C.H.GUENTHER
Die ägyptische Spur
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
1. Abdu el Khim war ein Mann von mittleren J...
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C.H.GUENTHER
Die ägyptische Spur
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
1. Abdu el Khim war ein Mann von mittleren Jahren, groß, gerade, sonnengebräunt und schlank. Er lebte in einem Dorf im oberen Niltal. Das Dorf hieß Khalidia. Von Beruf war Abdu Steuereinnehmer des Königs Ramses. Abdu hatte ein großes Haus aus braunen Lehmziegeln mit weißen Marmorsäulen davor. Seine Felder brachten drei Ernten im Jahr, seine Kühe gaben ausreichend Milch, seine Ziegen Fleisch und Leder, und sein Brunnen war immer voll von gutem Wasser. Nur seine Frau, die aus der hellgelben Nomadenwüste jenseits des Horizonts stammte, blieb unfruchtbar. Sie gebar ihm keine Kinder. Vielleicht, weil sie unglücklich war. Als Tochter eines Nomadenfürsten an rastloses Umherziehen gewohnt, starb sie in Abdus Haus wie in einem Gefängnis. Abdu begrub sie auf dem kahlen steilen Felsen, der zu hoch war, um bewässert zu werden. Hier oben lag das Dorf der Toten. Einen Vollmond später ließ Abdu die Kamele satteln. Früh am Morgen verließ er seine Dawar, seine Residenz, ritt durch die schmalen Gassen hinaus und weiter im Schatten der Palmen zur nächsten Stadt. * In El Fayzm lebte Abdus Cousine zweiten Grades. Sie war Witwe und reich. Ihr gehörten Ölmühlen und weite Ländereien. In der glühenden Sonne des Mittags hielt er, wie es die Sitte gebot, um ihre Hand an. In der Kühle des Abends gab sie Antwort. „Mein Mann starb“, sagte sie, „weil er alt war. Deine Frau starb aus Gram, weil sie keine Kinder hatte. Was uns das 3
Schicksal beschied, soll nicht noch einmal geschehen. Wir werden uns vorher prüfen.“ Damit ging sie. Aber in der Nacht kam sie zu ihm auf die Schilfmatte. Sie war nackt. Im Mondlicht, das durch die Fensteröffnung fiel, schimmerte ihr gebräunter Körper. Ihre schwellenden Brüste berührten ihn und ihre Schenkel öffneten sich, als sie sich neben ihn legte. Sie liebten sich heftig und viele Male, ohne ein Wort miteinander zu reden. Am Morgen trat Rabia wieder vor Abdul. „Du bist ein Mann“, sagte sie, „aber ich fürchte, du bist krank. Reise nach Theben zu einem Arzt. Er soll das Geschwür in deinen Lenden, das eine Frau spürt wenn du auf ihr liegst, untersuchen. Wenn er es zu heilen vermag, dann komm zurück und ich will dein Weib sein.“ Abdu versprach, es zu tun. * Nachdem er sich wieder zu Hause in seinem Dorf am Nil befand, rüstete Abdu eine Dhau aus. Er ließ die Truhe mit dem Steuergold für den König an Bord bringen. Beim nächsten Mond segelte er nilaufwärts. Begleitet wurde er von zwei Dienern und vier numidischen Leibwächtern. Die Schwarzen waren bis zu den Zähnen bewaffnet. Auf langen Reisen gab es genug Gründe, sich zu schützen. Bei der Errichtung der Tempel in Luksor und der riesigen Memnonkolosse zu Ehren der Sonnengöttin waren Hunderttausende von Sklaven beschäftigt. Sie arbeiteten in den Steinbrüchen und an den Baustellen. Viele von ihnen entwischten immer wieder ihren Aufsehern. Sie rotteten sich zu Räuberbanden zusammen und machten das Leben der Reisenden unsicher. Trotz widriger Winde kam Abdu el Khim endlich in Theben an. Erst opferte er Mantu, dem Schirmherrn, und Horus, dem 4
Reichsgott. Nachdem er seine Steuern im Schatzhaus abgeliefert hatte, wurde er vom großen Ramses gnädig empfangen. Da Abdus Vater und Großvater schon Tut-ench-Amun, König Harmais und König Stehos in Treue gedient hatten, durfte Abdu mit dem Herrscher das Mahl nehmen. Als Ramses ihn nach seinen Söhnen fragte, gestand Abdu, daß die Götter ihm Nachkommen versagt hätten. „Nimm eine neue Frau“, riet ihm der König. „Ich fürchte, ich bin krank“, erwiderte der Steuereinnehmer. Daraufhin lachte der König dröhnend. „Dann lag es nicht an deiner Frau“, sagte Ramses, „dann liegt es an dir. Aber mach dir keine Sorgen. Wir haben hier die besten Heilkundigen.“ Der König wandte sich an einen der Sklaven: „Laßt Hasan den Arzt rufen!“ Abdu wurde in Ehren entlassen. Der König umarmte ihn, als er ging, und gab der Hoffnung Ausdruck, er möge seinen treuen Diener übers Jahr in voller Gesundheit und als Vater Wiedersehen. * Zwanzig Tage und Nächte mußte Abdu im Hause des Arztes bleiben. Zunächst untersuchte ihn der berühmte Hasan, drückte und preßte seinen Leib. Er gab ihm etwas milchig Wässriges zu trinken, wartete, bis die Flüssigkeit Abduls Körper wieder verließ, schnüffelte daran und brachte sie durch Zugabe anderer Stoffe zur Verfärbung. Daraus und aus dem Kot, aus dem Schweiß, aus dem Herzschlag und der Temperatur seines Patienten zog er Schlüsse, die ihm Stirnrunzeln verursachten. „Du bist ein todkranker Mann, Abdu“, sagte er, „in deinem Leib wuchert etwas, das dich von innen her zerstört. Natürlich beeinträchtigt es auch deine Zeugungsfähigkeit.“ 5
„Wie lange habe ich noch zu leben?“ wollte der reiche Steuereinnehmer wissen. „Jetzt ist das Geschwür faustgroß“, erklärte der Arzt, „wenn es die Größe einer Wassermelone hat, drückt es dein Herz ab.“ „Wird es schmerzen?“ „So sehr, daß du schreien wirst wie ein Kamel, das die Aasgeier bei lebendigem Leibe ausweiden.“ „Was kann man tun?“ Abdu verlor schon alle Hoffnung. Der Arzt sagte, er müsse das Geschwür töten, bevor es Abdu töte. Ob das durch Zauberei ginge, fragte der Kranke. Da zeigte ihm der Arzt seine Messer. „Damit werde ich dir den Leib öffnen und etwas hineinsetzen, das das Geschwür auffrißt. Denn herausschneiden kann man es nicht, ebensowenig wie man Leber, Niere und den Magen herausschneiden kann.“ Der völlig verängstigte Patient wollte wissen, was ihm Hasan denn einsetzen würde. „Keinen Edelstein“, erwiderte der Arzt, „keine Pflanze, nicht den Sud von Kräutern, sondern das da.“ Er führte den Steuereinnehmer in einen Nebenraum und deutete auf einen aus Schilf geflochtenen Käfig. Darin war ein Tier gefangen, so groß wie eine Nilratte und auch so häßlich wie eine Nilratte, aber mit Ohren wie ein Luchs, Beinen wie ein Hund und einem Ziegenhorn in der Mitte des Kopfes. „Das soll mir helfen?“ zweifelte Abdu entsetzt. „Es wird für dich sterben“, antwortete der Arzt. „Was ist das?“ „Du kennst den Namen nicht. Es kommt von weit her. Weit unten im Sudan fangen sie es für mich ein.“ Abdu, ein lebenserfahrener Mann, stöhnte auf. „Werde ich es überstehen?“ „Wenn du so viele Palmschößlinge in den Sand setzt“, 6
sagte der Arzt, „wie du Finger an beiden Händen hast, sie nie bewässerst sondern darauf baust, daß der Tau der Nacht sie nährt, wie viele werden eingehn und wie viele werden zu einem Baum wachsen?“ Abdu hob den Daumen. „Einer, wenn er stark ist und Glück hat.“ „Wenn du stark bist und Glück hast“, fuhr der Arzt fort, „bist du dieser eine von zehn Palmschößlingen. Wann machen wir es?“ „Ich will nur noch in den Tempel gehen und Osiris Opfer bringen“, sagte der Steuereinnehmer. * Bis zum vollen Mond schwebte Abdu zwischen Tod und Leben. Sein Leib war auf getrieben und schwoll an, bis die Wunde platzte. Aber mit dem Eiter, der herausquoll, kam auch gesundes Blut. Die Schmerzen ließen nach, so daß sie den Lederriemen, mit dem sie ihn an das Bett gefesselt hatten, lösen konnten. Als der Mond schmal war, konnte Abdu gehen und als der Mond wieder rund war, konnte er reisen. Abdu bezahlte Hasan den Arzt reichlich, bestieg wieder seine Dhau, um nilabwärts zu segeln. In El Fayzm angekommen, ging er zu seiner Cousine zweiten Grades, entblößte im grellen Licht der Mittagssonne seinen Bauch und zeigte ihr die Narbe. Dann nahm er ihre Hand und legte sie auf seinen Leib. „Es ist weg“, sagte er. „Mein Körper ist gesund und fast wie der eines jungen Kriegers.“ „Wer hat das Wunder vollbracht?“ fragte Rabia. „Hasan, der Arzt“, sagte Abdu. „Dann soll unser erster Sohn Hasan heißen“, entschied die schöne Rabia.
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Abdu wurde 82 Jahre und sieben Monde alt. Er hatte acht Söhne und zwei Töchter als er starb. Bei seinem Tode lebte König Ramses nicht mehr. Auf dem Thron saß jetzt Mamephes. Das Land stand in Blüte. Die Feinde an den Grenzen waren geschlagen und befriedet. Wie es Sitte war bei wohlhabenden Männern, wurde auch Abdu einbalsamiert. Man wählte dafür eine neue Methode, bei der die Eingeweide nicht aus dem Leib gerissen und das Gehirn nicht durch Mund und Nase entfernt wurden. Der Körper des Toten blieb unbeschädigt, wurde aber mit einem nach Harz duftenden Öl aufgefüllt. Danach bestatteten sie Abdu im Dorf der Toten, oben auf dem kahlen Felsen, den man nicht bewässern konnte. Einer seiner Söhne, der am Hofe des Gottkönigs in Theben lebte und des Schreibens kundig war, begann die Geschichte der Familie auf Papyrus festzuhalten. In langen Hieroglyphen erzählte er, bei Abdu el Khim beginnend, von dessen Leben als Steuereinnehmer, von seiner ersten Frau, die aus der Wüste kam, von seiner Krankheit, von seiner wundersamen Heilung, von seiner neuen Frau Rabia und deren acht Söhnen und zwei Töchtern. Als Abdus Sohn die Niederschrift beendet hatte, war das ziemlich genau 1199 Jahre vor dem Tag, an dem zu Bethlehem ein Knabe geboren wurde, der sich später Jesus von Nazareth nannte. 2. 24. Juni, kurz nach 17 Uhr. Auf einem NATO-Flugplatz unweit von München stand das Flugzeug das sie „Der schöne Tod“ nannten. Innerhalb einer gelben Markierungslinie parkte der Vogel, schlank wie ein Bleistift, mit spitzer Radarnase, die Stummelflügel weit hinten angesetzt, das Leitwerk hochaufragend. 8
Ein Starfighter F-104, Abfangjäger und Atombombenträger. Bewacht wurde das Flugzeug von zwei schwerbewaffneten Soldaten. Jeder Pilot, der sich diesem Flugzeug ohne Befehl zu nähern versuchte, mußte mit seinem Tode rechnen. Die Bewacher hatten Befehl, ohne Anruf scharf zu schießen, auch wenn sie damit einen Offizier töteten, dessen Ausbildung dem Staat eine halbe Million Dollar gekostet hatte. Der Starfighter war vollgetankt und startbereit. Seine Elektronik vorgewärmt. Er gehörte zu einer der Alarmrotten, die jahraus, jahrein, bei Tag und Nacht, Sommer wie Winter rund um die Uhr bereitstanden, einen Überraschungsschlag aus dem Osten zu vergelten. Unter dem Rumpf hing ein Atomsprengkörper, grau gestrichen, 910 Kilogramm schwer, mit der Zerstörungskraft von 50 Hiroshima-Bomben. Um 17 Uhr 15 etwa setzte leichter Regen ein. * Noch wenige Wochen vorher hatte im Verteidigungsministerium auf der Bonner Hardthöhe eine Routinekonferenz stattgefunden, bei der es um Sicherheitsfragen der Bundeswehr ging. In wechselnder Zusammensetzung tagten die Herren seit dem Jahre 1958, als Bundeskanzler Adenauer nach seinem Motto „Wir sind wieder wer“ so schnell wie möglich an den atomaren Drücker hatte kommen wollen. Er hatte dies auf dem Umweg über ein Flugzeug erreicht, über den Starfighter, der damals alle Weltrekorde im Horizontal- und Steigflug brach. Seit über zwanzig Jahren hatte die Bundesluftwaffe nun einen Atombombenträger, aber auch die Verantwortung für diese Waffe. Deshalb kam bei jeder Konferenz die Sprache auf die 9
Alarmrotte. Wie immer beruhigte der anwesende Luftwaffenoffizier die Beamten. „Meine Herren“, sagte er, „der Befehl zum Einsatz einer F-104 mit A-Bombe kann nur vom Präsidenten der USA erfolgen. Zwei amerikanische Offiziere erhalten auf getrennten Wegen ein Codewort. Dann müssen sie gemeinsam mit stets wechselnden Spezialschlüsseln die Atombombe unter dem Starfighter scharf machen und das Gittertor zur Rollbahn öffnen.“ Der Staatssekretär unterbrach den General: „Hört sich wirklich fabelhaft an. Aber was hat das mit Sicherheit zu tun? Zwei Offiziere, zwei Schlüssel, ein Gittertor, ein paar Gelbmarkierungen, zwei Soldaten mit Maschinenpistolen, das ist doch ausschaltbar.“ Der Beamte musterte die Runde. „Sehen Sie sich denn nie Agentenfilme an, meine Herren?“ Bisweilen pflegte der Staatssekretär seine Meinung hinter makabren Scherzen zu verstecken. Um eine direkte Antwort verlegen, fuhr der General in seinem Referat fort: „Die alarmbereiten deutschen Piloten werden ständig überprüft. Sie sind achtzehn Monate lang für Atomwaffeneinsätze, für die sogenannten Special-Delivery, trainiert worden. Sie haben immer die zwei Ziele, für die sie vorgesehen sind, im Kopf. Und natürlich setzen wir für die QuickReaction-Alerts nur unsere bewährtesten Offiziere ein.“ „Nun“, bemerkte der Vertreter des Ministers, „wir wollen hoffen, daß nie ein Wermutstropfen in unsere Blütenträume fällt.“ Genaugenommen wäre die geringste Panne mit einem Atomstarfighter mehr gewesen als nur ein Wermutstropfen, nämlich eine ausgewachsene Katastrophe. Aber acht Wochen vor diesem 24. Juni dachte niemand ernsthaft an etwas Derartiges. 10
Das Ganze dauerte nur wenige Minuten, hinterließ aber den Eindruck, daß russische Panzerkeile schon die Grenzen zur Bundesrepublik überquert hätten. Erst heulten die Flugplatzsirenen auf bekannte Weise. Über Funk bekamen die Wachen am Starfighter ihren Code. „Atom- Alarmstart!“ Alles verlief schnell, aber ordnungsgemäß und den Vorschriften entsprechend. Ein offener Munga brachte drei Personen von der Flugleitung herüber, zwei US.-Offiziere sowie den Piloten in orangefarbener Kombination und weißem Helm. Die amerikanischen Offiziere, ein Colonel und ein Captain, öffneten die Schlösser zum Tor. Die Flügel schwenkten auf. Der Pilot zeigte den Wachen die schriftliche Ausfertigung des Startbefehls. Dann kletterte er über die Leiter ins Cockpit. Noch während er sich in dem nur einen Meter breiten mit über 100 Instrumenten, Schaltern und Hebeln angefüllten Cockpit auf seinem Schleudersitz festschnallte, begann in seinem Rücken das Triebwerk anzulaufen. Die 30 000-PS-Turbine zündete. Die Cockpithaube senkte sich und rastete ein. Der Pilot riß das Helmvisier herunter und überprüfte seine Sauerstoffmaske. Nur ein Zeichen mit dem Daumen. Das Bugrad wurde deblockiert. Der Pilot gab Gas und rollte. Auf dem Weg zum Startpunkt hatte er alle zwei Herzschläge einen anderen Handgriff zu erledigen. Der Starfighter verlangte das. Man sagte ihm nach, daß er ein gutes Flugzeug sei, aber keinen Fehler verzeihe. Unter Piloten galt er als Diva. Rassig sensibel, aber auch rachsüchtig. Obwohl er schon Hunderten von Piloten das Leben gekostet hatte, liebten sie ihn. – In einer Art Haßliebe. 11
Der Major im Cockpit beherrschte den Vogel wie einer, der in dreitausend Flugstunden mit ihm zusammengewachsen war. One man, one engine, sagten die Amerikaner. Ein Mann, eine Maschine. – Als die F-104 mit langem Feuerschweif über die Piste heulte und bei dreihundert Stundenkilometern abhob, wandte sich einer der Wachposten an den US-Colonel: „Sie haben die Bombe nicht entschärft, Sir“, stellte er fest. Der Amerikaner beruhigte ihn. „Nur eine Übung“, erklärte er. „Eine Ernstfallsimulation.“ Im Tiefflug raste der Starfighter erst nach Osten, beschrieb dann eine weite Kurve und flog, die Autobahn MünchenSalzburg überquerend, auf die Alpenkette zu. Gemäß dem Procedure-Handbuch, es war dick wie das Telefonbuch einer Millionenstadt und jeder Pilot mußte es im Kopf haben, ging der Major auf Nachbrennerschub. Die Urgewalt des General-Electric-Triebwerkes riß ihn hinauf auf neuntausend Meter Höhe und doppelte Schallgeschwindigkeit. * Daß etwas mit diesem Atom-Alarmstart nicht stimmen konnte, begriff man, als der Name des Piloten bekannt wurde. „Major Neukam“, der Kommandeur fluchte, „verdammt, Neukam, der wurde doch vom Starfightergeschwader zu den Aufklärern abkommandiert, weil er es nervenmäßig nicht mehr durchhielt. Außerdem ist Neukam in Urlaub.“ Über eine Telefonleitung, die ähnlich geschaltet war wie ‚Führungsblitz’ im zweiten Weltkrieg, holte der Geschwaderchef seine übergeordnete Dienststelle an den Draht. Dort wußte man nichts von dem Atom-Alarmstart. „Der wird doch nicht…“, dem General blieb das Wort im Halse stecken. 12
„Ich fürchte schon“, erwiderte der Geschwaderkommandeur. „Sie denken an Abwurf der Bombe?“ „Das bringt nichts. Sie wurde nicht scharf gemacht, Herr General. Auf die intakte Bombe kommt es ihm an.“ Der General warf seine Vermutung aus wie ein Computer mit Funktionsstörung. „Die NATO-Verbündeten können nicht an ihr interessiert sein. Bleibt nur… ja, was bleibt eigentlich?“ „Ein Staat im mittleren Osten, oder in Nordafrika. Daß sich die Mafia oder andere Gangstersyndikate Atombomben zum Zwecke der Erpressung beschaffen, steht doch wohl nur in Filmdrehbüchern.“ Dem Geschwaderkommandeur wurde eine Meldung gereicht. Er las sie laut vor: „Radarmessung der italienischen Frühwarnstation Monte Camoni. Die F-104 hat soeben den Alpenhauptkamm überquert und hält Kurs Belluno – Venedig. Höchstgeschwi ndigkeit.“ „Nachbrennerschub…“ der General rechnete, „… dann kommt er nicht weit. Zu hoher Verbrauch.“ „Die zwei Innen- und die zwei 455-l Außentanks waren voll bis zum Stutzen.“ „Macht maximal 2000 Kilometer Reichweite.“ „Bis Tunesien reicht es, wenn auch knapp.“ Wieder wurde gerechnet. „Bleiben uns noch etwa fünfundzwanzig Minuten.“ „Ich alarmiere die NATO-Südschiene“, entschied der General. * Um 17 Uhr 55 an diesem 24. Juni waren die ersten italienischen Phantom F-4 in der Luft. Zu der nicht alltäglichen Jagd gesellten sich auch zwei deutsche Phantom-Staffeln, 13
die auf dem NATO-Schießplatz auf Sardinien lagen. Die insgesamt 36 Flugzeuge bildeten ab 18 Uhr einen Schirm, der von der Adria bis weit in den Mittelmeerraum reichte. Alle Phantom hielten Funkkontakt mit der Bodenleitstelle. Sie besaßen ein Datenübermittlungssystem und verfügten über weitreichendes Zielradar. Außerdem machten sie Do ppeltriebwerke den älteren Starfightern leicht überlegen. Hinzu kam, daß einige von ihnen mit Sidewinder-Raketen ausgestattet waren. Die Piloten hatten eindeutige Befehle. Es galt, den entführten Starfighter unter allen Umständen abzufangen. Wenn er nicht zur Landung gezwungen werden konnte, dann gab es nur eines: Abschuß. Um 18 Uhr 10 hatte der Starfighter die Linie Split-Rom – Cap Bonifacio erreicht und vierzig Kilometer westlich Ostia überquert. Die Radarstationen gaben seine Position an die Abfangjäger durch. Diese wurden herumgerissen und stürzten sich auf ihn wie Wespen auf den Pflaumenkuchen. Wer vorne dran war, der hatte das zweifelhafte Vergnügen, mitten im Frieden Krieg spielen zu dürfen. Als erster sichtete den Starfighter eine deutsche Phantom, die in Nörvenich stationiert war. Der Hauptmann machte einen klassischen Zielradaranflug und schärfte seine AIM9D Luft-Luft-Lenkwaffe. Er hatte keine Ahnung, wer im Cockpit des Starfighters saß. Sicher kannte er den Offizier. Allzuviele Starfighterpiloten gab es ja nicht. In dieser Elite kannte jeder den anderen. Gut, daß er nicht wußte, welcher Kopf unter dem weißen Helm steckte. Im schrägen Licht der Abendsonne sah der Phantompilot die Starfightersilhouette deutlich vor sich. Daß er zur Landung zu zwingen war, dafür bestand keine Aussicht. Sekunden, bevor der Phantom-Pilot seine Rakete auf die Reise schickte, wurde ihm die Henkerarbeit abgenommen. Aus Überhöhung zischte eine italienische F-4 heran. In 14
dem Moment, als der deutsche Hauptmann sie sah, bemerkte er auch schon den Abschuß ihrer Sidewinder-Rakete. Sie löste sich mit dem bekannten Startblitz aus der Aufhängung unter dem Flügel. Die deutsche Phantom drehte ab. Noch im Wegkippen beobachtete der Hauptmann zweierlei. Am Starfighter wurde das Cockpitdach weggesprengt, der Schleudersitz schoß sich nach oben heraus und gab in einer taumelnden Bewegung den Piloten frei. Zwei Herzschläge später hatte die Rakete den Starfighter erreicht und schien sich von hinten in die glühende Öffnung des Triebwerks hineinzubohren. Schneller als ein Lid zuckte, entstand ein Feuerball. Detonation, totale Zerfetzung von zehn Tonnen Aluminium, Stahl und Elektronik. * Erstaunlich gute Zusammenarbeit zwischen Luftwaffe und Marine brachte zustande, daß noch vor Sonnenuntergang die ersten Überwassereinheiten der 6. US-Flotte im Planquadrat des Abschusses eintrafen. Tauchspezialisten machten sich sofort an die Suche von Trümmern, vor allem der Atombombe. Hubschrauber kreisten im Tiefflug über dem Meer. Ihre Aufgabe war, den Piloten tot oder lebend herauszufischen. Bei Sonnenuntergang, gegen 22 Uhr, hatten sie noch keine Spur von ihm. Weder war der orangefarbene Overall zu sehen, noch der Signalstoff, den ein Beutel an der Schwimmweste automatisch freigab. „Den hat die Explosion voll erwischt“, meinte einer der Helikopterleute. „Der Phantom-Pilot behauptet, sein Fallschirm habe sich geöffnet und er habe heil die See geküßt.“ Die Trümmersucher hatten mehr Erfolg. In der Nacht orteten Taucher auf dem Meeresgrund die nahezu unbeschädigte 15
Bombe, sowie Teile der streng geheimen Elektronik, wie den Erkennungs-Code-Geber und den Dual-Timer für Atombombenwürfe. Am Morgen fanden sie auch den Piloten. Oberflächenströmung hatte ihn in Richtung auf die Ponza-Inseln abgetrieben. Als sie ihn endlich geborgen hatten, war nur noch wenig Leben in ihm. 3. „Es gibt ganz Verrückte und halb Verrückte“, kommentierte der BND-Agent Robert Urban die Horrornachricht „Die ganz Verrückten werfen Atombomben, die Halbverrückten klauen sie nur.“ „Name des Piloten: Major Werner Neukam“, fügte sein CIA-Kollege aus Washington, ein Gigolo-Typ, hinzu. Da wußte Urban, was es geschlagen hatte, warum man ihn so früh aus dem Bett telefoniert hatte, und was sie im Schilde führten. Er legte seine Stirn in die berühmten fünfeinhalb Falten. „Und er starb jenseits der Staatsgrenzen.“ „Neapel liegt außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik, denke ich“, bestätigte der Amerikaner. „Dann ist der militärische Abschirmdienst nur bedingt zuständig.“ „Der Bundesnachrichtendienst um so mehr.“ Urban sah wieder einmal Schlimmes auf sich zukommen. „Und das ist mit Sicherheit keine Unterhaltungssendung?“ fragte er. Der Amerikaner hob die Schultern unter dem wattierten Stenzensakko. „Leider.“ Urbans Chef, der Leiter der Operationsabteilung, hatte sich das Gespräch angehört, als sei er kaum davon berührt. Dementsprechend lautete auch seine Bemerkung: 16
„Mangelhafte Sicherheit auf NATO-Luftbasen ist nicht unser Sektor. Natürlich werden wir nachforschen, was die Aktivitäten dieses Major Neukam im Ausland betrifft. Sollten wir zu gewissen Aufschlüssen bezüglich Motiv oder Auftraggeber kommen, werden wir Sie das auf dem Dienstweg wissen lassen.“ Oberst Sebastian warf dem Amerikaner einen Blick zu, der ihn praktisch hinauswarf. Der andere Blick zu seinem Agenten hin bedeutete: Nummer achtzehn, übernehmen Sie! Urban und der Amerikaner fuhren ins Casino. Bei einer Tasse Kognak ließ sich alles besser bereden. „Freundlicher Bursche, dein Boß“, kommentierte der Amerikaner, „bißchen senil, he?“ „Er wird demnächst durch einen Computer ersetzt“, sagte Urban, „vielleicht genügt sogar ein Taschenrechner.“ Wenig später im Casino, als der Amerikaner den ersten Schluck genommen hatte, sagte er: „Eure Kaffeeköchin sollte auch durch einen Computer ersetzt werden.“ Urban riet ihm, den Kognak in den Kaffee zu schütten, was zur Folge hatte, daß der andere noch zwei weitere Portionen trank und dann auspackte. „Was ich weiß, ist eine Mischung von alldem“, begann er, „was unsere CIC, die Army-Kripo also, euer militärischer Abschirmdienst und noch ein paar andere Büros zusammengetragen haben.“ „Über den Starfighterdieb“, stellte Urban klar. „Dieb“, der Amerikaner grinste. Sein Gebiß glänzte so makellos wie die brillantbesetzte goldene Rasierklinge, die er am Kettchen um den Hals trug: „Falls man bei so einem Objekt noch von Diebstahl sprechen kann. Mal abgesehen von dem Starfighter war schon das Ei, das unten dran hing, mehr wert, als allen Bankräubern im letzten Jahr in die Hände fiel. Wir schätzen, daß diese arabischen Fanatiker glatt… wenn nicht noch mehr dafür ausgespuckt hätten.“ 17
„Habt ihr schon einen Verdacht in Richtung Abnehmer der Bombe?“ „Ohne Motiv läßt sich das schwer einkreisen.“ „Das Motiv dürfte Habgier gewesen sein“, schätzte Urban. „Aus Eifersucht klaut man keine Nuklearsprengkörper.“ „Major Werner Neukam galt als vermögend. Er beerbte erst vor kurzem seinen steinreichen Vater.“ „Was heißt steinreich“, schränkte Urban ein. „Für einen Bettler sind das tausend Mark, für einen Normalverdiener eine Million. Steinreich ist relativ.“ Der Amerikaner berichtete weiter, daß Major Neukam ein wenig mit den Nerven heruntergewesen sei, weshalb man ihn zu den Aufklärern versetzt habe. Außerdem lief ein Untersuchungsverfahren wegen einer Bruchlandung, deren technische Notwendigkeit nicht erwiesen war, gegen ihn. „Intelligent genug“, meinte Urban, „um den Alarm mit allem Drum und Dran vorzutäuschen, war er.“ „Wenn man bedenkt, was alles dazu erforderlich ist“, pflichtete der CIA-Kollege bei, „dann war das in der Tat eine beachtliche Leistung. Irgendwie brachte er es fertig, die NATO-Befehlsstränge zu täuschen und zu irritieren und sich den Tagescode zu besorgen. Für wenige Minuten glaubte man tatsächlich an einen Ernstfall. Wie er das schaffte, kann uns Neukam leider nicht mehr erzählen.“ „Er lebte doch noch für ein paar Stunden“, wandte Urban ein. „Die Ärzte im Flottenstützpunkt Neapel haben alles versucht. Zwar kam er noch einmal zu sich, aber auf dem Tonband befindet sich kein verwertbares Wort.“ Allmählich hatte Urban den Eindruck, daß er ziemlich weit vorne anfangen mußte. Aber wo? Er steckte sich eine Monte-Christo-Zigarette an. Sie gab ihm oft den gewissen Kick. Da die Camel-Packung des Amerikaners leer war, bediente er sich bei Urban. 18
„Was ist das für ein Kraut?“ fragte er an dem Goldmundstück ziehend. „Greta Garbo rauchte nie eine solche Zigarette“, erklärte Urban, „und kein geringerer als James Dean hatte nie eine in der Hand.“ * Bob Urban begriff bald, warum man ihm diesen Fall zugeschoben hatte. Der Weg zu Major Neukams Privatsphäre glich einem kunstvoll angelegten Labyrinth, dessen Gänge von Urwaldgestrüpp überwuchert waren und in dem nie die Sonne schien. Daß er nach Tagen endlich Licht am Rande des Dschungels sah, kam ihm wie ein Wunder vor. Begonnen hatte Urban mit Sondergenehmigung des Innenministers in Erding, wo der Major unweit des Fliegerhorstes eine Wohnung gemietet hatte. Die Aussagen des Hauseigentümers deckten sich weitgehend mit den Protokollen, die der MAD über die Verhöre von Neukams Geschwaderkameraden erstellt hatte. „Die Wohnung war möbliert gemietet. Er bezahlte dafür siebenhundert Mark im Monat. Kalt. Nur die Bücher und die Stereoanlage sind sein Eigentum. Wann wird das Zeug abgeholt?“ „Sobald wir einen Verwandten ausfindig gemacht haben“, erklärte Urban. „Gibt es irgend etwas, das Sie merkwürdig an ihm fanden?“ „Das hat man mich schon zehnmal gefragt.“ „Fällt Ihnen etwas Neues dazu ein?“ Der pensionierte Amtsrat schüttelte den kahlen Schädel. „Neukam trank nicht, rauchte nicht, war kerngesund. Wenn er vom Dienst kam, sperrte er die Tür hinter sich zu und verließ die Wohnung selten. Und das, obwohl er nicht einmal einen Fernsehapparat besaß. Also, ich finde das für 19
einen Mann Mitte Dreißig, für einen Düsenjägerpiloten, schon reichlich komisch, fast ein bißchen Weltfremd. Und was seine Fernsehabstinenz betrifft, kam mir sein Verhalten beinah absonderlich vor.“ „Hatte er Hobbys?“ „Er segelte mal mit einem Bekannten irgendwo im Mittelmeer, fand es aber nicht arg toll.“ „Freunde?“ erkundigte sich Urban. „Er brachte nie welche mit und opferte ihnen auch keine Zeit. Entweder war er im Dienst oder zu Hause, höchstens mal in Urlaub.“ „Frauen?“‘ Der alte Herr lächelte. „Neukam hat seine sturmfreie Bude nie richtig ausgenutzt. Es gab da zwar eine Frau, die besuchte ihn hin und wieder, doch seit einem Jahr, kann auch länger her sein, lief in dieser Richtung nichts mehr.“ Die Protokolle erwähnten nicht, daß Major Neukam homosexuell veranlagt gewesen wäre. Urban wollte diesem Punkt jedoch mehr Beachtung schenken. „Wie sah die Frau aus?“ „Hübsch“, erklärte der Amtsrat spontan, „schlank, adrett, elegant, nicht so mit Jeans und Pullover, mehr damenhaft. Rothaarig, glaube ich.“ In Gegenwart des Hausbesitzers streifte Urban noch einmal durch die Dachgeschoßwohnung. Er sah sich die Bücher an, die Plattensammlung, das Bad. Neukam war Naßrasierer. Er benutzte Gilette-Klingen, Stangenrasierseife, als AfterShave reinen Alkohol. Im Badezimmerschränkchen lag nur das Übliche. Jod, Schnellpflaster, Kopfschmerztabletten und ein Medikament in Kapselform mit exotischem Namen. Der Packzettel war in Englisch abgefaßt. Urban vermutete, daß es sich um ein Präparat gegen Erkrankungen des MagenDarm-Traktes, ordinären Durchfall also, handelte. Über Neukams Finanzen fragte Urban den Amtsrat gar 20
nicht erst. Darüber stand alles in den Unterlagen. Der Major hatte sein Gehalt mitsamt den Zulagen auf ein Konto bei der Kreissparkasse überweisen lassen. Noch vor einem Jahr hatte das Konto, aufgrund von Neukams sparsamer Lebensweise, einen Stand von achtzigtausend Mark ausgewiesen. Ende Dezember hatte der Major das meiste abgehoben. Wohin das Geld gegangen war, konnte bis jetzt nicht ermittelt werden. „Wo steht sein Wagen?“ fragte Urban. „Noch in der Garage.“ Sie gingen hinunter, durch den Garten des Zweifamilienhauses. Das Kipptor der Doppelgarage war zwecks besserer Durchlüftung, wie der Eigentümer erklärte, angelehnt. Neben dem Ford Granada des Amtsrats stand Neukams schwarzer Golf GTi. „Als Düsenjägerpilot bevorzugte er natürlich ein schnelles Auto“, erklärte der Pensionär. Urban las den Tachostand ab. Der Golf hatte knapp 18 000 Kilometer auf der Walze und war vierzehn Monate alt. Mit der Barabhebung im Dezember konnte er also nicht erwo rben worden sein. „Er fuhr nicht viel“, sagte der Amtsrat. „Kam er nicht erst aus dem Urlaub?“ „Aus Jugoslawien, glaube ich.“ „Wo dort war er?“ Merkwürdigerweise hatte man keinerlei Hinweise gefunden, wo Neukam die drei Wochen verbracht hatte. Es gab keine Hotelquittung und keinen Tankbeleg. Den Urlaubsort anhand von Staub- oder Schmutzproben ausfindig machen zu wollen war ziemlich witzlos. „Sein Vater starb ja erst“, erzählte der Amtsrat, „soll recht vermögend gewesen sein. Über das Erbe wird allerdings gestritten. Der Alte vermachte alles dem Tierschutzverein. Der Herr Major wollte wenigstens seinen Pflichtteil. Das erwähnte er beiläufig.“ 21
Komische Leute, diese Neukams, überlegte Urban. Der junge hat keinen Fernseher, der alte vermacht alles dem Tierschutz. „Da läuft ein Prozeß“, erwähnte der Amtsrat nebenbei. „Was erzählte er darüber?“ „Gar nichts, aber er bekam mehrmals Post von einem hiesigen Anwalt.“ Urban rief den Anwalt an, verabredete mit ihm einen Termin, erfuhr aber wenig. Der Anwalt hatte nur ein Vorgespräch mit seinem Klienten Neukam geführt. „Der alte Herr versilberte vor seinem Tod alle Häuser, Wohnungen und Grundstücke, die er besaß. Am Tag, als er starb, überwies er sein Vermögen bis auf fünftausend Mark Beerdigungskosten an den Tierschutzverein.“ „Der Sohn ging also leer aus.“ „Die Negerkinder im Sahel krepieren vor Hunger, und im Tierasyl werden die Katzen rund und fett“, sagte der Anwalt. „So kann man Humanität auch ausüben.“ „Jetzt sind die Tierschützer mit der Schenkungssteuer dran. Aber den Prozeß wegen Herausgabe des Pflichtteils laut gesetzlicher Erbfolge, den haben sie vom Hals.“ Diese Information führte auch nicht weiter. Urban fuhr zurück nach München. Er wollte das Gehörte erst verarbeiten. Wenige Kilometer vor der Einmündung der 388 in die Autobahn München – Nürnberg sah er, daß seine Benzinanzeige in Richtung Reserve pendelte. Da er ungern bis zum letzten Tropfen fuhr, bog er ab, um zu tanken. Die Spritmarke, die dort verzapft wurde, war früher, um sich von anderen zu unterscheiden, blau eingefärbt worden. Kaum hatte er das Wort Aral gelesen, da zündete es bei ihm blitzartig. Er machte kehrt, raste nach Erding zurück und untersuchte noch einmal den GTi des Majors. Der Treibstoffbehälter war fast leer. Möglicherweise hatte Neukam nach seiner Rückkehr in Deutschland noch gar 22
nicht getankt. Urban entnahm dem Tank mit Hilfe eines saugfähigen Papiertaschentuchs eine Treibstoffprobe. „Mit den zehn Kubik kommen Sie aber nicht weit“, schätzte der Amtsrat. „Weit genug“, sagte Urban. Im BND-eigenen Labor wurde der Kraftstoff untersucht. Daß es Super-Benzin war, ließ sich ebenso wie die Oktanzahl im Versuchsmotor mit verstellbarer Verdichtung mühelos feststellen. „Liegt gerade noch in der ROZ-Norm“, übermittelte Professor Stralman. „Die Bestimmung weiterer Zusätze, Additive, Klopfbremsen, Blei, ätherischer Stoffe und so weiter, das dauert noch.“ „Hauptsache, man kann auf die Raffinerie schließen.“ „Das wird so schwer sein wie festzustellen, daß der Rohstoff aus diesem oder jenem Bohrloch sprudelte. Es ist so gut wie unmöglich.“ „Ihnen wird schon was einfallen, Professor.“ Urbans Vertrauen zu dem Universalgenie Stralman war gerechtfertigt. Als ihn der Professor am Nachmittag wieder anrief, stand schon etwas mehr fest. „Der Sprit stammt nicht aus Jugoslawien, nicht aus Österreich und nicht aus der Bundesrepublik.“ „Sondern?“ „Wir tippen auf Italien, auf die GEMCO-Raffinerie in Genua. Dazu sind aber noch vergleichende Analysen notwendig.“ „Bis wann steht es fest?“ „Sobald die angeforderten fünfzig Kubikzentimeter GEMCO-Super vorliegen.“ Auf bloßen Verdacht hin, Neukam könne an der italienischen Levanteküste Urlaub gemacht haben, fuhr Urban wieder nach Erding. Da Abfallkübel und Papierkörbe ebenso durchsucht worden waren wie jede Tasche von Neukams Zivilkleidung, 23
nahm sich Urban die Schallplattensammlung vor. Er wußte nicht genau, was ihn dazu veranlaßte. Es war ein Signal in seinem Hinterkopf. Bei den zweihundert LP’s ging es quer durch das Angebot von U- und E-Musik. Von Abraham bis Tschaikowsky war fast alles vertreten, Oper, Sinfonie, Kammermusik, das deutsche Lied, liturgische Choräle, Barockorgeln, Musical, Jazz und Swing. Sämtliche Plattenhüllen bis auf eine waren von der Schutzfolie befreit. Bei dieser noch ungespielten LP handelte es sich um Aufnahmen einer Italienerin. Urban notierte Namen, Titel und Hersteller. Vom Hauptquartier aus rief er Doris E. an, die sich bei der Schallplattenindustrie gut auskannte. Weder der Name der italienischen Sängerin noch der des Produzenten waren ihr bekannt. „Muß sich um eine Privataufnahme handeln“, sagte sie. „Wenn du willst, forsche ich nach.“ „Ich würde gerne wollen“, antwortete Urban. Am nächsten Morgen kamen die Ergebnisse hageldick. Das Stralman-Labor hatte ermittelt, daß das Super-Benzin in Neukams Golf mit Sicherheit zwischen Genua und Mailand getankt worden sein müsse. Kurz darauf meldete sich die Dame aus der Schallplattenbranche. „Ich sprach mit unserem Vertrieb in Turin. Der gab mir die Adresse des Aufnahmestudios. Von ihm bekam ich die Telefonnummer des Produzenten. Dem log ich das Azurblau vom Himmel herunter, wie gut ich die Nummer fände. Er witterte ein Geschäft und lieferte Einzelheiten. Die LP ist eine Privataufnahme dieser… wie heißt sie doch?“ „Maria Strata.“ „Sie verkauft sie in jedem Club, in dem sie auftritt. Aber sie tritt mal hier, mal dort auf. Im Sommer tingelt sie alle Discos ab.“ „Wo trat sie Mitte Juni auf? Mehr will ich nicht wissen.“ 24
Bis zum Abend erfuhr Urban, daß Maria Strata im Juni, zum Zeitpunkt von Neukams Urlaub also, in Rapallo gastiert hatte. Bei Dunkelheit war er schon unterwegs. * Ein trüber Tag an der Küste. Das Meer schimmerte graphitgrau, schwarz stachen die Zypressen in den Himmel. Die Toscanaberge umhüllte Gewölk. Es sah nach Regen aus, als Urban die Serpentinen zu der Villa hinauffuhr, anhielt und so lange läutete, bis jemand die Tür öffnete. Die Frau war hübsch, schlank und damenhaft elegant, ähnlich der, die der pensionierte Amtsrat beschrieben hatte. Und sie hatte rote Locken. – Vielleicht die nächste Stufe zur Spitze des Turmes, dachte Urban. Er kam sofort zur Sache und stellte sich auf deutsch vor, was jedoch keinerlei Überraschung auslöste. „Urban, Bundesnachrichtendienst.“ Mit stummer Geste wurde er hereingebeten. In der Wohnhalle flackerte Feuer im Kamin. „Es wird hier immer gleich kalt.“ Die junge Frau fröstelte. Sie mochte Mitte Zwanzig sein. „Major Neukam ist tot“, begann Urban. „Ich weiß.“ „Woher?“ fragte er. „Es stand in allen Zeitungen, die Sache mit dem Starfighter und der Bombe. Eine Maschine aus Erding, hieß es. Der Pilot, ein Major, führte die Anfangsbuchstaben W. N. Den Rest reimte ich mir zusammen.“ „Ahnten Sie“, fragte er, „daß so etwas passieren könnte?“ „Er war merkwürdig still, fast verschlossen, als er hier war“, erklärte die junge Frau und brachte eine Karaffe mit rotem Wein und zwei Gläser. „Wie fanden Sie mich?“ wollte sie wissen. 25
Urban sparte sich die abgedroschene Bemerkung, daß dies eine lange Geschichte sei, sondern lieferte Stichpunkte: „Italienisches Benzin im Golf-Tank, eine Schallplatte. In der Discothek in Rapallo, wo die Strata sang, fragte ich nach ihm und zeigte Fotos. Man erinnerte sich an ihn und an Sie. Vor allem an Sie, die rote Tedesca.“ „Ja, wir waren einige Male da. Er mochte die Strata und ihre Lieder.“ Urban nahm einen Schluck von dem Wein. „Mein Name ist Neukam“, überraschte ihn die junge Frau, „Ämely Neukam.“ Urban zeigte nicht, daß er sich wunderte. „Seine Schwester?“ Ein Lachen stand vor ihrer Antwort. „Seine Mutter.“ Noch bevor sie eine weitere Erklärung abgab, löste das Wort „Mutter“ bei Urban eine Reihe von Informationssprüngen aus. „Ich bin seit meinem vierten Lebensjahr Waise und mittellos. Ich heiratete Werners Vater. Es war eine reine Ve rnunftsehe aus Versorgungsgründen, bis ich, bis wir feststellen mußten, daß er uns hinterging.“ Sie deutete zur Decke. „Sogar dieses Haus hat Neukam verkauft. Ohne unser Wissen. Aber genaugenommen war alles Werners Schuld. Er hatte immer ein gespanntes Verhältnis zu seinem Vater. Der Alte nannte ihn undankbar und übertrug den Haß gegen seinen Sohn bald auch auf mich. Er glaubte, ich würde auf Werners Seite stehen, ja, ich würde sogar…“ „Sie würden was?“ half ihr Urban weiter. „Ich würde unsere Ehe mit seinem Sohn brechen.“ Urban versuchte in ihren Augen zu lesen. „Taten Sie das?“ Sie senkte den Blick. „Wo denken Sie hin.“ 26
Urban stand auf, nahm das Glas mit zum Kamin und lehnte sich gegen den Sims. „Warum ist Major Neukam dermaßen ausgeflippt?“ Je öfter sie behauptete, daß sie es nicht wisse, desto weniger glaubte er es ihr. „Wohin versuchte Neukam die Bombe zu bringen? Um nichts anderes ging es doch.“ „Er sprach nie ein Wort darüber“, versicherte sie. Auf dem Kaminsims stand ein Leuchter aus Murano-Glas, darin eine lila Kerze. Neben dem Leuchter ein Buch, stark zerlesen. Urban griff automatisch danach. Bücher mit abgegriffenem Ledereinband faszinierten ihn. Er schlug es auf und konnte die Schrift weder lesen noch entziffern. Es handelte sich um Hieroglyphen. „Altägyptisch“, fragte er, „ein Faksimiliabdruck?“ Da geschah etwas Unerwartetes. Beinah giftig schnellte Ämely Neukam vom Sessel hoch, entriß Urban das Buch und begann es zu zerfetzen. Das Buch hatte also Bedeutung für sie. – Urban hätte sie an der Zerstörung des Buches hindern können, aber es gehörte ihm nicht. Außerdem war sie so fabelhaft in Rage. „Diese verdammte Schwarte“, fluchte sie. „Er hatte nichts anderes zu tun, als ständig seine Nase hineinzustecken.“ Die Fetzen flogen ins Kaminfeuer. Das Feuer loderte auf. „Wann?“ fragte Urban betont ruhig, in de r Hoffnung seine Lässigkeit würde auf sie überschlagen, aber das steigerte eher noch ihre Wut. Sie schrie: „Immer wenn er hier war. Eines Tages brachte er diesen Schinken mit und las und las und studierte deswegen sogar die Sprache, die Schriftzeichen und was weiß ich. Er hatte nichts anderes mehr im Sinn. Das alles und sein Vater, das führte dahin, wo wir jetzt sind.“ Sie warf Seite um Seite ins Feuer. Die Flammen leckten gierig nach dem vergilbten Papier. 27
„Er war wie verhext davon, einfach verrückt danach, total weggetreten. Und das bei einem Intelligenzquotienten von hundertachtundvierzig. Ein Mann, der Düsenjäger pilotiert. Ich habe genug. Ich bin sicher, daß er deswegen starb, und nun kommen Sie und wühlen alles wieder auf. Ich habe es satt! O Gott, wie ich es satt habe!“ Von da ab versuchte Urban zu retten, was zu retten war. Es war wenig genug. Er konnte sie nicht daran hindern, daß sie den Rest des etwa hundertfünfzig Seiten starken Buches ins Feuer warf. Nur ein angekohltes Blatt rettete er. Gegen ihren heftigen Protest steckte er es ein. Allmählich beruhigte sich Ämely Neukam wieder. Als sie einen Schluck Rotwein genommen hatte, sagte sie, eine Locke hinters Ohr streichend: „Ich habe schon Schlimmes erfahren in meinem Leben, aber was ich mitmachen mußte, als ich in diese Familie kam, das geht auf keine Kuhhaut, das hält ein Mensch im Kopf nicht aus, darüber kann man Romane schreiben.“ Urban holte sein Notizbuch heraus, öffnete es, legte den Kugelschreiber darauf und sagte: „Dann schreiben Sie bitte!“ Mit einer heftigen Bewegung wischte sie Buch und Schreiber vom Tisch. Von da ab vermochte er kein Wort mehr aus ihr herauszuholen. 4. Sie waren mit Hubschraubern, Landrovern und einer schnellen Hochseeyacht ausgerüstet. Die Yacht lag im Golf von Suez. Die Geländewagen waren in der arabischen Wüste unterwegs, und der Hubschrauber wartete auf ihr Funksignal, um ihnen zu folgen. Aber noch war es nicht soweit. Die Stollenreifen ihrer Geländewagen mahlten sich von der Hafenstadt Ras-Zafarana nach Westen. Was die Karte 28
als Piste verzeichnete, entpuppte sich als Geröll mit Sand, mitunter etwas zusammengewalzt, meist aber staubig und immer voll tiefer Löcher. Ihr Scout hatte das gewußt und deshalb zur Vorsorge geraten. Achtzig Kilometer vor der Oase Bîr Buerât ließ er den aus drei LR-88 bestehenden Konvoi in ein Dünental hineinfahren. „Wird Zeit zur Maskerade, Gentlemen“, rief er. Die neun Mann des Kommandos wechselten Nummernschilder, Pässe und Kleidung so rasch, als hätten sie es geübt. Eine halbe Stunde später waren sie nicht mehr Amerikaner auf einem Saharatrip, sondern eine Gruppe deutscher Abenteuerreisender, die vom Roten Meer nach Alexandria fuhr um dort die Fähre nach Italien zu kriegen. Sie führten sogar mehrere Stangen deutscher Zigaretten und Kartons voll deutschem Dosenbier mit. Im Falle von Polizeikontrol-len konnten solche Geschenke die Täuschung perfekt machen. „Weiß nicht“, sagte der Teamchef der Amerikaner zu dem Pfadfinder, „ob das wirklich nötig ist.“ „Die Deutschen sind einfach beliebter hier, Sir.“ „Aber unsere Dollars nimmt man. – Und unsere Waffen.“ „Wir nehmen auch russische Waffen“, erwiderte der ägyptische Scout. „Die Russen kauften dafür nur unsere Basare leer, die Amerikaner und die Briten aber haben es auf unsere jahrtausendealten Kunstwerke abgesehen, und die sind nicht mit Panzern oder Raketen zu bezahlen.“ „Außerdem ist die Ausfuhr verboten.“ Der Amerikaner hob beide Hände. „Mein Herz ist rein.“ „Noch“, betonte der Ägypter, „noch, Gentlemen. Aber nicht mehr lange, fürchte ich.“ Er kam sich nicht besser vor als diese Grabräuber, denn nichts anderes waren die Amerikaner. Andererseits hatte er noch eine offene Rechnung mit dem Staat. Im Krieg waren ihm zwei Söhne gefallen. Er bekam keine Entschädigung 29
dafür. Nicht mal einen Traktor, der ihre Hände auf dem Acker ersetzt hätte. Den Traktor würde er sich für die zehntausend Dollar kaufen, die ihm die Amerikaner bezahlten, wenn er sie nach Khalidia führte. Sie hatten ihm versichert, daß sie keine großartigen Kunstgegenstände außer Landes schmuggeln wollten. Es ginge ihnen nur um ein Grab, um das eines gewissen Abdu el Khim. Das Grab sollte 3000 Jahre alt sein. Bei Allah, dieses Grab war gewiß längst zu Staub zerfallen. Der Konvoi setzte sich wieder in Fahrt. Es war Nacht, als sie durch die Oase rollten. Trotzdem hielt sie die Wüstenpolizei an und nahm Kontrollen vor. Es ging nur darum, ob die Fahrzeuge ausreichend Gasöl und Wasser mit sich führten. „Wohin?“ fragte der Polizeioffizier in Englisch. „Beni Suef“, sagte der Amerikaner, „oberes Niltal.“ Nun wandte sich der Offizier in einer Sprache an ihn, die er nicht verstand, aber der Scout kam ihm zu Hilfe. Lange redete er auf den Offizier ein, dann konnten sie weiterfahren. Wieder auf der Piste, unter den Rädern Sand, über sich tintenblauer Himmel voller glitzernder Sterne, sagte der Scout: „Anhalten!“ Der Teamchef – er war Fahrer des ersten Landrover – ging vom Gas, nahm den Gang heraus und ließ den Wagen ausrollen. „Was ist denn jetzt schon wieder?“ „Hören Sie gut zu, Sir“, warnte der Scout, „wenn wieder eine Kontrolle kommt, dann redet nur einer, nämlich ich. Wissen Sie überhaupt, daß es vorhin um Haaresbreite ging? Der Offizier hat Sie deutsch angesprochen. Viele Offiziere hier sprechen deutsch. Und weil sie es sprechen, wollen sie es auch anwenden. Entweder Sie halten sich an meine Anordnungen, oder ich steige aus, Sir.“ „Dann kriegen Sie keinen Dollar.“ 30
„Und Sie landen im nächsten Gefängnis, Sir.“ Der Konvoi rollte weiter nach Westen. * Am nächsten Tag erreichten sie den Nil. Zwei Wagen blieben in El Maimun zurück. Nur einer, besetzt mit drei Amerikanern und dem Scout, fuhr am nächsten Morgen nach Khalidia. Ein Amerikaner hatte ein Buch bei sich, das er wie einen Reiseführer benutzte, obwohl es lange vor Herrn Baedekers Reisen auf uralten Druckstöcken mit handgeschnittenen Holzlettern hergestellt worden war. An einer Weggabelung stoppte der Geländewagen. „Wie geht es weiter?“ Der Mann mit dem alten Buch war unsicher. „Zum Teufel, Oakley“, fluchte der Teamchef, „Sie hatten doch wochenlang Zeit, den Text zu übersetzen.“ „Hieroglyphen lassen immer eine Vielzahl von Deutungen zu. Außerdem hat sich, selbst in dieser archaischen Landschaft, in dreitausend Jahren manches verändert.“ „Reden Sie keinen akademischen Quatsch, Mann, sagen Sie lieber, wohin. Nach links oder nach rechts?“ „Geradeaus, schätze ich.“ „Schätzt er“, kopfschüttelnd fuhr der Teamchef weiter. Oakley las aus dem antiken Text vor, was einem Mann mit Kamel auf der Reise von Fayzm nach Norden alles begegnete, nämlich Palmenhaine, Grabhügel, Salzsümpfe, Äcker und viele Schöpfräder. Nichts mehr davon war zu sehen. Aus dem alten Khalidia war eine Kleinstadt mit Lagerhäusern und Manufakturen, mit Moscheen und Kinos, mit Basaren, Wohnsiedlungen, Bussen und Autoverkehr geworden. Oakley, der Wissenschaftler, deutete nach Süden. 31
„Der Berg ist noch da, das Dorf der Toten. Dem vermochten die Zeitläufe nichts anzuhaben.“ Sie umfuhren die kleine Stadt nahe dem Nil. Als es steiler wurde, ließen sie den Landrover zurück und kletterten. Der Friedhof wirkte zerfallen. Aber was verkommen zu sein schien, waren die Gräber der Neuzeit. Über ihnen wucherte Salbei und Gestrüpp. „Das ist gewissermaßen die oberste Etage“, erklärte der Experte, „darunter liegen verschiedene Stockwerke.“ „Wieviele?“ „Ich würde sagen: für jedes halbe Jahrtausend eines.“ „Dann liegt unser Abdu el Khim aber verdammt weit unten.“ „Darauf machte ich schon aufmerksam.“ Der Blick des Teamchefs, der verantwortlich war, daß die Operation gelang und in der vorgesehenen Zeit auch durchgeführt wurde, schweifte über den antiken Friedhof, der einem lange Zeit unbebauten Acker glich. „Wir können die Bergspitze nicht zehn Meter tief abtragen. Das wären tausend Tonnen Erde. Wo ist die Grabkammer, die wir suchen?“ Der Scout deutete auf einen Hügel. Er bildete das Zentrum der Totenstätte. „Dort, denke ich“, sagte er, „wenn Abdu el Khim Steue reinnehmer des Königs und Dorfschulze war, dann hatte er seine Steingruft am höchsten Punkt. Das war Sitte damals, und es ist Sitte bis heute.“ Sie sicherten das Gelände gegen Beobachter, nahmen Bodenproben vor und erörterten mit dem Tiefbauingenieur die Art ihres Vorgehens. „Die Toten wurden immer weniger tief eingegraben“, sagte dieser, „aber acht bis zwölf Meter müssen wir runter, bis wir auf die Gruft stoßen.“ „Heute nacht geht’s los“, entschied der Teamchef. „Wie lange wird es dauern?“ 32
„Kommt darauf an“, meinte der Bauingenieur, „ob man graben oder bohren muß.“ * Die Landrover brachten alles mit. Bodenfräsen, SpiralErdbohrer und Förderband. Einer der Wagen ließ sich als Kleinbagger umrüsten. Im Licht abgeschirmter Tiefstrahler machten sie sich über das abgesteckte Quadrat her. Die ersten Meter waren nur mühsam zu durchdringen. Mit Elektromeißeln mußten sie die hartgebackene Schicht lokkern. Die Schaufel des Landrovers hob das Erdreich aus und kippte es auf einen Haufen. Holzstücke befanden sich im Lehmgeröll und Steine bis Kürbisgröße. Später kamen Knochen hinzu, dann ein Skelett zwischen Eichenbrettern. Bei vier Meter Tiefe hatte der Bagger keine Chance mehr. Sie bauten das Förderband zusammen und gruben mit Schaufel und Spaten weiter. Vor Sonnenaufgang maßen sie eine erreichte Tiefe von einundzwanzig Fuß. Der Teamchef befahl, die Grabstelle zu tarnen und die Arbeiten bis zur Abenddämmerung zu unterbrechen. Seine Männer waren am Rande der Erschöpfung. Der Zweitakter am Förderband wurde gerade abgestellt, da stieß ein Elektromeißel auf Widerstand, der sich wie Fels anfühlte. Es gab aber keinen gewachsenen Fels hier oben. Sofort machten sie weiter und konnten nach wenigen Minuten die ersten Platten freilegen. Die Hieroglyphen auf den Steinen wurden von Dr. Oakley, dem Wissenschaftler, richtig gedeutet. „Abdu el Khims Grab“, jubelte er. „Kein Zweifel.“ Der Teamchef ging zu dem Landrover mit den langen Antennen und rief auf Kurzwelle die Funkstation der Yacht. Auf seinen mehrmals gegebenen Code hin meldete sich diese. 33
„Der Patient kann abgeholt werden“, gab er durch. Trotz des heraufziehenden Tages wurde weitergewühlt. Sie brachen die Marmorplatten heraus, hoben sie mit hydraulischen Geräten ab und konnten bald in eine unbeschädigte Grabkammer einsteigen. Vier Stunden später übernahm der Helikopter ein grauschwarzes Paket, walzenförmig, etwa zwei Meter lang, das die Konturen eines mit Leinenbinden dick umwickelten menschlichen Körpers hatte. Mit der Mumie an Bord flog der Bell-Hubschrauber sofort wieder Richtung Suez-Kanal. Die drei Geländefahrzeuge erreichten auf getrennten Wegen Alexandria. Dort schifften sie sich auf der Ascona-Fähre ein, ehe die Grabschändung in Khalidia von den Behörden entdeckt wurde. * Nachdem die Hochseeyacht die Mumie in Gewässer verbracht hatte, wo sie dem Zugriff ägyptischer Marineeinheiten entzogen war, fuhr sie mit Höchstgeschwindigkeit in den Golf von Akaba. Einen Tag später legte sie in der israelischen Hafenstadt Eilat an, wo ein Düsenjet wartete und die Ladung übernahm. Mit einer Zwischenlandung zwecks Kerosinaufnahme in Miami/Florida lieferte die Boeing ihre Sonderfracht in Los Angeles/Kalifornien ab. Von dort brachte sie ein klimatisierter Lieferwagen zu den modernsten medizinischen Labors von ganz Kalifornien. Sie gehörten der Äskulap-Pharma-Corporation, einem Arzneimittelkonzern von weltweiter Bedeutung. Das Besondere an den weiträumigen Anlagen war, daß es in dem ganzen Gebäudekomplex neben Lifts und Treppen auch schräge Rampen gab. Die Rampen waren auf Veranlassung von David Kevin Lewis jr. eingebaut worden, der hundert Prozent des Aktienkapitals der APC hielt. 34
Lewis, ein Mann von nicht ganz fünfzig Jahren, konnte sich seit längerer Zeit nur im Rollstuhl fortbewegen. Nachdem man ihm gemeldet hatte, daß das Objekt endlich eingetroffen sei, begab er sich vom 15. Stock seines Verwaltungsgebäudes per Lift ins Erdgeschoß und rollte, begleitet von einem Kometenschwarm von Vizepräsidenten und Assistenten zum Labor-X, einer vor wenigen Wochen ins Leben gerufenen Sonderabteilung. Hinter ihm schlossen sich die Stahltüren. Kaltes Licht, noch verstärkt durch die weiße Kachelung des Raumes, machte nicht ihn, sondern die Mumie auf dem Operationstisch zum Mittelpunkt. Der schwerkranke D. K. Lewis blickte die herumstehenden Männer in den weißen Mänteln an und fuhr noch einen Meter näher an die Mumie heran. „Das ist er also“, sagte er leise. „Ich danke Ihnen, Gentlemen, für Ihren Einsatz an Ideen und Energie, womit Sie dies zuwege brachten.“ D. K. Lewis betätigte per Hebeldruck am Schaltkasten den Rollstuhlmotor und fuhr einmal um den Tisch mit der Mumie herum. Dabei machte man ihm ehrerbietig Platz. Als er die Runde beendet hatte, wandte er sich an einen Mann mit bärtigem Gesicht. „Wie wird es weitergehen, Professor?“ fragte er. „Wickeln Sie das Ding aus?“ „Der Inhalt, Sir“, sagte der Wissenschaftler, „würde unter Einwirkung der atmosphärischen Luft zu Staub zerfallen. Nein, wir betrachten die Hülle als sichernde Stütze.“ „Aber wie wollen Sie dem Geheimnis auf die Spur kommen?“ Der Professor deutete auf eine Reihe chromblitzender Geräte, deren Anschaffung drei Millionen Dollar gekostet hatte. „Röntgenaufnahmen?“ fragte D.K. Lewis. „Das würde Einspritzung von Kontrastmitteln erfordern, 35
Sir. Außerdem macht es nur die Beobachtung lebender Organe möglich. Eine wirklich risikofreie Diagnose erlaubt uns der Computer-Tomograph.“ „Und wenn das nichts bringt?“ „Bleibt als letztes das Transmissions-Ultraschallverfahren.“ Der Präsident der Äskulap-Pharma-Corporation hob müde die Hand. Er bekam schon wieder Schmerzen. Die letzte Spritze, statt eines Frühstücks eingenommen, ließ in der Wirkung nach. „Ihre Sache, wie Sie vorgehen, Gentlemen“, sagte er, „Hauptsache, es führt zum Erfolg. Unter Erfolg verstehe ich, dem Rätsel, das man dieser Mumie nachsagt, auf den Grund zu kommen und vielleicht …“ Er bat seinen Assistenten um eine Zigarette. Er bekam sie in den Mund gesteckt und angezündet. Nachdem er auf Lunge inhaliert hatte, fuhr er fort: „Mein Vater starb daran vor wenigen Jahren. Er hat mir neben ein paar zweifellos angenehmen Dingen auch diese teuflische Krankheit vererbt. Eine Million Dollar in bar, Gentlemen, demjenigen oder dem Team, das mir die Nachricht auf den Tisch legt, daß ich gerettet werden kann.“ Damit fuhr er hinaus. Er dachte nur noch an die schmerzlindernde Wirkung der Spritze, mit der die Krankenschwester oben auf ihn wartete. Unter der Tür stoppte Lewis den Motor seines Luxusrollstuhls und wandte sich mit großer Mühe um. „Bitte“, rief er, „gehen Sie unverzüglich an die Arbeit, Gentlemen!“ * Zuerst wurde die Mumie Computer-tomographisch untersucht. Gegen sie verhielt sich die Röntgentechnik wie eine eiszeitliche Steinschleuder zu einem modernen Gewehr mit 36
Gasdruckladung. Der Scanner, eine Strahlenkanone, rotierte um die Mumie wie ein Satellit um die Erde. Dabei tastete er Knochen, Knorpel, noch vorhandene Gefäße und Gewebe ab. Durch deren Widerstand wurden die Strahlen unterschiedlich abgeschirmt und auf der anderen Seite aufgefangen. Ein IBM-Computer übersetzte die 200 000 Meldungen pro Umlauf in ein Schnittbild der Mumie. Auf dem Bildschirm zusammengesetzt ließen sie den Arzt mehr erkennen, als wenn er das Messer zu Hilfe genommen und die Mumie in dünne Scheiben zerlegt hätte. Ein anderes Verfahren ermöglichte es sogar, dreidimensionale, also räumliche Bilder des Inneren herzustellen. Auch damit gaben sich die Experten in diesem Fall nicht zufrieden. „Ich schlage vor, noch die Sonographie einzusetzen“ , schlug der Professor vor. Mit Ultraschallimpulsen wurden Bilder aus der Innenwelt der Mumie gewonnen. Die Ergebnisse ließen immer noch Zweifel aufkommen. Deshalb setzte man zusätzlich das Transmissions-Verfahren ein, das eben erst die Forschungslabors ve rlassen hatte. Es wandelte Gewebeveränderungen, und waren sie noch so alt, in Signalschwankungen um. Allmählich kreisten die Wissenschaftler der AP Corporation das Problem so weit ein, daß es nur noch einer letzten Bestätigung bedurfte. „Ich bin für das Kernspinresonanzverfahren“, äußerte einer der Experten, „Es würde uns ein zusätzliches Fenster in das Innere der Mumie öffnen.“ Das dazu nötige Gerät wurde ausgeliehen, installiert und in Betrieb genommen. Es machte die magnetischen Eigenschaften von Atomkernen nutzbar. Wenn es noch geringe Zweifel gegeben hatte, dann waren sie jetzt ausgeräumt. 37
Der Professor faßte anhand der umfangreichen Untersuchungsunterlagen das Ergebnis zusammen: „Zweifellos hatte dieser Mann vor dreitausend Jahren Krebs.“ „Etwa in der Mitte seines Lebens.“ „Als er starb, war er achtzig.“ „Also überstand er ihn.“ „Wie kann man Krebs dieser Art überstehen?“ „Der Krebs schmolz einfach weg, auf einen nicht mehr wirksamen Punkt.“ Die übernächtigten Experten blickten sich an. „Dann sprechen diese alten Aufzeichnungen also die Wahrheit.“ „Abdu el Khim wurde durch einen ägyptischen Arzt vor dreitausend Jahren vom Krebs geheilt. Was wußten diese Leute, was wir nicht wissen?“ Einer der Anwesenden deutete auf das Buch mit der Hieroglyphenschrift. „Man muß es glauben.“ „Glauben heißt nichts wissen.“ „Rettung durch ein unbekanntes Lebewesen, ein Tier.“ „Das wir finden müssen.“ „Lassen Sie uns, Gentlemen“, sagte der Professor, „Licht ins Dunkel der Vergangenheit bringen, aber bitte erst mo rgen. Ich bin müde. Ich habe seit zweiundsiebzig Stunden kein Auge mehr zugemacht.“ 5. „Es geht nicht an“, erklärte einer der führenden Psychologen der NATO, „daß unsere Piloten einfach ausflippen. Ich beginne an der Tauglichkeit der Testverfahren zu zweifeln.“ „Oder er war organisch krank“, wurde eingewandt. „Dann sind unsere medizinischen Untersuchungsmethoden lückenhaft.“ 38
Hektisch wurde in den Unterlagen geblättert. „Letzter Generalcheck an Major Neukam, hinsichtlich Einsatzfähigkeit als fliegendes Personal bei Jagdverbänden, am zehnten März.“ „Vor vier Monaten also“, rechnete der Oberstarzt. „In dieser kurzen Zeit kann sich kein Organismus so rasch verändern, daß es bis in das charakterliche Verhalten Niederschlag findet.“ Einer der Gesprächsteilnehmer hatte ein Papier ausgegr aben. „Nach seinem Jahresurlaub sollte Neukam zu den Aufklärern versetzt werden.“ „Aber aus anderen Gründen“, erwähnte jemand. „Ein Zwischenfall bei einer Landung in Memmingen mußte erst geklärt werden. Noch steht nicht fest, ob es sich dabei um einen Fehler am Gerät oder bei der Bedienung handelte.“ „Die Befragung seiner Kasino -Kameraden ergab, daß sich Neukam verändert hatte. Er wirkte im Vergleich zu früher geradezu schweigsam und in sich gekehrt.“ „Wahrscheinlich eine Folge der schwebenden Untersuchung.“ Der Chef-Psychologe erlaubte sich, an die Tatsachen zu erinnern. „Man muß das alles, meine Herren, unter dem Aspekt dessen, was letzten Endes geschehen ist, betrachten. Major Neukam entführte in Kenntnis der Möglichkeiten eine mit einer Nuklearbombe ausgerüstete F-104. Wer zu so einer Handlung fähig ist, in dem müssen seelische Katastrophen vorangegangen sein.“ „Oder eine organische Erkrankung, die zu dem Kollaps führte“, beharrte einer der anwesenden Militärmediziner. Nachdem er dies geäußert hatte, stand er auf und gab eine Erklärung ab. „Da weder der Militärische Abschirmdienst noch andere Geheimdienste in der Lage sind, die Motive für Neukams 39
Handlungsweise zu klären, sind organische Veränderungen als Ursache seines Verhaltens nicht auszuschließen. Ich beantrage deshalb, in Übereinstimmung mit dem zuständigen Mann beim BND, Exhumierung der Leiche und Obduktion derselben.“ Der Oberstarzt sagte ergänzend: „Wie die Fehlersuche bei einem abgestürzten Flugzeug. Ist doch ganz selbstverständlich so etwas. Ich unterstütze den Antrag.“ „Warum nicht gleich?“ fragte ein anderer aus der Kommission. Die Exhumierung fand am 9. Juli, einem glühend heißen Sommertag, statt. Sie gestaltete sich insofern mühelos, als der Sarg mit den Überresten Neukams nicht erst ausgegraben werden mußte. Man hatte ihn auf einem kleinen italienischen Friedhof bei Neapel bestattet. Dort hatte er eines der üblichen Tombengräber bekommen, eine viereckige Röhre in einer senkrechten Mauer, groß genug, daß ein Sarg hineinpaßte. Das Loch war auf herkömmliche Weise mit einer Marmorplatte ve rschlossen worden. Unter Aufsicht eines Beamten der Staatsanwaltschaft, des Priesters und eines Gemeindesekretärs löste der Totengräber die Marmorplatte. Der Sarg wurde herausgezogen und von einem Kastenwagen der Polizei zur Pathologischen Abteilung des Krankenhauses gebracht. Die Chirurgen machten sich sogleich an die Arbeit. Sie gingen so gezielt ans Werk, wie ein Fernsehtechniker bei der Reparatur eines Gerätes. Sie wußten, welche Organschäden bei Routineuntersuchungen nicht ohne weiteres erkannt werden konnten. Doch weder im Verdauungstrakt noch bei Leber, Milz und Nieren stießen sie auf außergewöhnliche Veränderungen. Schließlich öffneten sie noch den Schädel. Das Gehirn des Toten wurde entnommen, sondiert, zerlegt 40
und zerschnitten. Damit beendeten die Ärzte die Obduktion. Sie gingen hinaus, zogen die Gummischürzen aus, streiften die Gummihandschuhe ab, entledigten sich der Kleidung, der Kopfbedeckung, des Schuhwerks und wuschen ihre Hände bis oben hinauf zu den Ellbogen. „Der Bursche war gesund wie ein Pferd“, lautete ihre einhellige Meinung. „Wer schreibt den Bericht?“ „Ich bin dran“, sagte einer der jüngeren Pathologen. Ein Helfer kam herein und fragte, was mit der Leiche zu geschehen habe. „Sollen wir sie einsargen, Dottore?“ Aus Erfahrung wußten die Ärzte, daß es immer wieder zu Rückfragen kommen konnte, die eine nochmalige Nac hschau erforderlich machten. „Zunächst in die Kühlung“, entschied der Arzt, der die Niederschrift des Befundes übernommen hatte, „für achtundvierzig Stunden. – Immer dieses Affentheater mit Untersuchungsbehörden, die alles besser wissen als unsereins.“ Dann gingen sie gemeinsam einen Espresso trinken. * Nach dem Besuch bei Ämely Neukam rief der BNDAgent Robert Urban in München an. „Obduktionsbefund negativ“, informierte ihn Sebastian, „sie haben ihn zerlegt wie ein Uhrwerk. Nichts zu finden.“ „Wie zu erwarten.“ „Wurde die Obduktion nicht von Ihnen angeregt?“ fragte der Oberst erstaunt, „ging das nicht auf Ihre Initiative zurück?“ „Kann sein.“ „Wie konnten Sie das betreiben, wenn Sie sich keinen Erfolg versprachen?“ 41
„Ich wollte“, entgegnete Urban, „nur die Fähigkeit der Mediziner damit kommentieren.“ „Sie hätten es natürlich besser gemacht“, höhnte der Alte. „Sie können ja bekanntlich alles viel besser.“ „Zunächst versuche ich nur, besser zu denken“, erwiderte Urban. „Irgendein Tatmotiv mußte Neukam schließlich haben. Auf dem Gebiet der Finanzen sehe ich keinen Grund. Er verdiente mehr als er ausgab. Frauen spielten keine so tragende Rolle in seinem Leben, daß er sich ihretwegen zu dieser Handlung hätte hinreißen lassen. Was bleibt noch? Haß, Rachegefühle? Er haßte nur seinen Vater, aber der ist tot. Und verrückt war er auch nicht. Sein Gehirn zeigte keinerlei Veränderungen, wie Sie mir bestätigen.“ „Zum Glück“, meinte Sebastian, „stellten wir keinen offiziellen Antrag auf Exhumierung und Obduktion.“ Der Alte dachte wie immer in Tausend-MarkscheinKategorien. Wenn ein so brisanter Fall gelöst werden sollte, dann durfte nach Urbans Meinung Geld keine Rolle spielen. Es spielte ja auch bei den Steuermilliarden, die der Staat verpulverte, indem er für Ostkredite Ausfallbürgschaften gab, die er dann bündelweise einlösen mußte, keine Rolle. Kreditmilliarden waren das, mit denen der Osten nicht nur seine Rüstung, sondern auch seine Geheimdienste bezahlte, denen man hier wieder gegenüberstand. Genau genommen finanzierte der Staat die eigene Armee und die des Feindes und sollte wegen Hochverrats erschossen werden. „Ziehen Sie mir die Kosten von den Überstunden ab“, sagte Urban. Durch das offene Balkonfenster drang Meeresrauschen. Es wirkte beruhigend. Trotzdem ließ ihn die Sache mit der Obduktion nicht los. Am Morgen, als er erwachte, dachte er wieder daran. Das kam ihm verdächtig vor. Sein Gehirn reagierte gewöhnlich nur dann auf diese Weise, wenn er etwas übersehen hatte und das Unterbewußtsein darauf hinweisen wollte. Ein ganz 42
natürlicher Vorgang bei Männern seines Berufes, und einfach erklärbar. Er hatte etwas eingespeichert und nicht abgerufen. Urban stand auf, ging ins Bad, putzte die Zähne, rasierte sich, duschte, zog sich an. Rückreise in dreißig Minuten. Das Frühstück kam aufs Zimmer. Mit Heißhunger machte er sich darüber her. Wie üblich war alles abgepackt, die Butter, die Marmelade, der Zucker, sogar die Sahne. Alles in Folie oder in Kunststoff verschweißt. Unvermittelt sprang er auf, eilte ins Badezimmer, schaute sich um und öffnete den kleinen Wandschrank. Ein Handtuch lag darin, ein zweites Zahnputzglas, ein Stück Seife. Zum Teufel, da war doch was mit einem Badezimmerschrank gewesen. Aber wo? Plötzlich der Funke, das Licht im Dunkel, die Erinnerung. Sofort rief Urban im Hauptquartier an und ließ sich mit dem Labor Stralman verbinden. „Was ist Canceron?“ fragte er ohne Einleitung. „Ein Medikament“, antwortete der Professor, „denke ich. Augenblick, wir gehen die Listen durch.“ Es dauerte nur solange, bis sich Urban eine MC angesteckt und zwei Züge gemacht hatte. „Canceron“, übermittelte Stralman, „ist ein Zytostatikum.“ „Und was ist ein Zytostatikum?“ „Ein Ernstfall-Medikament.“ „Bitte genauer!“ „Ein Mittel gegen Krebs. Ein krebszellenhemmendes Gift. Man dosiert es sehr hoch, denn man hat gewöhnlich nur die Chance eines einzigen erfolgreichen Angriffs. Das Risiko dabei ist, daß das Mittel nicht nur Krebszellen, sondern auch gesunde Körperzellen in Blut und Knochenmark abtötet.“ „Und das bringt den Patienten möglicherweise um.“ „So ist es. Deshalb kann man die Dinger nicht einfach lutschen oder schlucken.“ „Das würde man nur dann, wenn man todkrank ist.“ 43
„Oder wenn der Krebs geortet wurde.“ „Major Neukam war aber gesund wie ein Ochse.“ „Was hat das Canceron mit Neukam zu tun?“ „Ein Packung davon, fällt mir eben ein, lag in seinem Badezimmer.“ „Dann“, riet ihm der väterliche Stralman, „sollte man das den Ärzten, die die Leiche öffneten, mitteilen.“ „Sie fanden nichts.“ „Tumorartige Veränderungen sind bei Leichen schwer feststellbar. Die können außerdem so klein sein, daß man sie übersieht. Eine Milliarde Krebszellen passen in ein linsengroßes Gewebestück.“ „Ich habe im Moment keinen Draht nach Neapel“, bedauerte Urban, „für mich ist das zu umständlich. Bitte übernehmen Sie die Unterrichtung Ihrer Kollegen.“ „Du hörst von mir“, ve rsprach Stralman. * Fünfundzwanzig Stunden nach seinem ersten Besuch in der Villa Neukam fuhr Robert Urban noch einmal die Serpentinen hinter Rapallo bergan. Schon von weitem sah er, daß das zweiflügelige Gartentor auf der Straßenseite offenstand. Geöffnet war auch die Garage. Vor dem Hauseingang parkte ein Mercedes 280 SL mit hochgeschwenktem Kofferdeckel. Vorsichtshalber stellte Urban seinen CSI so in die Einfahrt, daß er sie blockierte. Auf dem Weg durch den Vorgarten kam ihm Ämely Neukam mit Koffern in der Hand entgegen. Sie war so überrascht, als hätte man sie beim Diebstahl ertappt, versuchte es aber zu überspielen. „Alles muß man hier selbst machen“, rief sie schwer atmend. „Sie verreisen?“ Eine rote Locke hing ihr in die Augen. 44
„Ich bin verreist und fahre jetzt nach Hause, nach Deutschland. Wem verdanke ich die Ehre Ihres nochmaligen Besuches? Wohl kaum dem Umstand, daß Sie den Wunsch nach einer privaten Begegnung hatten.“ „Der Obduktion Ihres Stiefsohnes“, nannte Urban als Grund. Ämely Neukam wuchtete die schweren Koffer in den Sportwagen. Er war schon ziemlich voll. Der Deckel ging nur mit Drücken zu. Dann bat sie Urban ins Haus. Drinnen hatte Urban nicht den Eindruck von einer geplanten, sondern eher von einer überstürzten Abreise. Sie bat ihn um eine Zigarette, lehnte sich erschöpft zurück und zeigte ihre nackten sonnenbraunen Beine, indem sie sie übereinanderschlug. Ihre Knie waren so rund wie der Ansatz ihrer Brüste. „Obduktion“, nahm sie den Faden auf. „Und…?“ „Zuerst negativ.“ „Darf ich schließen, daß man eine zweite Obduktion vornahm?“ „Richtig“, bestätigte er. „Sie fiel überraschend aus.“ „Positiv?“ „Ja und nein“, berichtete Urban. „Nachdem die Ärzte mit peinlicher Sorgfalt noch einmal alle Organe, die gewöhnlich von Krankheiten befallen werden können, untersucht hatten, fanden sie tatsächlich ein erbsengroßes Gewebestück, das ihnen mißfiel. Die hystologische Untersuchung ergab Krebs.“ Statt nun verwirrt zu sein, fragte sie kühl: „Wo saß es?“ Urban fühlte sich nicht kompetent. „Ich glaube irgendwo unter der Leber. Aber zweifellos hatte sich der Tumor zurückgebildet.“ Sie blieb weiterhin sachlich wie eine Finanzakte. „Was löste die zweite Untersuchung aus?“ 45
„Ein Medikament, das ich in der Wohnung Ihres Stiefsohnes entdeckte.“ „Ein Anti-Krebsmittel?“ „Das er aber nicht benutzte. Die Packung war fabrikversiegelt.“ Sie lächelte, aber ihr Lächeln wirkte einbetoniert. „Wie konnte sich der Krebs dann zurückentwickeln?“ „Das fragten sich die Ärzte, das fragten sie mich und jetzt frage ich Sie.“ „Man müßte Werner fragen können“, wich sie aus. Urban trat auf die Terrasse und lenkte sich am Anblick des Meeres, der Bucht, der Stadt, der Zypressen und Pinien ein wenig ab. Dann machte er, die Hände in die Taschen stoßend, kehrt. „Sie wissen doch etwas“, fuhr er sie an. Ämely Neukam hielt seinem Blick stand. Ihre Augen waren absolut unbewegt dabei. „Ja“, gestand sie leise. Da wußte er, daß zumindest der erste Damm gebrochen war. Jetzt würde sie auspacken, ohne daß er weiteren Druck gab. Leise begann sie zu erzählen. „Es war im Herbst vergangenen Jahres, als Werner begann, sich nicht mehr wohl zu fühlen. Zwar fanden die Ärzte nichts, doch er gab keine Ruhe und ließ sich in der deutschen Majoklinik am Rhein unter falschem Namen untersuchen. Man entdeckte den Tumor. Er hatte ihn wohl schon lange in sich. Dieses Teufelszeug braucht ja ein Jahrzehnt, um zu entstehen. Die Ärzte rieten zu einem Generalangriff, wiesen ihn aber darauf hin, daß dies auch den Patienten ums Leben bringen könne. Die körpereigene Abwehr bricht durch die Überdosis an, an…“ „Zytostatika“, half ihr Urban. „… völlig zusammen. Selbst harmlose Keime in Rachen und Darm kann der Organismus dann nicht mehr in Schach halten. Das Ende ist meist der Tod oder Siechtum. Auf kei46
nen Fall hätte er jemals wieder fliegen können. Und er liebte die Fliegerei über alles.“ „Der Tumor ist kleiner geworden“, erwähnte Urban, „wie ist das möglich? Autogenes Training half da wenig.“ Hier schien Ämely Neukam zweifellos überfragt. „Werner wurde immer verschlossener“, sagte sie, „nach dem Tod seines Vaters tauschten wir anfangs noch unsere Probleme aus, dann unternahm er eine heimliche Reise, ich weiß nicht wohin. Von da ab war er der große Schweiger. Er befaßte sich mit Hieroglyphenschrift und hatte immerzu die Nase in diesem verdammten Schmöker.“ „Den Sie verbrannten“, erinnerte sich Urban. „Von dem Sie aber eine Seite an sich nahmen. Ich habe es wohl bemerkt.“ Achselzuckend gab er zu, daß die Übersetzung nichts ergeben hatte, als das Ende einer Geschichte, die sich vor dreihundert Jahren irgendwo am oberen Nil ereignet hatte. „Was für eine Geschichte?“ wurde sie neugierig. „Ein Mann starb. Er war Steuereinnehmer und Dorfschulze unter Ramses. Er hinterließ acht Söhne und zwei Töchter. Er war hochbetagt, als er dahinging. Er wurde einbalsamiert und beerdigt. Mehr stand nicht im Schlußabsatz. Der Ägyptologe in Genua versucht zwar, an den kompletten Text heranzukommen, aber das dürfte schwierig sein.“ Ämely Neukam gab sich jetzt nachdenklich. „Was faszinierte Werner so sehr an diesem Buch?“ „Was“, setzte Urban nach, „was wissen Sie noch, Gnädigste?“ Sie gab sich einen Ruck. „Werner sagte einmal, er brauche Geld. Viel Geld. Unermeßlich viel. Mehr als durch das Erbe, falls es uns zugesprochen werden sollte, jemals zu erwarten sei. Jetzt wird mir klar, daß er es für die nächste Stufe seiner Krebsbehandlung benötigte.“ 47
„Der Tumor war zwar zusammengeschmolzen, aber nicht völlig beseitigt.“ „Er sprach von einem Geschäft, einem gefährlichen Geschäft.“ „Die Bombe“, sagte Urban. „Einem Geschäft mit einem Staat in Nordafrika.“ „Ägypten.“ „Der Name Tripolis fiel gelegentlich.“ „Libyen?“ Urban schwante Schlimmes. „Oberst Gaddafi ist schon lange heiß auf so ein Ding.“ „Fragen Sie ihn doch“, riet Ämely, „sicher sollte von ihm auch das Geld kommen.“ Urban drückte die Zigarette aus. „Wollen Sie mich in den Untergang hetzen?“ „Warum nicht.“ „Wenn ein Mann wie ich bei Nachforschungen in Libyen erwischt wird, ist er des Todes. Ich gehöre dort zu den meistgesuchten Personen und stehe auf der Abschußliste ganz oben.“ „Dann hätte ich“, erwiderte die schöne Rotlockige feinsinnig, „ja einen unangenehmen Verfolger los.“ Urban fürchtete, daß sie in diesem Augenblick aussprach, was sie dachte. 6. Immer wenn David Kevin Lewis die Injektion hatte, wurde seine Stimme fistelig. Dann fühlte er zwar Titanenkräfte in sich, aber jeder Versuch, den Rollstuhl zu verlassen, scheiterte. Seine Kräfte saßen im Kopf, im Denkapparat, aber nicht in den Muskeln. Mit dem Rollstuhllift fuhr er vom Arbeitszimmer seiner Hollywood-Villa direkt in den Swimmingpool hinunter. Als der Rollstuhl eintauchte und sich sein Körper bis zum Hals im vorgewärmten Wasser befand, atmete der Indus48
trielle tief ein. Er begann zu schweben. Jetzt reichte die Bewegungsfähigkeit der Muskeln gerade aus, um mit eigener Kraft schwimmend vorwärtszukommen. Nach zwei Bahnlängen im lagunengrün gekachelten Becken war Lewis jedoch so erschöpft, daß er sich mit Hilfe eines aufblasbaren Gummiringes treiben ließ. Sein schwarzer Diener kam über die Terrasse herüber und stöpselte das Telefon in den Außenanschluß. „Washington für Sie, Sir.“ David Kevin Lewis paddelte zum Beckenrand, nahm den Hörer aus der Hand seines Dieners entgegen und meldete sich. Sein Freund, der Senator war am Draht. „Mitch Brenner“, meldete er sich. „Ich komme eben aus der Sitzung des Kontrollausschusses.“ Lewis schien auf diesen Anruf gewartet zu haben, er fragte ungeduldig: „Ist das Präparat durch?“ „Sie verlangen neue klinische Tests“, bedauerte sein Freund, mitteilen zu müssen. „Das dauert Jahre“, erwiderte der Industrielle enttäuscht, „und kostet zehn Millionen Dollar.“ „Sie behaupten, daß die Normen nicht erreicht seien.“ „Diese verdammten Idioten“, fluchte Lewis, „es ist das einzige bisher wirksame Präparat gegen Rheuma. Nur wer nie Schmerzen in den Gliedern hatte, kann dieses Gottesgeschenk ablehnen.“ Natürlich wußten sie beide, daß nicht Gott dieses Geschenk der AP-Corporation beschert hatte, sondern daß die jahrelange Arbeit von hundert hochbezahlten Wissenschaftlern dahinterstand und daß möglichst schnell ein goldener Regen für Lewis’ Konzern daraus werden mußte. „Die Gutachter behaupten, die Nebenwirkungen seien noch nicht ausreichend erforscht.“ „Und unsere Gegengutachten, sind die ein Dreck?“ 49
„Man hat sie nicht so stark bewertet, weil man annimmt, daß sie bestellt sind, zumindest aber aus Gefälligkeit erstellt wurden von Leuten, die…“ Barsch unterbrach Lewis den Senator. „Von absolut unantastbar neutralen Experten.“ „… die dir auf irgendeine Weise verpflichtet sind, Kevin.“ „Wer behauptet das?“ schrie Lewis außer sich vor Wut in den Hörer. „Das FBI.“ Diese drei Buchstaben besänftigten Lewis nicht nur sofort, sie erschreckten ihn auch. „Soll das heißen, daß man die Bundeskriminalpolizei damit befaßt hat?“ „Ihre Antikorruptionsabteilung.“ „Gegen mich, einen Mann mit so großen Verdiensten, gegen mich setzt man das FBI an?“ stöhnte Lewis. „Man befürchtet eben Manipulationen der Testergebnisse. Darin ist der Staat empfindlich.“ Lewis war sich klar darüber, daß man mit dieser Androhung seinen Einspruch abwürgen wollte. Bluff oder nicht, sie hatten sein Rheumatex auf Jahre hinaus blockiert. Vielleicht steckte auch die Konkurrenz dahinter, die er im Re nnen um ein wirklich wirksames Rheumapräparat abgeschlagen hatte. Wer kannte schon die letzten Hintergründe. So bitter die Nachricht auch klang, er nahm sie hin wie ein eiskalter Top-Manager. „Dank dir, Mitch“, sagte er. „Das war eine Vorausinformation, die ich eigentlich gar nicht geben durfte“, äußerte der Senator noch. „Du weißt bis zur offiziellen Verlautbarung von nichts.“ „Kein Wort nach draußen“, versicherte Lewis. „Aber daß ich intern Gegenmaßnahmen ergreife, wird doch erlaubt sein.“ „Daß du taktische Pläne dafür in der Schublade hast, ist mir klar. Die Äskulap-Pharma-Corporation ist berühmt für 50
ihre Generalstabsarbeit bei Forschung, Produktion, Marketing und Werbung.“ „Laß dich mal wieder sehen, Mitch“,, sagte Lewis, „wenn du in Kalifornien bist.“ Der Senator versprach vorbeizuschauen. Sie legten auf. Der Pharmaindustrielle tippte eine zweistellige Zahl in das Telefon. Sie verband ihn über Wählautomatik mit der Wohnung eines seiner Direktoren. Der Apparat gongte, als die Verbindung stand. Jetzt erst hob der Präsident ab. „Hier Lewis“, schnarrte er, „Plan Cäsar. Kommen Sie herüber und bringen Sie alles mit. Bis in einer Stunde. Danke.“ * Der Präsident der AP-Corporation war mit dem Rollstuhllift in sein Arbeitszimmer hinaufgefahren und hatte sich mit Hilfe seines Dieners angekleidet. Dann nahm er sein Abendessen, das aus einem vitaminreichen Mixgetränk, sowie einem Dutzend Tabletten bestand, zu sich. Die Tabletten waren verschiedenfarbig, meist rund oder länglich, es gab aber auch Kapseln darunter mit Pulvern oder gelatineartigem Inhalt. Nach Einnahme des üppigen Dinners fühlte sich Lewis meist schlechter als vorher. Nicht, weil es seinen Feinschmeckergaumen in keiner Weise kitzelte, sondern weil unter den Tabletten einige waren, die nicht in seinen eigenen Fabriken hergestellt wurden und deshalb bei der Konkurrenz gekauft werden mußten. Das rief bei ihm jedesmal Brechreiz hervor. Aber auch die drittgrößte Arzneimittelfabrik der Welt konnte nicht die ganze Palette bekannter Heilmittel abdecken. Wenig später wurde ihm Fin Bonnevie, sein Vizepräsident, gemeldet. Bonnevie machte seinem Namen alle Ehre. Der siegreich wirkende blonde Hüne sah aus, als lebe er wirklich gut. 51
Gegen soviel Kraft und Gesundheit konnte Lewis nur bestehen, indem er Bonnevie auf Mittelmaß reduzierte: „Ihr Halbjahresbericht“, empfing er ihn, „ist eine Katastrophe.“ „Das sind die Computerwerte, Sir“, erwiderte der Mann, der im Konzern für die Finanzen und den Verkauf zuständig war. „Der Computer“, entgegnete Lewis, „kann nur auswerfen, was man ihm eingibt. Sie haben ihn mit schlechten Zahlen gefüttert, Bonnevie.“ „Zahlen sind Fakten, Sir.“ „Schlechte Zahlen, schlechte Geschäfte. Wir produzieren zu teuer und verkaufen zu wenig bei zu hohem Betriebsaufwand. Und wer verantwortet das – Sie, mein Lieber.“ Unbeeindruckt von dieser Schelte legte Bonnevie die korrigierte Halbjahresbilanz vor. Sie sah nicht gut aus. Schon seit acht Monaten schrieb der Konzern rote Zahlen. Jeder wußte warum, aber Lewis forderte, daß seine Manager Lösungen fanden. Dafür bezogen sie Gehälter von einer halben Million Dollar im Jahr. Nachdem er die Blätter kopfschüttelnd studiert hatte, ließ er sie zu Boden fallen. „Daß weniger Arzneimittel konsumiert werden“, sagte Lewis, „daß es zu viele gleichwertige Präparate auf dem Weltmarkt gibt, daß andere Länder unsere Rezepte klauen und in Waschküchen unsere führenden Medikamente billig nachgeahmt werden, das alles wissen wir seit langem. Aber was gedenken meine Herren Vizepräsidenten dagegen zu tun?“ Bonnevie faßte es in einen Satz: „Unsere Rettung ist Rheumatex.“ Beide wußten, was Rheumatex in der Entwicklung gekostet hatte. Es hatte etwa die Summe verschlungen, die in der Bilanz als Minus stand. Jeder hatte gehofft, daß Rheumatex das sensationelle Mittel auf dem Weltmarkt werden würde. 52
„Rheumatex ist noch nicht genehmigt“, eröffnete Lewis bedrückt. „Kam soeben aus Washington durch.“ „Mein Gott!“ Bonnevies Gewinnergesicht bekam einen Ausdruck, als habe er persönlich eine fürchterliche Niederlage erlitten. Doch er faßte sich rasch. „Die USA sind nicht der Weltmarkt, Sir.“ Mit dem Rollstuhl umrundete Lewis den zartblauen Chinateppich. Unmittelbar vor Bonnevie hielt er an. „Wir kennen das doch. Wir kennen das schon von Mistofal her. Kaum läuft Werbung und Verkauf in Europa und Asien an, lanciert die Konkurrenz Meldungen in die Zeitungen, daß wir im Ausland ein Präparat anbieten, dem daheim die Zulassung versagt wurde. Und wenn die Gründe für die fehlende Lizenz noch so fadenscheinig sind, damit macht man das Mittel kaputt, obwohl es, wie wir alle wissen, gut ist.“ Sie beleuchteten ihre Aussichten nach allen Seiten hin. Am Ende stand die Frage, wie es möglich war, Kosten von vielen Millionen Dollar aufzufangen. Noch bevor sie diesen Punkt näher erörterten, ergriff David Kevin Lewis Vorsorgemaßnahmen. Durch Betätigung eines Infrarotsenders ließ er die eisernen Rollos hinter dem Fenster herunterfahren und schaltete den Störsender ein, der, für fremde Ohren nicht vernehmbar, jedes heimlich eingebaute Mikrofon unwirksam machte. „Was halten Sie vom Projekt Abdul?“ fragte der Präsident seinen Stellvertreter. Bonnevie wußte, was der kranke Lewis gerne gehört hätte. Er wäre auch in der Lage gewesen, seiner Meinung eine entsprechende Färbung zu geben, brachte es aber nicht fertig, einen Mann, der im Rollstuhl saß und dessen letzte Hoffnung sich an das Projekt Abdul klammerte, zu belügen. „Wir machen nur winzige Schritte nach vorn, Sir.“ „Und ich dachte“, erwiderte Lewis verzweifelt, „daß angesichts der vi elen Koryphäen, die ich angesetzt habe, selbst 53
wenn jeder von ihnen nur schneckenhaftes Tempo vorlegt, sich diese Anstrengungen doch zu einem sichtbaren Erge bnis vervielfältigen würden.“ „Die letzten Untersuchungen“, versetzte Bonnevie, „haben die Rekonstruktion von Zellstrukturen ermöglicht, die man zumindest als körperfremd bezeichnen muß, Sir.“ „Also nicht zu einem menschlichen Organismus gehörig.“ „Und trotzdem in ihm existieren.“ „Aber nachträglich eingebracht wurden.“ „An die Stelle des ursprünglichen Krebsherdes, Sir.“ Beiden war hinreichend bekannt, welchen Aufwand an wissenschaftlicher Energie und Einfallsreichtum es gekostet hatte, um aus der dreitausend Jahre alten Mumie des Abdu el Khim solche Erkenntnisse zu gewinnen. „Ist das gesichert?“ vergewisserte sich Lewis. „Absolut, Sir.“ „Was sind es für Zellen?“ „Hier helfen uns zunächst die Aufzeichnungen der KhimSöhne weiter.“ Lewis lachte bitter auf. „Glaubt ihr denn noch an dieses Fabelwesen von einem Tier, das der Arzt am Hofe König Ramses dem Steuereinnehmer eingepflanzt haben soll, damit es ihm den Krebs wegfraß?“ „Das ist die im Volk verbreitete Legende“, erwähnte der Vizepräsident. „Wir sind uns klar darüber, daß man nur bestimmte Organe dieses Tieres transplantierte, die dann den Tumor beseitigten.“ Die Hände des Kranken ballten sich zu Fäusten, obwohl ihm dies schwerfiel. Seine Stirnadern schwollen an. „Dann, zum Teufel“, schrie er mit Fistelstimme, „sucht mir dieses Lebewe sen, dieses Zaubermittel!“ „Wir sind dabei, Sir.“ „Es gibt doch eine Beschreibung.“ „Sie ist ungenau, Sir.“ 54
„Wozu beschäftige ich die besten Zoologen Kaliforniens?“ „Dieses Tier lebte vor dreitausend Jahren in einem anderen Teil der Welt, Sir. Es ist vermutlich ausgestorben. Die chemische Umweltverseuchung seit dem zweiten Weltkrieg hat allein mehrere tausend Arten bei Säugetieren, Vögeln, bei Fischen, Kriech- und Lurchtieren beseitigt. Nur leider bei den Stechfliegen nicht.“ „Ich weiß“, stöhnte Lewis, „Maikäfer, die in meiner Jugend noch millionenfach umherschwirrten, werden heute in den Schulen zu zwei Dollar das Stück gehandelt. Bald we rden unsere Kinder fragen, ob es wirklich Hasen gibt. Eines Tages wird man sie nur noch aus Bilderbüchern kennen, oder in Form von Schokolade.“ „Unsere Experten sind dabei, das rätselhafte Wesen zu rekonstruieren, Sir.“ „Wie steht es mit der Rückzüchtung?“ „So was dauert viele Jahre“, befürchtete Bonnevie. „Und solange…“, der Konzernchef stöhnte auf, „… soviel Zeit habe ich nicht mehr.“ * Im Hangar eines Sportflugplatzes auf der Insel Kreta erfuhr der amerikanische Lear-Jet eine Veränderung seines Äußeren. Der blaue Längsstreifen vom Cockpit bis zum Leitwerk sowie das goldene Firmenemblem, ein Äskulapstab umgeben von einem Sternenkranz, wurde überspritzt. Nun glich das elegante Flugzeug, Weiß in Weiß, schon am Boden einer stromlinienförmig gestylten Wolke. Die Besatzung baute eine Reihe von Kameras in die Maschine ein. Neben Geräten, die mit herkömmlichem Farbfotomaterial arbeiteten, kamen noch zwei Videosysteme zur Verwendung, welche ihre Bilder zwecks Speicherung auf Magnetband elektronisch umwandelten. Das hatte den Vo r55
teil, daß notfalls zwölf Stunden lang die unter der Maschine vorbeiziehende Landschaft festgehalten werden konnte. Sehr früh am Dienstag morgen traf aus Athen ein Mann ein. Dr. Nicolo Navarro, gebürtiger Italiener, Professor der Universität Urbino, galt als einer der bedeutendsten Ägyptologen der Welt. Von ihm behauptete man, er kenne Ägypten und seine Geschichte besser als selbst die Ägypter und jeder andere vor ihm. Dr. Navarro hatte für hohes Honorar und gegen die Verpflichtung absoluten Stillschweigens die Aufgabe übernommen, das Flugzeug zu führen. Nicht, indem er die Steuerung betätigte, Dr. Navarro besaß nicht einmal einen Autoführerschein, sondern, indem er die Piloten zu bestimmten Punkten in Oberägypten dirigierte. Nach kurzer Begrüßung und Einnahme eines WellcomeDrinks startete der Lear-Jet Richtung Alexandria über das Meer. Der zweistrahlige Jet brachte die Entfernung bis zum Nildelta in fünfzig Minuten hinter sich. Das Auftauchen des afrikanischen Festlandes war für den Italiener kein Grund, sich im Schlaf stören zu lassen. Selbst als der Firmenjet Kairo überflog und nilaufwärts El Minya anvisierte, schlummerte er noch. Der Copilot wunderte sich. „Wofür wird der eigentlich bezahlt“, äußerte er unfreundlich. „Er hat sich seinen Armbandwecker gestellt. Der wird ihn schon wecken“, antwortete der Pilot. „So was von Nerven.“ „Ja, der hat die Ruhe weg. Wie du, wenn du zu Hause den Hund spazierenführst, immer auf den gleichen Wegen zu den gleichen Bäumen.“ „Angeblich kennt er jede Tempelsäule und jedes Pharaonengrab.“ 56
„Er weiß, daß das, was wir suchen, hier noch nicht sein kann.“ „Aber mehr als zweimal dürfen wir diese Gegend nicht überfliegen. Die ägyptische Luftraumkontrolle mag nicht die modernste der Welt sein, aber blind ist sie auch nicht. Man wird Fragen stellen, was ein Privatjet hier herumzugurken hat.“ „Der Flug ist gemeldet. Wir bringen Bergbauingenieure in den Sudan.“ Als sie die Ruinen von Theben unter sich hatten, Luxor überflogen und der riesige Nilstau südlich des AssuanDammes in der Ferne wie Quecksilber glitzerte, riß dem Copiloten die Geduld. Er war der für Sonderaufgaben zuständige Mann. „Das Licht wird von Minute zu Minute schlechter“, sagte er, „die Sonne steht im Zenit, kein Schattenwurf, keine Kontraste mehr. Ich wecke ihn jetzt.“ „Unnötig, Signore“, machte sich hinter ihnen jemand bemerkbar, „ich bin schon zur Stelle. Bitte würden Sie, von jetzt ab in vierzig Sekunden, den Kurs geringfügig auf eins neun fünf Grad ändern.“ „So genau wissen Sie das?“ wunderte sich der Pilot. „Es ist eine Provinz“, erklärte der Italiener, „die ich leider seit drei Jahren nicht mehr besuchen konnte. Nach allem, was ich an Unterlagen besitze, kann sich das Gesuchte nur hier befinden.“ Damit verschwand er wieder. Als der zweite Pilot wenig später seinen Sitz im Cockpit räumte, um dem Professor behilflich zu sein, lag dieser im Sessel und beobachtete das Bild, das die Außenkamera auf den Monitor übertrug. Ab und zu nahm er sein Fernglas, um einen Blick durch das Bulley nach unten zu werfen. „Jetzt auf zwei eins fünf Grad gehen“, rief er, „wenn ich bitten dürfte.“ Die Magnetköpfe der Videorecorder begannen sich zu 57
drehen. Immer wieder den Kurs korrigierend, ließ Dr. Navarro den Piloten eine Art Suchkreis beschreiben. In den Stunden bis zum Nachmittag, flogen sie auf diese Weise ein Gebiet von nahezu viertausend Quadratkilometern ab. Es handelte sich meist um Steinwüste zwischen dem Kebir Plateau und der Oase Dakhla. Gegen 16 Uhr 45 zeigte sich der Italiener vom Ergebnis sehr beeindruckt, bat aber aus Sicherheitsgründen noch eine Spirale zu ziehen. Bald ging der Treibstoff zu Ende. Sie flogen das israelische Eilath am oberen Zipfel des Golfes von Akaba an und tankten dort auf. Dr. Navarro bat, das Ergebnis an die Niederlassung des AP-Konzerns in Rom zu funken. Dabei handelte es sich um einen Code, der nach Kalifornien weitergegeben werden sollte. Vor den Piloten spielte der Ägyptologe das Videoband ab und zeigte ihnen, was er gefunden hatte. „Hier, sehen Sie!“ rief er erregt, „dieser Steinkegel mit der abrasierten Spitze.“ „Was ist das?“ „Eine sogenannte Tafelpyramide. Tafelpyramiden entstanden meist ungewollt durch Konstruktionsfehler. Eigentlich plante man, richtige Pyramiden wie die in Gizeh zu bauen, aber dann bröselte den Architekten die Spitze weg und es kam zu diesen abgeflachten Dingern.“ „Aber was hat“, fragte der Pilot, „diese Tafelpyramide mit dem zu tun, was wir suchen?“ „Eine ganze Menge“, erklärte der Professor, „es ist nämlich gar keine Pyramide, es soll nur eine Pyramide darstellen.“ „Woher wissen Sie das, Dottore?“ Der Italiener lächelte. „Ganz einfach, das ist wie mit den Rosen am Nordpol. Wir wissen, daß dort keine Rosen blühn. Findet man aber doch 58
welche, dann weiß man, daß es sich um künstliche handeln muß, um Papierblumen.“ Der Pilot deutete auf den Monitor, wo das Bild jetzt auf Stand geschaltet war. „Es gibt also gar keine Tafelpyramide an dieser Stelle?“ „Zumindest hat keiner der Könige, von Manes in der ersten Dynastie bis Amosis in der sechsundzwanzigsten Dynastie jemals dort ein Grabmal errichten lassen.“ „Dann ist das… ja, was ist das nun… eine Attrappe?“ „Ein moderner Kunstbau in Beton, oder Stahlkonstruktion.“ .Aber warum in Pyramidenform?“ „Aus Tarnungsgründen, um abzulenken, um Nachforschungen zu erschweren. Daß bei den Ermittlungen gleich ein Experte wie ich bemüht würde, damit rechnete man wohl nicht.“ „Pyramiden sind doch in der Regel unbewohnt, Dottore.“ Der Professor nickte. „So wenig bewohnt“, sagte er, „wie das Innere von Gebirgen.“ „Diese aber schon.“ „Diese allerdings“, bestätigte Dr. Navarro. „Und was vermuten Sie in ihrem Inneren?“ Der Wissenschaftler schaltete das Videogerät ab und steckte sich eine Zigarette an. „Ich wurde nicht engagiert“, äußerte er, „um Vermutungen anzustellen. Wenn man Genaues wissen will, muß man jemanden hinschicken, der nachsieht. Aber das ist nicht meine Aufgabe. – Ich bin ja nicht lebensmüde.“ In der Dunkelheit startete der Lear-Jet in Richtung Rom, wo eine Linienmaschine der PanAm die Filme, Fotos und Videobänder übernahm, um sie nach Kalifornien zu fliegen.
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7. Und es war doch so, daß ihm die schöne Ämely Neukam den Tod wünschte. Bob Urban merkte es, nachdem er unter falschem Namen in Tripolis angekommen war. Kaum hatte er die Alitalia-Boeing verlassen, überfiel ihn Backofenhitze. Heißer Wüstenwind aus Süden wehte einem feinen Sand zwischen die Zähne. Man hatte das Gefühl, Schleifpapier zu kauen. Der Beamte an der Einreisekontrolle musterte Urbans Paß diesen kurzen, aber spürnasigen Moment länger, bei dem der Herzschlag zu stolpern anfing. Merkten sie etwas oder merkten sie nichts? – Der Paß war perfekt, so gut wie echt, andererseits stand er hier auf der Fahndungsliste. Deutscher, 185 lang, athletische Zehnkämpferfigur, Feudalschädel, sonnengebräunt, graue Augen, dunkelbraunes kräftiges Haar, um den Mund ein ironisches Lächeln, das zusammen genügte, um einem aufmerksamen Beamten aufzufallen. Hinzu kamen Urbans Kleidungsgewohnheiten. Zwar war er ein wenig davon abgerückt, der Jahreszeit entsprechend trug er hellbeige Hose, das Glenchecksakko khakifarben und die Krawatte hatte er schon im Flugzeug abgelegt, aber im Prinzip war es dasselbe wie immer. „Nehmen Sie die Brille runter, Signore“, forderte der Beamte auf Italienisch. Urban tat ihm den Gefallen. Ein scharfer Blick, noch ein Blick in den Paß. „Dottore Alfonso Stubenmacker.“ „Stubenmacher“, half Urban. „Tierarzt aus Rosenheim in Bavaria.“ Mit Ausländern sprachen sie hier gerne Italienisch. Sie waren lange genug Roms Kolonie gewesen. Urban bekam den Einreisestempel. Aber nicht den Paß. „Was führt Sie nach Tripolis?“ fragte ein hinzukommender Offizier in makellos gebügelter Uniform. 60
„Studien.“ „Welcher Art, Signore?“ „Gewisser Familien von Sandflöhen“, erklärte Urban todernst. Der Offizier grinste, offenbar glaubte er Urban kein Wort, händigte ihm aber den Paß aus. Wenig später stand Urban wieder draußen in der Sonne und schlenderte auf die Taxistandplätze zu. Dabei mußte ihn ein Fahrer erspäht haben. Er löste sich, ohne an der Reihe zu sein, mitten aus der Kolonne der wartenden Wagen, stoppte vor ihm und entriegelte die hintere linke Tür des Fiat-132. Die anderen Fahrer schimpften, machten Drohgebärden und vollführten ein Hupkonzert. Doch den kräftigen Burschen kümmerte das wenig. Er hatte ein fettiges Gesicht, als habe er gerade ein Butterbrot verspeist und vergessen, den Mund abzuwischen. „Wohin, Signore?“ „Hotel Hazmid.“ „Das frühere Garibaldi.“ Der Taxifahrer, ein fixer schnauzbärtiger Junge, fuhr los, kaum daß Urban die Reisetasche in den Fond geworfen und sich neben sie gesetzt hatte. „Man muß hier schneller sein, als diese verschlafenen Kamelaffen“, sagte er. „Ich mache doppelt so viele Fuhren pro Tag wie die anderen. Sie würden mich gerne steinigen, aber sie wagen es nicht. Ich bin nämlich in der Partei.“ „In welcher?“ fragte Urban. Der Fahrer kippte die Sonnenblende herunter. Bilder Gaddafis waren aufgeklebt. Oberst Gaddafi im Burnus, Gaddafi als betender Moslem, Gaddafi auf einem Panzer. „In der Partei des Obersten“, antwortete der Taxifahrer. Urban beschloß, mit allem was er äußerte, vorsichtig zu sein.
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Nach wenigen Kilometern fürchtete Urban, daß hier etwas nicht stimmte, ja, daß man ihm Theater vorgespielt hatte. Das Taxi rollte nicht nach Tripolis hinein, sondern nach Osten. „Sie fahren falsch“, rief Urban nach vorn. „In die Stadt, Signore.“ „Das ist Richtung Homs. Ich sah den Wegweiser.“ „Der steht verkehrt, Signore.“ „Ich war schon einmal hier.“ Der Fahrer legte Tempo zu. Der Tacho pendelte um Hundert und bald darüber. Urban versuchte die Tür zu öffnen. Sie war zentralverriegelt. Vermutlich konnte man die Sperre nur vom Armaturenbrett aus lösen. Er beugte sich nach vorn. In diesem Moment summte etwas. Zwischen Fahrer und Fond fuhr eine Trennscheibe nach oben. Urban packte seine Reisetasche und klemmte sie dazwischen. Da sie prallvoll war, kam die Scheibe zum Stehen. Urban schlang den linken Ellbogen um den Hals des Fahrers, riß dessen Kopf nach hinten und versuchte mit der Rechten zu lenken. Dabei waren ihm die Hände des Jungen im Wege. Mit zwei Handkantenschlägen löste er sie vom Lenkradkranz. Der Fiat schlingerte mit pfeifenden Pneus von einer Straßenseite zur anderen. Ein entgegenkommender Lastwagen blinkte und hupte und wich im letzten Moment aus. Das Problem bestand darin, daß sich der Taxifahrer dermaßen versteifte, daß sein gestreckter Fuß Vollgas gab. Urban riß am Schalthebel und brachte das Getriebe erst einmal in Leerlaufstellung. Die Maschine jaulte, der Fiat rollte weiter. Mit dem Fahrer, dessen Rechte eine Waffe zog, ringend, versuchte Urban den Fiat von der Straße zu bringen, bevor ein Unfallchaos entstand. 62
Da der Asphalt ohne Graben in die Wüste überging, riß Urban den Fiat nach rechts, hinein in den kiesigen Sand. Der Wagen wirbelte mächtig Staub hoch, hatte sich aber nach sechzig Metern etwa festgefahren. Jetzt sah der Fahrer wohl ein, daß es so nicht klappte mit dem Kidnapping. Er öffnete seine Tür und entkam, Beine voraus, Urbans Halsschlinge. Als Urban ihm nachsetzte, hatte der andere eine Waffe in der Hand, einen Revolver, kein unbedingt furchterregendes Ding, aber immerhin. Urban fiel nur der älteste Trick ein. Mit einer ausholenden Fußbewegung stäubte er dem Gegner Dreck in die Augen. Der sah es kommen, wandte sich ab und schoß. Die Kugel verletzte nur den Lack seines Fiat. Urban sprang ihm in den Nacken, warf ihn zu Boden, riß ihm den Arm mit der Waffe nach hinten und entwand ihm die Kanone. Dann hörte er den Hubschrauber und die Sirenen der Polizeifahrzeuge. Trotzdem versuchte er den Fiat flottzukriegen. Vergebens. Die Räder wühlten sich nur noch tiefer ein. Dann waren sie da. Aus dem Helikopter sprangen vier Mann, aus den Streifenwagen je zwei. Sie waren bis auf die Zähne bewaffnet. Das ist kein Zufall, dämmerte es Urban. Sie haben auf dich gewartet. Sie wollten es nur nicht am Flugplatz machen. Einer der Polizisten trug Zivil. „Nicht schlecht, Signore“, rief er. „Sie machen Ihrem Kampfnamen alle Ehre. Der Taxifahrer ist immerhin einer unserer fähigsten Agenten. Sie sind verhaftet, Mister Dynamit. Soll ich Ihnen die Gründe aufzählen?“ „Nicht nötig“, sagte Urban. * Sie behandelten ihn wie einen Staatsfeind der Kategorie eins, höflich, aber unter Sicherheitsvorkehrungen der äußer63
sten Stufe. Seine Zelle war wie ein Hotelappartement eingerichtet, jedoch ohne Fenster, umgeben von Betonmauern, versperrt durch eine Stahltür, tief im Keller irgendeines festungsartigen Gebäudes. Das Licht war grell, die Lüftung summte. Es stank so nach Desinfektionsmittel, daß eine verirrte Fliege schon nach Minuten tot am Boden lag. Sie bliesen das Zeug durch die Lüftung ein. Urban befürchtete, daß sie auch andere Gase einblasen könnten. Zunächst stellte er aber keine Veränderung an sich fest. Er fühlte sich nicht schwindelig oder benebelt. Alles war normal, sogar die Mineralwasserflasche hatte noch ihren Siegelstreifen. Nach vier Stunden etwa holten sie ihn. Zusätzlich zu den Handschellen eskortierten ihn drei Soldaten mit Stahlhelmen und Maschinenpistolen. Der Lift erreichte das erste Obergeschoß. Hinter den Fenstern war Nacht, doch in dem Gebäude herrschte emsiger Dienstbetrieb. Vom Lift ging es durch einen kahlen Gang und von dort in einen ebenso kahlen Raum mit halbhohem grünen Ölfarbsockel, einem Stuhl, einem Tisch und zwei Lampen auf Stahlgestellen. Die Birnen steckten in schüsselförmigen Spiegelreflektoren. Urban kannte das. Ihr Licht biß schmerzhaft in die Augen jedes armen Teufels, der hier verhört werden sollte. Er mußte stehenbleiben. Die Lampen gingen an. Der Raum füllte sich. Sehen konnte er keinen, das Licht bildete einen grellen Vorhang. Hinter dem Schreibtisch nahm einer Platz und sprach deutsch, ziemlich flüssig und akzentfrei sogar. „Sie sind der BND-Agent Robert Urban, Code Nummer achtzehn, Dienstgrad Oberst, der Person nach bekannt.“ Das war keine Frage, also beantwortete er sie auch nicht. „Identität durch Fingerabdrücke bestätigt“, fuhr der Offizier fort. „Zu Ihrer Festnahme liegen viele Gründe vor, aus 64
zurückliegenden Aktionen in unserem Lande und zu dessen Schaden, die nach dem Gesetz die Todesstrafe rechtfertigen.“ Da sie nur Feststellungen trafen, nahm es Urban hin. Sie wußten leider sehr viel über ihn. „Der von Ihnen verwendete Paß“, machte der Offizier we iter, „ist keine Fälschung, sondern ein regulär von einer Behörde ausgefertigtes Dokument. So etwas kostet den Bundesnachrichtendienst keine Mühe.“ Der Paß wurde durchgeblättert und weggelegt. „Man schmückt Sie mit einem akademischen Titel“, sagte der Offizier, „aber so falsch ist auch das wiederum nicht. Sie sind ja Doktor, wenn auch der Ingenieurwissenschaften und nicht der Medizin.“ Einwandfrei recherchiert, dachte Urban. „Daß wir Sie so schnell faßten, verdanken wir der Aufmerksamkeit unseres Agenten Tarafa.“ Jetzt erlaubte sich Urban eine Bemerkung. „Und eines Hinweises“, ergänzte er, „aus Rapallo. Von Signora Neukam, der Mutter Ihres rechtzeitig verhinderten Bombenlieferanten.“ Der Offizier blickte auf, Urban sah es verschwommen am veränderten Schattenwurf seines Kopfes, und reagierte mit einer Gegenfrage: „Ist dies der Grund Ihres Besuches in Libyen?“ „Nein“, log Urban, „ich bin des Klimas wegen da. Ich leide an Asthma.“ Der Offizier schien zu überlegen, ob er Spaß verstand oder nicht. Er entschloß sich zu ersterem. „Nun, es mag üblich sein, daß man Geschäftsverbindungen gewisser Leute und von gewisser Art nachgeht. Bei einem Polizeistaat wie der Bundesrepublik ist das nicht anders zu erwarten. Ich denke, wir sind uns einig.“ Der Offizier wechselte mit den hinter ihm stehenden Offizieren einige Sätze auf Arabisch. Dann wandte er sich wie65
der an Urban. Indem er die Akte auf dem Schreibtisch schloß und seine Hand darauf legte, erklärte er: „Für Agenten, Spione, illegale Einreisende gibt es kein offizielles Gerichtsverfahren.“ Er rasselte eine Reihe von Paragraphen herunter, „… verurteilen wir Sie hiermit zum Tode. Vollziehbar bis Sonnenaufgang.“ Ein Offizier beugte sich vor, flüsterte etwas ins Ohr des Verhöroffiziers, der offenbar Ankläger und Richter in einer Person war, und fand dessen Zustimmung. Was gesprochen wurde, erfuhr Urban nicht. Der Offizier gab den Posten einen Wink. Sie führten Urban in sein bombensicheres Verlies zurück. Schluß, dachte er, das war das Ende. Gehenkt, erschossen, verscharrt im Wüstensand, hingeworfen den Geiern zum Fraß. * Sie holten Urban ab, als seine Rolex die dritte Stunde anzeigte. – In sechzig Minuten ging die Sonne auf. Sie waren pünktlich und preußisch zuverlässig. Tod vor Morgengrauen. Die Posten waren von einem Offizier begleitet. Der Offizier gab Urban seine Papiere zurück. „Wünschen Sie einen Abschiedsdrink?“ „Es fällt Ihnen ja doch schwer, in diesem Land meine Whiskymarke zu besorgen“, sagte Urban. „Aber wie wär’s mit einem Geistlichen?“ Urban rechnete damit, daß dadurch eine Verzögerung eintreten würde. Und jede gewonnene Minute bedeutete eine Chance. „Ein Priester ist noch schwerer zu beschaffen als Alkohol. Darf es Tee sein?“ „Danke, dann verzichte ich.“ Sie brachten ihn wieder durch die Betonkasematten des 66
Kellers zum Lift und dann in einen Hof. Eine Seite der hohen Mauer war mit Balken versehen, braunen massiven Kanthölzern, kopfhoch gestapelt. Die Hölzer zeigten massenhaft Kugeleinschläge. Die roten Flecken waren zweifellos Blutspritzer. Dort baten sie Urban, höflich wie immer, die Ar me nach hinten zu nehmen und banden sie an eine eiserne Ringöse. Urban hörte den Marsch tritt des sich nähernden Erschi eßungskommandos. Sie kamen in den Hof. Zwölf Mann mit Gewehren. Kommandos erfolgten. Die Schaftstiefel hämmerten am Ort, stampften die Erde. Ganze Abteilung halt! Abteilung links um! Rührt euch! Waffenkontrolle! Die Verschlüsse klickten. Jeder bekam eine Patrone. Ob scharf oder nur Übungsmunition, das wurde den Soldaten nicht gesagt. Die Patronen sahen alle gleich aus. Niemand sollte wissen, wer den tödlichen Schuß placiert hatte. Gewehrkontrolle beendet. Stillgestanden. Ausrichten. Das Gewehr über. Gewehr legt an. Entsichern. Noch drei Herzschläge bis zum Schuß, dachte Urban. Plötzlich war da ein hoher Offizier zwischen den starrenden Gewehrläufen und ihm. Urban kannte die Rangabzeichen der libyschen Armee nicht, ein Oberst schätzte er. Der Oberst sprach englisch. „Das Todesurteil wird nicht abgemildert“, leierte er herunter, „aber auf andere Weise vollstreckt. Wir fürchten Schwierigkeiten, wenn wir einen prominenten Mann wie Sie an die Wand stellen. Immerhin…“, er lächelte süffisant, „bezieht Ihr Land einen großen Teil unseres Erdöls.“ Der Oberst wandte sich um und gab dem Peloton-Offizier ein Zeichen. „Sichern! Gewehr ab! Rechts um im Gleichschritt marsch!“ Urban hatte verstanden. „Es soll wie Zufall aussehen, wie im Einsatz gefallen. Richtig?“ 67
Der Oberst nickte. „Tarafa Dschabir“, sagte er, „unser bester Mann im Geheimdienst, hat eine Chance verdient, sich an Ihnen zu messen.“ Urban glaubte zu träumen. „Zweikampf?“ „Wo denken Sie hin.“ „Soll er mich im Schachspiel besiegen?“ Der Oberst blickte versonnen, dann nickte er. „So ungefähr könnte man es nennen.“ Dann erfuhr Urban Einzelheiten. „Sie bekommen ein Fahrzeug und etwas Benzin. Man bringt Sie an den Rand der Wüste. Sie haben geringfügigen Vorsprung, wie lange, das wissen Sie nicht. Machen Sie das beste daraus.“ „Tarafa wird mich jagen.“ „Er brennt darauf.“ „Er wird bewaffnet sein, und ich habe nur meine nackten Hände.“ „Zeigen Sie, was Sie können.“ „Und der Sieger?“ „Ist der Sieger“, erwiderte der Oberst. „Tarafa wird der Sieger sein. Wir gewähren Ihnen immerhin die Chance des Stiers in der Arena, noch einmal frei zu kämpfen.“ „Jeder Stier verläßt tot das Stadion“, sagte Urban. „Ich glaube, in hundert Jahren gab es eine oder zwei Ausnahmen“, antwortete der Oberst, „die Chance besteht also, wenn auch nur eins zu einer Million.“ Urban durchschaute das Perverse daran. Sie verteilten die Überlebenschancen auf eine Weise, daß er mit tödlicher Sicherheit auf der Strecke blieb. Dann gab es Fotos und Berichte: Deutscher BND-Agent als Spion nach langer Jagd zur Strecke gebracht… Wer mochte dagegen etwas vorbringen. „Einverstanden?“ fragte der Oberst. Urban hob die Schultern. „Wenn ich nein sage“, fragte er, „was ändert das.“ 68
Er bekam einen Jeep älteren Datums, vermutlich einen aus der ersten Serie, die bei Willys in den USA vom Band gerollt war. Der Motor lief noch, wenn auch nicht unbedingt auf allen vier Zylindern. Urban suchte die Tankanzeige. Sie war nicht mehr vorhanden. Wieviel Liter Benzin haben sie dir gegönnt, überlegte er. Aber das war leicht festzustellen. Der Jeep hatte kein Reserverad, nicht ein einziges Stück Werkzeug und kein Glas in der Frontscheibe. Die Sitze waren bis auf den des Fahrers ausgebaut, ebenso das Verdeckgestänge. Zwei moderne Wüstenspähwagen nahmen ihn in die Mitte. Der Oberst reichte Urban eine Zigarette und gab ihm Feuer. „Sie mögen so schlau sein wie Sie wollen“, sagte er und schnippte bedeutungsvoll mit dem Finger. Urban wandte sich um. Weiter hinten im Hof der Kaserne stand ein Allradbronco, sandgelb gespritzt, versehen mit allem, was man brauchte, um die Sahara zu durchqueren. Sogar ein Schiebedach hatte er, aus dem man feuern konnte. Daneben lehnte ein Mann im Kampfoverall. Er lächelte fettig wie am Flugplatz. Es war der Taxifahrer Tarafa Dschabir, jetzt sein Jäger. Die Kolonne setzte sich in Fahrt. Sie rollte die Ausfallstraße nach El Aizizia hinaus, verließ sie nach etwa zwanzig Kilometern und bog nach Westen in Richtung auf die tunesische Grenze ab. Die Wüstenpiste zur Oase Giado! Die Grenze und das Meer bildeten hier ein Rechteck von vierzigtausend Quadratkilometer Größe, eine sandige Pfanne, die tagsüber wie auf Feuer und nachts wie auf Eisblöcken stand. Da hinein begab sich die Kolonne. Die Wüstenspähwagen und Urban mit dem Wrack von Jeep in der Mitte. Die Männer in den MG-Türmen der Achtradwagen hatten ihn ständig im Visier. 69
Nach vierzig Kilometern, vor einer weiten Fläche, die aussah wie staubfeiner Fließsand, hielt die Kolonne an. Ein Offizier kam herüber, durchsuchte Urban noch einmal, untersuchte den Jeep und peilte mit einem Holzstab den Tankinhalt. „Zwei Gallonen“, schätzte er, „reicht für dreißig Meilen.“ Dann zerbrach er den Peilstab, bückte sich, nahm eine Handvoll Sand und warf den Sand in den Tankstutzen. Grinsend begab er sich zu seinem Spähwagen. Die Fahrzeuge entfernten sich. Bald waren sie im nächsten Dünental verschwunden. Urban glaubte noch das Gelächter der Soldaten zu hören. Um irgend etwas anderes zu tun, als nur auf seinen Killer zu warten, würgte er den Gang hinein und fuhr los. Die Leistung des betagten Vierzylinders ließ merklich nach. Der Sand im Tank hatte die Filter endgültig zugesetzt Die Maschine bekam unzureichend Kraftstoff und begann auszusetzen. Urban hielt an und öffnete die Haube. Abzustellen wagte er den Motor nicht, weil er fürchtete, er könne nicht wieder anspringen. Also fuhr er mit mühsam durch den Sand mahlenden Rädern einen Hügel hinan. Auf der abfallenden Seite stellte er den Motor ab. Den Filter gab es zwar, aber man sah ihn nicht. Vermutlich befand er sich im Tank oder irgendwo in der Leitung. Urban löste das Gummirohrstück vor dem Vergaser und half sich damit, daß er durch Hineinblasen den Weg des Treibstoffs freizumachen versuchte. Die Antwort war ein Schwall Benzin, als er den Druck minderte. Hügelabwärts, mit eingelegtem zweiten Gang und kuppeln, bekam er den Motor wieder zum Laufen. Der Motor tat es höchst unwillig, brachte ihn aber noch etwa dreißig Kilometer nach Westen. Dann näherte sich endgültig der Moment, wo die Maschine ihren Geist aushauchte. Urban quälte den Jeep noch bis zu einer Stelle mit wellen70
förmigen Hügeln und schaltete die Zündung ab. Er schätzte, daß noch zwei oder drei Liter Sprit im Tank waren. Mittlerweile war die Sonne herausgekommen. Vor einer halben Stunde hatte sie seinen Rücken noch angenehm gewärmt. Jetzt fing sie zu brennen an. Urban stieg aus und beschaffte sich erst einmal Werkzeug, indem er den linken Kotflügel, er hing nur noch an zwei rostigen Schrauben, endgültig abriß, um ihn als Schaufel zu benutzen. An zwei Punkten, die er sorgsam auswählte, grub er Löcher so tief, daß ein Mann darin Deckung fand. Eines der Löcher beschloß er zu tarnen. Zunächst war er im Zweifel, welches er tarnen sollte. Er ging alle Züge durch wie ein Schachspieler, erdachte sogar eine Art Dramaturgie, und nahm dann einfach jenes Loch, in das hineinzuspringen nicht ratsam war, weil sich in der Kühle ihres feuchten Sandes eine grüne Schlange ringelte, eine Sandviper. Urban kannte sich bei Schlangen wenig aus. Die meisten waren so harmlos wie Blindschleichen. Doch auf einen Test wollte er sich lieber nicht einlassen. Also zog er sein Jackett aus, legte es über das Loch, hielt es mit ein paar Steinen in Spannung und deckte es mit einer dünnen Sandschicht ab. Dann wartete er. Die Sonne stieg. Sie wurde bald zu einem gleißenden Ball, der seine Glut ohne Erbarmen auf die Erde schleuderte. Zu trinken hatte er nichts, auch keine Zigaretten. Im kargen Schatten des Jeeps wartete er. Daß der Gegner ihn finden würde, darin bestand kein Zweifel. Tarafa Dschabir hatte alles, gewiß hatte er auch Radar.
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Urban döste im schmaler werdenden Schatten vor sich hin. Ein Vibrieren der Erde, das in den ausgeschlagenen Metallteilen des Jeeps Resonanz fand, machte ihn wach. Er richtete sich auf. Zu sehen war noch immer nichts. Bald aber hörte Urban etwas brummen, dumpf, sonor und gesund, einen wundervoll laufenden Achtzylinder, der seine Urkraft auf Getriebe und Differentiale eines Allradantriebes warf. In Deckung versuchte Urban wenigstens den Horizont unter Kontrolle zu halten. Es hörte sich an, als käme der Wagen aus Nordosten, also von Tripolis her. Allerdings führten die flachen Dünenhügel zu Schallverfälschungen. Er erwartete seinen Jäge r in Verlängerung der Schattenlinie. Doch als er sich umsah, stand der schwere Bronco im Süden. Demnach hatte er die Spur der Spähwagen rückwärts verfolgt. Mit aufgeblendeten Scheinwerfern, auf superbreiten Sandreifen, mit im Leerlauf blubbernden Motor stand der mächtige Geländewagen in etwa zweihundertzwanzig Meter Entfernung. Urban zeigte sich nicht, war aber bereit zum Sprung in sein Deckungsloch. Die Dachlinie des Bronco veränderte sich. Der Fahrer, sein Jäger, hatte sich mit dem Oberkörper aus der Luke begeben. Urban sah etwas aufblitzen. Vermutlich die Gläser eines Feldstechers. Bald hatte sich Tarafa ausreichend orientiert. Er tauchte weg, kam wieder und hatte jetzt etwas Langes mit verdicktem Ende bei sich. Ein Gewehr. Er visierte. Die Hetze begann. Erst ein Einzelschuß, dann mehrere rasch auf einanderfolgend. Er feuerte ein ganzes Magazin in und um den Jeep herum leer. Urban traute seiner Deckung nicht allzuviel und sprang hinein in das Mannloch. Die Kugeln zerschossen den Jeepkühler. Wasser dampfte rostbraun in den Sand. Die Kugeln 72
zerfetzten die Reifen. Luft entwich. Der Jeep sackte auf die Felgen. Die Geschosse, vermutlich hochbrisante Stahlmantelmunition, machten das alte Fahrzeug endgültig unbrauchbar. Aus seinem Loch heraus hörte Urban, wie der Bronco losfuhr und seine Position veränderte. In etwa hundert Metern Abstand umkreiste er den Jeep. Kein Kunststück, dachte Urban, einen Mann auf diese Weise kaputtzumachen. Es ist kein Krieg, wo fair zurückgeschossen wird, es ist wie beim Schützenfest, beim Scheibenschießen. Nun stand der Bronco so, daß Tarafa die Sonne im Rücken hatte. Offenbar ging er jetzt zu einer anderen Waffe über. Der Jäger hatte etwas Ofenrohrdickes aus dem Inneren des Militär-Bronco geholt. Eine Bazooka, durchfuhr es Urban, eine P anzerrakete. Das Rohr schwenkte auf ihn zu, bis ihn die Öffnung direkt anglotzte. Dann der Abschußblitz. Die Treibladung wirbelte Sand auf. Das Projektil raste auf den Jeep zu, erwischte ihn voll. Die Explosion warf den Rosthaufen hoch, zerteilte ihn in Blech- und Stahlfetzen, die wie Regen zur Erde prasselten. Etwas brannte, vermutlich Reste von Benzin im Sand. Es stank und qualmte. Urban hatte sich tief in sein Loch zurückgezogen. So überstand er auch diesen Angriff noch unbeschädigt. Vorsichtig richtete er sich auf, zog ein dickes Blech heran und deckte sein Erdloch damit ab. Als er wieder einen Blick wagte, sah er den Jäger kommen. Mit angeschlagener Maschinenpistole, einen schweren Colt im Halfter und Eierhandgranaten am Gürtel, näherte er sich jenem Stück Jeep, das noch als Ganzes heruntergekommen war, dem Motor samt Getriebeblock. Ehe er die Teile näher in Augenschein nahm, suchte er das Gelände noch einmal mit dem Fernglas ab. Dann bückte er sich, betrachtete den Motor und stand kopfschüttelnd da. Tarafa steckte sich eine Zigarette an. Offenbar wunderte er 73
sich, daß keine menschlichen Körperteile zu entdecken waren. – Andererseits gab es auch keine Fußspuren im Sand, die darauf hindeuteten, daß sich Urban irgendwo versteckt hielt. Langsam ging der Jäger Tarafa weiter und hob erneut ein Stück Blech hoch. Dies in einer Entfernung von etwa vier Metern zu Urban. Unter seiner Deckung hervor sah Urban die Profilsohlen der Kampfstiefel, den gelbgrün gefleckten Kampfanzug, den Patronengurt, den Stahlhelm, Tarafas tiefbraunen Nacken. Mit einem Satz, in den er alle Muskelkraft packte, federte Urban heraus und war mit zwei Sprüngen hinter Tarafa. Der bückte sich zwar gerade, sah Urban aber kommen. Für einen Schuß war es zu spät. Also wehrte er mit dem MPiKolben den Aufprall Urbans ab. Der Versuch mißlang. Urban warf ihn um und entriß dem Taumelnden die Waffe. Mit einem wilden Schrei war Tarafa wieder auf den Beinen, versetzte Urban im Spreizsprung einen derartigen Stoß, daß dieser die MPi verlor. Verzweifelt warf sich Urban auf seinen Jäger. Noch im Fall mußte er die Richtung ändern, um sich nicht selbst Tarafas Messer hineinzurammen. Der Gegner wälzte sich herum und war über ihm. Urban packte Tarafas Faust. Dschabir war ein furchtloser Kämpfer, der wußte, um was es ging, nämlich nicht nur um seine Reputation, sondern um sein Leben. Blitzschnell stach er zu und traf Urban in der Schulter. Urban, ebenso furchtlos wie sein Jäger, hatte den Vorteil des Chancenlosen und im Gegensatz zu Tarafa war er nicht geschockt. – Ja, geschockt mußte Tarafa Dschabir sein, daß der Gegner, den er für tot hielt, immer noch am Leben war. Urban entwand ihm das Messer. Doch dann mußte er von Tarafa, der seine Handkante einsetzte, ablassen. Für Sekunden wieder aktionsfähig, hatte der libysche Agent eine Handgranate vom Koppel gerissen und gezündet. Er schien 74
bereit zu sein, sich gemeinsam mit dem Gegner in die Luft zu sprengen. Urban krebste seitwärts, sprang hoch und rannte im Zickzack los. Nach etwa zwei Sekunden warf Dschabir das gerippte Ei. Es kam gut fünf Meter neben Urban auf und detonierte wenig später. Der Druck hämmerte Urban in den Sand. Schweratmend raffte er sich hoch und sah Tarafa stehen, die MPi im Anschlag. Der Libyer spannte, visierte, riß am Abzug. Doch irgend etwas hinderte die Teleskopfeder und den Schlagbolzen an ihrer Arbeit. Vermutlich war es der feine Sand. Wütend warf Dschabir die MPi weg. Dafür zog er den Colt aus dem Halfter. Colts reichten nicht so weit wie Maschinenpistolen. Auch ein perfekter Schütze mußte schon bis auf zwanzig Meter an den Gegner heran, um Wirkung zu erzielen. Noch war Urban flink auf den Beinen. Er lief weiter im Zickzack und zog damit seinen Verfolger hinter sich nach wie an einem unsichtbaren Seil. Beide keuchten sie vor Anstrengung. Ihre Lungen arbeiteten schwer in diesem tödlichen Katz-und-Mausspiel. Urban ließ Tarafa aufholen, denn er wollte ihn an eine bestimmte Stelle locken. Der Libyer schoß. Die Kugel sirrte dicht an Urban vorbei. Wieder schoß er. Jetzt schon schlechter gezielt, weil er wütend wurde. Aber er kam näher. Urban schlug einen Haken, sein Herz hämmerte. Tarafa schnitt ab. So kriegst du ihn, dachte Urban und schlug einen Haken nach links. Tarafa schnitt wieder ab, schoß, und dann ein Fluch. Es sah aus, als stolpere er, als taumle er. Tarafa stürzte, nein, er stürzte nicht. Er war in das getarnte Loch im Sand getreten. Nur mit einem Bein, aber gleich so tief, daß er nicht mehr herauskam. Er glitt ab. Im Nu steckte er bis 75
zum Hals drin, wühlte eine Hand frei und schoß. – Fast gleichzeitig sein Schrei, aber anders als der eines Siegers. Urban blieb stehen. Tarafas Waffe lag am Rand des Loches. Seine Hand glitt zurück. Mit entsetzten Augen starrte ihn Tarafa an. Urban näherte sich ihm, nahm den Revolver und blies den Sand aus dem Trommelmechanismus. Noch zwei Schuß hatte er. „Leg mich um“, stöhnte der Libyer, „oder hol mich raus.“ Etwas schien ihn zu würgen, als bekomme er keine Luft mehr. „Was ist?“ „Kann nur…“, der libysche Agent rang nach Atem, „… kann nur eine grüne Viper sein. Verdammt!“ Urban half ihm aus dem Loch. Zwischen Tarafas Hosenbeinen kroch die Viper hervor und versuchte sich davonzuringeln. Urban trat sie mit dem Absatz platt. Tarafa umfaßte seinen Oberschenkel mit beiden Händen. „Im Wagen drüben. Der Alukoffer. Schlangenserum. Die Ampulle mit dem grünen Punkt. Rasch, beeil dich Mann! Beeil dich!“ Erst nahm ihm Urban die Handgranaten ab. Dann ging er zum Bronco, fuhr ihn heran, holte das Serum aus der Bordapotheke und zog die Spritze auf. Der Libyer hatte die Bißstelle entblößt. „Hier rein!“ drängte er, „und die zweite Injektion in den Arm.“ Urban spritzte die Luft aus der Nadel. „Was weißt du, was ich nicht weiß?“ fragte er. Tarafa bekam schon feuchten Glanz in die Augen. „Über die Bombe?“ „Nur darüber. Wieviel habt ihr bezahlt?“ „Eine Million Dollar im voraus. Die andere war bei Lieferung fällig.“ „Wer überbrachte das Geld?“ 76
„Ich“, gestand der Agent. „Das Ganze war meine Idee. Es ging schief, deshalb übertrug man es mir, dich zu töten.“ „Wo wurde das Geld übergeben?“ „In Alexandria. In einem Haus.“ „An wen?“ Der Agent atmete in kurzen Stößen. „Zum Teufel, gib mir das Serum!“ Er wollte nach der Spritze fassen, aber Urban war schneller. „Du kannst sie haben oder nicht. Es liegt an dir.“ „Was denn noch, Mann! Denk daran, das Gift verbreitet sich im Körper mit der Geschwindigkeit des fließenden Blutes.“ Urban setzte die Nadel an die Haut, stach aber nicht ein. „Wo in Alexandria fand die Übergabe statt?“ „Ein Vorort, eine kastenförmige fensterlose Villa. Drei Palmen stehen im Garten, ein Brunnen, der kein Wasser hat. Eine Mauer aus Steinen mit rautenförmigem Lochmuster umgibt es.“ Jetzt drückte Urban die Nadel in Tarafas Muskeln. Aber er injizierte nicht. „Geldübergabe an wen?“ „An Major Neukam.“ „Beschreibe ihn.“ „Es war dunkel, man sah nur Schatten.“ „Was für einen Schatten?“ Die Beschreibung, die Urban erhielt, unterschied sich von Neukam wie die eines Wikingers von einem persischen Bogenschützen. ,,Du lügst“, sagte Urban, bereit, das Serum zu verweigern. Der Libyer schloß die Augen. Er hatte Mühe das Licht zu ertragen. „In meiner Lage“, fragte er, „soll ich lügen?“ Da glaubte ihm Urban. Doch die Frage, wer in Alexandria die Millionen-Anzahlung für eine Atombombe entgegennahm, blieb offen. 77
Urban gab seinem Jäger die rettende Spritze. Nachdem er ihm auch noch mit dem zweiten Serum und mit kreislaufstützenden Mitteln versehen hatte, packte er ihn in den Bronco und fuhr los. Er fuhr mit der Sonne im Rücken. „Wohin?“ hörte er Tarafa Dschabir fiebernd fragen. „Zur Grenze.“ „Ich muß in ein Hospital, oder ich krepiere.“ „Ich bin Menschenfreund“, erklärte Urban. „Aber weil auch ich ein Mensch bin, bin ich selbst mein allerbester Freund. Ich liebe mich mehr als dich. Und ich hänge am Leben.“ „Was soll das heißen?“ begehrte Tarafa auf. „Daß es in Tunesien auch gute Krankenhäuser gibt“, sagte Urban. In der Hoffnung, keiner Wüstenpatrouille zu begegnen, kariolte Urban mit Vollgas nach Westen. 8. David Kevin Lewis, der in seiner Person Generalstab, Strategiekommission und Oberbefehlshaber der Operation Abdu vereinigte, ließ sich immer wieder Bild- und Filmmaterial des Aufklärungsfluges vorführen. Oberägypten war, wenn man von den fruchtbaren Nilufern und den Oasen absah, zweifellos schon Wüstenregion. „So tief in der Sahara“, erläuterte einer der. Berater, „baute kein Pharao je eine Pyramide. Sie mögen alle vom Wahnsinn umzingelt gewesen sein, diese Herrscher, aber wie sollten sie das Baumaterial dorthin geschafft haben.“ „Also wurde die Tafelpyramide erst vor kurzem errichtet.“ „Nennen wir sie einen spitzelosen Kegel mit Viereckbasis“, schlug ein anderer vor, „ein zweifellos sehr kostensparend konstruiertes technisches Bauwerk.“ „War jemals einer von Ihnen dort?“ höhnte Lewis. 78
„Das noch nicht, Sir, es wurde ja erst vor wenigen Tagen entdeckt.“ „Und dennoch wagen Sie, es als modernen Industriebau zu definieren.“ „Professor Navarro ist sicher, daß in diesem Gebiet keine Tafelpyramiden vorkommen. Außerdem ergaben die Gr ößenberechnungen erhebliche Unterschiede. Diese Pyramide hat bestenfalls ein Dr ittel des Raumvolumens der Pyramide des Cheops.“ „Und das Material?“ „Vermutlich Bronzeglas und Aluminiumplatten auf Stahl oder Betonskelett mit sandhaltigem Spritzputz beschichtet. Äußerlich ist das Gebäude schwer von einer Tafelpyramide zu unterscheiden, oberflächenstrukturmäßig betrachtet.“ „Ihre sämtlichen Erkenntnisse“, erwiderte der APCPräsident unfreundlich, „sind aus Vermutungen zusammengesetzt.“ „Und Messungen, Sir“, widersprach man ihm. „Kein Mensch war bis jetzt auf dem Mars, und doch weiß man über diesen Planeten recht gut Bescheid.“ Nach kurzem Nachdenken zeigte Lewis, daß er nicht zufällig ein Mann war, der dem Konzern zu Weltgeltung verhelfen hatte. Er konnte logisch und realistisch denken. „Es muß doch Versorgungseinrichtungen geben.“ „Wasser haben sie aus Tiefbrunnen, Strom erzeugen sie vielleicht mit Sonnenenergie.“ „Und wie telefonieren sie?“ „Per Funkbrücke zu einer Relaisstation.“ „Aber es müssen doch Verbindungen existieren, Infrastruktur, Straßen, auf denen Material herangebracht wird, Benzin, Lebensmittel, Laborausrüstung. Schicken Sie einen Mann hin, der das herausfindet und der die Spuren ihrer Emissäre aufnimmt.“ Auch den Beratern war klar, daß es nur diesen Weg gab, dem Problem näherzukommen. 79
Lewis faßte seine Forderungen zusammen: „Beobachtung aller Transporte an Material wie an Personen von und zu der Tafelpyramide, Beobachtung aller Flüge, sei es von Helikoptern wie Propellermaschinen, von und zu der Pyramide. Nach Möglichkeit Abhören des Funkverkehrs zur Relaisstation. Anzapfen der Relaisstation oder Anzapfen der von der Relaisstation wegführenden Telefondrähte. Bin ich verstanden worden?“ „Verstanden, Sir!“ Der Konzernchef spürte, wie die Wirkung der Medikamente, die er in zunehmend stärkeren Dosen zu sich nahm, nachließ. Es wurde Zeit für die nächste Injektion. Im Grunde lebte er nur noch von einer Spritze zur nächsten. „Ich habe immer weniger Zeit, Gentlemen“, sagte David Kevin Lewis niedergeschlagen, „bitte beeilen Sie sich!“ * Der Mann der Äskulap-Pharma-Corporation in Ägypten, ein ehemaliger CIA-Agent, war sein Geld wert. In der Oase Mut freundete er sich mit, einem Mann an, der die durchkommenden Lastwagen versorgte. Dieser Mann galt als Spezialist für Vergaser und Dieseleinspritzpumpen. Er hatte stets eine Menge zu tun. Der Weg von der Küste bis in das Dakhla-Gebiet war siebenhundert Kilometer lang. Da die Autos stets überladen und immer mit Vollgas bewegt wurden, gab es entsprechende Ausfälle. Diese behob der Ägypter, so gut er konnte. Der Exagent half ihm dabei. Eines Abends schleppten sie einen schweren BerlietDreiachser in den alten Karawanenhof, wo es immer noch nach Mist stank, obwohl die Lasten längst nicht mehr mit Kamelen bewegt wurden. Der 30-Tonner hatte Container geladen. Der Fahrer suchte und fand den Dieselmechaniker Salah. Er saß gerade mit seinem amerikanischen Freund bei Pfannkuchen und Tee. 80
„Meiner läuft nur auf drei Töpfen“, jammerte er, „mußt mir helfen, Salah.“ „Werden die Düsen sein.“ „Oder die Pumpenelemente“, sagte der Amerikaner. „Leg ‘ne Nachtschicht ein, Salah“, drängte der Fahrer, „ich muß weiter.“ „Wohin?“ fragte der Mechaniker. „Wohin, wohin, du weißt doch wohin. Nach Süden. Frag’ mich nicht, ich darf nicht darüber reden.“ „Morgen früh“, versprach Salah, „schau ich mir deinen Motor an.“ Jetzt verlegte sich der Fahrer aufs Bitten. „Sie warten dringend auf die Lieferung. Anschließend muß ich einen wichtigen Mann mit nach Iskandariya nehmen. Ich zahle jeden Preis, Salah.“ Aber der Ägypter wollte nicht. Er hatte schon die letzte Nacht an einem liegengebliebenen GMC herumgebastelt, bis er endlich wieder lief. „Bin kaputt“, sagte Salah, „total.“ „Los, wir wollen ihm helfen“, ermunterte ihn der Amerikaner, eine Chance witternd, endlich mehr über das „Ding“ in der Wüste zu erfahren. „Kümmere du dich um ihn.“ Salah wandte sich an den Fahrer: „Mein Kumpel hat mal bei Bosch in Stuttgart gearbeitet. Ihr fahrt doch alle Bosch-Pumpen. Du bist bei ihm gut bedient. Wenn ihr nicht klarkommt, dann weckt mich.“ Er streckte sich auf seiner Matratze aus, rollte zur Seite, nicht, ohne vorher die Birne, die an einem Draht von der Decke hing, solange in der Fassung zu drehen, bis sie verlosch. Der Amerikaner verstand einiges von Motoren. Er hörte sich den Lauf des Renault-Diesels an und ging nach System vor. Alle Filter waren zu. „Kein Wunder“, sagte er, „ein Motor braucht zwei Dinge. Einmal Luft und dann Kraftstoff.“ 81
„Entweder du fährst Tag und Nacht“, sagte der Fahrer, „oder du fliegst raus.“ Überzeugt, daß der Fehler damit behoben sei, setzte der Amerikaner die gereinigten Filter wieder ein, baute dann aber noch die Einspritzleitung zum siebenten Zylinder aus. „Warum fliegen sie dringendes Material nicht einfach hin. Sie fliegen doch oft hin und her.“ „Die Container sind zu schwer. Auf der weichen Piste können nur leichte Maschinen landen. Außerdem war Sandsturm.“ „Das Radio meldet, daß es immer noch stark weht.“ Der Fahrer wirkte verzweifelt. „Dann kann mir das Malheur wieder passieren.“ „Warum fährst du auch ohne Sandschutz.“ „Der Boß spart, wo es geht, und hofft, daß du schon irgendwie durchkommst. Fürs Durchkommen gibt es Prämie. Zweihundert Pfund.“ „Und wenn du liegenbleibst?“ „Bin ich gefeuert.“ „Du wirst liegenbleiben“, warnte der Amerikaner, der sehr gut Arabisch sprach, den anderen. Er machte ihm solange Angst, bis ihm der Fahrer einen Vorschlag unterbreitete. „Kannst du nicht mitkommen, als Beifahrer? Ich verstehe nicht allzuviel von Motoren.“ „Muß erst mit Salah reden.“ „Sind doch nur vier Stunden hin und vier Stunden zurück.“ „Und das Abladen?“ „Das machen sie mit hydraulischen Geräten. Alles ganz modern.“ „Aber das Gebiet ist Sperrbezirk. Sie knallen alles ab, was sich unerlaubt nähert.“ „Du bist mein Beifahrer. Basta!“ „Und heimwärts, wie läuft es da?“ „Hab schon mal einen mit herausgenommen. Das sind ru82
hige Leute. Wissenschaftler. Die Kabine bietet Platz für vier Mann.“ „Okay“, entschied der Amerikaner. „In zehn Minuten läuft die Karre.“ Der Ghibli, der sie auf der Fahrt zur sudanesischen Grenze prasselnd umwehte, war nicht von schlechten Eltern. Er ging den Berliet an wie ein Sandstrahlgebläse. Zweimal mußte der Amerikaner, versehen mit Turban und Mundschutz, heraus, um Dreck aus dem Filter zu kratzen und die Leitungen zu entlüften. Aber gegen Morgen waren sie durch. Als in der Ferne, aus der Ebene aufragend, ein Kegel in Sicht kam, dem die Spitze fehlte, machte der Amerikaner die Armbanduhrkamera klar. Seine Hoffnung, auf elegante Weise in das geheimnisvolle Ding hineinzukommen, erfüllte sich leider nicht. Plötzlich sperrten Nagelbretter die Piste. Dahinter war hoher Messerdraht aufgerollt und beiderseits standen Minenwarnschilder. Er mußte aussteigen. Das Permit lautete nur auf den Namen des Mannes am Lenkrad. Der Fahrer protestierte zwar, sagte ihnen, ohne seinen Mechaniker würde er im Sand festsitzen, aber die Posten waren unerbittlich. „Bin in zwei Stunden zurück“, rief der Fahrer. Der Amerikaner bekam in der Wellblechhütte Tee und Zigaretten. Er unterhielt sich mit den Wachleuten und nahm auch einiges Interessantes wahr. So sah er unter anderem das Wrack eines Hubschraubers mit Militärbemalung. „Stammt der noch aus dem Jom-Kippur-Krieg?“ fragte er. „Den mußten wir runterholen, weil er zu neugierig war“, lautete die Antwort. „Israeli?“ „Libyer wohl.“ Mehr war aus den Männern nicht herauszuholen. Bei Sonnenaufgang kam der Berliet, beladen mit leeren 83
Containern, wieder zurück. Im Fahrerhaus saß ein Mann, gelbliche Gesichtshaut, blauschwarzes Haar, die typische Hautfalte der Asiaten im inneren Augenwinkel. Der Indochinese, oder was er war, trug einen räudigen Bart und wirkte müde. Mehrmals konnte ihn der Amerikaner unbemerkt mit der Uhrenkamera fotografieren. Der stumme Fahrgast hatte einen Koffer bei sich, Leder, stark mitgenommen. Am Koffer hing ein Namensschild. Dr. Maha Si Chum. Johore Ba hru. Nur einmal fragte der Indonesier etwas. „Werde ich mein Schiff noch kriegen?“ „Aber ja, Sidi“, versicherte der Fahrer des Camion, „aber es gibt ja auch Flugzeuge.“ „Ich fliege nie wieder“, sagte der Doktor aus dem fernen Südostasien, „seitdem ich bei einem Absturz das Wertvollste verlor, was ich besaß.“ * Am darauffolgenden Freitag riß das Telefon den Geschäftsführer der AP -Niederlassung in Singapore aus dem Schlaf. Los Angeles war am Apparat. Zur Verwunderung des Filialdirektors sogar der oberste Chef persönlich. Teufel, dachte er, jetzt schlagen die Flammen sogar zum Indischen Ozean über. Bis zur Stunde war er von den Problemen des Konzerns weitgehend unberührt geblieben, aber wenn sich schon Mister Lewis bemühte, stand er wohl auch im Feuer. „Sir“, fragte der Singapore-Direktor, „wie lauten Ihre Anordnungen?“ Davon konnte im Moment noch keine Rede sein. Lewis wollte Informationen. „Kennen Sie einen Doktor Maha Si Chum?“ 84
„Bedaure, Sir, hier führt jeder Bankangestellte den Doktortitel.“ „Sie erhalten Fotos von ihm über Telekopierer. Er lebt vermutlich in Johore Bahru.“ „Eine Stadt auf dem Festland. Keine fünfzig Meilen entfernt.“ „Gibt es Universitäten dort?“ „Mit allen Fakultäten bis auf die technische“, bestätigte der Mann in Singapore. „Wir arbeiten mit einigen Wissenschaftlern zusammen. Sie veröffentlichen mitunter Artikel über unsere Präparate, Sir.“ „Dann gibt es in Johore Bahru auch eine Zoologische Fakultät.“ „Vermutlich, Sir.“ „Was heißt vermutlich?“ Lewis wurde ungehalten. „Sofort nachprüfen. Dann werden Sie vielleicht auch auf Doktor Chum stoßen.“ „Noch weitere Anhaltspunkte, Sir?“ fragte der SingaporeRepräsentant. „Stellen Sie fest, ob er sich mit der Erforschung ausgestorbener Tierarten befaßt, ob er Züchtungen oder Rückzüchtungen vornimmt.“ „Kann ich direkt auf ihn losgehen, Sir?“ Lewis ließ ein Hecheln vernehmen, als leide er an Atemnot. „Er war vor Tagen noch in Ägypten. Da er kein Flugzeug benutzt, dürfte er wenigstens zwei Wochen unterwegs sein, wenn nicht länger.“ „Ich fahre sofort los, Sir“, versprach der Mann des Konzerns in Singapore, „bis morgen abend um diese Zeit, Sir.“ Er wußte, daß der Präsident schnelle Arbeit schätzte. Aber in diesem Punkt schoß er über das Ziel hinaus. „Wichtig ist, daß Sie ein Ergebnis mitbringen“, schnarrte Lewis. Cole Shoeman duschte, kleidete sich an, holte seinen Che85
vi aus der Garage und erreichte noch die erste Fähre zum Festland. Sehr früh am Morgen klingelte er einen Universitätsassistenten, dem er oft gefällig gewesen war, aus dem Bett. Nach einer Portion Kaffee war dieser wach, telefonierte herum und nannte dem Amerikaner eine Adresse. Es handelte sich um ein kleines Landgut, Richtung Bandar an der Küste. Dazu lieferte er noch Informationen über den Besitzer Doktor Maha Si Chum. „Er ist der Schüler vom großen alten Pahang, der eine Weltkapazität war. Nichts war vor Pahang sicher. Er züchtete Vögel, die schwimmen und sogar tauchen konnten, Kühe mit zwei Eutern, fliegende Hunde.“ „Nur an der eierlegenden Wollmilchsau scheiterte er“, spottete der Amerikaner. ,,Er galt auch als großer Rückzüchter ausgestorbener Tierarten. Der beste vielleicht von allen.“ Das hörte der hinreichend aus Los Angeles präparierte Shoeman gern. Sofort machte er sich auf den Weg an die Küste. Er umfuhr das Landgut, näherte sich ihm, stellte sich beim Personal als Reporter des Time-Magazin vor, drang in das Haus ein, in die Labors und Stallungen. Was er sah, beeindruckte ihn, es deprimierte ihn aber auch. Am Abend war Cole Shoeman wieder in Singapore und rief in der Konzernzentrale an. Sein Bericht lautete wie folgt: „Doktor Chum war Schüler von Professor Pahang. Er führte dessen Rückzüchtungen weiter, und sie gelangen ihm auch auf einigen Gebieten. So brachte er es fertig, ein Lebewesen zu züchten, das auf der Arche Noah zuletzt gesehen worden war – sagt sein Laborhelfer. Nach meinem Eindruck ist Dr. Chum kein spinnöser Tiernarr oder Tierschützer, sondern ein Mann mit klarem Verstand und Geschäftssinn. Seine neueste Rückzüchtung wurde vom Ausland finanziert. 86
Leider erlitt er einen katastrophalen Rückschlag. Ein Dutzend Käfige mit je einem Zuchtpaar wurde von einem Sonderflugzeug abgeholt. Die Maschine stürzte über dem arabischen Meer ab. Man fand nicht einmal Trümmer. Daraufhin machte sich Dr. Chum mit dem letzten Pärchen selbst auf die Reise. Per Schiff. Ich glaube, er fuhr über ColomboBombay nach Suez.“ „Gute Arbeit, Shoeman“, lobte Lewis anerkennend, „gab es Hinweise auf die Art der rückgezüchteten Tiere?“ „Unterlagen nicht“, bedauerte der Filialchef, „darüber hat Dr. Chum wohl alles vernichtet, was er nicht im Kopf hat. Ich fand einige Fotos. Diese mäuseartigen luchsohrigen Hundebeiner unterscheiden sich aber durchaus voneinander. Vermutlich hielt Dr. Chum die einzelnen Zuchtphasen im Bild fest.“ „Haben Sie die Fotos?“ „Fotos der Fotos, Sir.“ „Sofort an uns weiterleiten. Originale per Luftpost, Funkfotos vorab.“ Cole Shoeman, der äußerst cooperativ war, besonders seitdem die Geschäfte mit Arzneimitteln auch in Südostasien schlechter liefen, versprach sofortige Erledigung. Vielleicht bekam er eines Tages doch noch die goldene Uhr, die vom Konzern für besondere Verdienste ehrenhalber an Mitarbeiter verliehen wurden. * Der Exagent im Dienste von D. K. Lewis verließ die Oase Mut wenige Tage später endgültig. Ein klarer Auftrag führte ihn nach Zeituna, einer Hafenstadt am oberen Ende des Roten Meeres, wo es sich in den Golf von Suez und in den Golf von Akaba aufteilte. Mit seinem klimatisierten Gelände-Blazer schaffte er die achthundert Kilometer quer durch Oberägypten in einem und einem halben Tag. 87
Als er ankam, war sein erster Weg zum Hafen. Seine einzige Frage lautete: „War die Arafura schon da?“ „Morgen, Sidi“, sagte ein Hafenarbeiter, „morgen.“ Der Dampfer kam aber doch schon in der Nacht. Er lief diesen letzten ägyptischen Hafen nur an, um noch einmal Frischwasser und Gasöl zu ergänzen. In den Häfen weiter südlich, im Sudan, in Äthiopien, in Somalia oder auf der anderen Seite im Jemen herrschte das Chaos. Dort gab es keine Bunkermöglichkeiten und man wußte nie, ob sie einen jemals wieder von der Kette ließen, wenn man erst den Anker geworfen hatte. Der Amerikaner hatte seinen verstaubten Wagen nahe dem Überseepier geparkt. Das Anlegemanöver des alten Chinadampfers, das Scheinwerferlicht, das Rattern des Spills beim Leinendichtholen, weckten ihn. Lärmend wurden die Landanschlüsse, die Schlauchverbindungen für Wasser und Naphta, hergestellt. Ein paar Händler kamen mit ihren Lieferwagen. Passagiere konnten Frischobst kaufen oder Andenken. Das Angebot war mager genug. Datteln, Feigen, Nüsse, ein paar Zitronen und Arbeiten aus Kamelleder, damit hatte es sich. Zwischen den Passagieren, die sich kurz die Füße vertraten, schmuggelte sich der Exagent an Bord. Kaum vom Deck in die Kajütgänge eingedrungen, lief er einem Steward über den Weg. Stewards, das wußte er, hatten einen scharfen Blick für Leute, die nicht zu den Passagieren gehörten. Der Amerikaner griff in die Tasche und zeigte eine Fünfzigernote zwischen den Fingern. Der Philippino verstand und nahm die Dollarspende. „Die Kabine von Dr. Chum.“ „Drei vier, Sir.“ Der Steward ging weiter. Wenig später hatte der Amerikaner die Außenkabine gefunden. Aber sie war verschlossen. 88
Er suchte den Steward. Der kam mit und sperrte die Kabine mit dem Passepartout auf. Nicht nur stickige, sondern sogar ekelerregende Luft schlug ihnen entgegen. Der Amerikaner ahnte Schlimmes und hielt den Steward am Ärmel fest. Besser, er hatte einen Zeugen. Der Zoologe Dr. Chum lag auf der Koje. Seine Augen standen weit offen, ebenso sein Mund. Sein Gesicht war leichenblaß, das Hemd rot gefärbt. In Herzhöhe steckte ein Messer. „Deshalb kam er nicht zum Essen“, bemerkte der Steward. „Wir führten es auf die bewegte See zurück.“ „Das war Mord“, sagte der Exagent. „Sahen Sie ihn je an Deck?“ „Nur einmal, kurz bevor wir in Suez ablegten. Er sprach noch mit einem Mann.“ „Und?“ „Sie gingen in die Bar.“ „Was für ein Mann war es. Europäer, Araber?“ „Er trug einen Tropicalanzug, könnte Ägypter gewesen sein, oder…“ „Israeli?“ fragte der Ex-CIA-Mann. „Eher Libyer.“ „Wie kommen Sie darauf?“ „Wir hatten einmal einen Libyer als Zahlmeister, ein unangenehmer Vorgesetzter. Der Besucher erinnerte mich an ihn.“ Der Amerikaner schloß die Tür. „Absperren!“ befahl er. „Und jetzt, Sir?“ „Ich weiß von nichts“, äußerte der Amerikaner. „Dann weiß ich auch von nichts“, sagte der Steward. Wenige Minuten später war der Amerikaner von Bord. Noch am selben Tag bekam er Verbindung mit Los Angeles. „Dr. Chum ist tot“, meldete er. „Damit ist der einzige Weg“, erklärte Kevin Lewis, „den wir noch haben, vorgezeichnet.“ 89
9. Der BND-Agent Robert Urban lieferte seinen libyschen Killer im ersten Hospital jenseits der Grenze ab. Nachdem ihm die Ärzte versichert hatten, daß Tarafa über den Berg sei, fuhr Urban weiter bis Tunis und flog von dort am nächsten Tag nach Alexandria. Am International Airport erwartete ihn der Mann des BND in Ägypten, ein gewisser Amr Hazm. Sie kannten sich gut. Urban war, nachdem man den in Deutschland arbeitenden Bauingenieur als Agenten angeheuert hatte, auf mehreren Spezialkursen Hazms Lehrer gewesen. „Du erlaubst“, sagte Urban, „daß ich wieder Ali zu dir sage. Amr Hazm widerstrebt einfach unserem Bedürfnis nach Vokalen. Es bricht uns die Zunge ab.“ „Aber klar, Doktor“, gestattete der Ägypter. Er stand mit Urban auf du und du, verwendete jedoch in der Anrede respektvoll den akademischen Titel seines Ausbilders. Obwohl Urban kein Gepäck hatte, fragte Ali nicht, was vorgefallen sei. „Offizieller Einsatz diesmal“, bemerkte er nur. „Von illegalen Tätigkeiten habe ich für eine Weile genug. Es ging um Haaresbreite diesmal. Was sage ich, um ein Tausendstel Millimeter. Sie hetzten Tarafa hinter mir her.“ Der Ägypter stieß einen Ton aus, der dem Heulen der Hunde ähnlich war, wenn sich Hyänen dem Lagerfeuer näherten. „Tarafa ist ihr bester Mann.“ „Statt mich zu erschießen, jagten sie mich in die Wüste, und gaben mich Tarafa zum Abschuß frei. Er hatte alles, ich hatte nichts, außer ein paar staubigen Salbeibüschen als Deckung.“ „Und wie kamst du lebend raus, Doktor?“ „Ein andermal“, sagte Urban, „wenn ich betrunken genug 90
bin, erzähl ich dir davon. – Laß uns auf meinen Einsatz zurückkommen. Er ist nicht geheim, aber auch nicht offiziell.“ Ali fuhr stadteinwärts zu einem kleinen Hotel nahe dem Nilkanal. ,,Du wolltest nicht ins Hilton, Doktor.“ „Dort wimmelt es von Leuten, die mich todsicher kennen.“ Urban musterte die Fassade des Hotels. „Hauptsache, man kann ausgiebig baden.“ „Inner- und äußerlich“, versicherte Ali. Urban fand alles vorbereitet. Frische Wäsche, Rasierzeug, was ein Mann so brauchte. Solange er badete, brachte Ali seinen Anzug zur Schnellreinigung. Sie saßen beim ersten Drink, als geklopft wurde. Das Zimmermädchen hängte Hose und Sakko in den Schrank. Alles war blitzsauber und gebügelt, nur in den Taschen hing noch etwas Wüstensand. Urban, der auf dem Bett geruht hatte, stand auf und kleidete sich an. „Gehn wir essen?“ fragte Ali, der mit seinen einsneunzig nicht nur Urban, sondern auch fast alle Ägypter überragte. Er hatte einen spärlich behaarten Schädel und eine Nassernase, auf die er besonders stolz war. „Erst noch in die Al-Azhar-Straße.“ Ali schaute auf die Uhr. „Jetzt noch, Doktor?“ „Grundsatz Nummer eins“, erinnerte Urban, „wenn du eine Spur hast, laß sie nicht kalt werden. Schon alles vergessen, Ali?“ „Wo denkst du hin, Doktor. Ich passe mich nur an. Wir sind hier in Arabien.“ Urban schob eine Begründung nach. „Die Adresse stammt von Tarafa. Er rückte sie nur heraus, weil er in einem Zustand war, als hätte er auf eine Zyankalikapsel gebissen. Leute wie er sind rasch wieder auf den Beinen.“ 91
Mehr brauchte er de m Ägypter nicht zu erklären. Sie nahmen noch einen Schluck, Urban steckte die von Ali besorgten Zigaretten ein, das Feuerzeug, die Taschenlampe. Dann fuhren die durch die Mohammedanerstadt, auf der Landenge zwischen beiden Häfen weiter an der Mole entlang und ein Stück hinaus ins Nildelta. Urban glaubte hinter sich immer dasselbe Scheinwerferpaar zu sehen. Der linke Reflektor war ein wenig blind. „Folgt man uns?“ fragte er. „Ich gab einem Mann bei der Abwehr zu verstehen, daß wir hier gewisse Dinge zu erledigen hätten, die mit dem Diebstahl des Starfighter im Juni zu tun haben. Ich versprach ihm, daß wir die Gesetze des Landes beachten und daß ich ihn auf dem laufenden halte. Sie machen sich wohl kaum die Mühe, uns zu beschatten.“ Zwar bog der Wagen hinter ihnen ab, ganz sicher war Urban aber nicht, ob er ihnen nur rein zufällig gefolgt war. Nach einem verwirrenden Linksab und Rechtshinein, durch Vororte mit Villen und eleganten Wohnblocks, tauchte ein Straßenschild auf. Al -Azhar. Wenig später erfaßten die Scheinwerfer von Alis Citroen ein kastenförmiges weißes Haus. Die Frontseite war fensterlos. Seitlich davon standen drei Palmen. Die Mauer bestand aus Lehmziegeln mit rautenförmigem Lochmuster. „Du wartest hier“, entschied Urban. * Es mußte das Haus eines vermögenden ägyptischen Geschäftsmannes sein, der sich im Handel mit Sanitärmaterial betätigte. Die zwei Bäder waren ebenso wie die Küche mit großem Luxus ausgestattet. Alles andere hatte die übliche Teppich-Polstermöbel-Atmosphäre, getränkt mit süßlichem Duft von Parfüm, Wasserpfeifenrauch und Vanillegewürz. Sofas und Sessel waren mit Leinentüchern abgedeckt. Der 92
Staub auf den Kaminsimsen, Tischen und Möbeln lag mit großer Gleichmäßigkeit. Urban schlußfolgerte, daß das Haus im Moment nicht bewohnt sei. Aber irgend etwas mußte die Villa mit Major Neukam, der Bombe und der Million Dollar zu tun haben, sonst hätte Tarafa sie nicht erwähnt. Was kann Tarafa verschwiegen haben, überlegte Urban, während er mit der Taschenlampe Wände, Böden und Dekken absuchte. Daß der Libyer wirklich alles preisgegeben hatte, wagte Urban zu bezweifeln. Um Männer wie ihn zu einem totalen Strip zu bewegen, mußte etwas anderes kommen als nur eine Sandviper. Die Durchsuchung vom Keller bis zum Obergeschoß nahm etwa zwanzig Minuten in Anspruch. Dann suchte Urban noch einmal von oben nach unten. Was ihm auffiel, war ein supermodernes Farbfernsehgerät in Stereoausführung. Darunter stand ein Videorecorder, System Betamax. Urban hatte gehört, daß in Alexandria auf einem Kanal Farb-TV gesendet wurde, aber mit Sicherheit übertrugen die Ägypter noch keinen Stereoton. Im Recorder steckte keine Kassette. Urban sah sich nun genauer in der Bibliothek um. Daß der Hausbesitzer auf anspruchsvolle Lektüre versessen war, konnte man nicht sagen. Seine Büchersammlung maß bestenfalls vier Meter in der Länge, und bestand hauptsächlich aus Unterhaltungsromanen in englischer Sprache. Allerdings gab es auch einige Werke in Arabisch, vorwi egend Gedichtbände. Eines der Bücher im Koranformat hatte einen Lederrükken, der Urban bekannt vorkam. Er zog das Buch heraus. Sein Erstaunen war groß, die gleiche Hieroglyphensammlung wie in Rapallo vor sich zu haben, die Ämely Neukam zerfetzt und im Kamin verfeuert hatte. Urban schlug es auf. Sein Staunen wurde zur Verblüffung. Das Buch hatte nur drei Blätter. In alle nachfolgenden war 93
säuberlich ein Rechteck geschnitten worden. In dieser Öffnung lag eine Videokassette. Sie trug sogar eine Anschrift. – Mister Werner Neukam/West Germany. Urban betätigte den Lichtschalter. Kein Strom. Er suchte den Sicherungskasten, fand ihn im Keller und drehte die altmodischen Porzellansicherungen hinein. Ohne Ergebnis. Die Leitung war wohl schon im Trafohaus abgeklemmt worden. Kurzentschlossen steckte er die Kassette ein, verließ das Haus wie er es betreten hatte durch die Gartentür und saß wenig später neben Ali. „Hast du einen Videorecorder?“ „Wozu?“ fragte Ali. „Hier gibt es kein Programm, das sich lohnte aufgezeichnet zu werden. Nicht mal Pornos wie in Italien.“ „Kannst du einen beschaffen? System Betamax.“ „Aber klar, Doktor“, versicherte Amr Hazm. * Kurz nach Mitternacht brachte der Mann des BND in Ägypten einen Videorecorder angeschleppt. Das Gerät verfügte über einen eingebauten Monitor, wenn auch nur mit 16 cm Diagonale. Urban, als studierter Hochfrequenzingenieur mit Elektronik vertraut, stöpselte das Gerät ein, mußte dann aber mit Drähten eine Art Adapter basteln, weil der Stecker nicht paßte. Ein paar Tastendrücke setzten das Gerät in Funktion. Kassette ins Ei ngabefach. Der Minibildschirm flimmerte. Aber es kam nichts. „Los, go on, man!“ drängte Ali. Sie warteten mehrere Minuten. Kein Bild. „Vielleicht ist der Film auf der anderen Bandseite.“ „Die alten Beta-Kassetten sind nur einseitig bespielbar“, erklärte Urban. 94
Plötzlich ein Piepton, dann helles Zucken auf dem Schirm, ein Bild. – Es kippte. Urban korrigierte. Dann wanderte es aus. Er fing es. Ein Vorspann lief. Wie bei Werbung. Ein Mann im Arztkittel pries irgend etwas. Man sah das Innere von hochmodernen Labors mit allen nur denkbaren Apparaturen. Dann eine Stimme wie aus weiter Ferne, Musik, Sphärenklänge beinah. Das Bild wurde unscharf und milchig. Ein neues Bild kam, wurde scharf. „Ein Kamelreiter“, kommentierte Ali, „Pyramiden. Was soll das?“ Urban stellte das Bild so kontrastreich wie möglich. „Er trägt Säbel.“ „Ein historischer Hollywoodschinken.“ Schwenk auf den Nil. In einem prunkvollen Boot ein Thron mit Baldachin. Ein goldbehängter Mensch. „Das ist Ramses“, rief der Ägypter, und als die Kamera weiterschwenkte, „das alte Theben… nun ja, Theben, wie es sich Filmleute vorstellen.“ Doch bald wurde Ali schweigsam. Die Szene zeigte jetzt das Innere einer ägyptischen Stadt vor dreitausend Jahren. Enge Gassen, Esel, Hunde, die Menschen in langen Gewändern, die Frauen so unverschleiert wie heute wieder, nur die Soldaten trugen die Uniform der Pharaonenzeit. Ali deutete auf einen Mann. „Der Alte war vorhin schon im Bild.“ „Auf den kommt es wohl an“, vermutete Urban. Der Mann bewegte sich, als sei er müde oder krank. Er fragte einen Passanten, bog um eine Ecke, durchquerte einen Torbogen, nahm Treppen und stand schließlich vor einem Haus. – Kamera auf eine Steintafel. Sie zeigte eine Schlange und ein Messer. Die Schlange ringelte sich um die Klinge. „Das Zeichen der Ärzte“, flüsterte Ali. Auf sein Klopfen wurde dem alten Mann geöffnet. – 95
Schnitt. Der Mann, er war gar nicht so alt, Mitte Vierzig vielleicht, lag auf einem Tisch und wurde von dem Arzt untersucht. Im Leib des Patienten schien der Arzt etwas zu entdecken. Ein Gespräch zwischen beiden folgte. Der alte Mann verließ das Haus, ging in seine Herberge, legte sich zu Bett, versuchte zu schlafen. Nacht. Er trat auf den Balkon, blickte zu den Sternen empor. Sein Gesicht groß, mit dem Ausdruck, als habe er einen Entschluß gefaßt. „Gleich stürzt er sich vom Balkon“, sagte Ali, „oder erschießt sich.“ „Oder er ist Masochist“, ergänzte Urban, „und läßt sich operieren. Was damals in fast allen Fällen ein Ende mit Schmerzen bedeutete.“ Neuer harter Schnitt in dem Videofilm. Ali griff zum Bourbon und goß nach. Sie tranken. Urban steckte sich eine von den filterlosen Ägyptischen an. Die nächsten Bilder waren ein Sprung in die Gegenwart. Sie zeigten einen hypermodernen Operationssaal, Tiefstrahler, Narkosegeräte, Kreislauf maschinen, Blutpumpen, Oszillographen, Chirurgen mit Kappe und Mundmaske, sterile Instrumente, Sauger, Tupfer, Klemmen, Skalpelle, Knochensägen, Tampons, Assistenten, Schwestern. – Wieder wurde zum Haus des vorchristlichen Arztes übergeblendet. Er arbeitete ohne Handschuhe, ohne Maske ohne Kappe. Nicht einmal eine Schürze trug er. Vor ihm der Patient. In dessen geöffnetem Leib zuckende vor Feuchtigkeit glitzernde Organe. Der Patient biß auf einen Holzknebel. Die Augen waren starr vor Schmerz, die Hände an den Tisch gefesselt. Der Arzt schnitt im Leib des Patienten herum, holte Gewebestücke heraus, warf sie einfach auf den Boden. Die Kamera folgte nun dem Blick des Arztes auf einen Käfig. Darin ein Tier, ein Viertel Luchs, ein Viertel Ratte, ein Viertel Panda-Bär, ein Viertel Hund. 96
„Niedliches Geschöpf“, murmelte Ali. „Panoptikum“, knurrte Urban. Das Tier war jetzt tot und teilweise seziert. Eine Hand entnahm ein taubeneigroßes Stück der Tierorgane, hielt es hoch. Neue Einstellung auf den Arzt. Das Gewebeteil des Tieres in seinen Fingern wurde in den Körper des Patienten eingesetzt. Er klemmte oder massierte es, man sah es nicht genau, dort fest und begann die klaffende Wunde zu ve rschließen. Nächster Schnitt: Der Patient verläßt gesund das Haus des Arztes, fährt auf einer Nil-Dhau flußaufwärts, reitet auf einem Kamel im Sonnenuntergang einem Dorf zu. Letztes Bild: Der Mann im Kreis seiner Familie. Frau, Söhne, Töchter. Musik, Schluß. – „Das gibt es nur im Kino“, bemerkte Ali. Urban war vorsichtiger. „Ein bißchen Scharlatanerie, ein bißchen Wahrheit.“ „War das nun ein Werbespot oder was?“ „Der Videofilm wurde Interessenten vorgeführt. Ich kenne die Geschichte, zumindest ihr Ende.“ „Welchen Interessenten?“ „Krebskranken, denen man die Aussicht auf Genesung verkaufen wollte. Für viel Geld.“ „Major Neukam?“ fragte Ali. „Er gehörte auch dazu“, mutmaßte Urban. „Aus dem geheimnisvollen Tierorgan wurden erst Präparate entwickelt, die das Tumorwachstum stoppten. Dann wurde der hoffnungsvolle Patient zur Kasse gebeten. Man versprach ihm die rettende Operation. Neukam beschaffte sich das Kapital, indem er mit Libyen den Nuklear-Deal vereinbarte.“ „Waren die Libyer vielleicht auch die Kontaktleute zu den Wunderheilern? Woher sonst hatte Neukam diese Adresse?“ „Oder umgekehrt. – Jedenfalls fand hier die Geldübergabe statt, vielmehr die Anzahlung, und in der Villa wurde auch der Film vorgeführt.“ 97
„Das ist mir“, gestand Ali, „nach einem so langen Tag ein wenig zu hoch, Doktor. Laß uns schlafen gehen.“ „Erst bringe ich die Kassette zurück“, erklärte Ur ban. Sein Instinkt sagte ihm, daß, allein mit diesem Blick in ein vergangenes Jahrtausend, die Sache noch nicht zu Ende sei. * Gegen drei Uhr, eine Stunde vor Beginn der Morgendämmerung, betrat Urban noch einmal die Villa in der Al-AzharStraße. Im Dunkel bewegte er sich durch Halle und Salon in die Bibliothek. Dort tastete er nach dem teeren Hieroglyphenbuch und steckte die Kassette hinein, nicht ohne vorher seine Fingerabdrücke von dem Plastikmaterial zu entfernen. Kaum hatte er das Buch in die Reihe der anderen zurückgestellt, vernahm er ein Geräusch, das nicht in ein unbewohntes Haus passen wollte. Es klang wie das Schmatzen eines Gummiabsatzes auf Marmorfliesen, das Tappen einer Hand im Dunkeln als Orientierungshilfe. Dazu kam noch das Kippen einer Vase, die im letzten Moment durch einen schnellen Griff vor dem Umfallen bewahrt wurde. Urban glaubte, jemanden atmen zu hören. Er versuchte ihn zu orten, dann knipste er die Lampe an. Der Strahl lief um etwa zehn Grad in die falsche Richtung. An seinem Rand war schattenhafte Bewegung. Ein Körper in Khaki, Khakihose, Khakijackett. Kaum war der Schatten weg, flog etwas auf Urban zu. Etwas Schweres Schwarzes. Urban duckte ab. Als es hinter ihm zerbarst, wußte er, daß es die Büste war, die des Ferdinand Marie Vi conte de Lesseps, des Suez-Kanal-Erbauers. Die tausend Trümmer kümmerten ihn nicht. Er folgte dem unbekannten Wesen. Dabei rannte er gegen eine Säule, verlor die Lampe, suchte sie, fand sie auch und hörte einen Türflügel scheppern. Als Urban im Garten ankam, war er dort allein. Und als er 98
die Straße erreichte, war Ali mit seinem Citroen nicht mehr da. Urban versuchte geistig klarzukommen. Auch Ali trug einen khakifarbenen Sommeranzug. Aber er hatte ihm ausdrücklich befohlen, im Wagen auf ihn zu warten. War Ali ihm gefolgt? Aus Neugier? Warum war er neugierig? Glaubte er nicht, was Urban ihm erzählte? Urban wartete eine Zigarettenlänge. Dann versuchte er die Küstenstraße zu erreichen und dort ein Transportmittel zu bekommen. Es gelang ihm erst bei Sonnenaufgang. Ein Bus nahm ihn mit in die Stadt. Im Hotel angekommen, war seine Überraschung groß. Ali lag im Bett und schlief. Urban weckte ihn und forderte eine Erklärung. „Wo warst du, Doktor?“ fragte Ali. Urban gab die Frage zurück. Ali erklärte, er habe gesehen, wie ein Mann in Khaki fluchtartig die Villa verlassen habe. In einer Nebenstraße sei er in einen Peugeot gesprungen. Er sei dem Mann bis zu einem Apartmenthaus im Osten der Stadt gefolgt. Dann sei er in die Al-Azhar-Straße zurückgefahren, habe Urban aber nicht mehr vorgefunden. Urban mußte Ali diese Version abnehmen, ob er wollte oder nicht. „Du hast also doch nicht alles vergessen“, stellte er fest, „du hast reagiert, wie ich es dir beibrachte. Jetzt gib mir die Adresse und bringe mich zu diesem Apartmenthaus.“ „Und wann frühstücken wir?“ „Nicht, solange die Spur heiß ist“, sagte Urban. Am Parkplatz stand der Peugeot. Vom Hausmeister der luxuriösen Wohnanlage erfuhr Urban, wem es gehörte. Mit dem Lift fuhr er ins vorletzte Geschoß. Die Tür der Eckwohnung war ohne Namensschild. Er drückte den Klingelknopf. Drinnen gongte es vornehm. Ansonsten keine Reaktion. 99
Er legte das Ohr an. „Ich weiß, daß Sie da sind“, rief er, „aufmachen, oder ich trete die Tür ein!“ Nichts rührte sich. „Und rufe die Polizei.“ Er wartete. Dreißig Sekunden. Eine Minute „Wird’s bald! Ich zähle bis drei.“ Wie er wirklich handeln würde, das wußte er noch nicht. Plötzlich vernahm er das feine Klirren metallener Glieder, mit dem eine Schließkette ausgeklinkt wurde. Der Schlüssel drehte sich im Schloß. Die Tür war offen. Er drückte sie vorsichtig nach innen, behielt aber noch Deckung. Beherzt sprang er in den Flur, in den toten Winkel eines Schrankes. Von da konnte er durch einen Mauerbogen in die Wohnhalle blicken. Dort stand jemand im Khakianzug und blickte über die Stadt. Urban verließ seine Deckung und näherte sich der schmalhüftigen Person. Sie drehte sich um, als er kam. Es war Ämely Neukam. Ihre roten Locken standen zu Berge, wie an Starkstrom angeschlossen. Sie wirkte äußerst erregt, als wolle sie sich blindlings auf ihn stürzen. Und sie tat es wirklich. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und schlug wütend auf ihn ein. Urban fing ihre Handgelenke ab und drückte Ämely in einen Sessel. „Zieh’n Sie erst mal den Stecker raus“, sagte er, „ich denke, Sie haben Gründe für das, was Sie tun. Nennen Sie mir gefälligst Ihre Gründe.“ Mit einem Mal war die Spannung in ihr zusammengebrochen. Aber der Ausdruck ihrer Augen wirkte wie der eines Selbstmörders, der jeden Moment bereit ist, sich vom zehnten Stock in die Tiefe zu stürzen. Urban versuchte sie abzulenken. „Warum sind Sie hier und nicht zu Hause in Deutschland, Ämely?“ 100
„Dort habe ich kein Zuhause mehr“, antwortete sie leise mit nervös spielenden Fingern. „Dann ist das hier also Ihre Zuflucht.“ Sie nickte. „Die Wohnung gehört mir… aber…“ Da sie nicht weitersprach, fuhr er fort sie zu verhören. „Was suchten Sie in der Villa in der Al-Azhar-Straße?“ Sie zögerte mit der Antwort. Als er ihr klarmachte, daß es nur noch wenige Dinge gebe, die ihm unbekannt seien, sagte sie: „Ich wollte den Film sicherstellen.“ „Den kennen wir bereits“, erklärte er, „und wissen, daß man Major Neukam mit diesem Buch und dem Film als Patienten ködern wollte. Aber die Behandlung erforderte sehr viel Geld, mehr als die Achtzigtausend, die er abhob. Deshalb ließ er sich auf das Angebot aus Tripolis ein, eine F-104 samt Nuklearbombe übers Mittelmeer zu fliegen. Alles alte Hüte, Gnädigste.“ „Ich bin schuld an seinem Tod“, flüsterte die rothaarige Witwe. „Redeten Sie ihm zu, es zu tun?“ hakte Urban nach. „Er war Offizier. Er wollte nicht darauf eingehen“, erzählte sie. „Ich bearbeitete ihn, bis er den Kontrakt endlich unterschrieb.“ Urban konnte sich denken, was jetzt kam. „Sie nahmen für ihn die erste Rate im Empfang?“ „Und behielt alles für mich. Einen Teil zahlte ich auf ein Nummernkonto in der Schweiz, für den Rest kaufte ich diese Wohnung. In der Absicht, mich an diesen verdammten Neukams schadlos zu halten.“ „Über den Film“, kombinierte Urban weiter, „fürchteten Sie, könnten wir auf den Hersteller des Krebsmittels und über ihn auch auf Ihre Spur kommen.“ „Nicht nur Sie“, deutete Ämely Neukam an. 101
Urban steckte sich eine von den ungewöhnlich lockergewickelten ägyptischen Zigaretten an. „Sie haben Angst?“ „Lachhaft! Angst wovor?“ „Ja, Angst wovor“, fuhr Urban fort. „Vor den Libyern.“ „Die Libyer“, rückte sie endlich mit der Wahrheit heraus, „werden die Panne auf mich schieben.“ ,,Daß die NATO Neukams Starfighter über dem Mittelmeer abschoß?“ „Sie werden annehmen, daß ich alles verraten hätte.“ In diesem Punkt konnte er sie beruhigen. „Diese Leute sind Profis. Sie wissen, wie Sicherheitsmaßnahmen funktionieren. Nur die Andeutung von fremder Seite, dieser oder jener Pilot könne die Absicht haben, eine Maschine zu entführen, würde die Luftbasen in Alarmzustand versetzen und jeden Start unmöglich machen. – Nein, wenn man hinter Ihnen her ist, dann aus anderen Gründen.“ Sie war aufgestanden und goß Cognac in ein Glas. „Ich werde bestimmt verfolgt“, eröffnete sie Urban daraufhin. „Vielleicht von der ägyptischen Abwehr.“ „Ich fürchte, nicht nur von der. Die Verfolger wechseln. Einmal sind es arabisch aussehende Burschen, dann wieder Europäer.“ Noch ein Cocnac. Sie stellte das Glas hart weg und wankte, als sei sie betrunken. Urban fing sie auf. „Ich habe Angst“, gestand sie, klammerte sich an ihn und bebte am ganzen Körper wie ein frierendes Tier. „Bitte, helfen Sie mir, Bob.“ Urban löste ihre Arme von seinem Rücken und schob sie von sich. „Mir hilft ja auch keiner“, sagte er.
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10. Auf der anderen Hälfte der Erdkugel, in Los Angeles, fiel die Entscheidung. David Kevin Lewis selbst fällte sie rasch und unbürokratisch. „Ich fasse zusammen“, sagte er mit hoher, von Medikamenten beeinträchtigter Stimme, „aus Singapore schlechte Nachrichten. Doktor Maha Si Chum brachte das letzte Zuchtexemplar dieser seit Jahrhunderten auf Erden ausgestorbenen Tiergattung selbst nach Ägypten. Er tat dies, weil die Ergebnisse seiner mühevollen Arbeit durch einen Flugzeugabsturz vernichtet wurden. Bis vor wenigen Stunden hatte ich die Hoffnung, daß es gelingen möge, wenigstens diesen malaiischen Zoologen für uns zu gewinnen. Leider traf eine Nachricht ein, die noch schlimmer ist als die aus Singapore. Unser Mann in Ägypten fand Chum tot in der Kajüte jenes Schiffes, das er für die Heimreise gebucht hatte.“ Im Kreis der Berater herrschte betretenes Schweigen. Da keiner der Anwesenden etwas dazu äußern wollte, fuhr der Konzernpräsident fort: „Nicht nur für die Lewis-Firmengruppe bedeutet eine neue Produktentwicklung auf dem Gebiet der Antikrebsmittel sehr viel, sondern auch für mich. Für mich ist sie lebenswichtig. Denn was nützen mir irdische Güter, wenn ich tot bin.“ Es war so still, daß man das Summen der Klimaanlage hören konnte und das Klirren der Dreischeibenverglasung, ausgelöst von einem am International Airport startenden Flugzeug. Der Präsident gab sich einen Ruck, seine hageren Finger umklammerten die Rollstuhllehne wie Vogelkrallen. „Deshalb bin ich entschlossen, bis zum Äußersten zu gehen“, fuhr er fort, „koste es, was es wolle. Unser Mann in Ägypten ist von mir bevollmächtigt, alle ihm notwendig 103
erscheinenden Maßnahmen zu ergreifen sowie alle Mittel einzusetzen, um an die Forschungsstätte in der Wüste heranzukommen und in sie einzudringen. Unser Mann hatte Detailanweisungen, um was es geht. Er stellte bereits ein Team zusammen.“ Die nach Injektionen stets übergroß geweiteten und unruhigen Augen des Präsidenten musterten die Runde der Berater und blieben auf einem der Anwesenden haften. „Unser Mann in Ägypten“, machte Lewis weiter, „ist das, was man einen Landsknecht, einen Söldner nennt. Er wird für gutes Geld sein Leben riskieren. Aber nie wird ein Söldner genau wissen, um was er kämpft. Das ist seit alten Zeiten so. Deshalb werden Sie, Mister Bonnevie, sofort aufbrechen und im Laufe der nächsten vierundzwanzig Stunden zu ihm stoßen. Sie werden, wie man so schön sagt, im Gefolge der kämpfenden Truppe in die Festung eindringen und die Beute sicherstellen. Sie wi ssen, was ich meine.“ „Forschungsergebnisse“, präzisierte Bonnevie, „Präparate, Unterlagen, Testprotokolle, den Inhalt von Ampullen wie den Inhalt von Tiefkühlfächern. Und wenn möglich zwei lebende Tiere, wie sie keiner von uns je gesehen hat.“ Die Aufzählung Bonnevies klang beinah makaber, aber Lewis hörte den Unterton nicht heraus. „Sie sind aus dieser Runde entlassen, Mister Bonnevie“, sagte Lewis, „Sie werden unseren Mann auf der Oase Mut in Oberägypten treffen. Der Lear-Jet steht Ihnen selbstverständlich zur Verfügung. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, Mister Bonnevie. Und wagen Sie nicht, ohne durchschlagenden Erfolg zurückzukehren.“ Dann ging David Kevin Lewis wieder zur Tagesordnung über.
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Der Ex-CIA-Agent, jetzt im Dienste der AP -Corporation, wußte genau wann eine Sache heiß wurde. Auf der Rückfahrt vom Golf von Suez nach Mut übernachtete er in Sohag und trank sich erst einmal Entschlußfreudigkeit an. Nach einer halben Flasche Bourbon war er soweit. Er meldete ein Gespräch nach Kairo an und sprach dort mit einem Kollegen aus der Zeit, als er noch für die Agency gearbeitet hatte. „Was treibst du in Ägypten?“ fragte der Mann in Kairo erstaunt. „Einer von meinen vielen Jobs.“ „Lohnt es sich?“ erkundigte sich der andere. „Du bist damals weggegangen, weil das Geld nicht stimmte.“ „Ich mache jetzt fünfmal soviel.“ „Aber auf illegale Weise.“ „Was war bei uns schon legal“, bemerkte der Exagent ironisch. „Aber etwas weniger gefährlich dürfte es wohl gewesen sein.“ „Du meinst, weil die Agency für jeden Mann im Einsatz angeblich ein doppeltes Sicherheitsnetz spannte. Ich will dir was sagen, Styger, es gab keinerlei Sicherheitsnetze, das hat man uns nur vorgeschwindelt. Wenn sich einer im Einsatz exponiert hatte, oder wenn seine Rettung die Anonymität gefährdet hätte, hätte man ihn kaltlächelnd fallenlassen. Wie eine faule Tomate.“ „Bei euch etwa nicht?“ erkundigte sich der Mann in Kairo. „So betrachtet, gibt es mehr Lohn für ebensoviel Angst.“ „Und was kann ich für dich tun?“ wollte der Mann in Kairo jetzt wissen. Daraufhin weihte ihn der Kollege in seinen neuen Job ein. Dabei deutete er besonders darauf hin, daß Zusammenhänge mit dem Absturz eines Starfighters über dem Mittelmeer bestünden, an dessen Aufklärung seines Wissens die NATO105
Geheimdienste arbeiteten. Der Mann in Kairo bedankte sich für den Tip, konnte sich aber die Frage nicht verkneifen, um was es dem AP-Konzern denn dabei ging. „Um dasselbe, wie diesem deutschen Piloten vielleicht.“ „Um Geld?“ „Geld ist für Lewis gleich Konzerngewinne. Im Moment fährt er Verluste.“ „Und die will er durch diese Operation ausbügeln.“ „Durch die Ergebnisse dieser Operation.“ Der Mann der CIA in Kairo hatte eine letzte Frage: „Warum erzählst du mir das alles?“ „Wie ich hörte, wird in diesem Wüstenlabor nicht nur an Antikrebsmitteln gearbeitet, sondern auch… vielleicht an Kampfgiften oder Kampfgasen.“ „Sie sind oft Abfallprodukte der Forschung.“ „Die Sache ist sehr wichtig für uns.“ „Ich möchte nicht zuviel versprechen. Vielleicht läßt sich für dich und deine Leute doch ein Sicherheitsnetz ziehen.“ „Das wäre fein“, sagte der Exagent, „aber wenn ihr ein Netz spannt, dann bitte nicht mit zu großen Maschen.“ * Zwei Tage später bewegte sich eine Kolonne wüstengängiger Fahrzeuge von der Oase Mut nach Süden. Niemand wußte, daß auch von Osten, von Al-Shabb her, ein Kommando unterwegs war. Ohne sich zu begegnen, ohne einander je zu sehen, näherten sich die Gruppen dem Sperrgebiet um die Tafelpyramide. Solange es hell war, hielten sie genug Abstand und benahmen sich wie Saharareisende auf dem Weg nach irgendwohin. Bei Sonnenuntergang stoppten sie, als wollten sie ihr Nachtlager aufschlagen. Doch bei Dunkelheit setzten sie 106
sich wieder in Marsch. Beide Kolonnen überquerten die Grenzlinie der Sperrzone, die durch Warnschilder im Abstand von 250 Metern deutlich gekennzeichnet war. So, als hätten sie dasselbe Ziel, fuhren sie auf den Mittelpunkt des privaten Geländes zu. Das riesige Laboratorium, es glich einem vielfältig geschliffenen und von innen glühenden Diamanten, war ihr Wegweiser. Es mochte kurz vor Mitternacht sein, als die zwei Kolonnen nahe der Tafelpyramide anhielten, um Entscheidungen zu treffen, wie angegriffen werden sollte. Bei der von Norden kommenden Kolonne wurde noch einmal Tee gekocht, bei der anderen starker Kaffee. Die eine Kolonne bediente sich dabei eines modernen Benzinkochers, während die andere ein Feuer entzündete, dessen Schein man aber in Richtung auf die Laborpyramide hin abschirmte. Nach einiger Zeit schienen die Teamchefs beider Kolonnen ihre Entschlüsse gefaßt zu haben. Aber kurz bevor sie diese in die Tat umsetzten, geschah etwas völlig Unerwartetes. Hier wie dort. Es traten Dinge ein, mit denen sie nicht gerechnet hatten. Es traf sie so übermächtig, daß jede Gegenwehr schon im Ansatz vereitelt wurde. Die Ereignisse, die zur Eliminierung der zwei Kolonnen führten, dauerten nur wenige Minuten. Bis Sonnenaufgang jedoch war von den zwei Gruppen nichts mehr vorhanden. Weder Fahrzeuge noch Waffen, noch deren Bedienungspersonal. Es war nicht übertrieben, wenn man behauptete, die Erde habe sie verschluckt.
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11. „Mir hilft ja auch keiner“, wiederholte Bob Urban und bediente sich vom Remy-Martin. Ämely Neukam stand am Fenster und starrte auf die Straße. „Da unten steht schon wieder einer.“ Urban trat neben sie. „Der gehört zu mir.“ Ihre Lippen waren feucht vom Cognac. „Sie glauben mir kein Wort.“ „Nicht allzu viele“, schränkte er ein. „Vertrauen wäre die Basis.“ „Die gesündeste Basis sind immer gemeinsame Interessen“, erklärte er. „Haben wir die nicht?“ „Nein.“ Er setzte das Glas ab. „Für mich ist der Fall zu neunundneunzig Prozent ausgereizt. Ich fliege nach München und mache meinen Bericht. Von mir aus mögen Sie hier verkommen und verwesen. Danke für den Drink, Gnädigste.“ Er wollte gehen, aber sie versperrte ihm den Weg. „Ich bin in Gefahr, Bob.“ „Ich immer“, entgegnete er. Das alles ging ihn nichts mehr an. Er war bedient. Er wußte warum, wofür und für wen Major Neukam es getan hatte. Er schob Ämely zur Seite und verließ ihre Wohnung. Sie folgte ihm bis zur Tür. Vom Lift aus sah er sie noch stehen. Sie tat ihm leid. Vielleicht ging sie an der Sache kaputt. Damit es ihn nicht übermannte, bevor er sich’s anders überlegte, sprang er in den Lift und drückte auf den Knopf für das Erdgeschoß. Draußen vor dem Haus packte ihn die schwüle Hitze. Lauer Wind trug den Modergeruch der Nilsümpfe herüber. Es 108
würgte einen, bis man sich daran gewöhnt hatte. Er fühlte sich schlapp. Er war müde. Zuviel war in den letzten drei Tagen passiert. Seit sechsunddreißig Stunden hatte er kein Auge zugemacht. Höchste Zeit, dem Körper zu geben, was er forderte. Wie auf Watte, nur noch mit Krafteinsatz, ging Urban zum Parkplatz, wo Ali mit dem Citroen wartete. Schon von weitem sah er, daß der Ägypter eingeschlafen war. Sein Kopf hing über dem Lenkrad. Urban öffnete die Tür. „He, aufwachen, Alter!“ Durch den Lenkradkranz tropfte etwas auf Alis helle Popelinehose. Blut. Urban berührte ihn. Ali zuckte. Also lebte er noch. Er röchelte, versuchte Worte zu formen. „Man wollte wissen, weshalb ich hinter ihr her bin.“ Urban half ihm, sich zurückzulehnen. Alis weißes Hemd hatte oberhalb des Herzens rötliche Färbung. „Ganz ruhig, Junge.“ „… für wen ich arbeite“, fuhr Ali fort. „Meine Antwort gefiel ihm wohl nicht.“ „Dann stach er zu.“ „Er war schneller.“ Alis Mund verzerrte sich vor Schmerz. „… ehe ich die Waffe ziehen konnte.“ „Du übst zu wenig.“ „Er hatte ein Messer.“ Urban preßte Papiertaschentücher auf die sickernde Wunde. Das Messer hatte Alis Herz treffen sollen, hatte es aber um Zentimeter verfehlt. Urban fluchte. „Verdammt, habe ich dir nicht beigebracht, dem Gegner in die Augen zu sehen?“ „Ich drehte mich weg“, murmelte Ali, „war das nicht genug?“ „Offenbar nein.“ 109
Urban zog ihn auf die andere Seite, nahm hinter dem Lenkrad Platz, startete und fuhr los. „Was jetzt, Doktor?“ fragte Ali schon recht kraftlos. „Hospital“, entschied Urban. „Sag mir, wie ich fahren muß.“ „Wahnsinn ist das. Sie werden Fragen stellen, deine Personalien verlangen. Die Polizei verständigen.“ „Mal sehen“, wich Urban aus. Er hoffte, es würde ihm etwas einfallen. Ali dirigierte ihn, soweit er dazu imstande war, durch die Stadt. „Was war bei der Neukam?“ „Nichts. Ich dachte, ich sei endlich fertig hier.“ „Du fährst noch mal hin?“ „Muß wohl“, befürchtete Urban. „Wer war der Mann?“ „Araber, europäisch gekleidet, aber Araber.“ Urban raste eine lange Chaussee hinaus. Endlich kam eine Mauer, Bäume dahinter, eine Toreinfahrt, weiter drinnen flache Gebäude, auf dem Dach eine Fahne, weiß mit rotem Kreuz. „Halt!“ stieß Ali hervor. „Du sollst halten, Doktor!“ Er ließ sich nicht hindern zu tun, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. Nicht einmal durch Androhung von Gewalt. „Und jetzt hau ab, Doktor“, keuchte er, „die paar Meter bis zum Notarzt schaffe ich noch auf eigenen Beinen.“ Er stieg aus, wankte auf das backsteinrote Haus zu, zog sich am Geländer der Außentreppe drei Stufen hoch, blieb stehen, taumelte. Krankenschwestern eilten heraus und nahmen ihn in Empfang. Urban wendete. * Die Tür zur Wohnung von Ämely Neukam war nur angelehnt. Drinnen fand Urban vor, was er befürchtet hatte. Es 110
sah aus wie nach dem Durchzug eines Orkans. Schranktüren und Schübe standen offen, der Inhalt war herausgerissen. Polstermöbel lagen umgekippt, die Teppiche waren aufgerollt, sogar das Gefrierfach des Kühlschrankes hatten sie entleert. Ämely Neukam lag im Schlafzimmer neben ihrem Bett. Sie lebte noch. Sie hatten sie hart angefaßt, aber ihre Verzierung ganz gelassen. Urban wollte sich um sie kümmern, da ließ ihn ein Geräusch herumfahren. „Ihr fehlt nichts. Kleine Ohnmacht. Sie stellt sich nur so an.“ Der Mann hinter ihm zeigte dasselbe fettige Gesicht wie der Taxifahrer in Tripolis, als habe er gerade ein Butterbrot verdrückt und vergessen, den Mund abzuwischen. Zwischen den Lippen hatte er eine Zigarette, in der Hand ein Feuerzeug. Nach Urbans Erfahrung war es aber mehr als nur ein Instrument, um eine Zigarette in Brand zu setzen. Entweder enthielt es eine Giftnadel oder einen Lauf für kleinkalibrige Munition. „Bist ein harter Bursche, Tarafa“, staunte Urban kopfschüttelnd. Sie standen sich Auge in Auge gegenüber. Beide waren sie wie erstarrt, aber sie umschlichen sich in Gedanken. Plötzlich fing Tarafa an zu grinsen. „Vorgestern noch auf dem Trip ins Jenseits, heute schon Alexandria.“ „Die schnelle Truppe.“ Urban deutete auf das Chaos in der Wohnung. „Anders geht es bei euch wohl nicht, he?“ „Nicht, wenn man uns Widerstand leistet.“ „Sie war unbewaffnet. Eine Frau.“ Der libysche Superagent hatte nicht einmal einen schiefen Blick für Ämely übrig. „Sie überlegte zu lange, was sie sagen sollte. Wer zögert, der lügt.“ 111
„Ebenso wie der Mann im Citroen?“ Der Libyer äußerte sich nicht dazu. In diesem Job rechtfertigte sich keiner für das, was er getan hatte. „Erst war ich drei Schritte voraus“, sagte Tarafa, „dann warst du es. Jetzt hab ich wieder Vorsprung. Du kannst ihn einholen, Dynamit, ganz mühelos sogar, wie ich dich kenne, aber nimm einen Rat an.“ „Von dir immer“, höhnte Urban. „Fahr nach Hause. Nimm das Taxi zum nächsten Flugplatz und bring möglichst viele Meilen zwischen dich und Nordafrika.“ „Komme ich dir etwa in die Quere?“ Jetzt lächelte Tarafa sogar. „Dies wohl kaum. Aber geh nicht in die Wüste. Was es dort zu erledigen gibt, das liegt abseits der Interessen der NATO. Das berührt nur uns Araber. Es ist unsere Sache. Unsere Angelegenheit.“ „Du machst mich neugierig“, gestand Urban. „Neben der Krebsforschung“, fuhr Tarafa fort, „betreiben sie noch die Herstellung von Dingen, die wir nicht zulassen dürfen.“ „Bakteriologische Waffen, etwa?“ „Mein Land und Ägypten sind leider verfeindet“, erklärte Tarafa Dschabir, ohne auf Urbans Bemerkung einzugehen, „wir dürfen es einfach nicht zulassen. Also halte dich raus. Es wäre dein Ende. Ich warne dich!“ Ein letzter Augenkontakt. – Tarafa nahm noch einen Zug aus der Zigarette, warf sie weg und trat sie auf dem hellen Verlourteppich aus. Eine schwäbische Hausfrau wäre vermutlich in Hysterie verfallen. „Wir sind uns nie mehr begegnet“, sagte Tarafa noch. „Nie“, bestätigte Urban.
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Als Tarafa verschwunden war, kümmerte sich Urban um die Frau. Er legte sie auf das Bett, holte Cognac, stopfte das Kissen in ihren Nacken und flößte ihr Alkohol ein. „Kopfschmerzen“, stöhnte sie, „sie stürzten herein wie die Berserker. Sie haben mich kaum angerührt, aber ich bin fertig, total.“ „Der Schock“, Urban zeigte sich verständnisvoll. „Was wollten sie von Ihnen?“ „Sie stellten“, sagte Ämely Neukam, „die einzige Frage, die Sie mir nie gestellt hatten, was mich sehr wunderte.“ „Die Frage nach Namen oder Sitz der Krebsheilerorganisation.“ „Ich nannte sie diesen Wüstlingen, ehe sie meine Wohnung völlig zertrümmerten. Ich gebe sie auch Ihnen, Bob.“ „Was soll ich damit?“ „Ich war mit Werner Neukam dort“, gestand sie. „er wurde untersucht und abgecheckt. Sein Krebs sei heilbar, versprachen sie.“ „Neukam ist tot. Uns beschäftigten nur die Hintergründe seines Geschäftes mit der Bombe.“ Jetzt, wo es nicht mehr nötig war, lieferte sie ihm bereitwillig die Angaben, die er nicht mehr brauchte. „Sie haben am Rand der Sahara, dicht an der Grenze zum Sudan, ein gigantisches Labor gebaut, achtzig Kilometer südlich der Oase Mut.“ „Von mir aus“, Urban stand auf und plante seine nächsten Schritte. Diese Frau kam allein klar. Er würde sich um Ali kümmern und dann versuchen, einen Platz in der Abendmaschine nach Hause zu kriegen. Und wenn er sich ins Cockpit eines Lufthansajets klemmte, bloß weg hier! Aber vorher mußte er mit München sprechen, damit das Hauptquartier über seine bestehenden Drähte die Abwehr in Kairo darüber informierte, daß es in der Wüste vielleicht zu einem Massaker kam. 113
„Kann ich mal telefonieren?“ fragte er und begann schon zu wählen. * Urban lieferte einen kurzen, aber umfassenden Bericht über die Ereignisse der letzten Tage, beginnend mit seiner Landung in Tripolis. Er hatte Übung darin, Ausschmückungen wegzulassen und nur das Wesentliche zu erwähnen. Im guten Glauben, daß er alle für den BND wichtigen Fragen abgeklärt habe, kündigte er seine Rückkehr an. „Und wo ist dabei die Neuigkeit, die brandheiße?“ tat der Operationschef enttäuscht. „Daß ich noch am Leben bin, Großmeister.“ „Andere sind es möglicherweise etwas weniger“, deutete Sebastian an. „Dachten Sie dabei an spezielle Gentlemen?“ erkundigte sich Urban beiläufig. Eigentlich wollte er schon auflegen. „Ja, und das ist meine Neuigkeit.“ Der Operationschef machte ihn neugierig. „Ein Kommando, bestehend aus erstklassigen CIA-Agenten, war offenbar aktiver als Sie, Nummer achtzehn, und wollte das gläserne Labor in der Wüste, diese Tafelpyramide aus Stahlbeton und Kunststoff, näher besichtigen.“ Allein das Wort „wollte“ genügte Urban, um sich den Rest zusammenzureimen. „Wegen der bakteriologischen Kampfmittel, die dort als Nebenprodukt anfallen.“ „Angeregt wurde die Agency zu dem Unternehmen von einem Exagenten, der jetzt für die Äskulap-PharmaCorporation Los Angeles tätig ist.“ „Denen geht es nur um die Krebspräparate.“ „Genauer um das Ausgangsmaterial dazu, das, wie ich hörte, aus den Organen rückgezüchteter Tiere gewonnen wird.“ 114
„Ein Konzernkrieg also.“ „Was für ein Krieg auch immer, die AP -Corporation und die Agency setzten zwei getrennt marschierende Stoßtrupps an.“ „Mit dem Ergebnis“, unterbrach Urban, „daß ihnen die Libyer in die Quere kommen.“ „Bitte“, sagte der Oberst, „lassen Sie mich ausreden! Die Libyer können den Amerikanern gar nicht in die Quere kommen, denn seit Tagen fehlt jede Nachricht von ihnen. Die sechste Flotte schickte Aufklärer los. Sie fanden nicht mal einen Kaugummi ihrer Boys in der Wüste.“ „Die Wüste ist groß. Sie verschlang schon ganze Heere spurlos.“ „Aber nicht im zwanzigsten Jahrhundert“, entgegnete Sebastian. „Offiziell können die Amerikaner nichts unterne hmen, denn offiziell gibt es kein Kommandounternehmen irgendwelcher Art.“ „Dann setzt man sie eben auf die Verlustliste.“ „Falls man sie nicht doch noch findet.“ „Dann muß man sie suchen.“ „So diskret wie möglich“, pflichtete der Operationschef seinem Agenten bei. „Deshalb bat man uns um Unterstützung. Und da Sie der Brandstelle am nächsten sind, ernenne ich Sie hiermit zum Feuerwehrhauptmann.“ In Anbetracht seiner Humorlosigkeit hatte sich Sebastian zu einer verhältnismäßig witzigen Formulierung aufgeschwungen, auch wenn Urban gar nicht darüber lachen konnte. Seine Reizschwelle lag höher. Sie lag besonders dann sehr hoch, wenn er begriff, um was es ging, nämlich darum, daß er verheizt werden sollte. Er legte Protest ein. „Was hat das bitte noch mit der Aufgabenstellung des Bundesnachrichtendienstes zu tun?“ „Wenig.“ 115
„Sie mischen vielleicht irgendein Insektenpulver zusammen, in dem Labor.“ „Wissen Sie das genau?“ „Angenommen, ich fände es heraus, was würde es ändern.“ „Denken Sie an die verschwundenen Kameraden von der CIA.“ Jetzt mußte Urban lachen. „Wann war ich deren Kamerad, wenn es mir dreckig ging. Wo kommt man hin, wenn man jedem helfen wollte, der in der Klemme steckt, nur weil er plötzlich schreit, ich bin dein guter Kamerad.“ Urban lieferte lediglich noch Rückzugsgefechte. Und er wußte es. Um so mehr stank ihm, daß er, todmüde wie er war, wieder für andere den Kopf hinhalten sollte. „Das ist eine Order“, befahl Sebastian. „Das bringen Sie doch!“ „Spielend“, sagte Urban und legte auf. * Einen Tag später rollte Urban in einem Tojota Land-Cruiser über Stock und Stein, denn mehr war von der Piste nach Südwesten nicht mehr vorhanden. Neben ihm saß Ämely Neukam. „Wie kamen Sie so rasch zu dem Geländewagen?“ fragte sein weiblicher Scout. „Er stand in Alis Garage.“ „Wie geht es Ihrem Freund?“ „Die Operation hatte den Schwierigkeitsgrad einer Blinddarmentnahme. Er humpelt schon wieder herum.“ „Was rief Ihren Sinneswandel hervor?“ Diese Frage war berechtigt. Nach dem Gespräch mit Sebastian hatte sich Urban quasi in den Teppich gerollt. Er hatte sich auf die Couch gestreckt 116
und war dreizehn Stunden völlig weggewesen. Danach hatte er sich um Ali gekümmert, war mit dem japanischen Allrader wieder bei der Neukam aufgekreuzt und hatte sie gefragt, ob sie sein Pfadfinder sein wolle. Urban steuerte eine Tankstelle an, ließ neunzig Liter Diesel in den Tank zapfen und besorgte sich eine Karte, die aber noch aus der Zeit von Lawrence of Arabia stammte. Er fragte nach dem Zustand der Strecke. Er sei bestens, wurde ihm versichert. – Straßen, die Löcher von weniger als Kamelgröße vorwiesen, galten hier als Autobahnen. Er deckte sich noch mit Mineralwasser und Dosenproviant ein, zahlte und nahm die letzten siebenhundert Kilometer unter die Räder. Als sie wieder in die glühende Hitze der Steinwüste hinausfuhren, beantwortete er Ämely Neukams Frage, was ihn zu dem Sinneswandel bewogen habe, mit einem Zitat von Bundeskanzler Adenauer: „Was interessiert mich meine Meinung von gestern.“ „Meine Meinung ist, daß Sie, was immer Sie auch suchen, es nicht finden werden“, antwortete Ämely. „Sie kennen diese Leute?“ „Ich war einmal da.“ „Es ist ein auf Gewinn ausgerichtetes Unternehmen, denke ich.“ „Daß Sie ihnen Geld bringen“, wandte sie ein, „ist sehr zweifelhaft. Dafür haben diese Leute, wie alle Unternehmer der Welt, einen siebenten Sinn. Was aber keinen Gewinn bringt, kann nur schaden. Gegen Feinde schlagen sie hart zu.“ „Brutal sogar.“ „Wer nicht erwünscht und nicht sauber ist, kommt nicht an sie heran.“ „Dann müßte das Labor eine Festung sein.“ „Ist es“, versicherte seine Begleiterin. „Wie überwand Werner Neukam diese Barriere?“ 117
Sie begann zu erzählen: „Mit einer Anzeige in einer Zeitung hat es angefangen. Über eine Chiffre wurde Hilfe gegen Krebs angeboten. Neukam meldete sich. Man verlangte eine Auskunft über seine Vermögensverhältnisse. Er schrieb, er sei Jet-Pilot und kein reicher Mann. Eines Tages kam ein Besucher und sprach lange mit ihm. Er schien die Möglichkeiten eines Starfighter-Piloten der Bundesluftwaffe zu eruieren. Neukam erklärte ihm, daß die Zeiten, wo eine Million Dollar für ein ins gegnerische Lager entführtes Flugzeug bezahlt wurden, leider vorbei seien. Der Besucher bezweifelte dies. Ein anderer meldete sich Wochen später bei Neukam, ein Waffenhändler. An der F-104, dieser fünfzehn Jahre alten Kiste, war er nicht interessiert, aber an einem Nuklear -Sprengsatz. Man bot Neukam genug Geld, um sich die ägyptische Krebstherapie leisten zu können.“ „Woher wußte er, daß er Krebs hat?“ fragte Urban. „Eines Abends“, sagte Ämely Neukam, „nach einem wundervollen harmonischen und beschwingten Tag im Herbst, bekam er plötzlich Schmerzen. Von einer Stunde zur anderen. Er suchte nicht den Truppenarzt auf, sondern einen befreundeten Mediziner. Der fand nichts, ließ ihn aber durch die Mühle einer Spezialklinik laufen. Der Scanner zeigte dann etwas.“ „Und Neukam ging auf das Angebot ein.“ „Nach langem Zögern. Er sagte sich, wenn Israel die Atombombe hat, bald auch Pakistan, der Irak und Indien sowieso, was kann es dann noch schaden. Ich riet ihm dazu, ich drängte ihn richtiggehend.“ Zwischen ihren Sätzen entstanden lange Pausen. Sie übernachteten in der Oase Farafa, eine Tagesreise von Mut und der Tafelpyramide entfernt.
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Es war in der zweiten Nacht nach ihrer Abreise in Alexandria. Sie standen dicht am Wendekreis, auf 23 Grad Nord etwa. Um sie herum Sand, Dünen, abwechselnd mit Steinwüste. Wenn es hoch kam, wucherte Kameldorn aus der Dürre. Am Horizont ein rötliches Glühen, als sei ein Stern auf die Erde gefallen und kühle dort langsam ab. Urban schätzte die Distanz zu dem geheimnisvollen Labor auf vier, höchstens sechs Kilometer. Er hielt den LandCruiser an. „Was für Leute stehen eigentlich hinter dieser Organisation?“ „Reiche Ägypter“, behauptete Ämely Neukam. Araber, die noch reicher werden wollen. Nach außen hin propagieren sie eine Erneuerung der Pharaonen-Medizin. Insgeheim denken sie, warum sollen wir bei Krupp oder Mercedes in Germany investieren, wenn es sich hier noch besser lohnt.“ Urban kochte Kaffee, Ämely bereitete in der Pfanne Corned-beef. Danach rauchten sie, nahmen einen Cognac. Es wurde kalt. „Schlage vor, Sie kriechen in den Schlafsack“, sagte Urban. „Und Sie?“ „Ich muß mich umsehen.“ „Wonach?“ Er antwortete nicht, nahm den daunengefütterten Anorak, den er sich von Ali geliehen hatte und ging. „Tun Sie es nicht!“ rief Ämely, „die Nacht ist voller Gefahren.“ Er winkte zurück und marschierte los. Nicht auf die glühende Pyramide zu, sondern um sie herum. Gegen Mitternacht kreuzte er eine Autospur. Mindestens drei Geländewagen wäre hier, weit abseits der markierten Piste, durchgekommen. Er folgte der Spur. Sie führte an den Minenwarnschildern vorbei noch gut eine halbe Meile auf 119
die Pyramide zu. Dann hatten die Wagen offenbar angehalten. Urban entdeckte die Reste eines Feuers und ein paar Zigarettenkippen im Sand. Der Mond stand hoch am Himmel, und sein Licht hätte ausgereicht, um eine Zeitung zu lesen. Er suchte nach dem weiteren Verlauf der Reifenabdrücke. Sie hörten einfach auf. Sie führten nicht weiter, aber auch nicht zurück. Plötzlich waren sie nicht mehr vorhanden. Wie von einer Kehrmaschine beseitigt. Ein Geräusch zwang ihn flach zu Boden. Das Dröhnen eines Motors. Bald verlor es sich in der Ferne. Jetzt vernahm er ein Zirpen. – Gab es Zikaden in der Wüste? Kein Zweifel, die Wüste lebte erst richtig bei Nacht. Dann wuchs und wucherte und kroch und krabbelte es überall. Dann sang der Stein zwischen Hitze und Kälte, und der Sand summte. Wie in der Geisterbahn, dachte er und steckte sich eine Zigarette an. Ein letzter Blick auf den glühenden Kristall vor ihm. Morgen, dachte er, ist auch noch ein Tag. – Er machte kehrt, um zum Lager zurückzugehen. Doch der Weg war ihm versperrt. Im Halbkreis um ihn herum standen Männer in grüner Kleidung mit Gesichtsmasken, die nur die Augen freigaben. Sie hatten Waffen, merkwürdige Waffen. Wie Leute vom Mars wirkten sie, nur größer. Du träumst, dachte Urban, du hast Halluzinationen! Eine Fata Morgana. Aber bei Nacht gab es keine Luftspiegelungen. Stumm näherten sich die Männer. Nur ihre Stiefelsohlen knirschten im Sand. Die Sicherungsflügel ihrer Waffen klickten metallisch. Der vorderste der Männer bewegte die Lippen unter der Vermummung. „Mitkommen!“ befahl er auf Englisch. 120
Irgendwie hatte Urban damit gerechnet. Aber um sich erleichtert zu fühlen, hätte er wohl Todessehnsucht in sich fühlen müssen. 12. Im Morgengrauen wurden die Triebwerke ein letztes Mal gecheckt. Wie aufbrausender Sturm legten die Sternmotore des alten B-29-Bombers los und warfen ihre 2200 PS auf die riesigen Propeller. In den Rümpfen der schweren Maschinen aus dem zweiten Weltkrieg arbeiteten Mechaniker, um die Einsatzfähigkeit herzustellen. Immerhin waren diese Vögel mittlerweile siebenunddreißig Jahre alt. In einem blitzartigen Einsatz hatte man sie entmottet und aus den Hangars geholt. Jetzt sollten sie mit Bomben beladen werden, die kaum jünger waren als sie selbst. Im Tower der Luftbasis – sie hatte einst den Amerikanern gehört, – stand Tarafa Dschabir. Der Rang eines Obersten der libyschen Armee gab ihm die nötige Befehlsgewalt. „Wo, zum Teufel, bleiben die Besatzungen?“ fluchte er. Einer der Luftwaffenoffiziere versuchte zu erklären: „Normalerweise benötigt die Superfortress acht Mann, Colonel.“ „Weiß ich. Aber wir sind ja nicht im Krieg. Ich meine in einem Kampf, wo auch zurückgeschossen wird und es von feindlichen Jägern nur so wimmelt. Es wird ein Überraschungsangriff. Um das Ziel zu finden und die Bomben abregnen zu lassen, werden bei Allah doch drei Mann genügen.“ „Bei diesen alten Wright-Cyclone-Triebwerken ist schon ein Bordmechaniker vonnöten, Oberst“ „Na schön, vier Mann. Und wo sind die bitte?“ „Diese B-29 wurden vor fünf Jahren zum letzten Mal geflogen.“ 121
„Der Staatschef bestand immer darauf, daß sie in einsatzfähigem Zustand bleiben. So wie sie damals von der USAir-Force zurückgelassen wurden.“ „Sind sie ja auch, Colonel.“ „Warum machen Ihre Männer dann schon einen vollen Tag daran herum?“ Ein Telefon schrillte. Der Luftwaffenoffizier nahm eine Information entgegen. „Sechs Maschinen flugklar.“ „Dann nehmen Sie jetzt die Bomben an Bord.“ „Pro Maschine sechs Tonnen.“ „Tragen die Superfortress nicht neun Tonnen?“ „Nur die Sonderausführung, der Atombombenträger, Colonel.“ „Sechsmal neun Tonnen sind besser als sechsmal sechs Tonnen. Ich bin für den Einsatz verantwortlich. – Und wo bleiben die verdammten Besatzungen?“ Noch einmal versuchte der Luftwaffenmajor eine Erklärung abzugeben. „Die zwölf erforderlichen Piloten, die diese Flugzeuge mit der geforderten Zuverlässigkeit fliegen können, Colonel, sind über alle Basen verstreut und meist Fluglehrer oder Kommandeure. Zwei davon mußten wir von der Militärakademie holen, zwei andere aus dem Irak, wo sie als Instrukteure tätig sind.“ Tarafa schaute immer wieder auf seine Armbanduhr, ve rglich sie mit de r elektrischen im Tower und stellte fest, daß eine der beiden Uhren falsch anzeigte. Seine eigene vermutlich. „In einer Stunde müssen sie in der Luft sein“, forderte er. „Wie, das ist mir egal. Oder ich lasse Köpfe rollen.“
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Endlich trafen die Besatzungen ein. Eine Kuriermaschine brachte vier Piloten von Wau el Kabur herauf. Drei landeten mit dem Hubschrauber. Weitere kamen mit dem Bus aus Tripolis, wo man sie zusammengetrommelt hatte. Vor Sonnenaufgang fehlte nur noch das Personal für eine Superfortress. Im Lagerraum begann Oberst Tarafa schon mit der Einweisung. Der Projektor warf erst die Übersichtskarten, dann den Detailausschnitt an die Leinwand. „Folgende Aufgabenstellung“, begann .der Oberst, „dieser Punkt, östlich des Kebir Plateaus in Oberägypten, ist anzufliegen. Ziel ein aus der Wüste ragender Kunstbau in Form einer Tafelpyramide. Er befindet sich präzise auf folgenden Koordinaten…“ Die Piloten und Beobachter notierten mit. „Der Feind stellt hier neue Kampfstoffe her. Das widerspricht den Verträgen. Die Produktionsstätte ist zu vernichten.“ Ein Captain der Luftwaffe gab technische Einzelheiten: „Abflug mit Kurs eins sieben neun bis Serir Tibesti. Höhe neuntausend Fuß. Marschgeschwindigkeit 525. Dann Kurswechsel auf rechtweisend Ost.“ Einer der Piloten hob die Hand. „Was gibt’s, Captain?“ „Dann geraten wir binnen…“, er rechnete, „… binnen hundertzehn Minuten auf sudanisches Gebiet.“ „Das ist unsere Absicht“, fuhr der Captain fort, „der Sudan besitzt keine nennenswerte Radareinrichtung. Ähnliche Verhältnisse herrschen auch an der ägyptischen Südgrenze. Wir werden also unentdeckt bis vor das Ziel kommen.“ Neue Daten wurden den Navigationsoffizieren genannt. „Auf Koordinaten 27/35 Ost, Kurswechsel auf Nord. Nach 123
Überqueren der Bir-Misah-Piste Zielanflug, sinken, auf Abwurfhöhe 3000 Fuß, dann Endanflug.“ „Wie ist das Wetter?“ „Klar, leichter Frühdunst.“ „Zielmarkierung?“ „Ein Düsenaufklärer hat eine Radarboje gesetzt.“ Es gab mehrere Gegenfragen. Dann kam wieder ein anderer Offizier, der Bombenspezialist zu Wort. „Die Splitterbomben sind auf normale Kontaktverzögerung eingestellt, die Luftminen mit zwei Sekunden Nachlauf. Brandbomben reagieren bei Sauerstoffkontakt und sind unbeeinflußbar. Alles Magnesiumbrandsätze. Noch Unklarheiten?“ „Und im Falle eines Angriffs?“ „Dort unten haben die Ägypter weder Raketen noch Flakstellungen.“ „Bei Zusammenstoß mit Abfangjägern, wie verhalten wir uns da?“ „Es handelt sich um einen Angriff auf ein Objekt der Privatwirtschaft. Für den Fall, daß man überhaupt in der Lage ist, das Luftkommando in Kairo zu unterrichten, wird es für die ägyptischen MiG-Jäger fünfzig Minuten dauern, bis sie über dem Zielobjekt stehen. Bis dahin sind Sie weg, denke ich.“ „Fünfunddreißig Flugminuten bis zu unserer Grenze.“ „Maximal. Sie fliegen ja mit leeren Bombenschächten.“ „Welche Anweisungen gelten bei Außenlandungen im Feindgebiet?“ fragte einer der B-29-Kommandanten. „Die Maschine sprengen“, lautete der Befehl, „Kennzeichen werden übermalt. Wir holen Sie mit Hubschraubern raus. Wollen aber nicht hoffen, daß es nötig sein wird. Wenn man bedenkt, daß die Vögel vor vierzig Jahren schon von Hawai nach Tokio und zurück flogen, dann ist dieser Einsatz ein Kinderspiel.“ 124
Beim Start löste sich eine der alten B-29 nicht vom Boden. Der linke äußere Motor setzte unter Vollast aus. Da die Piste für Düsenmaschinen berechnet war, kam es zu keiner Katastrophe. Der viermotorige Bomber raste in die Fangzäune. Das Bugradfahrwerk brach ein. Die Besatzung konnte aussteigen, ehe die 55 Tonnen schwere Maschine Feuer fing. Das Feuer wurde gelöscht, ehe die Bombenladung hochging. Alle anderen B-29 kamen sauber in die Luft, formierten sich und flogen nach Süden hinein in die Wüste. Von da ab bestand nur noch Funkkontakt. Der Staffelkommandeur meldete: „Erste Position erreicht! Kurswechsel.“ Über dem Sudan hielten sie Funkstille. Und dann, gegen 06 Uhr 10 kam der Code durch: „Letzter Kurswechsel. Ziel im Radar.“ Oberst Tarafa kontrollierte den Flugplan. „Auf die Minute.“ Im Tower wurden die Jalousien heruntergelassen, denn die Sonne kroch aus der Wüste wie ein überstarker Scheinwe rfer. Ähnlich wie hier würde es jetzt neunhundert Kilometer entfernt aussehen. Endloser Sand, jeder Gegenstand warf einen langen harten Schatten. Oberst Tarafa drückte die kaum angerauchte Zigarette aus. Über sein Gesicht, das immer so glänzte, als habe er gerade ein Butterbrot gegessen, huschte Entspannung. „Jetzt kann nichts mehr schief gehen“, sagte er, „in einer Stunde ist alles vorbei. Ich bin im Casino. Rufen Sie mich, wenn es soweit ist. Guten Morgen, meine Herren.“
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13. Bei seiner Festnahme in der Wüste hatten sie den BNDAgenten Bob Urban durch eine Injektion ruhiggestellt. Mehr schlafend als wach mußte er alles über sich ergehen lassen. Seine Erinnerung setzte sich aus Alptraumbildern zusammen. Die Wüste hatte sich geöffnet. Sie waren eingedrungen in sie, hineingegangen, als seien sie körperlos. Nach einer Fahrt durch endlose Tunnel öffnete sich eine neonbeleuchtete Halle voll von feinem Summen und Ozongeruch. Über chromblitzende Aufzüge ging es irgendwohin, in die Tiefe oder in die Höhe, er wußte es nicht. Dann das Gefühl, zwischen Stahlwänden eingesperrt zu sein wie ein gefangenes Insekt in der Dose. – Plötzlich ein Stich in den Arm. „Aufwachen!“ schrie einer und schlug ihm die flache Hand ins Gesicht. Die Schleier verwehten. Urban fühlte Strom in Stößen durch seinen Körper fließen, viel zu hoch gespannten Strom. Seine Muskeln zitterten förmlich unter dem Energieschub. Es riß ihn hoch. Er war voll da. Vor ihm stand einer im weißen Arztmantel, weißer Hose, weißen Schuhen. Neben ihm zwei nahezu gesichtslose Typen in hellem Khaki. Beide bewaffnet. Die freie Beweglichkeit seiner Hände wurde durch Stahlschellen, verbunden mit einer etwa fußlangen Kette, behindert. Sie eilten durch Gänge. Der Boden, korkbelegt, dämpfte ihre Schritte. Die Wand rechts bestand aus Sichtbeton, die Decke aus Glas, indirekt beleuchtet. Links gab es nur Gitterstäbe. Vom Boden bis zur Decke daumendicker Stahl. Der Abstand war so berechnet, daß nicht einmal Kinder ihre Köpfe hindurchschieben konnten, geschweige denn die erwachsenen Männer, von denen je einer in den Zellen untergebracht war. 126
Urban hatte den Eindruck, daß es sich hier um Käfighaltung wie bei Experimentaltieren handelte. Die Männer hinter den Gittern glotzten ihn an. Manche bewegten die Köpfe im Rhythmus hin und her, andere auf und ab. Wieder andere machten ständig Kniebeugen. Käfigsyndrome wie bei Affen im Zoo. Einen der mit Drogen gezähmten Männer glaubte Urban zu kennen. Er blieb stehen und wollte mit ihm sprechen, da wurde er vorwärtsgerissen und in einen Lift gestoßen. Oben ging es durch Laborgänge. Zumindest stank es so, als würden hier chemische Versuche angestellt. Eine automatische Tür aus Panzerglas, wenigstens vier Zentimeter stark, zischte auf. Jetzt gab es sogar Teppiche aus hellem Velour. Urban bekam jähe Kopfschmerzen, so stark, daß sie sein Denkvermögen behinderten. In einem Vorraum mit Palmen und Blumen mußte er warten. Er berührte eine der Blüten. Sie war künstlich, aus Plastik, wie alles hier. Bald öffnete sich die gepolsterte Doppeltür zu einem riesigen Raum mit schrägen Wänden aus Glas. Das Glas war bronzegetönt, als liege Sand auf. Jenseits davon schien die Wüste mit dem Horizont zu verschmelzen. Der Sterne nhimmel wirkte kalt und abweisend. In einer Raumkapsel da oben müßte es relativ gemütlich und sicher sein, dachte Urban. Der Mann hinter dem Schreibtisch aus Edelstahlrohren und schwarzem Onyx war noch kälter als der Weltraum. Er blickte auf, mit so eckigen Bewegungen, als würde er motorisch angetrieben. „Sie sind Doktor Alfonso Stubenmacher“, stellte er auf Englisch fest, „aus Rosenheim, Bavaria.“ „Woher wissen Sie?“ Der Mann, dessen Haut so weiß war wie sein Kittel; deutete nach links. In der abgedunkelten Ecke des Raumes gab es 127
eine Sitzgruppe aus schwarzen Ledermöbeln. In einem der Sessel kauerte eine Frau. Ihre Züge waren absolut ausdruckslos. „Ich habe Sie gewarnt“, sagte sie leise. „Sie bürgen für ihn?“ fragte der uralte Ägypter, der aussah wie Pharao während der Mumifizierung. „Ich bürge für ihn“, versprach Ämely Neukam. * Der Raum, eingerichtet wie das Apartment in einem Luxushotel, verfügte neben einem breiten Doppelbett über einen Kühlschrank voller Fruchtsäfte und ein Bad mit WC. Es gab nur kein Fenster. „Wir sind beide rechtschaffen müde“, sagte Ämely Neukam sehr bestimmt, „und werden erst einmal schlafen.“ Sie begann sich zu entkleiden. Dabei machte sie Urban verstohlen Zeichen, die er richtig deutete. Längst hatte er bemerkt, daß der Raum mit Fernsehkameras überwacht wurde. Ämely legte ihre Bluse ab, den Rock und hängte alles säuberlich auf den Bügel. Dann verschwand sie im Bad. Er hatte auch ihr nächstes Signal verstanden und folgte ihr ins Bad. In der Decke wieder ein gläsernes Linsenauge. Ämely Neukam stand nackt unter der Dusche. Aber selten war sein Interesse für einen weiblichen Körper geringer gewesen als in dieser Stunde. Ämely bat ihn, er möge ihren Rücken einseifen. Kaum war dies geschehen, flüsterte sie leise: „Wir sind verheiratet.“ Urban trat ebenfalls unter die Dusche. Danach schlüpfte er in den Bademantel, den ihm Ämely Neukam hinhielt. Auf dem kleinen Tisch hatte sie Drinks vorbereitet. Maracujasaft mit Mineralwasser. Während sie trank sah er, wie sie ihren Brillantring so verdrehte, daß er wie ein Ehering aussah. 128
„Ich bin bettreif, Darling“, er gähnte, ließ den Mantel fallen und schlüpfte unter das Laken. Sie leerte noch ihr Glas, hängte den Bademantel ebenfalls auf einen Bügel und hatte abermals keinerlei Hemmungen, sich völlig nackt zu zeigen. Sie konnte sich sehen lassen. Ihr Körper war so makellos wie ihr Gesicht. Sie hatte die helle Haut aller Rothaarigen und hoch auf dem linken Oberschenkel ein Muttermal, bestehend aus drei kleinen Punkten. Sie legte sich zu ihm, ganz nahe zu ihm, dann erst löschte sie das Licht. Selbst im Dunkeln blieb sie an ihn gepreßt. „Sie können uns auch jetzt noch sehen, ich weiß nicht wie“, warnte sie. „Restlichtverstärker“, sagte er, „oder Infrarot.“ „Ziemlich dramatisch, wie?“ „Ganz mein Eindruck.“ Sie sprachen deutsch. Aber selbst das hielt Urban für gefährlich. Sie arbeiteten vermutlich mit superempfindlichen Mikrofonen. Die registrierten sogar, wenn eine Blume ein Blatt verlor. Und Deutsch konnten sie gewiß auch. Sie umarmte ihn, brachte ihren Mund an sein Ohr und gab lustvolle Laute von sich. Zwischendurch fand ihre kurze Unterhaltung statt. „Woher“, fragte er, „hast du diesen Namen Alfonso Stubenmacher?“ „Steht in deinem Paß.“ „Du hast mich durchsucht, als ich bei dir schlief?“ „Ich war so frei, denn daß du als Geheimagent in Libyen eingereist bist, hielt ich für ausgeschlossen.“ „Du hast mich aus der Zelle herausgeholt. Besten Dank.“ „Sie kennen mich. Ich war einmal mit Werner Neukam da, zur ersten Untersuchung.“ „Aber du heißt Neukam und nicht Stubenmacher.“ „Ich sagte, Neukam sei mein Bruder. Du bist mein Ehemann, Tierarzt aus Rosenheim. Ich führe eben einen Do p129
pelnamen.“ Da mußte er wohl oder übel dem Kontrolleur in der Überwachungszentrale etwas vorspielen. Große Mühe brauchte er sich keine zu geben, um es echt wirken zu lassen. Ämely war eine hervorragende Partnerin. Sie ging auf alles ein, sie machte perfekt mit. Kein Einsatz war ihr zu groß. „Sie sperren jeden, der sich dem Labor nähert, in einen Käfig, etwas bequemer als in Sing-Sing, aber Todeszelle ist Todeszelle“, bemerkte Urban. „Sie testen an ihnen die neuentwickelten Präparate. Menschen sind die besten Versuchstiere.“ „Ich habe etwa ein Dutzend Männer gezählt. Nicht alle Käfige waren besetzt.“ Urban sagte eine Weile nichts. „Aber welche Rolle spiele ich hier? Bin ich auch krebskrank?“ „Sie würden rasch feststellen, daß dies ein Vorwand ist“, informierte ihn Ämely Neukam. „Nein, ich habe ihnen erklärt, daß du in Europa große Möglichkeiten siehst, das Geschäft auszuweiten.“ „Und das glauben sie dir?“ zweifelte er. „Ich hoffe. Wenn nicht, dann sind wir beide erledigt.“ Irgendwann hatte Urban den Eindruck, daß Ämely nicht mehr spielte, sondern daß es ernst wurde. So gut konnte man keinen Orgasmus vortäuschen. Auch von sich wollte er nicht behaupten, daß alles nur Theater war. Als schlechter Schauspieler hätte er das nie so wirklichkeitsnah gebracht. Als sich Ämely von ihm löste, fragte sie: „Ob das genug war?“ „Für mich schon.“ „Dann genügt es auch dem Wachoffizier.“ „Was mich irritiert“, sagte er, „ist Tarafa.“ „Dieser Libyer?“ „Er wollte vor uns da sein“, fuhr er kaum hörbar fort, „aber ich sah ihn nicht in den Käfigen.“ „Was kann er vorhaben?“ „Wenn Tarafa mit Gewalt eindringt“, befürchtete er, „und 130
sie machen ihn fertig, dann ist es auch mit mir aus. Für Tarafa bin ich kein Tierarzt.“ „Sondern Mister Dynamit. – Aber dann ist es auch mit mir zu Ende. – Laß uns das Schlimmste befürchten, dann wird alles nur halb so wild.“ „Ich habe einen Schutzengel gepachtet“, scherzte Urban. „Es gibt keine Engel“, erwiderte Ämely Neukam. „Du willst es mir nur leichter machen.“ * Nach Urbans Rolex war es noch vor Sonnenaufgang, als ein Steward klopfte und Frühstück brachte. Bevor er ging, verbeugte er sich. „Die Herrschaften werden in zwanzig Minuten erwartet.“ Urban verschlang das Rührei und den To ast, gab Sahne und Zucker in den Kaffee. Ämelys Hals war wie zugeschnürt. Sie brachte nichts hinunter. „Das unterscheidet Profis von Amateuren“, bedauerte sie. „Falls es schiefgeht, stehn wir beide, ob Profi oder nicht, heute abend vor der Himmelstür.“ „Wenn du da hineinkommst, dann bleibe ich lieber draußen“, sagte sie. Vor dem Apartment stand ein bewaffneter Nubier und führte sie durch das Pyramidenlabyrinth. Der alte Ägypter empfing sie hinter seinem Onyxschreibtisch stehend. „Ich vergaß mich zu entschuldigen, Herr Kollege“, begann er, „für die Behandlung, die Ihnen meine Leute angedeihen ließen. Wir wußten ja nicht…“ „Meine Schuld“, entgegnete Urban, „ich überschritt eindeutig die Sperrzone. Außerdem wäre es wohl höflicher gewesen, sich anzumelden.“ Auf ein Signal hin, das der Greis durch Berührung eines Sensors auslöste, betrat ein Mann von etwa dreißig Jahren 131
mit Silberdrahtbrille und Gelehrtenkopf den Raum. Der Alte stellte ihn als seinen Assistenten vor. „Doktor Zuhair wird Sie führen. Er hat Anweisungen, Ihnen alles zu zeigen, was Sie zu sehen wünschen und jede geforderte Erklärung zu geben, bis auf das, was wir in Abteilung vier machen. Das ist leider noch geheim. Mich entschuldigen Sie bitte. Ich habe andere Aufgaben.“ Die Führung begann. Urban war weder Tierarzt noch verstand er allzuviel von Medizin. Aber er hatte sich eine Portion Fachausdrücke angeeignet, die er jetzt vorsichtig einsetzte und damit einen guten Eindruck hinterließ. Seine Fragen ließen dem Wissenschaftler wenig Zeit, sich über den Besuch aus Germany Gedanken zu machen. „Sie betreiben nicht nur Forschung“, stellte Urban fest, „sondern auch Produktion.“ „Wir machen alle Präparate reif für die Herstellung in industriellem Rahmen.“ „Wie wollen Sie das bei diesem Krebsmittel handhaben, wo es doch am nötigen Rohmaterial fehlt?“ „Wir sind dabei, die tierische Organbasis zu ersetzen.“ „Ist die Synthese schon so weit fortgeschritten?“ „Zum Glück“, führte der junge Ägypter aus, „ist es uns seit Bestehen dieses Instituts, seit nahezu sechs Jahren, immer wieder gelungen, die tierischen Zellen zu beschaffen. Zellen, die in der Lage sind, Tumore so gegen den gesunden Organismus abzuschütten, daß die modernen Zytostatika direkt gespritzt und schwächer dosiert werden können. Nur darum geht es.“ „Um nichts anderes“, pflichtete ihm Urban bei. „Die bekannten Zytostatika zersetzen den Krebs. Sie zerstören aber auch den gesunden Organismus. Durch Injektion von Zellaufschwemmungen unserer Versuchstiere bilden wir eine Membrane zwischen opferbarem und nicht opferbarem Gewebe.“ 132
„Und das kannten die Ärzte zur Zeit von Ramses schon?“ „Sie kannten die Wirkung gewisser tierischer Zellen und die Wirkung bestimmter Naturgifte gegen den Tumor.“ Der Ägypter kam dermaßen in Fahrt, daß Urban fürchtete, er könne sich so in Fachgespräche steigern, daß bald zutage trat, was für ein medizinischer Blindgänger er war. Also bat er, mehr sehen zu dürfen, nicht nur die Labors und Praxisräume. „Was brauen Sie denn in Abteilung vier zusammen?“ fragte er. „Ein Mittel gegen das Altern?“ „Oder für das ewige Leben“, deutete der Arzt an. „Nach dem Tode etwa?“ Die Geheimabteilung blieb ihnen jedoch versperrt. „Was ist in den Kellergeschossen?“ „Garagen, Lagerräume, die Energiestation, die Tiefbrunnen.“ Urban schaute sich um. „Fehlen nur noch hübsche Mädchen.“ „In einer so sterilen Stadt“, sagte der Ägypter, „kommt einem jedes Mädchen schön vor.“ In seiner Manteltasche piepste etwas. Er wurde über Funkruf ans Telefon geholt. Rasch öffnete er eine Tür. Sie führte in ein Büro. Es war leer. Dr. Zuhair bat seine Gäste zu warten. Er beugte sich über den Tisch, hob das Telefon ab, tastete zwei Ziffern hinein und meldete sich. Während der Durchsage blickte er immer wieder zu Urban hin. Dabei entfuhr ihm ein bestimmtes Wort. Urban verstand wenig arabisch, aber soviel bekam er mit, daß es um ihn und um seine Fingerabdrücke ging. „Aus!“ zischte Urban und bekam den Rundumblick nach einer Fluchtmöglichkeit. „Was ist passiert?“ fragte Ämely. „Sie glaubten dir nicht. Sie nahmen meine Fingerabdrücke vom Glas. Diese Leute haben natürlich eine Kartei oder 133
kennen Leute, die Zugriff zu Karteien haben.“ In diesem Moment fiel die arabische Variation für Mister Dynamit. Noch verhielt sich Urban völlig ahnungslos und lächelte dem Ägypter zu. „Sekunde“, bat Dr. Zuhair, und wählte eine neue Nummer. Kaum hatte er aufgelegt, schliff auf dem Korridor eine Schiebetür. Zwei Mann sprangen aus dem Lift und bauten sich hinter den Gästen auf. Dann gab Dr. Zuhair eine Erklärung ab: „Ich muß Sie leider festnehmen lassen. Sie haben uns hinters Licht geführt. Sie sind nicht Arzt, Sir, und die Dame ist nicht Ihre Ehefrau. Trotz aller uns vorgetäuschten Darbietungen, trotz der Mühe, die Sie sich gaben, uns zu täuschen.“ Dr. Zuhair winkte den Wachen. Sie griffen zu. * Urban brauchte etwas länger als ein Transistor zum schalten, wenn er Steuerstrom bekam. Aber nicht viel länger. Mit der Linken stieß er Ämely aus der Kampflinie. Mit der Rechten faustete er Zuhair um. Der Doktor war alles andere als ein körperlich trainierter Mann. Er taumelte gegen den Schreibtisch, fiel zu Boden und blieb dort liegen. Dem Hauspolizisten links hämmerte Urban den Eilbogen so gegen den Solarplexus, daß er sich luftziehend drehte und weich wurde wie ein Twistballen. Mit dem letzten hatte es Urban schwer. Der ging auf Abstand in die Hocke und legte die Waffe an. Doch da kam Urban etwas zu Hilfe, das sich wie Alarm anhörte. Mit einem tiefen, rasch heller werdenden Ton begann eine Sirene zu heulen. Ihre Frequenz war von der Sorte, die das Fleisch vom Knochen trennte. Es heulte neben, über und unter ihnen. 134
Der Hauspolizist, offenbar auf diesen Alarm trainiert, wirkte einen Moment irritiert. Und das lenkte ihn ab. Urban stürzte sich auf ihn, ehe ein Schuß aus der Mpi fiel. Er entriß ihm die Waffe, nahm sie beim Lauf, schlug sie ihm hart um die Ohren und auch dem anderen, der hinter ihm wieder hochgekommen war. Dann schleppte er beide zu Dr. Zuhair ins Büro, riß die Telefonleitung aus der Wand, steckte den Schlüssel um und sperrte ab. Ämely lehnte wachsgelb an der Wand. „Der Alarm gilt uns.“ „Keine Spur“, sagte Urban. „Niemand weiß, daß die Festnahme schief ging. Sie alarmieren nicht die ganze Pyramide deswegen. Nein, der Alarm hat einen anderen Grund.“ Urban zog Ämely zum Lift. Die Tür schloß sich gerade. Er stoppte sie, sprang mit Ämely hinein und drückte instinktiv den letzten untersten Knopf auf der langen Leiste. Schon ging’s abwärts. Eine Erschütterung ließ die Kabinenwände vibrieren. „Tarafa“, Urban blickte zur Decke, „das kann nur Tarafa sein.“ „Klingt wie Fliegeralarm.“ Der Lift war ein Expressaufzug. Die Stockwerke rasten vorbei. Die Signallampen gingen an und aus, die nächste, die übernächste. Noch vier, noch drei, noch zwei Etagen. Stop. – Die Tür surrte auf. * Die Halle war erfüllt vom Geräusch schwerer Dieselaggregate. „Das ist das Kraftwerk“, sagte Urban, „wir müssen noch weiter hinunter.“ Der Lift war schon wieder weg. Urban eilte mit Ämely durch den fußballplatzgroßen Maschinenraum. Alles lief 135
hier automatisch und ferngesteuert. Niemand war zu sehen. Doch plötzlich mußte Urban Ämely in Deckung ziehen. Eine Gestalt im Asbestanzug mit Schutzhelm und Gasmaske rannte an ihnen vorbei. Kaum war er fort, hasteten sie zur Treppe, die in den unteren Keller führte. Dort stank es nach Benzin und Gasöl. Hier parkten die Fahrzeuge und waren die Werkstätten untergebracht. – Aber alles menschenleer. Ganz hinten wurde der Boden schräg. Man hatte ihn mit Querrillen versehen, damit die Wagen die Auffahrt nehmen konnten. Urban sah jetzt deutlich, was er vor Stunden hinter Nebeln wahrgenommen hatte. Es gab Fahrzeuge jeder nur denkbaren Art. Lastwagen, Kühlwagen, Dreiachser, schwere Tieflader. Auf einem davon glaubte er die Umrisse eines zusammengeklappten Hubschraubers zu erkennen. Keine Chance, den flottzukriegen. Noch immer heulten die Sirenen unterbrochen vo n Lautsprecherdurchsagen auf Arabisch. Sie warnten offenbar vor angreifenden Flugzeugen. Tarafa, dachte Urban und wählte unter den Geländefahrzeugen das aus, das er kannte, einen roten Toyota Landcruiser. Der Schlüssel steckte. Er half Ämely hinein. Vorglühen, Anlassen. Erster Gang und los in Richtung Ausfahrt. Doch da war eine Sperre aus Stahlrohren. Urban trat das Gaspedal zum Boden durch. „Das geht nicht gut!“ schrie Ämely. „Kopf runter!“ schrie Urban. Der Toyota krachte dagegen. Noch ein Versuch. Die Sperre gab nach, schrammte vorbei. Sie waren durch und an der Rampe. Diese führte in weitem Bogen, wie eine autobahnbreite Tiefgarageneinfahrt, etwa einen Kilometer lang aufwärts. Urban war sicher, daß sie irgendwo das Niveau der Wüste 136
erreichten. Aber todsicher gab es am Rampenende ein Tor, eine getarnte Einfahrt. Im Rampentunnel wurde das Heulen der Sirenen leiser. Aber bis in die Tiefe hinein lief ein Zittern. Donnerschlägen folgte ein Beben, als würde die Erde zerrissen. Der Wagen wankte. „Druckwelle!“ schrie Urban. „Festhalten!“ Das Licht flackerte. Die Notbeleuchtung sprang an, ging sofort wieder aus. Urban schaltete auf die Wagenscheinwe rfer. Ihre weißen Finger fraßen sich durch den Tunnel, ohne daß dessen Ende sichtbar wurde. Noch einmal ging das Licht im Tunnel an. Urban trat auf die Bremse. Zu spät. Er stieß fünf Meter zurück, öffnete die Tür, faßte nach der Kette, die er übersehen hatte. Eine Kette, weißrot lackiert hing von der Decke. In fast allen Tiefgaragen war das so eingerichtet. Erst wenn man die Kette zog, trat der Tormechanismus in Funktion. – Das Licht flackerte, ging aus. „Ohne Energie läuft kein Motor“, schrie er, „dann sind wir hier gefangen bis zum jüngsten Tag.“ * Er hörte, wie Ämely zu beten anfing. Neue Detonationen. Betonstaub hüllte sie ein. Das Beben setzte sich durch die Erde bis zu ihnen fort. Das Lacht flakkerte auf. Ein Motor summte. Etwa zwanzig Meter vor ihnen öffnete sich eine hohe Wand. Dahinter das Grau des Tages. Sie sahen die Wüste, den Horizont, die Sonnenscheibe. Die Rampe war also gegen Osten ausgerichtet. Urban gab Gas, der Spalt war breit genug. Mit einem wahren Satz katapultierte sich der Landcruiser ins Freie. Die Einfahrt, mit Sand und Steinen perfekt getarnt, blieb offen, als habe sie Maulsperre. Der Strom war wieder ausgefallen. – Hinter ihnen brach die Hölle los. 137
„Nicht umdrehen!“ schrie Urban, als könne sie das Unheil einholen wie Lots Weib beim Untergang von Sodom und Gomorrah. Über den Himmel donnerten Bombenflugzeuge. Sie kamen von Süden, von der sudanesischen Grenze her. Sie flogen tief, setzten ihre todbringende Last zielgenau ab. Reihenwurf, Sprengbomben, dann Luftminen. Brandkanister taumelten herunter wie Öltonnen. Sie entleerten ihre alten Weltkriegs-II-Arsenale. „Tarafa!“ schrie Urban. „Das ist Tarafa!“ „Warum?“ „Das Giftgas stört sie.“ „Ist das sicher?“ Urban trieb den Toyota über die Steinpiste in Richtung Mut. Die Sonne gleißte jetzt und brannte in den Augen. Der Geländewagen krachte in Mulden, sprang über Wellen, wühlte sich durch pulverfeinen Staub. Nur weg von hier! Sie hatten den Satan im Rücken, aber die Rettung zum Greifen nah. Abstand bedeutete jetzt das Leben. „Tarafa! Er will es heute wissen“, sagte Urban. Die Pyramide aus Stahl, Glas und Beton hinter ihnen war jetzt wie ein Vulkan. Sie erinnerte Urban an ein Gemälde des Vesuvausbruchs. Ja, wie der Vesuv war sie, wenn Feuer und Rauch ihn umgaben und glühende Lava sich über seine Hänge ergoß. Detonationen holten sie ein, packten den Wagen mit Riesenfäusten, Aber bald wurden sie schwächer. „Tarafa“, murmelte Urban kopfschüttelnd, „Tarafa!“ „Wer gibt ihm das Recht dazu?“ fragte Ämely fassungslos. „Keiner“, antwortete Urban, „keiner.“ ENDE
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