Luc Bahl
Die goldene Ziege Version: v1.0
Die Wachen ließen sie ungehindert passieren. Es blieb ihnen auch gar nichts ...
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Luc Bahl
Die goldene Ziege Version: v1.0
Die Wachen ließen sie ungehindert passieren. Es blieb ihnen auch gar nichts anderes übrig bei diesem Andrang, denn alle wollten beim diesjährigen Fest dabei sein. Der Blinde Werring stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie endlich aus der sengenden Gluthitze der Hochsommersonne durch das große Tor in die kühlen, schattigen Gassen Chorfstadts traten. »Ahh …«, grunzte da der blonde Hüne direkt neben ihm. »Werring, da! In Voitans Namen! Das nenn ich ein Weib.« Werring spürte, dass sich sein Begleiter entfer nen wollte. Sehen konnte er das nicht, denn er war so blind, wie sein Name vermuten ließ. »Was für ein Weib! So groß, so kräftig, so schön …«
»Bär! Reiß dich zusammen!« Werring konnte den Geifer regelrecht hören, der im Mund seines Freundes zusammenlief. »Will das Weib haben!« Die stampfenden Schritte des Hünen ent fernten sich. »Woher weißt du denn, dass sie dich will?«, rief Werring dem Ko loss hinterher, der so aussah, wie sein Name vermuten ließ – groß, massig und nur scheinbar schwerfällig. An seinen richtigen, seinen ursprünglichen Namen, wenn er überhaupt jemals ein solchen besessen hatte, konnte sich niemand mehr erinnern. Auch Bär selbst nicht. »Egal«, knurrte der Hüne. »Verdammt noch mal, bleib hier! Wir sind nicht wegen der Weiber zum Fest der goldenen Ziege gekommen.« Von Werrings Stimme war nur noch ein heiseres, zischendes Flüstern zu hören, aber es verfehlte nicht seine Wirkung. Der ge waltige Kerl, der fast alle anderen Leute um ihn herum um mindes tens anderthalb Haupteslängen überragte, blieb stehen wie ein gut erzogener Hund. Na ja, ein einigermaßen gut erzogener Hund … »So wie du stinkst, würde sie dich bestenfalls erst einmal in einen Zuber stecken und mit der Wurzelbürste abschrubben!« sagte Wer ring. »Gute Idee,« sagte der blonde Bär grinsend. »Ich mit dem Weib in einer großen Wanne! Sehr gut! Zusammen baden.« »Du hast sie dir ja überhaupt nicht genau angeschaut. Unter ihrer zentimeterdicken Schminke hatte sie Falten und Runzeln wie der Arsch eines Elefanten.« Bär sagte nichts. Er wusste, sein Freund war zwar blind, aber mit seinen übrigen Sinnen »sah« er mehr als die meisten anderen, die noch über ihr Augenlicht verfügten. Werring hätte keinen Begleiter gebraucht.
In Wirklichkeit war es umgekehrt. Ohne ihn hätte man Bär längst als Galeerensklaven verkauft. Auf den Schiffen von Herzog Grautan konnte man Leute wie das blonde, etwas einfältige Kraftpaket gut gebrauchen. Werring war stehen geblieben. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und schnüffelte wie ein Wiesel. Dann öffnete er seinen Mund und seine lange, dünne Zunge fiel regelrecht heraus und baumelte über sein spitzes Kinn. Er sah aus, als hätte sein Kopf ein paar Schlä ge zu viel abbekommen. »Wir gehen hier lang!«, beschloss er einen Moment später und bog in eine schmale Gasse, deren Häuser sich so eng gegenüberstanden, dass Bär beide Seiten gleichzeitig berühren konnte. Was er auch prompt tat. »Heh! Warum geht’s da vorne nicht weiter?«, schrie jemand von hinten. »Entschuldigen Sie, mein Herr, würdet Ihr die Güte besitzen und mich vorbei lassen?«, bat ein gut gekleideter Mann direkt hinter dem Hünen. »Oh! Selbstverständlich, natürlich, geht nur!« Bär drückte sich an eine Haus wand und zog Brust und Bauch ein, um eine Gruppe Leu te, die nach ihnen in die Gasse gebogen war, überholen zu lassen. Als sie vorbeigegangen waren, konnten Werrings feine Ohren noch deutlich ein gehässiges Flüstern hören: »Was bildet sich dieser idiotische Riesenwanst nur ein!« »He! Wer hat mich Riesenwanst genannt …« Offensichtlich verfügte auch derjenige, der gemeint war, über ein gutes Gehör. »Ruhig! Bär, diese Leute haben das gleiche Ziel wie wir, also reg dich ab!«, sagte Werring und legte beschwichtigend seine Hand auf Bärs Arm. »Siehst du, da vorne ist der Eingang in den Garten.« »Was für ein Garten?«, fragte Bär missmutig. Zu gerne hätte er dem vorlauten Kerl, der ihn beleidigt hatte und wohl glaubte, dass man ihn nicht verstehen konnte, eins auf die Nase gegeben.
»Der Garten vom Goldenen Bock. Es ist das beste Wirtshaus in Chorfstadt, habe ich mir sagen lassen. Und genau dahin zieht es mich. Ich bin hungrig und müde von der langen Reise, und vor allem habe ich einen höllischen Durst!« »Ja, gut. Trinken! Will auch trinken!«, gluckste der Bär fröhlich angesichts kühler, gut gefüllter Maßkrüge. Sie traten in den Garten, unter dessen gewaltigen Eichen- und Bu chenkronen eine Reihe von massiven Holztischen und Bänken standen. Nach einiger Suche fanden sie noch einen freien Platz. »Könnten wir uns mit dazu …«, hob Werring an. »Verpiss dich! Du siehst doch, dass hier kein Platz mehr ist«, un terbrach ihn der Angesprochene, der sich noch nicht einmal die Mühe machte hochzublicken. Bär schob Werring mit der linken Hand zur Seite. »Hier ist doch noch genug Platz … Oder?« »Ich sagte, verpisst euch oder …« »Oder was?«, donnerte Bär. Erst jetzt sah der Angesprochene von seinen Spielkarten auf und verstummte. Sein Gesicht wurde bleich und man konnte deutlich sehen, wie sich Wut und Angst in ihm ab wechselten. Doch noch bevor er sich für eines dieser einander widerspre chenden Gefühle entscheiden konnte, spürte er, wie er den Kontakt mit der Bank verlor, auf der er saß. Der Riese hatte ihm die Entschei dung abgenommen, und Panik durchflutete ihn, als dieser ihn im Nacken packte und hochhob, als wäre er ein junges Kätzchen. Jetzt sah er dem blonden Monster geradewegs in die Augen. Er strampelte mit den Beinen, trat aber nur einen Krug vom Tisch. Im nächsten Moment blickte er sogar von oben auf die helle, verschwitzt wirkende Mähne des Blonden. Wie zur Bestätigung drang ein dunkles, grunzendes Grollen zu ihm herauf. Zuerst begriff er nicht richtig. Es klang in etwa wie:
»Genieß die Aussicht dort oben!« Es folgte ein heftiger Stoß. Unwillkürlich breitete er seine Arme aus wie Vogel. Er flog! Grünes Zeug peitschte an ihm vorbei, und ihm war klar, dass es sich um Blätter handeln musste. Der Mann ruderte verzweifelt mit den Armen. Bekam Zweige und Laub zu fassen, das abriss wie hauchdünnes Seidenpapier, bevor schließlich ein breiter Ast seinen Flug jäh stoppte. Ihm wurde schwarz vor Augen, als ihm die Luft aus dem Körper getrieben wurde. Das grölende Gelächter von unten nahm er kaum noch wahr. Er kippte zur Seite, wurde von anderen Zweigen gestoppt, rutschte weiter und rauschte schließlich von einem Ast zum nächsten immer schneller zu Boden. Er schlug hart auf und verlor endgültig das Be wusstsein. »Seit wann interessierst du dich für Fallobst, Bär?« Werring klopf te mit der Hand neben sich auf die leere Bank. »Setz dich! Die junge Dame will wissen, was du essen und trinken willst?« Als man vor Bär und Werring Kannen wohl gefüllt mit schäu mendem Gerstensud stellte, hatten Diener den Ohnmächtigen längst fortgeschafft. Wenig später standen zwei dampfende Töpfe mit Fleisch und Gemüse vor den beiden ungleichen Gefährten auf dem Tisch. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, fielen sie über die Mahlzeit her. »Das war eine eindrucksvolle Vorstellung vorhin!«, erklang eine dunkle Stimme, als sie fertig gegessen hatten. »Habt ihr Lust auf ein entspannendes Spielchen, nachdem es Euch offensichtlich so gut ge mundet hat, dass der Küchensklave Eure Töpfe gar nicht mehr zu spülen braucht?« »Ein Spielchen? Gerne, der Herr!«, antwortete Bär. Er blickte in das schmale Gesicht eines Mannes, von dem er nicht zu sagen gewusst hätte, wie alt er war. Die langen schwarzen Haare waren von grauen Strähnen durchsetzt, aber mit Ausnahme steiler
Falten über den Augen war seine Haut noch so glatt wie bei einem Jugendlichen. Nur die Hände verrieten, dass er nicht mehr der Jüngste war. Der Fremde war für diese lärmende Gartenschenke zu vornehm gekleidet. Ein grün-schwarzes Wams mit auffallend großen, goldenen Knöpfen verriet, dass der Fremde im wahrsten Sinn des Wortes gut betucht war. Dagegen kam Werring ihre zwar robuste, aber auch einfache Klei dung regelrecht schäbig vor. Mit seinen guten Sinnen hatte er sich schneller ein Bild von dem Fremden gemacht, als Bär – der noch sei nem längst vertilgten Essen hinterhermampfte wie ein Wiederkäuer – den Mund aufmachte und schmatzend die Einladung zum Spiel akzeptierte. »Entschuldigt, werter Herr! Mich nennt man Werring, wenn Ihr gestattet, dass ich mich vorstelle. Aber mein Gefährte, Herr Bär, hat die Einladung zum Spiel nur aus Höflichkeit angenommen. In Wirklichkeit hasst er es zu spielen! Da wir Euch aber nicht ent täuschen wollen, stehe ich Euch gerne für eine Partie zur Verfü gung.« Während Werring sich um einen ausgesucht höflichen Tonfall be mühte, traf sein Stiefel hart gegen Bärs Schienbein, der grunzend zu sammenzuckte und wusste, dass er ab sofort zu schweigen hatte. »Nun müsst Ihr entschuldigen, Meister Werring! Verzeiht, dass ich mich meinerseits noch nicht bekannt gemacht habe. Falbanus ist mein Name. Doch wie kann ich Euer Angebot annehmen? Es ist mir nicht entgangen, dass Ihr bedauerlicherweise nicht mehr über Euer Augenlicht verfügt. Wie wollt Ihr da die Karten sehen?« Der Fremde hatte sich knapp erhoben und deutete eine Verbeugung an. »Gar nicht, Herr Falbanus«, sagte Werring. »Ich wollte mit Euch auch keine Karten spielen, sondern Bein-Würfeln. Die Knöchelchen spüre ich mit meinen Fingern ganz ausgezeichnet, und wenn ich mich nicht täusche, hat hier schon jemand ein Spielfeld in die Tisch
platte geritzt …« »In der Tat, Meister Werring. Es sind dreimal drei Quadrate«, sag te Falbanus. »Neun!«, gluckste Bär und stöhnte leise, weil ihn ein weiterer Tritt gegen das Schienbein traf. »Anscheinend wurde hier schon häufiger gewürfelt.« Werring tastete über das mit groben Messerstichen abgegrenzte Spielfeld auf der Tischplatte, obwohl er sich längst ein genaues Bild davon ge macht hatte. Er starrte aus seinen leeren, weißen Augen wie unab sichtlich in Falbanus Gesicht – der aber keinerlei Reaktion zeigte. Werring war sich der Wirkung seiner rein weißen Augäpfel, die nicht die Spur einer Iris oder Pupille aufwiesen, bewusst. Den meis ten grauste es, ihm direkt in die Augen zu sehen, dachten aber, dass er es nicht bemerken würde. Doch die pulsierenden Eindrücke aus Bewegungen, Geräuschen, Gerüchen und Geschmack, die Werring mit jedem Stückchen Haut, sowie Mund, Nase und Ohren wahrnahm, vervollständigten sich in seinem Kopf zu einem entlarvenden Bild. So vermochte er die anderen tiefer zu durchschauen, als die meisten für möglich hielten. Und Werring hütete sich, anderen zu viel über seine Fähigkeiten un ter die Nase zu reiben. Mit einem gedämpften Klackern warf er einen groben Leinenbeu tel auf den Tisch. »Oder wollt Ihr lieber mit Euren eigenen Knochen spielen?«, fragte Werring. »Soll er sich die aus seiner Schwarte schneiden?«, prustete Bär los und konnte sich vor Lachen kaum noch halten – bis sich sein Gesicht einen Augenblick später schmerzerfüllt verzerrte, weil er zum dritten Mal einen Tritt vors Schienbein einstecken musste. Falbanus tat so, als ob er nichts gehört hätte und warf stattdessen ein prall gefüllte Börse auf den Tisch. Das helle Klingen der Münzen war wie Musik in Werrings Ohren.
»Euer Einsatz, Meister Werring!« Der Blinde bückte sich, als suchte er in seinem Gepäck unter dem Tisch nach seinem Geld. »Wo hast du unseren Geldbeutel hingepackt, Bär?«, knurrte er un ter der Tischplatte. Der Hüne zuckte mit den Schultern und wollte sich ebenfalls hin abbeugen. »Schon gut, Bär! Ich hab’s gefunden!« Es raschelte vernehmlich, ein leichtes Klirren von Metall ertönte, als der Kochtopf, der außen an Bärs Gepäck gebunden war, auf den Boden aufschlug. Gedämpft war dann weiteres metallisches Scheppern zu hören. Eine Reihe von kurzen und mittellangen Schwertern, sowie einige Dolche und andere Waffen waren in den Beuteln verpackt. Werring tauchte wieder auf und schlug ge räuschvoll die flache Hand auf den Tisch. Dann zog er sie weg. Eine große, goldene Münze glänzte im Abendlicht. »Ihr setzt einen Gold-Dukaten, Meister Werring«, stellte Falbanus fest. »Ihr steigt direkt richtig ein. Wohlan!« Er öffnete seine Börse und zog ebenfalls einen Dukaten heraus. Währenddessen zuckte Bär erneut wegen eines heftigen Tritts zu sammen und schloss wieder seinen Mund, der gerade im Begriff ge wesen war, lautstark die Frage zu stellen, wo – in Voitans Namen – Werring dieses Goldstück her hatte … Werring öffnete den Leinensack und schüttete die Knöchelchen auf den Tisch. Falbanus staunte nicht schlecht, als er sah, mit wie flinken Fingern der Blinde die gelblichen von den dunkel-schwarz verfärbten Knochen trennte. »Ich kann den Farbunterschied spüren«, erklärte Werring un gefragt. Dann nahm er je einen hellen und dunklen Knochen in die Faust und versteckte die beiden Hände auf dem Rücken.
»Rechts oder links, Herr Falbanus?«, fragte er. »Rechts.« Werrings Hand schoss nach vorne und öffnete sich. »Ihr habt schwarz, dürft also anfangen«, sagte Werring. »Bedient Euch!« Zielsicher schob er das Dutzend dunkle Knöchelchen über den Tisch. Falbanus nahm sie, bildete mit beiden Händen einen Hohl raum und schüttelte sie gründlich durcheinander. Dann warf er sie mit einem leichten Schwung quer übers Spielfeld. »Ha! Das müsst Ihr erst einmal hinbekommen, bester Werring!« Falbanus lachte triumphierend. Bär räusperte sich. »Ja?«, sagte Werring knapp. »Drei Lange auf zwei Schlechten …«, begann Bär aufzuzählen. »Die zählen doppelt!« »Das weiß ich.« »Und wie weiter?«, fragte der Blinde »Dann alle sechs Runde auf Guten, davon allein vier in der Mitte und die restlichen Langen liegen auch auf Guten …« »Hm, das ist kaum zu übertreffen. Und keiner ist rausgefallen?« »Keiner«, bestätigte Bär. »Herr Falbanus, ich sehe, Ihr seid ein Könner!« »Ihr habt das Glück des zweiten Wurfs, Meister Werring – nur zu.« Der Blinde schüttelte sein Dutzend Knöchelchen und warf sie dann in sehr flachem Winkel über das Spielfeld. Kaum waren seine hellen Knochen zur Ruhe gekommen, flogen schon seine tastenden Hände über das Feld, um sie zu zählen. »Warum lasst Ihr nicht Euren Freund zählen, Meister Werring?« Falbanus Stimme klang angespannt.
»Bei meinen Würfen muss ich mich immer selbst davon über zeugen, wie die Knochen liegen, Herr Falbanus. Ich berühre sie nur ganz leicht von oben. Dabei spüre ich genau, welche die Ihren und welche die meinen sind und wo sie liegen.« »Lasst Euren Freund Bär zählen! Oder vertraut Ihr ihm nicht?« »Doch, doch, aber bei den komplizierten Rechnungen – Lange auf schlechten Feldern, Runde auf dem mittleren besten Feld, hier wird doppelt abgezogen, dort vierfach hinzuaddiert – damit ist er manch mal etwas überfordert! Ihr seht es doch selbst, meine Fingerspitzen sind wie ein Hauch. Schaut genau hin, ich verschiebe nichts. Rein gar nichts.« »Lügner!«, schrie Falbanus und sprang hoch. »Jetzt verschiebt Ihr natürlich nichts mehr, nachdem nun alles zu Euren Gunsten liegt!« »Herr Falbanus!« Werrings Stimme klang ausgesprochen beleidigt. »Ihr wollt doch nicht im Ernst behaupten, ich habe auch nur eins Eurer Knöchelchen, während ich gezählt habe, von einem guten auf ein schlechtes Feld geschoben.« Mit einer hastigen Drehung des Kopfes versuchte Werring, den Blick seines vornehmen Gegenübers mit den blinden Augen einzuf angen. »Gut, ich zähle jetzt vier helle Runde in der Mitte und noch zwei Dunkle. Aber so sind die Regeln! Wer den zweiten Wurf hat, kann versuchen, mit seinen Knochen die des Gegners aus den guten Feldern zu stoßen. Ich hatte einfach Glück, Herr Falbanus. Auch ein Blinder darf mal Glück haben. Ihr gestattet …« Blitzschnell schoss Werrings Hand über den Tisch und griff nach dem Dukaten. Doch genauso schnell fiel Falbanus Hand auf die des Blinden hin ab und hielt sie mit eisernem Griff fest. »Glück würde ich Euch gönnen, nicht aber Euren Betrug! Ihr habt nachträglich mit Euren gierigen Spinnenfingern meine Runden von den guten Feldern gewischt. Ich hab es genau gesehen!« »Ihr dürft Werring nicht beleidigen …«, mischte sich nun Bär in die immer lauter werdende Auseinandersetzung ein.
Falbanus ließ Werring los. »Und wieso nicht?« Er sprach jetzt zu allen Anwesenden. »Er ist ein Betrüger, der mit seinen blinden Augen auf Mitleid hofft, aber in Wirklichkeit ist er höchst ausge kochter Hund. Seht selbst!« Mit diesen Worten bewegte Falbanus den glitzernden Dukaten vor Werrings Gesicht hin und her. Wie ein Magnet folgte Werrings Nasenspitze der Münze. »Da!«, triumphierte Falbanus. »Er sieht mehr, als er zugeben will, der betrügerische Hund!« »Niemand nennt mich einen Hund, auch Ihr nicht!«, stieß Werring hervor und packte Falbanus Hand mit der Münze. »Niemand sagt Hund zu meinem Freund!« Bär sprang hoch und landete mit einem Satz mitten auf dem Tisch. Scheppernd rollten einige Kannen zu Boden. Falbanus lachte. »Ich rate euch dringend davon ab, mir auch nur ein Härchen zu krümmen.« »Ich krümm dir gleich was anderes!«, zischte Werring und be gann, Falbanus Handgelenk, das er umklammert hielt, ruckartig zu verdrehen. »Das reicht!«, brüllte dieser unter Schmerzen. »Wo seid ihr Trottel?« Mittlerweile war die Sonne untergegangen, die Schatten wurden immer länger. Vielleicht lag es daran, dass weder Werring noch Bär bemerkt hatten, wie zahllose dunkle Gestalten immer näher traten. Doch ein typisches Geräusch – verursacht von den in dieser Regi on üblichen, mittellangen Schwertern, die aus der Scheide gezogen wurden – ließ sie beide von einem Augenblick zum nächsten erstar ren. Ohne zu zögern, ließ Werring seinen Gegner los. »Nun, immer noch Lust auf eine kleine Keilerei, ihr Mistkäfer? Nur Mut, meine Männer freuen sich darauf, euch die Bäuche aufzu schlitzen!« »So ist’s recht!«, höhnte Werring. »Der vornehme Herr versteckt
sich hinter seiner Armee!« Diesmal trat ihm Bär, der wieder vom Tisch heruntergestiegen war, gegen das Schienbein. Aber zu spät. »Ihr denkt also, ich sei feige?«, hakte Falbanus nach. »Werring, ich werde dich lehren, was es heißt, mich zu beleidigen.« Er atmete ein mal tief durch, um sich zu beruhigen. »Doch zu meinem Bedauern wird es deine letzte Lektion sein«, fuhr er anschließend fort – wesentlich ruhiger und wieder mit der anfänglichen Höflichkeit. »Morgen früh um sechs; draußen vor der Stadt. Im Osten ist direkt am Fluss ein hervorragend geeigneter Platz, um unseren kleinen Händel auszutragen. Normalerweise schlage ich mich nicht mit Krüppeln und Halunken. Aber da Ihr ja bewiesen habt, dass Ihr gar nicht blind seid, könnt Ihr Euch auch wehren. Also los, nehmt Ihr die Herausforderung an? Oder wollt Ihr jetzt hier aller Welt zeigen, wer von uns beiden der Feigling ist?« »Schwätzer!«, fluchte Werring und spuckte aus. »Ich komme!« »Es wird mir ein Vergnügen sein, Euch für die letzten Augenblicke Eures kümmerlichen Daseins noch Benimm beizubringen, Meister Werring! Und damit Ihr seht, dass ich überhaupt keinen Grund habe, mich vor einer Jammergestalt wie der Euren zu fürchten, über lasse ich Euch die Wahl der Waffen. Los, Männer, wir gehen.« »So ein aufgeblasener Lackaffe! Der wird sich morgen wundern!« Werring stutzte. »Verdammt! Bär, wo ist der Dukaten, der Einsatz?« »Oh! Den muss sich jemand vom Tisch genommen haben. Tut mir Leid, Werring, ich habe nichts bemerkt. Woher hattest du ihn über haupt?« »Bär! Wozu bist du nur gut? Weißt du wie schwierig es war, wäh rend ich unter dem Tisch in unserem Gepäck gewühlt habe, dem Kerl, der gerade vorbeiging, den Beutel abzuschneiden und dann war da nur ein einziger Gold-Dukaten drin?« Er machte eine Pause und ließ suchend seine Hände über den Tisch gleiten. »Verdammt, jetzt haben wir nichts übrig, um unser Nachtlager zu
bezahlen!« Der Wirt, der gerade die Nachbartische abräumte, drehte sich zu Werring um. »Ihr könnt im Stall schlafen, meine Herren! In der ganzen Stadt findet Ihr zum Fest der goldenen Ziege sowieso kein einziges freies Bett mehr …« »Danke, Herr Wirt! Womit haben wir Euren Großmut verdient?« »Ich will ganz offen zu Euch sein, aus zwei Gründen. Erstens kann ich den arroganten Falbanus auf den Tod nicht leiden. Wer ihm also eins auswischt oder das zumindest versucht, hat meine ganze Sym pathie!« »Und der zweite Grund?«, wollte Werring wissen. »Nun ja, Ihr tut mir Leid!« »Wieso denn das?« »Es wäre ein Wunder, wenn Ihr den morgigen Tag überlebt!«, sag te der Wirt mit finsterer Miene. Werring lachte. »Macht Euch wegen dieses lächerlichen Duells morgen keine unnötigen Sorgen. Es ist nicht mein erstes und wird auch nicht mein letztes sein. Meine Gegner haben alle den gleichen Fehler gemacht – sie haben mich unterschätzt, weil sie dachten, sie hätten es mit einem blinden Trottel zu tun.« »Morgen früh wird es anders sein, mein Herr. Da wird Euch we der Eure flinke Zunge, noch Eure Gewitztheit helfen. Und auch Euer starker Freund wird keine Chance bekommen, in den Kampf einzu greifen.« »Das wird nicht nötig sein. Mit Falbanus komme ich spielend alleine zurecht.« »Ihr wisst nicht, wer Euer Gegner ist …«, brummte der Wirt. »Na, irgendwer wird es Euch schon noch sagen. Die Ställe sind dort drü ben. Schlaft gut, meine Herren!« »Wer ist Falbanus?«, knurrte Werring und hielt den Wirt am Ärmel fest.
Der Mann seufzte, blieb aber stehen. »Er ist das Oberhaupt der hiesigen Zauberergilde!«
* Die Wiese glänzte silbern vor Tau, und in Ufernähe stieg der Morgennebel in dicken Schwaden in das Licht des beginnenden Tags. Amseln fochten lautstark ihre Revierkämpfe aus, und das ge mütliche Plätschern des Flusses hatte etwas Beruhigendes, beinahe Einschläferndes. Weder Werring noch Bär waren begeisterte Frühaufsteher, im Gegenteil. Doch während der Hüne herzhaft gähnte, war Werring so wach wie selten zuvor in seinem Leben. Dabei hatte er in der vergangenen Nacht kaum ein Auge zugetan. »Werring?«, fragte Bär und gähnte erneut. »Ja, was gibt’s?«, erfolgte die hörbar schlechtgelaunte Antwort. »Äh … Ich weiß nicht, wie ich’s sagen soll …« »Spuck es schon aus, Mann!« »Du … du riechst irgendwie seltsam«, druckste Bär. »Ha! Du willst es mir wohl heimzahlen, weil ich gestern anzumer ken wagte, die von dir ins Auge gefasste Dame, könnte von deinen Ausdünstungen nicht gerade begeistert sein.« »Nein, das ist etwas anderes … Ich weiß nicht recht, es riecht … Es stinkt!« Bär suchte sichtlich nach den passenden Worten. »Hast du dir in die Hosen gemacht?«, platzte es schließlich aus dem Hünen heraus. Eifrig fuhr er zugleich fort: »Ich werde dir helfen! Sollte dieser arrogante Fiesling dir an die Kehle gehen, hau ich ihn um! Egal wie viele bewaffnete Männer er dabei hat. Bei Voitan, ich steh dir bei!« Werring grinste. »Vielen Dank, das weiß ich zu schätzen. Aber
keine Sorge, ich habe mich nicht vor Angst nass gemacht. Ich habe mich nur ein wenig eingerieben. Ich wusste nicht, dass es derartig stinkt … Ah, da warten unsere ›Freunde‹ ja schon!«In das Wort »Freunde« legte Werring alle Verachtung, zu der er fähig war. »Ich hoffe, Ihr habt gut geschlafen, Meister Werring, und die letzte Nacht in Eurem Leben noch richtig genossen!«, sagte Falbanus an statt eines Grußes. Er kam ihnen einige Schritte entgegen, im Gesicht ein sardonisches Grinsen, das in Werrings innerem Blick aussah, als habe das Oberhaupt der Zauberergilde auf eine Zitrone gebissen. Dann ahnte er die nächste Entgleisung in den Gesichtszügen seines Gegners voraus und grinste. »Puh!« Falbanus rümpfte die Nase. »Welches Wässerchen habt Ihr denn da aufgelegt? Oh, lasst mich raten! Ihr müsst vor Jahren bei dieser alten Vettel gewesen sein. Richtig? Wie hieß die alte Hexe nur. – Nein, sagt nichts, es liegt mir auf der Zunge … Ludmilla, stimmt’s? Doch, doch … Ludmilla, ganz genau. Jetzt fällt es mir wieder ein. Bei den Hörnern Lozis, Ihr seid auch auf ihre Zauber paste reingefallen.« Falbanus braeh in schallendes Gelächter aus. »Das«, prustete er, »wird Euch nicht viel nützen, Meister Werring! Nur dass Ihr Euch selbst nicht mehr riechen könnt.« Das Gesicht des Blinden wurde abwechselnd bleich und rot. Der erste Teil seiner Strategie schien sich gerade in Luft aufzulösen. Wie hatte er auch damit rechnen sollen, dass der Zauberer eine viele Wo chenmärsche entfernt lebende Hexe kannte, deren Dienste er vor et lichen Jahren in Anspruch genommen hatte. »Genug der Scherze!«, sagte Falbanus schließlich, konnte jedoch selbst kaum aufhören zu lachen und stieß unter hysterischem Ga ckern hervor: »Die Waffen! Welche Waffe habt Ihr gewählt?« Wortlos warf Bär den großen Beutel, den er auf dem Rücken ge tragen hatte, so vor Falbanus Füße, dass dieser mit einem spitzen
Schrei zurückwich. Einer von Falbanus schwer bewaffneten Begleitern sprang zu dem Leinensack und wollte ihn öffnen. Doch Bär war schneller. Mit einem kurzen, trockenen Stoß vor die Brust ließ er ihn einige Schritte zurücktaumeln. Anschließend löste der große Mann die Schnur. »Diese Kette wird an Eurem Knöchel befestigt, das andere Ende am Knöchel meines Freundes«, begann Bär zu erklären, während er den Inhalt des Beutels hervorholte. »Die zweite Kette verbindet euch an euren linken Handgelenken. Oder seid Ihr Linkshänder?« Falbanus verneinte. »Die Oberkörper werden entblößt. Und Ihr müsst auch die Hosen ausziehen.« »Sollen wir nackt kämpfen?« Falbanus begann wieder zu kichern. »Sehr richtig! In jeder Falte Eures Gewandes könnte eine zusätzli che Waffe verborgen sein. Deshalb wird nackt gekämpft. Als Waffen dienen euch diese doppelschneidigen Dolche!« »Hey!«, rief Falbanus, und ein irres Glitzern stand in seinen Augen. »Das wird ja richtig blutig!« »Genau. Und zwar für Euch!«, knurrte Werring. Einer von Falbanus Männern prüfte die Ketten und die beiden Dolche. Schließlich nickte er seinem Herrn schweigend zu. Ab diesem Moment war es fast völlig still auf der Wiese. Kein Vo gelzwitschern ertönte mehr. Nur das Murmeln des Flusses war noch zu hören und das Atmen der Männer. Umso lauter klirrten die Ketten, mit denen die beiden Kämpfer, die sich schweigend ausgezogen hatten, nun aneinander gebunden wurden. Werring bückte sich, um den Dolch aufzuheben. Auch Falbanus ging in die Knie. Aber er riss nur ein Büschel Gras aus, drehte die Halme zu kleinen Pfropfen und steckte sie sich in die Nasenlöcher. Dabei sah er Werring herausfordernd an. Erst jetzt
griff er nach dem Dolch. Kaum hatte sich der Magier wieder aufgerichtet, da trat ihm Wer ring heftig in den Hintern. Der überraschte Zauberer stolperte und riss im Fallen seinen Gegner mit zu Boden, der genau auf ihn prallte. Blitzschnell hatte Werring dem Zauberer den Dolch an die Kehle gesetzt. Doch der drehte sich unter ihm weg, wie ein nasser, glitschiger Fisch. Und in diesem Moment, da ihm Falbanus entglitt, kam es Werring tatsächlich so vor, als kämpfe er mit einem gewaltigen Wels, der an Land geschleudert worden war. Er hatte mit Zauberei gerechnet und deshalb seine ganze Taktik auf einen Überraschungsangriff ausgerichtet war gerade gründlich daneben gegangen war. Jetzt war er mit seinem Latein am Ende. Falbanus und er hatten in etwa die gleiche Größe und rein körperlich gesehen verfügten beide über ungefähr die gleich Kraft. Zauberkräften würde Werring aber nicht viel entgegensetzen können. Deshalb machte ihn die Tatsache, dass seine Strategie fehl geschlagen war, umso wütender – und er griff wieder an. Wenig später hielten sich ihre gegenseitigen Verletzungen noch die Waage. Hier ein blutiger Schnitt quer über Werrings Brust, dort ein tiefer Stich in Falbanus Oberarm. Doch beide schienen nichts da von zu spüren und es störte sie in ihrem heftigen Ringen auch nicht, dass sich das Blut matschend mit ihrem Schweiß mischte. Da verhedderte sich der Zauberer in die Armkette, und unvermu tet sah Werring seine Chance gekommen. Heftig riss er an der Kette, die sich mit einem Ruck um den Hals seines Gegners legte. Noch einmal zog er an ihr und ahnte mit seinem inneren Blick, wie Falba nus langsam puterrot im Gesicht wurde und seine Zunge aus dem Mund quoll. Die Stimme, die Werring in diesem Moment direkt in seinem Ohr flüstern hörte, klang jedoch überhaupt nicht erstickt oder würgend.
Mit leiser, aber dennoch klar verständlicher Stimme sagte der Zau berer, als säße er direkt in seinem Kopf: »Fühlt Ihr das? Hier unten! Bitte, ich will Euch nicht ablenken, aber fühlt ihr das?« Werring nickte. Oh ja, das konnte er deutlich fühlen. Falbanus Klinge saß direkt an der Stelle, die Bär immer Zepter und Juwelen nannte. »Ihr habt bewiesen, dass Ihr tapfer seid, Meister Werring! Doch was würde Euch dieser Ruhm nützen, ohne Euer bestes Stück?«, fuhr die Stimme in seinem Ohr fort. »Und ich habe auch bewiesen, dass ich tapfer bin, denn ich habe Euch nicht mit einem kleinen Zau berspruch in eine Kröte verwandelt, die dann von den Störchen gefressen wird. Glaubt mir, das wäre mir ein Leichtes gewesen! Ich könnte diese unwürdige Herumwälzerei im nassen Gras auch jetzt noch auf diese Weise beenden! Oder Euch zuerst noch ein wenig verstümmeln … Ist es das, was Ihr wollt?« Werring schüttelte den Kopf. Aus irgendeinem Grund versagte ihm in diesem Moment die Stimme, während sein Gegner, dem er die Kehle zudrückte, munter in seinem Ohr sprach. Unwillkürlich lockerte er den Griff und ließ der Drosselkette etwas mehr Spiel. »Verbindlichsten Dank, Meister Werring. Ich sehe, wir verstehen uns«, meldete sich Falbanus’ Stimme »Mein Vorschlag ist folgender: Wir beenden diese unsägliche Herumtollerei, überlassen derartige Albernheiten wieder kleinen Kindern und jungen Hunden und benehmen uns wie erwachsene Menschen …« Werring nickte. »Ich wahre Ihr Gesicht, in dem ich sage, dass Ihr mir Genugtuung gewährt habt, und Ihr erklärt das Gleiche. Dann geben wir uns die Hand, und heute Abend zum ersten Höhepunkt unseres Festes der goldenen Ziege seid Ihr und Euer kräftiger Freund meine Gäste …« In Werring breitete sich das Gefühl von Verwirrung aus. »Und ehe Ihr Euch unnötige Gedanken um meinen Gesinnungs wandel macht, lasst Euch noch folgendes sagen: Dieses Duell hat
mir bewiesen, dass Ihr und Euer Freund Bär die richtigen Leute seid, die ich suche! Ich habe nämlich einen äußerst lukrativen Auf trag für Euch! Was sagt Ihr dazu?« Werring spürte, wie der Druck der gegnerischen Klinge zwischen seinen Beinen nachließ. »Woher weiß ich, dass ich Euch trauen kann!«, flüsterte er nun Falbanus ins Ohr. »Keine Sorge, in Eurem Beutel werdet Ihr eine Anzahlung finden, die Euch davon überzeugen wird, meine Einladung anzunehmen!« Mittlerweile waren Bär und die Männer, die Falbanus begleitet hatten, immer näher an die beiden Kämpfer herangerückt, die sich auf einmal kaum noch bewegten. Werring spürte Blicke voller Neugierde gepaart mit Misstrauen auf sich gerichtet. Deshalb erhob er sich abrupt. Auch Falbanus rappelte sich hoch und warf mit elegantem Schwung den Dolch ge nau zwischen Bärs Füße. »Das reicht!«, sagte er laut. »Mit diesem tapferen und ehrlichem Kampf Mann gegen Mann hat mir Meister Werring die Ehre erwiesen, Genugtuung zu erlangen für unsere kleine Meinungsver schiedenheit! Wie seht Ihr das, Meister Werring?« »Ich stimme Euch zu, werter Herr Falbanus. Ab und an ist es not wendig, Auseinandersetzungen wie wahre Helden auszufechten. Ihr habt Euch gestellt, tapfer gekämpft und das ohne Zauberei, da mit bin auch ich zufrieden!« »Gut, dann wollen wir es dabei bewenden lassen und uns hier als Freunde trennen! Denkt daran, was ich Euch gesagt habe.« Der zweite Satz erklang wieder nur in Werrings Ohr …
*
Bär schüttelte seine blonde Mähne wie ein durchgehendes Pferd. »Ich verstehe das nicht! Das ganze Duell war nur eine Art Probe?« Falbanus verzog sein Gesicht zu einem Grinsen, das wohl ver ständnisvoll aussehen sollte, aber kaum verbergen konnte, dass ihn die leichte Beschränktheit des blonden Barbaren allmählich zu ner ven begann. Es war Abend, und das Oberhaupt der Zauberergilde saß zu sammen mit Werring und Bär auf einer hölzernen Tribüne, zu der nur die Nobelsten Chorfstadts und ihre Ehrengäste Zutritt hatten. Von hier aus hatten sie den besten Blick über den weitläufigen Rat hausplatz, auf dem sich gerade der Höhepunkt des diesjährigen Fests der goldenen Ziege abspielte. Man hatte den ganzen Platz dick mit Sägespänen bestreut, die von den Hufen edler Rösser hochgewirbelt wurden. Die Reiter waren in eiserne Rüstungen gezwängt worden und versuchten, sich gegensei tig mit Lanzen von den Pferden zu stoßen. Immer wieder krachte einer der Ritter zu Boden und blieb oft seltsam verrenkt liegen. Durch den Aufprall hatten sich die Scharniere der Rüstungen so ver kantet, dass sie sich nicht mehr bewegen konnten. Chorfstadts Schmied hatte keinen Grund, sich über Auftrags mangel zu beklagen. Er besaß als Einziger eine Ausnahmegenehmi gung, an diesen Festtagen arbeiten zu dürfen. Zahlreiche zerbeulte Rüstungen mussten wieder hergerichtet werden, fast ebenso viele Ritter mussten aus ihren eisernen Gefängnissen befreit werden, um sich dann beim Bader die gebrochenen Knochen schienen und die ausgekugelten Gelenke wieder einrenken zu lassen. Ganz Chorfstadt war erfüllt von Geschrei, Toben und dem Begeis terungsgebrüll der Zuschauer. Zuvor hatten Gaukler, Jongleure und Seiltänzer ihr Können ge zeigt. Jetzt versuchten Feuerschlucker mit ellenlangen Stichflammen, die sie ausstießen, die Pferde verrückt zu machen. Je mehr Ritter vom Pferd fielen, umso größer der Jubel. Besonders viel
Respekt vor dem ländlichen Kleinadel besaßen die freien Chorfstäd ter nicht gerade. Aber der mit Golddukaten prallgefüllte Beutel, der auf den Sieger wartete, lockte dennoch jedes Jahr aufs Neue zahllose wagemutige Kämpen zum Fest der goldenen Ziege. Die große, massiv-goldene Ziegenstatue stand während des Festes auf einem Podest mitten auf dem Platz, sodass jeder sie sehen konn te. Für den Rest des Jahres verschwand das Wahrzeichen der Stadt hinter dicken Mauern und einem eisernen Tor, streng bewacht im Ziegenturm direkt neben dem Rathaus. Auch jetzt wurde die Statue der Ziege, die so groß war wie ein Pferd, von mindestens einem Dutzend Männern bewacht, die jeden misstrauisch beäugten, der sich das Goldtier näher anschauen wollte. »Kommt mit in mein Haus!«, sagte Falbanus und stand auf. Gerade wurde einem völlig zerbeulten Kämpfer die Siegesprämie überreicht. »Das Essen bei mir zu Haus ist besser, als das, was der Rat dem gemeinen Volk spendiert«, erläuterte der Magier seinen Vorschlag. Werring und Bär erhoben sich und folgten ihm …
* »Nun, was haltet Ihr davon?«, fragte Falbanus und warf einen abge nagten Knochen in den Kamin, in dem ein helles Feuer flackerte, das den Saal erleuchtete. Mittlerweile war es draußen dunkel geworden. »Ihr sagtet, die Anzahlung dürfen wir in jedem Fall behalten?«, fragte Werring. Der Zauberer nickte. Von den zwanzig Goldstücken, die sie nach dem Duell in ihrem Waffenbeutel gefunden hatten, würden sie eine ganze Weile gut leben können. »Gut, dann will ich offen zu Euch sein, Falbanus!«
»Ich bitte darum«, sagte der Magier. »Das, was Ihr vorhabt, ist Wahnsinn. Undurchführbar«, teilte ihm Werring seine Meinung mit. »Habt Ihr die Bewaffneten gesehen?« Falbanus zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Aber, was ich mich vor allem frage: warum? Warum macht Ihr es nicht selbst? Für Eure Zauberkräfte dürfte das doch kein Problem sein, oder?« Falbanus zeigte ein dünnes Lächeln. »Doch, es ist ein Problem,«, sagte er. »Die goldene Ziege wird nicht nur streng bewacht, sondern ist zu allem Überfluss auch noch mit einem unlösbaren magischen Bann belegt. Ein Zauberspruch, der jeglichen Angriff durch weiße oder schwarze Magie abwehrt. Kein Hexenmeister, kein Magier der Welt, noch nicht einmal der Fürst der Unterwelt persönlich würde es schaffen, diesen Bann zu durchbrechen. Doch wer Magie und Zaubersprüche beiseite lässt, hat eine Chance, das Goldtier zu stehlen …« »Mal angenommen, wir wären tatsächlich in der Lage, die Wachen zu überwinden … Und auch mal angenommen, es würde uns gelingen, diesen doch ziemlich schweren Brocken ungesehen aus der Stadt zu schaffen, also ihn irgendwie zu transportieren. Was sollen wir …? Was wollt Ihr mit dieser weit über die Reichsgrenzen hinaus bekannten goldenen Ziege anfangen?«, fragte Werring. Bär kratzte sich am Kinn, und man sah Falbanus an, dass er über legte. »Einschmelzen? Habt Ihr einen Käufer, der reich genug ist, um die Figur abzukaufen?«, fügte Werring noch hinzu. »Weder noch, meine Herren«, sagte der Magier schließlich. »Die Bedeutung der goldenen Ziege beschränkt sich nicht auf ihren Gold wert. Sie ist das Symbol der Stadt und – was noch viel wichtiger ist – diese Figur demonstriert nicht nur den legendären Reichtum von Chorfstadt, sondern sie ist das sprichwörtliche Zentrum seiner Macht!«
Falbanus genoss einen Moment die Verwunderung in ihren Gesichtern, bevor er fortfuhr. »So lange die Chorfstädter ihre goldene Ziege haben, kann ihnen nichts und niemand etwas anhaben! Kein Kaiser, kein König, kein fremder Heerführer! Alle beißen sich an der Macht der unüberwindbaren Mauern dieser Stadt die Zähne aus. Ihr wisst selbst, dass schon viele versucht haben, Chorfstadt einzunehmen, aber alle sind gescheitert. Das liegt vor allem an Chorfstadts Wahrzeichen, an der Macht der goldenen Ziege …« »Das bedeutet: keine Ziege, keine Macht«, ergänzte Werring und seine Stimme bekam etwas Lauerndes. »Ihr habt es erfasst, mein Herr!«, sagte Falbanus. »Es gibt gewisse Nachbarn von Chorfstadt, denen die Macht und der Reichtum dieser fröhlichen Stadt ein wahrer Dorn im Auge ist. Sie erhoffen sich, wenn die Ziege erst einmal in ihrem Besitz ist, dass sie sich die Stadt ohne größere Verluste einverleiben können.« »Das habe ich inzwischen begriffen, Herr Falbanus, und ich glaube zu wissen, wer ein vordringliches Interesse an Chorfstadt haben kann. Herzog Wedal ist bekannt dafür, dass er seine Ländereien und seinen Einfluss ausdehnen will, damit immer mehr Menschen in den Genuss seiner von Weisheit und Güte geprägten Regierungsgewalt kommen …«, sagte Werring und die Ironie seiner Worte war nicht zu überhören. Während dieses Gesprächs flog Bärs Blick zwischen Falbanus und seinem Gefährten hin und her. »Aber unklar ist mir immer noch, worin Euer Interesse in dieser Angelegenheit besteht?«, setzte Werring noch hinzu. »Herzog Wedal ist in der Tat ein Mann, der alles dafür tun würde, um in den Besitz der goldenen Ziege zu gelangen. Er schuldet dem Rat von Chorfstadt so viel Geld, dass es für ihn die eleganteste Lö sung seiner Probleme wäre, wenn er sich diese Stadt einfach einver leiben könnte«, erwiderte Falbanus.
»Und …?«, forderte ihn Werring auf, fortzufahren. Der Magier sah ihn mit seinem durchdringenden Blick an. »Nun, mein Interesse,«, sagte er schließlich, »ist ähnlicher Natur, wie das von Herzog Wedal. Seht, Meister Werring, hier in Chorf stadt habe ich alles erreicht, was ich hier werden kann. Ich bin ein geachteter und gerühmter Magier, ja ich habe es sogar zum Oberhaupt der hiesigen Gilde gebracht. Aber damit ist das Ende meiner Karriere erreicht. Als Zauberer wird man mich niemals zum Bürgermeister wählen, noch nicht einmal ein einfaches Ratsmitglied kann ich werden. Das würde der Gildeordnung ebenso widerspre chen, wie den Gesetzen der Stadt …« Falbanus seufzte und der Versuch, eine Mitleid erregende Miene aufzusetzen, gelang ihm überraschend gut. »Herzog Wedal bietet Euch da offensichtlich mehr?«, fragte Wer ring, und Falbanus nickte. »Entschuldigt, wenn ich Eure gepflegte Unterhaltung störe«, mischte sich Bär ein, »aber mein Freund Werring hat doch bereits festgestellt, dass ein Raub der Ziege unmöglich ist. Also, vergesst Eure Pläne und gebt Euch keinen müßigen Gedankenspielen und nutzlosen Wunschvorstellungen hin!« Bär erntete erstaunte Blicke. So viel auf einmal hatte er schon lange nicht mehr gesagt, erst recht nicht in so wohl formulierten Sätzen. Obwohl – oder vielleicht auch weil – Falbanus ihn längst nicht so gut kannte wie Werring, fing er sich als Erster wieder. »Es ist nicht unmöglich, Meister Bär, ganz und gar nicht. Im Gegenteil wird es für Euch mit meinen kleinen Erfindungen ein Kinderspiel sein, die Ziege zu stehlen.« »Wofür braucht Ihr uns dann noch, wenn Ihr eine Erfindung habt, die …?«, sagte Werring. »Die Erfindung hat nichts mit Zauberei zu tun. Ich benötige vor allem Eure Kraft, Euren Mut und Eure Geschicklichkeit! Meine Männer sind alles gebürtige Chorfstädter, denen kann ich nicht ver
trauen … Kommt mit, ich will Euch etwas zeigen.«
* Am nächsten Morgen strebte das Fest der goldenen Ziege einem neuen Höhepunkt entgegen. Wie verabredet verließ Falbanus Chorfstadt am späten Nachmit tag, während sich Bär und Werring – ebenfalls wie verabredet – un ter die Feiernden mischten. Eine weitere großzügige Anzahlung hatte sie schließlich überzeugt. Als die Nacht hereinbrach, wurden auf dem Rathausplatz zahlrei che große Feuer entzündet, über denen Wildschweine und Hirsche gebraten wurden. Bier und Wein flossen in Strömen. Irgendwann wurden die Bewaffneten, die das goldene Wahrzei chen zu bewachen hatten, abgelöst und konnten sich endlich und voller Erleichterung auch der Völlerei hingeben, neidisch beobachtet von der Ablösung, die nun den Rest der Nacht auf Posten bleiben musste. Stunden später wankten die letzten Betrunkenen, die sich noch auf den Beinen halten konnten, lallend und singend nach Hause. Ande re, die schon zuvor unter die Tische gekippt waren, schliefen laut schnarchend unter freiem Himmel ihren Rausch aus. Weitere Stunden vergingen. Neben einem besonders großen und dicken Schnarcher, lag eng zusammengerollt und in einen mit zottigen Fellstücken besetzten Mantel gehüllt, ein weiteres Bündel, das sich auf einmal zu regen und zu strecken begann. Der Mantel rutschte zur Seite. Torkelnd erhob sich ein drahtiger Mann und stieß mit dem Kopf gegen den Tisch. Ein unterdrücktes Kichern erklang. Einer der Wächter hatte die Ungeschicklichkeit des Zechers genau beobachtet. Das Kichern
wiederholte sich, als der Mann, der sich noch den angeschlagenen Kopf rieb, über den dicken Kerl stolperte, der sich direkt neben ihm befand. Mit einem knurrenden Geräusch des Unmuts drehte sich der Dicke um. Der schlaftrunkene Zeeher wankte weiter, bis er hart gegen eine Hauswand prallte. Die Wächter, die den Betrunkenen im fahlen Schein des Halb monds und einzelner kleiner Öllämpchen beobachteten, lachten er neut. Der Mann blieb mit der Stirn an der Wand gelehnt stehen und wenige Augenblicke später ertönte ein anhaltendes Plätschern, be gleitet von einem Grunzen der Erleichterung. Als der Mann fertig war, wankte er geradewegs auf die Wachen zu, die sich rings um die Statue postiert hatten. Teils saßen sie gegen das Podest gelehnt und blickten mit müden Augen in die Nacht, andere stützten sich auf ihre Speere, drei von ihnen spielten im Schein einer Öllampe Karten. »Er ist blind!«, flüsterte einer der Wächter zu seinem Nachbarn …
* Werring, der Zecher, lallte etwas, das klang wie: »Oh, hier ist tat sächlich noch jemand wach … Das ist ausgezeichnet«, nuschelte er, als er vor den Wachen stand. »Hier, Freund, sei so gut und mach die Flasche auf.« Mit diesen kaum verständlichen Worten hielt er dem Wächter eine große, bauchige Flasche hin. »Du hast doch längst genug«, sagte der Wächter. »Leg dich wieder hin und schlaf weiter.« »Ja, gleich, nach einem klitzekleinen Schlückchen! Der Rest ist für Euch!« Das verstand der Wächter trotz der undeutlichen Aussprache. Er zuckte mit den Achseln, griff nach der Flasche und zog an dem Kor ken, der mit einem lauten Plopp aus seiner Hand flog.
Gleichzeitig katapultierte sich Werring aus dem Stand einige Me ter weit fort und rollte sich ab. Dabei hielt er sich ein feuchtes Tuch vor Mund und Nase. Von einem Moment zum nächsten wirkte er überhaupt nicht mehr betrunken. Der eine Wächter sah erstaunt dem fortfliegenden Korken nach, ein anderer dem weghechtenden Mann hinterher. Die Übrigen nä herten sich neugierig der Flasche, aus der zischend ein fast durch sichtiger Dampf entwich. »Was …?«, sagte einer der Wächter, die Spielkarten noch in der Hand. Dann sah er, wie zuerst derjenige, der die Flasche geöffnet hatte, lautlos zusammensackte. Unmittelbar gefolgt von den Um stehenden. In diesem Augenblick wurde auch ihm schwarz vor Augen …
* Bär hatte sich, während Werring den Betrunkenen mimte, bereits unbemerkt um eine Straßenecke geschlichen. Der Blinde fand ihn nur Sekunden später. Beide atmeten durch feuchte Tücher, die sie sich sorgfältig um Mund und Nase gebunden hatten. Sie öffneten ein großes Holztor und gelangten in den Hof von Falbanus Haus, wo die Erfindung auf ihren Einsatz wartete. Der anstrengendste Teil der Arbeit, hatte ihnen Falbanus gesagt, wird sein, die Ziege von ihrem Podest auf die Erfindung herunterzuheben. Nor malerweise wird die Statue mit Mühe von vier Mann getragen! Bär hob die goldene Ziege mit einem leichtem Ächzen allein vom Podest. Die Erfindung bestand aus einem flachen Karren, auf dessen nor malerweise eisenbeschlagene Räder ringsherum luftgefüllte und mit
Teer abgedichtete Schweinsblasen befestigt waren. Diese Blasen waren wiederum mit groben, ebenfalls in Teer getränkten Lumpen fest umwickelt. Mittlerweile war das Pech ausgehärtet. Der Karren rollte nahezu geräuschlos über das bucklige Kopfstein pflaster. Wegen seiner anderen Erfindung, das betäubende, halb flüssige Gas in der Flasche, hatte Falbanus keinerlei Aufhebens ge macht. Das ist doch nur Alchemie!, hatte er gesagt, obwohl Werring und Bär von ihr weitaus beeindruckter waren, als von den lautlosen Rädern. Tatsächlich rollte der Wagen mit der gewichtigen Beute, über die sie notdürftig ein Tuch geworfen hatten, unhörbar und vor allem leicht zu schieben in Richtung Stadttor. Um dieses Hindernis hatte sich Falbanus bereits gekümmert. Mit welchen Zaubertricks er die Wachen außer Gefecht gesetzt hatte, als er spät Abends in die Stadt zurückgekehrt war, das blieb sein Berufsgeheimnis. Ebenso wie es ihm gelungen war, für die Be wohner, die ihm danach noch begegnet waren, so auszusehen wie der Hauptmann der Wache. Jedenfalls verwandelte er sich zischend und funken schlagend vor den erstaunten Augen Bärs zurück in seine ursprüngliche Gestalt. Werring nahm diese Verwandlung in seinem Geist wahr, als ob sich der Magier in einer unglaublichen Geschwindigkeit um sich selbst drehte. Der Zauberer stieß das mächtige Tor auf und sie verließen zu dritt die Stadt. »Ich habe extra die Scharniere geölt«, flüsterte Falbanus grinsend. Wenig später erreichten sie das nahe gelegene Wäldchen, in dem der Magier die Pferde versteckt hatte.
*
Zwar war der gefährlichste Teil ihres Auftrages erledigt, doch wirklich einfacher wurde es für Werring, Bär und den Zauberer nicht auf ihrem Weg zur Blutburg, dem Hauptsitz Herzog Wedais. Der Verfolgung durch erzürnte Chorfstädter konnten sie dank Falbanus magischer Nebeltechnik noch am leichtesten entgehen. Schwer wiegender war die Tatsache, dass die goldene Ziege mit je der Meile, die sie sich von Chorfstadt entfernten, immer größer wurde. Sie wuchs geradezu! Am unerträglichsten aber war das schlechte Wetter und die mise rablen Straßen. Nicht selten versanken die Pferde bis zu den Knien im Schlamm. Nur die lautlosen Räder, auf die der Magier so stolz war, versahen ihren Dienst viel besser, als es die üblichen Eisenräder vermocht hät ten. Dennoch war der Karren samt seiner goldenen Last so schwer, dass auch diese Räder sich mitunter tief im feuchten Boden ein gruben und nicht mehr vorwärts zu bewegen waren. Mehr als ein mal bewies Bär, dass seine Kraft die der Zugpferde weit übertraf. Doch bald war die Ziege zu groß für den Wagen. Sie mussten die Räder abmontieren und einzeln unter den Füßen des Goldtieres befestigen. Die Ziege wuchs immer weiter. Aber zum Glück wurde sie kein Gramm schwerer. Mittlerweile war sie hohl und gab einen glockenähnlichen Ton von sich, wenn man gegen sie schlug. Mit ih rem Kopf überragte sie mittlerweile selbst hohe Bäume. Nicht einmal Falbanus konnte sich dieses Phänomen erklären …
* Endlich tauchten die gewaltigen Befestigungsanlagen der Blutburg vor ihnen auf. Noch immer regnete es in Strömen. Keiner von ihnen hatte mehr einen trockenen Fetzen am Leib. Die goldene Ziege war schon von
weitem unübersehbar, sodass Herzog Wedal ihr Auftauchen schon lange vor ihrer Ankunft gemeldet worden war. Deshalb begrüßte er sie schon vor dem Burggraben. »Falbanus«, polterte er, »seid willkommen! Ich wusste ja, dass die sagenhafte Ziege der verfluchten Chorfstädter groß ist, aber so groß …? Das hätte ich nie gedacht. Sie ist zu groß! Ich werde das Tor erweitern müssen, sonst passt sie nicht durch!« Doch fürs Erste kommandierte er einige Männer ab, die auf das wertvolle Tier aufpassen sollten und bat seine Gäste ins Innere sei ner Festung. »Die Macht der Ziege geht jetzt auf Euch über, Herzog«, sagte Falbanus, nachdem sie trockene Kleider angezogen hatten und neben dem Herzog und seinen engsten Vertrauten an einer ge waltigen Tafel saßen. »Schon bald könnt Ihr Chorfstadt un terwerfen! Dann gibt es niemanden mehr, der es mit Euch auf nehmen kann.« Diener und Mägde waren ununterbrochen unterwegs, um neue Speisen aufzutragen und Wein nachzuschenken. »Ihr habt recht, Falbanus und es wird Euer Schaden nicht sein!«, sagte Wedal mit vollem Mund und ließ sich ein weiteres Stück Braten auflegen. Bär war ebenfalls mit einem gesunden Appetit gesegnet. Er und der Herzog waren die einzigen am Tisch, die noch nicht genug ver tilgt hatten. Man sah Wedais stattlichem Bauch deutlich an, dass er gerne und viel aß. »Wie viele Männer habt Ihr hier, mit denen Ihr Chorfstadt angreifen wollt?«, fragte Werring. Wie vereinbart hatten Bär und er von Wedals Vogt, noch bevor sie sich zu Tisch begeben hatten, den Rest ihres Lohns erhalten. »Auf der Blutburg befinden sich derzeit zweihundert Mann«, ant wortete der Herzog und rülpste. »Den Rest habe ich direkt nach Eu rer Ankunft losgeschickt, um überall in meinem Reich die verfügba
ren waffenfähigen Männer zusammenzurufen. Insgesamt umfasst meine Streitmacht über dreitausend Mann Fußvolk und sieben hundert Berittene.« »Ich fürchte, das ist zu wenig«, murmelte Werring. »Wie bitte?«, fuhr der Herzog auf. »Zweifelt Ihr an meiner Kriegs kunst? Vergesst nicht, jetzt habe ich die Ziege. Ihr selbst habt sie mir beschafft.« Wedais Stimme bekam einen scharfen Ton und seine kleinen Augen zogen sich zu noch schmaleren Schlitzen zusammen und funkelten den Blinden in kaum beherrschter Bosheit an. Werring tat, als würde er davon nichts bemerken. »Verzeiht, Her zog! Es lag mir fern, an Eurer Macht oder Euren Fähigkeiten zu zweifeln. Im Gegenteil. Aber selbst, wenn Ihr jetzt die Ziege habt, hat Chorfstadt immer noch seine bis heute unbezwungenen Stadt mauern. Um sie zu erstürmen, brauchtet Ihr ein dreimal so großes Heer!« Werring beschrieb dem Herzog die Verteidigungsanlage Chorfstadts in allen Details. »Ihr müsst die Stadt stürmen! Wollt Ihr sie nur belagern und aushungern, kann es gut sein, dass Eure Männer eher vor Hunger ins Wanken geraten, bevor auch nur ein einziger Chorstädter auf eine seiner fünf Mahlzeiten pro Tag ver zichten muss!« Der Blinde fügte eine Schilderung der ausgedehnten Scheunen, Lager und Vorratskeller innerhalb der Stadtmauern an. Wedal warf wütend einen abgenagten Knochen auf den Tisch. »Ihr wollt mir wohl den Appetit verderben, blinder Mann!«. Aber Werring hob beschwichtigend seine Hand. »Keineswegs, Herr! Im Gegenteil, ich will Euch hungrig machen auf diese Stadt! Ich will ja, dass Ihr sie erobert! Ich habe schließlich selbst noch ein Hühnchen mit dem arroganten Stadtrat zu rupfen, und Herrn Falba nus geht’s genauso!« Der Magier nickte, obwohl er nicht wusste, wann und wo der Chorfstädter Rat Werrings Zorn heraufbeschworen haben sollte. »Ihr müsst in die Stadt hineinkommen. Unerkannt! Und zwar mit einer Hand voll Leute und ohne einen Tropfen Blut zu vergießen. In
der Nacht öffnet Ihr die Tore und lasst Eure Streitmacht hinein. Nur so könnt Ihr die Stadt erobern. Und zwar mit weit weniger Männern, als Euch jetzt zur Verfügung stehen, denn die Überra schung ist auf Eurer Seite.« »Und wie soll ich das machen!« Der Herzog lachte höhnisch. »Soll ich mich etwa als Marktweib verkleiden?« »Das wäre Eurer nicht würdig, mein Herr, obwohl ich zugeben muss, dass auch solch ein Plan funktionieren könnte. Doch vielleicht gefällt Euch diese Idee noch besser: Habt Ihr von Troy gehört, jener großen, reichen, goldenen Handelsstadt im fernen Osten?« Der Herzog schüttelte unwirsch seinen Kopf. »Zehn Jahre lang haben die Graecaner diese Stadt belagert, und zehn Jahre lang ist es ihnen nicht gelungen, sie einzunehmen. Kürz lich – es ist noch nicht lange her – ist Troy gefallen und wurde von den Siegern dem Erdboden gleichgemacht.« Werring trank einen tiefen Schluck. »Die Graecaner haben Troy erobert, weil sie Troy ein Geschenk ge macht haben«, fuhr er fort. »Ein hölzernes Pferd …« Wedal lachte, und seine Vertrauten fielen in das Gelächter ein. »Das Pferd war so groß wie ein Haus, und in ihm hatte sich ein Dutzend tapferer Kämpfer versteckt«, erläuterte der Blinde. »Der Rest der Armee der Graecaner zog ab und ließ nur das Pferd zurück. Die erleichterten Bewohner von Troy zogen das hölzerne Tier in ihre Stadt und begannen zu feiern. Am nächsten Tag sollte das Pferd als Opfer zum Dank für die siegreich überstandene Belagerung ver brannt werden. Aber Nachts, als endlich alles schlief, kletterten die Kämpfer aus dem Pferd, öffneten die Tore, ließen die heimlich zu rückgekehrte Armee in die Stadt – und begannen ihr Werk der Ver nichtung …« Werring schwieg. Nun lachte niemand mehr. »Sollen wir etwa auch so ein Pferd bauen und den Chorf Städtern
bringen?«, raunzte Wedal. »Ihr braucht kein Pferd, Herzog, Ihr habt ein noch viel perfekteres Geschenk als die Graecaner. Es steht vor Eurer Burg. Wen werden die Chorfstädter wohl lieber zurück in ihre Mauern lassen als ihre schmerzlich vermisste goldene Ziege …?«
* Als der Herzog am nächsten Morgen die goldene Ziege unter dem Eindruck von Werrings Erzählung noch einmal genau inspizierte, zeigte Falbanus aufs Hinterteil des Tieres und sagte: »Hier können tatsächlich bewaffnete Männer ins Innere hineinkriechen und sich verstecken!« Wedal stapfte um die Ziege herum und begutachtete eine knapp mannsdicke Öffnung, die sich an ganz natürlicher Stelle unter dem leicht erhobenen Schwanz des riesigen Tieres befand. »Da komme ich niemals durch!«, rief der Herzog zornig. »Würdet Ihr denn selbst in die Ziege klettern wollen?«, fragte Werring. »Was glaubt Ihr, wer ich bin?«, fauchte Wedal. Er war unausge schlafen und hatte schlechte Laune, weil er noch unter dem Kater wegen der exzessiven Völlerei des gestrigen Abends litt. Doch er be antwortete seine Frage selbst: »Ich bin der oberste Heerführer meines Reiches. Solch eine Aufgabe überlasse ich doch keinem meiner Offiziere.« Er überlegte einen Moment. »Kann man die Öff nung vergrößern?« »Herzog, das wird nicht nötig sein, wenn Ihr Euch meiner Kunst anvertraut«, sagte Falbanus und nickte mehrmals unterwürfig. »Ich habe einen Trank in meinem Gepäck, der lässt Euch innerhalb kürzester Zeit an Gewicht verlieren, sodass Ihr aussehen werdet wie ein strahlender, schlanker Jüngling und ohne Probleme dort hinein
kommt.« »Her mit dem Trank!«, befahl Wedal – und ließ seinen Mund schenk vorkosten. Dieser verzog zwar das Gesicht, kippte aber nicht um. Nach einer kurzen Weile zog sich der Mann wegen dringender Geschäfte eilig zurück. Wedal grinste und gab weitere Anweisungen an seine Offiziere, das ausgehobene Heer auf direktem Weg nach Chorfstadt zu diri gieren. Es sollte sich aber in der näheren Umgebung sorgfältig ver stecken und abwarten, bis die Ziege in der Stadt war und Wedal und seine Männer in der Nacht die Tore öffneten. Sofort ritten ein Dutzend Boten mit den entsprechenden Befehlen los. während sich der Herzog mit verzerrter Miene den offensicht lich abscheulich schmeckenden Abmagerungstrunk einflößte. An schließend zog er sich selbst rasch in sein privates Boudoir zurück … Als der Herzog einige Stunden später wieder auftauchte, hatte er sich neu eingekleidet und abgesehen von einigen Falten im Gesicht, sah er jetzt tatsächlich jünger aus und war deutlich schlanker. Er bestimmte eine Hand voll Kämpfer, die mit ihm in die Ziege steigen sollten. Nacheinander zwängten sich alle durch die bewusste Öffnung und verschwanden im Innern. Zwar war es ein gutes Stück Weg bis zu ihrem Ziel, doch niemand wollte riskieren, dass Späher Chorfstadts sie beobachteten. Es klang hohl, als der Herzog aus dem Bauch der gewaltigen Sta tue den Befehl zum Aufbruch gab. Er wollte mit seinen Eroberungs plänen keinen Moment länger warten. Vier starke Pferde wurden vor die goldene Ziege gespannt und das eintönige Holpern über die schlechten Wege wirkte auf Wedal und seine Kämpfer wie ein Schlaflied. Die radikale Abmagerungs kur tat ihr übriges. Der Herzog und seine Leute im Inneren der Ziege schliefen ein …
* Zwei Dinge geschahen gleichzeitig. So rasch der Abmagerungszauber auf den verfetteten Leib Wedais gewirkt hatte, so rasch verlor sich auch seine Wirkung wieder. Doch der Herzog schlief, eingelullt von der schwankenden Vor wärtsbewegung und bemerkte nicht, wie sich sein Bauch wieder zu alter Größe und vormaligem Umfang aufblähte. Der Herzog reagierte äußerst unwirsch, als ihm einer seiner Kämpfer – wie er meinte – den Platz wegnahm. Durch den Druck eines Ellbogens in seinem Magen erwachte er aus seinem Schlum mer. Mit einer wütenden Geste stieß er den Mann von sich. Der Soldat stieß mit dem Kopf gegen die goldene Innenwand der Ziege. Es klang wie ein großer Gong. Nun waren endgültig alle wieder wach. Der Krieger, der sich un ter dem Gelächter seiner Kameraden noch den Kopf rieb, bemerkte es als Erster. Nicht nur der Herzog hatte sich verändert – war wieder zu altem Umfang und vormaliger körperlicher Pracht ange schwollen – das sahen jetzt auch alle anderen bis auf Wedal selbst –, sondern auch die Ziege … »Die Ziege!«, schrie der Kämpfer mit unüberhörbaren Entsetzen in der Stimme. Die Ziege schrumpfte, je mehr sich der wunderliche Zug Chorf stadt näherte. Mittlerweile wurden die Männer im Innern gegenein ander und übereinander gedrückt und geschoben. Blanke Panik erfasste sie. Der Herzog versuchte, sich als Erster zu retten und wollte aus der Öffnung hinauszuklettern, durch die er in das Innere der goldenen Ziege gelangt war. Doch mittlerweile war das wertvolle Tier so klein geworden und
er wieder so dick, dass er bereits mit dem Kopf in der Öffnung ste cken blieb. Die von innen nachschiebenden Männer erstickten seinen verzweifelten Schrei, und er selbst erstickte wie ein riesiger Stopfen das furchtbare Gebrüll seiner hoffnungslos ineinander verkeilten, eingeschlossenen Krieger …
* Es ging die Hügel herab und am Horizont tauchte das vertraute Bild der Türme, Mauern und Häuser Chorfstadts auf. Das goldene Glitzern des heranrollenden Wahrzeichens der Stadt wurde dort schon von weitem bemerkt. Aus den Toren kamen zahllose jubelnde Bewohner, aber auch ebenso viele Bewaffnete, um die Ziege in Empfang zu nehmen. Falbanus, Werring und Bär wurden von den dankbaren Chorfstädtern überschwänglich gefeiert. Werring hatte noch zusätz lich Glück. Denn die Wachen, die ihn möglicherweise wiederer kannt hätten, saßen zur Strafe ihrer Nachlässigkeit im Kerker. Dass Herzog Wedal den nächtlichen Diebstahl veranlasst hatte, glaubte man ihnen sofort. Und auch dass die Diebe nun zusammen mit dem Despoten für immer im Inneren des goldenen Tieres einge schlossen waren und kein Unheil mehr anrichten konnten. Die zurückgebrachte Ziege, die nun wieder zu ihrer normalen Größe geschrumpft war, besaß an ihrem Hinterteil den schlagenden Beweis dafür, dass es unseren Helden gelungen war, den größten Feind der Stadt endgültig auszuschalten. Dort war das mittlerweile goldüberzogene Gesicht des verhassten Herzogs deutlich zu er kennen. Das erfuhren auch bald darauf die in den umliegenden Wäldern versteckten Truppen, die auf Befehl Wedais um Chorfstadt zu
sammengezogen worden waren. Nun führungslos gaben die Schlaueren unter ihnen Fersengeld, während die Dümmeren in die Hände chorfstädtischer Patrouillen fielen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich zu ergeben oder niedergestreckt zu werden. Wedais verwaistes Herzogtum bereicherte höchst willkommen das Einflussgebiet der nun noch mächtiger gewordenen Stadt. Werring und Bär verließen schon bald nach diesen Ereignissen – ein weiteres Mal reich entlohnt – auf der Suche nach neuen Abenteuern die Stadt der goldenen Ziege. Jahre später hörten sie, dass Falbanus zum Verwalter und ersten Rat für die umliegenden Ländereien des Stadtstaates ernannt worden war … ENDE