasse. Dann stellt er die Tasse fast auf die Tischkante. »Sag mal, Shenja, hat dich jemand geschickt, oder ist das auf deinem Mist gewachsen?« -58-
»Was redest du da? Wer soll mich denn geschickt haben? Deine Frau? Oder Ljaljas Eltern? Oder vielleicht Ljalja selber? Natürlich ist das auf meinem Mist gewachsen, wie du sagst. Ljalja, das Dummchen, hat mir alles erzählt. Natürlich wäre es mir lieber, ich wüßte nichts davon. Aber da ich es weiß, habe ich Angst. Um dich und um sie. Das ist alles.« Er entspannt sich auf einmal und ändert seinen Ton. »Ich wußte, ehrlich gesagt, gar nicht, daß ihr Kontakt habt. Interessant.« »Glaub mir, mir wäre es lieber, ich hätte keinen Kontakt zu ihr, schon gar nicht aus so einem Anlaß...« »Shenja, erklär mir bitte, was du von mir willst. Diese Geschichte dauert schon mehrere Jahre. Und wir beide, du und ich, entschuldige, aber wir stehen uns nicht nahe genug, um so intime Dinge meines Privatlebens zu erörtern.« Da begreift Shenja, daß alles nicht so einfach ist, daß hinter diesen Worten mehr steht, als sie weiß. Arkadi wirkt teils schuldbewußt, teils aber auch leidend. »Ich hatte das so verstanden, daß die Geschichte erst vor kurzem angefangen hat, nun sagst du, das läuft schon mehrere Jahre«, sagt Shenja und verflucht sich dafür, diese Aufklärung angezettelt zu haben. »Wenn du den Detektiv spielen willst, dann bist du darin nicht besonders gut. Die Sache geht, ehrlich gesagt, schon seit drei Jahren.« Er zuckt die Achseln. »Ich verstehe nur nicht, warum Ljalja das mit dir erörtern mußte. Milka weiß Bescheid, und sie ist mit allem einverstanden, Hauptsache, keine Scheidung.« Er stößt mit dem Ellbogen gegen die Tasse, sie fliegt vom Tisch, zerschellt auf dem Boden. Er bückt sich, ohne aufzustehen, sammelt mit seinem langen Arm die Splitter ein und häuft sie vor sich auf. Dann sortiert er die weißen Bruchstücke, als wolle er die Tasse wieder zusammenfügen. Er -59-
hebt den Kopf. Nein, er ist doch schön. Diese auseinanderstehenden Brauen, die grünen Augen. Das dritte Jahr? Er hat sich also mit einer Zehnjährigen eingelassen? Und redet darüber so alltäglich... Die Männer sind doch Wesen von einem anderen Stern. »Hör mal, Arkadi, das verstehe ich wirklich nicht. Das sagst du so einfach? Das will mir nicht in den Kopf - ein erwachsener Mann schläft mit einem zehnjährigen Mädchen...« Er reißt die Augen auf. »Wovon redest du, Shenja? Was für ein Mädchen?« »Ljalja ist vor anderthalb Monaten dreizehn geworden! Was ist sie denn sonst - eine Mieze, eine Alte, ein Weib?« »Von wem reden wir, Shenja?« »Von Ljalja Rubaschowa.« »Rubaschowa?« Arkadi ist aufrichtig erstaunt. Er markiert den Ahnungslosen. Oder... »Na, Ljalka. Die Tochter von Stella Kogan und Kostja Rubaschow.« »Ach, Stella! Die habe ich schon hundert Jahre nicht gesehen. Ja, stimmt, sie hatten eine Tochter, glaube ich. Was hat das mit mir zu tun? Kannst du mir das mal vernünftig erklären?« Das ist alles. Ende der Geschichte. Er versteht. Erschrickt. Lacht. Äußert den Wunsch, einen Blick auf das Mädchen zu werfen, das sich eine Affäre mit ihm ausgedacht hat - er erinnert sich nicht an sie. Es kommen schließlich viele Mädchen ins Haus, Freundinnen von Daschka. Dann lacht auch Shenja, der ein Stein vom Herzen gefallen ist. »Aber dir ist doch klar, mein Lieber, daß ich dich doch ertappt habe, mit deiner Geliebten?« -60-
»In gewisser Weise schon. Eine Geliebte habe ich tatsächlich. Sie ist zwar nicht zehn und auch nicht dreizehn, aber Probleme gibt's natürlich, wie du dir denken kannst. Darum war ich furchtbar sauer, als du...« Der Kellner räumt die Porzellanscherben weg und ruft eine Putzfrau, die unter dem Tisch wischt. Shenja wartete auf Ljaljas nächsten Besuch. Sie hörte sich ihre üblichen Ergüsse an. Ließ sie ausreden. Dann sagte sie: »Ljalja, ich bin sehr froh, daß du die ganze Zeit zu mir gekommen bist und mir deine Erlebnisse mitgeteilt hast. Es war dir bestimmt sehr wichtig, mir diese Geschichte vorzuschwindeln, die es nicht gegeben hat. Du hast das alles noch vor dir: Liebe, Sex, einen Künstler...« Shenja konnte ihre vorbereitete Rede nicht zu Ende bringen. Ljalja war schon im Flur. Sie sagte kein Wort, griff nach ihrer Schultasche und verschwand für viele Jahre. Aber auch Shenja stand der Sinn nicht nach ihr. Der Winter, der in der Dunkelheit festzustecken schien, war endlich über den toten Punkt hinweg. Der Regisseur brachte seine Premiere hinter sich und kam nach Moskau. Er war fröhlich und traurig zugleich und ständig umringt von zahlreichen Verehrern Moskauer Georgiern, die sich erhaben nach Tiflis sehnten, und anderen Intellektuellen, die verliebt waren in Georgien und seinen freiheits- und weinliebenden Geist. Zwei Wochen war Shenja glücklich, und der dunkle Wald in ihres Lebensweges Mitte wurde heller, der März war wie ein April, warm und hell, wie erleuchtet vom Widerschein der fernen Stadt am Ufer der wilden Kura. Sie kam zur Ruhe. Nicht weil sie zwei Wochen lang glücklich war, sondern weil sie im Grunde ihres Herzens erkannt hatte, daß ein Fest nicht ewig währen kann; dieser Mann war ihrem Leben widerfahren wie ein riesiges Geschenk, so riesig, daß man es wohl eine Weile halten, aber nicht für immer mit sich nehmen konnte. Shenja erzählte ihm die -61-
Geschichte des Mädchens Ljalja, er lachte erst, dann sagte er, das sei ein geniales Sujet. Schließlich reiste er wieder ab, Shenja besuchte ihn in Georgien, und er kam noch ein paarmal nach Moskau. Dann war mit einem Schlag alles vorbei, als wäre es nie geschehen. Und Shenja lebte weiter vor sich hin. Sie versöhnte sich sogar mit ihrem zweiten Mann, den sie, wie sich im Laufe der Zeit herausgestellt hatte, einfach nicht verlassen konnte: Er gehörte so unverrückbar zu ihrem Leben wie die Kinder. Von Ljalja hörte sie lange nichts: Bei Geburtstagen ließ sie sich nicht blicken, und auf Beerdigungen war keine Gelegenheit zu Gesprächen. Erst viele Jahre später trafen sie sich bei einer Familienfeier, Ljalja war inzwischen eine erwachsene, sehr schöne junge Frau, verheiratet mit einem Pianisten. Sie hatte ihre kleine Tochter mit. Die Vierjährige trat auf Shenja zu und erklärte, sie sei eine Prinzessin. Das ist alles. Ende der Geschichte.
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Eine Naturerscheinung
A
lles hatte so wunderbar begonnen, doch dann endete es mit einem seelischen Trauma für Mascha, ein äußerlich wenig bemerkenswertes, sommersprossiges Mädchen mit schlichter Brille und sehr sensiblem Gemüt. Das Trauma verursachte Anna Weniaminowna, eine Dame vorgerückten Alters mit kurzem grauem Haar, und das tat sie ohne jede böse Absicht. Sie war Pädagogin, Professorin, schon lange in Pension, doch ihr pädagogischer Eifer war im Laufe der vielen Jahrzehnte, in denen sie russische Literatur, vor allem Lyrik, unterrichtet hatte, nicht abgekühlt. Anna Weniaminowna war auch ein wenig eine Sammlerin - mehr noch als alte, noch zu Lebzeiten ihrer Verfasser erschienene Bücher sammelte sie junge Seelen, die zu diesem Schatz des silbernen Zeitalters strebten. Im Laufe ihrer langjährigen Tätigkeit an einer zweitrangigen Hochschule war die Zahl ihrer ehemaligen Schüler auf ein stattliches Heer angewachsen. Eines schönen Tages saß Anna Weniaminowna in einer hellgrauen Polyesterbluse, einem altmodisch geschnittenen Tweedjackett und uralten Schuhen, die jeden Tag ihres langen Lebens mit einer Bürste aus Naturborste geputzt wurden, auf einer Bank in einem wundervollen Park - die genaue Adresse bleibt aus Gründen der Diskretion ungenannt - nicht direkt im Zentrum von Moskau, aber auch nicht eben am Stadtrand. Ein guter, beinahe renommierter Bezirk. In der Hand hielt sie ein Buch, das in Zeitungspapier eingeschlagen war. So etwas machte eigentlich kein Mensch mehr. Doch sie schlug ihre Bücher weiter hartnäckig in Zeitungsbögen ein, die sie mit der Schere akkurat zurechtschnitt, damit der Umschlag perfekt paßte. -63-
Es war ein schöner Tag Mitte April, und die beiden, Anna Weniaminowna und Mascha, die zufällig nebeneinandersaßen, genossen den Anblick der erwachenden Natur, die schlaue Krähen sich für ihre niederen - und zugleich höheren Fortpflanzungsinstinkte zunutze machten: Sie brachen mit ihren kräftigen Schnäbeln Zweige ab, steckten sie in alte Nester vom Vorjahr, um sie zu renovieren, und bauten neue. Am Ende der gemeinsamen Beobachtung dieses seltenen und amüsanten Schauspiels zitierte Anna Weniaminowna Gedichtzeilen: »Das Abendlicht ist gelb und weit, die Kühle im April so samtig, du kommst zu spät, nach langer Zeit, und dennoch grüß ich dich erfreut...« »Was für schöne Verse!« rief Mascha. »Wer hat die geschrieben?« Die Bekanntschaft war geknüpft. »Ach, Jugendsünden.« Die bezaubernde alte Dame lächelte. »Wer schreibt in der Jugend keine Gedichte?« Mascha stimmte ihr bereitwillig zu, obwohl ihr diese Sünde fremd war. Sie begleitete Anna Weniaminowna nach Hause, die lud sie ein, noch mit reinzukommen. Das tat Mascha. Sie stammte aus einer einfachen Ingenieursfamilie. Bei ihnen zu Hause stand ein Anbauschrank, Modell »Helga«, darin vollkommen unberührte gleichartige Bände der Reihe »Weltliteratur« und elf Kristallkelche - einen hatte ihr Vater zerschlagen. Und Souvenirs aus Ländern, die heute zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten gehörten: ein schwarzer georgischer Krug mit silbernen Intarsien, eine litauische Puppe mit Stoffkopf und eine ukrainische gelbbraune Pfeife in Form des bekannten Haustiers mit der rosa Schnauze, das den als kleinrussische Delikatesse berühmten Speck liefert. Hier aber waren alle Wände voll mit Regalen und Bücherschränken und Büchern ohne Einband - ach so, deshalb -64-
schlug sie sie ein, sonst würden sie auseinanderfallen! Auf den Regalen und an den Wänden entdeckte Mascha überall Fotos von Leuten, die ihr vage bekannt vorkamen, auf manchen standen Widmungen. Ein winziger ovaler Tisch - kein Eßtisch und kein Schreibtisch. Darauf ein paar benutzte Tassen, ein Stapel Bücher, ein Nähkasten. Diese Frau mußte uralt sein, wahrscheinlich noch vor der Revolution geboren. Der Teekessel war nicht elektrisch, sondern aus Aluminium - so was fand man heutzutage auf keiner Müllkippe mehr, höchstens im Antiquitätengeschäft. Eine Freundschaft entspann sich. Während Maschas Klassenkameradinnen - sie beendete in diesem Jahr die Schule - sich in Studenten des zweiten Studienjahres verliebten, in stramme Sportler, die im Stadion neben der Schule trainierten, oder in modische Sänger mit buntbemalten Gitarren, verliebte sie sich in Anna Weniaminowna, die alles besaß, was Mascha fehlte: Anna Weniaminowna war schlank, blaß und unheimlich gebildet, Mascha dagegen war von Natur aus grobknochig, ungesund rotwangig und mißfiel sich wegen ihrer Gewöhnlichkeit. Auch ihre Eltern waren gewöhnlich, ebenso alle Vorfahren bis ins dritte Glied, und Mascha liebte ihre Eltern zwar, genierte sich aber ein wenig für ihren Vater Vitja, der, obwohl immerhin Ingenieur, nichts so sehr schätzte, wie unter seinem dunkelblauen Shiguli zu liegen und dabei eine alberne Melodie vor sich hin zu pfeifen. Auch für ihre Mutter Valentina, ebenfalls Ingenieurin im selben Betrieb, schämte sich Mascha - für ihre breite, eckige Figur, ihre allzu laute Stimme und ihre einfältige Gastfreundlichkeit - »Eßt nur, greift zu! Nehmt vom Borschtsch! Tut ordentlich Smetana dran! Nehmt euch Brot!« -, mit der sie Maschas Klassenkameradinnen traktierte, wenn diese sie besuchen kamen. Anna Weniaminowna war wie aus einem anderen Teig, nicht aus Hefeteig, sondern aus Blätterteig: dünn, hell, ein wenig -65-
brüchig. Man fragt sich: Worüber konnten eine gebildete Dame und ein grobschlächtiges Mädchen aus einer Ingenieursfamilie schon miteinander reden? Über alles, wie sich herausstellte. Von Fotos, die bei Anna Weniaminowna an der Wand hingen, bis hin zum neuen Roman eines modischen jungen Schriftstellers, von dem Anna Weniaminowna zwar gehört, den sie aber nicht gelesen hatte. Mascha brachte ihr den Roman und rechnete mit einem Verriß, bekam aber von der Greisin überraschenderweise eine in Form einer Vorlesung gehaltene Rezension, der sie entnahm, daß der modische Autor nicht vom Mond gefallen war, daß er Vorläufer gehabt hatte, von denen sie nichts ahnte, und daß überhaupt jedes Buch sich auf etwas stützte, das zuvor schon gesagt und geschrieben worden war. Dieser Gedanke verblüffte Mascha, Anna Weniaminowna ihrerseits war verblüfft, wie miserabel heutzutage an den Schulen Literatur unterrichtet wurde. Mit dieser gegenseitigen Entdeckung tat sich ein unerschöpfliches Feld für äußerst fruchtbare Gespräche auf. Mascha, die in Mathematik, Physik und Chemie ganz gut war und erwog, sich am Institut für Straßenbau zu bewerben, das ganz in der Nähe lag, zehn Minuten Fußweg von ihrer Wohnung entfernt, und an dem auch ihr Vater studiert hatte, schwenkte radikal um: Die Literatur faszinierte sie immer mehr, ihr starkes Herz, früher wenig empfänglich für verbale intellektuelle Feinheiten, fühlte sich erstaunlicherweise auf einmal zur Lyrik hingezogen. Anna Weniaminowna nahm sich ihrer Bildung an. Auf eine sehr eigenwillige, unökonomische Weise: Sie gab Mascha nie zerfledderte Bücher aus ihrer Bibliothek in die Hand, sondern trug ihr stundenlang Gedichte vor, kommentierte sie und erzählte ihr vom Leben der Dichter, von ihren Freundschaften, Zwistigkeiten und Liebesaffären. Die alte Professorin hatte ein phantastisches Gedächtnis. Sie kannte ganze Gedichtbände auswendig, von berühmten Dichtern, weniger bekannten und von solchen, die im Schatten der großen fast untergegangen -66-
waren. Nach und nach stellte sich heraus, daß auch Anna Weniaminowna selbst eine Dichterin war. Allerdings hatte sie ihre Gedichte nie veröffentlicht. Die sensibler gewordene Mascha lernte bald erkennen, wann die Professorin ihre eigenen Gedichte vortrug. Wenn Anna Weniaminowna mit »ihren« Gedichten begann, rieb sie sich leicht die Stirn, dann faltete sie die Hände und senkte die Augenlider. »Und das hier, Mascha... Manchmal denke ich, die Zeit dieser Lyrik ist vorbei. Aber das gehört untrennbar zur Kultur. Das steckt tief innen... Rauh und grausam das Gras, das betäubend, staubgrau den kargen Hang bewuchert im verborgenen Tal. Die Wolfsmilch blüht schneeweiß. In ausgewaschner Lehmschicht glitzernde Funken von Schiefer, Marienglas und Gneis.« »Das ist von Ihnen, ja?« fragte Mascha schüchtern. Anna Weniaminowna lächelte ausweichend. »In Ihrem Alter geschrieben, Mascha... Mit achtzehn, was für ein Alter.« Mascha schrieb die Gedichte von Anna Weniaminowna heimlich auf. Ihr Gedächtnis war ebenfalls nicht schlecht. Anna Weniaminowna erinnerte sich, bei aller Klarheit ihres grauhaarigen Kopfes, an Gedichte wesentlich besser als an alles andere. Sie befand sich bereits unwiderruflich auf dem Weg dorthin, wo es immer schwieriger wird, sich zu erinnern, ob man am Morgen seine Tabletten genommen, ob man das Gas ausgedreht oder die Toilettenspülung betätigt hat; Gedichte dagegen sind in den Kassetten des Gedächtnisses so wohlverwahrt, daß sie zuletzt sterben, zusammen mit den Eiweißmolekülen, der Existenzform des Lebens. Mascha war natürlich nicht die einzige, die Anna -67-
Weniaminowna in ihrer altersschwachen Behausung besuchte. Auch deren ehemalige Schüler kamen - ziemlich bejahrte, Leute mittleren Alters und Zwanzigjährige -, allerdings nicht sehr oft, nur Mascha, die im Nebenhaus wohnte, schaute fast jeden Tag vorbei. Erstaunlich - in den siebzehn Jahren ihres bisherigen Lebens hatte Mascha noch niemanden getroffen wie Anna Weniaminowna, und nun stellte sich auf einmal heraus, daß es unheimlich viele solcher Menschen gab: gebildet, unauffällig und ärmlich gekleidet, belesen, kultiviert und geistreich. Letzterer Eigenschaft begegnete sie zum ersten Mal, das war etwas ganz anderes als Scherze oder Witze. Geistreiches wurde nicht mit schallendem Gelächter quittiert, sondern mit feinem Lächeln. »Ein Mann ist etwas Wunderbares, aber wozu so etwas zu Hause halten?« fragte Anna Weniaminowna mit besagtem Lächeln ihre ehemalige Doktorandin Shenja, eine ebenfalls nicht mehr junge Frau, in bezug auf die Wirrungen ihres komplizierten Liebeslebens, und diese erwiderte prompt: »Anna Weniaminowna, ich hole mir ja auch Bügeleisen, Kaffeemaschine und Mixer nicht jedesmal von der Nachbarin, sondern hab mir eigene angeschafft. Warum soll ich mir einen Mann borgen?« »Shenetschka! Wie können Sie einen Mann mit einem Bügeleisen vergleichen? Ein Bügeleisen wird dann warm, wenn Sie wollen, ein Mann dagegen nur, wenn er es will!« parierte Anna Weniaminowna. Mascha war hingerissen von diesen Gesprächen, die vielleicht nicht einmal sonderlich witzig waren, doch der Schlagabtausch von Fragen und Antworten erfolgte mit so blitzartiger Geschwindigkeit, daß Mascha ihm gar nicht immer folgen konnte. Sie wußte nicht, daß dieser spritzige Dialog ebenso wie die Gedichte zu einer überlieferten Kultur gehörte, die nicht in ein, zwei Jahren entstanden, sondern von einer -68-
ganzen Reihe von Generationen hervorgebracht worden war, die Empfänge, Bälle, Wohltätigkeitskonzerte und eben auch Universitäten besucht hatten. Auch Zitate, das dämmerte ihr mit der Zeit, nahmen bei diesen Gesprächen breiten Raum ein. Als beherrschten sie alle neben dem normalen Russisch noch eine weitere Sprache, die in der ersten versteckt war. Mascha wußte zwar nicht, woher, aus welchen Büchern diese Dinge stammten, lernte aber zumindest, Verweise, Zitate und Anspielungen an der Intonation der Sprecher zu erkennen. Wenn Besuch kam, setzte sich Mascha in die Ecke und hörte zu. Am Gespräch konnte sie sich nicht beteiligen, doch sie ging hinaus in die Küche, setzte den Teekessel auf, stellte Tassen auf den ovalen Tisch, und wenn die Gäste gegangen waren, spülte sie diese zerbrechlichen Tassen, voller Angst, sie fallen zu lassen. Sie spielte eine nahezu stumme Rolle, niemand sprach sie an, nur die ehemalige Doktorandin Shenja, die netteste von allen, stellte ihr hin und wieder seltsame Fragen zum Beispiel, ob sie Batjuschkow gelesen habe. Den hatten sie doch in der Schule gar nicht durchgenommen... Maschas Lieblingszeit waren die späten Abendstunden, nach zehn, wenn sie zu Anna Weniaminowna kam - nach zwei Monaten Bekanntschaft wurde ihr ein Wohnungsschlüssel anvertraut - und sich auf den komischen Klappstuhl setzte, aus dem man eine Leiter machen konnte, während die Gastgeberin in ihrem strengen, jedem Leichtsinn abholden Sessel mit der steifen Lehne und den harten Armlehnen saß, ihr lachhaftes Abendbrot verzehrte - ein Dessertschälchen Kefir - und anschließend nach einer geheimnisvollen Pause Gedichte vortrug. Damit begann sie meist so: »Dieses Gedicht von Sergej Mitrofanowitsch Gorodezki hat Valeri Jakowlewitsch Brjussow sehr geschätzt. Es ist aus seinem ersten Gedichtband. Neunzehnhundertsieben, glaube ich...« -69-
Anna Weniaminowna rezitierte vorzüglich, dabei achtete sie nicht wie eine Schauspielerin besonders auf die Betonung, ihr als Professorin ging es vor allem um das Verstehen: »Nicht Luft, sondern pures Gold, pures flüssiges Gold erfüllte die Welt. Erkaltet, geschmiedet aus flüssigem Golde, ist die Welt nun erstarrt.« »Tragen Sie etwas von sich vor«, bat Mascha, und die Professorin schloß ihre papiernen Schildkrötenlider und sprach langsam und majestätisch klangvolle Worte, die Mascha sich einzuprägen bemühte. Die Eltern erlaubten Mascha nicht, sich an einer geisteswissenschaftlichen Fakultät zu bewerben, und Mascha war sich auch selbst nicht sicher, ob sie die Aufnahmeprüfung schaffen würde. Den ganzen Sommer paukte sie fleißig Mathematik und Physik und besuchte fast jeden Abend Anna Weniaminowna, die sich inzwischen ebenfalls an sie gewöhnt hatte und mit ihr fieberte, als die Aufnahmeprüfungen begannen. Aber es ging alles glatt, Mascha wurde immatrikuliert, und die Eltern waren zufrieden. Sie versprachen ihr eine Auslandsreise, nach Ungarn. Dort hatte ihre Mutter noch aus sowjetischer Zeit Bekannte. Doch Mascha wollte nicht fahren - Anna Weniaminowna ging es schlecht, ihre schlanken Beine, weiß wie Sahneeis, waren geschwollen wegen der Hitze, die zum Sommerende plötzlich ausgebrochen war. Mascha fuhr nicht nach Ungarn. Mitte August wurde Anna Weniaminowna nach einem schweren Herzanfall ins -70-
Krankenhaus eingeliefert, Mascha besuchte sie dort dreimal, doch beim vierten Mal fand sie Anna Weniaminowna nicht in ihrem Zimmer, das Bett war abgezogen, der Nachtschrank unaufgeräumt - man teilte Mascha mit, ihre Großmutter sei in der Nacht gestorben. Mascha sammelte aus dem Nachtschränkchen Medikamente und Frauenkram zusammen - ohne darüber nachzudenken, wozu, denn wer brauchte nun noch das angefangene Stück Kinderseife, das schlichte Eau de Cologne, die Papiertaschentücher und die Herztabletten. Ehrfürchtig nahm sie auch drei in Zeitungspapier eingeschlagene Gedichtbände zuoberst lag ein zerfleddertes Exemplar von Blocks »Jenseits ferner Tage«, neunzehnhundertzwanzig im Grshebin-Verlag erschienen. Über der gestrichelten Zeile mit dem Namen des Dichters stand in Anna Weniaminownas eiliger, holpriger Handschrift mit Bleistift geschrieben: »Gesegnet der neue Bleistift, den du mir geschenkt...« Mascha konnte sich mühelos vorstellen, daß Block persönlich ihr diesen Bleistift geschenkt hatte. Obwohl das zeitlich nicht hinkam, sie war neunzehnhundertzwölf geboren, neunzehnhundertzwanzig also erst acht Jahre alt gewesen. Den ganzen Tag saß Mascha in Anna Weniaminownas Wohnung. Leute riefen an, fragten, kamen vorbei. Am Abend waren rund zehn Personen versammelt: der Neffe mit seiner Frau, die Leiterin des Lehrstuhls, an dem Anna Weniaminowna einmal unterrichtet hatte, mehrere Frauen, die sie nicht alle kannte, und zwei bärtige Männer. Die Lehrstuhlleiterin benahm sich, als wäre sie die Hauptperson, aber alle Anordnungen traf Shenja, denn sie gab das Geld für die Beerdigung. Eine Menge Geld, dreihundert Dollar. Alles regelte sich ohne Mascha, ganz von selbst, doch nach dem Wohnungsschlüssel fragte sie niemand, also behielt sie ihn. Dann fand die Beerdigung statt, mit einer Totenmesse in der Kirche - es kamen unglaublich viele Leute, rund zweihundert -, und der neunte Tag wurde in -71-
Anna Weniaminownas Wohnung begangen. Der bejahrte Neffe, der die Wohnung geerbt hatte und dort einziehen wollte, hielt sich abseits: Anna Weniaminownas Freunde und Schüler kannten ihn nicht, und er kannte sie nicht. Traurig begriff Mascha, daß Anna Weniaminowna neben dem Unterrichten von Literatur kein Privatleben gehabt hatte. Außerdem bemerkte sie, daß Anna Weniaminownas traurige, staubige Behausung auf einmal richtig ärmlich wirkte. Wahrscheinlich, weil jemand die Vorhänge, die sonst immer geschlossen waren, aufgezogen hatte - im schräg hereinfallenden Augustlicht trat die ganze unverhüllte Armut zutage. Auch die Tafel war ärmlich, ebenso der Neffe. Dabei war diese schäbige Wohnung doch so elegant, als Anna Weniaminowna noch lebte, dachte Mascha irritiert. Noch einen ganzen Monat, bis zum Einzug des Neffen, kam Mascha immer wieder in die Wohnung, setzte sich auf den Leiterstuhl, nahm aufs Geratewohl ein in Zeitungspapier eingeschlagenes Buch vom Regal und las darin. In der gemessen an einem Menschenleben sehr kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft mit Anna Weniaminowna hatte sie gelernt, Gedichte zu lesen. Sie zu verstehen noch nicht, aber sie zu lesen und zu hören. Diese ganze Bibliothek ging nun an den Lehrstuhl - das hatte die Professorin so verfügt. Doch Mascha besaß ja das Heft - Anna Weniaminownas eigene Gedichte, von Mascha nach dem Gehör im Gedächtnis bewahrt und aufgeschrieben. Auch sie kannte sie auswendig. Mascha studierte bereits am Institut für Straßenbau, war aber noch immer wie betäubt. Die Begegnung mit Anna Weniaminowna, das ahnte sie jetzt, war zum wichtigsten Bezugspunkt in ihrem Leben geworden, und nun, da Anna Weniaminowna tot war, würde sie nie mehr eine so wunderbare ältere Freundin besitzen. Am Abend des vierzigsten Tages kam sie in Anna Weniaminownas Wohnung und beschloß, nun endlich den Schlüssel abzugeben. Es waren -72-
an die zwanzig Leute da. Der Neffe hatte aus Stühlen und zwei Brettern provisorische Bänke gebaut, und alle fanden irgendwie Platz. Alle sprachen so gut von Anna Weniaminowna, daß Mascha mehrmals ein bißchen weinen mußte. Sie hatte viel Wein getrunken, und ihr ohnehin stets rosiges Gesicht war nun puterrot. Sie wartete immer darauf, daß irgend jemand endlich sagen würde, was für eine wunderbare Dichterin Anna Weniaminowna gewesen sei, doch das erwähnte niemand. Da überwand sie ihre Schüchternheit und ihre Hemmungen, ausschließlich, damit Anna Weniaminowna postum Gerechtigkeit widerfuhr, holte mit feuchten Händen ihr selbstgebasteltes Heft aus ihrem nagelneuen Studentenrucksack, errötete noch tiefer, so daß ihr Gesicht eine bläuliche Färbung annahm, und sagte: »Ich habe hier ein ganzes Heft voller Gedichte, die Anna Weniaminowna selbst geschrieben hat. Sie hat sie nie veröffentlicht. Wenn ich sie fragte, warum, sagte sie immer nur: ›Ach, das ist alles nichts von Belang.‹ Aber ich finde, die Gedichte sind sehr wohl von Belang. Sie sind sogar sehr gut, auch wenn sie sie nie veröffentlicht hat.« Und Mascha begann mit dem Vorlesen, las das erste Gedicht, wo vom rauhen Gras, betäubend und staubgrau, die Rede war, dann eins über einen goldenen Vogelfänger im jenseitigen Wald, und dann noch eins und noch eins... Sie blickte nicht auf, doch als sie das beste Gedicht vorlas, das mit den Worten begann: »Dein Name - ein Vogel in meiner Hand, dein Name - ein Stück Eis auf meiner Zunge«, spürte sie etwas Ungutes. Sie stockte und sah sich um. Jemand lachte lautlos. Andere flüsterten miteinander. Überhaupt herrschte große Peinlichkeit, und die Pause war verdächtig lang. Da erhob sich Shenja, die netteste von allen, mit einem Glas Wein in der Hand. »Ich möchte einen Toast aussprechen. Wir sind heute hier nicht sehr viele, aber wir alle wissen, wie sehr Anna -73-
Weniaminowna es verstanden hat, Menschen anzuziehen. Ich möchte trinken auf alle, die sie mit dem Reichtum ihrer Seele beschenkt hat, auf ihre ältesten und auf ihre jüngsten Freunde. Und darauf, daß wir nie das Wichtige vergessen, das sie uns allen gegeben hat...« Alle gerieten in Bewegung, stritten ein wenig, ob sie anstoßen sollten oder nicht, einige tuschelten noch immer verständnislos oder gar verärgert miteinander, und Mascha spürte, daß die unschöne Stimmung noch nicht vorbei war, aber Shenja sprach immer weiter, so lange, bis das Gespräch eine andere Richtung nahm und man zu alten Erinnerungen überging. Anna Weniaminownas Neffe fühlte sich nicht wohl, er entschuldigte sich und ging, nachdem er mit Mascha verabredet hatte, daß sie, wenn die Gäste weg waren, das Geschirr spülen, den Schlüssel auf den Tisch legen und die Tür einfach zuklappen würde. Die Gäste gingen, nur Shenja und Mascha blieben noch, um aufzuräumen. Sie trugen erst einmal alle Gläser und Tassen in die Küche und stapelten sie auf dem Küchentisch. Dann setzte sich Shenja und steckte sich eine Zigarette an. Mascha rauchte auch manchmal, aber nie im Beisein Erwachsener. Doch nun zündete sie sich ebenfalls eine Zigarette an. Sie wollte Shenja etwas fragen, wußte aber nicht recht, wie. Da stellte Shenja ihr eine Frage: »Maschenka, wie kommen Sie darauf, daß diese Gedichte von Anna Weniaminowna sind?« »Das hat sie selbst gesagt«, antwortete Mascha, die begriff, daß sich nun alles klären würde. »Sind Sie sicher?« »Natürlich.« Mascha holte ihre Tasche und wollte das Heft herausnehmen, doch dann fiel ihr ein, daß die Gedichte ja mit ihrer Handschrift geschrieben waren, so daß Shenja ihr womöglich nicht glauben würde, daß sie wirklich von Anna -74-
Weniaminowna stammten. »Ich habe sie nur aufgeschrieben. Sie hat sie mir viele Male vorgetragen. Das hat sie alles in ihrer Jugend geschrieben«, begann Mascha sich zu rechtfertigen, das Heft an die Brust gepreßt. Doch Shenja streckte die Hand aus, und Mascha gab ihr das blaue Heft, auf dem mit dickem Filzstift stand: »Gedichte von Anna Weniaminowna«. Schweigend blätterte Shenja das Heft durch und lächelte, wie bei alten, angenehmen Erinnerungen. »Aber es sind doch gute Gedichte«, flüsterte Mascha verzweifelt, »es sind doch keine schlechten Gedichte...« Shenja legte das Heft beiseite, schlug es zu und sagte: »Hier dieses alte blaue Heft mit meinen kindlichen Gedichten...« »Was ist denn?« fragte Mascha ungeduldig und wurde wieder blaurot. »Sehen Sie, Maschenka«, begann Shenja, »das erste Gedicht in diesem Heft ist von Maximilian Woloschin, das letzte von Marina Zwetajewa. Und auch die anderen stammen von verschiedenen mehr oder weniger bekannten Dichtern. Das Ganze muß also ein Mißverständnis sein. Es ist unmöglich, daß Anna Weniaminowna das nicht gewußt hat. Sie müssen sie falsch verstanden haben...« »Nein, Ehrenwort«, ereiferte sich Mascha. »Ich habe alles richtig verstanden. Sie hat selbst gesagt... sie hat mir zu verstehen gegeben, daß diese Gedichte von ihr sind.« Da erst begriff Mascha, wie blöd sie vor diesen ganzen gebildeten Leuten dagestanden hatte, als sie die Gedichte vorlas. Sie rannte ins Bad und heulte. Shenja versuchte sie zu trösten, doch Mascha sperrte ab und kam lange nicht heraus. Shenja spülte das Geschirr, dann klopfte sie an die Badezimmertür, und Mascha kam heraus, das Gesicht aufgedunsen wie bei einer Wasserleiche, und Shenja legte ihr -75-
den Arm um die Schultern. »Nimm es nicht so schwer. Ich verstehe selbst nicht, warum sie das getan hat. Weißt du, Anna Weniaminowna war ein sehr komplizierter Mensch, mit großen Ambitionen, und in gewisser Hinsicht ist sie gescheitert... Verstehst du?« »Ich weine doch gar nicht deswegen. Sie war der erste kultivierte Mensch, den ich in meinem Leben kennengelernt habe. Sie hat mir eine solche Welt eröffnet... und mich so reingelegt. Richtig reingelegt...« Niemals, niemals würde Mascha ihr Institut aufgeben und ihren technischen Beruf gegen einen geisteswissenschaftlichen eintauschen. Und niemals würde die arme Mascha verstehen, warum diese hochgebildete Dame einen so grausamen Scherz mit ihr getrieben hatte. Auch die Lehrstuhlleiterin würde das nicht verstehen und der Neffe und die anderen Gäste der Totenfeier. Sie alle würden in der Gewißheit leben, daß dieses Ingenieursmädchen mit dem groben Gesicht und den dicken Beinen eine Vollidiotin war, die Anna Weniaminowna falsch verstanden und ihr etwas angedichtet hatte, was der kultivierten Professorin nie in den Sinn gekommen wäre. Shenja ging zur Metro durch den Park, in dem die enttäuschte Mascha die außergewöhnliche Dame kennengelernt hatte, die fünfzig Jahre lang russische Literatur unterrichtet hatte, und versuchte zu verstehen, warum sie das getan hatte. Vielleicht wollte Anna Weniaminowna wenigstens einmal im Leben spüren, was jeder große Dichter, aber auch der nichtigste Schreiberling erlebt, wenn er seine Gedichte vor Publikum vorträgt und in den willigen, einfältigen Herzen seiner Zuhörer Emotionen weckt? Das würde nun niemand mehr erfahren.
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Der Glücksfall
A
nfang der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, das mit unerhörtem, geradezu obszönem Pomp verabschiedet wurde, gerieten viele Intellektuelle in große Schwierigkeiten, und das lag am Zusammenbruch der drei großen Säulen oder »drei Quellen, drei Bestandteile«, auf denen das Leben mehr schlecht als recht geruht hatte. Alle Dogmen waren schwer angeschlagen, selbst die Heilige Dreifaltigkeit geriet ins Wanken. Viele Menschen drohten unterzugehen. So mancher ertrank auch, aber etliche lernten schwimmen, und einige gingen sogar auf große Fahrt. Shenja kehrte rechtzeitig der Wissenschaft den Rücken, pfiff auf ihre Monographie und die noch unverteidigte Doktorarbeit und wechselte zum Fernsehen, zunächst in eine Bildungsredaktion. Nach einem Jahr ging ihr die Produktion von Lehrprogrammen für Fremdsprachen von der Hand wie das Brezelbacken, und sie schrieb nebenbei Skripts für Dokumentarfilme - nicht schlechter als andere. Vielleicht sogar besser. Sie lernte immer mehr Leute kennen, und nach einem großartigen Dokumentarfilm über einen georgischen Regisseur, den sie in jungen Jahren gut gekannt hatte, unterbreitete man ihr ein glänzendes, ziemlich delikates Angebot. Nicht über offizielle Kanäle, sondern über Bekannte. Es war ein Auftrag, für den man strenggenommen noch hätte zuzahlen müssen. Doch Autoren, die dazu bereit gewesen wären, beherrschten die nötigen Sprachen nicht. Der Betreffende mußte mindestens eine der drei europäischen Weltsprachen beherrschen. Shenjas Deutsch war ausgezeichnet, auch Englisch konnte sie ganz gut. Der Auftrag kam aus der Schweiz, und der Regisseur war natürlich Schweizer. Die Autorin, die er suchte, sollte -77-
kontaktfreudig sein und auf jeden Fall Russin. Delikat war die Angelegenheit deshalb, weil es um einen Film über russische Prostituierte in der Schweiz ging. Michel, so hieß der Regisseur, hatte in seiner abgrundtiefen Schweizer Naivität einen offiziellen Brief ans russische Fernsehen geschrieben, dessen Obrigkeit zunächst nervös wurde, sich dann gründlich beriet und schließlich sein Ansinnen ablehnte. Erfahrene Kollegen erklärten dem naiven Schweizer, daß er die Sache ganz anders anpacken müsse, woraufhin er über die Botschaft Leute aus dem Kulturbetrieb suchte, die ihrerseits ihre Bekannten durchgingen, und so landete die Sache bei Shenja. Der Regisseur kam zusammen mit seinem Produzenten nach Moskau, lud Shenja ins Hotel Metropol ein, und dort besprachen sie bei einem ausgiebigen Lunch alles. Shenja wußte im Grunde kaum etwas über die Prostituierten in Rußland, geschweige denn über die Vertreterinnen dieses gefährlichen Gewerbes im Ausland. Michel aber erwies sich als ein wahrer Poet, der die Nutten, Huren und Prostituierten aller Länder und Völker besang. Er schien sie alle schon in frühester Jugend ins Herz geschlossen zu haben - als Kunde. Woraus er auch gar keinen Hehl machte. »Mit Frauen aus anderen Kreisen habe ich kein Glück«, klagte Michel. »Du hast es ja noch nie probiert«, parierte der wortkarge Produzent, in dessen dichtem braunem Haar eine kreisrunde rosa Glatze glänzte. »Doch, das habe ich, Louis, das weißt du ganz genau!« wehrte Michel ab. Er breitete sich eine ganze Weile über sein Thema aus, ehe er auf die eigentliche Arbeit zu sprechen kam, die Shenja bevorstand. »Die russischen Mädchen sind die allerbesten!« verkündete er. »Diese slawische Weichheit, diese stille Weiblichkeit. -78-
Dieses aschblonde Haar - das hat keine Schwedin, die sind einfach farblos, und auch keine blonde Angelsächsin. Das Problem ist nur: Keine der Russinnen beherrscht die Sprache gut genug, aber für einen Dokumentarfilm müssen sie zum Sprechen gebracht werden. Ihr Schicksal, Einzelheiten, alles ganz genau. Mir erzählen sie ihre Geschichten irgendwie nur schablonenhaft. Aber Mädchen sind das! Jede für sich ein Juwel! Verstehst du, was ich von dir will?« Er schnipste mit den Fingern, küßte die Luft, wackelte sogar ein wenig mit den Ohren. Überhaupt war er sehr sympathisch, und sein aufrichtiger Enthusiasmus verschönte ihn zusätzlich. Shenja hatte schon häufig mit Ausländern zu tun gehabt und ihre eigenen Klischeevorstellungen entwickelt: der förmliche Engländer, der liebenswürdige Franzose und der plumpe Deutsche. Dieser Schweizer war ziemlich französisch, hatte blaue Augen und den rosig-gebräunten Teint eines alpinen Skiläufers. Er strahlte eine fröhliche, wenngleich etwas planlose Energie aus. »Bisher noch nicht«, bemerkte Shenja sanft, »aber eigentlich begreife ich ziemlich schnell.« »Sieh dir einfach meine Filme an, dann verstehst du, was ich will. Louis, mach bei Mosfilm einen Termin und zeig Shenja unsere Produktionen.« Michel hatte bereits mehrere Filme über Prostituierte gedreht. Den ersten über Mädchen afrikanischer Herkunft, dann einen über Chinesinnen, die das älteste Gewerbe der Welt mit Akrobatik kombinierten, und vor kurzem hatte er ein halbes Jahr in Japan gelebt, wo er ein Fiasko erlebte - der Film über die Geishas kam zwar zustande, doch am Ende gab es einen großen Skandal, und die Japaner beschlagnahmten das gesamte Material. »Ich kann dir genau sagen, was ich brauche: die Geschichte jedes einzelnen Mädchens. Die wahre Geschichte. Mir erzählen -79-
sie die nicht. Die Mädchen haben ihre Prinzipien. Aber ich brauche ihre wahren Geschichten, und zweitens will ich rauskriegen, ob sie einen Zuhälter haben. Das ist mir sehr wichtig. Ich muß wissen, worauf das Ganze beruht, ob nur auf Geld oder ob auch menschliche Bindungen eine Rolle spielen. Und ihr Privatleben. Das interessiert mich am meisten - das Privatleben der Prostituierten.« Shenja wurde also angeheuert, um das Privatleben russischer Prostituierter in der Schweiz zu erkunden. Das sollte Anfang Mai geschehen, wenn die Werktätigen ausspannen und ihren Feiertag begehen, die Prostituierten dagegen Hochkonjunktur haben. In Rußland jedenfalls. Ob das dort auch so war? Zusätzlich zu den freien Tagen nahm Shenja noch eine Woche Urlaub. Ein Schweizer Visum sollte binnen zwei Tagen fertig sein. Zu Hause erzählte Shenja von ihrer bevorstehenden Reise erst, als sie das Flugticket hatte. Ihr Mann knurrte nur, als er von ihrem Auftrag erfuhr. Dafür amüsierten sich ihre Söhne wie die Schneekönige: Sie warnten sie vor diversen Gefahren, erteilten ihr Ratschläge für alle Fälle und witzelten ziemlich ungeniert. Shenja freute sich, wie unbefangen sie und ihre Kinder miteinander umgingen - sie hätte früher ihren Eltern gegenüber das Wort »Prostituierte« nicht einmal erwähnen dürfen. Die Maschine flog eine Stunde verspätet ab, und Shenja war besorgt: Wenn sie nun nicht auf sie warteten? Der Produzent Louis, der sie abholte, verspätete sich ebenfalls, sogar um ganze anderthalb Stunden. Er war furchtbar in Eile: Er mußte nämlich wieder zurück zum Flughafen, seine Frau abholen; sie hatte ein halbes Jahr lang in Indien indische Tanzkurse besucht. Auch ihre Maschine hatte Verspätung, sie hätte eigentlich zwei Stunden vor Shenja eintreffen müssen. Das alles irritierte Shenja: Das Bollwerk der europäischen Zuverlässigkeit und des Konservatismus schien angeknackst - Flugpläne wurden -80-
nicht eingehalten, die Ehefrauen seriöser Herren lernten indische Tänze... Es war schon ziemlich spät, und soviel Shenja sich am Autofenster auch den Hals verrenkte, in der Dunkelheit konnte sie nichts erkennen. Das erste, was sie sah, war ein Zwerg von der Größe eines mittelgroßen Hundes. Er stand in Torhüterpose vor einer massiven Tür, die durch den Kontrast besonders riesig wirkte. Louis klingelte. Nach einigen Minuten öffnete eine ausgedörrte alte Dame mit nagelneuen Zähnen hinter den Greisinnenlippen die schwere Tür - treten Sie ein. »Zürich ist eine verrückte Stadt. Hier liegt so viel Gold in Kellern, daß man sämtliche Straßen damit pflastern könnte. Aber eine Tasse Tee kostet fünf Dollar. Darum mieten wir für unsere Mitarbeiter meistens ein Zimmer in dieser Pension. Du wirst das schon morgen zu schätzen wissen«, sagte Louis und schob den Koffer über die Schwelle. »Michel kommt später, sobald er aus Paris zurück ist, er will heute abend noch mit dir arbeiten.« Shenja konnte nicht einmal mehr fragen: Was denn, noch heute nacht? Es war ein kleines, sauberes Zimmer mit einem großen Bett, an dessen Kopfende eine fürchterliche Lampe stand, ebenfalls mit einem Zwerg. Einen weiteren Zwerg entdeckte sie auf der Toilette - er hockte auf der Konsole vorm Spiegel, ein verdoppeltes Prachtstück. Shenja wusch sich und hängte drei Kostüme in den Schrank das beste hatte sie sich von einer Freundin geborgt. Dann setzte sie in der Miniküche, einer Nische mit Kochplatte und Spüle, Wasser auf. Es war schon fast elf, von Michel keine Spur, und sie beschloß, Tee zu trinken und sofort schlafen zu gehen. Da klingelte das Telefon. Es war Michel: »Shenja, komm runter. Wir gehen jetzt was essen, und dann machen wir uns an die Arbeit.« -81-
Zur Begrüßung küßte er sie ab wie ein alter Freund nach langer Trennung. Er roch nach Parfüm oder Blumen. Nach Reichtum, entschied Shenja. Seine Lebhaftigkeit und seine Freude waren aufrichtig. Er ließ Shenja ins Auto einsteigen und fuhr los. Etwas an ihm war anders, etwas Wesentliches, aber Shenja kam nicht darauf, was genau. In dem kleinen Restaurant wurde Michel von allen begrüßt wie ein alter Bekannter, und als sie am Tisch saßen, trat der Wirt zu ihnen, und die beiden küßten sich. Der Wirt sprach Französisch, Shenja erriet, daß es um das Essen ging. Als der Wirt gegangen war, sagte Michel: »Der Wirt stammt aus Paris. Er lebt seit über dreißig Jahren in Zürich. Und hat großes Heimweh. Ich hasse die Schweiz. Ein Ort, wo es keine Liebe gibt. Keine, niemals. Ein Land der Tauben und Stummen. Aber das wirst du selbst sehen.« Seine Augen blitzten schwarz. Das ist es! In Moskau hatte er doch blaue Augen, und nun sind sie auf einmal schwarz. Aber das gibt es doch nicht. Oder bin ich verrückt geworden? Aber damals waren sie ganz bestimmt blau! Na schön, ich stehe im Moment ein bißchen neben mir, ich sehe nur einen Film, entschied Shenja. Sie aß einen Salat aus Waldpilzen und Gänseleber. Lauter undefinierbare Zutaten, doch ein Geschmack - fabelhaft! Michel bestellte mehrere Gerichte, rührte aber nicht eins davon an. Dafür ermunterte er Shenja, ein Dessert zu bestellen - das sei hier einfach phantastisch. Das war es tatsächlich, wenngleich unmöglich zu identifizieren. »Du wirst dich umziehen müssen.« Shenja trug ein italienisches Kostüm, für ihre Begriffe sehr nobel, in edlem Kastanienbraun. »Hast du Abendkleider mit?« Shenja schüttelte den Kopf. »Davon hast du nichts gesagt.« Shenja besaß kein einziges Abendkleid. In Moskau - wozu? -82-
Michel umarmte sie sanft. »Du bist süß, Shenja. Ich liebe euch Russen. Wir finden schon was für dich.« Sie stiegen wieder ins Auto. Shenja fragte nicht, wohin sie fuhren, sie ließ es auf sich zukommen. Michel brachte sie in eine große Wohnung, in der lauter afrikanische Skulpturen und merkwürdige Metallgebilde herumstanden. »Wie findest du sie? Diesen Künstler habe ich in Montenegro entdeckt. Ein Dorfschmied. Total verrückt. Läuft immer in denselben Klamotten rum, bis sie auseinanderfallen. Seine Wunderwerke schmiedet er ausschließlich nachts. In einer alten Mühle. Typisch gruseliger Balkan, oder?« Der Traum ging weiter, und Shenja fand ihn nicht besonders angenehm: interessant, aber beunruhigend. Michel führte sie in die hinteren Räume der Wohnung, öffnete die Tür eines fensterlosen Zimmers mit einer langen Spiegelwand und schob einen Teil der Wand auf - dort hingen Kleider auf Bügeln wie in einem Laden. »Esperanza, meine Frau, liegt schon seit einem halben Jahr in der Klinik. Das sind ihre Sachen. Wir nehmen uns was von ihr.« Zärtlich schob er diverse Kleidungsstücke hin und her und zog etwas Blaues heraus. »Sie hat Größe achtunddreißig, du hast wahrscheinlich zweiundvierzig. Aber Esperanza mochte weite Kleider... Hier«, er nahm das Blaue vom Bügel, »von Balenciaga. Probier es mal an.« Shenja zog Jackett und Rock aus; Michel musterte sie rein professionell, interessiert, aber freundschaftlich. Sie schlüpfte in das blaue Gewand, ohne sich zu genieren, denn sie fand, fünfzehn Jahre Altersunterschied gestatteten diese Ungezwungenheit. »Ausgezeichnet«, billigte Michel und sah auf die Uhr. »Fahren wir.« -83-
Wieder stellte Shenja keine Fragen. In Moskau war weder von seiner Frau noch von der Klinik die Rede gewesen, nur von Prostituierten. Shenja hatte gar nicht gewußt, daß er verheiratet war. Dann dachte sie noch: Habe ich wirklich noch heute morgen in meiner Butyrskaja-Straße Haferbrei gekocht? »Es ist nicht weit.« Sie fuhren zehn Minuten. Dann hielten sie. Michel rieb sich die Nasenwurzel. »Ich weiß nicht mehr, was ich dir erzählt habe. Also: In der Schweiz ist Prostitution offiziell verboten. Es gibt Nachtklubs, Kabaretts und Bars, wo die Mädchen arbeiten. Die meisten ausländischen Prostituierten kommen mit einem Visum als Artistin. Striptease. Klar? Die Klubs haben normalerweise bis drei geöffnet. Fürs ›Hinterher‹ können sich die Mädchen einen Kunden suchen. Das ist ihre Privatangelegenheit und fällt nicht unters Steuergesetz - solange niemand sie denunziert. Die Russinnen sind am schlimmsten dran - die meisten Mädchen werden von der russischen Mafia kontrolliert. Das heißt, die Mafia nimmt ihnen fast alles weg, was sie verdienen. Und da kommen sie faktisch nie raus. Ich möchte ihnen gern irgendwie helfen. Ihre Situation ist ziemlich gefährlich, für sie wäre es wesentlich besser, wenn die Prostitution legalisiert würde. Je besser die Gesellschaft informiert ist, um so leichter ist der Umgang damit. Na, das wirst du noch selbst sehen. In diesem Klub hier habe ich eine russische Bekannte, Tamar. Wenn sie nach ihrem Auftritt Zeit hat, redest du mit ihr.« Michel war überall bekannt - der Türsteher winkte ihm zu und sagte sehr leise etwas zu ihm. Michel antwortete, beide lachten. Shenja hatte das Gefühl, daß sich der Scherz auf sie bezog. Klar, ich bin hier so was wie ein Samowar aus Tula, ein exotisches Mitbringsel. Sie betraten einen niedrigen, halbdunklen Raum, in dem kleine Tische im Kreis aufgestellt waren, in der Mitte befand -84-
sich eine Art Manege, von der Decke hing eine girlandenumwundene Strickleiter herab. Eine sonderbare, pseudoorientalische Musik lief. Es war nicht sehr voll, die Hälfte der Tische war leer. An einigen saßen Mädchen ohne Kunden. Sie taten, als unterhielten sie sich. Eine Asiatin nickte Michel zu, eine Schwarze kam an ihren Tisch. Michel fragte sie nach der Russin Tamar. Sie nickte. Tamar war mit einem Kunden beschäftigt. Sie hatte ihren Auftritt gerade hinter sich, und nun hatte ein Gast sie auf ein Glas eingeladen. Sie saßen an einem entfernten Tisch. Shenja betrachtete das russische Mädchen - sie saß seitlich auf dem Stuhl, wie eine Amazone im Sattel. Ihre schlanken Beine glänzten wie lackiert. Spezielle Strumpfhosen oder eine Creme? fragte sich Shenja. Michel bestellte Wein, gab die Karte aber nicht dem Kellner zurück, sondern zeigte sie Shenja. »Siehst du die Preise?« Doch Shenja kannte sich mit dem ausländischen Geld schlecht aus, also erklärte Michel es ihr. »Den Hauptumsatz macht der Laden mit den Getränken, die kosten hier das Zehnfache vom normalen Preis. Eine Flasche mittelmäßiger Champagner rund dreihundert Dollar. Man zahlt keinen Eintritt, muß aber etwas trinken. Wenigstens ein Glas Champagner, damit ist der Eintritt beglichen. Hier arbeiten zwei Kategorien von Mädchen: Die einen treten mit einer Nummer auf, die anderen sind Statisten. Da!« Michel zeigte auf die Manege, auf die sich jetzt ein Lichtstrahl ergoß. »Gleich kommt eine Nummer. Die kenne ich auch noch nicht. Das Trapez ist neu.« Von Musik begleitet, traten zwei hochgewachsene Mädchen auf; die eine trug einen roten Badeanzug und einen durchsichtigen langen Mantel, die andere das gleiche in Schwarz. -85-
»Transvestiten. Du hast Glück. Das ist der beste Striptease. Von den beiden habe ich schon gehört, sie kommen aus Argentinien.« »Das heißt, das sind Männer?« staunte Shenja, in solchen Dingen völlig ahnungslos. »Gewesen«, erklärte Michel. »Jetzt sind sie zweifellos Frauen. Und sie genießen ihre Weiblichkeit mehr als jede echte Frau. Du wirst sehen.« Die Transvestiten setzten die Strickleiter in Schwung, kletterten daran hoch und schwangen mit, dann verschlangen sie sich, an die Leiter geklammert, mit Armen und Beinen zu einer komplizierten Figur, ihre Mantelschöße flogen, ihr Haar wehte wellenartig im Rhythmus ihres Schwingens. Langsam kletterten sie hinauf, ohne die komplizierte Arm-und-BeinVerschlingung zu lösen. Dann ließen sie die durchsichtigen Mäntel fallen. Dort oben entknoteten sie sich und entkleideten einander voller Leidenschaft - BH, Gürtel und Höschen, unter denen eine prächtige Tätowierung an der intimsten Stelle zum Vorschein kam. Dann, nun völlig nackt, kletterten sie die Strickleiter herunter und ließen dabei Brüste, Bauch und Gesäß spielen. Shenja starrte die beiden an und versuchte, wenigstens eine Spur von ihrem früheren Geschlecht zu entdecken. Die Hände der einen waren vielleicht ein wenig zu groß für ein Mädchen. »Michel, wieso hast du sofort gewußt, daß das Transvestiten sind? Woran erkennt man das denn?« fragte Shenja leise, und Michel erklärte es ihr eifrig: »Es gibt ein paar eindeutige Merkmale, man muß nur genau hinsehen. Die Größe von Händen und Füßen, die kann man nicht verändern. Dann die Form der Schultermuskulatur, die ist schwer zu korrigieren. Und vor allem - die Taille. Bei Männern ist der Brustkorb zylindrisch, er wird zur Taille hin nicht schmaler, bei Frauen ist er konisch. Das ist eins der sichersten -86-
Kennzeichen. Und dann sieh dir den Hals an - manchmal sieht man den Kehlkopf - das läßt sich auch nicht wegoperieren. Ich habe mal einen Film über Transvestiten gemacht. Die Brust auffüllen und das Gesäß, das ist für die Chirurgen kein Problem. Dafür gibt's spezielle Gels, Füllstoffe. Erzähl ich dir später. Da ist Tamar.« Ein zierliches Mädchen kam auf unsicheren Beinen und mit einem sinnlosen Lächeln auf den Lippen an ihren Tisch. Michel stand auf und stellte Shenja vor: »Meine Freundin aus Moskau. Ich habe ihr von dir erzählt, und sie wollte dich kennenlernen. Sie heißt Shenja.« Shenja musterte Tamar eingehend. Sie hatte etwas Rührendes: kindlicher Mund, runde Augen, das Haar hochgesteckt, winzige rosa Segelohren am kleinen Kopf. Sie war bestimmt schon lange keine achtzehn mehr, aber ihr Gesichtsausdruck wirkte kindlich. »Direkt aus Moskau? Na so was! Da bin ich nie gewesen. Ich war schon in Helsinki, in Stockholm, sogar in Paris. Aber in Moskau noch nie. Ich komme aus Charkow. Kennen Sie das?« Sie hatte einen starken ukrainischen Akzent. »Willst du was trinken, Tamar?« fragte Michel. »Nein, ich trinke nichts. Aber bestell was, Michel, damit was auf dem Tisch steht, ja?« Dann wandte sie sich an Shenja. »Bleiben Sie länger hier? Zum Arbeiten oder was?« »Ich bin nur zu Besuch, für zehn Tage. Will mir ansehen, wie ihr hier so lebt.« Shenja lächelte und zwinkerte ihr zu. Ein vertrauliches Augenspiel, das Michel nicht bemerken sollte von Frau zu Frau. Das Augenspiel hatte Zauberkraft - Tamar ratterte auf russisch los. »Warum bleibst du nicht einfach hier? Die Sprache kannst du, und zu alt bist du auch noch nicht. Wenn man eine Arbeitserlaubnis kriegt, kann man schön Geld verdienen. Eine -87-
von uns aus Charkow arbeitet hier als Hausmädchen, sie ernährt zwei Familien, ihr Sohn hat sich drüben sogar schon ein Auto gekauft. Die Schweizer zahlen nicht schlecht. Unsere Leute kriegen natürlich weniger, aber es ist trotzdem ganz gut. Wenn man nichts abliefern muß. Kennst du den schon lange? Red mal mit ihm, bitte ihn um Hilfe. Er ist ein verrückter Typ, aber er hilft jedem. Stimmt's, Michel?« Dann setzte sie auf deutsch hinzu: »Ich sage, du bist ein guter Junge, nicht wahr?« und strich mit ihrem schlanken Finger über seinen braungebrannten Hals. Er küßte ihr die Hand. Shenja hatte noch immer das seltsame Gefühl, einen endlosen Traum zu erleben. Sie fand ihn zwar ganz interessant, aber nun wollte sie eigentlich wieder aufwachen. »Bist du schon lange hier?« fragte Shenja. »Anderthalb Jahre. Davor hab ich in Finnland gearbeitet. Aber ich bleibe nur bis zum Herbst. Dann höre ich hier auf. Ich hab einen Bräutigam, er ist Schweizer, Banker, ich arbeite also nur noch, bis mein Vertrag abgelaufen ist, dann ist Schluß.« Tamar lächelte triumphierend, schüttelte den Kopf, ihr Haar löste sich, sie trank ein Glas Champagner und forderte Michel mit einer nachlässigen Handbewegung auf: »Bestell noch was.« Michel stand auf. »Ich sag an der Bar Bescheid, daß sie noch was bringen sollen.« Er ließ sie allein - damit sie sich in Ruhe unterhalten konnten. »Da hast du ja Glück! Ein Bräutigam«, bemerkte Shenja anerkennend. »Ist er nett?« »Ich sag doch, er ist Schweizer. Die sind alle nett. Alle reich, geizig und sehr auf Sauberkeit bedacht. So richtige Blödmänner, keine Ahnung vom Leben, aber verdienen einen Haufen Geld. Ich hab da noch Glück gehabt, meiner stammt -88-
aus einer soliden Familie, auch sein Großvater war schon Banker. Und geizig ist er auch nicht.« Sie streckte die schlaffe Hand aus, am Mittelfinger funkelte ein Ring. »Siehst du? Den hat er mir geschenkt!« »Wissen sie denn bei dir zu Hause, daß du hier heiraten willst?« warf Shenja eine Angel in Tamars ukrainische Vergangenheit aus. »Zu Hause - du sagst Sachen! Wo soll denn das sein, dieses Zuhause? Ich bin vor zehn Jahren da weg. Ich war noch keine vierzehn.« »Mit vierzehn? Probleme mit den Eltern?« »Probleme!« Das Mädchen schnaubte. »Meine Mutter, die war ein Goldstück. Und Vater, der war Kapitän, der hatte eine schicke weiße Uniform, mit Wappen auf der Mütze.« Sie hielt inne, in ihrem kleinen Kopf regte sich ein Gedanke. »Damals haben wir in Sewastopol gewohnt. Auf dem Schiff gab's eine Explosion, dabei ist Vater umgekommen. Ich war noch klein. Mama ist eine Schönheit, nach einem Jahr hat sie wieder geheiratet. Und mein Stiefvater, na ja, du weißt schon, ein Stiefvater eben. Ein Mistkerl. Er hat mich geprügelt, für nichts und wieder nichts. Am Bett festgebunden. Meine Mutter hat ja Schicht gearbeitet. Wenn sie da war, ging's, aber sobald sie weg war, ist er über mich hergefallen. Ein Vieh war das. Ein Sadist. Ich hab mich nie bei Mama beklagt, sie tat mir leid. Als ich größer war, wollte er mir an die Wäsche. Immer wenn er besoffen war, hat er sich an mich rangemacht. Als er mich vergewaltigt hat, bin ich von zu Hause abgehauen. Und du fragst nach meinem Zuhause!« »Du Arme. Ganz schön heftig, was du da so durchgemacht hast«, sagte Shenja mitfühlend. Tamar hieß eigentlich Sina, und sie hatte tatsächlich einiges durchgemacht. Sie stammte nicht aus Charkow, sondern aus der Chemiearbeitersiedlung Rubeshnoje im Gebiet Charkow, -89-
und ihre Mama war kein Goldstück, sondern eine alleinerziehende Alkoholikerin, und der Vater in der weißen Uniform war ein reines Phantasieprodukt, genau wie der Stiefvater, der sie als Kind vergewaltigt hatte - aber das alles erfuhr Shenja erst zwei Tage später, als sie mit Tamar am Ufer der Limmat spazieren »Ja. Ich hab eine Menge hinter mir. Ich hab bei meiner Tante gelebt, in Brjansk, da hab ich gearbeitet und nebenbei studiert. Dort hab ich einen Jungen kennengelernt. Er war reich und schön. Die große Liebe. Wir wollten heiraten. Hatten schon das Aufgebot bestellt. Er hat mir ein weißes Kleid gekauft, Klunker, alles, wie es sich gehört. Zur Hochzeit waren hundert Leute eingeladen. Allein die Blumen haben tausend Bucks gekostet. Und am Hochzeitsmorgen wurde er erschossen, im Auto, zusammen mit seinem Chauffeur und seinem Leibwächter.« Tamar wischte sich eine kleine Träne aus dem Augenwinkel. Sie strich ihr Haar zurück, legte ihre runden Mauseohren frei. Sie hatte kurze Finger mit langen künstlichen Nägeln. Sie war nicht mehr ganz jung, aber ihre Kindlichkeit wirkte durch die zugeschminkten Falten um die Augen noch rührender. Shenja schnürte es buchstäblich das Herz ab vor Mitleid: Sie war um die Dreißig und phantasierte sich noch immer eine Märchenwelt zusammen. »Ich hab hier in Zürich eine Freundin, Ljuda aus Moskau, die war früher auch in unserem Gewerbe, aber nicht bei uns im Klub, sondern im ›Venedig‹. Na, und die ist jetzt seit zwei Jahren verheiratet. Ihr Mann ist Banker, sie reist mit ihm dauernd in der Weltgeschichte rum. Sie haben zwei Häuser in Zürich und eins in Mailand. Ljuda ist schon was Besonderes, sie kann vier Sprachen, hat von allem Ahnung, egal, ob Musik oder Malerei oder sonstwas. Letztes Jahr ist sie sogar nach Hause gefahren. Und das kann sich sonst keiner leisten.« »Wieso, ist das so teuer?« fragte Shenja begriffsstutzig, und -90-
Tamar lachte. »Was heißt hier teuer? Teuer sowieso. Nein, gefährlich! Wenn man nun nicht wieder reingelassen wird? Wir kommen hier alle gerade so über die Runden. Zweitausend für die Wohnung, die Klamotten sind unheimlich teuer, jeder Slip einen Hunderter, einen BH kriegt man nicht unter dreihundert. Dann die Cremes, Shampoo und so, da bleibt kaum was fürs Essen«, sie stockte, spreizte die Finger, »na ja, bei mir ist natürlich alles okay. Ich hatte auch vor Franz schon meine Stammkunden. Ich hab nie für hundert Franken gearbeitet, immer für tausend Dollar die Nacht. Aber insgesamt ist das Leben hier nicht leicht.« »Hast du nie daran gedacht, zurückzugehen?« offenbarte Shenja erneut ihre Ahnungslosigkeit, und Tamar lachte so laut, daß das Pärchen am Nebentisch sich zu ihr umdrehte. »Bist du krank, oder was? Was soll ich denn da? Auf den Bahnhofsstrich? Hier hab ich einen Beruf, bin im Geschäft, arbeite im Kabarett! Da gibt's doch keine Kultur, höchstens in tausend Jahren mal. Oder überhaupt nie.« Man hatte ihnen schon vor einer Weile Champagner gebracht, und Tamar trank fast geistesabwesend, ganz automatisch. Eine angehende Alkoholikerin, registrierte Shenja. Michel saß an der Bar mit der Marokkanerin, die Tamar an ihren Tisch geholt hatte. Die Marokkanerin war eine echte Schönheit. Shenja wechselte einen Blick mit Michel. Tamar bemerkte es. »Hier gibt's so ziemlich alles - Schwarzärsche, Schlitzaugen... Meine Freundin und ich haben zu Anfang mit zwei Schwarzen zusammengewohnt. So was von primitiv, unglaublich! Die haben rohes Fleisch gegessen! Die eine ist dann gestorben. Und die andere ist ausgezogen. Dann haben wir zwei von unseren Mädchen aufgenommen.« Sie stockte. -91-
»Aber das ist schon lange her, jetzt hab ich ja eine Wohnung für mich allein.« Der Türsteher gab Tamar ein Zeichen. Sie straffte sich. »Komm einfach wieder vorbei. Laß dir von Michel meine Telefonnummer geben; wenn du willst, können wir uns ja mal treffen. Dann zeig ich dir Zürich.« Der Türsteher winkte ihr erneut, und sie ging zum Ausgang. Dort wartete ein Mann im schwarzen Mantel auf sie. Der nächste Tag war verloren - Shenja hatte Kopfschmerzen, und auch ihre Lieblingstabletten halfen nicht. Sie blieb bis zwei im Bett. Dann rief Louis an, er käme sie gleich abholen. Shenja, die schon in die Stadt gehen wollte, wartete zwei Stunden, bis er endlich auftauchte. Er brachte ihr einen Umschlag mit Geld - ihre Spesen. Um elf Uhr abends brachen sie wieder auf zu ihrer Tour: Restaurant - Stripteasebar - Kabarett. Michel schleppte Shenja erneut in ein teures Lokal und referierte auf dem Weg dorthin über die feinen Unterschiede zwischen französischem, deutschem und Schweizer Reichtum. Die Schweizer Variante sei die ödeste. Überhaupt war er kein Patriot, er schimpfte pausenlos über sein Land, und Shenja wunderte sich im stillen, warum er als freier Künstler nicht einfach woanders hinzog, fragte ihn aber vorerst nicht danach. Lada aus der Bar »XL« war Shenjas Hauptstudienobjekt in der ersten Abendhälfte. Üppig gebaut, mit großem, schon etwas schlaffem Busen, hätte sie Krankenschwester, Erzieherin oder Friseuse sein können. Vielleicht auch Serviererin in einer Kantine, Verkäuferin in einem gehobenen Lebensmittelgeschäft oder Annahmekraft in einer chemischen Reinigung. Und zugleich erinnerte sie an die berühmten sowjetischen Nachkriegsstars, mit ihrem wasserstoffblonden Haar, dem glänzenden roten Lippenstift und dem großen Herzen. -92-
»Hi, Lada. Ich komme aus Moskau. Michel hat mir von dir erzählt. Er sagt, du kennst dich mit dem Leben hier am besten aus. Weißt über alles Bescheid«, begann Shenja das Gespräch. »Ach, wir wissen alle hier Bescheid.« Lada lächelte, löschte das Lächeln aber sofort wieder. »Wenn du nicht Bescheid weißt, dann bist du im Arsch. Klar, ja?« »Bist du schon lange hier?« Eine blöde Frage, aber notwendig. »Seit drei Jahren, davor hab ich in West-Berlin gearbeitet.« »Und wo ist es besser?« »Hier, gar kein Vergleich. Materiell und überhaupt. Ein betrunkener Deutscher, das ist ein schwieriger Kunde. Hier in der Schweiz trinkt eigentlich keiner richtig. Ein viel anständigeres Volk. Nur die Zugereisten, das ist ein bunter Haufen, wie überall. Aber trotzdem nicht so schlimm wie anderswo. Zürich ist teuer, das schreckt das Gesindel ab. Ich bin zufrieden hier«, antwortete Lada mit der Würde einer Provinzlehrerin. »Und nach Hause willst du nicht zurück?« erkundigte sich Shenja. »Früher schon. Aber jetzt hat sich alles anders ergeben. Ich will heiraten.« Sie lächelte still in sich hinein. »Ach ja? Einen Schweizer?« fragte Shenja erfreut. »Einen Banker. Ein wohlhabender Mann, kein grüner Junge, und vor allem, er kommt aus einer angesehenen Familie, bis ins dritte Glied waren die alle Banker. Sogar der Urgroßvater...« Das hatte Shenja schon einmal gehört. »Ist er viel älter als du?« »Er ist zweiundvierzig. War aber noch nie verheiratet. Ich bin vierunddreißig. Zeit, eine Familie zu gründen.« Die rotgeschminkten Lippen lächelten. Sie glänzten und waren ganz glatt, ohne die kleinsten Risse - ein spezieller Lippenstift. -93-
»Ich möchte ein Kind. Heinz liebt Kinder.« Shenja stellte die entscheidende Frage: »Wie bist du eigentlich ins Ausland gekommen?« »Das ist eine lange Geschichte.« Lada lächelte geheimnisvoll. Sie lächelte nach jedem Wort. Sie lächelte die ganze Zeit. Das war fast ein nervöser Tick. »Ein Freund meines verstorbenen Bräutigams hat mir geholfen. Ich bin früh von zu Hause weg, mit vierzehn. Ich habe gearbeitet und nebenbei studiert. Dann hab ich einen Mann kennengelernt, wie im Roman. Er war reich und schön, ein Musiker. Hat in einer Band gespielt, ist im ganzen Land rumgereist. Und am Tag vor der Hochzeit, stell dir vor, da wurde er umgebracht. Vielleicht hast du in der Zeitung davon gelesen, eine ziemlich bekannte Geschichte. Sein Chauffeur wurde auch erschossen. Als ich es erfuhr, hat es mich völlig umgehauen, ich lag danach zwei Monate im Krankenhaus. Ich wollte mich umbringen. Aber sein Freund hat mir geholfen, er hat mich in die Band geholt, als Backgroundtänzerin, und ich bin mit ihnen auf Tournee gefahren. Und im Westen geblieben.« Wieder lächelte sie ihr idiotisches Lächeln, das rätselhaft wirken sollte. »Du Ärmste, was du alles durchgemacht hast«, sagte Shenja mitfühlend. »Und deine Eltern hast du wahrscheinlich auch schon etliche Jahre nicht gesehen.« »Meine Eltern? Mein Vater war Hochseekapitän. Wenn du mich mal besuchen kommst, zeig ich dir ein Foto - er sah toll aus in seiner weißen Ausgehuniform. Er ist jung gestorben, bei einer Explosion umgekommen. Und Mama war völlig hilflos, total verwöhnt, kannst du dir ja vorstellen, als Frau eines Hochseekapitäns; sie hat seinen Ersten Offizier geheiratet, und er, das Schwein, hat mich geprügelt, mich gequält, wie er konnte. Und als ich älter war, hat er mich vergewaltigt. Da bin ich von zu Hause abgehauen. Ich mag gar nicht mehr an all das denken... Aber wie du siehst, habe ich es überstanden. Mama ist gestorben, kurz nachdem ich weggelaufen bin. Ich habe in -94-
Wologda also nichts mehr. Absolut nichts.« Merkwürdig, haargenau die gleiche Geschichte zum zweiten Mal. Michel kam immer mal wieder an ihren Tisch, bezahlte die Getränke. Alle waren zufrieden. Shenja riß die zweite Schachtel Zigaretten auf. Morgen würde sie wieder Kopfschmerzen haben. »Wenn Heinz und ich geheiratet haben, darin ziehen wir was Eigenes auf. Ich möchte gern einen kleinen Klub aufmachen, aber in guter Lage. ›Russischer Klub‹ soll er heißen. Wie findest du das? Die Gegend hier ist nicht besonders. Die Mädchen würde ich aus Rußland holen. Jetzt ist es mit den Visa ja leichter...« Plötzlich lebte sie auf. »Hier ist ein Mädchen aus Rußland, Ljuda heißt sie, ich selber kenne sie nur flüchtig, aber meine Freundin ist mit ihr befreundet. Sie ist schon zwei Jahre weg aus dem Stripteaseklub, ist jetzt mit einem Banker verheiratet, der geht's blendend.« An einer goldenen Kette, in den Tiefen ihres Busens, hing eine Art Kugel. Lada zog sie heraus, drehte sie um. »Die Uhr, die hat mir Heinz geschenkt. In zwanzig Minuten bin ich dran mit meinem Auftritt. Mußt du dir ansehn, ist echt Wahnsinn. Eine richtig inszenierte Nummer, nicht bloß so. Wenn ich fertig bin, komme ich wieder.« Lächeln in Großaufnahme. Es gab Striptease »ohne«, das heißt ohne Gegenstände, Striptease mit Gegenstand, Paarstriptease, Männer- und Frauenstriptease und schließlich noch Stripteasevorführungen, bei denen ein guter Kunde alles von A bis Z individuell demonstriert bekommt - für ein Extrahonorar, versteht sich. Lada trat mit einem Stuhl auf. Der Stuhl war ihr Sexualpartner. Sie streichelte und leckte ihn. Ihre Zunge war riesig, rot und mit silbernen Ringen oder Glöckchen behängt. Es schien, als sei es der Stuhl, der ihr Handschuhe, -95-
Strumpfhalter und Höschen auszog. In ihrem Bauchnabel steckte ein synthetischer Smaragd von vierzig Karat. Lada gab sich dem Stuhl mit der Glut artistischer Leidenschaft hin. Applaus. Lada wurde zu Getränken eingeladen. Lada wurde zum Tanzen aufgefordert. Lada war heute in Form - das sagte Michel zu Shenja. »Sie war toll heute. Wir hätten heute drehen sollen. Sie hat genug Erfahrung, sie geniert sich nicht vor der Kamera.« Aha, andere genieren sich also. Interessant. Vor einem Saal voller Männer genieren sie sich nicht. Erst anderthalb Stunden nach ihrem Auftritt kam Lada wieder an Shenjas Tisch zurück. »Na, wie hat's dir gefallen?« »Toll, Lada! Der beste Striptease, den ich je gesehen habe.« Shenja hatte in ihrem Leben bisher zwei Striptease gesehen: gestern und heute. Und der gestern war nicht schlechter gewesen. Wieder saßen sie am Tisch, kauten dasselbe noch einmal durch. Der Kapitänspapa, der Stiefvater, der sie vergewaltigt hatte, der Bräutigam... Lada hieß eigentlich Olga. Sie kam aus Iwanowo, hatte als Spinnerin in einer Textilfabrik gearbeitet. Manchmal wurde ein halbes Jahr kein Lohn gezahlt. Sie ging zum Geldverdienen nach Petersburg. Als Prostituierte. Verdiente gut. An einem Abend soviel wie in der Fabrik in einem halben Monat. Das würde sie Shenja zwei Tage später erzählen, in dem Café, in dem Lenin einst Strudel gegessen hatte. Vorerst redete sie über das Leben hier: »Hören Sie nicht auf das, was unsere Mädchen erzählen. Von dem, was wir verdienen, kann man nicht leben, das reicht nur für Wohnung und Kleidung. Die Kostüme sind sauteuer.« »Kostüme« - das waren Höschen mit Glimmer und BHs mit Glasperlen oder Lederklamotten. Plus Glöckchen in der Zunge, -96-
ein Smaragd... Berufsbekleidung, dachte Shenja lächelnd. »Wovon du dein Essen bezahlst, ist deine Sache«, sagte Lada klagend und zugleich stolz. »Ich zum Beispiel, ich habe meine Stammkunden, einen Tausender die Nacht. Unsere Mädchen, die gehen schon für zweihundert Franken mit. Aber ich arbeite ja bloß noch bis zum Herbst hier. Im Herbst heiraten Heinz und ich, dann mache ich meinen eigenen Laden auf. Er ist Banker, er wird mich finanziell unterstützen. Ich habe hier eine Freundin, Ljuda aus Moskau. Die hat auch bei uns gearbeitet, und dann hat sie einen Banker geheiratet und ihren eigenen Laden aufgemacht«, fing Lada wieder von vorn an. Klar, sie ist auch Alkoholikerin, anscheinend eine Berufskrankheit, dachte Shenja. Und: Ich werde Michel bitten, mich mit Ljuda bekannt zu machen. Wie sich herausstellte, kannte Michel Ljuda sehr gut. Sie war gerade verreist. Sobald sie zurück war, würden sie sich treffen. Tag für Tag absolvierte Shenja ihren Schichtdienst: Aelita aus Riga, Emma aus Saratow, Alissa aus Wolchow und Anna aus Tallinn. Sie saß nächtelang in Bars, trank mit den Mädchen, redete mit ihnen über Gott und die Welt. Abends Alka-Seltzer, morgens Alka-Seltzer. Sie schrieb die Gespräche vom jeweiligen Vortag auf. Traf sich mit den Mädchen, führte sie aus in gehobene Cafés, bewirtete sie mit Kuchen - die Spesen übernahm das Fernsehen - und redete endlos mit ihnen. Die Mädchen erzählten gern von sich. Aus ihren simplen Lügengeschichten filterte Shenja eine typische Struktur heraus. Michel kam nur abends. Er war zwar sehr nett, aber irgendwie sonderbar. Eines Tages brachte er einen ganzen Haufen Kleider von seiner Frau Esperanza und warf ihn auf Shenjas Bett. »Diese verfluchten Klamotten braucht kein Mensch mehr! Die haben ein Vermögen gekostet! Mein armes Äffchen...« -97-
Dann weinte er. Shenja stellte keine Fragen. Ein andermal ging er mit Shenja in eine Bar, zum Arbeiten, saß eine Weile finster da, verschwand dann für drei Stunden und tauchte erst kurz vor Feierabend wieder auf - das ganze Gesicht voller Rußspuren. Seine Augen waren wieder leuchtendblau. So etwas hatte Shenja noch nie gesehen - daß sich die Augenfarbe zweimal die Woche veränderte. Er brachte sie nach Hause und war die ganze Zeit freudig erregt wie ein Welpe. Ein typischer Neurastheniker, ständige Stimmungsumschwünge, dachte Shenja. Vor der Tür der Pension sagte er: »Wenn du willst, bleib ich bei dir. Soll ich? « Shenja lachte. »Michel, du könntest fast mein Sohn sein.« »Das spielt überhaupt keine Rolle. Sag ja, und ich bleibe.« »Nein. Geh schlafen. Du bist müde.« »O nein. Dann gehe ich eben zu Tamar. Oder zu Aelita.« Endlich hatten sie ein Arbeitstreffen: Der Produzent Louis kam mit Aktentasche, Michel eingehüllt in eine umwerfende Duftwolke und Shenja mit einem Dutzend engbeschriebener Blätter. »Ich habe sieben Personen«, begann Shenja. »Sieben echte Geschichten, für deren Wahrheitsgehalt ich mich allerdings nicht verbürgen kann, also sagen wir, sieben halbwegs wahre Geschichten. Und eine übergeordnete Geschichte. Das ist genau der Schlüssel, der dir gefehlt hat, Michel. Die Mädchen erzählen nämlich zuerst alle dieselbe ausgedachte Geschichte, in der eine gute Mutter vorkommt, ein guter Vater - in fünf Fällen stellen die Mädchen den Vater als Kapitän in weißer Uniform dar. Dann der Tod des Vaters, ein böser Stiefvater, eine Vergewaltigung in der Pubertät, meist durch den Stiefvater, die Flucht von zu Hause, Begegnung mit einem -98-
Mann, große Liebe, aber die Hochzeit kommt nicht zustande, weil der Bräutigam plötzlich stirbt.« Michel wollte eine Frage stellen, doch Shenja bedeutete ihm mit einer Geste: Laß mich erst ausreden. Vor Ungeduld hielt es ihn kaum auf seinem Stuhl. »Nach dem Tod des Bräutigams erscheint dessen Freund und hilft dem Mädchen, ins Ausland zu gelangen. Er entpuppt sich als Schwein und treibt das Mädchen in die Prostitution. Doch nun hat sie einen wunderbaren Menschen getroffen, in der Regel ist der neue Bräutigam Banker, manchmal auch Unternehmer, und sie werden bald heiraten. Wahrscheinlich haben sie alle dasselbe Buch gelesen oder einen Film gesehen, der sie beeindruckt hat. Du hast völlig recht, Michel, wir haben es mit einem ziemlich infantilen Menschenschlag zu tun, der tatsächlich viel Rührendes an sich hat. Und noch etwas: Alle oder fast alle Mädchen erwähnen eine gewisse Ljuda aus Moskau. Eine Art lokale Heldin. Oder eine Sagengestalt. Wir müssen uns mit ihr treffen, ich glaube, sie könnte die Schlüsselfigur sein.« Michel sprang auf und küßte Shenja ab. »Genial! Zum Teufel mit dem Dokumentarfilm! Dieser Kapitän in weißer Uniform, der Stiefvater als Vergewaltiger... Und das Mädchen, eine Art russische Lolita, die von zu Hause wegläuft...« Michel stand mitten im Zimmer, Tränen rannen ihm aus den heute schwarzen Augen. »Sie steht am Straßenrand, hebt die Hand, Trucks fahren an ihr vorbei, vollbeladene Trucks aus Deutschland, aber niemand hält an, und es regnet... Und der kurz vor der Hochzeit erschossene Bräutigam, die russische Mafia... Das ist genial! Oscarreif! Mit Nathalie Portman in der Hauptrolle! Oh, oh!« stöhnte Michel und griff sich ans Herz. Dann küßte er Shenja erneut ab. »Das wird wie Dostojewski! Sogar noch besser! Mit Ljuda treffen wir uns heute abend. Aber eigentlich brauchen wir sie -99-
gar nicht. Ich will keinen Dokumentarfilm mehr! Wir machen einen Spielfilm! Zum Teufel mit dem ganzen Dokumentarquatsch!« Louis blieb vollkommen teilnahmslos. Als Michel mit seinem hitzigen Monolog fertig war, hob er die pummeligen Hände und sagte mit beleidigter Miene: »Wie du willst, Michel. Aber dabei mache ich nicht mit. Ich bin für einen Dokumentarfilm fürs Schweizer Fernsehen engagiert worden. Aber so ein Projekt... Dafür muß man erst mal Geld auftreiben, das dauert mindestens ein halbes Jahr, wenn nicht ein ganzes. Und daß du dein eigenes Geld da investierst, das lasse ich nicht zu.« Michel sagte lachend: »Louis, du bist wirklich wie ein Kind! Shenja schreibt das Skript so, daß wir drei Viertel in Rußland drehen können. Wir mieten alles, was wir brauchen. Dort kriegt man das doch faktisch geschenkt! Wir engagieren einen russischen Kameramann - die haben ein paar geniale Kameraleute! Und einen Komponisten! Und einen Ausstatter. Wir stellen die Technik und das Filmmaterial. So kostet uns der Film nur ein paar lumpige Kopeken! Das weißt du doch!« »Nein, nein. Die Idee ist absurd«, beharrte Louis. »Na schön! Wenn du nicht daran glaubst, dann eben nicht! Shenja schreibt das Skript, und wenn es fertig ist, reden wir drüber. Das Skript bezahle ich aus eigener Tasche. So!« Der Rest lief im Filmtempo ab. Mit Ljuda waren sie in dem Kabarett verabredet, in dem sie früher gearbeitet hatte. Es gehörte einer älteren Deutschen, die in den Sechzigern aus OstBerlin geflohen war. Shenja kannte sie bereits. Sie hieß Ingeborg und hatte eine große Karriere hinter sich: von der einfachen Stricherin zur Inhaberin eines Etablissements. Eine gutherzige Person, die Mädchen mochten sie. Sie war sehr stolz auf Ljuda, hielt sie für ihr bestes Werk. Sie mußten lange auf Ljuda warten, sie verspätete sich um -100-
eine gute Stunde. Eine hochgewachsene Blondine mit großen Zähnen und kleiner Nase. Hübsch wie der junge Tod. Elegant wie ein Haute-Couture-Model. Sie hatte ihren Mann dabei, ein rosa Dickerchen, das ihr bis zur Brust reichte. Mit einem freundlichen, fröhlichen Gesicht. Es gab eine herzliche Begrüßung mit Küßchen. Michel küßte Ljuda die Hand, und Shenja, die inzwischen die Eigenheiten des Regisseurs kannte, wußte, daß dieser betonte Respekt ein früheres intimes Verhältnis verriet. Ljuda redete, und das war Spitzenklasse, in vier Sprachen gleichzeitig: mit Shenja Russisch, mit Michel Französisch, mit Ingeborg Deutsch und mit ihrem aus Locarno stammenden Mann Italienisch. »Ljuda, Sie sind ja eine richtige Linguistin!« sagte Shenja begeistert, »Sie beherrschen die Sprachen so fließend...« Ljuda lächelte, die großen Zähne entblößt. »Ach wo, ich bin doch keine Linguistin, ich habe am Fremdspracheninstitut studiert, da werden keine Linguisten ausgebildet, nur Dolmetscher, Übersetzer.« Shenja war verblüfft: Ljuda war zwar eindeutig wie eine Hure gekleidet, wenngleich sehr stilvoll, sprach aber wie eine Moskauerin aus kultivierten Kreisen. Ljudas Geschichte war anders als die der anderen: ein Mädchen aus anständiger Familie, der Großvater Professor, eine Wohnung in der Kropotkinskaja-Straße, im Zentrum von Moskau. Ordentliches Elternhaus. Keine Vergewaltigung in der Kindheit. Im Gegenteil - Musikunterricht, künstlerische Gymnastik... Studienabschluß mit Auszeichnung. Eine anfangs glückliche Ehe mit einem Kommilitonen. Sie gingen dienstlich ins Ausland. Dann ein schwerer Schlag: Ihr Mann hatte homosexuelle Neigungen, verließ sie und zog zu einem jungen Mann. Ljuda erlitt einen Nervenzusammenbruch und verlor ihre Arbeit. Etwas Neues zu finden war schwierig, sie wurde -101-
Stripteasetänzerin. Das Leben in Zürich ist teuer, das Gehalt reichte knapp für die Wohnung. Sie arbeitete nachts im Stripteaseklub, tagsüber machte sie Übersetzungen. Kam irgendwie über die Runden. Dann lernte sie Aldo kennen. Hier in diesem Klub. Er ist Banker, ein wohlhabender Mann, sie hatte es also geschafft... Aber sie trinkt ganz schön, registrierte Shenja. Schon als sie kamen, war sie nicht mehr nüchtern. Und während ihres Gesprächs hatte sie vier Gläser Champagner geleert. Irgendwann ging Shenja zur Toilette. Eine kleine Überraschung: Die Toilettenfrau stammte ebenfalls aus Rußland. Vermutlich eine von denen, die im Business gescheitert waren, aber trotzdem nicht wieder zurückwollten. Shenja knüpfte aus reiner Gewohnheit ein Gespräch mit der Frau an. Es war genauso, wie sie sich gedacht hatte: Sie kam aus Krasnodar, hatte erst in Deutschland gearbeitet, nun war sie hier. Shenja stand vorm Spiegel, blickte hinein und dachte: Wo bist du nur hingeraten, meine Liebe? In diesem Augenblick kam Ljuda herein, graziös schwankend, mit einer leichten Drehung vor jeder Türklinke. Sie stürzte in eine Kabine, erbrach sich und pinkelte. Dann kam sie heraus. Die Toilettenfrau drückte ihr sofort ein Glas in die Hand. Ljuda spülte sich den Mund und sprühte Mundspray hinein. Sie setzte sich auf die Chaiselongue. Ihr Blick fiel auf Shenja, und schlagartig war jegliche Freundlichkeit von ihrem Gesicht weggewischt wie ein Make-up. Sie zündete sich eine Zigarette an, verzog das Gesicht zu einer Grimasse und sprach Shenja plötzlich im Ton einer Straßennutte an: »Was machst du eigentlich hier? Von wem wirst du bezahlt? Was willst du überhaupt?« Wie häufig bei Betrunkenen, war ihre Stimmung offenbar abrupt umgeschlagen, und Shenja antwortete sanft: »Ich -102-
schreibe ein Filmskript, Ljuda, über russische Mädchen in Zürich. Und du bist hier die Heldin, alle reden von dir - Ljuda aus Moskau...« »Schreibst du alles auf, oder hast du ein Diktiergerät?« fragte Ljuda mißtrauisch. »Ja, ich habe ein Diktiergerät«, bekannte Shenja, »aber ich rede auch einfach so gern mit dir. Rein menschlich...« Da wurde Ljuda auf einmal zu einer regelrechten Furie. Sie wollte aufstehen, plumpste aber zurück auf die Chaiselongue. »Du bezahlte Ratte, du willst uns alle ans Messer liefern, ja? Zu Hause waren sie schon dauernd hinter uns her, jetzt lassen sie uns auch hier nicht in Ruhe. Dir stopf ich das Maul, du...« Sie reckte die Schultern wie ein Filmschauspieler, der einen Kriminellen spielt. Shenja bekam einen hysterischen Lachanfall. »Na sag mal, Ljuda«, rief sie aus, »wofür hältst du mich? Bist du übergeschnappt? Meinst du, ich hab in meinem Leben nicht genug Scheiße gefressen?« Shenja legte einen Arm um Ljuda, die ihren Kopf auf Shenjas Schulter sinken ließ und auf einmal schluchzte. Schluchzend erzählte sie den bekannten Text, aber eindrucksvoller als ihre weniger begabten Kolleginnen. »Hast du je für drei Rubel am Bahnhof Schwänze gelutscht? Bist du je von einer ganzen Horde vergewaltigt worden? Oder hast dich im Hausflur ficken lassen? Ja, ich bin Ljuda aus Moskau! Die Königin, verdammt noch mal! Aber ich heiße nicht Ljuda und bin auch nicht aus Moskau! Ich bin Soja aus Tula! Und einen Professor hat es in unserer Sippe nie gegeben. Dienstmädchen war ich bei einem Professor, bei einem Juden, jawohl! Ihre Enkelin hab ich immer zum Musikunterricht gebracht. Bei mir zu Hause sind alle Bergleute. Mein Papa, mein Stiefvater. Meine Mama arbeitet noch immer auf der Zeche. Als Disponentin. Und mein versoffener Stiefvater, der -103-
sitzt, obwohl - wahrscheinlich ist er schon tot. Er hat mich vergewaltigt, als ich elf war. Trotzdem habe ich die Schule mit einer Goldmedaille abgeschlossen! Und die Aufnahmeprüfung am Institut bestanden! Aber als mich die Miliz im ›National‹ aufgelesen hat, da bin ich rausgeflogen aus dem Institut. Immerhin haben sie mich nicht eingesperrt, sie haben mich bloß gevögelt, das ganze Revier, und mich dann laufenlassen. Ja, ich wäre vielleicht selber Professorin geworden, hätte ich nicht vom ersten Studienjahr an für Geld die Beine breit machen müssen. Sprachen fallen mir leicht, das ist für mich ein Kinderspiel. Ich lerne alles nach Gehör, ohne Lehrbuch...« Sie streckte die lange rosa Zunge heraus und bewegte sie hin und her - das perfekte Werkzeug eines Profis. Weiter ging die Geschichte wie gehabt: Bräutigam, Tod kurz vor der Hochzeit, der böse Geist... Trunkene Tränen flossen, sie heulte Rotz und Wasser. Sie bekam einen Schluckauf und verwischte die angeblich wasserfeste Wimperntusche auf den eingefallenen Wangen. »Wein doch nicht, Ljuda.« Shenja streichelte ihre Schulter. »Du hast doch trotzdem am meisten Glück gehabt. Alle Mädchen beneiden dich. Du hast ein eigenes Geschäft, deinen Mann Aldo...« »Du blöde Schriftstellertussi!« Sie weinte noch bitterlicher. »Du hast ja keinen blassen Schimmer, du Ingenieur der menschlichen Seele! Ja, klar hat er mich geheiratet! Ich schufte ja für ihn auch wie Papa Carlo, ich hatte heute schon drei Kunden. Vierhundert Franken, alles inklusive. Ein Araber um die Sechzig, ein Arschficker und Mistkerl. Der zweite war ein Deutscher aus Bayern, geizig bis zum Gehtnichtmehr. Ich hab mir Mineralwasser eingegossen, da fragt er, wer denn das Wasser bezahlt. Aber der dritte«, sie lachte, »der war süß! Ein junger Japaner, der hatte überhaupt keinen Schwanz. Aber so was von höflich! Und das mit den tausend Dollar, das kannst du vergessen. Davon träumen die ganzen Idiotinnen hier. -104-
Soviel Kohle kriegt höchstens Naomi Campbell.« Shenja schleppte Ljuda aus der Toilette. Der rosarote Aldo maß sie mit einem unguten Blick - da glaubte Shenja alles, was Ljuda ihr eben erzählt hatte. Zwei Tage später reiste Shenja ab. Mit Michel hatte sie einen Vertrag für ein Skript abgeschlossen. Was für ein Hundeleben. Was für häßliche Lügen. Doch die Wahrheit war noch häßlicher. Aber Michel wollte ein Märchen. Eine Stadtromanze. Ein Melodram für Arme. In dem in Erfüllung ging, wovon alle Mädchen auf der Welt träumten, naive, habgierige, gutmütige, grausame, betrogene... Shenja bekam tausend Dollar Vorschuß. Genau die Summe, die sie sich alle wünschten als Lohn für eine Nacht. Dann war sie wieder zu Hause. Zu Hause war alles real, schwierig und anstrengend. Shenja ging jeden Tag zur Arbeit und schrieb nebenbei das Skript. In Moskau wirkte diese ganze Geschichte immer unsinniger und unnötiger. Nach sechs Wochen rief Louis an, Michel sei an einer Überdosis Heroin gestorben. Einen Tag nach der Beerdigung seiner Frau Esperanza, die in der Klinik an Aids gestorben war. Louis weinte. Auch Shenja weinte. Endlich war dieser Irrsinn vorbei, und nun konnte sie sich alles erklären, selbst Michels ständig wechselnde Augenfarbe: blau, wenn die Pupillen sich zusammenzogen, und schwarz, wenn sie geweitet waren und die ganze Iris einnahmen - je nach Michels Heroindosis.
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Die Kunst zu leben l
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iese verfluchten Markkürbisse gingen ihr tagelang nicht aus dem Sinn. Schließlich kaufte sie fünf Stück - sie waren blaßgrün, glatt und glänzend. Sie schmorte sie spätabends, machte am nächsten Morgen rasch eine Soße dazu und bat Grischa, das Essen zu Lilja zu bringen. Außer den Schmorkürbissen noch einen Rote-Bete-Salat und einen Quarkaufstrich. Lilja hatte praktisch kaum noch Zähne. Und nur wenig Verstand. Ebenso wie Schönheit. Im Grunde bestand sie aus einem großen fetten Körper und einer stillen Hilfsbereitschaft. Still war ihre Hilfsbereitschaft erst durch ihre Krankheit geworden; als Lilja noch gesund war, hatte ihre Hilfsbereitschaft gelärmt, gejammert, gescholten und sogar ein wenig aufdringlich danach verlangt, sich ihrer zu bedienen. Und jeder, der wollte, bediente sich. Amüsanterweise war Lilja, deren Mädchenname Aptekman war, von Beruf Apothekerin. Provisor, wie man früher sagte. Dreißig Jahre hatte sie in ihrer Apotheke gestanden, hatte jeden ohne Unterschied angelächelt und sich bemüht, jedem das Gewünschte auszuhändigen, es zu besorgen, aufzutreiben... Dann kam plötzlich der Schlaganfall, und nun humpelte sie schon seit drei Jahren an einem soliden ausländischen Stock mit Armstütze durch die Wohnung und zog das linke Bein nach. Auch der linke Arm diente im Grunde nur noch zur Zier er war zu nichts mehr nütze. Shenja konnte Lilja Aptekman von Kindheit an nicht ausstehen. Damals wohnten sie im selben Haus in einer alten Straße, die inzwischen dreimal umbenannt worden war. Ihre -106-
Eltern hatten sich gekannt. Es hieß sogar, Shenjas Großvater habe mit achtzig um Liljas Großmutter angehalten, damals eine rüstige Greisin von fünfundsechzig Jahren. Aber das glaubte Shenja nicht recht: Was hätte ihr gebildeter Großvater, ein ehrwürdiger HNO-Arzt, der Schubert und Schumann liebte und Cicero im Original las, schon an Liljas Großmutter finden können, einer ewig lächelnden seidenweichen Kommode mit Schnurrbart und dem Singsang der ukrainischen Stetlbewohnerin? Liljas poltrige Art, ihre Verfressenheit und ihre unmäßige Neugier brachten Shenja damals zur Weißglut. Lilja dagegen suchte Shenjas Freundschaft - doch Shenja ließ sie nicht an sich heran. Dann zogen Aptekmans aus, Shenja und Lilja sahen sich viele Jahre nicht und dachten nie aneinander. Und so wäre es vielleicht bis zu ihrem Tode geblieben, hätte nicht Shenja vor zehn Jahren ganz Moskau abgeklappert nach einem raren, schwer zu bekommenden Medikament für ihre todkranke Mutter, und hätte nicht eine entfernte Freundin ihr versprochen, das nötige Medikament über eine andere entfernte Freundin, eine Apothekerin, zu besorgen. Auch da hatte Shenja noch nicht geahnt, daß diese Apothekerin Lilja Aptekman war. Dann rief die bis dahin unerkannt gebliebene Apothekerin sie überraschend an, erkundigte sich nach der genauen Dosierung, bat jemand anderen um Hilfe, bestellte das Medikament irgendwo, was erst nicht klappte, doch nach etwa zwei Wochen rief sie wieder an und teilte Shenja freudig mit, daß sie es besorgt habe. Shenjas Mutter bekam bereits ein anderes, schwerer verträgliches Präparat, und es ging ihr sehr schlecht Shenja saß tagelang bei ihr im Krankenhaus. Die Apothekerin wollte ihr das Medikament selbst vorbeibringen - sie sagte, es liege auf ihrem Weg, sie wohne zwei Haltestellen weiter. Shenja öffnete einer unbekannten dicken Matrone mit schicker Brille die Tür, und die rief sofort: »Shenetschka! Deine Stimme kam mir doch gleich so bekannt vor! Meine -107-
Liebe! Das Vinkristin ist also für Tante Tanja! O mein Gott! Shenetschka! Du hast dich überhaupt nicht verändert, kein bißchen! Diese Taille! Was für eine Taille! Erkennst du mich nicht? Habe ich mich etwa so verändert? Ich bin Lilja Aptekman aus Wohnung achtzehn!« Fassungslos vor Überraschung, betrachtete Shenja die Dicke mit den kräftig geschminkten Augen und versuchte herauszufinden, an wen die Frau sie erinnerte, woran... Noch immer freudig kakelnd, zog die Dicke ihre ungleichen Fäustlinge aus, stellte zwei ihrer Taschen ab und angelte aus der dritten Medikamentenschachteln, wobei sie sorgfältig die Aufschrift jeder einzelnen studierte. Shenja reagierte ziemlich lustlos. »Lilja Aptekman! Das ist ja eine Ewigkeit her!« Und plötzlich war alles wieder da: das dicke Mädchen, das dauernd etwas kaute, eine Pirogge, eine Quarktasche oder dergleichen; ihre hübsche ältere Schwester und der Vater, ein riesengroßer rotgesichtiger Wirtschaftsfunktionär, der immer mit einem Dienstwagen abgeholt wurde, eines Tages für sehr lange, für fünf Jahre... Sie erinnerte sich sogar daran, wie Liljas Vater nach der Entlassung als gebrochener alter Mann zurückgekehrt war. Seitdem hatte er immer mit den Dominospielern zusammen auf der Bank gesessen und mit ihnen getrunken. Selbst ein zufälliges Bild tauchte wieder auf: Lilja, schon ein erwachsenes Mädchen mit entwickeltem Busen, bringt ihren betrunkenen Vater nach Hause und weint dabei bitterlich. Mehr wußte Shenja nicht, denn dann waren die Aptekmans ausgezogen. »Leg doch ab, du mußt nicht an der Tür stehenbleiben, Liletschka!« Shenja stellte die bauchigen Taschen auf einen Hocker und half Lilja aus dem abgewetzten struppigen Mantel, der schwer war wie eine Grabplatte. Lilja aber kakelte noch immer: -108-
»Natürlich komm ich einen Moment rein, natürlich. Ich habe ausnahmsweise viel Zeit - sonst renne ich ja immer nach Hause wie eine Besengte, aber jetzt sind Ferien, die Mädchen hab ich ins Ferienlager geschickt, und mein Friedman ist auf Dienstreise. Ach, Sherietschka, wie ich mich freue, daß ich dich gefunden habe! Du mußt mir gleich alles erzählen. Du warst doch immer was ganz Besonderes. Du warst immer die Allerklügste, und ich war strohdumm... und beleidigt, weil du nicht meine Freundin sein wolltest. Trotzdem warst du meine beste Freundin: Viele, viele Jahre, eigentlich die ganze Kindheit lang, habe ich vorm Einschlafen mit dir geredet. Das war eine regelrechte Beichte, so würde ich das heute nennen.« Lilja sprach hastig, laut und mit Betonung - wie eine Drittkläßlerin, die ein Gedicht vorträgt. »Willst du etwas essen? Soll ich Teewasser aufsetzen?« fragte Shenja müde. Es war schon nach zehn, und sie hatte noch eine Menge zu tun. »Nein, essen will ich nichts... Höchstens einen Happen... Aber einen Tee trinke ich natürlich gern...« Shenja ging ergeben in die Küche, und Lilja folgte ihr, laut mit den Männerpantoffeln schlappend. »Nein, denk mal an, was für ein Zufall. Ich habe in der Zentralapotheke angerufen, in der Kremlapotheke, habe meine Beziehungen spielen lassen und dabei allen gesagt, ich brauche das Medikament für eine Verwandte. Und nun stimmt das ja tatsächlich - du bist für mich wie eine Verwandte. Tante Tanja tut mir ja so leid! Weißt du, diese Chemie, die ist ja sehr effektiv, aber eben an sich ziemlich aggressiv.« Shenja nickte. Sie wußte bereits, daß ihre Mutter nicht am Krebs sterben würde, sondern genau an dieser Chemie, die die bösartigen Zellen auffraß; die Geschwulst löste sich zwar auf, aber das Leben schwand noch schneller. »Ich habe immer in euer Fenster geguckt: Du hast am -109-
Klavier gesessen und gespielt, und auf dem Klavier standen zwei Kerzenhalter. Und ein Bild hing da, eine Waldlandschaft, ein sehr schönes Bild mit Goldrahmen. Ich erinnere mich sogar noch an deinen Urgroßvater, der hatte immer einen schwarzen Hut auf und ganz viele zerdrückte Bonbons in den Taschen. Manchmal, wenn er mit einem Netz voll alter Schuhe zum Schuster ging, blieb er mitten auf dem Hof stehen und verteilte Bonbons an alle Kinder.« Shenja überlief es heiß: Diese Erinnerungen gehörten ihr allein, niemand auf der Welt, außer Mama, die kaum noch recht diesseits war, erinnerte sich an diese Momentaufnahme eines Sommertages: Angestrahlt vom hellen Licht der Erinnerung, steht Urgroßvater, geboren achtzehnhunderteinundsechzig, in dem Jahr, als die Leibeigenschaft aufgehoben wurde, und gestorben neunzehnhundertsechsundfünfzig, mitten auf dem Hof, einen schwarzen Hut auf dem Kopf, mit weißem, kurzgeschnittenem Bart, unter dem der dicke Knoten einer graublau gestreiften Krawatte prangt. Auch das Netz mit den alten Schuhen und die Bonbons in der Tasche - das stimmte, aber es gehörte ihr, Shenja. Nun stellte sich heraus, daß es noch jemanden gab, der das alles bestätigte, der bezeugen konnte, daß sie jenes Leben, das inzwischen unter dem rabiaten Asphalt des Neuen Arbat erstickt war, nicht nur geträumt hatte. »Daran erinnerst du dich noch, Liletschka?« »Natürlich, ich erinnere mich an alles, an jede Kleinigkeit. An eure Haushälterin Nastja und an die Katze Murka, an das Sofa mit dem Plaid im Eßzimmer. Und an eure Großmutter Ada Maximilianowna - das war eine echte Dame, sie trug immer ein kariertes Kostüm, so ein Hahnentrittmuster, eben eine richtige Ausländerin.« Lilja schniefte. »Sie war Polin«, flüsterte Shenja, »ja, stimmt, das karierte -110-
Kostüm...« Lilja setzte die Brille ab, holte ein dunkles Männertaschentuch aus der Tasche und wischte sich die zerlaufene Wimperntusche ab. Mit geübten Fingern korrigierte sie die verklebten Wimpern. Dann nahm sie aus ihrem Kosmetiktäschchen eine Pappschachtel mit billiger sowjetischer Wimperntusche, einen dicken Augenstift und einen runden Taschenspiegel, biß sich auf die Lippe und übertünchte die zerlaufene Schönheit. Als sie fertig war, räumte sie ihre armseligen Damenutensilien wieder ein, steckte sie in die Tasche, faltete wie eine brave Schülerin die im Verhältnis zu ihrem massigen Körper ziemlich kleinen Hände und begann zu erzählen. »Ich bin sehr glücklich, Shenja. Mein Mann, Friedman, ist ein guter Mensch, und meine Töchter sind bildhübsch.« Die Form dieser Aussage entsprach in keiner Weise ihrem Inhalt - sie klang allzu traurig. Lilja seufzte und fuhr fort: »Am glücklichsten war ich als Mutter meines ältesten Sohnes. Er ist gestorben, als er zehn war.« Shenja überlief es zum zweiten Mal heiß. »Er war... Er war ein Engel. Solche Menschen gibt es gar nicht. Eines Tages kam ich von der Arbeit, und da lag er auf dem Sofa, tot. Er hatte ein Aneurysma, aber das wußte keiner«, erklärte Lilja. »Er war kerngesund, ist nie krank gewesen, und dann auf einmal kommt er aus der Schule und stirbt. Ich hätte mich aufgehängt, wenn die Mädchen nicht gewesen wären. Sie waren damals erst anderthalb.« Ein vager Verdacht durchzuckte Shenja - sie hatte schon einmal eine Geschichte von toten Kindern gehört. »Aber mit ihnen... ist alles in Ordnung?« »Gott sei Dank! Ich sag doch, sie sind alle beide bildhübsch.« -111-
Sie setzte die Brille auf, blickte Shenja aus ihren dickgeschminkten Augen an, wühlte wieder in ihrer Tasche und hielt ihr eine im Fotoatelier gemachte Aufnahme hin: Zwei süße Püppchen mit ordentlich gekämmtem Haarschopf und Schmollippen saßen nebeneinander, die makellosen Hälse einander zugereckt. »Aber ich wollte dir etwas anderes erzählen, Shenetschka. Überlebt habe ich nämlich mit Gottes Hilfe. Mein kleiner Serjosha hat mich zu Gott geführt. Ein halbes Jahr nach seinem Tod habe ich mich taufen lassen. Meine Familie - Papa war ja schon tot, aber Mama, die Tanten und meine Schwestern, die haben nicht mehr mit mir geredet. Doch dann hat sich alles wieder eingerenkt. Und mir ging es wieder gut. Das heißt, es war natürlich immer noch schlimm, aber Serjosha ist durch unseren HERRN bei mir, ich fühle seine Anwesenheit sehr stark. Und ich weiß, daß er mich erwartet, wie es uns Christen versprochen ist, nicht in diesem Leben, aber im anderen, in Engelsgestalt. Nur gegen eines kam ich nicht an - ich habe immerzu geweint. Wenn ich am Kochtopf stand, in der Apotheke Kunden bediente oder einfach im Bus saß - ich merkte gar nicht, wie mir die Tränen liefen. Aber die anderen sahen es natürlich. Ich habe überlegt und überlegt und schließlich angefangen, mir die Augen anzumalen. Die Tusche beißt in den Augen, und wenn die Tränen kommen, merke ich das sofort und reiße mich zusammen. Zwölf Jahre sind inzwischen vergangen, aber die Tränen laufen noch immer. Also habe ich mir angewöhnt, mir die Augen anzumalen, gleich als erstes, wenn ich früh aufstehe.« Wieder durchfuhr es Shenja, und es kribbelte in der Nase. Liljas warme Augen waren geschminkt wie die einer Bahnhofsnutte, aber ihr Gesicht war so bleich, als habe sie bereits selbst die Engelsgestalt angenommen, die ihrem toten Sohn Serjosha zukam. Lilja redete und redete, und als sie auf die Uhr sahen, war es -112-
fast eins. »Mein Gott, bin ich geschwätzig!« sagte Lilja zerknirscht. »Ich hab dich ja total vollgequatscht! Aber es war so schön, mit dir zu reden, Shenetschka. Jetzt fährt bestimmt kein Bus mehr.« Shenja bot ihr an zu bleiben. Lilja willigte freudig ein. Genüßlich kauend und schmatzend verspeiste sie die Reste eines Quarkauflaufs, trank noch mehr Tee. Um zwei, als Shenja ihr auf der Liege im Durchgangszimmer das Bett gemacht hatte, fragte Lilja, während sie ihre dicke, feuerwehrrote Strickjacke auszog: »Shenetschka, ist Tante Tanja eigentlich getauft?« »Großvater und Großmutter waren Protestanten. Und Mama - ich weiß nicht.« »Wie das?« fragte Lilja erstaunt. »Die Großeltern haben vor der Revolution geheiratet und sind beide Protestanten geworden. Großvater kam aus einer jüdischen Familie, Großmutter war Katholikin, und anders hätten sie nicht heiraten können. Aber Mutter ist nicht religiös. Ich weiß nicht einmal, ob sie getauft ist. Wenn, dann ist sie Protestantin.« »Ach was?« Lilja war verblüfft. »So was, Protestantin... Na ja, egal, Protestanten sind ja auch Christen. Weißt du was, ich besorge einen Priester für Tante Tanja.« Shenja betrachtete den welligen Hügel, den Liljas gemütlich unter die Decke gekuschelter Körper bildete, und das nicht mehr junge, ungeschminkte Gesicht voller Falten und Leberflecke - ihr dankbares Lächeln war halb im eingedrückten Kissen versunken. Was für eine liebe Person, dachte Shenja. Lilja erhob sich vom Kissen und griff nach Shenjas Hand. »Ein Priester muß sein, Shenetschka. Unbedingt. Das -113-
würdest du dir sonst nicht verzeihen.« Ja, ja, sie ist ein sehr lieber Mensch, dachte Shenja. Das war sie auch schon als Kind, aber da war sie noch ohne jeden Verstand. Nun hat sie für ihre Energie einen Kanal gefunden. Komisch, daß es ausgerechnet das Christentum ist. Tatjana Eduardowna starb in dieser Nacht, so daß sie weder das Medikament noch den Priester brauchte. Lilja weinte bei der Beerdigung bitterlich, die ganze Wimperntusche floß dahin. Sie war untröstlich, daß sie Tatjana Eduardowna keinen Priester mehr ans Krankenbett geholt und auch selbst nicht von ihr Abschied genommen hatte. Shenja aber konnte nicht weinen. Sie legte ihre kalte Hand auf die noch kältere Stirn ihrer Mutter und entwarf im Kopf eine lange Liste von Dingen, die sie im Leben für ihre Mutter nicht getan hatte. Sie war eine Meisterin im Aufstellen solcher Erledigungslisten. Seitdem war Lilja an Shenja haftengeblieben. Shenja erkor sie nicht zur Freundin: Lilja war von ihrer menschlichen Bestimmung her eine Verwandte. Jedermanns Verwandte. Und Shenja kapitulierte. Sie wehrte sich gereizt gegen Liljas spirituelle und medizinische Fürsorge, gegen ihre unermüdliche laienhafte Propaganda des erlösenden Christentums, blaffte sie hin und wieder an, war aber dennoch gerührt von Liljas unermüdlicher Bereitschaft, jedermann zu helfen, und zwar augenblicklich. Doch sie ahnte den tieferen Sinn von Liljas Leben: Lilja war zum Dienen geboren - sie hegte, pflegte und umsorgte nicht nur ihren aufgeblasenen dümmlichen Mann und ihre launischen, quirligen Töchter. Ebenso selbstlos diente sie ihren Freundinnen und den Kunden, die ihr Rezepte durchs Schalterfenster schoben; sie schleppte Taschen voller Medikamente zu Bekannten und Unbekannten und wurde dunkelrot vor Ärger und Kränkung, wenn die von ihr -114-
Beglückten ihr Pralinenschachteln oder Parfüm zusteckten. Mit dem Geld kam sie knapp über die Runden, sie war immer hektisch, abgehetzt, in den Augen brannte die von ihren unkontrollierbaren Tränen aufgelöste Wimperntusche. Jahr für Jahr war sie unermüdlich auf den Beinen: versorgte diesen und jenen mit Medikamenten, besuchte alte Omas und kam immer und überall zu spät - selbst zum sonntäglichen Gottesdienst, zu dem sie Shenja so hartnäckig einlud. Dann erlitt sie einen Schlaganfall. Sofort brach alles zusammen: Ihr Mann vergaß, von einer Dienstreise zurückzukommen, weil er sich in eine junge Frau verguckt hatte; die Mädchen, von den Ereignissen völlig überrumpelt, konnten nicht begreifen, weshalb das Leben ihnen so übel mitspielte. Die Mutter hatte aufgehört, ihnen jeden Morgen frisch gepreßten Saft hinzustellen, für sie zu kochen, zu bügeln und einzukaufen; sie tat überhaupt nichts mehr, im Gegenteil, sie erwartete nun von ihnen lauter Dinge, die sie nicht gelernt hatten. Sie drückten sich vor all diesen schnöden Arbeiten, schoben sich deren Erledigung gegenseitig zu und zankten sich ständig. Liljas Rehabilitation war langwierig. Sie hielt sich heroisch: Stundenlang knetete und massierte sie ihren gelähmten linken Arm, machte irgendwelche chinesischen Übungen, bürstete ihren schlaffen Körper bis zur Erschöpfung, rollte mit Füßen und Händen Kugeln und kam allmählich auf die Beine, lernte wieder laufen, sich anzuziehen und mit nur einem Arm zurechtzukommen. Shenja, die Liljas Zuhause früher gemieden hatte, besuchte sie nun häufig, brachte ihr Essen oder Geld. Zu ihrer Verwunderung stellte sie fest, daß Lilja viel Besuch bekam, meist von Leuten aus Kirchenkreisen, die bei ihr saßen, mit ihr spazierengingen, ihr im Haushalt halfen. Auf die Töchter konnte sie nicht sonderlich zählen - sie stürzten sich mit Leidenschaft ins pralle Jugendleben, das vor schillernden -115-
Angeboten strotzte. Bisweilen, wenn sie Lust dazu hatten, vollbrachten sie Großtaten im Haushalt: putzten die Wohnung oder kochten Essen, wofür sie jedesmal ein Lob oder einen Orden erwarteten. Lilja freute und bedankte sich immer und erzählte Shenja: »Irotschka hat einen vegetarischen Borschtsch gekocht! Der hat geschmeckt!« »Was du nicht sagst! Sie hat also tatsächlich gekocht?« reagierte Shenja darauf wutschnaubend. Lilja lächelte schüchtern und rechtfertigte sich: »Nicht böse sein, Shenetschka, ich bin ja selbst an allem schuld. Nach Serjoshas Tod war ich doch wie von Sinnen. Ich habe die beiden unmäßig verwöhnt. Was kann man da von ihnen erwarten?« Lilja sprach jetzt leise und langsam. Ihre gesamte Energie brauchte sie nun dafür, zur Toilette zu humpeln, mit einer Hand ihre Hose anzuziehen, sich zu waschen und die Zähne zu putzen. Mit einer Hand die Zahnpasta auf die Bürste zu drücken wollte erst einmal gelernt sein. Shenja weinte fast vor Mitleid, doch Lilja lächelte schief und erklärte: »Ich bin zuviel rumgerannt, Shenetschka. Nun hat Gott mir befohlen, ein bißchen stillzusitzen und über mein Verhalten nachzudenken. Und das tue ich jetzt.« Sie war ganz still, alt und grau, schminkte sich auch die Augen nicht mehr - diese Fertigkeit hatte sie eingebüßt -, und manchmal flossen ihr die Tränen aus den ausgeblichenen Augen, aber das war egal. Wenn Shenja ging, warf sie einen raschen Blick in den Spiegel - sie sah noch ganz akzeptabel aus, höchstens wie fünfundvierzig -, und lief die Treppe hinunter, denn sie hatte keine Zeit, auf den Lift zu warten, sie mußte eine Menge erledigen, eine lange Liste.
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2 Shenja benutzte keinen handlichen Taschenkalender, sondern eine Art Geschäftsbuch - schwarz und von ziemlich großem Format, fast A4. Darin gab es drei Spalten: V für Verlagsangelegenheiten, H für Haushalt und S für Sonstiges. Um die erste Spalte stand es relativ gut. Shenja beschäftigte seit einem halben Jahr einen Assistenten, der sie zwar ein Heidengeld kostete, aber er war es wert: Inzwischen hatte er die gesamten Herstellungsdinge und einen Teil des Vertriebs übernommen. Sie konnte wieder durchatmen. Mit der Spalte H sah es schlechter aus: Das alte Auto hatte die ganze letzte Woche seine Macken gehabt, und es war klar, daß sie es entweder reparieren lassen oder gleich verkaufen mußte. Die Waschmaschine war endgültig kaputt, sie mußte einen Monteur bestellen und damit einen ganzen Tag vertrödeln. Vielleicht war es ja einfacher, eine neue zu kaufen und die alte wegzuwerfen? Die Liste enthielt noch mehrere komplizierte Punkte. Shenja überlegte eine Weile und entschied, daß es an der Zeit war, etwas zu tun, ohne das sie ihr bisheriges Leben lang ausgekommen war: eine Haushaltshilfe zu engagieren. Sie schrieb also in die zweite Spalte einen weiteren Punkt: HH. Wenn sie dann einen Großteil der Dinge unter H der HH überließ, könnte sie sich um die achtzehn Punkte unter S kümmern. Sie enthielten aufgeschobene, weniger dringende Angelegenheiten: Dinge, die sie jemandem versprochen oder die sie sich vorgenommen, dann aber nicht geschafft hatte oder die sie zwar nicht versprochen hatte, aber dennoch für ihre Pflicht hielt. Sie hatte zwei alte Tanten vernachlässigt; sie wollte dem Vater eines alten Freundes, einem neunzigjährigen Opernsänger, einen kleinen Tisch bringen; die Kräuter für Maria Nikolajewna lagen schon seit einer Woche bei ihr; der Todestag ihrer Mutter nahte, und sie -117-
mußte sie auf den Friedhof fahren; für Katja einen Wirbelsäulenneurologen auftreiben; ein Geburtstagsgeschenk für ihre Enkelin Sonetschka kaufen und abschicken, damit es rechtzeitig ankam; außerdem hatte Sascha sie gebeten... und Grischa brauchte... Und einen Tag, einen ganzen Tag von früh bis abends, mußte sie sich freimachen und mit Kirill auf die Datscha fahren, denn ihr Mann wurde mit den Jahren immer empfindlicher und war schon ein wenig gekränkt, daß sie nicht mit ihm auf die Datscha fuhr und er immer die Stadtbahn nehmen und auf dem Rückweg den schweren Rucksack voller Äpfel allein nach Hause buckeln mußte. Shenja überlegte, knabberte an der Kappe ihres Kugelschreibers und wählte die Telefonnummer ihrer Freundin Alla, die seit langem auf sie einredete, sie solle eine der kaukasischen Flüchtlingsfrauen, die Alla betreute, als Haushaltshilfe engagieren. Alla freute sich und versprach, ihr gleich morgen Kandidatinnen vorbeizuschicken, so viele sie wolle. Sie erzählte sogleich von einer leidgeprüften Frau aus Baku, die seit zehn Jahren durch Rußland zog und nirgends ein Zuhause fand, weil sie Armenierin war, ihr verstorbener Mann aber Aserbaidschaner; sie hieß Alijewa, und die Armenier verweigerten ihr die Unterstützung wegen ihres Namens, die Aserbaidschaner wegen ihrer Herkunft. Shenja wußte seit langem, daß Wohltätigkeit immer von Sonderlingen betrieben wurde. Wer kein Sonderling war, arbeitete in normalen Einrichtungen. Geduldig hörte sie sich die Geschichte dieser Frau an, dann die einer zweiten, einer dritten... Am Ende des zwanzigminütigen Gesprächs - den Hörer ans Ohr geklemmt, hatte Shenja nebenbei den abendlichen Abwasch erledigt - versprach Alla, ihr eine wunderbare Tschetschenin zu schicken, die saubermachen und einkaufen würde und außerdem so gut kochen, wie Shenja es sich nicht träumen lasse. Das klang verlockend. Kaum hatte sie aufgelegt, -118-
klingelte das Telefon. »Schalom!« tönte es freudig und energisch aus dem Hörer. »Hier ist Chawwa!« Chawwa hieß früher Galja Iwanowa, war vor drei Jahren zum Judentum konvertiert und propagierte nun mit Feuereifer die Thora als einzig wahre Lehre - gegenüber jedem, der bereit war, ihr zuzuhören. Anfangs hatte sie sehr gehofft, Shenja bekehren zu können, war aber auf eine Mauer des Unglaubens gestoßen, an der die überschäumenden Wogen ihres frisch erworbenen jüdischen Enthusiasmus zerschellten. Fünf Minuten, nahm Shenja sich vor. »Wie geht's?« fragte Chawwa. Das russische »Wie geht's?« verlangt im Unterschied zum englischen bekanntlich eine ausführliche Antwort. Aber Shenja antwortete englisch: »Gut. Und dir?« »Ach«, seufzte Chawwa. »Kannst du mir vielleicht aushelfen?« »Kann ich. Wie groß ist denn der Notstand?« Shenja lieh ihr hin und wieder Geld und war froh, daß das Gespräch gleich eine praktische Wendung nahm. Seit Galja an den Allerhöchsten glaubte, arbeitete sie nicht mehr, sondern widmete sich gänzlich dem Dienst am Glauben. Mit fast fünfzig noch Hebräisch zu lernen war schließlich mühselig genug. Um ihre spirituelle Entwicklung war es bestens bestellt, um ihre Finanzen dagegen ziemlich schlecht. Shenja verweigerte ihr nie die Hilfe - so hatte sich ihre Beziehung nun mal entwickelt -, fragte allerdings immer: »Wofür?« Auch diesmal. Sie bekam eine ausführliche Antwort. Chawwa brauchte zweiunddreißig Dollar für zwei Bücher zur Heiligen Schrift. »Hmhm«, machte Shenja spöttisch. »Du bekommst das Geld natürlich von mir, Galja. Du mußt es dir nur irgendwie abholen. Ich fahre in einer Woche zur Buchmesse und habe noch eine Menge zu tun. Also entweder, -119-
du kommst früh vor neun zu mir, oder du mußt sehen, wo du mich findest. Meine Telefonnummern hast du ja alle, oder?« Das Gespräch schien glücklich zu enden, ohne den gefährlichen Bereich der Religion zu berühren. Aber Shenja freute sich zu früh. »Shenja«, sagte ihre Gesprächspartnerin streng, »ich habe dich schon so oft gebeten, du sollst mich nicht Galja nennen. Ich bin Chawwa. Weißt du, du mußt verstehen, jeder Name hat einen mystischen Gehalt. Immer wenn du mich mit dem Namen ansprichst, den ich nicht mehr trage, wirfst du mich zurück in meine Vergangenheit, und von der habe ich mich losgesagt. Chawwa, das ist der Name unserer Urmutter, der ersten Frau, und die Wurzel dieses Namens ist verwandt mit dem Wort Chaim, das heißt Leben.« »Schon gut, Chawwa, ich habe verstanden. Entschuldige, das ist einfach die Macht der Gewohnheit.« Sie waren mit demselben Mann verheiratet gewesen - erst Shenja, dann Galja Iwanowa. Shenjas Ältester und Galjas Sohn waren Halbbrüder, trugen denselben Familiennamen und sahen sich sogar ähnlich. Shenja hatte ihren ersten Mann verlassen, Galja hatte ihn fünf Jahre später begraben. Am Sarg standen sie nebeneinander, beide in Schwarz: Shenja, die an allem schuld war, und die völlig unschuldige Galja. Und die beiden Jungen neun und drei Jahre alt. Aber damals war Galja noch nicht Chawwa gewesen, sondern ein ganz normales Mädchen aus der hügeligen, flußreichen Gegend der Mittelrussischen Höhen, russisch-orthodoxen Glaubens, mit einem silbernen Kreuz um den Hals, ruhig wie die weite Landschaft, in der sie ihre Kindheit verbracht hatte, und schön wie die Froschprinzessin, nachdem ihre Froschhaut im Ofen verbrannt war. Kostja hinterließ Galja den dreijährigen Sohn und die kranke Schwiegermutter. Und Shenja. Seit über zwanzig Jahren war Shenja immer für sie da. Shenja liebte und haßte dieses -120-
sonderbare Wesen, die eigenwillige schöne Frau mit den jähen, von Mal zu Mal absurderen Wendungen. Im letzten Jahr von Kostjas kurzem Leben hatte Galja ihn nach der Methode eines russischen Scharlatans behandelt, ohne Antibiotika und Schmerzmittel, nur mit Kräutern und Pulvern aus der Asche heiliger Stätten, die nur dieser verdammte Wundertäter kannte. Kurz vor Kostjas Tod fand sie einen neuen Heiligen - einen tibetischen Kräutermann, der keineswegs Tibeter war, sondern ein gerissener Kosak vom Amur. Danach verfiel Galja den Yogis. In jedes ihrer Abenteuer zog sie auch den Sohn mit hinein, der im Laufe der Jahre immer mehr Widerstand leistete und sich schließlich der spirituellen Suche seiner Mutter ganz verweigerte. Weiter als bis zu den Yogis folgte er ihr nicht. Galja aber wechselte zu ausgefalleneren fernöstlichen Lehren. Jedesmal erzielte sie anfangs große Fortschritte, doch dann tauchte ein neuer Adept einer noch wahreren Lehre auf, und sie ging von den Krishna-Anhängern zu den Buddhisten, machte kurze Abstecher bei der Pfingstbewegung und den Scientologen, bis sie schließlich beim Judentum landete. Shenja entdeckte diesen amüsanten Umstand durch einen Wandkalender, der sparsamerweise das gesamte Jahrzehnt umfaßte. Er war auf prachtvollem großformatigem Karton gedruckt und zeigte Ansichten von Palästina. Diesen Kalender schenkte Galja ihr zum neuen Jahr, das bei den Juden im Herbst begann, und zwar nicht an einem festgelegten Tag, zum Beispiel im September, sondern wie es gerade kam, jedes Jahr anders. Die Ansichten - Sinai, das Tote Meer und die in den letzten Jahren neu angelegten Gärten von Galiläa - waren wunderschön, und Shenja verschenkte den Kalender sofort weiter an Lilja, die ungeachtet ihres wohlerworbenen Christentums eine Jüdin blieb und es nie versäumte, stolz zu betonen - falls jemand das vergaß -, daß die Jungfrau Maria und auch Jesus selbst, ganz zu schweigen von Johannes dem -121-
Täufer und sämtlichen Aposteln, waschechte Juden waren. Im Kontext der orthodoxen Kirche, in die ihr Glauben sie geführt hatte, klang diese Erinnerung politisch inkorrekt und erzürnte manch einen. Nun, über Liljas wunderliche Religiosität wunderte sich Shenja nicht. Galjas letzte Konversion dagegen verblüffte sie, obwohl sie eigentlich seit langem kaum noch zu verblüffen war. Was mochten die Juden von der überalterten Schönheit aus dem Dorf Malaja Pokrowka wollen? An religiöse Uneigennützigkeit glaubte Shenja nicht. Anfangs vermutete sie, ein reicher jüdischer Witwer habe Galja verführt, und sie wartete immer darauf, daß Galja sich verriet und ihre bevorstehende Heirat ankündigte (darin war sie von schlichtem Gemüt - sie heiratete immer gleich), und Shenja überlegte schon, die wievielte unglückliche Ehe das diesmal wäre, die fünfte oder die sechste. Aber nichts dergleichen geschah: Galja besuchte lange diverse Kurse, studierte die Thora, auch das nicht allein, sondern bei Seminaren, und eines Tages, als sie Shenja wieder einmal besuchte, um sich Geld zu leihen, lehnte sie deren Essen und Trinken ab, weil es nicht koscher sei; und erklärte, sie, Galja, sei nicht mehr Galja, sondern Chawwa. Shenja war an diesem Tag so erschöpft, daß sie sich nicht beherrschen konnte und bissig fragte: »Sag mal, Chawwa, aber Geld nehmen kannst du von mir Unkoscheren, ja?« Sie bedauerte ihre Spitze sogleich, doch Galja runzelte die antike, faltenlose Stirn, dachte nach, legte das Geld, das sie gerade in ihr Portemonnaie gesteckt hatte, wieder auf den Tisch und erwiderte mit herzerweichender Ernsthaftigkeit: »Ich weiß nicht. Das muß ich den Lehrer fragen.« Shenja mußte sie anschließend lange überreden, das Geld doch anzunehmen. Sie wußte, daß Galja es wirklich brauchte. Die Söhne spotteten gutmütig über Shenja, besonders der erwachsene Sascha; ihr Mann machte hin und wieder geistreiche Bemerkungen, bezeichnete Shenja als »Timurs -122-
Trupp mit Eigenfinanzierung« oder als »Mutter Teresa von ganz Moskau und Umgebung«; in einem unguten Moment aber erklärte er giftig, Shenjas Hilfe für die Menschheit entspringe dem hochmütigen Gefühl der Überlegenheit der Klugen und Schönen über die Dummen und Häßlichen. Da wurde Shenja überraschend wütend: »Ja! Genau! Was soll ich denn sonst machen mit euch häßlichen Dummköpfen? Auf euch pfeifen?« Nun war Kirill beleidigt. So lebten sie miteinander.
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3 Der letzte Tag vor der Abreise begann mit einem Anruf. Eine Stimme mit kaukasischem Akzent fragte in schleppendem, singendem Tonfall nach Shenja. »Hier ist Violetta, ich komme heute zu Ihnen saubermachen.« Shenja hüstelte verschlafen und überlegte. Sie wollte sagen, daß es ihr heute nicht paßte, weil sie morgen verreise, in zehn Tagen sei sie zurück, da könnten sie etwas ausmachen. Doch dann dachte sie: Meinetwegen! Soll sie ruhig zweimal die Woche kommen, saubermachen und Essen kochen, die Männer verwöhnen. Jedesmal wenn Shenja dienstlich verreiste, empfand sie ein leises Schuldgefühl gegenüber ihrer Familie und ihrem Haushalt. »Gut, kommen Sie her.« »Ich bin bald da, in drei Stunden etwa, ich muß nämlich noch die Kinder fertigmachen.« Shenja sah zur Uhr - es war dreiviertel acht. Um vier mußte sie bei der Lufthansa das Ticket abholen, und davor hatte sie noch ein paar Augiasställe auszumisten. Reinigung, Post und Hausverwaltung schaffte sie gerade bis elf. Punkt elf klingelte es. Shenja öffnete: Vor ihr stand ein Strauß kleiner Chrysanthemen, dahinter lächelte eine dicke Frau in einem mit Applikationen besetzten Mantel und einem rosa Schal mit grobem Lurexfaden. Zu ihrer Rechten ein etwa zehnjähriges Mädchen, zur Linken ein Junge im Vorschulalter. Der Junge trug einen Lkw auf dem Arm, der beinahe so groß war wie er selber, das Mädchen einen Tierkorb, aus dessen halboffener Tür ein riesiger Katzenkopf heraussah. »Die Großen sind in der Schule, und den Kleinen lasse ich keinen Schritt von meiner Seite. Elvirotschka hat Husten, darum geht sie erst mal nicht zur Schule. Sie hat sowieso die -124-
besten Zensuren von allen.« Während Shenja die senfgelben Blumen in Empfang nahm und die neue Situation verarbeitete, zog Violetta sich aus, half dem kleinen Achmet aus der Lederjacke, zog den beiden die Schuhe aus und stellte sie zusammen mit ihren eigenen ordentlich der Größe nach hin, die Spitzen akkurat nebeneinander. Sie streiften gestrickte Pantoffeln über, dann gingen sie alle drei ins Eßzimmer und setzten sich an den Tisch. Der Kater, einen strengen Ausdruck im grauen Gesicht, saß auf dem Schoß des Mädchens. Violetta sollte sich im Laufe der Zeit als ein wahres Goldstück erweisen. Ihre älteste Tochter war mit achtzehn Jahren bei einem Brand während der Bombardierung von Grosny umgekommen. Der kleine Achmet hatte damals im Krankenhaus gelegen - die Familie war im Krankenhausflur unter Beschuß geraten, dabei war das Kind am Arm verwundet worden, der Vater am Bein. Der Kater war durch eine Bombenexplosion ertaubt, seitdem schleppte Elvira ihn auf dem Arm herum. Ein gutes Mädchen, hatte Mitleid mit dem Invaliden. Violetta zog den Reißverschluß ihrer Tasche auf, nahm eine Tüte heraus und breitete geschäftig Papiere und Fotos auf dem Tisch aus. »Das ist mein Diplom, beinahe mit Auszeichnung. Meine Beurteilung von der Arbeitsstelle. Das ist mein Papa, das Foto wurde nach dem Krieg damals gemacht, da war er noch ganz jung. Und hier, mein Ausweis. Die Geburtsurkunden von Achmet, von Elvira, von Iskander und von Rustam. Unser Hochzeitsfoto. Mein Mann war Oberingenieur. Aber den Betrieb gibt es jetzt nicht mehr. Das ist mein älterer Bruder mit seiner Familie. Er hat zwei Mädchen und drei Söhne. Hier. Das ist das letzte Foto von vor dem Krieg, da ist meine Große gerade so alt wie Elvira jetzt, zehneinhalb. Und das sind Artikel aus unserer Republikzeitung: Als mein Mann fünfzig -125-
wurde, vor dem ersten Krieg, hat er eine Ehrenmedaille bekommen.« Der ganze Tisch war bereits übersät mit Fotos und Papieren, und Shenjas Herz pochte dumpf wie ein Zahn nach der Betäubung. »Alla Alexandrowna hat mir erzählt, daß Sie ihre Freundin sind, und da habe ich mich so gefreut. Sie tut so viel für uns, als wären wir Verwandte. Ich bin hier von der Leiter gefallen und hatte eine Gehirnerschütterung, und sie hat mich im Krankenhaus untergebracht, bei guten Ärzten. Aber mir wird noch immer schwindlig.« Shenja sah sich die Fotos an - Bruchstücke eines Lebens, ein unvollständiges Puzzle, das sich nie mehr zu dem alten Bild zusammenfügen würde. »Violetta, wenn Sie eine Gehirnerschütterung haben, dann müßte eigentlich ich bei Ihnen die Fußböden wischen und nicht Sie bei mir.« Violetta lachte über den Scherz - ihre Goldzähne blitzten auf. »Alla Alexandrowna sagt auch, daß es für mich noch zu früh ist, putzen zu gehen. Vorher habe ich ja bei ›Njam-njam‹ gearbeitet, Piroggen verkauft. Kaufen Sie bloß die nie, das ist alles Betrug. Meine Stelle hat jetzt eine Tatarin aus Baku. Und die gibt sie um nichts auf der Welt wieder her. Der Stand ist warm, und bald ist Winter. Die meisten von uns arbeiten auf dem Markt: die Frauen als Verkäuferinnen, die Männer als Packer oder, wer Glück hat, als Fahrer. Ein Bruder von mir ist in Rostow, der andere ist in die Türkei gegangen. Meine Schwester ist in Grosny geblieben, bei den Eltern, dort ist es noch schlimmer als hier. Auch wenn's das Zuhause ist. Ich hätte nie gedacht, daß es mal so kommt, ich bin ja Ingenieurin für Arbeitsschutz, habe in der Verwaltung gearbeitet. Aber saubermachen kann ich gut, meine Wohnung hat immer geblitzt, alles war sauber und schön, wir haben alles gehabt -126-
einen finnischen Kühlschrank, ein Madonnen-Teeservice und achtzehn Teppiche, einer schöner als der andere. Es ging uns so gut! Und jetzt - alle in einem Zimmer, und auch das nur dank Alla Alexandrowna, das Armenkomitee bezahlt die Miete. Sie hat auch Aslan die Stelle bei ihrem Sohn in der Firma verschafft, als Pförtner. Er hinkt doch, da kann er nicht als Packer gehen. Außerdem ist er schon über sechzig.« Sie redete und redete. Die Kinder saßen brav am Tisch, wie angeklebt. Achmet hielt das Lastauto an die Brust gepreßt, auf Elviras Schoß saß der Kater und schlief brav. Shenja überlegte hin und her. Eine große Familie. Wieviel sie Violetta auch zahlen würde, davon ließ sich diese Horde nicht durchfüttern. Sie könnte Violetta als Putzfrau im Verlag unterbringen - aber da bekäme sie maximal zweitausend. Als Haushaltshilfe bei jemandem auf der Datscha? Aber eine so große Familie würde niemand nehmen. »Also«, sagte Shenja. Da klingelte das Telefon. Chawwa freute sich, Shenja zu Hause anzutreffen. »Ich rufe schon die ganze Woche bei dir an, aber du bist nie da. Ich komme zu dir! Jetzt gleich!« »Gut, komm her! Aber jetzt gleich!« sagte Shenja. »Also«, wiederholte sie. Wieder klingelte das Telefon. Diesmal war es Lilja. Chawwa und Lilja kannten sich nicht, meldeten sich aber immer irgendwie zeitgleich bei Shenja. »Shenetschka«, begann Lilja im Erzählton, »ich wollte mich bei dir bedanken. Ich mache vorhin den Kühlschrank auf, und mir ist ganz warm ums Herz geworden: Da stehen deine Gläser, und alles so lecker und mundgerecht für mich zahnlose Alte. Du bist zu mir wie eine Mama.« »Sag lieber, wie eine Großmutter«, brummte Shenja. Lilja lachte schwach, mit halber Kraft. -127-
»Auch gut. Meine Großmutter konnte sowieso besser kochen als meine Mama. Ich wollte mich bei dir bedanken und... dir einen Schutzengel für die Reise wünschen.« Das mit dem Engel sagte sie unsicher, denn sie kannte Shenjas ketzerische Spottlust. Aber Shenja nahm den Engel hin, und Lilja schloß auf echt orthodoxe Art: »Ich werde beten für deine Reise zu Wasser und zu Lande.« »Tu das. Dann packe ich auch den Badeanzug ein. Ich ruf dich später zurück.« Sie legte auf. »Also, Violetta, ich verreise morgen für zehn Tage, trotzdem arbeiten Sie ab heute schon bei mir. Anfangen werden Sie aber erst, wenn ich wiederkomme. Erst einmal«, Shenja kramte auf dem Regal herum; neben der Zuckerdose stand eine Zwiebackdose, die diverse Zettel, Quittungen und Geldscheine enthielt, »nehmen Sie das als Vorschuß.« Sie legte den blaßgrünen Schein auf die schwarzweißen und zeitungsgrauen Papiere auf dem Tisch. »Gelobt sei Allah!« Violetta hob kurz die gefalteten roten Hände. »Die Menschen sind so verschieden. Aber mit uns meint Allah es gut, wenn er uns solche guten Menschen schickt! Ich arbeite es bestimmt ab.« Dann zogen sie ihre Strickpantoffeln aus und die Schuhe wieder an, der Kater schlüpfte artig ins Körbchen, und Shenja empfand Zahnschmerzen im ganzen Körper. Den Koffer hatte sie schon gestern vom Hängeboden geholt. Slips und Kleinkram lagen zu einem Häufchen gestapelt bereit, auch die neue Kosmetiktasche mit allen Utensilien und die alte mit den Medikamenten. Ein dünner Kittel, zwei Pullover. Chawwa kam und kam nicht, um sich die zweiunddreißig Dollar abzuholen, und Shenja war hin- und hergerissen zwischen maßlosem Mitleid mit der rothändigen Tschetschenin, die ihren sozialen Abstieg mit so viel Würde trug, und dem Ärger über Chawwa, der allerdings nahezu -128-
kompensiert wurde durch den Gedanken, daß jede Kommunikation nun einmal die Notwendigkeit einschloß, die Dummheit und Unzuverlässigkeit anderer auszuhalten. Und die Verrücktheit, die in fast jedem Menschen steckte. Wenn du es nicht fertigbringst, ein für allemal zu sagen: »Zum Teufel mit euch allen«, dann mußt du eben dasitzen und warten, bis sie ihren trägen Hintern herbewegt, tröstete sich Shenja. Es ging bereits auf drei, sie mußte ihr Ticket abholen, dann in den Verlag, danach ein Geschenk für eine alte Freundin in Berlin besorgen, und am Abend wollte noch jemand einen Brief oder Dokumente vorbeibringen, die sie nach Frankfurt mitnehmen sollte. Als Chawwa endlich kam, hatte Shenja die Geduld verloren und stand schon angezogen an der Tür. Sie griff schweigend in die Jackentasche nach dem Geld - vor müder Gereiztheit waren ihr die Worte ausgegangen. Chawwa stand in der Tür - im langen schwarzen Mantel, eine schwarze Kappe auf dem kleinen Kopf, und dieses ganze Schwarz stand ihr gut zu Gesicht. Dem schneeweißen Gesicht der einstigen Schönheit. »Nein, verflucht, du bist eine Göttin, Ehrenwort!« knurrte Shenja böse und hingerissen und reichte ihr das Kuvert. »Ich warte seit Stunden auf dich, mir zittern schon die Hände vor Hektik...« Chawwa verstaute das Kuvert umständlich in ihrer Handtasche und knöpfte nun langsam die spiegelblanken schwarzen Knöpfe auf; auch ihre Augen waren spiegelblank, aber strahlendblau. »Danke, daß du gewartet hast. Warum fluchst du, Shenja? Na schön, ich kenne ja deine gute Seele, aber ein anderer könnte denken...« »Hör mal, wieso ziehst du dich aus, siehst du denn nicht, daß ich schon fast weg bin? Ich komme zu spät.« -129-
»Ich muß nur schnell zur Toilette«, erklärte Chawwa und entschwebte majestätisch ins Innere der Wohnung. Unterm schwarzen Mantel trug sie ein schwarzes Kleid, und auch ihre Strümpfe waren schwarz. Dann kam sie von der Toilette und bewegte flüsternd die Lippen. »Nein«, sagte sie wie zu sich selbst, »nein, ich muß es dir sagen. Das ist wirklich sehr wichtig. Setz dich einen Augenblick.« Shenja erstarrte vor Verblüffung. »Sag mal, du hast sie wohl nicht mehr alle, Galja? Ich sage doch, ich komme zu spät!« »Verstehst du, Shenja, heute ist ein großer Feiertag, Jom Kippur. Verstehst du. Der Tag der Versöhnung. Das ist wie die große Fastenzeit, aber auf einen Tag konzentriert. An diesem Tag darf man nicht essen und nicht trinken. Nur beten. Es ist ein Tag Gottes. Ein Tag der Ruhe.« Shenja band ihren rechten Schuh zu. Der Schnürsenkel wollte nicht unter den Metallhaken passen. »Ruhe, ja«, wiederholte Shenja mechanisch. »Zieh dich an, Chawwa, ich bin deinetwegen ohnehin schon eine Stunde zu spät dran.« Chawwa nahm ihren königlichen Mantel von der Garderobe und erstarrte. »Shenetschka! Man darf nicht in solcher Hektik leben wie du. Generell nicht, und heute ganz besonders.« Shenja zog heftig am Schnürsenkel, und er riß. Sie schleuderte das abgerissene dünne Stück Lederband beiseite. Warf den Schuh ab, schlüpfte in die Mokassins. Als sie sich aufrichtete, wurde ihr schwarz vor Augen - vom abrupten Aufstehen oder von der aufkommenden Wut. Chawwa warf sich ihren Mantel über, blickte in den Spiegel -130-
- ihr Gesicht zeigte keine Spur von Hektik, nur Ruhe und Gelassenheit. Shenja schloß die Tür ab, Chawwa drückte den Aufzugknopf. Sie stand da und lächelte geheimnisvoll, wie jemand, der etwas weiß, das niemand sonst weiß. Klackend hielt der Aufzug. Chawwa stieg ein. Shenja rannte die Treppe hinunter, laut mit den Lederabsätzen klappernd. Während Shenja einen schief in den Kasten gesteckten und an der Seite aufgerissenen großen Umschlag aus dem Briefkasten nahm, kam Chawwa die halbe Treppe heruntergeschwebt. Gemeinsam verließen sie das Haus. »Mach's gut!« rief Shenja. »Gehst du nicht zur Metro?« »Nein, mein Auto steht da drüben.« Shenja machte eine unbestimmte Handbewegung. Das Auto stand in der Querstraße, und Shenja fürchtete, Chawwa werde sich an sie heften, und dann würde sie sich noch im Auto eine halbe Stunde lang ihre Moralpredigten anhören müssen. Tatsächlich beschleunigte Chawwa ihre Schritte und folgte Shenja in die der Metro entgegengesetzte Richtung. »Shenetschka, ich sehe, daß du es eilig hast. Aber was ich dir sagen will, ist sehr wichtig: Der Talmud sagt, daß Hektik nichts Gutes bringt.« »Zweifellos.« Shenja nickte. »Aber ich muß jetzt in die andere Richtung.« Sie stieg ins Auto und schlug die Tür zu. Chawwa öffnete die Tür ein Stück und sagte eindringlich und bedeutungsvoll: »Der Talmud sagt, man muß Gott dienen, nicht den Menschen! Gott!« Shenja schaltete die Zündung ein, der Wagen sprang sofort -131-
an - der Gute! -, Shenja gab Gas und hüllte Chawwa in eine Abgaswolke. Chawwa sah ihr mit einem schönen, traurigen Lächeln nach.
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4 Am Abend strich Shenja genüßlich die abgearbeiteten Punkte von ihrer Liste. Sie hatte am Ende alles geschafft. Besonders freute sie sich, daß es mit dem Geschenk für die Berliner Freundin geklappt hatte: Die junge Schneiderin, eine Frau im Rollstuhl, zu der sie noch gefahren war, hatte eine wunderbare Patchworkjacke genäht, und beide Seiten waren zufrieden, sowohl Shenja als auch die Schneiderin, die eine anständige Summe damit verdient hatte. Unerledigt geblieben waren die Labortests, aber die konnte sie nach ihrer Rückkehr noch machen lassen. Der Koffer war gepackt und das Abendessen mit der Familie absolviert - Kirill las vorm Fernseher eine Dissertation und bedachte hin und wieder den Doktoranden oder den Nachrichtensprecher mit einem mißbilligenden Pfeifen. Grischa saß vorm Computer. Shenjas Natur, die keinen Leerlauf duldete, trieb sie an den Herd. Sie hatte zwar alles Nötige eingekauft, aber ihre Männer kochten nicht gern, also machte sie sich daran. Ich kann es ja einfrieren, entschied sie. Alles war diesmal bestens organisiert: die gesamte Verlagsfracht beisammen und verpackt, alle Dokumente fertig. Ihr Assistent - der Junge war toll! - würde ihr den Karton morgen zum Abflug nach Scheremetjewo bringen. Das Essen war noch zu warm zum Einfrieren. Sie könnte ein Bad nehmen. Sie drehte den Wasserhahn auf, und ein kräftiger Strahl prasselte auf den Emailleboden. Grischa klinkte sich aus dem Internet aus, und sofort klingelte das Telefon. Ich muß mich um eine zweite Leitung kümmern, fiel Shenja ein. Der Anruf kam von Lilja. Sie schluchzte. »Liletschka! Was ist passiert?« fragte Shenja besorgt. -133-
»Darf ich mich bei dir ausheulen? Aber dann mußt du das gleich wieder vergessen, ich weiß ja selbst, es ist dumm, aber es kränkt mich trotzdem...« Shenja wußte zwar nicht, was geschehen war, aber wer Lilja gekränkt haben konnte, stand für sie außer Frage. »Na, was haben sie wieder angestellt?« Lilja schniefte. »Alles aufgegessen... Stell dir vor, ich mache den Kühlschrank auf, und deine Gläser sind alle weg. Nur eine große Melone liegt darin, in der Mitte durchgeschnitten. Ich bin zu ihnen ins Zimmer, sie haben Besuch. Junge Männer, der Widerling von Ira und Marinas Neuer, ein Programmierer. Ira kommt raus, fragt, was willst du, und ich sage, wo ist mein Schmorkürbis, und sie darauf - den haben unsere Gäste aufgegessen. Ich frage, wieso habt ihr denn Gäste, und sie weil Feiertag ist. Ich hab mich gewundert und gefragt, was für ein Feiertag, und sie lacht... lacht ganz gemein. Führt mich in mein Zimmer, zeigt mit dem Finger auf den Kalender und sagt: Da, heute ist Feiertag, siehst du? Jom Kippur! Nichts haben sie übriggelassen, vom Kürbis nicht und nicht von der roten Bete. Das tut so weh, verstehst du?« »Schon gut, Lilja! Nimm es ihnen nicht übel, das ist doch dumm. Sie sind noch klein, wenn sie groß sind, werden sie klüger. Du hast sie selber so erzogen, hast sie verwöhnt, das hast du nun davon. Außerdem hast du ja etwas, das dir hilft bete, Liletschka. Das kannst du doch...« Shenjas Schläfen pochten vor Wut. Fast genauso wie heute nachmittag, als Galja-Chawwa ihr Moralpredigten gehalten hatte. Nein, heftiger. »Nicht traurig sein, Lilja! Sag mir lieber: Was soll ich dir aus Deutschland mitbringen?« Sie legte auf. Füllte einen Teil des noch warmen Essens in Plastikbehälter. Packte sie in eine Tasche. Zog sich an und rief -134-
Kirill zu: »Kirjuscha, ich muß noch mal kurz weg! Zu Lilja!« »Shenja! Was soll das - wieso mußt du noch mal weg?« Aber das hörte sie nicht mehr; sie rannte die Treppe hinunter, bemüht, ihre Wut zu zügeln. Ach, zu gern würde sie den beiden jetzt eine runterhauen, eine saftige Ohrfeige mitten in ihre erbärmlichen hübschen Puppengesichter. Irina öffnete ihr. Freute sich. Aus dem Kinderzimmer drang gedämpftes Gekreisch, es war verraucht wie eine Kneipe. »Mama hat gesagt, Sie sind verreist«, sagte Irischa und klapperte mit ihren riesigen Wimpern. »Ich fahre morgen. Ich wollte deiner Mama etwas vorbeibringen. Sie hat wohl nichts mehr da.« »Ira!« rief das Mädchen nach seiner Schwester, und Shenja begriff, daß sie die beiden wieder verwechselt hatte. Eine merkwürdige Art von Ähnlichkeit: Wenn die Schwestern zusammen waren, konnte Shenja sie auseinanderhalten, aber wenn sie nur eine vor sich hatte, wußte sie nie, ob es Irina oder Marina war. Die richtige Irina tauchte auf. Sie war angetrunken und lachte laut, wobei sie leuchtendweiße Zähne entblößte, die von Natur aus so perfekt waren wie künstliche. »Ach, ich lach mich tot! Mama hat gepetzt!« Shenja kochte vor Wut und packte finster ihre warmen Plastikboxen aus. »Was ist denn, Tante Shenja? Das war doch nur ein Scherz! Wir haben von Ihrem Essen nichts genommen! Wir brauchten nur Platz im Kühlschrank für die Melone! Ihre Gläser habe ich aufs Fensterbrett gestellt! Aber Mama ist einfach unausstehlich geworden - sie muß überall rumschnüffeln, in alles ihre Nase stecken, dauernd nachsehen, was bei uns los ist.« Die zweite pflichtete ihr bei: »Wir sind doch erwachsen. Wir haben unser eigenes Leben. Und sie erzieht dauernd an uns -135-
rum.« Liljas Tür ging einen Spalt auf: Sie streckte ihren Kopf raus wie eine Schildkröte aus ihrem Panzer, bereit, sich jeden Augenblick wieder zurückzuziehen. »Oh, Shenetschka! Du bist gekommen! Verzeih mir Idiotin! Die Mädchen feiern. Verzeiht mir, Mädchen! Ich wußte ja nicht, daß Jom Kippur ist.« Shenja stand mit ihrem geschmorten Kürbis da wie eine Vollidiotin. Doch auf einmal fand sie das alles furchtbar komisch. Sie lachte hell wie ein junges Mädchen. »Ach, zum Teufel mit euch allen!« Lilja schlug hastig ein Kreuz - sie fürchtete solche Schmähungen. »Ihr kleinen Dummerchen! Zu Jom Kippur wird streng gefastet, kein Essen, nicht mal ein Schluck Wasser!« erklärte Shenja, als kenne sie diesen Jom Kippur schon ihr Leben lang und hätte nicht heute zum ersten Mal davon gehört. Lilja kam auf sie zu, wobei sie sich an der Wand festhielt, denn den schönen Stock hatte sie neben ihrem Bett stehengelassen. »Shenetschka! Danke, daß du gekommen bist! Nun, Gott sei mit dir!« Kirill schlief schon, als Shenja ins Schlafzimmer schlich. Sie war bester Stimmung. Sie hatte alles geschafft. Die Mädchen waren natürlich Biester, aber es gab schlimmere. Shenja sah auf den Wecker - Viertel vor zwölf. Sie stellte ihn auf halb sechs - ihr Flug ging früh. Da klingelte das Telefon. Es war Chawwa. »Shenetschka, entschuldige, wenn ich dich gekränkt habe. Aber ich muß dir das einfach noch sagen, das ist sehr wichtig. Der Talmud sagt, wenn ein Mensch etwas für andere tut, damit es ihnen gutgeht, ihm selber aber geht es dabei schlecht, dann -136-
ist das falsch. Dem Menschen muß es gutgehen. Du lebst falsch. Dem Menschen muß es gutgehen!« Sie meinte es ernst und von Herzen. Shenja lächelte, sie sah ihr ebenmäßiges Gesicht vor sich, eines der schönsten Frauengesichter, die sie kannte. Und was für eine Figur sie hatte... Diese dumme Gans! »Chawwa! Wie kommst du darauf, daß es mir schlechtgeht? Mir geht es gut! Mir geht es ausgezeichnet! Hör mal, was sagt denn der Talmud darüber, wann du mir das Geld wiedergibst?« Chawwa schwieg. Sie beide kannten sich schon ein ganzes Leben. Zigmal hatte Chawwa sich von ihr Zehner, Fünfundzwanziger und Hunderter geliehen und nicht zurückgezahlt, und nun überlegte sie, welches Geld Shenja meinte. »Welches Geld meinst du?« »Die zweiunddreißig Dollar für die Bücher zur Heiligen Schrift«, antwortete Shenja rasch. »Was denn sonst?« »Ach so.« Chawwa seufzte erleichtert. »Sobald du zurück bist, bekommst du sie wieder.« »Na, das ist ja schön! Gute Nacht!« Shenja legte auf. Kirill rückte zur Wand, um ihr Platz zu machen, streckte verschlafen die Hand aus und murmelte: »Du Ärmste...« Shenja aber lächelte - ihr ging es gut: Wieder war ein Tag der Ruhe vergangen. Der morgige aber versprach anstrengend zu werden.
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5 Der Fahrer Ljoscha, den Shenja wegen seiner unslawischen Pünktlichkeit schätzte, war mit seinem alten Lada rechtzeitig zur Stelle, kam hoch und nahm ihren Koffer. Shenja war aufbruchsbereit, wollte sich aber noch richtig von Kirill verabschieden und ihm letzte Anweisungen erteilen. »Soll ich dich vielleicht zum Flughafen bringen?« fragte Kirill aus purer Höflichkeit. Shenja schüttelte den Kopf. »Na dann, winke-winke, Hals- und Beinbruch, gute Reise, freie Fahrt.« Er küßte Shenja flüchtig auf die Braue, und sie registrierte seinen männlichen Geruch: nicht nach Eau de Cologne, sondern nach Natur, nach trockenem Gras und Sägespänen. Ein sauberer, schöner Geruch. »Benehmt euch anständig.« Shenja drückte einen Schmatz auf sein stachliges Kinn. »Grischa will ich nicht wecken, laß ihn weiterschlafen.« Kirill brachte sie zum Aufzug und hielt mit einer Hand seinen Bademantel zu, dessen Gürtel irgendwie abhanden gekommen war. Sie fuhren durch das leere morgendliche Moskau: Ein früher Flug hatte den Vorteil, daß es auf den Straßen noch keine Staus gab. Der Asphalt war feucht vom Tau. Ja, in der Stadt vergessen wir, daß es Dinge gibt wie Tau, kühlen Morgenwind und eine solche Stille. Shenja freute sich über ihre Erkenntnis, bedauerte sogar, daß diese Dinge ihr gewöhnlich entgingen, und dachte den Gedanken entschlossen weiter. Kirill hat recht, wir sollten ins Grüne ziehen. Wenn ich nur wüßte, wie. Kein neurussisches Haus, das ist klar, soviel Geld haben wir ohnehin nicht. Dagegen eine alte Datscha mit viel Charme, aber ohne Kanalisation - nein, das muß auch nicht -138-
sein. Im Grünen gibt es Tau, allmähliche Morgendämmerung... Sie hatten tatsächlich freie Fahrt - die Ampeln vor ihnen schalteten, sobald sie sich näherten, auf Grün. Shenja sah auf die Uhr - sie hatte reichlich Zeit. Wieder lächelte sie: Alles lief nach Plan, alles war erledigt, Punkt für Punkt abgehakt, und bald würde sie die Uhr um zwei Stunden zurückstellen und zehn Tage in einer anderen, ausländischen Zeit leben, wo alles langsamer lief und sie zudem noch über zwei gestohlene Extrastunden verfügte. Und genau da, beim fließenden Übergang ihrer Gedanken vom Leben im Grünen zur ausländischen Freiheit, geschah der Zusammenstoß. Wie in einem Actionfilm kam aus einer Seitenstraße ein roter Audi gerast, der offenbar die Leningradskaja überqueren wollte, und bohrte sich in die rechte Seite des Ladas. Doch das sah Shenja, die sich halb dem Fahrer zugewandt hatte, nicht mehr. Beide Wagen wurden durch den Aufprall in die Luft geschleudert und flogen in verschiedene Richtungen. Shenja sah weder das zerknautschte rote Auto noch die Eisentrümmer, aus denen der Körper des pedantischen, immer pünktlichen Ljoscha geborgen wurde, und auch den Krankenwagen, der sie in die Unfallklinik brachte, sah sie nicht. Drei Tage war sie ohne Bewußtsein. Acht Stunden lang wurde sie operiert, wurden ihre zertrümmerten Beckenknochen wieder zusammengenagelt, zweimal blieb ihr Herz stehen, und beide Male brachte der dürre Anästhesist Kowarski es wieder in Gang. Hinterher hätte Shenja ihn gern gefragt: Warum haben Sie das getan, wenn Sie doch genau wußten, daß der Mensch, den Sie wieder zum Leben erwecken, nie wieder aufstehen, daß er ein klägliches Dasein fristen würde. Er hätte es ihr vermutlich nicht beantworten können. Als sie nach dreitägigem Koma wieder zu sich kam, konnte sie lange nicht begreifen, was geschehen war. Sie wußte nicht einmal genau, wem das eigentlich passiert war. Doch, doch, sie -139-
wußte ihren Namen, ihre Adresse - alle diese Fragen wurden ihr gestellt, sobald sie die Augen geöffnet hatte. Aber sie fühlte ihren Körper nicht: nicht nur keinen Schmerz, sie fühlte nicht einmal ihre Arme und Beine. Darum fragte sie, nachdem sie brav alle obligatorischen Fragen der Ärzte beantwortet hatte, ob sie noch lebe. Die Antwort hörte sie allerdings nicht mehr, weil sie wieder wegdämmerte. Doch nun hatte sie bereits vage Träume, sinnlose Bilder, die wie das Zappen durch Fernsehkanäle ein Gefühl der Leere hinterließen. Nach zehn Tagen wurde sie von der Intensivstation in ein normales Krankenzimmer verlegt. Dort wurde sie schon von Kirill erwartet, obwohl gerade keine Besuchszeit war. Er wußte, daß es sehr schlecht stand, und war darauf gefaßt, aber es war schlimmer, als er sich hatte vorstellen können. Er erkannte Shenja nicht. Kahlrasiert, ein Pflaster auf der Lippe, das Gesicht mager und dunkel, erinnerte sie in nichts an die frühere Shenja. Eine leichte Kopfverletzung und eine Gehirnerschütterung waren nur eine unwesentliche Fußnote zur langen Liste ihrer Verletzungen einschließlich Wirbelsäulentrauma. Man hatte Kirill bereits gesagt, daß seine Frau gelähmt war. Aber nicht, daß Shenja ein anderer Mensch sein würde: mürrisch, schweigsam, fast abwesend. Sie beantwortete jede Frage mit einem Nicken, stellte aber selbst keine einzige. Nicht nach den Verlagsangelegenheiten, nicht nach dem ältesten Sohn Sascha, der seit einem Jahr im Ausland lebte, nicht nach ihren Freundinnen. Kirill versuchte ihr zu erzählen, wer angerufen hatte und was außerhalb des Krankenhauses vor sich ging. Doch sie interessierte sich nicht einmal dafür, wie Grischa und er ohne sie zurechtkamen, wer einkaufte und Essen kochte. Und das erschütterte Kirill. Sie waren seit über zwanzig Jahren verheiratet. Ihre Ehe war kompliziert - zweimal hatten sie sich getrennt, Shenja war sogar kurzzeitig mit einem anderen Mann verheiratet, einem Kerl aus der sibirischen Provinz, der sich als Jäger ausgegeben, -140-
dann aber als höherer KGB-Mann entpuppt hatte. Kirill, der an Shenjas Abenteuer schwer zu knabbern hatte, war zu seiner Doktorandin gezogen, doch auch das war schiefgegangen. Seit mittlerweile zehn Jahren lebten sie wieder zusammen, nun unwiderruflich und endgültig; nicht weil sie es miteinander so leicht hatten, sondern aus ganz anderen Gründen: Jeder kannte den anderen wie sich selbst - so gut man sich selbst eben kennen kann -, bis in die kleinsten Gedankengänge; so gut, daß Worte eigentlich überflüssig waren und eher aus Gewohnheit ausgesprochen wurden. Jeder vertraute dem anderen mehr als sich selbst. Sie kannten ihre Schwächen in- und auswendig und hatten sie sogar liebgewonnen. Die ehrgeizige Shenja, der starrsinnige Kirill. Die erfolgreiche Shenja, der alles zufiel, und der erfolglose Kirill, der auch dann noch für seine Sache kämpfte, wenn er sie längst abgeschrieben hatte. Nun saß Kirill neben seiner Frau und versuchte mit seinem ganzen angeborenen Starrsinn zu ergründen, was mit ihr vorging. Er war Wissenschaftler, Kristallograph, und betrachtete die Welt unter einem ganz spezifischen Blickwinkel. Er hatte eine eigene Strukturologie entwickelt, die seiner Überzeugung nach grundlegende, wenn nicht gar einzige Wissenschaft der heutigen Welt, aus der sich alles andere ergab - die Mathematik, die Musik, sämtliche organischen und anorganischen Gebilde. Selbst das menschliche Denken, so seine Überzeugung, war kristallinisch strukturiert. Geahnt hatte er das bereits in der neunten Klasse, doch erst zwanzig Jahre später, als er bereits promoviert hatte und im Ruf stand, entweder ein Genie, ein Sonderling oder vielleicht einfach nur verrückt zu sein, gelang ihm eine echte Entdeckung: Er fand mehrere Typen von Krankheiten kristalliner Strukturen. Er beschrieb und klassifizierte sie. Lange und zielstrebig betrachtete er Spektrogramme, Beugungsdiagramme und andere seltsame Gebilde, untersuchte einzelne Vorgänge in kristallinen anisotropen Stoffen, leitete daraus Formeln ab und -141-
bemühte seine eigenen mentalen Strukturen, bis er zu der Überzeugung gelangte, das Phänomen der Alterung von Materie erfaßt zu haben: Diese Alterung werde durch lokale Erkrankungen einzelner Kristallstrukturen bewirkt. Und man könne diese Krankheiten bekämpfen, wenn man Vernetzungsmöglichkeiten fand, die die beschädigten, zur Destruktion neigenden Areale fixierten. In dieser Vorstellungswelt lebte Kirill, und er betrachtete Shenja als einen solchen kranken Kristall. Die zerstörten Strukturen, das waren nicht die groben Brüche der Hüft- und Beckenknochen und nicht das Wirbelsäulentrauma, sondern Shenjas Persönlichkeit, sie war beschädigt, und zwar auf molekularer Ebene. Er blickte in ihr erstarrtes Gesicht, das fast ohne jede Mimik war, hörte ihr einsilbiges ja - nein, bemühte sich, in ihr Inneres einzudringen, drang ein und war entsetzt über den totalen Verfall, den er dort entdeckte: Die tausend freien Valenzen, die sie früher nach außen gerichtet hatte, waren abgefallen wie die Nadeln einer Lärche, und ihre permanente Energie war versiegt. Noch bevor Shenja selbst es sagte, wußte er, daß sie nur noch einen Wunsch hatte: zu sterben. Und er wußte, daß sie, die immer erreichte, was sie sich vorgenommen hatte, nun einen Weg suchen würde, um es zu tun. Ein solches Leben brauchte sie nicht. Dabei ging es nicht einmal um die Schmerzen, die durch Spritzen und Infusionen gedämpft wurden, nicht um den Gipskokon, der den nun verhaßten Körper einzwängte, nicht um die Katheter und Klistiere, um nichts im einzelnen. Das war kein Leben, das war eine bitterböse Karikatur, ein Zerrspiegel, der alles Gute, Einfache, Natürliche und Normale in höhnische Häßlichkeit verkehrte. Das Essen, notwendig und angenehm im Leben, stand nun dem erwünschten Tod im Wege; an der menschlichen Kommunikation, auf die Shenja früher so begierig und mit der sie so großzügig gewesen war, hatte sie die Lust verloren, denn geben konnte sie nun nichts mehr und -142-
nehmen hielt sie für undenkbar - also wandte sie sich ab und schloß die Augen, wenn sie Besuch bekam. Nein, nicht. Bitte nicht. Nur ein einziges Mal lächelte Shenja - als Sascha aus Afrika kam. Er benahm sich ganz unmännlich: kniete sich vors Bett, preßte die Stirn gegen die Matratze und weinte. Da weinte auch Shenja zum ersten Mal. Ein Monat verging, dann ein zweiter. Sie hing noch immer am Tropf, aß kaum, trank nur Mineralwasser und magerte immer mehr ab. Und sprach fast nicht. Kirill, der alles andere stehen und liegen ließ, saß bei ihr, hielt ihre Hand und dachte nach. Ein rettender Einfall kam ihm nicht, aber er fand einen Unfallchirurgen, den alten Aserbaidschaner Alijew, der auch seine eigenen Theorien vertrat, Shenja lange untersuchte, noch länger die zahlreichen Röntgenaufnahmen betrachtete, die sich mittlerweile angesammelt hatten, und schließlich vorschlug, etwas später, wenn die mit Metallschrauben zusammengefügten Knochen wieder verheilt wären, eine kleine Operation, oder nein, eine Art Revision vorzunehmen, denn er vermute irgendwo ein Hämatom, an dem man etwas machen könne. Nach drei Monaten bekam Shenja ein Korsett verpaßt und wurde entlassen. Laufen konnte sie nicht. In einem Bein regte sich schwaches Leben, das andere spürte sie nicht. Aber beide sahen furchtbar aus: bläulichweiß, mager, die Haut trocken und schuppig. Ein Rollstuhl wurde geliefert. Darin saß Shenja nun. Daß sie saß und nicht lag, war schon ein Fortschritt. Und dann war da der Balkon, an Grischas Zimmer. Aber er war für den Winter dichtgemacht. Mindestens drei Monate mußten noch vergehen, bis Shenja im Rollstuhl auf den Balkon gefahren würde, und bis dahin mußte sie Kraft sammeln, um den verhaßten Körper, dieses schlaffe Stück Aas, aus dem Rollstuhl zu hieven und über die Brüstung zu werfen. -143-
Kirill wußte alles, sogar das mit dem Balkon. Und Shenja ahnte, daß er es wußte. Aber sie schwiegen beide. Kirill redete zwar mit ihr, doch sie hörte ihn nicht oder tat, als höre sie ihn nicht. Nur hin und wieder sagte sie ja oder nein. Zweimal in der Woche kam die Tschetschenin Violetta und putzte die Wohnung, ganz leise, ohne mit dem Eimer zu klappern, mit Bürsten oder Lappen laut herumzufuhrwerken. Meist brachte sie einen großen, im Miniofen gebackenen Kuchen mit. In Shenjas Zimmer ließ Kirill sie nicht - Shenja wollte niemanden sehen. Zweimal in der Woche fuhr Kirill in die Uni, um Vorlesungen zu halten, einmal ins Institut. Seine Doktoranden kamen zu ihm nach Hause und saßen rauchend in seinem Zimmer. Die ganze übrige Zeit verbrachte er bei seiner Frau. Er wusch sie morgens, frühstückte mit ihr, aß mit ihr Mittag, abends hob er sie aus dem Sessel ins Bett und legte sich neben sie. Er schlief nicht mehr im Arbeitszimmer, wie die ganzen letzten Jahre. Ab und zu kam Grischa herein, manchmal zeigte er Shenja seine Blätter, die mit winzigen Punkten und Kommas übersät waren - seine Bilder, mit denen er lebte. Er war ein besonderer Junge - diese eigenwillig über das Blatt verstreuten chinesischen Tuschepunkte waren alles, was ihn interessierte. Doch auch das berührte Shenja nun nicht mehr. Ans Telefon ging sie nicht. Wieder zu Hause, sagte sie entschieden nein - sie wollte mit niemandem sprechen, niemanden sehen. Mit der Zeit meldete sich auch niemand mehr, nur Lilja Aptekman rief jeden Abend an, aber sie bat schon nicht mehr, Shenja ans Telefon zu holen, ließ ihr nur jeden Tag etwas ausrichten: daß heute schönes Wetter sei oder ein kirchlicher Feiertag, daß sie Besuch gehabt und der eine prächtige Torte mitgebracht habe, die fast so gut gewesen sei wie früher. Kirill, der Lilja noch nie gesehen hatte, gewöhnte sich an diese Anrufe und wartete immer darauf, daß sie sich -144-
mal wiederholen würde, doch sie dachte sich jeden Tag etwas Neues aus. Eines Tages Ende Februar erklärte Lilja in klagendem Ton, sie habe heute Geburtstag und möchte so gern, daß Shenja ihr gratuliere. Shenja nahm den Hörer und sagte ausdruckslos: »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.« Dann vernahm sie im Hörer heftiges Schniefen, bitterliches Weinen und dazwischen Liljas Stimme: »Shenetschka! Warum läßt du mich im Stich? Warum willst du nicht mit mir reden? Du fehlst mir so. Red doch wenigstens ein bißchen mit mir.« Shenja wunderte sich flüchtig: Lilja fragte gar nicht, wie es ihr gehe, und das war sogar irgendwie originell. »Ich rufe dich an, Lilja. Ein andermal.«
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6 Shenja rief Lilja weder am nächsten noch am übernächsten Tag an. Lilja wartete zwei Tage, dann rief sie selbst wieder an und bat Kirill, Shenja den Hörer zu geben. Er fragte seine Frau, ob sie mit Lilja sprechen wolle. Wortlos nahm Shenja den Hörer. »Shenetschka, bei mir ist so viel passiert. Darf ich es dir erzählen, ja? Niemandem außer dir kann ich das erzählen. Weißt du, es ist so furchtbar, das kannst du dir nicht vorstellen...« Und Lilja hob an zu einem bitteren Bericht über ihre Töchter, die etwas Schreckliches getan hatten, etwas ganz... Wie Shenja erfuhr, war das eine der beiden Äffchen, Irina, schwanger, und das andere hatte eine Affäre angefangen mit dem widerlichen Programmierer, von dem Irina schwanger war, und nun herrschte zu Hause die reinste Hölle, denn die Mädchen prügelten sich beinahe. Das heißt, offen gestanden prügelten sie sich wirklich. Was sollte nun bloß werden, einfach unvorstellbar; obwohl, schlimmer konnte es eigentlich nicht mehr kommen. »Lilja, ich kann dich nur bedauern.« Shenja seufzte. Überlegte eine Weile und setzte hinzu: »Nein, wenn ich ehrlich bin, kann ich dich nicht einmal bedauern. Ich habe nicht die Kraft dazu...« »Was sagst du?« kreischte Lilja. »Bist du verrückt? Du, die Allerklügste, die Allerbeste, sagst mir so etwas? Na schön, du mußt mich nicht bedauern, ich habe das alles verdient. Aber gib mir wenigstens einen Rat: Was soll ich tun?« »Ich weiß nicht, Liletschka. Ich weiß nichts. Ich bin gar nicht mehr richtig da.« Shenja lächelte in den Hörer, doch der konnte das Lächeln nicht übermitteln, und am anderen Ende weinte und jammerte Lilja: »Wenn du nicht mehr da bist, dann ist also niemand mehr da? Das heißt also, du hast mir was -146-
vorgemacht, ja?« »Liletschka, was habe ich dir denn vorgemacht?« fragte Shenja erstaunt. »Na, daß ich mir Mühe geben muß, daß ich nicht den Mut verlieren darf und alles so was. Dir ging es gut, und da hast du so geredet, als dein Leben in Ordnung war. Aber nun, wo es dir schlechtgeht, da bist du genauso wie alle. Na los, antworte mir. Bitte«, flehte Lilja eindringlich, doch Shenja schwieg. »Das war also nur Schwindel, als du gesagt hast, ich muß wieder aufstehen, muß meinen Arm trainieren, alles neu lernen? Das hast du nur aus Spaß gesagt, ja? Dabei hab ich mich vielleicht nur deshalb so angestrengt, damit du mich lobst!« Shenja war wieder zu sich gekommen. »Lilja, mach bitte nicht so ein Theater. Ich bin einfach nicht mehr da.« »Doch!« schrie Lilja mit ihrer ganzen gedämpften Kraft. »Du bist da! Du bist da! Und wenn nicht, dann bist du eine Lügnerin und Verräterin! Shenetschka, nun sag doch was, irgend etwas.« Sie weinten beide - die eine vor Wut und Kummer, die andere vor Kraftlosigkeit. An der Tür stand Kirill und machte sich Vorwürfe, daß er Shenja den Hörer gegeben hatte, sie hatte doch gesagt, daß sie mit niemandem reden wolle. Und nun weinte sie. Doch plötzlich durchfuhr es ihn: Vielleicht war es ja gut, daß sie weinte? Shenja legte den Hörer weg. Auf ihre Knie. Dann stellte sie eine Frage, zum ersten Mal, seit sie nach der Operation wieder zu Hause war: »Sag mal, Kirill, haben wir Geld?« Diese Frage verblüffte Kirill. Er setzte sich neben ihrem Rollstuhl aufs Bett. »Wir haben Geld, Shenja. Mehr als genug. Dein -147-
Stellvertreter Igor bringt jeden Ersten was vorbei. Er wollte dich die ganze Zeit besuchen, mit dir reden. Aber du... Jedenfalls, die Geschichte ist mir ein Rätsel: Er sagt, solange er den Verlag über Wasser halten kann, läßt er dich nicht ohne Geld sitzen. Was dann wird, müsse man sehen... Und ich verdiene ja auch noch ein bißchen.« Er lächelte spöttisch, denn sein Gehalt entsprach der allenfalls symbolischen Wertschätzung des Staates für Wissenschaftler, die sich mit Grundlagenforschung befaßten. »Sieh mal an.« Shenja schüttelte den Kopf. »Ist ja interessant.« Das war ihr erstes Gespräch seit fünf Monaten. Über Geld. »Sieht so aus, als sei dein Igor ein anständiger Mensch«, vermutete Kirill scharfsinnig. »Vielleicht. Aber das ist eigentlich ein seltenes Phänomen. Er ist noch sehr jung, kaum anzunehmen, daß er den Begriff Anstand überhaupt kennt.« »Vielleicht kommt er aus einer guten Familie?« »Nicht unbedingt«, erwiderte Shenja. Dann dachte sie nach. Liljas Anruf und Igors erstaunliches Verhalten hinderten sie, wieder zurückzufallen in den Zustand eines Fisches unterm Eis, der in seinem erstarrten Körper nur einen einzigen Wunsch wachhält: bis zum Frühjahr überleben und dann mit einem Satz... mit einem kräftigen Satz runter vom sechsten Stock, und das alles, mitsamt den Pampers - delete, delete, delete. Kirill aber, schon an der Tür, feierte das Ereignis und machte sich seine eigenen Gedanken: über das arme Kristallgitter, das seine Stabilität eingebüßt hatte, darüber, daß die Struktur jedes realen Kristalls vom idealen Schema abwich, über das Geheimnis des Wachstums von Kristallen, die schichtweise Anlagerung neuer Atome, die sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit in das Kristallgitter einfügten, über tafelige, -148-
säulige und nadelförmige Triebe, die einen Kristall wachsen ließen. »Es wäre ganz gut, Lilja ein bißchen unter die Arme zu greifen. Geht das?« fragte Shenja nach einer langen Pause, als Kirill schon tief versunken war in seine kristallographischen Gedanken. »Sag, wieviel, und Grischa bringt es ihr«, erwiderte Kirill. »Einen Hunderter, geht das?« Kirill nickte. »Locker.« Wie komisch er das sagt. Grischa redet so. Das Wort hat er von Grischa übernommen, dachte Shenja. Kirill war einmal heftig in sie verliebt gewesen, hatte sie lange geliebt, sich ihr verwandt gefühlt, war dann ihr gegenüber gleichgültig geworden, hatte sich von ihr entfernt, sich an sie gewöhnt und schließlich festgestellt, daß sie beide zu einer untrennbaren Struktur verschmolzen waren wie zwei sich gegenseitig durchdringende Kristalle, und nun, da sie sterben wollte, wehrte er sich mit seinem ganzen Starrsinn dagegen, und dank dieser Eselssturheit lernte er gewissenhaft alles, was er früher verachtet hatte: Er schlug ein Kochbuch auf und las nach, wie man Borschtsch und Buchweizengrütze kocht, Fleisch brät und Kompott zubereitet, dann holte er die Gebrauchsanleitung der Waschmaschine hervor und lernte, wie das Gerät funktionierte, wo die Wäsche eingefüllt wurde und wo das Waschpulver; nur mit dem Einkaufen kam er nicht zu Rande, denn dafür gab es kein Lehrbuch. Aber das übernahm Grischa, und auch er bewältigte das: Er brachte im Rucksack angeschleppt, was gekocht werden sollte, und alle beide waren ein wenig stolz auf ihre Fähigkeiten und ihren Mumm und ein wenig traurig, daß sie diese Dinge früher nie getan hatten, als Shenja noch, fröhlich und ein bißchen wütend, wie eine Besengte herumrannte, scherzte, schimpfte und ihre Kippen in den verschiedenfarbigen Aschenbechern ausdrückte, die -149-
überall herumstanden. Nun standen in allen Ecken saubere Aschenbecher, aber sie rauchte nicht mehr. Und hetzte nicht mehr umher. Statt dessen kroch Violetta mit gerecktem Hintern durch die Wohnung und wischte mit flinkem Lappen in allen Ritzen. Sie genierte sich, für ihre Arbeit Geld zu nehmen, Kirill mußte es ihr jedesmal beinahe mit Gewalt zustecken. Für alles war nun Kirill verantwortlich: dafür, daß Violetta das Geld annahm, dafür, ihr auch die Lebensmittel zu bezahlen, aus denen sie ihre üppigen Bauernkuchen buk, und dafür, daß Achmet ein Geburtstagsgeschenk bekam. Auch für alles andere - er hatte sogar gelernt, die Einzahlscheine für die Stromabrechnung auszufüllen. Daß Shenja, die sich vom Leben abgewandt zu haben schien, das nicht bemerkte, enttäuschte ihn kein bißchen, denn er erledigte alle diese für ihn neuen Dinge nicht um ihres Dankes willen, sondern aus dem vagen Gefühl heraus, daß Shenja, solange sein Starrsinn anhielt, weiterleben würde. Und wenn sie weiterlebte, dann ließe sich dieser verfluchte Schaden vielleicht reparieren. Damit meinte er weniger die beschädigte Wirbelsäule, sondern vielmehr die Struktur. Die Struktur, diesen kaputten Kristall. Das Wort »Seele« war seinem Sprachgebrauch ebenso fremd wie »prolongieren« oder »cash«. Kirill saß noch immer unbequem zusammengekrümmt auf dem Bett. Shenja entdeckte an seinem Hals hervorgetretene Adern und schlaffe Haut unterm Kinn. Er hatte abgenommen, das war's. Und war gealtert. Der Arme - wie er das alles schaffte. Mein Gott, ganz allein! Das konnte doch nicht sein. Das war nicht mehr der alte Kirill. Ihm war doch von Grischas Windeln übel geworden! Lilja telefonierte jetzt jeden Tag mit Shenja, erzählte ihr von allen Wendungen ihres komplizierten Familienlebens und bedankte sich immer wieder für die Unterstützung. Das dauerte zwei Wochen, bis Shenja begriff, daß sich Lilja absichtlich nicht nach ihrem Befinden erkundigte, daß das kein dummer -150-
Egoismus war, sondern Strategie. Sie dachte nach. Obwohl ihr das Denken schwerfiel. Sie hatte sich an die rettende geistige Erstarrung gewöhnt, dank deren sie sich gänzlich ausklammern konnte, um nicht mehr unter ihrer demütigenden Bewegungslosigkeit und dem Haß auf ihren halbtoten Körper leiden zu müssen. Also - worin bestand diese Strategie? Warum fragte die mitfühlende Lilja nie: Und wie geht es dir? Mit deinen Pampers und deinen gelähmten Beinen? Irgendwie schien das wichtig zu sein. Ich werde sie fragen, beschloß Shenja im Einschlafen.
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7 Am nächsten Tag war Freitag, der einzige Tag, an dem Kirill schon um neun eine Vorlesung halten mußte. Freitags weckte er Shenja immer früh, um halb sieben. Er trug sie wie gewohnt ins Bad. Anders als die meisten bettlägerigen Kranken, die dick werden, nahm Shenja ab. Doch trotz ihres geringen Gewichts war es für Kirill schwierig, sie anzuheben; das Tragen dagegen war kein Problem. Er war stark, er stammte aus einer Bauernfamilie und hatte schon als Kind Kartoffelsäcke geschleppt. Natürlich hatte die jugendliche Kraft bereits nachgelassen. Aber sie war ohnehin weniger vonnöten als vielmehr eine gewisse Übung. Er setzte Shenja zuerst auf die Toilette, dann in die Wanne, und während sie darin saß, rasierte er sich, um keine Zeit zu verlieren. Dann schob er den Rollstuhl ins Bad, legte ein großes Badelaken darauf - alles wohldurchdacht und gut organisiert. Shenja trocknete sich allein ab. Dann half er ihr, ein Hemd anzuziehen, trug sie ins Bett, cremte ihr Rücken und Leistengegend ein, sehr aufmerksam - sie hatte keine wunden Stellen, darauf achtete er. Er klebte die Pampers zu. Dann frühstückten sie zusammen - Shenja trank Tee und aß zwei Löffel Haferbrei. Er räumte das Geschirr ab. Shenja bat ihn, ihr das Telefon zu bringen. Er brachte es ihr und verließ das Haus - bis zum Mittag. Um elf rief Shenja bei Lilja an. Sie mußte in ihrem Gedächtnis lange nach der Telefonnummer suchen. Wie viele Dinge ihr in dieser Zeit entfallen waren! Früher hatte sie alle Telefonnummern wie gedruckt im Kopf gehabt. Lilja nahm sofort ab und freute sich. »Shenetschka! Zum ersten Mal in der ganzen Zeit rufst du mich selbst an! Ich freue mich ja so!« Ihre Stimme klang hell und glücklich. -152-
»Lilja, sag mal, warum hast du mich nie gefragt, na ja - wie ich... hier liege...« »Ich muß dich besuchen, Shenja. Dir alles erklären. Erlaub es mir, und ich komme...« »Wie willst du denn herkommen? Auf einem Besen geflogen, oder wie?« »Shenja, ich kann schon ohne Stock laufen. Nur zu Hause natürlich. Ich gehe jetzt sogar allein raus. Mit dem Bus fahre ich noch nicht. Ich würde ein Taxi nehmen. Ich muß dir etwas sagen. Aber nicht am Telefon. Am Telefon kann ich das nicht.« »Komm her«, sagte Shenja. Und erschrak. Erschrak so sehr, daß sie Herzklopfen bekam. »Aber vielleicht lieber nicht heute«, versuchte sie sich abzuschirmen. »Kirill ist jetzt nicht zu Hause, wer soll dir die Tür aufmachen?« »Und Grischa? Kann Grischa mir nicht aufmachen?« rief Lilja in den Hörer, und Shenja wußte, daß sie auf jeden Fall kommen würde, ob mit dem Taxi, zu Fuß oder auf dem Bauch gekrochen. »Er schläft, dein Grischa. Lilja, komm doch morgen, ja?« »Kommt gar nicht in Frage, ich zieh mir nur die Hose an und bin gleich da...« Zwei Stunden später war sie da. Grischa öffnete ihr. Sie raschelte lange im Flur herum. Schließlich kam sie herein. Dick und riesig. Vorm Bauch hielt sie in der intakten Hand einen Blumenstrauß - aus Holland, in rosa Zellophan verpackt, wie zu einer spießigen Hochzeit. Mit der Linken stützte sie ihn ab. »Bloß kein Gejammer, bloß kein Gejammer«, bat Shenja. »Ich denke ja gar nicht daran«, erwiderte Lilja, die zitternden Lippen aufeinandergepreßt. Und sank umgehend auf die Knie, preßte den Kopf aufs Bett, und ihre Schultern bebten. Ich dumme Gans, ich dumme Gans, warum habe ich ihr -153-
erlaubt herzukommen, dachte Shenja. Lilja hörte auf, das Bett zu erschüttern, hob das nasse Gesicht aus dem zerdrückten Blumenstrauß und sagte entschlossen: »Entschuldige, Shenja. Auf dieses Gespräch habe ich mich ein halbes Jahr vorbereitet. Das war wie eine fixe Idee: Ich habe im Geist ständig mit dir geredet. Also, hör mir zu. Dein Unglück ist nicht einfach so passiert. Ich bin daran schuld.« »Soso.« Shenja lachte spöttisch. »Na, dann erzähl mal.« »Das ist mein Ernst. Ich habe dich mein Leben lang beneidet, Shenja. Natürlich habe ich dich sehr geliebt, aber noch heftiger habe ich dich beneidet. Weißt du, was für eine Energie das ist, der Neid? Wenn man jemanden so heftig beneidet, dann geht etwas kaputt.« Sie bewegte die kranke Linke, hob sie in Schulterhöhe. »Und dann hatte ich einen Traum. Zweimal. Das erste Mal vor dem fünfzehnten Oktober, das zweite Mal einen Monat danach.« Was für ein fünfzehnter Oktober? Ach ja, natürlich. Das Ticket nach Frankfurt war für den fünfzehnten Oktober gewesen. »Also, stell dir vor, ich gehe eine Straße lang. Irgendeine Straße, nichts Besonderes, grau, mit Büschen am Rand. Ich trage einen unheimlich schweren Sack. Er ist eigentlich gar nicht so groß, aber er drückt mich förmlich nieder, ich halte es kaum aus. Ich will ihn absetzen, aber das geht nicht, mit einer Hand kriege ich ihn nicht runter. Neben mir laufen Leute, alle sind mit irgendwas beladen. Ich bitte um Hilfe, aber sie sehen mich scheinbar gar nicht. Als wäre ich durchsichtig, Ehrenwort. Und auf einmal sehe ich - da bist du. Ohne Gepäck, in einem blauen Kleid und Stöckelschuhen, deinen schicken blauen. Du siehst mich, kommst sofort angerannt, sagst etwas zu mir, was, weiß ich nicht mehr, jedenfalls etwas Tröstendes. Und noch ehe ich dich darum bitten kann, nimmst du mir -154-
mühelos den Sack ab und wirfst ihn dir auf die Schulter, als wäre nichts weiter dabei. Als wäre er in deinen Händen gar nicht schwer. Und ich denke mir - warum ist das so? Für mich war er wie Blei, für dich dagegen ist er scheinbar ganz leicht. Das war der ganze Traum. Anfangs habe ich ihn nicht verstanden. Dann ist das mit dir passiert. Na, ich will dir nicht erzählen, wie das uns alle getroffen hat - mich und auch die Mädchen. Ja. Sie mögen dich sehr, Shenja. Und mein Friedman übrigens auch. Er will jetzt wieder zurück zu uns, aber das erzähle ich dir später. Ja, also... Du warst schon wieder zu dir gekommen nach der Operation. Ich kenne in der Unfallklinik eine Ärztin, ich habe ihr oft Medikamente besorgt, und die hat mich jeden Tag angerufen und mir erzählt, wie und was. Jedenfalls, genau zehn Tage nach deiner Operation hatte ich wieder diesen Traum: Ich laufe wieder dieselbe Straße lang, wieder beachtet mich keiner, und wieder kommst du. Aber irgendwie komisch angezogen: eine Art Arbeitskleidung, ein schwarzer Kittel oder eine Schürze. Und scheußliche Schuhe, ganz und gar nicht deine Art. Aber du kommst zu mir, als wäre alles ganz normal, nimmst mir wieder meinen Sack ab, und wir laufen weiter... Glaubst du mir das, ja?« Aber Lilja brauchte gar keine Bestätigung. Sie hatte es eilig, ihre Geschichte zu Ende zu erzählen. Shenja hörte ihr mit einem schwachen Lächeln zu. Wirklich amüsant, dieses Dummchen Lilja Aptekman! »Ja, also. Gläubige haben doch eine zweite Wahrnehmungsebene, verstehst du? Die ist wichtiger als die erste. Viel wichtiger. Und ich habe nachgedacht: Was mag dieser Traum bedeuten?« Liljas Gesicht nahm einen wichtigen und geheimnisvollen Ausdruck an. »Ich habe dir mein Kreuz aufgehalst, das ist passiert. Mir geht es gut, aber du bist kaputtgegangen. Nicht der rote Audi hat dich überfahren, ich habe dich überfahren mit meinen Sorgen und mit meinem Neid. Ja, mit meinem Neid. Verstehst du, darum ist es nun -155-
buchstäblich so gekommen: Du liegst flach, und mir geht es immer besser.« Lilja begann wieder zu weinen. »Hör mal, das ist doch Nonsens, was du da erzählst. Nicht weinen, ich bitte dich. Ein verrückter Spieler ist ins Kasino gefahren, hat in einer Nacht Unsummen verspielt, sich betrunken und ist losgerast, auch die Airbags konnten ihn nicht retten. Und du erzählst mir war von einem Traum.« Shenja streichelte Liljas Kopf. »Geh, sag Grischa, er soll die Blumen in eine Vase stellen.« Lilja stand schwerfällig auf, die gesunde Hand am Bett. »Davor hatte ich die meiste Angst«, sagte sie traurig. »Du bist so klug, aber so einfache Dinge willst du nicht begreifen.« Lilja blieb bei Shenja sitzen, bis Kirill kam - klagte sich an, äußerte Reue. Noch mehrere Male erzählte sie ihren Traum, dann sagte sie bewegt zu Shenja: »Verstehst du, es steht geschrieben: Nimm dein Kreuz auf dich und folge mir nach... Dein Kreuz... Ich aber habe mein Kreuz immer anderen aufgeladen, habe mich bei allen beklagt, von allen Hilfe und Mitgefühl angenommen. Am meisten habe ich dir aufgebürdet. Und das hat dir den Rücken gebrochen. So ist das gekommen. Und nun bete ich, daß alles wieder gut wird. Daß du wieder auf die Beine kommst.« »Nun hör schon auf, Lilja. Ich habe dein Buch auch gelesen, und da steht vieles geschrieben. Zum Beispiel auch: Einer trage des anderen Last. Oder habe ich das etwa falsch verstanden?« parierte Shenja mit Liljas eigenen Waffen. Lilja fuchtelte mit den Armen - den einen schwang sie heftig und weit ausholend, der andere lahmte merklich, gestikulierte aber eifrig mit. Kirill kam nach Hause und machte Essen. Sie aßen in der Küche, alle zusammen. -156-
»Hmhm, das schmeckt - du kochst so gut, Shenja«, lobte Lilja. »Ich? Das war Kirill«, erwiderte Shenja. Kirill lächelte - mehr brauchte er gar nicht: Das Lob war ihm schon genug. So saßen sie bis zum Abend, und als Lilja gegangen war, erzählte Shenja von deren Hypothese. Kirill überlegte eine Weile, zog seine Strukturüberlegungen zu Rate und schüttelte den Kopf. Nein, das glaube ich nicht. So funktioniert das nicht. Um elf rief der aserbaidschanische Doktor Alijew an. Der nämliche, der Shenja in der Unfallklinik besucht und ihr versprochen hatte, sie zu operieren, wenn alle Brüche verheilt seien. Einmal war er auch bei ihr zu Hause gewesen, kurz nach Shenjas Entlassung, aber an diesen Besuch erinnerte sie sich kaum. Er kam am nächsten Tag. Sein dunkles, hageres Gesicht und seine spiegelblanken schwarzen Augen verblüfften Shenja. Offenbar war er selbst irgendwie krank. Lange knetete er ihr den Rücken, strich darüber, stach unvermittelt und schmerzhaft mit einem Finger zu, lachte leise, wenn Shenja aufschrie, und bat Kirill um eine Nadel. Er zündete ein Streichholz an, hielt die Nadelspitze in die winzige Flamme und strich und pikte noch lange auf Shenjas Rücken und ihrem Bein herum. Dann rammte er die Nadel in Kirills Notizbuch, das auf dem Tisch lag, und sagte, schon auf dem Weg zur Tür: »Kommen Sie nächsten Dienstag um neun in die Klinik. Operieren werde ich wahrscheinlich am Mittwoch. Unter örtlicher Betäubung. Bereiten Sie sich darauf vor, daß Sie einiges aushalten müssen. Und bringen Sie sechshundert Dollar mit. Den Rest - je nach Ergebnis.« »Besteht Hoffnung, daß sie wieder laufen wird?« fragte Kirill ihn im Flur. Alijew sah Kirill irgendwie skeptisch und zweifelnd an: ob -157-
es lohnte, ihm etwas zu erklären. Dann nahm er einen Notizblock aus der Tasche und malte einen Wirbel auf, daran einen zweiten - eine schöne Zeichnung, mit spitzen Bögen nur schwer vorstellbar, daß diese komplizierten Spindeln sich tatsächlich dort drin befinden sollten. Alijew setzte seinen schwarzen Stift in die gezeichneten kleinen Löcher und führte von dort fließende Linien nach außen - ein Paar Spinalnerven. Zum Schluß malte er eine Art Fladen, den er dünn schraffierte, und zeigte mit dem Stift darauf. »Da. Ich glaube, hier hat sich Rückenmarksflüssigkeit angesammelt und verfestigt und drückt nun auf die Nerven. Ich habe den Eindruck, daß sie nicht völlig abgestorben sind. Wir wollen versuchen, das zu säubern. Dann werden wir sehen.« Violetta tauchte mit einem Lappen in der Hand kurz aus der Küche auf und grüßte den Doktor ehrerbietig. Er nickte ihr zu. Kirill wunderte sich - kannten sie sich etwa? Als Alijew gegangen war, kam Violetta zu Kirill und sagte: »Kirill Wassiljewitsch, ich kenne diesen Doktor Alijew. Er nimmt unsere Kinder in seiner Klinik auf, ich kenne zwei solche Familien, die eine kommt aus Grosny, sie haben einen Jungen, er ist zehn, ihm hat es die Beine weggerissen. Er hat ihm Prothesen gemacht. Dafür nimmt er kein Geld, das bezahlt er selbst. Er ist unser Heiliger.« »Ach ja?« sagte Kirill erstaunt. Heilige waren ihm in seinem Leben noch nicht begegnet.
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8 Während der ganzen Operation hatte Shenja heftige Schmerzen, aber sie hielt aus, stöhnte nur leise. Es dauerte unendlich lange, und sie dachte nur an eines: wie sie im Frühling auf den Balkon hinausrollt und was für ein Genuß der Augenblick sein wird, wenn sie sich über die Brüstung wälzt. Dann hörte sie Doktor Alijew sagen: »Shenja, hörst du mich? Schrei jetzt ein bißchen, ja? Wenn es sehr weh tut, schrei laut. Wenn es weniger weh tut, schrei weniger. Ja?« Shenja schrie aus Leibeskräften. Sie schrie, bis plötzlich ein solcher Schmerz sie durchfuhr, daß ihre Stimme erstarb. »Na, sehr schön!« hörte sie Alijew sagen und verlor endlich das Bewußtsein. Die Schmerzen hielten noch drei Tage an, ihr Rücken tat so weh, als habe sie einen glühenden Eisenstab in der Wirbelsäule. Alijew kam jeden Morgen, untersuchte sie und murmelte: »Gut! Gut!« Kirill saß meist schon bei Shenja im Zimmer. Dann folgte er Alijew in den Flur und fragte: »Was ist gut, Doktor?« Der zwinkerte ihm zu, lächelte und sagte nichts. Ab der zweiten Woche kam täglich ein Masseur, ebenfalls ein Orientale, der aber eher wie ein Hindu aussah. Shenja lag nur auf dem Bauch, auf den Rücken durfte sie noch nicht gedreht werden. Der Hindu, der übrigens Tadschike war und Bairam hieß, breitete auf dem Nachttisch Kräuterstäbchen aus. Ein komischer Ort, diese Klinik, dachte Kirill, äußerte das aber nicht zu Shenja. Bairam knetete lange ihre Beine und setzte die brennenden Kräuterstäbchen darauf, die sich als Kerzen entpuppten. Nach einer Woche wurde sie auf den Rücken gedreht, sitzen durfte sie noch nicht. Nach einer weiteren Woche schob Alijew -159-
ihr die Arme unter die Achseln und hob sie hoch. Shenja stand, die Beine trugen sie. Sie blieb eine Minute stehen, dann hob Alijew sie hoch und legte sie wieder hin. »Aufsetzen darfst du dich nicht, verstanden? Drei Monate lang nicht. Laufen ja, aber sitzen nicht.« Am nächsten Tag wies er Kirill an, noch dreitausend Dollar mitzubringen. »Bairam bezahlst du selber, gib ihm, was er sagt.« Ganz schön viel für einen Heiligen, dachte Kirill. Geld war genug da - Sascha hatte aus Afrika gerade etwas geschickt. Bairam kam jeden Tag. Zwei Stunden arbeitete er mit Shenja; seine fließenden Bewegungen waren eine Augenweide. Shenja stöhnte. Es tat weh. Am Ende der Woche sagte Bairam zu Kirill, er solle achthundert Dollar mitbringen. Die Heiligen waren teuer. Shenja lebte auf. Die Schwester hatte ihr ein Laufgestell gebracht. Von Tag zu Tag konnte Shenja länger stehen. Danach legte sie sich wieder hin, schweißnaß von der Anstrengung, und Kirill massierte ihr lange die Zehen, bis sie seine Wärme aufgenommen hatten. Nach einem Monat rollte Shenja das erste Mal aus ihrem Zimmer in den Flur. Nicht im Rollstuhl, den sie noch immer nicht benutzen durfte, sondern mit ihrem Laufgestell, Schritt für Schritt. Das erste, was sie im Flur zu sehen bekam, waren zwei Jungen, die sich prügelten: der eine hatte keine Beine, saß im Rollstuhl und schlug mit seinen langen Armen geschickt auf den anderen ein, der sicher auf zwei Krücken stand - ihm fehlte der linke Arm bis zum Ellbogen und das rechte Bein bis zum Knie. Der im Rollstuhl war ganz offensichtlich im Vorteil. Landminen, dachte Shenja. »He, ich hole gleich Doktor Alijew, der macht euch Beine!« rief die Schwester aus dem Dienstzimmer. Der Rollstuhlfahrer wendete geschickt und fuhr davon. Shenja keuchte. Aber wenden konnte sie nicht allein. -160-
»Kirill, hilf mir zurück in mein Zimmer«, bat sie, und Kirill wendete vorsichtig ihr Laufgestell.
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9 Ende Mai kam Chawwa Iwanowa aus Jerusalem zurück. Sie hatte dort sieben Monate verbracht, an irgendeiner jüdischen Universität. Sie kam Shenja besuchen. Sie war schön und ein wenig gealtert. Um den Kopf ein silbriges Tuch gewickelt; ein langes helles Kleid umspielte elegant ihren schlanken Körper. Sie standen auf dem Balkon. Shenja stützte sich mit den Ellbogen auf ihr Laufgestell. Sie konnte bereits ein paar Schritte selbständig laufen, fühlte sich aber mit dem Laufgestell sicherer. Chawwa war ungewöhnlich schweigsam, so daß Shenja sie schließlich fragte: »Na, was hast du dort studiert?« »Die Sprache und die Thora«, antwortete Chawwa zurückhaltend. »Und? Beherrschst du sie jetzt?« »Das ist schwer«, erwiderte Chawwa. »Je mehr Antworten man findet, desto mehr Fragen hat man.« Die Bäume reichten bis zum vierten Stock, vom Balkon aus sah man nur die kleingelockten Köpfe zweier Eschen, die Erde darunter schimmerte kaum durch. Hinunterstürzen wollte Shenja sich nun nicht mehr. »Ich habe beschlossen, Schluß zu machen mit dem Lernen, Shenja. Ich glaube, ich habe überhaupt am falschen Ende angefangen. Ich möchte alles hinwerfen und ganz neu zu leben anfangen.« »Das kann ich verstehen«, stimmte Shenja ihr zu. Sie tranken Tee. Dann setzte Chawwa Shenja in den Rollstuhl, füllte eine Schüssel mit warmem Wasser und stellte Shenjas magere Beine hinein. Sie schnitt ihr die Fußnägel und scheuerte ihr die Fersen mit Bimsstein. Sie fand einen alten -162-
Rasierer und rasierte ihr die langen Haare von den Waden. Trocknete sie ab, cremte sie ein. Alles schweigend. Dann sagte sie, ohne den Kopf zu heben, ganz ruhig: »Weißt du, so vieles in mir ist nur Schaum. Aber langsam befreie ich mich davon. Ich habe mein Leben lang darunter gelitten, daß Kostja dich geliebt hat. Er hat eigentlich nie aufgehört, dich zu lieben.« »So ein Unsinn. Das war doch alles im vorvorigen Leben. Wir fangen doch jetzt neu zu leben an. Was sagt denn die Thora darüber?« »Gelobet seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der das Licht schafft und die Dunkelheit, der Frieden bringt und alles erschafft! Die Thora sagt: Jeder Tag ist neu«, erklärte Chawwa feierlich, ihr Gesicht war ernst, doch diesmal wirkte sie ganz und gar nicht wie eine Idiotin. Ich muß Igor sagen, daß er mir die beiden Manuskripte bringen soll. Die hat er ja ohne mich angenommen, aber das Redigieren schafft er nicht allein, dachte Shenja. Und ich muß Sascha bitten, daß er Kirill neue Hosen kauft. Eine blaue und eine schwarze. Zwei Paar. Und den Brief beantworten. Und mir endlich in mein Notizbuch schreiben, was zu erledigen ist.
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