Ren Dhark® Der Bitwar‐Zyklus Band 5
Die goldene Hölle Herausgegeben von HAJO F. BREUER Scan: Puckelz K‐Leser: CC Layout: Puckelz
! Ein Universum Release, nur für den internen Gebrauch !
HJB®
Die goldene Hölle von UWE HELMUT GRAVE (Kapitel 16,17,18,19,20) ACHIM MEHNERT (Kapitel 7,9,11,13,15) CONRAD SHEPHERD (Kapitel 6, 8,10,12,14) JO ZYBELL (Kapitel 1,2,3,4,5) und HAJO F. BREUER (Expose)
1. Auflage HJB Verlag & Shop KG Postfach 22 01 22 56544 Neuwied Bestellungen und Abonnements: 0 26 31‐35 48 32 Fax:0 26 31‐35 6102 E‐Mail:
[email protected] www.ren‐dhark.de © REN DHARK: Brand Erben Herausgeber: Hajo F. Breuer Titelbild: Swen Papenbrock Druck und Bindung: Ueberreuter Buchproduktion © 2005 HJB Verlag REN DHARK und HJB sind eingetragene Warenzeichen Alle Rechte vorbehalten ISBN 3‐937355‐08‐1
Der Bitwar-Zyklus Ein Worgun erzählt seine Geschichte, und auf der Suche nach Rettung für die vom Untergang bedrohte Erde geht Ren Dhark in eine Falle, die so teuflisch ist wie keine zuvor: Die goldene Hölle. Uwe Helmut Grave, Achim Mehnert, Conrad Shepherd und Jo Zybell schrieben einen packenden SF-Roman nach dem Expose von Hajo F. Breuer. Diese Buchausgabe präsentiert die Saga über das Leben des Sternenabenteurers Ren Dhark: eine Science Fiction-Serie, genau wie sie sein muß! Erstveröffentlichung
Vorwort Zugegeben: Das Ende des vorigen Bandes war ganz schön gemein. So etwas habe ich als Jugendlicher schon immer gehaßt – und die Serien, die ich las, gerade deswegen geliebt. Denn man konnte un‐ glaublich intensiv mitfiebern, bis das Abenteuer endlich weiterging. Und dieses Gefühl auch heute noch zu erzeugen ist erklärtes Ziel aller REN DHARK‐Autoren. Die offenen Fragen, die am Ende des vorigen Bandes aufgeworfen wurden, werden in diesem Buch nur zum Teil geklärt – wir wollen ja schließlich auch noch in Zukunft etwas zu erzählen haben. In sich abgeschlossen ist hingegen der neue REN DHARK‐Sonderband von Achim Mehnert. »Nogk in Gefahr« erzählt die Geschichte eines Agenten der Tel, der die Nogk an den Rand des Untergangs bringt – oder darüber hinaus. Einmal mehr muß der terranische Colonel und nogksche Ratsherr Huxley Schicksal spielen, wenn ein Krieg zwischen Nogk und Terranern auf der einen Seite und den Tel auf der anderen verhindert werden soll… Entgegen unserer ursprünglichen Planung (und bedingt durch technische Probleme anders, als in der beiliegenden Leseprobe an‐ gekündigt) wird der erste sechsteilige Minizyklus der Serie REN DHARK – STERNENDSCHUNGEL GALAXIS, der garantiert nicht mit einem »Cliffhanger« endet, erst Ende April abgeschlossen. Die sechs Bände schildern die einschneidenden Ereignisse, die Ren Dhark nach der Rückkehr aus der Galaxis Orn widerfahren und die nicht nur sein, sondern das Leben aller Terraner für immer verän‐ dern sollen. Der in sich abgeschlossene Sechsteiler ist ein echter Le‐ ckerbissen, den kein REN DHARK‐Fan verpassen darf! Das Jahr 2005 wird ein ganz besonderes für unseren Verlag wer‐ den. Mit TERRA 5500 legen wir eine weitere SF‐Serie vor, die exklu‐ siv für HJB konzipiert wurde – von keinem geringeren als Jo Zybell, der sich mit seinen Arbeiten für Maddrax und REN DHARK seit
vielen Jahren fest in der deutschen SF‐Szene etabliert hat. TERRA 5500 ist eine Serie, wie ein Autor sie haben will: Jo Zybell war völlig frei bei der Entwicklung seiner eigenen Konzeption und konnte die SF schreiben, die ihm gefiel. Begleiten Sie ihn in eine Welt der Zu‐ kunft, die das Altern per Gesetz verbietet und in der die Erde nichts weiter ist als eine uralte Legende. Die Bände zu je 96 Seiten sind broschiert und entsprechen in Preis und Format der Serie FORSCHUNGSRAUMER CHARR. Damit Sie sich selbst ein Urteil bilden können, liegt diesem Buch eine Lesep‐ robe von TERRA 5500 bei. Jetzt aber wird es Zeit, umzuschalten auf REN DHARK und unse‐ ren Titelhelden zu begleiten auf seinem Weg in Die goldene Hölle… Giesenkirchen, im Februar 2005 Hajo F. Breuer
Prolog Im Frühsommer des Jahres 2062 gehen drei ruhige Jahre des Aufbaus für die Erde zu Ende. Mit dem aus der Galaxis Orn mitgebrachten Wissen ist es den Menschen erstmals vergönnt, Ovoid‐Ringraumer der neusten Ent‐ wicklungslinie zu bauen. Doch keinem dieser neuen Schiffe und nicht einmal der legendären POINT OF ist es noch möglich, die Galaxis der Worgun anzufliegen. Irgend etwas verhindert jeden weiteren Kontakt… Ren Dhark ist nicht länger Commander der Planeten. Dieses Amt be‐ kleidet nun Henner Trawisheim. Eine seiner ersten Amtshandlungen war es, Ren Dhark als Belohnung für dessen unzählige Verdienste um die Ret‐ tung der Menschheit zum privaten Eigentümer der POINT OF zu ernen‐ nen. Trawisheim glaubte, den unvergleichlichen Ringraumer auch in Zu‐ kunft für die Zwecke der terranischen Regierung einsetzen zu können, denn der Unterhalt eines Schiffes dieser Größe übersteigt Ren Dharks finanzielle Möglichkeiten bei weitem. Doch der Großindustrielle Terence Wallis, der auf der im Halo der Milchstraße gelegenen Welt Eden seinen eigenen Staat gegründet hat, zog Trawisheim mit der Einrichtung der POINT OF‐Stiftung einen dicken Strich durch die Rechnung. Denn die großzügigen Finanzmittel der Stif‐ tung schenken Ren Dhark völlige Unabhängigkeit. Und so bricht er im Frühjahr 2062 zu einem Forschungsflug nach Babylon auf, um endlich das Geheimnis des goldenen Salters ohne Gesicht zu lösen, der dort nun schon mehr als tausend Jahre im Vitrinensaal unter der eben‐ falls goldenen Gigantstatue eines Menschen ohne Gesicht ausgestellt ist. Die Spur führt auf die vom Atomkrieg verseuchte Welt der Kurrgen – als die POINT OF einen Notruf erhält: Unbekannte Raumschiffe greifen die Zentralwelt der heute mit den Terranern verbündeten Grakos an. Die auf Grah stationierten Schiffe älterer Bauart sind für den unheimlichen Gegner keine echte Bedrohung. Als Ren Dhark eine Flotte hochmoderner neuer Ovoid‐Ringraumer ins Gefecht führt, kommt es zu einer erbitterten Schlacht im All: Der unbekannte Gegner ist wesentlich stärker als vermutet!
Doch schließlich flieht er mit unbekanntem Ziel, und Ren Dhark kann seine Suche nach dem Geheimnis der Goldenen fortsetzen. Die führt ihn zu einer unbekannten Welt in den Tiefen des Alls, auf der er den Worgun Dalon trifft – jenen Boten der wohlmeinenden Mutanten, der einst vor über tausend Jahren auch Margun und Sola auf ihre Einzigartigkeit hinwies. Doch Dalon will nach Orn zurückkehren und trennt sich von Dhark. Der hat mittlerweile erfahren müssen, daß die heimatliche Sonne nicht mehr genug Energie abgibt. Wenn die Entwicklung so weitergeht, wird die Erde zum Eisplaneten gefrieren! Etwa zur gleichen Zeit hat der legendäre Raumfahrer Roy Vegas, der einst als erster Mensch den Mars betrat, das Kommando über das neue Flotten‐ schulschiff ANZIO übernommen. Der erste Ausbildungsflug führt das Schiff und seine Besatzung in ein Sonnensystem, in dem die unbekannten Robotschiffe, die auch das Grah‐System angriffen, einen ihrer »Artgenos‐ sen« zusammenschießen und demontiert auf einem Wüstenplaneten zu‐ rücklassen. Als die Angreifer abgezogen sind, schickt Vegas zwei Männer los, um die Situation zu erkunden, doch nicht einmal ihr Flash scheint ihnen ausreichend Schutz zu bieten… Ren Dhark kennt inzwischen kein Halten mehr und läßt Kurs nach Terra setzen. Mit seinen besten Leuten macht er sich auf den Weg zu Henner Trawisheim, um gemeinsam nach einer Lösung zu suchen, die Sonne und somit auch die Erde zu retten. Dhark ist nicht wenig überrascht, als Dalon ebenfalls bei Trawisheim auftaucht. Und diese Überraschung wächst noch, als der Worgun behauptet, Arc Doorn zu kennen – seit mehr als zweitau‐ send Jahren…
1. Nach mehr als zweitausend Jahren sieht man sich wieder… Einer jener Augenblicke, die jeder kennt und die kaum einer an‐ gemessen beschreiben kann: Man glaubt, die Zeit bliebe stehen, man weiß nicht, ob man träumt oder wacht, man hat das Gefühl, einen Film zu sehen und weiter nichts mit ihm zu tun zu haben. Wie still war es plötzlich in Trawisheims Büro… Da stand also einer, der wie ein Cerade aussah und doch keiner war, einer, den der Regierungschef als »einen Überraschungsgast« angekündigt hatte, von dessen Rat er sich viel verspreche »für unser Problem«, einer, der Arc Doorn anstaunte und sagte: »Nach mehr als zweitausend Jahren sehe ich dich wieder…?« Ren Dhark griff nach der Hand der Frau neben ihm. Amys Finger krochen in seine Faust. Also kein Film. Er blickte nach rechts, wo jenseits der Glasfront die nächtliche Silhouette Alamo Gordos mit den vom Großstadtlicht angestrahlten Wolken schmuste. Ein paar Meilen entfernt brach ein Ring aus Positionslichtern aus dem Him‐ mel, ein Raumer. Er verschwand hinter erleuchteten Türmen und Fensterfronten, um irgendwo draußen auf Cent Field zu landen. Offensichtlich stand die Zeit also doch nicht still. Und der Mann da neben jenem Überraschungsgast, in seinem feinen Zwirn, mit seiner Siegermiene, war offensichtlich der Hausherr hier im Regierungs‐ palast, war Commander der Planeten, hatte die Position, die Dhark früher selbst bekleidet hatte. Also träumte er auch nicht. Nach mehr als zweitausend Jahren sieht man sich wieder… Ren Dhark atmete tief durch. Er faßte den sogenannten Über‐ raschungsgast mit den Ratschlägen für »unser Problem« ein zweites Mal ins Auge: Dalon – einsachtzig groß, blauhäutig, mit dichtem weißem Haarkranz auf dem kantigen Schädel – stand noch immer staunend neben Trawisheim; ganz so, als könnte er selbst nicht fas‐ sen, was er gerade gesagt hatte. Noch immer war es still im Raum,
und noch immer standen alle bis auf einen: Doorn, der rothaarige Sibirier, schien in seinem Sessel festzukleben. Endlich kam Bewegung in Dalon; zuerst in seine blaue Miene, dann in seine Beine und Arme. Er stieß einen Seufzer aus, ging auf den Mann zu, den er nach angeblich zweitausend Jahren wieder‐ zuerkennen glaubte, und streckte die Hände nach ihm aus. »Sei ge‐ grüßt, Arcdoorn! Ich freue mich!« Doorn reagierte nicht gleich. Er war genauso verblüfft wie jeder hier im Büro des Regierungschefs. Endlich stand er auf, griff aber nur nach der Rechten des Blauhäutigen, drückte sie kurz und sagte mit auffallend heiserer Stimme: »Hallo.« Dann setzte er sich wieder und verschränkte die Arme vor der Brust. Dhark registrierte die ratlosen Blicke seiner Vertrauten – Shanton, Bell, Amy und die beiden Rikers schienen nicht weniger geschockt als er selbst. Terras Geheimdienstchef Eylers musterte den Sibirier mit scharfem Blick, und Trawisheim beobachtete alles und jeden mit hochgezogenen Brauen. Nur Ted Bulton, der Marschall der irdischen Raumstreitkräfte, wirkte vollkommen unbeeindruckt. Jimmy war es schließlich, der als erster reagierte: »Huch, wie emo‐ tional, Arc!« blaffte der Robothund blechern. »Was ein vulkanmä‐ ßiges, überschäumendes ›Hallo‹! Dabei habt ihr euch doch erst vor zweitausend Jahren gesehen…!« »Gib Ruhe!« fuhr Shanton seinen Hund an, und während er selbst sein Glas ansetzte, um den Cognac in einem Zug hinunterzukippen, fanden auch die anderen ihre Sprache wieder. »Ich verstehe nicht«, sagte Dan Riker. »Was hat das zu bedeuten?« wollte Anja Riker wissen. »Kennen Sie den Mann, Mister Doorn?« fragte Monty Bell, und Dhark ging zu seinem Fremdtechnikspezialisten und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wie meint Dalon das, Arc?« »Was weiß denn ich?« Doorn schob Dharks Hand weg. »Keine Ahnung…« Er schoß einen unfreundlichen Blick auf den Worgun in
Ceradengestalt ab. Der schaute nach allen Seiten und suchte wohl nach einer Er‐ klärung für die Verwirrung, die er angerichtet hatte. »Ja, wissen Sie denn nicht…?« Er sah Doorn ins Gesicht. »Hast du denn nicht…?« Und wieder an die anderen gewandt: »Aber Sie waren doch ge‐ meinsam in der Galaxis Orn…?« Da niemand reagierte, sah Trawisheim sich genötigt, einzugreifen. »Mir scheint, hier liegt ein gewisser Klärungsbedarf vor.« »So könnte man das ausdrücken«, sagte Amy Stewart, und alle anderen nickten. Doorn schüttelte stumm den Kopf. Wie meist, wenn er unter Druck stand, wirkte seine Miene noch verschlossener und ein wenig trotzig. »Bitte, lassen Sie mich in Ruhe… ich… ich habe keinen Klärungsbe‐ darf, jedenfalls… jetzt nicht.« Er starrte das Parkett zwischen seinen und Dalons Stiefelspitzen an. »Aber… aber hast du denn niemandem gesagt, wer du in Wirk‐ lichkeit bist?« Dalon sprach wie einer, der von einer Sekunde auf die andere gemerkt hatte, daß er auf dünnem Eis balanciert. »Nicht einmal deinen engsten…?« Er wies in die Runde. »Warum sollte ich denn?!« Doorn sprang auf. »Habe ich nicht ein Recht auf meine Persönlichkeit?!« Er wurde richtig laut. »Habe ich nicht ein Recht auf meine Geheimnisse?!« Sein vorwurfsvoller Blick traf Dhark. »Warum erfahre ich nicht, daß dieser Worgun sich auf Terra aufhält?« Und dann mit zorniger Miene an Dalons Adresse: »Kommst hier einfach hereinspaziert und plauderst Dinge aus, die keinen etwas angehen!« »Das tut mir leid.« Dalon hob beschwichtigend die Hände. »Das tut mir wirklich leid, aber wie hätte ich denn ahnen sollen, daß du deine Identität…!« »Es ist gut jetzt!« fuhr ihm Doorn ins Wort. »Für uns nicht, Arc«, sagte Ren Dhark. Betroffen sah er den Rot‐ haarigen an. Da flog man jahrelang mit einem Menschen durch das halbe Universum, ging gemeinsam durch dick und dünn, meinte
diesen Menschen zu kennen und ihm vertrauen zu können – und dann das. »Ich glaube, Sie sind uns wirklich eine Erklärung schul‐ dig.« Demonstrativ blickte Arc Doorn zum Fenster hinaus. »Und ich glaube, wir haben jetzt Wichtigeres zu besprechen als ausgerechnet meine Biographie.« Arc Doorn richtete seinen Blick auf den Regie‐ rungschef und sagte: »Ja, das glaube ich wirklich.« Ratlose Blicke flogen hin und her. »Genau das wollte ich auch vorschlagen«, sagte Bulton. Trawisheim hob die Achseln. »Wie Sie meinen. Dann fangen wir also an.« Er faßte nach dem Arm des Worgun in Ceradengestalt. »Dennoch möchte ich Dalon zuvor noch wenigstens angemessen begrüßen.« Er wandte sich an den Blauhäutigen. »Ich halte es für eine glückliche Fügung des Schicksals, daß Sie ausgerechnet zu die‐ sem Zeitpunkt den Weg zu uns nach Terra gefunden haben. Wir sind nämlich in großer Not, wie Sie gleich hören werden.« Nacheinander drückten sie alle dem vorgeblichen Ceraden die Hand. Wortkarg und knapp fiel die Begrüßung aus. Die Bedrü‐ ckung, die sich nach dem Vorfall auf sie gelegt hatte, ließ sich nicht so einfach abschütteln. Die so unverhofft aufgeworfenen Fragen nach Arc Doorns wahrer Identität hingen schwer im Raum und ver‐ gifteten die Atmosphäre. Und das würden sie solange tun, bis sie beantwortet waren. Die Männer und Frauen nahmen an dem großen Konferenztisch in Trawisheims Büro Platz; jedoch nicht lange, denn Trawisheim kam sofort zum Punkt. »Nach allen Messungen, die in den letzten Wo‐ chen durchgeführt wurden, müssen wir uns mit folgenden Fakten auseinandersetzen. Erstens: Die Sonne strahlt seit zwei Jahren kon‐ tinuierlich weniger Energie ab. Zweitens: Eine Art Kettenreaktion scheint die Fusionsprozesse im Inneren unseres Zentralgestirns zu reduzieren, denn die Zeiträume, in der seine Energieabstrahlung um einen bestimmten Wert abnimmt, verkürzen sich rapide. Mit ande‐ ren Worten: Wir haben es mit einem exponentiellen Steigerungsfak‐
tor zu tun. Oder sollte ich lieber von einem exponentiellen Sterbe‐ faktor sprechen? Drittens: Falls sich an diesen beiden Befunden nichts Wesentliches ändert – und nichts spricht dafür –, wird die Sonne in neun Jahren erlöschen.« »Waas…?!« Niemanden, bis auf Bell und Eylers, die schon Be‐ scheid wußten, hielt es auf seinem Sessel. »Das kann doch gar nicht wahr sein!« rief Anja Riker, und Chris Shantons Baß dröhnte: »Nur noch neunhundert Jahre…?!« * Sie brachten ihn in eine Zelle. Die maß zwei mal zwei Meter. Ihre Wände waren drei Meter hoch und graugrün gekachelt. Auf man‐ chen standen solch geistreiche Sprüche zu lesen wie: »Fick dich selbst« oder: »Ich will hier raus«. Es gab eine Pritsche, es gab ein Waschbecken, es gab eine Toilettenschüssel. Und eine Kamera an der Decke über der Metalltür gab es auch. Die Arme im Nacken verschränkt lag Bert Stranger auf der Prit‐ sche. Er hatte es aufgegeben, nach einem Anwalt zu schreien oder das Wachpersonal zu beschimpfen. Er war einfach zu heiser nach dem vielen Gebrüll. Gern hätte er es auch aufgegeben, über den Grund seiner Ver‐ haftung nachzugrübeln. Das klappte nicht; und je konzentrierter er es versuchte, um so kläglicher scheiterte er. Was er auch anstellte – Selbstsuggestion, Entspannungsübungen, Meditation –, nach spä‐ testens einer Minute kreisten seine Gedanken wieder um eine einzi‐ ge Frage: Warum haben sie mich verhaftet? Auf so eine Frage gibt es üblicherweise eine Menge möglicher Antworten; vor allem, wenn einem beim besten Willen kein wirklich plausibler Grund einfallen wollte. Zur einzig naheliegenden Ant‐ wort gelangte Stranger immer dann, wenn er sich ein weiteres Mal im Labyrinth seiner Grübeleien verrannt hatte: ein Mißverständnis. Natürlich, was denn sonst? Nur ein lächerliches Mißverständnis,
weiter nichts. Keine Sorge, alles wird sich klären. Danach folgten ein oder zwei Minuten Entspannungsübung oder Autosuggestion, und dann ging es zurück ins Labyrinth all der möglichen Gründe für eine überraschende Verhaftung: Jemand hatte ihn möglicherweise verleumdet und mit Hilfe falscher Zeugen eine Anklage erreicht; jemand, über den er mal ein paar kritische Spalten geschrieben hatte. Oder das DNS‐Profil eines Kinderschänders glich zufällig seinem. Oder sein DNS‐Profil war mit dem eines Frauen‐ mörders verwechselt worden. Oder ein Tyrann hatte sich in den Regierungspalast geputscht. Oder Veronique, seine Geliebte, war vergewaltigt und ermordet worden, und man hielt ihn für den Mörder. Und so weiter, und so weiter. Kurz: In seinem Kopf kochte erneut die Hölle hoch. Seit die Polizei in der Transmitterstation von Alamo Gordo über ihn hergefallen war, tickte sein Zeitgefühl nicht mehr richtig. Es kam ihm vor, als läge er bereits die halbe Nacht hier auf der Pritsche. Als er jedoch irgendwann auf seine Uhr blickte, war es erst anderthalb Stunden her, daß die Zellentür sich hinter ihm geschlossen hatte. Und ein paar Minuten, nachdem er das festgestellt hatte, schloß man sie wieder auf. Bert Stranger, Chefreporter von Terra‐Press, sprang von der Prit‐ sche. Er glättete seinen Sommermantel, den er auch auf der Pritsche anbehalten hatte, denn es war empfindlich kalt in diesem Knast. Zwei Männer in Uniformen des Vollzugs traten ein. Sie stellten sich links und rechts der Zellentür auf und machten einem dritten Mann Platz, einem hochgewachsenen, schlanken Burschen von ungefähr fünfunddreißig Jahren. Er trug einen dunkelgrauen, teuren Anzug unter seinem weißen Trenchcoat. »Ich will nicht irgendeinen Anwalt«, sagte Stranger. »Ich will mit Dr. Kowalski sprechen! Mit meinem persönlichen Anwalt!« »Mein Name ist Perlman«, sagte der Fremde. »Ich bin kein Anwalt. Kommen Sie.« »Sonst noch Wünsche?« Die Zornesröte stieg dem kleinen, dickli‐
chen Stranger ins Gesicht. »Erstmal verlange ich eine Erklärung! Und dann – für wen arbeiten Sie überhaupt?« Ein kurzer Blickkontakt zwischen dem Fremden namens Perlman und den Wachmännern, und schon stürmten diese in die Zelle, packten Stranger, drückten ihn an die Wand und fesselten ihm die Hände mit Handschellen auf den Rücken. »Seid ihr bekloppt?!« Stranger schrie seine Wut heraus. »Oder seid ihr einfach nur gott‐ verdammte Scheißkerle?!« Sie zerrten ihn aus der Zelle und dann über einen langen Gang an unzähligen Zellentüren vorbei. »Was ist denn in diese Stadt gefahren? Haben Wahnsinnige die Regierung übernommen? Ich war doch nur ein paar Tage unterwegs…?!« Er schimpfte und fluchte, während sie ihn hinter dem weißen Trenchcoat namens Perlman herschleppten. Seine abstehenden Oh‐ ren waren fast so rot wie sein Haar. Als Stranger sein Gezeter für ein paar Sekunden unterbrach, um Atem zu schöpfen, wandte Perlman den Kopf und sagte: »Ich bringe Sie an einen Ort, an dem man Ihnen alles erklären wird.« »Na prächtig! Ich kriege eine Erklärung! Was bin ich doch für ein Glückspilz! Ich will Ihnen mal was sagen, Sie 007 für Hausfrauen, irgendwann bin ich wieder am Drücker, irgendwann werde ich eine Erklärung abgeben, die wird man auf allen Planeten lesen können, und darin werde ich in einem Nebensatz auch einen lächerlichen Möchtegern im weißen Trenchcoat erwähnen…« Stranger schimpfte, bis sie ihn in einer Tiefgarage in den Laderaum eines großen Gleiters schoben und die Klappe hinter ihm zuwarfen. Er hätte eigentlich noch eine Menge zu sagen gehabt, doch sein Blick fiel auf einen Mann, der ebenfalls Handschellen trug. Er hing in ei‐ nem der Sitze und sah ihn unfreundlich an. Hager war er und dun‐ kelblond. Fünf Tage alte Bartstoppeln überwucherten sein schmales, kantiges Gesicht, und hellgraue Augen mit entzündeten Rändern lauerten aus diesem wahrhaftig unfreundlichen Gesicht. »Ach du Schande«, stöhnte Stranger, denn der Anblick des Mannes beschwor eine Ahnung für den Grund seines Unglücks in ihm he‐
rauf: Es war Ian Carus, der Doktorand, den sie von der Universität Edinburgh gefeuert hatten, ein Astronom und Geophysiker. Stranger hatte ihn aufgesucht, weil der Nachwuchswissenschaftler über rät‐ selhafte Veränderungen der Sonne geforscht und seine Ergebnisse in einem Buch mit dem Titel »Die Sonne stirbt« veröffentlicht hatte; ein Buch, das man nirgends mehr finden konnte, nicht einmal in Uni‐ bibliotheken. »Ist doch erst ein paar Stunden her, daß ich Ihr Haus verlassen habe«, sagte Stranger, nur um überhaupt etwas zu sagen. Das Triebwerk des Gleiters summte, die Maschine nahm Fahrt auf und hob ab. Carus stierte Stranger an. Er trug noch immer die hellen Kordhosen und das lange, ungefärbte Baumwollhemd. »Hören Sie, ich habe selbst keine Erklärung.« Stranger ließ sich in den Sitz neben den Wissenschaftler sinken. »Es tut mir leid, aber stellen Sie mir bitte keine dummen Fragen.« »Ich brauche Ihnen keine Fragen zu stellen, Stranger, weder dumme noch kluge.« Er hob die gefesselten Hände – ihm hatte man sie freundlicherweise vor dem Körper zusammengekettet. »Und da Sie ja so ein ganz besonders schlauer Bursche sind, haben Sie auch längst begriffen, warum wir diesen Schmuck hier tragen und warum wir uns so schnell unter demselben Dach wiederfinden.« »Nun ja – ich ahne es.« Die Großstadtlichter flogen rechts und links vorbei, es war kalt. »Sie sind sauer auf mich, stimmt’s?« »Ich könnte mir in den Hintern beißen, wenn ich daran denke, daß ich Sie in mein Haus gelassen habe! Gott, warum habe ich mich von Ihnen beschwatzen lassen! Ohne Sie würde ich es mir jetzt allmäh‐ lich mit einer Tasse Tee vor meinem Wohnzimmerfenster gemütlich machen, um den Sonnenaufgang über dem Meer nicht zu verpas‐ sen.« »Tut mir leid, ehrlich.« Stranger zog die Nase hoch, schloß die Augen und ließ seinen Kopf gegen die Nackenstütze sinken. »Ich fürchte auch, daß es irgendwas mit Ihrem Buch, mit der Sonne und mit dem Wetter zu tun hat. Aber als Erklärung für diesen behördli‐ chen Überfall reicht mir das nicht. Von meiner Regierung bin ich
eigentlich rechtsstaatliche Sitten gewohnt.« »Im Hinblick auf Regierungen, Frauen und Vorgesetzte sollte man immer mit Überraschungen rechnen«, bemerkte der Brite. Bis der Gleiter landete und stoppte, schwiegen sie. Vier Männer in Zivil öffneten die Heckklappe und holten sie heraus; Männer, die Stranger nie zuvor gesehen hatte. Wie aus dem Nichts tauchte auch Perlman auf. »Wir sind da«, sagte er. »Kommen Sie.« Er schritt einer Front mit Lifttüren entgegen. Seine vier Begleiter führten Stranger und Carus hinter ihm her. Stranger sah sich um. Überall Parkbuchten, überall Gleiter – eine Tiefgarage, wie es in Alamo Gordo Tausende gab. Erst als sie im Lift nach oben rasten und er die Schilder der Regierungsabteilungen neben den Etagennummern las, wußte er, wo sie sich befanden. »Also doch«, seufzte er. »Wie meinen, Sir?« Carus haderte immer noch mit seinem Schick‐ sal. »Also doch das Regierungsgebäude, meinte ich. Andererseits – wenn es einen Putsch gegeben hätte, wüßte ich das. Schließlich ver‐ folge ich im Zweistundenrhythmus die Nachrichten.« »Das ist Ihr Job, schätze ich.« Perlman beäugte ihn mit spöttischem Blick. »Sie werden noch an mich denken, Agent Dreifachnull!« zischte Stranger. Sie fuhren ganz nach oben, und Stranger schwante Übles. Die Ge‐ heimdienstler schoben ihn und Carus aus dem Lift. »Wie Sie sicher schon ahnen, können Sie sich gleich an höchster Stelle beschweren, Mr. Schmierfink«, höhnte Perlman. Er legte seine Handfläche auf den Sensor neben dem Vorzimmer zum Commander der Planeten, Henner Trawisheim. Die Türflügel öffneten sich, sie traten ein. Aus dem Büro des Regierungschefs drangen erregte Stimmen. Stranger blieb stehen, weil er die von Ren Dhark erkannte. Und wo der Commander der POINT OF sich aufhielt, dürften auch gewisse andere Leute nicht weit sein. »Hören Sie«, sagte er zu Perlman. »Da
drin sind Leute, über die ich geschrieben habe, bei denen ich einen gewissen Ruf genieße. Diesen Leuten werde ich nicht in Handschel‐ len unter die Augen treten. Anders als Sie habe ich noch ein Image zu verlieren.« Er wandte Perlman den Rücken zu. »Also nehmen Sie mir die Dinger ab. Und Mr. Carus ebenfalls. Genau wie ich ist er ein unbescholtener Bürger mit einem ordentlichen Beruf. Machen Sie schon!« »Geht nicht, ich hab meine Anweisungen.« »Gut. Gehen wir wieder.« Dem kleinen, rundlichen Reporter schwollen sämtliche Zornesadern. Er fuhr herum, rammte dem lin‐ ken Wachmann das Knie in den Unterleib und stieß den rechten mit der Schulter zur Seite. Doch Carus’ Bewacher überholten ihn auf seinem Spurt zur Tür und schlugen beide Flügel zu. »Tut mir leid, Stranger«, sagte Perlman. »Ich hab meine An‐ weisungen, wie schon gesagt.« »Ihre Anweisungen?!« brüllte Stranger. »Und haben Sie außer Ih‐ ren Anweisungen eventuell auch etwas Hirn unter ihrer De‐ signerfrisur?!« * Schnell wichen die allgemeinen Schreckensrufe und die spontanen Äußerungen des Zweifels und des Unglaubens einem geradezu lähmenden Entsetzen. »Nicht neunhundert Jahre, meine Herrschaf‐ ten«, sagte Trawisheim, als alle sich wieder gesetzt hatten. »Auch keine neunzig, sondern neun Jahre. Aber schon in zwei Jahren ist es so kalt, daß die Erde unbewohnbar wird. Das ist die Galgenfrist, die uns zum Handeln bleibt.« Er gab das Wort an Monty Bell weiter. Der kleine, hagere Akade‐ miechef mit dem langen Blondhaar verteilte ein vierseitiges Expose, doch nur Shanton blätterte darin. Alle anderen legten es vor sich auf den Tisch und rührten es nicht an. Mit wenigen Worten begründete
der Wissenschaftler die erschütternden Thesen noch einmal. »Ich habe Ihnen die Entwicklung unserer Meßergebnisse zusammenge‐ faßt. In diesem Papier finden Sie die monatlichen Veränderungen über einen Zeitraum von anderthalb Jahren dokumentiert. Alle maßgeblichen Parameter der Sonnenaktivität wie Oberflächentem‐ peratur, Anzahl, Geschwindigkeit und Höhe von Protuberanzen, Koronadurchmesser und ‐temperaturen, Sonnenwindgeschwindig‐ keit, Anzahl und Ausdehnung von Sonnenflecken, Magnetfeldakti‐ vitäten und so weiter – all das habe ich Ihnen in verschiedenen Diagrammen und Kurven veranschaulicht.« Er blickte auf und merkte, daß nur Shanton seine Arbeit in die Hand genommen hatte. »Bitte schauen Sie sich das Papier an!« Fast flehentlich klang das. »Ein Blick auf die Diagramme, und Sie werden sehen, daß für alle Parameter alle Werte Monat für Monat abgenommen haben, ja, in jüngster Zeit geradezu abgestürzt sind! Erst wenn der letzte Ver‐ antwortungsträger begreift, daß wir es hier nicht mit Gruselge‐ schichten, sondern mit der Realität zu tun haben, erst dann haben wir die Chance, wirksam an einer Lösung zu arbeiten!« Nach dieser kurzen, aber flammenden Rede nahm zuerst Ren Dhark und dann nach und nach auch die anderen Anwesenden das Papier in die Hand. Eine Zeitlang hörte man es nur rascheln. Ir‐ gendwann kamen die ersten Fragen, und Bell beantwortete sie ge‐ duldig. »Der nächste Winter auf der Nordhalbkugel bricht in drei bis vier Monaten an«, sagte Henner Trawisheim schließlich. »Und schon er wird keinem Frühling mehr Platz machen. In einem Jahr um diese Zeit, im nächsten August, werden wir heizen müssen, und die Eis‐ zeit wird sich auch auf der Südhalbkugel bemerkbar machen.« »Eiszeit…?« kam es aus zwei oder drei Mündern zugleich. Wieder ging ein Stöhnen durch die Runde. »Ja, meine Damen und Herren – eine Eiszeit steht uns bevor; und im Augenblick spricht alles dafür, daß es die letzte sein wird, genau wie dieser Sommer vermutlich der letzte ist, den wir auf Terra zu
sehen bekommen.« »Ist diese Entwicklung denn niemandem aufgefallen, außer unse‐ ren Forschungseinrichtungen?« wollte Ren Dhark wissen. »O doch, Commander.« Mit einer Kopfbewegung bedeutete Tra‐ wisheim dem Geheimdienstchef, die Frage seines Vorgängers zu beantworten. Bernd Eylers legte seinen linken Arm etwas zu rasch auf den Tisch, so daß die auf den ersten Blick nicht erkennbare Prothese einen dumpfen Schlag auf dem Holz verursachte. Der blauhäutige Cerade runzelte die Stirn und musterte die Hand des Geheimdienstchefs neugierig. Raummarschall Bulton entlockte diese flüchtige Bege‐ benheit ein müdes Grinsen. »Im Gegenteil, Mr. Dhark.« Eylers legte seine Rechte auf die künstliche Linke, als wollte er sie vor den Bli‐ cken Dalons schützen. »Immer häufiger erreichen uns Anfragen besorgter Bürger. Sie rufen die Raumfahrtakademie oder die großen Observatorien an. Sie melden sich bei den Lehrstühlen für Astro‐ nomie oder Astrophysik an den Universitäten ihrer Stadt oder bei den Medien. In den letzten zwei Wochen gab sogar ein knappes Dutzend Anrufer hier im Regierungsgebäude.« Der schlanke, bis auf seine Prothese so unauffällig wirkende Mann machte eine Geste des Bedauerns. »Anfang des Jahres konnte die GSO die Dissertation eines Nachwuchsforschers zu diesem Thema verhindern. Auch sein Buch haben wir gerade noch rechtzeitig vom Markt verschwinden lassen können. Es trug den damals noch reißerisch anmutenden Titel ›Die Sonne stirbt‹. Wir wissen nicht, wer es alles in die Finger be‐ kommen hat. Jedenfalls kommen wir inzwischen mit der Arbeit kaum noch nach, und der Kreis der Mitwisser wird größer und grö‐ ßer.« »Verzeihen Sie, aber…« Anja Riker bedachte erst den Chefagenten und nach ihm Trawisheim mit einem kritischen Blick. »Haben die Bürger Terras denn nicht das Recht zu erfahren, in welcher Gefahr sie sich befinden?« »Sicher haben sie das, Dr. Riker«, sagte Henner Trawisheim. »Aber
vor allem haben die Bürger Terras das Recht zu leben.« Er lächelte kühl, und Dhark fand ihn ein wenig arrogant in diesem Augenblick. »Ich verstehe nicht ganz, Sir?« »Nun ja, Anja«, sagte ihr Mann. »Stell dir mal vor, die frohe Bot‐ schaft macht Schlagzeilen – ›Die Sonne stirbt‹ oder ›Die nächste Eis‐ zeit steht vor der Tür‹ oder ›Nur noch zwei Jahre Menschheit‹. Was glaubst du, was auf unserem Planeten los wäre?« »Das wäre ein schreckliches Affentheater.« Chris Shanton nagte an seinem Daumennagel herum. »Bei allen schwarzen Löchern der Milchstraße – ein Horrorszenario gäbe das…« »Eines?« Trawisheim stieß ein bitteres Lachen aus. »Bürgerkriege auf allen Kontinenten! Stadtfehden um Nahrung und Brennmaterial! Die Anarchie würde ihr blutiges Haupt erheben!« »Die Infrastruktur wäre am Ende«, sagte Arc Doorn. »Die Regio‐ nalverwaltungen auch.« »Recht und Ordnung würden zusammenbrechen.« Eylers hob die Stimme. »Die Wirtschaft würde kollabieren, und nur wenige Men‐ schen würden überleben, denn uns würden die Mittel wegbrechen, um sie zu retten. Wir könnten schlicht und ergreifend unsere Res‐ sourcen zur Rettung der Menschheit nicht annähernd ausschöpfen, wenn all diese schrecklichen Dinge einträfen.« »Kurz und gut: Das Recht auf Leben scheint mir in diesem Fall schwerer zu wiegen als das Recht auf Information«, stellte Trawis‐ heim fest. Anja Riker nickte betreten. »Sie sprechen von einer Evakuierung, wenn ich richtig verstehe.« Ren Dhark hielt es nicht länger in seinem Sessel. Niemand wider‐ sprach ihm, also fuhr er fort. »Ganz davon abgesehen, daß wir ein derart gigantisches Evakuierungsprojekt niemals anleiern könnten, ohne all die Teufel zu entfesseln, die gerade an die Wand gemalt wurden, frage ich mich, wie man dreißig Milliarden Menschen eva‐ kuieren will?« Er blieb mitten im Büro stehen und breitete halb rat‐ los, halb fordernd die Arme aus. »Wie zum Teufel kriegt man das in
einem Jahr hin? Oder in zwei oder drei?« »Nun, Commander – wir müssen einfach anfangen«, sagte Tra‐ wisheim. »Wenn wir die Transmitterverbindung nach Eden voll auslasten und zum Beispiel die größten Frachtcontainer für den Transport benutzen, würden wir täglich eine Millionen Menschen nach Eden schaffen können…« »Das wären 365 Millionen bis nächsten August um diese Zeit«, warf Dan Riker ein. »Etwas mehr als ein Prozent der Menschheit.« »Und auch das nur, wenn wir morgen anfangen«, sagte Dhark. »Doch um das tun zu können, müßten wir an die Öffentlichkeit.« Er blickte Trawisheim ins Gesicht. »Weiß man denn auf Eden über‐ haupt schon von solchen Plänen? Möglicherweise will Wallis seine Pforten ja gar nicht so weit öffnen?« »Wir haben ihn noch nicht eingeweiht«, gab Eylers zu. »Aber ihm wird gar nichts anderes übrigbleiben, als uns aufzunehmen. Wir haben Mittel und Wege, um ihn notfalls zu zwingen.« »So ist es«, bekräftigte der Regierungschef. »Aber wie Mister Ri‐ kers einfache Rechnung schon zeigt: Selbst wenn Wallis sogar zwei Jahre lang täglich eine Millionen Terraner nach Eden ließe, könnten wir auf diesem Weg nicht einmal eine Milliarde Menschen retten. Parallel zu dieser Maßnahme müssen wir die Erdbevölkerung in den großen Städten konzentrieren, diese mit Energiekuppeln vor der kommenden Kälte und dem Eis schützen und die Leute dann peu à peu in Raumschiffen auf Kolonialplaneten wie Babylon oder Hope transportieren.« Sein fragender Blick traf Ted Bulton. »Die Flotte könnte sich relativ rasch auf so eine Aufgabe ein‐ stellen«, sagte der Marschall. »In diesem Sommer und Herbst werden wir voraussichtlich die letzte Ernte einfahren«, fuhr Trawisheim fort. »Zumindest trifft dies für die Agrarregionen der Nordhalbkugel zu. Deswegen haben ich mit den zuständigen Ministern bereits geheime Landwirtschafts‐ und Ernährungsprojekte entwickelt. In diesen Tagen schon beginnen die Arbeiten an Biosphären für Gewächshäuser im Amazonasbecken
und in Zentralasien und ‐afrika. In neunundvierzig Zentren der Nahrungsmittelproduktion wird der Ausstoß verzehnfacht, um ausreichende Konservenvorräte anzulegen, in…« »Aber wie um alles in der Welt wollen Sie selbst diese punktuellen Geheimprojekte länger als drei Monate geheimhalten, Henner?« Dhark schlug einen beschwörenden Ton an. »Nur so können wir es schaffen!« rief Trawisheim. Die bohrende Art seines Vorgängers nervte ihn sichtlich. »Und so werden wir es auch schaffen, mindestens achtzig Prozent der Menschheit zu ret‐ ten!« Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Dazu aber brauche ich Ihr Vertrauen, Dhark, und die absolute Loyalität aller Anwesenden!« »Wie bitte?« Dhark glaubte nicht recht gehört zu haben. »Achtzig Prozent?« »Ich sagte ›mindestens‹. Vielleicht schaffen wir auch neunzig Pro‐ zent.« »Vielleicht aber auch viel weniger als achtzig, nicht wahr?« Tra‐ wisheim wich dem Blick des Weißblonden aus und antwortete nicht. »Wir sollen einen Plan in Angriff nehmen, bei dem von Anfang an klar ist, daß mindestens sechs Milliarden Menschen auf der Strecke bleiben?« Dhark blickte sich in der Runde um. »Das kann es doch nicht sein, oder?« Seine Augen hefteten sich an Monty Bell. »Es muß doch einen Ausweg geben…!« Der Professor hob ratlos die Achseln. Im Vorzimmer fiel donnernd eine Tür zu. Laute Männerstimmen waren zu hören, irgend jemand fluchte… * Stranger war außer sich vor Zorn. Carus dagegen schien kein Mann des Kampfes zu sein. Er wirkte reichlich zerknirscht, be‐ obachtete aber seinen Leidensgenossen mit hochgezogenen Brauen und nicht ohne eine gewisse Schadenfreude. »Sie sind ein Arschloch,
Perlman!« rief Bert Stranger. »Und falls Eylers Ihr Chef ist, werde ich dafür sorgen, daß er Sie rausschmeißt!« Der GSO‐Mann antwortete nicht. Er klopfte an die Cheftür und öffnete sie. Seine Männer zerrten Stranger in Trawisheims Büro. Eine Menge Leute saßen beziehungsweise standen da um den Konfe‐ renztisch, und wie befürchtet kannte er die meisten. Er beschloß, daß in dieser Situation nur Angriff eine gute Verteidigung sein konnte. Also stürzte er auf den Regierungschef zu und überschüttete ihn mit einer Flut von Vorwürfen. »Freiheitsberaubung, versuchte Körper‐ verletzung, Verschleppung und Nötigung, verehrter Mr. Trawis‐ heim! Und das alles regierungsamtlich sanktioniert! Glauben Sie etwa, Mr. Carus und ich kennen unsere Rechte als terranische Bürger nicht? Spätestens übermorgen weiß man auf dem entferntesten Ko‐ lonialplaneten, was von Ihrer Regierung zu erwarten ist, das ver‐ spreche ich Ihnen…!« »Tut mir leid, Mr. Stranger.« Trawisheim verschränkte die Arme vor der Brust. Falls er überrascht war, den berühmten Reporter in Handschellen zu sehen, so verstand er seine Überraschung gut zu verbergen. »Selbstverständlich kennen wir die Rechte unserer Bür‐ ger.« Mit einer knappen Kopfbewegung bedeutete er Perlmans Männern, den beiden Gefangenen die Handschellen abzunehmen. »Aber die besonderen Umstände erfordern besondere Maßnahmen.« »Dummes Gerede!« Stranger rieb sich die Handgelenke. »Was Sie unter besonderen Maßnahmen verstehen, haben Mr. Carus und ich schmerzhaft erfahren müssen. Wenn Sie nun noch die Güte hätten, uns die angeblich so ›besonderen Umstände‹ zu erläutern?« »Es ehrt Sie, daß Sie selbst als Verhafteter noch versuchen, an neue Informationen zu gelangen, Mr. Stranger«, sagte Trawisheim. »Aber ich denke, Sie wissen sehr gut, von welchen Umständen hier die Rede ist.« »Verhaftet?« Stranger sah sich um. »Sie können mich nicht verhaf‐ ten lassen, nur weil ich mich beruflich für das Wetter interessiere!« Mit einem Blick erfaßte der Reporter die Situation: Bis auf Eylers,
Bell und den Regierungschef waren alle Anwesenden verblüfft, ihn hier und in Ketten zu sehen. »Sie täuschen sich, Mr. Stranger.« Demonstrativ wandte Trawis‐ heim sich von ihm ab. »Ich kann noch ganz andere Dinge veranlas‐ sen, denn ich habe den geheimen Notstand ausrufen lassen.« »Den ›geheimen Notstand‹?« Stranger lachte spöttisch. »Hätten Sie etwas derartiges tatsächlich ausrufen lassen, wäre es nicht mehr ge‐ heim!« Er blickte sich nach Verbündeten um. »Oder sieht das irgend jemand hier anders?« Ren Dharks Blicke flogen zwischen Stranger und dem Commander der Planeten hin und her, Doorn und Shanton brüteten über Profes‐ sor Bells Papieren – wenigstens taten sie so – und die anderen beo‐ bachteten die Situation mehr oder weniger ratlos. Trawisheim fand es wohl unter seiner Würde, sich noch länger mit dem respektlosen Reporter abzugeben. Mit einem Blick forderte er seinen Geheim‐ dienstchef auf, die Angelegenheit zu regeln. Eylers räusperte sich und stand auf. »Meine Damen und Herren«, begann er, »das ist Ian Carus aus Rosemarkie.« Er wies auf den Bri‐ ten, der ein wenig verloren zwischen den Geheimdienstmitarbeitern stand. »Er hat das vorhin erwähnte Buch über das Erlöschen unserer Sonne geschrieben. Ich habe es gelesen und kann Ihnen versichern, daß Mr. Carus vollständig im Bilde ist über den Ernst unserer Lage.« Er wies auf den kleinen Reporter. »Mr. Stranger dürfte Ihnen allen begannt sein, und so wird es Sie nicht wundern zu hören, daß er sich Anfang der Woche einen halben Tag und eine ganze Nacht in Mr. Carus’ Haus in Schottland aufgehalten hat. Mit anderen Worten: Auch er weiß, daß die Sonne erlischt.« Und dann wandte er sich an die beiden Festgenommenen. »Mr. Carus, Mr. Stranger – es tut mir aufrichtig leid, daß wir mit solcher Härte gegen Sie vorgehen muß‐ ten, aber das Leben unserer Bürger steht auf dem Spiel, das Überle‐ ben der Menschheit sogar. Die Sonne erkaltet, irgend etwas bremst die solaren Kernfusionsprozesse aus, in neun Jahren erlischt unser Zentralgestirn endgültig. Und schon in drei Jahren ist die Erde so
kalt, daß die Atmosphäre gefrieren wird. Würden diese nieder‐ schmetternden Fakten auch nur gerüchteweise an die Öffentlichkeit dringen, würde unser Planet sich in eine Tollhaus verwandeln…« Er skizzierte das Chaos von Bürgerkrieg und Anarchie mit knap‐ pen Worten und wiederholte die Schlußfolgerung aus diesem Sze‐ nario: Zusammenbruch der Ressourcen, die für die Rettung der Menschheit unverzichtbar waren. Bert Stranger kühlte sichtlich ab. Vermutlich hatte er die Kon‐ sequenzen aus seinen neuesten Informationen so noch nicht zu Ende gedacht. Mit nachdenklich gerunzelter Stirn stand er da und blickte zur Fensterfront hinaus, wo der Nachthimmel über den Hochhaus‐ gipfeln schon von ersten Lichtschlieren des anbrechenden Morgens durchzogen war. »Solange die Sache nur einem kleinen Kreis bekannt ist, können wir noch ungestört und zügig an der Rettung der Menschheit arbei‐ ten«, sagte Trawisheim. »Jeder einzelne Tag, an dem das so bleibt, zählt. Deswegen müssen wir Leute wie Sie leider aus dem Verkehr ziehen, Mr. Stranger und Mr. Carus.« »Ungeheuerlich…!« entfuhr es Stranger, aber seiner heiseren Stimme fehlte plötzlich die Kraft zu weiteren lautstarken Zor‐ nesäußerungen. »Ihr wollt uns tatsächlich wegschließen…?« »Hören Sie, Henner«, griff Ren Dhark ein. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wir nehmen Mr. Stranger mit an Bord der POINT OF. Ich würde mich persönlich dafür verbürgen, daß er das Schiff so lange nicht verlassen kann, bis sich die Situation sowieso nicht mehr ver‐ heimlichen läßt. Was halten Sie davon?« Trawisheim machte eine Geste, die man als Einverständnis deuten konnte. Nur Stranger spielte nicht mit. »Vielleicht habe ich aber noch etwas anderes zu tun, als mit Ihnen durch die Milchstraße zu touren, Mr. Dhark«, sagte er. »Vielleicht habe ich noch einen Job zu erledi‐ gen, und vielleicht gibt es da noch Angehörige, die auf meine An‐ wesenheit Wert legen. Ich denke da insbesondere an eine gewisse Dame, wie Sie sich vielleicht denken können. Warum also fragen Sie
mich nicht, was ich davon halte, Commander?« »Möglicherweise, weil ich die einzige Alternative ahne«, antwor‐ tete Dhark. »Die Alternative wäre Schutzhaft in einer Einzelzelle des Ge‐ heimdienstes«, sagt Eylers trocken.
2. »Ich habe also die Wahl, mich unter die schützenden Fittiche des Geheimdienstes oder in die weltabgewandte Geborgenheit eines Raumschiffes zu begeben! Na, herzlichen Glückwunsch!« Stranger drehte sich einmal um sich selbst und hob in einer flehenden Geste beide Arme. »Hören Sie zu, Mr. Eylers!« Er blickte auf seine Uhr. »Ich habe meinem Chef mit noch keiner einzigen Zeile bewiesen, daß ich aus dem Urlaub zurück bin. Und um neunzehn Uhr bin ich mit meiner Verlobten verabredet!« »Diese Termine können Sie unglücklicherweise nicht einhalten«, sagte Eylers. »Weder in Einzelhaft noch an Bord der POINT OF. Und die Schreiberei müssen Sie sich für die nächsten Wochen aus dem Kopf schlagen. Aber ich bin gern bereit, mich mit Madame de Brun in Verbindung zu setzen und ihr die Sache zu erklären.« »Mir meinen Job aus dem Kopf schlagen?!« Stranger schnappte nach Luft. »Sind Sie wahnsinnig, Eylers?!« »Keineswegs, Stranger.« Ein Reißverschluß ging durch die Miene des Geheimdienstchefs. »Die Sonne ist möglicherweise wahnsinnig. Aber ich denke, wir haben das Thema jetzt ausreichend diskutiert.« Kalten Blickes taxierte er den Reporter. »Also – eine Einzelzelle bei uns oder eine Kabine auf der POINT OF – entscheiden Sie sich.« »Und was wird aus Mr. Carus?« Stranger ließ nicht locker. »Schutzhaft.« »Ich habe ihn in diese Situation gebracht, und ich bestehe darauf, daß er mit mir an Bord der POINT OF gehen darf.« »So langsam kommen wir uns näher, Mr. Stranger.« Trawisheim atmete auf. »Selbstverständlich steht es Mr. Carus frei, Sie an Bord der POINT OF zu begleiten, falls deren Kommandant ihn einlädt.« »Kein Problem«, sagte Dhark. Endlich meldete sich der Mann selbst zu Wort, von dem die Rede war. »Ich bin Wissenschaftler, Sir.« Er trat vor Trawisheim. »Ich
wollte nie etwas anderes sein, und ich werde auch nie etwas anderes sein. In einem Raumschiff durchs All kreuzen – ich fürchte, das ist nichts für mich. Aber wenn Sie erlauben…« Seine Blicke suchten Monty Bell und Chris Shanton, von denen er wußte, daß auch sie Männer der Wissenschaft waren. »Ich meine… ich will mich nicht rühmen, aber ich habe mich gründlich mit dem Phänomen der ab‐ kühlenden Sonne beschäftigt.« Er wandte sich an Eylers. »Wenn Sie mein Buch gelesen haben, wissen Sie, daß ich die Gefahr schon längst erkannt habe. Ich würde gern weiter an diesem Problem ar‐ beiten… vielleicht kann ich Ihnen ja helfen. Hat beispielsweise schon einmal jemand daran gedacht, neben dem Energiehaushalt auch die Massenwerte der Sonne zu überprüfen?« Professor Bell und Shanton horchten auf. »Das ist sehr aufwendig, müssen Sie wissen. Mit dem Instru‐ mentarium, das mir in Edinburgh zur Verfügung stand, konnte ich diese schwierige Aufgabe leider nicht in Angriff nehmen. Deswegen habe ich seinerzeit einen Forschungsantrag bei den zuständigen Regierungsstellen eingereicht, über meinen Doktorvater, Professor King. Nur leider erhielt ich nie einen Bescheid. Vermutlich ist das Dokument auf dem Amtsweg verlorengegangen, oder Ihre Behörde hat es kassiert…« »Unglaublich!« unterbrach Monty Bell. »Das leuchtet mir unmit‐ telbar ein, das wäre in der Tat ein wichtiges Projekt gewesen!« »Ich weiß von keinem derartigen Antrag.« In Eylers’ Miene war die Eiszeit schon ausgebrochen. Shanton schüttelte den Kopf und stieß einen Fluch aus. »Wir könnten schon Monate weiter sein?« Auffordernd sah er hinüber zum Regierungschef. »Ich kann das nicht glauben! Ich will das nicht glauben!« Trawisheim stand auf, zog sich an seinen Schreibtisch zurück und tippte mit fliegenden Fingern eine Nummer in die Tastatur seines Tischvisaphons. »Die Massenwerte also, meinen Sie?« Bell wandte sich an den jun‐
gen Engländer. »Welche Erwartungen verbinden Sie mit derartigen Messungen, Mr. Carus?« Während Carus erst zögernd und dann immer mutiger seine Vor‐ stellungen und Hypothesen erläuterte, beauftragte Henner Trawis‐ heim seinen Sprecher Roger Smooth, nach dem Verbleib des Antrags aus Edinburgh zu forschen. Er hatte nur seinen Pressesprecher, sei‐ nen Servicechef und seine Sicherheitsgarde geweckt. Staatssekretäre, Minister und Chefsekretärinnen wollte er in dieser letzten Nacht‐ stunde noch nicht aus den Betten holen. Zurück am Konferenztisch verfolgte er das Fachgespräch zwischen dem Engländer und Bell. Auch Shanton und Doorn mischten mit. Ganz allmählich dämmerte ihm, welch guten Kopf man da in Handschellen zu ihm gebracht hatte. So war Trawisheim auch ohne weiteres einverstanden, als Monty Bell vorschlug, den jungen Mann mit den frischen Ideen in sein Forschungsteam aufzunehmen. Carus selbst konnte sich sowieso kein größeres Glück vorstellen, als seine wissenschaftliche Arbeit wieder aufzunehmen; noch dazu unter den Bedingungen eines ausreichenden Etats, angemessenen Instrumen‐ tariums und allgemeiner Wertschätzung. Nach der langen Durst‐ strecke, die hinter ihm lag, war besonders letzteres ganz wichtig für ihn. »Allerdings…« Eylers zögerte. Er schien nach Worten zu suchen. »Allerdings müßten wir Sie als Geheimnisträger einstufen, wenn Sie Professor Bells Mitarbeiter werden, Mr. Carus. Und zwar in die höchste Kategorie.« »Na und?« mischte Stranger sich ein. »Das dürfte doch kein Prob‐ lem sein, oder?« »Ich wollte nur darauf hinweisen.« Eylers gab sich jetzt zu‐ geknöpft. »Erstens ist diese Einstufung nämlich mit einem Eid ver‐ bunden…« »Den können Sie noch vor Sonnenaufgang hier in meinem Büro ablegen.« Trawisheim nickte dem Briten ermutigend zu. »… und zweitens muß ein Geheimnisträger der obersten Kategorie
mit ernsten Konsequenzen rechnen, wenn er seinen Eid bricht.« »Nennen Sie mir diese Konsequenzen«, forderte Ian Carus den Geheimdienstchef auf. »Sollten Sie Informationen über die bevorstehende Katastrophe oder die geplanten Gegenmaßnahmen ausplaudern, drohen Ihnen lebenslange Einzelhaft oder Verbannung…« * Dhark, Amy Stewart und die Rikers standen an der Fensterfront. Über den Straßenschluchten und Hochhausgipfeln von Alamo Gordo lag eine von der Morgensonne in rötliches Licht getauchte Dunstglocke. Fassaden und Dächer glänzten feucht, es hatte gereg‐ net. Stetig anschwellende Ströme von Gleitern wälzten sich unter ihnen in alle Himmelsrichtungen. Die Hauptstadt Terras erwachte zu einem neuen Tag. »Nicht auszudenken, daß solche sommerlichen Sonnenaufgänge bald der Vergangenheit angehören werden.« Dan Rikers Stellvert‐ reter, Marschall Bulton, trat zu ihnen. »Oder können Sie sich das vorstellen?« Die Rikers und Amy schüttelten stumm die Köpfe. »Ich will es mir auch nicht vorstellen, Ted«, sagte Ren Dhark. »Ich will mir vorstel‐ len, daß wir es schaffen, die tödliche Entwicklung aufzuhalten. Ich will mir vorstellen, daß irgendwo die Lösung dieses Problems darauf wartet, von uns entdeckt zu werden.« »Und gelingt dir diese Vorstellung?« wollte Amy wissen. Dhark antwortete nicht. Es duftete nach frischem Kaffee und Tee. Außerdem hatte Tra‐ wisheims Servicechef ein leichtes Frühstück serviert: Donuts, Crois‐ sants und Toast mit Butter, Honig und Aprikosenkonfitüre. Die meisten pickten nur ein wenig herum. Kaffee und Tee allerdings wurden bereits zum zweiten Mal angeboten. Am Konferenztisch diskutierten Shanton, Doorn, Stranger und
Dalon über die Tabellen und Diagramme in Professor Bells Papier. Trawisheim hatte sich mit Eylers, Monty Bell und Ian Carus in einen kleinen Konferenzraum zurückgezogen. Dort vereidigten sie den jungen Briten. Zuvor hatte Smooth tatsächlich den vergessenen For‐ schungsantrag gefunden – in einer Datenbank mit langfristig zu erledigenden Subventionsanträgen terranischer Kulturressorts. Ein an Peinlichkeit kaum zu überbietender Skandal. »Sollten wir nicht unserem verehrten Kollegen Arc Doorn doch noch auf den Zahn fühlen?« raunte Marschall Bulton Riker und Dhark zu. »Ehrlich gesagt, ich bin gespannt auf seine Erklärung.« »Gespannt ist gar kein Ausdruck«, flüsterte Dan Riker. »Ich sitze aufbrennenden Kohlen.« »Ich auch«, sagte Dhark. Über die Schulter warf er einen Blick auf den Sibirier. Der schien Dalons schockierende Begrüßung verdrängt zu haben und hoffte wohl darauf, daß die anderen die Sache auf sich beruhen ließen. »Aber eines nach dem anderen«, sagte Dhark leise. »Zunächst müssen wir klären, welche Rolle wir spielen könnten im anstehenden Katastrophenmanagement.« Er drehte sich um und ging zum Konferenztisch. »Wir sollten überlegen, was wir von der POINT OF für einen Beitrag zur Rettung unseres Planeten leisten könnten«, sagte er. »Was mich betrifft: Ich empfinde eine Ohnmacht, die mich in den Wahnsinn treibt, wenn ich sie nicht in den Griff bekomme.« »Es ist schon wahr«, sagte Anja Riker. »Man hat das Gefühl, nichts tun zu können.« »Verständlich.« Der Worgun in Ceradengestalt ergriff das Wort. »Aber lassen Sie sich bitte nicht zu schnell entmutigen. Vielleicht können Sie mehr tun, als Sie ahnen.« »Haben Sie eine Idee, Dalon?« Dhark ließ sich an der Seite des Blauhäutigen nieder. »Immerhin sind Sie hier als Überraschungsgast mit eventuellen Ratschlägen für die Lösung unseres Problems an‐ gekündigt worden.« »So?« Dalons blaue Stirn legte sich in Falten. »Bin ich das?«
»Stimmt«, bestätigte Shanton. »Außerdem wissen wir, daß Ihr Volk Techniken kennt, mit denen man einen Stern manipulieren kann.« »Das ist allerdings wahr«, räumte Dalon ein. »Wir Worgun kennen Verfahren, um den Kernfusionsprozeß von Sonnen zu beeinflussen. Doch in diesem Punkt muß ich Sie leider enttäuschen – nur wenige Spezialisten der Worgun beherrschen diese Verfahren. Ich wünschte, ich könnte behaupten, zu diesen Spezialisten zu gehören – allein, ich würde lügen.« Die Enttäuschung war mit Händen zu greifen. Eine Zeitlang sprach niemand ein Wort. Dalon selbst brach schließlich das Schweigen. »Ich merke, daß ich Ihnen bereits zum zweitenmal in dieser Nacht Anlaß für unangenehme Empfindungen gebe. Das tut mir leid.« »Niemand von uns könnte Ihnen einen Vorwurf machen, Dalon«, sagte Ren Dhark. »Natürlich nicht.« Dalon lächelte freundlich. »Und wenn, hätte ich Verständnis dafür, denn nach all den für Sie überwältigenden Er‐ fahrungen mit der Worguntechnik erwarten Sie von einem Worgun mit einem gewissen Recht, daß er Ihnen Auskunft in Fragen der Kernfusionsmanipulation von Sonnen geben kann.« Seine bern‐ steinfarbenen Augen ruhten auf Doorn, bis dieser seinem Blick aus‐ wich. »Aber vielleicht muß ich diese Erwartung doch nicht so ganz enttäuschen.« Die Brauen fast aller wanderten nach oben, aufmerk‐ sam lauschten plötzlich wieder alle dem Worgun in Ceradengestalt. »Wenn ich auch selbst nicht über das von Ihnen benötigte Spezial‐ wissen verfüge, so weiß ich doch unter Umständen, wo Sie dieses Wissen finden könnten.« »Spannen Sie uns um Himmels willen nicht auf die Folter, Dalon«, sagte Shanton. »Wo?« »Auf dem Planeten Kaso. Sie nennen ihn Hope.« »Sie meinen, in den unterirdischen Werftanlagen der Mysterious?« In Dharks Miene spiegelte sich Skepsis. »Richtig, Commander Dhark. Margun und Sola errichteten die Anlagen vor über tausend Erdenjahren. In den Datenbanken ist das
gesamte Wissen der Worgun gespeichert.« »Schon möglich«, sagte Arc Doorn. »Aber die beiden Ge‐ heimnisvollen haben dafür gesorgt, daß dieses Wissen nicht in fal‐ sche Hände geraten kann. Die Hälfte der Anlage wurde durch eine von Margun und Sola geschriebenes Selbstzerstörungsprogramm vernichtet – und zwar ausgerechnet die, in der die wirklich interes‐ santen Daten gespeichert waren.« »Gestatte, daß ich da meine Zweifel hege, Arcdoorn. Ich glaube es erst, wenn ich mich selbst davon überzeugt habe.« Dalon wandte sich an Ren Dhark. »Lassen Sie uns gemeinsam nach Hope fliegen, Commander. Vertrauen Sie mir.« Dhark rieb sich nachdenklich das Kinn. Er blickte sich unter seinen Vertrauten und Freunden um – wirklich überzeugt schien ihm keiner von ihnen. Anja Riker und Shanton machten sogar einen ausgesp‐ rochen mißtrauischen Eindruck. »Ehrlich gesagt – ich habe wenig Hoffnung, Dalon. Andererseits habe ich keinen besseren Vorschlag.« Wieder blickte er in die Runde. »Was meint ihr?« Niemand hatte eine überzeugendere Idee. Dan Riker räumte sogar ein, daß die Anlagen unter dem Boden von Hope möglicherweise doch nicht mit letzter Gründlichkeit untersucht worden waren. Und Shanton brummte: »Vielleicht macht Hope seinem Namen ja doch noch Ehre.« Nur Doorn blieb bei seiner Ablehnung. »Ich beuge mich natürlich der Mehrheit«, sagte er. »Ich würde auch gegen das Urteil meines Verstandes mit euch in die Hölle fliegen, wenn es sein muß.« Diese Worte und die gewohnt mürrische Art und Weise, in der Doorn sie aussprach, sorgten für eine gewisse Entspannung der Atmosphäre. Über manche Gesichter flog sogar ein Grinsen. »Also gut«, sagte Ren Dhark. »Fliegen wir gemeinsam mit Dalon und seiner ASGOR nach Hope. Allerdings müssen wir den Plan noch von Trawisheim absegnen lassen.« Er wandte sich an den Worgun. »Ohne eine amtliche Vollmacht darf Ihr Schiff nicht auf terranischen Einrichtungen landen.«
»Ich weiß«, sagte der Blauhäutige. »Aber seien Sie unbesorgt – der Commander der Planeten wird uns grünes Licht geben. Terra ist in einer Situation, in der seine Verantwortlichen nach jedem Strohhalm greifen müssen.« * Die Morgensonne hatte bereits die letzten Grauschleier der Nacht aus dem Himmel über Alamo Gordo vertrieben, als Henner Tra‐ wisheim wieder sein Büro betrat. Monty Bell und Ian Carus folgten ihm. Der junge Brite strahlte, als hätte seine Traumfrau ihn gerade in ihr Bett eingeladen. Ein paar Minuten später holten Perlman und seine GSO‐Leute Carus und Stranger ab. Bert Stranger sollte sofort auf die POINT OF gebracht werden. Weder Terra‐Press noch Veronique de Brun durfte er zuvor anrufen. Von Eylers ließ er sich das Versprechen erneuern, seine Verlobte und seine Agentur persönlich zu informieren. Ian Carus brachten die Geheimdienstler in einen ausgedehnten Gebäudekomplex zwischen dem Stadtrand von Alamo Gordo und dem Raumhafen Cent Field – in die Raumfahrtakademie. Professor Monty Bells Forschungsinstitut war in einem Hochsicherheitstrakt untergebracht, der das gesamte Kellergeschoß des Hauptgebäudes ausfüllte. Dort lag auch der zukünftige Arbeitsplatz des Briten. Als beide sich verabschiedet hatten, trug Ren Dhark dem Re‐ gierungschef den Plan für die Expedition nach Hope vor. Tra‐ wisheim diskutierte nicht lange. »Wo immer wir ein Fünkchen Hoffnung aufglühen sehen, müssen wir zugreifen«, sagte er. Er persönlich gab den Befehl, die ASGOR mit Tofirit vollzutanken, und händigte dem Blauhäutigen eine persönlich unterzeichnete Voll‐ macht aus, die es ihm gestattete, mit seinem Ringraumer auf terra‐ nischem Hoheitsgebiet zu landen. »Sie sehen, ich versuche jede zeitraubende Bürokratie zu vermei‐ den.« Trawisheim erhob sich, er schien bereits auf Abschied einges‐
tellt zu sein. »Uns bleibt keine Zeit für Formalitäten, meine Freunde. Ich danke Ihnen für Ihre Loyalität und bitte Sie, bis über die Grenzen Ihrer Kraft zu gehen, wenn es nun in den nächsten Monaten darauf ankommt, der größten Bedrohung die Stirn zu bieten, der die Menschheit sich jemals gegenübersah.« Er streckte Dhark seine Rechte entgegen. »Viel Glück, Commander.« Ren Dhark tat, als sähe er die zum Abschied ausgestreckte Hand nicht. »Danke, Henner.« Er richtete seinen Blick auf Arc Doorn. »Aber Sie müssen schon verzeihen – wir können nicht starten, ohne die eine noch offene Frage zu klären.« Alle sahen sie jetzt den stämmigen Rothaarigen an, den sie bis zu dieser Nacht für einen wortkargen Mann gehalten hatten, der vie‐ runddreißig Jahre zuvor in Sibirien geboren worden war; der dort elternlos aufwuchs, der über ein erstaunliches Einfühlungsvermögen für Fremdvölkertechnik verfügte, und der mit einer Kranken‐ schwester namens Doris, geborene Eyck, verheiratet war. »Was glotzt ihr mich so an?« knurrte Doorn. »Frag nicht so blöd«, blaffte Shanton. »Wir wollen wissen, warum ein Worgun wie Dalon darüber staunen kann, dich nach zweitau‐ send Jahren wiederzusehen, wo wir doch erst vor zwei Monaten deinen Vierunddreißigsten gefeiert haben.« Doorn starrte seine Fingernägel an und schwieg. »Was ist los mit Ihnen, Arc?« sagte Ren Dhark. »Wer sind Sie wirklich?« Doorns Kaumuskeln pulsierten. Er schwieg. »Ist er einer von Ihrem Volk, Dalon?« Dhark suchte Dalons Blick. »Ist er ein Worgun?« »Fragen Sie ihn selbst, Commander Dhark.« Ren Dhark lehnte sich zurück, fixierte den Rothaarigen und begann mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte herumzutrommeln. »Schluß mit den Spielchen, Arc! Wir sind hier nicht auf dem Schul‐ hof. Packen Sie aus.« Geräuschvoll sog der Sibirier die Luft durch die Nase ein. »Wie
unbeherrscht und phantasielos muß man eigentlich sein, um sich dermaßen zu verplappern?!« fuhr er Dalon an. »Seit so vielen Jahr‐ hunderten wußtest du, daß ich mich hier auf Terra niedergelassen und eingerichtet habe! Und dann stolperst du hier herein und machst mit einem Satz mein Geheimnis zunichte!« »Unbeherrscht?« Dalons Gesichtsfarbe wurde dunkelblau. »Du weißt, daß ich gerade das nicht bin…!« »Noch was…?« »Ich konnte doch nicht davon ausgehen, daß du Würdenträgern wie Ren Dhark und dem Planetenoberhaupt von Terra deine wahre Identität verheimlichst…!« »Genau das nenne ich phantasielos!« »… ich bitte dich, Arcdoorn!« Als suchte er Verbündete, schaute Dalon in die Runde. »Damals, als ich dich auf diesem schönen Pla‐ neten wiederfand, ja, damals habe ich verstanden, daß du deine menschlichen Gefährten nicht mit der Wahrheit belasten wolltest! Was wußten diese Fischer, Jäger und Krieger schon von den Sternen, geschweige denn von Galaxien oder gar von der Raumfahrt!« Alle am Konferenztisch lauschten aufmerksam und mit angespannten Mienen. »Aber inzwischen sind so viele Epochen gekommen und gegangen, inzwischen hat die Menschheit eine atemberaubende Entwicklung erlebt!« Er gestikulierte, als suchte er nach den pas‐ senden Worten. »Entschuldige, Arcdoorn, bitte!« Dalon beugte sich über den Tisch. Flehend musterte er den Rot‐ haarigen, und wie beschwörend hob er beide Hände. »Ich weiß ja, daß die wunderbaren Terraner hier in diesem Raum Kontakt mit uns Worgun haben – also lag es doch nahe, davon auszugehen, daß du sie eingeweiht hast!« Doorn hob den Blick. Finster musterte er den Blauhäutigen. Wenigstens gönnt er ihm endlich einen Blick, dachte Ren Dhark. Schweigend betrachteten sich beide – der Worgun in Ceradengestalt und der rothaarige Sibirier. Wie ein Fremder kam er den Männern und Frauen der POINT OF plötzlich vor. Sekundenlang sprach nie‐
mand ein Wort. Die Spannung in Trawisheims Büro wuchs und wuchs. Irgendwann hörte man, wie Jimmy sich unter dem Tisch neben Shanton aufrichtete. »Wir haben noch etwa zwei Jahre Zeit«, tönte die elektronische Stimme des Robotterriers. »Aber die müssen wir ja nicht unbedingt in diesem schicken Büro verbringen.« Die Spannung löste sich ein wenig, einige rutschten in ihren Ses‐ seln herum, andere grinsten. Dhark fixierte den Sibirier mit unwilli‐ ger Miene. Seine Geduld war am Ende. »Erzähl du«, blaffte Doorn in Dalons Richtung. »Hast den Mist hier angezettelt, kannst ihn auch zu Ende bringen.« Niemand fand das besonders nett, am allerwenigsten Dalon, doch aller Augen hingen plötzlich an ihm. Er richtete sich auf, blickte von einem zum anderen und sagte endlich: »Also gut. Was bleibt mir übrig? Dann erzähle ich eben Arcdoorns Geschichte. Es ist ja zu‐ gleich auch meine Geschichte. Und es ist vor allem die Geschichte der Worgunmutanten.« Wer noch nicht am Konferenztisch saß, nahm jetzt Platz, und wer schon in seinem Sessel saß, lehnte sich zurück. Alle hingen an den Lippen des Blauhäutigen. Der räusperte sich und fing an: »Wir be‐ gegneten uns auf Dockyard, hier in Ihrer Galaxis. Das ist jetzt ziem‐ lich genau zweitausendvierhundertzehn Jahre her. Die Worgun bauten damals eine Ringraumerwerft auf Dockyard auf, und Arc‐ doorn arbeitete…« »Erzähl die ganze Geschichte«, unterbrach Doorn. »Sie sollen alles über uns wissen. Fang bei dir an.« Dalon zögerte zunächst. »Also gut«, sagte er schließlich. »Vielleicht hast du recht, Arcdoorn. So gesehen beginnt unsere Geschichte schon vor mehr als dreitausendachthundert Erdenjahren. Damals war ich gerade zweihundertdrei eurer Jahre alt. Ich arbeitete als Arzt in einer Klinik für Fremdvölkermedizin in der Hauptstadt von Epoy. Einen großen Teil meiner Freizeit verbrachte ich in der kleinen Werft eines Freundes, wo wir Schweber und kleine Privatraumschiffe re‐ parierten und auf den neusten Stand der Technik brachten. Ich war
um ein Viertel kleiner und leichter als ein durchschnittlicher Wor‐ gun, aber das störte mich nicht… dachte ich damals. Eine schwere persönliche Krise lag hinter mir. Ich hatte nur eine einzelne Fruchtkapsel ausgebildet. Und noch bevor ich einen Partner finden konnte, starb sie ab. Keine Fruchtkapseln, keine Privatzeit – ich denke, Sie ahnen, was das für einen Worgun bedeutet. In dieser traurigen Phase meines Lebens hatte ich mich ent‐ schieden, die Gestalt eines Ceraden anzunehmen. Wir Worgun hat‐ ten dieses Volk erst wenige Jahre zuvor entdeckt. Damals dachte noch kein Cerade daran, jemals seinen Planeten zu verlassen und ins Weltall zu fliegen. Das Volk der Blauhäutigen galt allgemein als barbarisch und unterentwickelt. Manche Worgun hielten die Cera‐ den gar für Hohlköpfe, in die man besser nicht investierte. Die Trauer und das übergroße Bedürfnis, mich zu verkriechen, verführ‐ ten mich wohl dazu, mir für meine letzte und unwiderrufliche Ver‐ wandlung ausgerechnet die Ceradengestalt zu wählen. Damals be‐ gann ich zu begreifen, daß ich mich von den meisten anderen Wor‐ gun unterschied. Denn ich war nicht mehr in der Lage, eine andere oder auch nur meine ursprüngliche Gestalt anzunehmen…« * Die letzte Konsequenz meiner Gestaltwandlung wurde mir erst während des Prozesses klar. Ich mußte ihn führen, sonst hätte ich meine Zivilrechte verloren, denn sie hielten mich tatsächlich für ei‐ nen echten Ceraden! Der Richter nahm mich nicht ernst, seine Vertreter und die beisit‐ zenden Ältesten verachteten mich. Der Advokat meiner Geschwister haßte mich sogar. Nur der Richter und einer der Ältesten nahm in der Originalgestalt eines Worgun an dem Prozeß teil. Die anderen traten als Salter, Penst oder Ahrener auf; der Advokat meiner Ge‐ schwister sogar in der Gestalt eines Insektoiden aus der Galaxis Triangulum. Ich aber erkannte sie alle als das, was sie waren: als
Worgun. Gleichgültig, welche Gestalt sie gewählt hatten – ein un‐ trüglicher Sinn in mir wußte einfach, daß es meine Artgenossen waren. Sie jedoch, sie erkannten nicht mehr, daß ich einer von Ihnen war. Nach und nach begriff ich, daß ich die charakteristische und nur für einen Artgenossen spürbare Ausstrahlung – Sie würden wahr‐ scheinlich von Aura oder Fluidum sprechen – eines Worgun nicht mehr besaß. Ohne aufwendige medizinische Untersuchungen war ich einfach nicht mehr als Worgun erkennbar! Davon jedenfalls war ich zu diesem Zeitpunkt überzeugt. »Hiermit eröffne ich das Verfahren des Ceraden Dalon gegen den Worgun Ombras«, begann der Richter. »Der Cerade Dalon behauptet nicht nur, ein Worgun zu sein, sondern bezeichnet darüber hinaus Ombras als seinen Muttervater und beansprucht folglich von ihm die Beachtung seiner Rechte als sein Sprößling. Hören wir zunächst den Beklagten.« Ombras – er hatte für diesen Auftritt die Gestalt eines Penst ge‐ wählt – stand auf. »Ich gebe zu, daß mein Hirn seinerzeit eine dritte Fruchtkapsel hervorbrachte«, sagte er, und eine merkwürdige Un‐ ruhe ergriff alle am Prozeß Beteiligten. »Anders als vielfach üblich und beschrieben, starb diese jedoch nicht ab, sondern entwickelte sich zu einem dieser seltenen kleinen und kränklichen Kinder.« Ich konnte mir zunächst nicht erklären, warum Richter und Bei‐ sitzer plötzlich zu tuscheln begannen. Ombras fuhr fort. »Wahr ist weiter: Ich nannte den Sprößling aus dieser dritten Fruchtkapsel Dalon. Doch mein Dalon verließ uns nach seiner Privatzeit. Seitdem haben seine beiden Geschwister und ich ihn nur drei‐ oder viermal gesehen. Beim letztenmal noch, vor fünf Jahren, kam er in der Gestalt eines Worgun, und ich konnte ihn sehen, und ich konnte ihn spüren – so deutlich, wie nur ein Mutter‐ vater seinen Sprößling spüren kann.« Er streckte seinen Arm aus und wies auf mich. »Bei diesem lächerlichen Ceraden dort spüre ich überhaupt nichts. Er stammt nicht von mir ab, hohes Gericht, das
schwöre ich! Ich glaube sogar, daß er ein Betrüger ist und in Wahr‐ heit keineswegs Dalon heißt!« Nie vergesse ich diese Worte, und nie die Trauer und die Verlo‐ renheit, die ich empfand, während sich sie hören mußte. Der Richter befragte meine beiden Geschwister. Sie bestätigten die Aussagen meines Muttervaters. Danach wandte der Richter sich an mich. »Der Cerade Dalon wird hiermit aufgefordert zu beweisen, was er da behauptet. Andernfalls sehe ich keinen weiteren Grund, den Prozeß fortzusetzen.« »Aber… aber erkennt ihr mich denn nicht als Worgun?« Ich war verzweifelt. »Hätte ich sonst einen Beweis verlangt? Nimm deine Urgestalt an, Dalon. Wir warten jetzt ein paar Minuten, wenn dann ein Worgun dort steht, wo du jetzt stehst, wird das Gericht glauben, daß du in Wahrheit ein Worgun bist.« »Aber ich kann es doch nicht…!« Bei allen Göttern Orns, wie oft hatte ich das schon probiert! »Ich schaffe es einfach nicht mehr…!« »Nun, das kommt uns allen sehr entgegen«, sagte der Richter un‐ gerührt. »Dann kann ich das Verfahren für beendet erklären. Hiermit weise ich also deine Klage gegen Ombras ab…« Ich gab nicht auf: Ich flehte, ich wütete, ich argumentierte. Schließ‐ lich gab das Gericht meinem Antrag statt, mein Erbgut mit dem meines Muttervaters Ombras zu vergleichen. Dieser DNS‐Test end‐ lich bewies, daß er wirklich mein Muttervater und das Worgunpaar aus seinen beiden anderen Fruchtkapseln meine Geschwister waren. Allerdings stand mit meiner Identität auch meine Andersartigkeit fest: Das Gericht – und mit ihm endlich auch ich – erkannte, daß ich ein Mutant war. Richter und Älteste zeigten sich schockiert, denn wie Sie mittlerweile wissen, achteten die Worgunregierungen schon damals streng darauf, die Existenz von uns Mutanten geheimzuhal‐ ten. Hatten sie mich zuvor verachtet, so verabscheuten sie mich jetzt. Der Richter grub ein Geheimgesetz aus, das die Bedingungen für ein Verfahren mit Mutanten regelte, und diesem Gesetz gemäß
wurde der Prozeß als Geheimverfahren an einem geheimen Ort und mit Vereidigung sämtlicher Beteiligter fortgeführt. Jeder mußte schwören, den Prozeß, seinen Gegenstand und meine Identität ge‐ heimzuhalten. Auch mein Muttervater und meine beiden Ge‐ schwister. Dabei dauerte der restliche Prozeß nicht einmal mehr drei Tage. An seinem Ende stand die vollständige und offizielle Aner‐ kennung meiner Identität und meiner Zivilrechte. Meine Ge‐ schwister empfanden nichts als Enttäuschung und Wut darüber. Sie verachteten mich von ganzem Herzen und waren empört über die Aussicht, ihr Erbe eines Tages mit einem unterentwickelten Ceraden – ja, noch schlimmer! – mit einem Mutanten teilen zu müssen. * Damals lebten Angehörige der unterschiedlichsten Fremdvölker auf Epoy. Als Cerade fiel ich nicht besonders auf unter all den Hu‐ manoiden, Insektoiden und Reptiloiden. Außerdem pflegten viele meiner Artgenossen sich in Gestalt eines Fremden durch die Städte zu bewegen. Zyzzkt allerdings waren damals noch nicht in unserem Sonnensystem aufgetaucht, natürlich nicht. Noch über eintausendfünfhundert Jahre sollten vergehen, bis die Wimmelwilden die Bühne der galaktischen Geschichte Orns betreten würden. Ich schöpfte also keinen Verdacht, als mich eines Tages ein Salter ansprach. In einem öffentlichen Badehaus benutzten wir zufällig dasselbe Bassin. Er sei neu auf Epoy, kenne weder die Hauptstadt noch die Sitten und Gebräuche auf dem Heimatplaneten der Wor‐ gun, und ob ich ihm gegen Bezahlung nicht die Stadt zeigen und ein wenig auf die Sprünge helfen wolle. Der junge Humanoide – er hieß Aimis – war mir sympathisch, seine unverkrampfte Art, um Hilfe zu bitten, gefiel mir. Ich ging auf seine Bitte ein. Fast einen ganzen Epoytag lang führte ich ihn zu den Sehens‐
würdigkeiten und in die interessantesten Viertel der Hauptstadt, unterrichtete ihn über die Gesten und Sitten der Worgun und er‐ klärte ihm gewisse Feinheiten der Sprache und der Rituale. Am Abend lud er mich in seine Privaträume zum Essen ein. Ich folgte ihm gern, denn wir verstanden uns gut. Bis dahin hatte ich mich noch nicht als Worgun zu erkennen gegeben. Als wir nach der Mahlzeit zusammensaßen und jeder über seine Aufgabe – Aimis arbeitete an der Wissenschaftsakademie – und sei‐ ne Zukunftspläne sprach, fragte ich ihn, was ihn nach Epoy führe. Er sah mich lange an, ohne zu antworten. Ein ungutes Gefühl beschlich mich, und plötzlich sagte Aimis: »Ich bin einer wie du.« »Was redest du da?« Ich brauste auf. »Du bist ein Salter und ich ein Cerade!« »Ich meine es anders. Wie du bin auch ich ein Worgun, das meinte ich. Verzeih, wenn ich mich dir nicht gleich offenbarte. Ich wollte zuerst deine Vertrauenswürdigkeit prüfen.« »Wie kommst du darauf, daß ich ein Erhabener bin?« Ich tat, als belustigte mich der Gedanke. Warum konnte er mich erkennen? Bluffte er? Mir war plötzlich nicht mehr wohl in meiner Ceraden‐ haut. »Ich wüßte es, wenn du ein Worgun wärst. Ich kann die Aus‐ strahlung eines Worgun spüren.« »So? Und du bist dir da ganz sicher, Dalon?« Er fixierte mich mit seinen seltsam dunklen Augen. Sie machten mir Angst, diese Augen. Ich hielt ihren Blick nicht länger aus, erhob mich von meinem Kissen, ging zum Fenster und blickte auf die nächtliche Stadt hinunter. »Du täuschst dich«, sagte Aimis hinter mir. »Glaub mir, Dalon: Du täuschst dich. Und während du deinen Irrtum aussprichst, gibst du ganz nebenbei auch noch zu, daß du ein Worgun bist. Denn wie sollte ein Cerade einen Worgun erspüren?« Er hatte recht, und das machte mich wütend. »Vielleicht vermagst du ja meine Aura aus dem gleichen Grund nicht zu spüren, aus dem ich deine nicht spüren kann?« sagte er. »Woher willst du dann wissen, daß ich zum Volk der Worgun ge‐
höre?« Ich überlegte, wie ich mich am schnellsten zurückziehen konnte, ohne allzu unhöflich zu werden. »Herzlichen Glückwunsch zu deinem Sieg im Geheimprozeß, Da‐ lon!« Ich fuhr herum. »Dein Muttervater und deine Geschwister waren ziemlich angesäuert, wie ich hörte.« Wie konnte er davon wissen? Er wurde mir immer unheimlicher. »Wenn du ein Worgun bist, beweise es mir«, forderte ich. »Ver‐ wandle dich hier und jetzt und unter meinen Augen! Nimm die Originalgestalt eines Worgun an.« »Das gleiche hat der Richter auch von dir gefordert, nicht wahr, Dalon?« Er lächelte. »Und ich antworte mit deinen Worten: Ich kann es nicht.« »Ich dachte es mir.« Wieder sah ich in die Epoynacht hinaus. In den Wohnpyramiden der Nachbarschaft waren nur noch wenige Fenster erleuchtet. Grenzenlose Verwirrung ergriff mich. Gleichzeitig klammerte ich mich an die Illusion, daß der Salter ein Lügner war, und fühlte mich irgendwie erleichtert. Aber nur für wenige Au‐ genblicke – hatte Aimis doch erst angefangen, den Schleier von sei‐ nem Geheimnis zu ziehen. »Willst du nicht wissen, warum ich es nicht kann?« fragte er. »Du redest, wie Verwirrte reden! Du kannst es nicht, weil du kein Worgun bist!« »Falsch, Dalon, ganz und gar falsch!« Ich hörte, wie er sich hinter mir erhob und langsam auf mich zukam. »Du kannst deine Cera‐ denmaskerade nicht mehr rückgängig machen, und ich kann meine Saltermaskerade nicht mehr rückgängig machen. Das ist bei uns Mutanten nun einmal so.« Ich zog die Schultern hoch. Mir war, als würde die Wohnpyramide schwanken. »Woher weißt du von dem Prozeß…?« »Wir sind viele, Dalon, mehr als du dir träumen läßt.« Dann stand er hinter mir still, ich konnte seinen Atem in meinem Nacken spüren. Etwas in mir wußte in dieser Sekunde, daß mein Leben nie mehr so sein würde, wie es vor der Begegnung mit ihm gewesen war. »Wir
Mutanten müssen die einmal angenommene Gestalt für den Rest unseres Daseins behalten«, sagte er leise. »Daran können wir nichts ändern.« Er faßte meine Rechte und hielt sie fest. »Dafür aber ist der Rest unseres Dasein von traumhafter Dauer.« Seine Berührung brannte auf meinem Handrücken, heiß fuhr es durch meinen rechten Arm, und wohlige Wärme erfüllte meinen Kopf und meine Brust. Und dann erkannte ich ihn. Ja, er war wirk‐ lich ein Worgun! Tatsächlich! Der Schrecken darüber verschlug mir die Sprache. »Ich zum Beispiel, Dalon, ich sehe das Licht der Sonnen Orns seit über viertausendneunhundert Jahren; und noch weitere fünftausend Jahre oder mehr werde ich es genießen, am Leben zu sein und dieses erstaunliche Universum zu erkunden und diesen erstaunlichen Zu‐ stand namens Leben zu ergründen.« Ich wandte den Kopf – seine Saltermiene strahlte, seine Augen funkelten heiter, und so gewiß ich wußte, daß ich Dalon war und mein Muttervater Ombras hieß, so gewiß wußte ich, daß Aimis ein Worgun war. Und dann sagte er einen Satz, der mir den Atem raubte: »Und du, glückseliger Dalon, du hast noch fast zehntausend Jahre vor dir…«
3. Wir redeten die ganze Nacht. Ich erzählte von meiner verlorenen Fruchtkapsel, von meinem Prozeß, von meiner Verwirrung. Aimis schilderte, wie sein Muttervater ihn als Keimling mit Hilfe eines Arztes vor dem Absterben gerettet hat. Der Arzt sei ebenfalls ein Mutant gewesen. Noch im ersten Jahr seiner Kindheit hätten andere Mutanten ihn aus der Wohnpyramide entführt, in der sein Mutter‐ vater und seine beiden Geschwister lebten. Niemand hätte je nach ihm gesucht, und er sei in der Obhut eines Mutanten aufgewachsen. »Wie machst du das?« wollte ich von ihm wissen. »Was?« »Dich als Worgun zu verbergen, wenn es dir gefällt, und dich als Worgun zu offenbaren, wenn du es willst?« »Das kannst du auch, Dalon. Die Abstrahlung deines Hirnmusters unterliegt deinem Willen. Eine Fähigkeit, über die ausschließlich wir Mutanten verfügen. Du mußt dich nur konzentrieren, Dalon. Mit ein wenig Übung beherrscht du das schnell.« Er nahm meine Hände. »Schließe die Augen und versuche es.« Nach einer Stunde Training spürte ich zum erstenmal in meinem Leben, wie ich meine Aura aktivieren oder verbergen konnte, ganz wie ich es wünschte. Sie fühlte sich an wie ein formloser Muskel in meinem Gehirn. »Das ist noch lange nicht alles, was uns Mutanten von den norma‐ len Worgun unterscheidet«, sagte Aimis. »Hast du sie dir nie ge‐ nauer angeschaut, diese fetten, trägen Quallen? Sind es nicht faule, risikoscheue Figuren? Sag selbst! Was hat ihnen denn letztlich zu ihrer hochgelobten Wissenschaft, zu ihrer ach so raffinierten Technik verholfen? Ihre Geschicklichkeit? Ihre überragende Intelligenz? Ihre Neugier? Nein, Dalon. Ihr Phlegma in erster Linie, ihre jämmerliche Angst und ihr beschämendes Sicherheitsbedürfnis! Wer zu träge zum Kriechen und Laufen ist, entwickelt Räder, Wagen und Schweber. Wer Angst vor dem Leben hat, verkriecht sich in Höhlen,
Wohnpyramiden und hinter Schutzschirmen; entwickelt Waffen aller Art, um Stärke zu suggerieren, um Macht auszuüben und sich so zu schützen…« Er redete und redete, und wahrhaftig: Er fand keine wohlwol‐ lenden Worte über das Volk, zu dem er doch auch selbst gehörte. Spott und Hohn – mehr hatte er nicht übrig für die normalen Wor‐ gun. Auch benutzte er einen verächtlichen Worgunbegriff für sie, den man in Ihrer Sprache vielleicht mit »Normschleimsack« wie‐ dergeben könnte. »Faulheit und Angst, Dalon, das sind die Haupttriebfedern ihrer Kultur, glaube mir. Da lobe ich mir einen ehrlichen und tapferen Barbaren vom Planeten Warla, dessen Gestalt du gewählt hast. Du hast das nicht zufällig getan, glaube mir!« »Aber schau, Aimis – selbst wenn wir Mutanten sind, stammen wir doch von den Worgun ab!« Sein Bewußtsein, zu einer besseren Art zu gehören, konnte ich von Anfang an nicht nachempfinden. »Un‐ sere Mutterväter sind Worgun! Selbst wenn wir kleiner, leichter und in jeder Hinsicht beweglicher und geschickter sein mögen, so sind und bleiben wir doch Worgun!« »Du bist noch unerfahren, Dalon.« Er lächelte mitleidig. »Zu frisch ist deine Einsicht, etwas Besonderes zu sein. Was glaubst du denn, warum die Regierung der Normschleimsäcke unsere Existenz ge‐ heimhalten will? Was glaubst du, warum die seltenen dritten Fruchtkapseln, aus denen wir keimen, so häufig absterben? Oder falls sie nicht absterben, einfach verschwinden? Weil sie uns fürch‐ ten. Weil sie wissen, daß sie uns nicht das Wasser reichen können.« »Das klingt so elitär, Aimis! Tatsache bleibt doch, daß es uns ohne sie nicht geben würde!« »Elitär?« Wieder dieses überlegene, etwas spöttische Lächeln. »Richtig, Dalon. Langsam begreifst du: Ich und du, wir gehören ei‐ ner Elite an. Wenn wir die Normschleimsäcke gewähren lassen, werden sie uns immer als das behandeln, was in Wahrheit doch sie selbst sind: Worgun zweiter Klasse. Wenn wir nicht die Macht über
sie gewinnen, werden sie ihre Macht und ihre Existenz verspielen. Und damit auch unsere. Das dürfen wir nicht zulassen!« »Was für ein Größenwahn! Sollten wir nicht vielmehr mit ihnen zusammenarbeiten? Sollten wir nicht vielmehr unsere Fähigkeiten zum Aufbau einer gemeinsamen Herrschaft zur Verfügung stellen? Und davon einmal ganz abgesehen: Wie willst du aus dem Unterg‐ rund heraus mit einer Handvoll Mutanten das Worgunreich über‐ nehmen?« »Habe ich dir nicht gesagt, daß wir viele sind?« Er betrachtete mich mit einer Mischung aus Nachsicht und Mitleid. »Sehr viele sogar, mein junger Freund. Die geheime Organisation der Worgunmutan‐ ten ist schon alt, und sie umspannt wie ein Netz den gesamten ga‐ laktischen und intergalaktischen Einflußbereich Epoys. Kein Planet, auf dem wir nicht wenigstens eine Zelle haben. Auf vielen verfügen wir sogar über eine globale Infrastruktur. Es gibt Planeten, deren galaktische Koordinaten wir geheimhalten konnten und die uns als kosmische Operationsbasen dienen…« Er redete und redete, schwärmte vom geheimen Netz der Mutan‐ ten, von ihrer Organisation, von ihrer Schlagkraft und ihren Zielen. Mir schwindelte, als ich hörte, was das geheime Mutantennetzwerk anstrebte: nichts Geringeres als dem Mysterium der goldenen Bal‐ duren auf den Grund zu gehen, nichts weniger, als auf diesem Weg die Macht über die normalen Worgun und über die von ihnen be‐ herrschten Galaxien zu erlangen. Ich konnte nichts mehr entgegnen, so entsetzt und zugleich faszi‐ niert war ich von dem Entwurf jenes neuen Worgunimperiums, das er mir nun genüßlich in den schillerndsten Farben ausmalte. Das blaue Licht der Sonne Foru lag schon auf den benachbarten Wohnpyramiden und kroch allmählich zu Aimis’ Fenster herein, als er zu dem Punkt kam, an den er gelangen wollte, seit er zu mir ins Bassin gestiegen war: »Wir brauchen jeden Kopf, Dalon, wir brau‐ chen auch dich. Du gehörst zu uns, wir beobachten dich seit Jahren. Nun bestätige deine Zugehörigkeit durch einen letzten Willensakt.
Schließe dich dem geheimen Netzwerk der Mutanten an.« Ich schwieg lange. Nicht, weil ich mir unsicher war, sondern weil ich nach Worten suchte, die Aimis nicht allzusehr verletzten würden. Ich hatte die Gefährlichkeit dieser Geheimorganisation sofort er‐ kannt, ihre Ideen und Ziele erschienen mir absurd; nichts wollte ich mit ihr zu tun haben, gar nichts. »Ich danke dir für dein Vertrauen, Aimis«, sagte ich schließlich. »Ich weiß das sehr zu schätzen, und verlasse dich darauf: Niemals werde ich einem denkenden Wesen auch nur ein Wort von dem berichten, was du mir anvertraut hast. Nur – ich… ich bin keiner für eine Geheimorganisation. Wie soll ich sagen… Mitglied einer Un‐ tergrundbewegung zu sein, das… das kann ich mir einfach nicht vorstellen, weißt du? Ich… ich habe genug persönliche Probleme. Also… also erspare mir bitte lange Erklärungen. Akzeptiere einfach, wenn ich eurem geheimen Netzwerk nicht beitreten will.« »Du entscheidest, was du tust und was du läßt, Dalon.« Zu meiner großen Erleichterung setzte er mich nicht weiter unter Druck. Nicht einmal einen Vorwurf bekam ich zu hören. »Selbstverständlich ak‐ zeptieren wir deine Entscheidung. Allerdings würde ich dich bitten, sie noch einmal zu überdenken.« Er begleitete mich hinunter bis zur Hauptpforte der Wohnpyramide. »Schlafe noch einmal darüber, junger Dalon, wäge meine Worte ab, lege dich nicht zu früh fest. Nach einer angemessenen Bedenkzeit werde ich mich wieder bei dir melden.« Mit diesen Worten verabschiedete mich Aimis, der Worgunmutant in Saltergestalt. Ich war sehr erleichtert, als ich in einem Mietgleiter saß, der mich nach Hause brachte. An diesem Tag verzichtete ich auf Schlaf. Ich reinigte mich, aß, trank und flog in meinem Privatgleiter zur Klinik für Fremdvölker‐ medizin. Den Tag über nahm meine Arbeit meine ganze Aufmerk‐ samkeit in Anspruch. Dennoch kehrten meine Gedanken immer wieder zu Aimis zurück. Wenn ich an ihn dachte, wurde mir schwindlig, und ich spürte sein Gedankenmuster so deutlich, als
stände er hinter mir. Nach der Arbeit beschloß ich, in eine der Vergnügungspyramiden im Zentrum der Hauptstadt zu fliegen. Ich wollte die Nacht mit Ai‐ mis vergessen, wollte mich zerstreuen. Bei meinem Privatschweber handelte es sich um eine Maschine, deren Baureihe als besonders zuverlässig galt und die ich selbst re‐ gelmäßig in der Werft meines Freundes wartete. Dennoch geschah beim Anflug auf die Vergnügungspyramide etwas, das noch nie geschehen war und das eigentlich auch nie hätte geschehen dürfen: Das Triebwerk fiel aus. Ich flog in etwa siebzehn Meter Höhe und weiß noch, wie ein eiskalter Schreck mir durch die Blutbahnen schoß, als das vertraute Summen auf einmal verstummte und die Maschine mit mir an Bord dem Boden entgegenstürzte… * Träumte ich? Taumelte ich durch einen Rausch? Oder war ich schon tot und schwebte bereits in jenem goldenen Jenseits, das Göt‐ tergläubige so sinnenfroh zu schildern wissen? Ja, ich schwebte, und mir war angenehm warm und leicht zumute. Ich hätte in diesen Minuten des Erwachens weder meinen Namen nennen können noch wußte ich, wo ich mich befand. Und vor allem: Ich hatte keine Angst. Meine akustischen Sinne nahmen nur meinen Herzschlag wahr und meinen Atem – der rasselte seltsam laut. Mein optischer Sinn gewahrte ein gelbliches Etwas, das ich zunächst für Dampf oder Nebel hielt. Bald jedoch stellte es sich als Flüssigkeit heraus. Und kurz darauf spürte ich sie auch auf meiner Haut, in meinem Haar, in meinen Augen – eine warme, ölige Flüssigkeit. Sie trug mich, sie wärmte mich, sie tat mir gut. Aber wie konnte ich atmen? Die Frage stellte ich mir erst, als ich zum dritten oder vierten Mal erwachte. Da schwebte ich also in ei‐ nem Tank voller gelblicher Flüssigkeit und bekam dennoch Luft. Warum? Weil ein Schlauch aus einem sehr weichen und biegsamen
Material in meinem Hals steckte, und weil durch diesen Schlauch Luft in meinen Ceradenbrustkorb gepumpt wurde. Alles kein Prob‐ lem, alles gut. Ich schlief und wachte und schlief und wachte, und alles war gut. Irgendwann sah ich Schatten hinter den gelblichen Schleiern hin‐ und hergehen; Konturen formloser Worgungestalten und hin und wieder auch die Umrisse humanoider Körper. Langsam, ganz lang‐ sam kehrte die Erinnerung zurück. Eine Stimme war es schließlich, die mich endgültig aus dem Dämmerzustand riß. »Heben Sie den rechten Arm, wenn Sie mich verstehen können, Dr. Dalon.« Ich hob den rechten Arm. »Schön, Sie sind also tatsächlich bei Bewußtsein! Das ist gut. Mein Name ist Torowal. In der Klinik für Fremdvölker‐ medizin hatten wir vor zwei Jahren miteinander zu tun, vielleicht erinnern Sie sich. Für diesmal aber nur das Wesentliche: Sie sind aus ungeklärten Gründen mit Ihrem Schweber abgestürzt. Schwere Verbrennungen und eine Doppelfraktur ihrer Wirbelsäule haben Sie an den Rand des Todes gebracht. Offensichtlich verfügen Sie aus irgendeinem Grund nicht mehr über die Fähigkeit zur Gestalt‐ wandlung, sonst wäre alles weit weniger problematisch verlaufen. Dennoch bin ich in der glücklichen Lage, Ihnen sagen zu können, daß wir Sie auch so durchbringen werden. Ihre Fraktur wächst wunderbar zusammen, die gerissenen Nervenstränge konnten wir wieder verbinden, und die Neubildung Ihrer Ceradenhaut macht jetzt große Fortschritte. Morgen werden wir Sie nach sechzehn Tagen zum erstenmal wieder so weit aus dem Plasmatank heben, daß wir Ihnen den Tubus ziehen und Sie wieder aus eigener Kraft atmen können. Sind das nun gute Nachrichten oder nicht?« Ich versuchte zu nicken, doch entweder sah der Arzt es nicht, oder es gelang mir nicht. Jedenfalls sagte er zum Schluß: »Wenn Sie mich verstanden haben, Dr. Dalon, dann heben sie erneut den rechten Arm.« Das tat ich, und die Konturen von Körpern hinter den gelben Nebeln entfernten sich. Ich war zufrieden, ich war zuversichtlich, es wurde dunkel um
meinen Tank herum, und ich blieb zufrieden und zuversichtlich. Bis ich mitten in der Nacht aus meinem Schlaf erwachte. Warum, konnte ich mir zunächst nicht erklären. Ich bewegte die Augäpfel nach links und nach rechts. Dämmerlicht herrschte rund um meinen Tank, nirgends ein Schatten, nirgends eine Bewegung. Ich lauschte. Mein Herz schlug gleichmäßig, das Ein und Aus meiner Atemzüge rauschte sanft und rhythmisch. Ich schwebte friedlich, und nirgends ein Anlaß, aus dem heilenden Schlaf zu erwachen. Nirgends? Doch. Da nagte eine leise Unruhe tief in meiner Brust. Ich spürte etwas, das ich nicht spüren wollte. Ich versuchte mich aufzurichten, aber Bänder an Handgelenken und Knöcheln hielten mich fest. Ich versuchte zu rufen, doch der Tubus, durch den eine Maschine Luft in meine Lungen blies, verstopfte meine Kehle. Und auf einmal leuchtete ein Lichtschein außerhalb meines Heiltanks auf. Er zuckte hierhin, zuckte dorthin und erlosch wieder. Panik schnürte mir den Hals zu. All die schmerzstillenden, be‐ ruhigenden, seligmachenden Drogen in meinem Blut verloren jäh ihre Wirkung. Undeutlich schälte sich ein verschwommener Schatten aus dem Dämmerlicht hinter dem gelblichen Schleier, der mich von der Welt dahinter trennte. Der Schatten wurde größer, der Schatten füllte bald die Hälfte meines Blickfeldes aus. Irgendeine Kraft be‐ wegte auf einmal den Schlauch, der von oben in meinen Tank ragte, um sich mit dem Tubus in meiner Kehle zu verbinden. Danach flammte erneut für kurze Zeit der Lichtschein auf, erlosch aber sofort wieder, und der Schatten jenseits der Tankwand wurde nach und nach kleiner und verschwand schließlich ganz. Ich spähte und sah nichts mehr, lauschte und vernahm nichts mehr. Was war das gewesen? Doch ein Traum? Eine Dro‐ gen‐Halluzination? Etwas fehlte, plötzlich merkte ich es. Meine Brust senkte sich nicht, meine Brust hob sich nicht mehr. Das Gebläse des Respirators – das war es, was fehlte. Das Rauschen meiner Atemzüge. Die Maschine funktionierte nicht mehr! Jemand hatte den Respirator abgestellt!
Ich versuchte Luft einzusaugen – ein Widerstand stemmte sich dem Atemsog entgegen, und es war, als würde ich an einer Metall‐ wand saugen. Panik brannte mir in Hirn und Gliedern. Ich ruderte mit Armen und Beinen. Ich hörte, wie Flüssigkeit über den Tankrand schwappte und daneben auf den Boden klatschte. Wieder und wie‐ der versuchte ich mich aufzubäumen, Todesangst brannte in allen meinen Nervenfasern. Ich stemmte mich gegen den Widerstand der unsichtbaren Fesseln, warf mich im Tank hin und her, strampelte, ruderte, riß und zerrte – und dann hörte ich ein jaulendes Pfeifen, schrill und durchdringend, auf und ab. Schatten lösten sich aus dem Dämmerlicht, Umrisse von Körpern eilten an meinen Tank, starke Hände packten meine Schultern, meine Arme. Mein schwindendes Bewußtsein stieg wieder auf aus der letzten großen Dunkelheit, und ich fand mich aufrecht im Tank sitzend, in den Tentakeln des medizinischen Personals hängend, und ich erin‐ nere mich noch an die Wortfetzen, die an mein Ohr drangen und erst nach und nach einen Sinn ergaben: »In letzter Sekunde… warum schlägt der Frequenzalarm so spät an… jemand hat den Respirator manipuliert…« * Zwei Tage später entfernten sie mir den Atemtubus, hievten mich aus dem Plasmatank in ein Bett und gaben mir zu trinken. Ärzte traten zu mir, studierten Monitore, über die elektrische Impulse meiner Herzstimulation flirrten, lasen Protokolle, riefen Blut‐ und Gewebebefunde auf den Bildschirm des Rechners neben meinem Bett. »Wir sind sehr zufrieden, Dr. Dalon«, sagte schließlich ein Arzt in humanoider Gestalt, den ich anhand seiner Stimme als Dr. Torowal identifizierte. »Knochen‐ und Knorpelgewebe Ihrer ceradischen Wirbelsäule sind restlos verheilt. Von den Brandwunden sehe ich
nur noch blasse Narben. Ihre blaue Ceradenhaut tarnt vorzüglich die wenigen Läsionen. Zwei Tage Mobilisation und Kreislaufstabilisie‐ rung noch, dann werde ich Sie entlassen. Glückwunsch!« Er drückte meinen Oberarm und wollte sich entfernen. »Warten Sie, Kollege Torowal!« rief ich. Er blieb stehen, drehte sich um, kam zurück an mein Lager. »Was war das für ein Zwischenfall?« »Halb so schlimm, Dr. Dalon. Der Respirator setzte ein Atem‐ intervall lang aus. Kommt gelegentlich vor.« Er lächelte, er tätschelte meine Schulter. »Ist aber bedeutungslos. Der Hyperkalkulator überwacht zuverlässig jeden physiologischen Prozeß, bis in den Mikrostoffwechsel hinein. Noch bevor er Alarm schlug, aktivierte er das Gerät wieder. Das haben Sie doch gemerkt, oder?« Ich nickte stumm; weiter nichts. Drei Tage danach brachte mich ein Schweber zu der Wohnpy‐ ramide, in der mein Apartment lag. Ich fühlte mich geschwächt, aber ich lebte. Zwei weitere Tage später stand Aimis in meinem Schlafzimmer. Er brachte exotische Früchte von Warla und köstliche Gemüsesäfte mit. »Stärke dich erst einmal«, sagte er. Er nahm auf einem Polster neben meinem Lager Platz, schälte und reichte mir die Früchte, reichte mir mit Saft gefüllte Becher. Ich wußte nicht, wie ich reagieren sollte; bedankte mich, aß und trank ansonsten, was er mir anbot. Irgendwie war ich auch froh, nicht mehr allein zu sein. »Schlimm, was dir da widerfahren ist, mein lieber Dalon.« Aimis betrachtete mich voller Erbarmen und schüttelte den Kopf. »Wirklich bedauerlich! Ich habe das geheime Netzwerk darüber informiert – alle sind entsetzt, alle bedauern diesen Unfall zutiefst. So etwas darf nie wieder vorkommen, hörst du? Nie wieder!« Ich aß und trank und schwieg. »Wir werden dich in Zukunft nicht mehr aus den Augen lassen, das verspreche ich dir, Dalon. Wir werden alles tun, um solche un‐ glücklichen Vorfälle zu verhindern. Jeder Mutant ist dem Netzwerk so wichtig, daß wir alles daransetzen, sein Leben zu schützen und zu
bewahren. Glaubst du mir das, Dalon?« Ich nickte, und ich aß und trank und schwieg. Aimis schwieg nun ebenfalls. Er hockte auf dem Polster neben meinem Lager, schälte Früchte und reichte sie mir, füllte mir den Becher mit neuem Saft und reichte ihn mir ebenfalls. Manchmal lä‐ chelte er und machte Gesten und Kopfbewegungen, die mich wohl aufmuntern sollten. Und dann kam sie, die Frage, auf die ich wartete. »Du hast sicher über unser Angebot nachgedacht, Dalon.« Ich nickte. »Und? Wirst du Mitglied unseres geheimen Mutantennetzwerkes werden?« Ich wollte leben. Also sagte ich: »Ja.« * Wir waren zu siebt. Zwei von uns hatten noch Worgungestalt. Man legte uns Augenbinden an, als wir im Schweber saßen. Den beiden Worgunförmigen stülpte man schwarze Säcke über ihre quallenar‐ tigen Körper. Man brachte uns in eine kleine Pyramidenanlage nahe des Südpols von Epoy. In einem hohen Gewölberaum des Souter‐ rains fand die Einweihung statt. Erst dort nahm man uns die Binden und Säcke ab. Gedämpftes Licht lag auf schwarzen Wänden und auf Hunderten von Mutanten in allen denkbaren Gestalten. Einer namens Tejam leitete die Zeremonie. Sein insektoider Leib bestand aus vier Gliedern. Auf dem ballonartigen, vierbeinigen Hinterleib aufgerichtet, schwankten die anderen drei langgestreck‐ ten Körperglieder hin und her. Dazu gestikulierte er ununterbrochen mit den drei Armpaaren seiner aufgerichteten Körperglieder. Es sah aus, als würde eine hochgeschossene Pflanze im Wind schwanken. »Wir sind wie ein Wald«, sagte Tejam. »Der eine ist ein Baum, der andere ein Blatt, der nächste ein Halm, wieder ein anderer der Zweig eines Busches, die Faser einer Flechte, die Frucht eines Strauches oder auch ein Bachlauf. Zusammen aber sind wir ein Wald. Und nun frage ich euch, Neulinge – wollt ihr zu uns, dem Wald, gehören?
Dann antwortet: ›Ja‹.« »Ja«, sagten wir im Chor. »Wollt ihr unter uns, dem Wald, euren Platz finden, an eurem Platz den Wald bereichern, wachsen und Frucht bringen? Dann antwortet: ›Ja‹.« »Ja«, sagten wir im Chor. »Wollt ihr dabeisein, wenn wir, der Wald, uns ausbreiten in ganz Orn, in allen bekannten Galaxien? Wollt ihr dazu beitragen, und wollt ihr mithelfen auszumerzen, was in uns, dem Wald, fault, was keine Frucht bringt, was welkt und verrottet? Dann antwortet: ›Ja‹.« »Ja«, sagten wir im Chor. »Schwört ihr bei der Fruchtkapsel, die euch hervorbrachte, und bei dem gnädigen Schicksal, das euch dem Verdorren entriß, daß ihr mit all eurer Lebenskraft uns, dem Wald, dienen werdet? Dann sprecht: ›Wir schwören es‹.« »Wir schwören es«, sagten wir im Chor. »Schwört ihr bei der Fruchtkapsel, die euch hervorbrachte, und bei dem gnädigen Schicksal, das euch dem Verdorren entriß, daß ihr keinem Worgun gegenüber und auch sonst keiner denkenden und Ich‐sagenden Kreatur gegenüber jemals ein Wort über euren Dienst am Wald, dem geheimen Netzwerk der Mutanten, verraten werdet? So sprecht: ›Wir schwören es‹.« »Wir schwören es«, sagten wir im Chor. Nach dieser Befragung mußten wir sieben Novizen uns bäuchlings auf dem Boden ausstrecken, nebeneinander und in einem Abstand von nicht ganz einem Meter voneinander. Holzblasinstrumente er‐ tönten und nach den ersten Takten Hunderte von Stimmen. Die Zeugen unserer Einweihung formierten sich zu einer langen Kette, immer zwei Mutanten nebeneinander. Die Kolonne setzte sich in Bewegung, das Scharren unzähliger Schritte und der Gesang unzäh‐ liger Kehlen erfüllte das riesige Gewölbe. Sie schritten über uns hinweg. Viele traten in die Lücken zwischen unseren Körpern, an‐ dere traten auf unsere Körper. Ich spürte es kaum.
Nach über einer Stunde war es vorbei. Schon eingeweihte Mutan‐ ten halfen uns auf die Beine. Ich war wie im Rausch, und in den Ge‐ sichtern der anderen sechs Novizen las ich eine ähnliche Euphorie, wie ich sie empfand. Kelche wurden uns gereicht, groß, schwer und mit dem herben Saft der Salvanyre gefüllt, einer Meeresfrucht der südlichen Ozeane Epoys. Und wieder Schritte und Gesänge. Dieses Mal zogen die vie‐ len Zeugen unserer Initiation an uns vorüber. Jeder Zeuge blieb vor uns stehen, ließ sich den Kelch reichen, trank von dem Salvanyren‐ saft und gab uns zu trinken, bevor er weiterging. Plötzlich, ganz unerwartet, stand einer vor mir, den ich kannte: Der Advokat, der meine Geschwister in meinem Prozeß vertreten hatte. Er nahm den Kelch, trank, lächelte und reichte mir den Kelch wieder. Auch dieser Teil der Zeremonie dauerte über eine Stunde. Danach verkündete Tejam nacheinander unsere Namen, unsere Qualifikationen und unseren vollzogenen Beitritt zum Netzwerk der Mutanten. Und nach jeder Verkündigung brachen die Zeugen in Hochrufe und Jubel aus. Dann erst war die Einweihung vorbei. Anschließend nahm einer der beiden Novizen in Worgungestalt unter den Augen aller die gedrungene Gestalt eines Pscheriden an. Der zweite Worgunförmige erklärte feierlich, seine Originalgestalt behalten zu wollen, um in ihr und mit ihr dem Netzwerk zu dienen, so drückte er sich aus. Er hieß Charauz, und ich weiß noch, wie sehr mich diese Erklärung erschütterte, denn durch den Verzicht auf seine Verwandlung verzichtete Charauz zwangsläufig zugleich auf weit mehr als neun Jahrtausende Lebenszeit. Mutanten, die sich nicht endgültig verwandelten, hatten nur eine Lebenserwartung von insgesamt 230 Jahren, das wußte ich inzwischen. Danach erklärte Tejam die geheime Versammlung für beendet. Die Zeugen stiegen in Schweber und verließen die Wohnpyramide in großen zeitlichen Intervallen. Für die Rückreise mußten wir weder Augenbinden noch Säcke tragen. Wie betäubt und hin‐ und herge‐ rissen zwischen Faszination und Abscheu hockte ich neben Charauz
im Gleiter, der uns zurück in die Hauptstadt brachte. Ich war un‐ glücklich und verwirrt und zugleich wie berauscht. Eines allerdings sah ich dennoch mit letzter Klarheit: Ich hatte mich auf Gedeih und Verderb mit dem geheimen Netzwerk der Mutanten eingelassen. Es gab keinen Weg zurück mehr. * Sie alle, die Sie hier sitzen und mir zuhören, haben solche Stunden erlebt; solche Augenblicke, die Sie nie mehr vergessen können, weil sie schwerer wiegen als alle Tage, Wochen, Monate und Jahre, in denen Ihr Leben relativ ungestört, relativ einförmig und mit einer gewissen Routine dahinplätschert oder ‐strömt. Es sind jene Stun‐ den, Minuten oder manchmal auch nur Sekunden, die unser Leben aus der gewohnten Bahn werfen und ihm eine völlig neue Richtung geben. So erging es mir mit der Nacht, die ich im Gespräch mit Aimis verbrachte, und ebenso mit den wenigen Stunden des Auf‐ nahmeritus in die geheime Mutantenorganisation. Im Rückblick erscheinen sie mir länger als die folgenden hundertfünfzig Jahre. Ja, das ist wahr. Von diesen anderthalb Jahrhunderten blieb mir im Grunde nur eine einzige Stunde ähnlich farbig, ähnlich schrecklich und ähnlich intensiv in Erinnerung wie die Begegnung mit Aimis oder die Aufnahme ins Netzwerk. Von dieser Stunde gleich mehr. Zunächst aber die folgenden hundertfünfzig Jahre. Über sie ist nicht viel zu berichten, wahrhaftig nicht. Man schickte mich zu einer Reihe von Schulungen. Diese meist vier Tage dauernden Klausuren dienten offiziell der persönlichen Fort‐ bildung – und tatsächlich konnte ich dort meine Kenntnisse der Natur‐ und Geisteswissenschaften erheblich vertiefen. Auf manchen Fachgebieten eignete ich mir im Laufe der Jahrzehnte sogar ein Spe‐ zialwissen an. Beispielsweise erkannte die Spitze des geheimen Netzwerkes schnell mein Organisationstalent und bildete mich zum
Koordinator, Logistiker und Organisationskybernetiker aus. Inoffiziell und in erster Linie jedoch hatten diese Schulungen das Ziel, die Novizen des geheimen Mutantennetzwerks zu erziehen. Man formte uns zu verschworenen, ja, fanatischen Anhängern der Idee eines neuen Worgunimperiums. Man machte aus uns ein Heer von willigen, opferbereiten Werkzeugen im Dienste dieser Idee. Die Stunden, die während der Schulungen dieser Erziehung vor‐ behalten waren, nannte man »Innere Zurüstung«. Frühmorgens, mittags und spät abends saßen wir hochrangigen Mutanten wie Te‐ jam oder Aimis zu Füßen und lauschten ihnen, wenn sie sich in Schilderungen der hehren Ziele des Netzwerkes oder in Diffamie‐ rungen der Normschleimsäcke ergingen. Wir meditierten in schmerzhaften Haltungen und zu beschwö‐ render Musik über die Dogmen des Netzwerkes, das kommende Imperium einer neuen Elite und über die persönlichen Ziele, die wir uns selbst für bestimmte Zeiträume setzen mußten. Zum Beispiel, wieviel neue Mutanten ich in welcher Zeit dem Netzwerk zuführen wollte oder auf welchem Gebiet ich noch treuer und hingebungs‐ voller dem Netzwerk dienen wollte oder welche Kontakte zu Normschleimsäcken ich abbrechen wollte, um mich keinem schlechten Einfluß auszusetzen, und welche ich neu knüpfen mußte, um sie für die Ziele des Netzwerkes nutzbar zu machen und so weiter und so fort. Jeder Neuling bekam übrigens einen politisch‐spirituellen Lehrer zugeordnet, dem er zu gehorchen und dem er Rechenschaft abzule‐ gen hatte. In den quälend langen Stunden der Inneren Zurüstung arbeiteten unsere Ausbilder im Grunde mit allen Techniken, wie sie in praktisch allen Zivilisationen zum Zwecke der Gehirnwäsche angewendet werden: eingängige Parolen, häufig wiederholte Lieder, spezieller, verknappter Sprachgebrauch, Nahrungs‐ und Schlafent‐ zug, strenge hierarchische Ordnung, Belohnung und Bestrafung bis hin zu Schmerzen. Ersparen Sie mir weitere Einzelheiten. In meinen ersten dreißig oder vierzig Jahren fanden solche Schu‐
lungen fünf‐ oder sechsmal im Jahr statt. Danach schickte man mich seltener zu derartigen Veranstaltungen. Die Erziehungsmaßnahmen hörten jedoch nie ganz auf. Nach etwa sechzig Jahren hängte ich meinen ärztlichen Beruf an den Nagel. Mit meiner äußeren Gestalt als Cerade eignete ich mich naturgemäß für einen Einsatz auf dem Planeten Warla. Dort ver‐ antwortete ich ein paar Jahrzehnte lang den Bau geheimer Anlagen, die wir als Schulungszentren und Waffenlager benutzten. Auch für die logistischen Aufgaben im Bereich der Neurekrutierung von Mutanten war ich zuständig. Doch auch viele andere Planeten in Orn, Andromeda und der Milchstraße habe ich in jenen hundert‐ fünfzig Jahren kennengelernt und Tausende von Worgunmutanten. Darunter brillante Köpfe und hochkompetente Wissenschaftler. Ich sage es nur ungern, denn ich verabscheue das elitäre Denken vieler Mutanten, aber ich habe den Eindruck, daß sich unter uns langlebi‐ gen Worgunmutanten überdurchschnittlich viele Ausnahmetalente und Hochbegabte finden. Nun werden Sie sich fragen, wie ich im Herzen zu der Ge‐ heimorganisation stand. Ich habe bereits angedeutet, daß man mich mit massiver Erpressung zum Beitritt gezwungen hat. Und um ganz offen zu sein: Ich fühlte mich nie als vollwertiges Mitglied. Die In‐ nere Zurüstung während der Schulungen stieß mich ab. Die Bindung an meinen persönlichen Führer – diese Rolle spielte natürlich Aimis – ertrug ich nur schwer. Die Ziele des Netzwerkes sah ich kritisch, und dem Sendungsbewußtsein der meisten seiner Angehörigen konnte ich nichts abgewinnen. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, daß ich von Anfang an nicht zum inneren Zirkel der Organisation gehörte und auch nie bis dahin aufstieg. Ich hatte immer das Gefühl, niemals ganz in die letzten Geheimnisse eingeweiht zu werden. Vermutlich wollte man mir nicht verzeihen, daß ich das erste Angebot zum Beitritt in den erha‐ benen Eliteklub abgelehnt hatte. All das mochte dazu beigetragen haben, daß ich mir eine gewisse
innere Distanz bewahrte und so im fünfzigsten Jahr meiner Zugehö‐ rigkeit zum geheimen Netzwerk eine folgenschwere Entscheidung traf und jene schwer zu vergessende Stunde erlebte, die ich eben schon erwähnte… * Die intelligenten Rassen des Planeten Pscherid lebten damals in vielen kleinen Stadtkönigtümern. Sicher betrieb man in den Zentren dieser vorindustriellen Kultur auch so etwas wie Astronomie, war aber natürlich noch weit davon entfernt, die Raumfahrt auch nur in Dichtung oder Drama zu thematisieren. Eine Gruppe Worgun in Pscheridengestalt, über den ganzen Planeten zerstreut, führte zu jener Zeit vor 3748 Jahren einige ausgewählte Pscheriden in die Grundlagen der Geometrie und der Algebra ein, erster Schritt eines nur wenige Jahre alten Förderprogramms. Gute Organisation und der Zufall führten dazu, daß die ganze Pädagogengruppe aus Mu‐ tanten bestand. Alle gut getarnt und, was ihre Biographien und Qualifikationen betraf, hochangesehene Mitglieder der Worgunge‐ sellschaft. Diese glücklichen Umstände erlaubten dem geheimen Mutan‐ tennetzwerk, auf Pscherid eine große Strategiekonferenz zu ver‐ anstalten. Keine Ringraumer der Worgunflotte weit und breit, kein Uneingeweihter, dessen Mißtrauen wir erregt hätten. Lediglich ei‐ nige Pscheriden wurden ein paarmal Zeuge des Anflugs oder der Landung eines Gleiters oder kleinen Ringraumers. Ein Jahrtausend später bereits konnte man den Niederschlag solcher Zufallsbeo‐ bachtungen im mythischen und religiösen Schrifttum der Pscheriden finden. Mir oblag die Organisation dieses wichtigen Treffens. Reise‐ planung, heimliche Einladungen, Druck der Tischvorlagen, Unterb‐ ringung, Kommunikationsanlagen, Verköstigung und so weiter. Nur die mittleren und höheren Chargen des Netzwerkes waren geladen.
Während dieser zweiwöchigen Strategiekonferenz stieß ich auf ein Geheimdokument, das nicht für meine Augen bestimmt war. Ich hatte einen Hyperkalkulator nach Pscherid schaffen lassen, mit dessen Hilfe ich die vielfältigen Organisationsprozesse der Tagung koordinierte. Der Rechner speicherte die codierten Protokolle ein‐ zelner Sitzungen in einer mir nicht zugänglichen Datenbank. Eines dieser Protokolle nun fand ich gegen Ende der Geheimkonferenz unter den frei verfügbaren Berichten über die Fortschritte der Pla‐ netenbevölkerung. Ein Worgunlehrer in Pscheridengestalt hatte sie über To‐Funk an seine Basis auf Epoy geschickt. Hinter seiner Tar‐ nung als Fremdvölkerpädagoge und Mathematiker arbeitete er als hoher Offizier für das geheime Mutantennetzwerk und war im Bilde über die neusten Planungen der Netzwerkspitze. Vermutlich hatte er das codierte Protokoll versehentlich zusammen mit den Berichten abgelegt. Ob er es auch versehentlich abgeschickt hatte oder gar für den Geheimdienst arbeitete, erfuhr ich nie. Wie auch immer – ich konnte nicht widerstehen: Ich speicherte das Geheimdokument auf einem Datenkristall ab und nahm es nach Ende der Konferenz mit nach Warla, wo ich damals bereits arbeitete; offiziell noch als Fremdvölkerarzt, inoffiziell als Logistiker und Or‐ ganisator des Netzwerkes. Zurück in Warla, wo ich meine altertümliche Lehmziegelhütte in eine funktionstüchtige Operationsbasis umgebaut hatte, arbeitete ich sieben Tage lang an der Entschlüsselung des Codes. Wer weiß, wie alles gekommen wäre, wenn sie mir nicht gelungen wäre. So aber hielt ich eines Tages die Skizze eines Umsturzplanes in Händen. In Hundertjahresschritten waren darin die wichtigsten Stationen der Machtergreifung und ihrer Vorbereitung aufgelistet: Besetzung militärischer Schlüsselpositionen mit Mutanten, Unterwanderung der militärischen Kommandostrukturen in der Worgunflotte, Aus‐ bildung und Plazierung spezialisierter Einzelkämpfer, Aufbau eine Flotte, Absetzung der Regierung und so weiter. Nach dieser Skizze sollten nur noch tausendfünfhundert Jahre vergehen, bis das gehei‐
me Netzwerk der Mutanten die Galaxien Orn, Andromeda und Nal beherrschte. Außerdem enthielt das Protokoll deutliche Hinweise auf erste Kontakte mit den Balduren. Ich war schockiert. Wochenlang brütete ich über düsteren Visionen eines interga‐ laktischen Bürgerkrieges meines Volkes. Unzählige Worgun würden ums Leben kommen, Millionen von Angehörigen der Fremd Völker sterben, ganze Planeten in Chaos und Verderben gestürzt und die jungen Völker der Milchstraße und Andromedas womöglich wieder auf sich selbst gestellt sein. In meiner schlimmsten Phantasie sah ich ein in Selbstzerfleischung erstarrtes und geschwächtes Worgunimperium voraus, das immer weiter zerfiel und zwangsläufig zur leichten Beute einer expandie‐ renden Raumfahrerzivilisation werden würde. Nach drei Monaten endlich hatte ich mich zu einer Entscheidung durchgerungen. Über eine Geheimfrequenz, die ich eigentlich gar nicht kennen durfte, nahm ich Kontakt mit einem Worgun auf, der eine kleine Wachpatrouille aus zwölf Ringraumern kommandierte, die zu jener Zeit im System der Warla‐Sonne stationiert war. Ich bat ihn um ein persönliches Treffen und forderte ihn auf, Zeit und Umstände so zu wählen, daß unsere Begegnung unauffällig blieb. Ein paar Tage später – ich arbeitete damals ja noch als Fremd‐ völkermediziner – kam ein Cerade in die ambulante Sprechstunde des Lazaretts, das ich als leitender Arzt aufgebaut hatte, und krümmte sich vor Schmerzen. Weder dem medizinischen Personal noch meinen Assistenten wollte er sich anvertrauen. Man ließ mich rufen. Der Cerade verlangte mich unter vier Augen zu sprechen, weil er sich seiner Beschwerden schäme, wie er sagte. Ich spürte das Mißtrauen, das von ihm ausging, und ich spürte das Gedankenmuster seiner Hirnströme: Vor mir saß ein Worgun. Auf meine Anweisung hin zog man mir eine Spritze mit starkem Schmerzmittel auf. Mit ihr und dem Fremden zog ich mich in ein Behandlungszimmer zurück.
Kaum hatte ich die Tür hinter uns geschlossen, glätteten sich seine Gesichtszüge. Der angebliche Cerade richtete sich auf, und alle Schmerzen schienen von ihm abzufallen. »Mein Name ist Ramzun«, sagte er. »Ich kommandiere die Wachpatrouille in diesem Sonnen‐ system. Wer sind Sie, und woher kennen Sie die Frequenz des Ge‐ heimdienstes?« Ich musterte ihn und suchte nach Worten. Sicher hatte ich mit einer derartigen Begegnung gerechnet, hatte sie sogar herbeigesehnt. Jetzt aber, wo sie stattfand, ängstigte sie mich doch. »Mein Name ist Da‐ lon. Einen Moment noch, Kommandant Ramzun.« Ich zog die Tür wieder auf und orderte verschiedene Instrumente und Materialien, wie man sie zur Untersuchung und Behandlung bestimmter Ge‐ schlechtskrankheiten benötigte, die unter den Ceraden manchmal auftraten. Man brachte mir das Gewünschte, ich schloß die Tür ab und setzte mich zu Ramzun auf den Behandlungstisch. »Wir sollten dieses Gespräch nicht unnötig in die Länge ziehen, sonst könnte Ihre wahre Identität auffallen«, begann ich. »Zunächst brauche ich Ihre Versicherung absoluten Stillschweigens über mich, unser Treffen und die Dinge, die ich Ihnen gleich offenbaren werde.« »Wenn Sie einen Geheimdienstoffizier anfunken, werden Sie wohl auch eine vage Vorstellung von der Arbeitsweise solcher Individuen haben, Dr. Dalon. Ich behandele zunächst einmal alles streng ge‐ heim. Und nun zur Sache: Wie gelangten Sie an meinen Namen, woher wissen Sie, daß ich Geheimdienstoffizier bin, und woher kennen Sie unsere Frequenz?« Seine Miene wirkte maskenhaft, seine Augen lauerten. »Darf ich davon ausgehen, daß auch Sie für unseren Geheimdienst arbeiten?« »Nein, Kommandant Ramzun. Im Gegenteil: Ich arbeite für das geheime Netzwerk der Worgunmutanten.« Kerzengerade saß er mit einem Mal auf der Stuhlkante. »Meine Organisation verfügt über ziemlich exakte Kenntnisse Ihrer Organisation, Ramzun. Wir kennen die Namen der wichtigsten Agenten, wir kennen die wesentlichen Stützpunkte des Worgungeheimdienstes, und selbstverständlich ist
uns auch Ihre Geheimfrequenz längst kein Geheimnis mehr.« Sekundenlang fixierte er mich. Vermutlich hatte es ihm die Sprache verschlagen. Ich öffnete die Verpackung der Diagnoseinstrumente, um bei meinen Mitarbeitern später den Eindruck einer Untersu‐ chung zu erwecken. »Wissen Sie nicht, daß Sie sich gerade um Kopf und Kragen reden?« flüsterte Ramzun endlich. »Das glaube ich kaum. Indem ich Sie auf Ihrer Geheimfrequenz anfunkte und Kontakt zu Ihnen aufnahm, begann ich bereits, mich zu enttarnen. Glauben Sie wirklich, ich tat das, um verhaftet und bestraft zu werden?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich will mit Ihnen zusammenarbeiten, Ramzun. Es geht darum, einer großen Gefahr für das Worgunimperium zuvorzukommen.« Ich holte den Kristall mit dem entschlüsselten Protokoll aus der Tasche. »Sorgen Sie dafür, daß diese Informationen so schnell wie möglich Ihren direkten Vor‐ gesetzten erreichen…«
4. Im zweiundsechzigsten Jahr meiner Mitgliedschaft im geheimen Mutantennetzwerk gab ich meine klinische Arbeit als Mediziner auf und eröffnete ein Art Praxis in einer Metropole auf Warla. Wie ein‐ kalkuliert waren es nicht viele Patienten, die sich von mir betreuen ließen. Mir blieb genug Zeit für meinen eigentlichen Beruf. Im siebenundachtzigsten Jahr meiner Mitgliedschaft berief die Organisation mich nach Pscherid, wo ich offiziell die Arbeit der Fremdvölkerpädagogen koordinierte und insgeheim die Aufstellung und Ausbildung einer Einzelkämpferdivision organisierte. Im hundertdritten Jahr meiner Mitgliedschaft beim geheimen Netzwerk verschlug es mich zum erstenmal in die Galaxis Nal, die Sie Milchstraße nennen. Auf dem Planeten Fände, dem Sie Jahrtau‐ sende später den Namen Babylon gaben, bereitete ich die Errichtung einer dauerhaften Basis vor. Im hundertsiebenundzwanzigsten Jahr meiner Mitgliedschaft in der Organisation kehrte ich zurück nach Orn, leitete zunächst ein paar Jahre lang eine geheime Raumstation im äußeren Südpolbereich der Galaxis und wurde in meinem hundertdreiunddreißigsten Jahr beim Netzwerk wieder nach Epoy beordert. Offiziell verkaufte ich dort Studienreisen nach Andromeda, inoffiziell baute ich die Kom‐ munikationsstrukturen des Netzwerkes aus. Etwa einmal im Jahr nahm der Geheimdienst Kontakt zu mir auf, ich unterrichtete mei‐ nen Verbindungsoffizier über meine aktuelle Tätigkeit und gab meine gesammelten Informationen weiter. Im hundertneunundvierzigsten Jahr meiner Mitgliedschaft beim geheimen Netzwerk ernannte man mich zum logistischen Chef der Organisation. Noch immer traf ich mich mehr oder weniger regel‐ mäßig mit Aimis, um ihm über meine Arbeit zu berichten – und sie zugleich unter seinen Ohren zu kritisieren – noch immer unterhielt ich Kontakte zum Geheimdienst der Worgun, noch immer hatte ich
keine Führungsperson des Netzwerkes persönlich kennengelernt, und noch immer nahm ich alle drei oder vier Jahre an einer Schulung teil, die mir die nötige innere Zurüstung vermitteln sollte. Ein Leben gegen meine eigentlichen inneren Überzeugungen führte ich in diesen Jahren, ein langweiliges Leben, sage ich heute. Als Chef der Logistik ging ich in der Organisationszentrale auf Epoy ein und aus. Sie lag gut getarnt in den oberen Terrassen einer Vergnügungspyramide mitten in der Hauptstadt. Seit hundert Jah‐ ren wußte der Geheimdienst durch mich von der Existenz und den Plänen des Mutantennetzwerkes und griff noch immer nicht ein – jedenfalls auf keine für mich sichtbare Weise. Alle mir bekannten Mutantenstützpunkte verriet ich dem Geheimdienst im Lauf der Zeit – keinen einzigen schalteten die Sicherheitskräfte der Regierung oder die Flotte aus. Vier Jahre lang wußte der Geheimdienst durch mich von der Existenz des geheimen Hauptquartiers im Zentrum der Worgunmetropole und griff dennoch nicht zu. Wie immer schien man unendlich viel Zeit zu haben an den Schaltzentralen der Worgunmacht. In der Netzwerkzentrale hatte ich selbstverständlich Zugang zum Haupthyperkalkulator der Organisation. Allerdings gewährte mein persönlicher Schlüsselcode mir nur freien Zugriff auf eine begrenzte Anzahl von Programmen und Datenbanken. Alles, was die Planung, Strategie, Hierarchie und Führungsangelegenheiten des Netzwerkes betraf, war durch ständig wechselnde Paßwörter gesichert. Zu den eigentlichen Geheimnissen der Organisation drang ich also noch immer nicht vor. Nach hundertachtundfünfzig Jahren verweigerte man mir nach wie vor das letzte, bedingungslose Vertrauen. Eines Tages nun stieß ich während meiner Arbeit am Hyperkal‐ kulator auf einen Namen, den ich kannte: Charauz. Der Mutant, der mehr als hundertfünfzig Jahre zuvor nach unserer gemeinsamen Einweihung auf eine letzte Verwandlung verzichtet hatte. Ich hielt ihn längst für tot, denn ein Mutant, der nach Abstoßung seiner de‐ generierten Fruchtkapseln auf eine Verwandlung innerhalb des fol‐
genden Jahres verzichtet, wird alles in allem nicht viel älter als zweihundertdreißig bis maximal zweihundertfünfzig Jahre. Ich spürte dem Namen in den Datenbanken des Hyperkalkulators nach und stieß zu meiner Überraschung auf die Personalien eines noch lebenden Mutanten namens Charauz. Nach dem mir zugänglichen Datenstand war er ein hoher Offizier der Flotte und koordinierte die Werften für die Ringraumerproduktion. Ich konnte nicht glauben, daß es sich um den Charauz handelte, der gemeinsam mit mir ins geheime Netzwerk aufgenommen wor‐ den war. Neugierig geworden recherchierte ich weiter. Es gelang mir, einen verschlüsselten Datensatz mit Personalakten zu knacken, dort fand ich ein Dossier über Charauz, und siehe da: Er war iden‐ tisch mit dem Mutanten, den ich über hundertfünfzig Jahre zuvor in jener kleinen Pyramidenanlage am Südpol Epoys kennengelernt hatte. Allerdings stolperte ich über einige Ungereimtheiten in der Datenchronologie seiner Biographie. Ich forschte weiter nach und stellte fest, daß Charauz bei seiner Einweihung gerade mal neunzig Jahre alt gewesen war, bereits etliche Innere Zurüstungen hinter sich gehabt hatte und als Spitzel auf uns Neulinge angesetzt gewesen war. Schließlich führten mich meine Recherchen zu einer ver‐ schlüsselten Geheimdatei, deren Code ich mit demselben Schlüssel aufbrechen konnte wie zuvor den der Personaldateien. Auch in ihr tauchte ein Flottenkommandeur namens Charauz auf – er hatte zu Beginn des Jahres seinen Abschied genommen und sich vor ein paar Wochen zum Sterben zurückgezogen. Vor allem aber enthielt die Datei Einzelheiten über Charauz’ Arbeit für das Mutantennetzwerk. Eine höchst fruchtbare Arbeit, wie ich feststellen mußte: Dem als Normschleimsack getarnten Mutanten war es im Laufe seiner Dienstzeit gelungen, achtundfünfzig Ringraumer unregistriert aus der Produktion abzuziehen und auf einen entlegenen Planeten schaffen zu lassen. Dessen Koordinaten nannte die Datei leider nicht. Weiter hatte Charauz dafür gesorgt, daß auf einem geheimen
Stützpunkt und aus von ihm abgezweigtem Material ein Corus ge‐ baut worden war. Das hochkomplexe Gerät – unter anderem das Zentralelement einer sich selbständig erweiternden Raumschiffs‐ werft – sollte in den nächsten Wochen ebenfalls auf den unbekann‐ ten Planeten geschafft werden. Wie gelähmt saß ich vor dem Hologramm des Hyperkalkulators. Nun war es geschehen – das geheime Mutantennetzwerk verfügte über Kampfschiffe! Die Organisationsleitung hatte ihre Planung geändert und den Aufbau einer Flotte vorgezogen! Würden sie erst einmal den Corus mit den entsprechenden Maschinen konfigurieren, konnten sie schon bald täglich mehrere Schiffe bauen! Das hätte den Anfang des gefürchteten Bürgerkrieges und das Ende der Worgunzivilisation bedeutet! Das durfte auf keinen Fall geschehen! Voll innerer Erregung verließ ich an jenem Tag die Zentrale. Unter der Zunge trug ich einen Kristall mit der kopierten Geheimdatei in meine Wohnpyramide. Noch in der gleichen Nacht traf ich mich mit meinem Verbindungsoffizier des Worgungeheimdienstes… * Wahrscheinlich sollte man stärkere Nerven haben als ich, wenn man einer Untergrundorganisation angehört und zugleich den Ge‐ heimdienst seiner Regierung mit Informationen aus diesem Un‐ tergrund versorgt. Ich glaube nicht, daß ich eine besonders gute Fi‐ gur gemacht habe in den folgenden sieben Tagen. Mein Verbindungsoffizier meldete sich fortan täglich bei mir, manchmal mitten in der Nacht. Ich mußte ihn über die Stimmung in der geheimen Netzwerkzentrale auf dem laufenden halten. Jede noch so banale Information interessierte ihn: Nachrichten, die ich zufällig gehört hatte, das Kommen und Gehen führender Mutanten, Funksprüche, die empfangen, Funksprüche, die gesendet wurden, Veränderungen im Publikum der einzelnen Terrassen in der Ver‐
gnügungspyramide. »Bis vor kurzem haben wir uns einmal im Jahr getroffen«, sagte ich während eines dieser Gespräche zu ihm. »In Ausnahmefällen zweimal. Und jetzt rufen Sie täglich an. Was hat das zu bedeuten?« »Nichts, was Sie beunruhigen muß, Dalon. Wir brauchen nur jede noch so kleine Information, weil wir einen Zugriff planen. Wir wol‐ len einige Mutanten festnehmen.« »Nach hundertachtundfünfzig Jahren wird das ja wohl allmählich Zeit«, antwortete ich, und das meinte ich auch so. Wenn ich in den Antigravlift meiner Wohnpyramide stieg, sah ich mich nach potentiellen Angreifern um. Wenn ich mit meinem Pri‐ vatschweber zur Vergnügungspyramide flog, blickte ich ständig auf den Monitor des Bordkalkulators, weil ich Verfolger fürchtete. Wenn ich die getarnten Zugänge zur Netzwerkzentrale betreten hatte, blieb ich erst einmal stehen und lauschte in die Gänge und offenen Räume. Möglicherweise hatte man mich ja durchschaut, enttarnt, mögli‐ cherweise lauerte mein Henker schon hinter dem nächsten Schott. In den Mienen und aus den Gesten meiner Gefährten las ich Mißtrauen und Verachtung. Wenn sie leise miteinander sprachen, glaubte ich, sie würden über mich reden, sich gar verabreden, über mich herzu‐ fallen. Aimis tauchte in diesen sieben Tagen dreimal in der Zentrale auf, was ungewöhnlich war. Ich fühlte mich von ihm beobachtet und ausgehorcht, und einmal fragte er mich, ob ich krank sei oder private Probleme hätte. Ich konnte nicht länger verbergen, daß ich am Rande eines Nervenzusammenbruchs balancierte. Diese sieben Tage nach meinem letzten Treffen mit dem Ge‐ heimdienstler erscheinen mir im Rückblick wie ein Drahtseilakt über einem kochenden Geysir. Doch ich stürzte nicht ab, und der Geysir brach nicht aus. Dann kam der achte Tag. Der Tag, an dem es galt zu sterben und zu töten; die Stunde der Wahrheit. Es lief alles sehr schnell ab und begann mit einem Notruf. Er ging kurz vor Sonnenuntergang per To‐Richtfunk in der geheimen
Netzwerkzentrale ein: Regierungssoldaten und bewaffnete Spezia‐ listen des Geheimdienstes stürmten einen Mutantenstützpunkt im Bergor‐System. Der Notruf brach ab, ohne daß wir nähere Einzel‐ heiten erfuhren. Ich hatte keinen Bedarf nach Einzelheiten. Der Zugriff hatte be‐ gonnen! Endlich schlug die Regierung zurück! Mehr brauchte ich nicht zu wissen. Ich stand auf. So unauffällig wie möglich verließ ich meinen Ar‐ beitsplatz. Auf dem Gang vor meinem Bürokomplex strebte ich dem getarnten Zwischenschott in die Vergnügungsräume der Pyramide zu. Ein akustischer Alarm heulte plötzlich auf, links und rechts ras‐ selten Schottflügel in die Wände, Mutanten strömten aus den Räu‐ men auf den Gang, rannten kopflos in alle Richtungen. »Kampfroboter und bewaffnete Gleiter des Geheimdienstes haben die Pyramide umzingelt!« rief eine Stimme aus akustischen Wand‐ modulen. »Regierungssoldaten stürmen die Vergnügungsräume! Bringen Sie sich in Sicherheit…!« Die panische Menge der Mutanten drückte mich an die Wand des Ganges – kein Vor und Zurück gab es mehr, ich war wie gefesselt. Auf einmal tauchte ein bekanntes Gesicht aus dem Chaos auf: Aimis! Er schlug mit dem Kolben seines Strahlers nach links und rechts, bahnte sich so einen Weg zu mir und packte mich am Arm. »Komm mit mir!« Er zog mich durch ein schmales offenes Schott in einen Seitengang. Ich war viel zu perplex, um mich zu wehren. Wie wil‐ lenlos taumelte ich an seiner Hand. Hinter uns stießen die Schott‐ flügel zusammen. Von außen trommelten Fäuste gegen den ver‐ schlossenen Durchgang. Nur zwei Mutanten war es gelungen, uns zu folgen. Wir hasteten durch den schmalen Gang, erreichten einen breiteren und über ihn einen Antigravschacht. »…Bewaffnete vor den getarn‐ ten Zugängen der Zentrale!« plärrte die Stimme aus den internen Funkmodulen. »Ich wiederhole: Bewaffnete vor den Zugängen! Be‐ nutzen Sie die vorgeschriebenen Fluchtwege…!«
Mehr und mehr Mutanten schlossen sich uns an, während wir zur Pyramidenbasis hinabschwebten. Die meisten Flüchtlinge gehörten den oberen Rängen der Mutantenhierarchie an. Einige hatte ich nie zuvor gesehen, doch die knappe und herrische Art und Weise, wie sie Anweisungen gaben, verriet mir, daß sie zur Führungsspitze des geheimen Netzwerkes gehören mußten. Besonders ein Mutant in kurzer, kräftiger Pscheridengestalt tat sich mit solchen Gesten her‐ vor. Man sprach ihn unterwürfig mit »Ehrwürdiger« an. Rasch erreichten wir das letzte unterirdische Geschoß der Pyra‐ mide. Aimis ließ meine Hand nicht mehr los. Und ich war zu unentschlossen, um die Flucht auf eigene Faust zu wagen. Was, wenn die Regierungssoldaten mich nicht als Agent identifizierten? Angst bestimmte mein Verhalten in diesen Augenblicken. Etwa vierzig Mutanten zählte ich inzwischen. Durch einen tun‐ nelartigen Gang huschten wir dem Zentrum der Pyramide entgegen. Ich wußte, daß es dort einen leistungsfähigen Ringtransmitter gab. Alles ging sehr ruhig und konzentriert vor sich. Nur ich fühlte mich entsetzlich unruhig. Ich suchte nach einem Ausweg, ich suchte nach einer Gelegenheit, mich abzusetzen, doch Aimis blieb hartnäckig an meiner Seite. Ich wollte nicht, aber ich mußte neben ihm erst die Transmitterhalle und dann den Ringtransmitter selbst betreten. * Die Halle, in der wir die Empfangsstation des Ringtransmitters verließen, war von beeindruckender Größe. Ein transparentes Kup‐ peldach überwölbte sie. Eine Sonne strahlte aus dem schwarzen All auf uns herab. Der Planet, auf dem wir angekommen waren, ver‐ fügte über keine Atmosphäre. Die Kuppelhalle schien sich in großer Höhe zu befinden, vielleicht der Gipfel eines Rundturmes, mutmaßte ich. Unsere Schritte hallten von der durchsichtigen Kuppel wider, während wir die Transmitterhalle durchquerten. Der fremde Mutant
mit dem herrischen Benehmen, der Ehrwürdige, erteilte Befehle nach links und rechts. Einige Mutanten entfernten sich von der Flüch‐ tlingsgruppe und liefen zum Einstieg in einen Antigravschacht. Ai‐ mis, ich und zwei Dutzend andere folgten dem hochrangigen Mu‐ tanten an den Rand der Halle, wo eine Sitzgruppe vor einer Schnitt‐ stellenkonsole stand. Der mir unbekannte Anführer nahm Platz und begann mit einem Hyperkalkulator zu sprechen. Andere sanken erschöpft in die Sessel, auf den Boden oder auf den Tisch. Aimis blieb an meiner Seite. Ich suchte nach Orientierung und trat näher an die durchsichtige Kuppel heran. Die Landschaft außerhalb war von bedrückender Ödnis: Schwarze Klippen erhoben sich rechts und links zu einer Höhe von vier bis fünf Kilometern. Der Kuppelturm schien zu einer Art Festung zu gehören. Baumeister der Mutanten hatten sie in das zerklüftete Gebirge eines lebensfeindlichen Planeten integriert. Die Klippen erhoben sich rund um eine Hochebene, auf der viele Ring‐ raumer standen. Ich zählte sie durch – es waren achtundfünfzig Schiffe. Hier also sollte die Flotte produziert werden, mit der die Mutanten ihre Mitworgun bekämpfen wollten! »Keine Gefahr«, sagte der Ehrwürdige. »Ein paar Flüchtlinge konnten sich in die dritte Transmitterstation der Festung retten. Keine Einheiten der regulären Flotte im System.« Mit einer Kopfbe‐ wegung bedeutete er Aimis, vor der Schnittstelle Platz zu nehmen. »Schließen Sie den Raumhafen, nehmen Sie Kontakt zu sämtlichen Stützpunkten auf. Ich will eine genaue Bestandsaufnahme unserer Verluste.« Den Raumhafen schließen? Wieder blickte ich zur Kuppel hinaus. Aus einem Großschott schwebten Antigravcontainer auf den Raumhafen hinaus. Jetzt erkannte ich auch Arbeitsroboter, die zwi‐ schen den Landestützen einiger Raumer hin‐ und herfuhren. Unter drei Ringraumern sah ich Container zu den offenen Frachtraumlu‐ ken hinauf schweben. Während Aimis an der Schnittstelle saß und Befehle in den akus‐
tischen Sensor des Hyperkalkulators sprach, öffneten sich die Klip‐ penwände zu beiden Seiten der Hochebene auf einer Länge von zwanzig oder dreißig Kilometern. Genau ließ sich das aus meiner Perspektive nicht abschätzen. Auf dieser Länge wurden etwa dreißig Meter hohe und leicht nach oben gebogene Spalten sichtbar. Aus diesen beiden Spalten wiederum schoben sich zwei horizontale und leicht konvexe Wände. Fasziniert von diesem gigantischen Bauwerk beobachtete ich, wie sie aufeinander zuwuchsen. Ihre Unterseite war glatt, ihre Oberseite zerklüftet wie eine Felsebene. Plötzlich sah ich Rundsäulen, die stalagmitenartig zwischen den Ringraumern aus dem Flugfeld wuchsen. Von seinen Rändern beginnend streckten sie sich bis zu einer Höhe von etwa vierhundert Metern dem Schutz‐ dach des Raumhafens entgegen. Ich konnte nur ahnen, daß sie die Felsdecke zur gleichen Zeit berührten, wie diese sich unterhalb un‐ seres Kuppeldaches schloß. Der Raumhafen und die erbeuteten Schiffe waren nun in einer unterirdischen Höhle verborgen. In Gedanken versuchte ich mir einen Weg von der Transmitter‐ halle bis in den nun unterirdischen Raumhafen vorzustellen, wie ich ihn anlegen würde, wenn ich ein geschickter Baumeister wäre. Hinter mir standen inzwischen sämtliche Mutanten um die Schnittstelle herum. So sehr war ich in den Anblick des Raumhafens und seines mobilen Daches versunken gewesen, daß ich kaum re‐ gistriert hatte, was sich um Aimis und den Ehrwürdigen herum ab‐ spielte. Ich drehte mich um. Schreckensrufe und Wehklagen wurde laut. Trauer und Wut ver‐ zerrten die meisten Gesichter. Nach und nach begriff ich, was ge‐ schehen war: Über eine geheime To‐Richtfunkfrequenz hatte der Hyperkalkulator sämtliche Mutantenstützpunkte aufgefordert sich zu melden – kein einziger hatte reagiert. »Sie haben überall gleich‐ zeitig zugeschlagen«, sagte Aimis. »Eine bis in alle Einzelheiten durchorganisierte, konzertierte Aktion! Wie konnte das geschehen?!« Er verbarg sein tränenfeuchtes Saltergesicht in seinen großen Hän‐
den. »Nur den Stützpunkt, dessen Notruf wir noch in der Zentrale empfingen, nur den scheinen sie ein paar Minuten früher überfallen zu haben…« Der Ehrwürdige dachte laut, wie es schien. »Was für ein Glück für uns…« Er sprach mehr zu sich selbst als an die Adresse irgendeines Umstehenden. »Aber wie konnte eine solche Katastro‐ phe über uns hereinbrechen… wir haben doch fähige Mutanten bis in die zweithöchste Geheimdienstebene plaziert…« »Vielleicht hat uns einer von denen ja verraten?« sagte ein Mutant in Insektengestalt direkt vor mir. In diesem Moment nahm Aimis die Hände vom Gesicht, und unsere Blicke begegneten sich. »Ausgeschlossen!« Mit entschiedener Geste wies der Ehrwürdige diesen Verdacht zurück. »Es handelt sich um Mutanten aus der Kommandoebene unseres Netzwerkes! Für jeden einzelnen bürge ich persönlich!« Doch nun war es ausgesprochen, jenes häßliche Wort: Verrat. Als Aimis sich dem Hyperkalkulator zuwandte, um die Wahr‐ scheinlichkeit eines Verrates errechnen zu lassen, nutzte ich die Ge‐ legenheit, um mich von der Gruppe zu entfernen. Äußerlich ohne Eile, innerlich gehetzt und getrieben schritt ich zu einem der Antig‐ ravschächte. Wenn ich es bis zur Turmbasis schaffte, würde ich vielleicht eine Chance haben. »Verrat!« Auf einmal hallte es durch den Raum, das böse Wort. »Verrat! Verrat!« Ein Mutant in Saltergestalt schwang sich aus dem Antigravschacht; und noch einer, und noch einer. Sie waren be‐ waffnet, nackte Angst bleckte aus ihren Zügen, sie kamen auf mich zu. »Verrat!« Ich zuckte zusammen, weil ich Aimis’ Stimme erkannte. »Verrat mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als achtundachtzig Prozent!« Noch drei Schritte trennten mich vom Antigravschacht. Die drei Flüchtlinge, nun auf gleicher Höhe mit mir, beachteten mich nicht. »Dalon!« Mein Name hallte von den Wänden wider. »Warum warst du so nervös in den letzten Tagen?«
Ich fuhr herum. Noch immer umringten an die vierzig Mutanten meinen persönlichen Führer und den Ehrwürdigen. Einige wandten suchend den Kopf, andere hatten mich bereits entdeckt und fixierten mich feindselig. »Was war das für eine Datei, die du vor acht Tagen kopiert hast!?« Eine Gasse entstand in der Gruppe um die Schnittstelle. Aimis durchschritt sie und deutete auf mich. »Bist etwa du der Verräter?!« Von weiter nichts als dem Wunsch zu leben getrieben, sprang ich den nächststehenden der Neuankömmlinge an. Ich entriß ihm die Waffe, zielte und schoß einen Nadelstrahl über die Köpfe der Mu‐ tanten um Aimis und den Ehrwürdigen. Im gleichen Moment lagen sie am Boden, alle. Ich aber hetzte mit zwei Schritten zum Schacht, sprang hinein und sank nach unten. Voller Angst starrte ich hinauf in die zurückbleibende Öffnung. Noch niemand zeigte sich dort oben, dennoch schoß ich Strahl um Strahl hinauf. Zwei Ausgänge ließ ich vorbeigleiten, aus dem dritten schwang ich mich hinaus. Ich spurtete durch Gänge, sprang über Wendeltreppen von Ebene zu Ebene hinunter, erreichte einen Hauptschacht und stieg ein. An seiner Basis begegnete ich einer Gruppe Mutanten. Sie kamen von einer Transmitternebenstation, dorthin hatten sie von einem geheimen Stützpunkt aus fliehen können, bevor Regierungs‐ truppen ihn endgültig erobert hatten. Verwirrt waren sie, bestürm‐ ten mich mit Schilderungen tödlicher Kämpfe und mit Fragen. »Hoch mit euch!« herrschte ich sie an. »Kämpfe in der Transmit‐ terhalle…!« Ich erzählte ihnen, daß Regierungssoldaten über den Transmitter der Zentrale hierher gesprungen seien. Es gelte, sie zu töten und den Ringtransmitter zu zerstören, und meine Aufgabe sei es, einen der Raumer startklar zu machen. Sie gehorchten wider‐ spruchslos, stiegen in den Schacht und schwebten nach oben. Ich hoffte, sie würden wenigstens soviel Verwirrung stiften, daß mir Zeit genug blieb, eines der Schiffe zu kapern. Zwei Minuten später rannte ich schon über das unterirdische
Flugfeld. Ich spähte einen knapp zweihundert Meter entfernten Ringraumer aus, zwischen dessen Stützen Schwebecontainer la‐ gerten. Ein Traktorstrahl hob einen nach dem anderen zum Schiffs‐ rumpf hinauf. Atemlos erreichte ich die Container. Einem der Arbeitsroboter be‐ fahl ich, sich mit dem Rücken an die Wand eines Containers zu stel‐ len. Über seine Schultern und seine Schädelkugel kletterte ich auf den Container hinauf. Minutenlang lag ich dort bäuchlings. Endlich setzte er sich in Bewegung – der Traktorstrahl holte ihn in den La‐ deraum hinauf. Während ich noch zwischen Schiffsunterboden und Flugfeld schwebte, strahlten auf einmal Hunderte von Scheinwerfern auf, und ich lag in grellem Licht. Im Fels unter dem Rundturm, der die Transmitterhalle und die Klarsichtkuppel trug, hob sich ein Schott. Ein Gleiter schwebte aus einem Hangar, nahm Fahrt auf und steuerte den Raumer an, dessen Frachtraumluke nur noch wenige Meter über mir gähnte. Ich legte meinen Strahler an, schoß Strahl um Strahl auf den Gleiter, bis der Container in den Frachtraum tauchte. Sofort sprang ich hinunter, rannte durch die nächste Luke in den Hauptgang und fand sofort eine Nebenschnittstelle. Über sie ver‐ riegelte ich sämtliche Außenschotts und ‐luken des Schiffes. Der Bordhyperkalkulator bestätigte. Auf den Befehl, einen Blitzstart einzuleiten, reagierte er mit der Frage nach einem Be‐ vollmächtigungscode . Ich spurtete los. In die Zentrale wollte ich, zum Kommandostand – vielleicht reagierte der Hyperkalkulator ja auf die Ge‐ dankensteuerung. »Noch drei Container sind im Laderaum un‐ terzubringen«, meldete der Hyperkalkulator über Bordfunk, wäh‐ rend ich durch einen Hauptschacht zur Kommandozentrale hinauf schwebte. »Abbrechen!« befahl ich. »Ladevorgang unter allen Umständen abbrechen!« Ich schwang mich aus dem Schacht, rannte den Haupt‐ gang hinunter – das Schott zur Kommandozentrale war nur noch
hundertfünfzig Meter entfernt. »Eine Gruppe von zwölf Berechtigten begehrt Einlaß«, meldete der Hyperkalkulator. »Sie sind allerdings bewaffnet.« »Eintritt verweigern!« brüllte ich. »Auf keinen Fall an Bord lassen! Es sind Unberechtigte! Es sind Verräter…!« Ein Schatten flog aus einem Seitengang, ein Nadelstrahl flirrte mir entgegen, traf meinen Unterleib. Brennender Schmerz raste durch meinen Körper, einen Atemzug lang schwanden mir die Sinne. Als ich wieder zu mir kam, lag ich bäuchlings auf dem Gangboden, unter mir meine Waffe. »Ein gutes Stichwort, nicht wahr?« Ich hob den Kopf – zehn Schritte entfernt stand breitbeinig ein Salter. Aimis. Haß verzerrte seine Züge. »Verräter – ein gutes Stichwort für deinen Tod, Unwür‐ diger!« Schritt für Schritt kam Aimis näher. Der Strahler in seinen Händen zitterte, er war außer sich vor Zorn und Enttäuschung. »Und dabei muß ich mich selbst hassen für das, was heute ge‐ schah…« Seine Stimme klang brüchig. »Ich hätte deinen Schweber aus größerer Höhe abstürzen lassen sollen, damals vor hundert‐ achtundfünfzig Jahren…« Der Schmerz brannte in meinen Einge‐ weiden, strömte wie kochendes Wasser durch meine Glieder. Ich ließ den Kopf sinken. Meine Stirn berührte den Boden. »Ich hätte dich nicht nur vom Respirator abhängen, sondern auch gleich sein Alarmsystem deaktivieren sollen.« Direkt über mir hörte ich jetzt seine Stimme. »Verfluchter Verräter, du…« Haß raubte ihm den Atem, er flüsterte nur noch. »Die Arbeit von Jahrtausenden hast du zerstört. Der Tod ist viel zu gnädig für dich…« Ich öffnete die Augen. Seine Stiefelspitzen standen direkt vor mir. Seine Kleider raschelten, er bückte sich. »Ich werde dafür sorgen, daß dein Gehirn herauspräpariert und in einen Corus integriert wird! Ewig sollst du leben, und ewig sollst du leiden!« Seine Hand griff nach meinem Kragen, packte mich, zerrte mich zum nächsten Antigravschacht. »Vierunddreißig Berechtigte begehren Einlaß«, sagte die Stimme
des Hyperkalkulators. Ich atmete tief durch, und während Aimis den Befehl gab, bewaffnete Mutanten an Bord zu nehmen, überwand ich meinen Schmerz, zog die Beine an und stieß mich ab. »Niemanden läßt du an Bord!« schrie ich und schlug meine Cera‐ denzähne in Aimis’ Wade. Er stolperte, schlug lang hin, drehte sich aber sofort um und richtete den Lauf seiner Waffe auf mich. Doch diesmal war ich schneller – der Nadelstrahl meiner Waffe durch‐ bohrte seine Brust, seine Kehle, sein linkes Auge. Es platzte, ko‐ chende Hirnmasse trat aus der Höhle, und mein Lehrer und Führer Aimis starb. »Interner Konflikt«, meldete der Hyperkalkulator. »An Bord lassen oder nicht an Bord lassen? Interner Konflikt. Bitte um beglaubigten Befehl in spätestens drei Minuten!« Ich stützte mich auf den Kolben des Strahlers, schleppte mich über den Gang. »Nicht an Bord lassen! Auf keinen Fall an Bord lassen…« Noch achtzig Meter bis zum Schott in die Kommandozentrale. »Interner Konflikt! Bitte um beglaubigten Befehl in hundertfün‐ fundsechzig Sekunden!« Ich kämpfte gegen den Schmerz, ich kämpfte gegen Schwindel und erlahmende Glieder. Manuell öffnete ich das Schott, auf Knien und Ellenbogen kroch ich durch die Kommandozentrale. »Interner Konf‐ likt! Bitte um beglaubigten Befehl in dreiundachtzig Sekunden!« Seitlich stemmte ich meinen absterbenden Körper die drei Stufen zum Kommandostand hinauf. »Bitte um beglaubigten Befehl in neunundvierzig Sekunden.« Die Gedankensteuerung – meine kribbelnden Hände ertasteten den Kommandantensessel, zogen mich halb hinein. »Interner Konf‐ likt! Bitte um beglaubigten Befehl in zweiundzwanzig Sekunden!« Ich suchte die Gedankenverbindung zu dem Hochleistungs‐ rechner. »Mutanten. Das neue Imperium. Innere Zurüstung. Co‐ rus…« Alle möglichen Begriffe krächzte und dachte ich, doch keines war das Codewort, mit dem ich mich beglaubigen konnte. Wieder und wieder hörte ich die monotone Robotstimme: »Bitte um beglau‐
bigten Befehl in neun Sekunden, in acht Sekunden, in sieben Se‐ kunden…« Und plötzlich sprang es mir wie von selbst auf die Zun‐ ge. »Charauz… Charauz…« Ich lauschte. Keine weiteren Forderun‐ gen nach Beglaubigung. »Charauz… niemand kommt an Bord. Blitzstart…« Ich lehnte mich gegen den Sockel des Kommandantensessels. Die Schwäche raubte mir die Sprache. Intervallum ein, automatisches Ge‐ genfeuer bei Beschuß… Ich konnte die Befehle nur noch denken. Ho‐ logramm ein, übernehmen, Hyperkalkulator, schicke einen Arbeitsroboter, Transport in die Medostation… Der Boden unter mir summte, mein Kopf summte, mitten in der Zentrale flammte die Bildkugel auf. Ich spürte, wie das Schiff be‐ schleunigte. »Ich will leben«, flüsterte ich. »Ich will leben, ich will leben…« Stimmen schwirrten durch die Zentrale. »Noch keinen Beschuß«, blaffte eine. »Keinen Beschuß! Aimis ist noch an Bord…!« In der Bildkugel fielen Raumhafen, Klippen, Gebirge und der unwirtliche Felsenplanet zurück. Ich begriff, daß der Hyperkalkulator mir den Funkverkehr zwischen den Mutanten in die Zentrale spielte. »In die anderen Schiffe! Jeder in ein Schiff! Wir holen ihn ein, wir verfolgen ihn…!« Ein Schott öffnete sich lärmend. Ein Arbeitsroboter rollte in die Zentrale. »Da ist etwas im Transmitter…!« schrie eine Stimme aus den Funkmodulen. Der Roboter nahm mich behutsam in seine Kunststoff arme. »Eine Bombe! Eine Megabombe…!« Der Roboter rollte durch die Zentrale zum offenen Schott. Ich klammerte mich an seinem Teleskophals fest. Die Sinne schwanden mir. »Eine Fusions‐ bombe! Ein gigantisches Ding auf Rollen! Ein Roboter schiebt es aus dem Transmitter…!« Als ich noch einmal für kurze Zeit zu mir kam, lag ich schon in der Klinikabteilung. Der Hyperkalkulator gab gerade die Koordinaten für eine Transition durch. Zwei Medoroboter entkleideten mich, zwei weitere füllten ein Plasmabett mit trüber Flüssigkeit, ein fünfter
hantierte mit Infusionsbeuteln und Spritzen, und neben dem Not‐ fallbehandlungstisch, auf dem ich lag, flimmerte ein kleines Holog‐ ramm. Ich war noch halb bewußtlos, aber immer noch wach genug, um die Trümmerwolke von den Ringraumern zu unterscheiden. Die Bombe war explodiert… Wie ein böser Traum, an den man sich nicht erinnern will und der sich doch nicht abschütteln läßt, kroch es in mein Bewußtsein – die Fusionsbombe hatte den Planeten zerrissen. Mit ihm den geheimen Stützpunkt. Mit ihm die siebenundfünfzig Ringraumer. Und mit ihnen sämtliche geflohene Mutanten. Die Patrouille, deren Schiffe ich in der Bildkugel sehen konnte, hatte vermutlich den Explosionsimpuls angepeilt… * Der Hyperkalkulator steuerte den Ringraumer in den Halo von Orn. Dort verbrachte ich viele Wochen in der Medostation. Nach meiner Genesung kehrte ich nicht nach Epoy zurück. Ich fühlte mich vom Geheimdienst bedroht und betrogen. Ich war davon ausge‐ gangen, daß man die Mutanten festnehmen und ihre Infrastruktur zerschlagen würde. Die Regierung aber hatte sie getötet. Alle, wenn man den Nachrichten und Funksprüchen glauben wollte, die ich in den folgenden Monaten abfing. Vermutlich war das gelogen, denn auch sonst schwirrten viele Lügen durch die Galaxis. So war zum Beispiel in keiner abge‐ fangenen Nachricht, in keinem Funkspruch von Worgunmutanten die Rede, die sich an die Macht putschen wollten, sondern immer nur von einer mysteriösen Verschwörung unbedeutender Fremd‐ wesen. Die Existenz der Mutanten wurde weiterhin verschleiert. Ich gab die Hoffnung auf, daß sich dies jemals ändern würde. Mein Schiff taufte ich ASGOR – BOTSCHAFTER in Ihrer Sprache. Das Leben, das ich fortan führte, glich dem eines Mannes, den Sie auf
Terra wahrscheinlich einen Vagabunden nennen würden. Es wurde mir zur Lebensaufgabe und zur Gewohnheit, mich in die Verwaltungsnetze von Worgunplaneten einzuloggen und nach Dril‐ lingsgeburten zu suchen. Stieß ich auf welche, versuchte ich, den Mutanten ausfindig zu machen und ihn über seine Besonderheit aufzuklären. Das war keine Sache von Monaten oder Jahren, das war eine Sache von Jahrzehnten und Jahrhunderten. Häufig kam ich zu spät: Der Mutant war spurlos verschwunden. Möglicherweise hatte er sich zum letztenmal verwandelt, mögli‐ cherweise aber gab es doch noch eine Mutantenorganisation, die immer noch ihresgleichen suchte und sammelte. Eintausendzweihundertzweiunddreißig Jahre lang streunte ich auf diese Weise mit der ASGOR durch ganz Orn. Das war keine schlechte Zeit, glauben Sie mir. Eines Tages schließlich wurde ich einmal mehr auf einen dritten Drilling aufmerksam. Kleiner als seine Geschwister, vom Muttervater ausgesetzt und bei wohlmeinenden Worgun aufgewachsen, konnte er nur eines sein: ein Mutant. Ich heftete mich an seine Spuren. Verlor sie, fand sie wieder, erfuhr nach achtzig oder neunzig Jahren, daß er ein begabter Philosoph und Pädagoge war. Jahrzehnte später fand ich heraus, daß er hundert‐ achtundneunzig Jahre alt war und kurz vor seiner Privatzeit stand. Ich setzte mir in den Kopf, ihn zu finden, bevor das Mutantennetz‐ werk ihn umgarnte oder gar die Behörden auf ihn aufmerksam wurden. Ich mußte ja davon ausgehen, daß der junge Mutant nichts von seiner Andersartigkeit wußte. Seit ich versucht hatte, meine Zivilrechte einzuklagen, hatte es meines Wissens keinen Mutanten mehr gegeben, der es gewagt hat‐ te, seine Identität von einem Worgungericht feststellen zu lassen. Das war immerhin eintausendvierhundert Jahre her. Aus schlechtgesicherten Dateien der Zentralverwaltung von Epoy erfuhr ich ein paar Jahre danach, daß der junge Mutant sich auf den Weg in Ihre Galaxis gemacht hatte; in die Milchstraße oder Nal, wie wir sie nennen. Auf dem Planeten, der bei uns als Sabin und Ihnen
als Dockyard bekannt ist, wurde zu dieser Zeit eine neue Ringrau‐ merwerft gebaut. Der Mutant, von dem hier die Rede ist, sollte die Kinder der Worguningenieure und Worguntechniker in Philosophie unterrichten. Ich folgte ihm. So gelangte ich nach vielen Jahrhun‐ derten wieder in die Milchstraße. Und dort traf ich den jungen Phi‐ losophielehrer Arcdoorn…
5. »Tja, was soll ich sagen?« Doorn streckte sich und blickte zum Fenster hinaus. Dhark runzelte die Stirn. Wie alle staunte auch er, daß Arc Doorn nach zwei Stunden zum erstenmal und von sich aus das Wort ergriff. »Wärst du mir nicht nach Dockyard gefolgt, säße ich jetzt nicht hier.« »Wäre ich dir nicht gefolgt, hättest du schon vor zweitau‐ sendvierhundert Jahren nicht auf diesem Planeten gesessen.« »Zweitausendvierhundertzehn Jahre«, korrigierte Doorn. »Au‐ ßerdem saß ich nicht, als du mich hier gefunden hast.« »Wahrhaftig nicht.« Dalon fixierte den vermeintlichen Sibirier. »Wäre ich dem geheimen Netzwerk nicht beigetreten, hätte der Ge‐ heimdienst es nicht zerschlagen. Hätte der Geheimdienst es nicht zerschlagen, wäre ich nicht fast anderthalb Jahrtausende durch Orn gekreuzt, um deinesgleichen zu suchen. Und hätte ich das nicht ge‐ tan, wärst du niemals nach Terra geflüchtet.« »Schon möglich.« Doorn schürzte die Lippen. Mit dem Hand‐ rücken wischte er sich die Nase ab. »Und jetzt? Soll ich jetzt vor dir auf die Knie sinken und dir vor Dankbarkeit die Füße küssen?« Dalon schüttelte den Kopf. »Was bist du nur für ein komischer Kerl, Arcdoorn.« »Die Geschichte ist noch nicht zu Ende, schätze ich«, sagte Dhark. »Wollen Sie nicht weitererzählen?« »Sie ist fast zu Ende«, sagte Doorn. »Er folgte mir nach Dockyard. Eines Tages landete er mit einem Flash auf dem Raumhafen des Planeten. Punkt. Ein hartnäckiger Bursche eben.« »Ich war monatelang unterwegs.« Dalon ergriff wieder das Wort. »Eine ganze Tankfüllung Tofirit kostete mich die Reise. Glücklicherweise hatte ich weitere fünf Tankfüllungen in Antig‐ ravcontainern an Bord. Sonst wäre ich im Nichts gestrandet.« »Wer weiß, wozu das gut gewesen wäre.« Doorn betrachtete seine
Fingernägel. »Wer weiß, wo ich dann mein Leben verbracht hätte.« Er schien Selbstgespräche zu führen. »Du hättest es verschwendet«, sagte Dalon bestimmt. »Du hättest nichts über dein wahres Wesen erfahren…« Doorn lachte laut auf. »Mein wahres Wesen…!« »…vermutlich hättest du nicht einmal die Verwandlung nach der Abstoßung deiner Fruchtkapsel vollzogen! Vermutlich hättest du dich sogar um zehntausend Jahre Lebenszeit gebracht…!« »Ihr könnt euch schon denken, wie es weiterging.« Doorns Stimme klang sarkastisch, seine Miene war voller Spott. »Er stöberte mich auf und rettete mich. Mit anderen Worten: Er belagerte mich tagein, tagaus, er kaute mir die Ohren ab…« »Du hattest keine Ohren, du bewegtest dich noch in der quallenar‐ tigen Gestalt der Worgun durch die Szene auf Dockyard…« »Quallenartig?« Doorn brauste auf. »Ich muß doch sehr bitten! Es gibt keine praktischere Körperform als die der Worgun!« »Wir trafen uns fast täglich, wir kamen uns näher.« »Leider.« »Arcdoorn war begierig, mehr über seine Andersartigkeit als Worgunmutant zu erfahren…« »Ich war geschockt!« »… und dann geschah, was niemand voraussehen konnte…« »Du wußtest genug über diese Brüder!« Doorn sprang auf. »Warst doch selbst einer von ihnen! Du hättest es voraussehen müssen!« Dalon verstummte. Betroffen senkte er den Blick. Arc Doorn fiel zurück in seinen Sessel. Er spürte die vielen Au‐ genpaare, die ihn beobachteten. Finster stierte er auf den Boden. »Bist du wirklich so unversöhnt mit deinem Schicksal, Arcdoorn?« sagte Dalon leise. »Hätte ich dich nicht gefunden, und hätte er dich nicht gefunden – niemals wärst du bis nach Terra gekommen, Arc‐ doorn.« Der Sibirier antwortete nicht. Eine Zeitlang war es still in Trawis‐ heims Büro. Bis Dhark irgendwann die Beine übereinanderschlug
und sich zurücklehnte. »Ihr sprecht in Rätseln«, sagte er. »Merkt ihr das nicht?« Er wandte sich an den Worgun in Ceradengestalt. »Er‐ zählen Sie weiter, Dalon, bitte.« * Ich parkte die ASGOR in der Korona der Sonne von Dockyard. Mit einem Flash landete ich auf dem Raumhafen, wie Arcdoorn schon erzählte. Vertreter vieler Völker tummelten sich auf dem wunder‐ baren, noch kaum erschlossenen Planeten – ich fiel nicht weiter auf. Ich trat an Arcdoorn mit der Bitte heran, mich in Worgunphilosophie zu unterrichten. Mein Ansinnen wunderte ihn nicht wenig, aber ich bot ihm Geld, und so erklärte er sich einverstanden. Über Monate trafen wir uns wöchentlich. Zunächst, um die wich‐ tigsten Philosophen Epoys zu lesen und ihre Denksysteme zu disku‐ tieren. Dabei kamen wir uns näher, wie ich bereits andeutete. Und bald sprachen wir über das Dasein als Worgunmutant genauso in‐ tensiv wie über die Kriterien vernünftigen Handelns oder die Mög‐ lichkeit einer Existenz nach dem physischen Aus. Arcdoorn stand damals kurz vor seiner Privatzeit – erwähnte ich das schon? –, in seinem Hirn reifte eine einzelne Fruchtkapsel heran. Ich gab mich als Worgunmutant zu erkennen, und er war ganz heiß darauf, mehr über mich und über Mutanten zu erfahren. Was für ein unerfahrener, vielversprechender junger Worgun! Ich erinnere mich genau an den Tag, als wir in einem Gleiter in die unbesiedelte Wildnis Dockyards flogen. Arcdoorn hatte einen freien Tag, und während wir am Ufer eines reißenden Flusses an einem Feuer saßen und Fisch brieten, führte ich ihn in die Geheimnisse der Mutantenexistenz ein: nur eine Fruchtkapsel, die absterben würde oder degenerieren; die Metamorphose danach würde die letzte sein; der Preis für mindestens zehntausend Jahre Leben andererseits; und so weiter und so fort. Arcdoorn war genauso schockiert wie seinerzeit ich, als Aimis
mich über meine Andersartigkeit aufgeklärt hatte. Nur hatte ich damals die niederschmetternde Erfahrung einer verlorenen Frucht‐ kapsel und einer entsprechend kurzen Privatzeit bereits hinter mir. Arcdoorn jedoch sah den Freuden eines Muttervaters noch entgegen, und er sträubte sich dagegen, all die Hoffnungen, Pläne und Freu‐ den, die er damit verband, einfach so fahrenzulassen. Den ganzen Tag über schoß er Frage um Frage auf mich ab. Ich versuchte, seinem kritischen Geist standzuhalten. Es geschah gegen Abend. Die Sonne über Dockyard sank bereits, und mit langen Klingen bahnten wir uns einen Weg durch den Re‐ genwald zurück zu meinem Gleiter. Plötzlich trat er aus dem Buschwerk – ein hochgeschossener, dür‐ rer Humanoider. Seine Ohrmuscheln waren schmal wie Blätter ter‐ ranischer Birken, sechs statt fünf Finger zählte ich an jeder Hand. Ein Luware, ganz eindeutig ein Luware. »Wer bist du, und was hast du hier verloren?« Ich sprach ihn nicht besonders höflich an, denn mir war gleich klar, daß er uns aufge‐ lauert, wahrscheinlich sogar seit dem Morgen verfolgt und belauscht hatte. Die unförmige Worgungestalt meines jungen Schützlings wälzte sich an mir vorbei. Ich konnte es nicht verhindern. »Es grüßt dich Dokemtar, Arcdoorn!« Der Luware ignorierte mich einfach. »Do‐ kemtar, der wie ein Luware aussehen mag, in Wahrheit aber ist, was auch du bist, Arcdoorn – ein Worgunmutant…« * »Dokemtar?!« An dieser Stelle der Erzählung mußte Ren Dhark einfach unterbrechen. »Dokemtar, das Ratsmitglied der Heimatlo‐ sen?!« Der Weißblonde sprang auf. »Wir trafen ihn vor drei Jahren am Rande von Orn! Bis wir seine DNS untersucht hatten, hielten wir ihn für einen körpermodifizierten Zyzzkt!« »Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist«, fuhr Dalon fort. »Ich
weiß nur, daß ich ihn damals, vor fast zweitausendvierhundert Jah‐ ren, hätte töten können. Doch ich verfehlte ihn.« »Er beschimpfte dich als Verräter, an viel mehr erinnere ich mich nicht…« Arc Doorn sprach leise. Aus schmalen Augen blickte er in eine Ferne, die wohl nur er kannte. Besonders schön konnte es dort nicht sein, denn seine Lippen waren auf einmal schmal und farblos, und eine tiefe Falte kerbte sich zwischen seinen Brauen ein. »Alles, was davor geschah – all die Tage, Wochen und Jahre davor – ist mir nur noch in einigen Bilderfetzen gegenwärtig…« »Das wundert mich nicht«, sagte Dalon. »Dokemtar forderte dich auf, mit ihm zu gehen. Er verlangte von dir, zur Seite zu treten, da‐ mit er mich, den Verräter, töten könne. Du aber tratest vor mich und riefst: ›Verschwinde‹!« »Na bestens«, seufzte Arc Doorn. »Dann sind wir also quitt.« Dalon verstand nicht oder wollte nicht verstehen. »Er wollte dich mitnehmen, er wollte dich für das geheime Netzwerk gewinnen, und als du ihm nicht folgen wolltest, zog er einen Strahler aus seinem Gewand. Ich stieß dich zur Seite, trat vor dich und zielte auf den Mutanten. Er ging hinter dem Stamm eines Urwaldriesen in De‐ ckung, mein Nadelstrahl entzündete den Wald, weiter nichts. Sein Nadelstrahl jedoch fuhr in deinen Worgunkörper, Arcdoorn. Wenn ich zurückdenke, schnürt es mir das Herz zusammen. Ich dachte, du wärst tot. Deswegen schrie ich vor Zorn und belegte Dokemtars Deckung mit Nadelstrahlen. Ich kann mir nicht erklären, wie ihm die Flucht gelingen konnte. Minuten später schon kreuzten Polizeigleiter über dem Wald. Keine Spur mehr von Dokemtar. Ich zog dich ins Unterholz und rief dann über Gedankensteuerung meinen Flash herbei. Es war mittlerweile dunkel…« Langes Schweigen im Büro des Regierungschefs. »Das müssen schreckliche Stunden für Sie gewesen sein, Arc«, sagte Amy Stewart irgendwann. »Keine Ahnung.« Der Mann, den sie auf der POINT OF bisher für einen Sibirier gehalten hatten, zuckte mit den Schultern. »Dalon
kann mir viel erzählen. Ich erinnere mich kaum daran. Ich weiß nur noch, wie ich eines Tages in der Medostation eines Ringraumers zu mir kam und ein einziger Wusch mich quälte – ich wollte weg, einfach nur weg.« »Arcdoorn war schwer verletzt«, fuhr Dalon fort, als er die fra‐ genden Blicke der anderen spürte. »Sehr schwer. Auf der Medosta‐ tion der ASGOR untersuchte ich ihn. Der Nadelstrahl hatte sein Ge‐ hirn getroffen. Die keimende Fruchtkapsel war vollkommen zerstört, ich mußte sie entfernen. Außerdem hatte der Energiestrahl genau die Zentren seines Hirngewebes unwiderruflich geschädigt, mit denen er die typische Worgunaura wahrnehmen konnte und von denen die Aurawellen ausgingen, die ihn für Artgenossen als Worgun er‐ kennbar machten. Mit anderen Worten: Arcdoorn kann weder einen Worgun auf normalem Wege erkennen, noch erkennt ein Worgun ihn als Artgenossen.« Jetzt richteten die Zuhörer am Konferenztisch ihre Blicke auf den Sibirier. Der nickte stumm. »Ich pflegte Arcdoorn monatelang. Er merkte natürlich, daß er ei‐ nen Sinn verloren hatte, über den er zuvor wie selbstverständlich verfügt hatte. Vor allem aber war er schwer deprimiert, weil er seine Fruchtkapsel eingebüßt hatte. Ich versucht ihm klarzumachen, daß kaum ein Mutant in der Lage war, seine Fruchtkapsel bis zur Reife auszutragen – er glaubte mir nicht. Damals fürchtete ich, er würde wahnsinnig werden oder noch schlimmer: seinem Leben von eigener Hand ein Ende machen. Eines Tages war sein Lager in der Medosta‐ tion leer. Auch der Platz im Flashhangar, wo mein Tarnflash stand, war leer. Arcdoorn hatte das Beiboot gestohlen und war geflohen…« * Fünf Terrawochen lang suchte ich Arcdoorn. Ich fand ihn schließ‐ lich in einem Sonnensystem, das ich nicht einmal vom Hörensagen kannte.
Eine blaue Welt schwebte in der Mitte der Bildkugel. Ihr Mond, von der Sonne angestrahlt wie sie selbst, stand als Sichel über ihr. Ein bezaubernder Anblick. Ich sah diese blaue Welt und wußte im selben Augenblick, daß der junge Mutant irgendwo auf ihr gelandet war. Ich selbst, wäre ich wie Arcdoorn ein Flüchtling auf der Suche nach einer Bleibe gewesen, hätte die gleiche Wahl getroffen. Der Planet würde einmal Terra heißen. Es war kein Kunststück, Arcdoorn zu folgen. Mein Tarnflash, mit dem er von der ASGOR geflohen war, konnte mich nicht abschütteln. Peilsender, die ich im Laufe der Jahrhunderte in das Beiboot eingebaut hatte, wiesen mir jederzeit den Weg. Eine kühne Entscheidung des jungen Arcdoorn, ausgerechnet auf Terra seine Zelte aufzuschlagen, denn der Planet zählte zu den Ta‐ buwelten, wie ich aus den Datenbanken meines Hyperkalkulators erfuhr. Das Gesetz von Epoy verbot es Worgun und anderen raum‐ fahrenden Zivilisationen, auf einer Tabuwelt zu landen. Das Gesetz schützte die Ureinwohner vor fremden Einflüssen. Auch die Prima‐ ten auf Terra sollten sich ungestört entwickeln können. Ich steuerte die ASGOR in die Korona des Zentralgestirns. Sorg‐ fältig versah ich einen meiner Flash mit einer Tarnvorrichtung, die ihn für die stationären Aufklärungssonden der Worgunflotte un‐ sichtbar machte. Das kostete mich sechs Tage Zeit. Doch es ging um einen jungen Worgunmutanten. Jeder Einsatz lohnte sich. Am siebten Tag nach meiner Ankunft im System stieg ich in den präparierten Flash und steuerte ihn aus der Sonnenkorona heraus zum drittem Planeten. Wenn ich mich recht erinnere, umkreiste ich die blaue Welt vier oder fünf Stunden lang, bis ich das Signal des Peilsenders zum ers‐ tenmal wieder empfing. Die Planetenmasse schwächte die naturge‐ mäß schwachen Signale noch weiter ab. Mein gestohlener Tarnflash befand sich irgendwo auf der Nordhalbkugel, gar nicht so weit vom Pol entfernt. Noch einmal sechs oder sieben Tage später ortete ich den Peilsen‐
der so exakt, daß ich eine Landung wagte. Ich ging viele tausend Kilometer von Ihrer heutigen Hauptstadt entfernt auf der andere Seite des Ozeans nieder, den Sie seit langem Atlantik nennen, wenn ich recht informiert bin. Der Ort, an dem ich meinen Flash ortete, lag etliche Breitengrade weiter nördlich als der Raumhafen, auf dem ich letzte Nacht mit der ASGOR landete. Ich glaube, in späteren Epo‐ chen nannte man den Staat, auf dessen zukünftigem Territorium ich mein Beiboot nach einer weiteren Woche fand, Dänemark. Es muß um das Jahr 340 vor Beginn Ihrer aktuellen Zeitrechnung gewesen sein. Mein Tarnflash stand am Rand eines Waldes aus mächtigen Bäu‐ men. Hier auf Terra nennen Sie solche Bäume Buchen, Eichen, Ul‐ men und Birken, wie ich gehört habe. Drei oder vier morsche Stämme, Geäst ohne Zahl und ein wohl mehrere Meter hoher Hau‐ fen aus Zweigen, ausgerissenem Buschwerk und Grasbüscheln be‐ deckten die Maschine. Ich lief ein paar Runden um den nicht wirk‐ lich unauffälligen Hügel herum, bevor ich ihn mit Nadelstrahlen in Brand setzte. Etliches Viehzeug, das sich unter ihm eingenistet hatte, floh vor den Flammen: Dutzende von Vögeln, ein paar stachelbe‐ wehrte Nager, ein Hundeartiger mit rötlichem Fell und ein paar Schlangen und andere Reptilien. Wie erwartet, befand Arcdoorn sich nicht an Bord. Aus den ge‐ speicherten Daten des Hyperkalkulators errechnete ich den Zeit‐ punkt seiner Landung auf Terra, aus diesem wiederum den Radius des Umkreises, in dem Arcdoorn sich noch bewegen mußte. Ich überflog die Gegend mit meinem Flash. Quadratmeter um Quad‐ ratmeter tastete ich die Region in den nächsten Tagen und Wochen mit Infrarotortung ab. Nicht ganz zwei Monate nach meiner Landung auf Terra peilte ich ein Energieniveau an, das den Entladungen eines mobilen Strahlers entsprach. Es war eine mondlose Nacht. Dicht über dem Boden fliegend, steuerte ich den Ort der ange‐
messenen Energieentladungen an. Das Land war flach, Wald be‐ deckte es weitgehend. Wärmeentwicklung ungewöhnlichen Aus‐ maßes lockte mich an. Der Hyperkalkulator meines Flash rechnete mir einen See inmitten eines Waldes in die Bildkugel. Der Wald brannte. Das Schilf des Seeufers brannte. Auf dem See selbst trieben schmale Boote voller Leichen. Einige dieser Boote brannten. Tote und Ertrinkende erfaßte die Infrarotortung auch auf dem Wasser. Am Ufer hielten sich etwa hundertfünfzig Humanoide auf. Die meisten saßen oder lagen im Schilf oder im hohen Ufergras. Etwa ein Viertel des Seeufers war bewaldet. Zwischen den Bäumen verharrten weitere Humanoide. Der Ortung nach waren alle mit Eisenwaffen ausgerüstet, aber niemand machte Anstalten zu kämp‐ fen. Ich landete zwischen Waldrand und Ufer. Dutzende primitiver Krieger versteckten sich in panischer Flucht im Wald. Die Situation war zunächst schwer zu interpretieren. Kein Befund, den die Messungen des Hyperkalkulators hervorbrachten, sprach zunächst für die Anwesenheit eines Worgun. Nur meine Intuition riet mir, Arcdoorn hier zu suchen. Bald bemerkte ich Wasserfahrzeuge auf den Monitoren der Auf‐ klärung, die weder brannten noch Leichen über den See trugen. Es waren zu Flößen zusammengebundene Baumstämme. Humanoide Gestalten knieten in demütiger Haltung auf ihnen. Ein paar Paddler steuerten die Flöße zur Seemitte hin, und jetzt erst entdeckte ich die Insel im Zentrum des Gewässers. Ein Feuer brannte auf ihr, und ein einzelner Humanoider saß neben dem Feuer. Ich verließ meinen Flash. Da lag ein Boot im Schilf. Eingeborene hatten es zurückgelassen, als sie vor meinem Beiboot geflohen war‐ en. Ich schob es ins Wasser und fand ein Paddel in seinem Rumpf. Mit ihm in den Fäusten kniete ich am Bug nieder. Rasch trieb ich das primitive Gefährt über den See. Ich überholte Flöße, Einbäume und kleine Segelschiffe. Am Ufer der Insel ange‐ kommen, sprang ich aus dem Boot und zog es an Land. Überall trieben Kähne kieloben im Wasser, überall Leichen im Uferwasser,
im Schilf und im Gras der Insel. Über sie hinweg stapfte ich bis zu jenem Feuer. Der Humanoide am Feuer rührte sich nicht. Er hatte rotes Haar, war größer als die Barbaren auf den Flößen und ziemlich kräftig gebaut. Um ihn herum knieten oder lagen terranische Ureinwohner im Gras, als wagten sie nicht, dem Rothaarigen zu nahe zu kommen. Ich aber wagte es. »Du bist Arcdoorn!« rief ich ihm schon von weitem zu. »Was berechtigt dich, auf einem verbotenen Planeten zu lan‐ den?« »Bin ich nicht berechtigt, mein Leben zu retten?« rief er. Er machte nicht einmal den Versuch, sich zu verleugnen. »Das muß mir kein Gesetz erlauben! Warum verfolgst du mich, Dalon?« »Komm mit mir, Arcdoorn. Laß uns zusammenarbeiten. Ich mag dich.« »Diese da mochten mich nicht.« Arcdoorn deutete auf die Barba‐ ren, die vor ihm im taufeuchten Gras lagen. Im rauchenden Schilf zogen mit Fellen vermummte Gestalten ihre Boote aus dem Wasser. Sie warfen sich ins Gras. Unverständliche Worte murmelnd, rutsch‐ ten sie auf den Knien näher. »Sie wollten mich ermorden. Ich habe die meisten von ihnen getötet!« Arcdoorn hob beide Arme und stieß eine Art Kampfschrei aus. In der Linken hielt er seinen Strahler, in der Rechten ein schweres Werkzeug aus meinem Tarnflash: einen Allzweckhammer. Wer von den Barbaren noch nicht auf dem Bauch lag, warf sich jetzt flach ins Gras. Alle stießen sie einen langgezoge‐ nen Schreckensruf aus. »Sieh hin, Dalon – sie halten mich für einen Gott!« »Komm mit mir, Arcdoorn. Wir fliegen zurück nach Orn.« »Kapierst du nicht? Hier werde ich das Leben eines Gottes führen, bei den verfluchten Worgun werde ich immer ein Außenseiter und Verfolgter sein. Laß mich in Ruhe, Dalon. Ich habe ihre Gestalt an‐ genommen, ich bleibe bei diesen Wilden.« Ein paar Wochen blieb ich bei ihm. Ich redete auf ihn ein, schalt ihn, malte ihm unsere gemeinsame Zukunft in den rosigsten Farben.
Arcdoorn blieb bei seinem Nein. Ich erlebte mit, wie ihm die Barba‐ ren einen für ihre Verhältnisse prachtvollen Holztempel bauten, ich erlebte mit, wie sie ihm ihre Töchter als Frauen und ihre wertvollste Jagdbeute als Geschenk anboten. Nach drei Monaten sah ich ein, daß es für Arcdoorn wohl keine Alternative zu einem Leben auf Terra gab. Ich verabschiedete mich und ließ Terra hinter mir. Für mehr als zweitausend Jahre… * Minutenlanges Schweigen. Bis Trawisheim sich räusperte. Unge‐ duld spiegelte sich in seiner Miene. »Ist das alles wahr, Arc?« fragte Dhark leise. »Ja.« Der Sibirier, der in Wahrheit ein Worgun war, erhob sich. »Und nun muß ich mit Doris sprechen.« »Da haben Sie recht, Arc.« Ren Dhark seufzte. Noch immer fas‐ sungslos schüttelte er den Kopf. »Sie müssen mit Ihrer Frau spre‐ chen, so schnell wie möglich.« »Dann gehen wir an die Arbeit, Herrschaften.« Trawisheim gab das Zeichen zum Aufbruch. Während einer nach dem anderen sein Büro verließ – noch immer sprach niemand ein Wort –, bedeutete er sei‐ nem Vorgänger zurückzubleiben. Er schloß selbst die Tür hinter Eylers, der den Raum als letzter verließ. »Ein Wort noch unter vier Augen, Dhark.« Trawisheim wies noch einmal auf den Konferenztisch. Sie nahmen Platz. »Ich weiß nicht, ob diese Blauhaut genau lesen wird. Es gibt da einen kleinen Absatz, der regelt, daß dieses Dokument nur solange gilt, wie Dalon mit Ihnen zusammenarbeitet.« Dhark nickte. »Ich denke, das sollten Sie wissen. Und sehen Sie zu, daß der Worgun nicht Ihrer Kontrolle entgleitet. Ich habe immer ein schlechtes Gefühl, wenn diese Intelli‐ genzbestien irgendwo mitmischen…« Einige Minuten später schwang sich Ren Dhark in der Tiefgarage des Regierungspalastes aus dem Antigravlift. Die anderen saßen
bereits im Gleiter. Alle bis auf Arc Doorn – der wartete auf einen heranschwebenden Mietgleiter, den er offensichtlich bestellt hatte. Über sein Armbandvipho funkte Dhark Dan Riker an. »Was ist mit Doorn los?« »Setzt sich ab«, antwortete Riker. »Glaubt wohl, wir würden ihn jetzt aus der Kernmannschaft ausschließen.« »Fliegt los. Ich komme mit Arc.« Er lief zu dem Mietgleiter. Der Sibirier saß bereits im Font. Dhark sprang in das Fahrzeug und nahm neben ihm Platz. Der Pilot saß in einer abgetrennten Kabine. Er fuhr los und folgte dem anderen Gleiter. Über Vipho funkte der weißblonde Raumfahrer seinen Ersten Of‐ fizier an. »Hören Sie, Falluta. Wir kommen zurück. Sorgen Sie bitte dafür, daß Bert Stranger eine angemessene Kabine zugewiesen wird.« »Schon geschehen, Commander.« »Sehr gut. Dann machen Sie bitte die POINT OF startklar und schalten Sie eine Dauerverbindung zur ASGOR. Wir fliegen ge‐ meinsam mit Dalon nach Hope. Ich will, daß wir in vierzig Minuten starten.« »Verstanden.« Dhark unterbrach die Verbindung und wandte sich an Arc Doorn. »Machen wir es kurz, Arc. Wir arbeiten seit Jahren zusammen. Ich weiß, daß ich mich auf Sie verlassen kann, und Sie wissen, daß Sie sich auf mich verlassen können. Ich weiß, daß Sie für mich mehr sind als nur ein Besatzungsmitglied oder irgendein Gefährte, und Sie wissen, daß ich für Sie mehr bin als nur der Commander oder ir‐ gendein Gefährte. Dabei bleibt es. Gene, Herkunft, Geschichte, Gat‐ tung – alles gleichgültig. Alles bleibt, wie es war. Haben Sie das ver‐ standen?« »Schon okay.« Zurück auf der POINT OF hatte Arc Doorn es eilig, in seiner Ka‐ bine zu verschwinden. Dort wartete seine ahnungslose Frau Doris.
Sie tat Dhark leid…
6. Mit gelassener Miene saß Roy Vegas in seinem Sessel in der Hauptzentrale der ANZIO, des neuen Schulschiffs der Terranischen Flotte. Der Umstand, daß sich der Ovoid‐Ringraumer der Rom‐Klasse innerhalb der Korona einer namenlosen Sonne befand, schien den Kommandanten des Flottenschulschiffes nur marginal zu beschäftigen. Ohne den Blick von den Anzeigen auf der Konsole vor ihm zu wenden, machte er den Anschein, einer inneren Stimme zu lauschen. In gewisser Weise traf das zu: Er verfolgte die knappen In‐ formationen des Hyperkalkulators, die dieser ihm über den Emp‐ fänger in seinem rechten Ohr zukommen ließ. Gleichzeitig lieferte ihm die Bildkugel eine Sicht auf das Medium, das die ANZIO umgab, wie sie selbst einem weltraumerprobten Mann wie ihm nicht alle Tage geboten wurde. Das Flottenschulschiff befand sich in einem kochenden Ozean aus glühendem Plasma und hochenergetischen Neutronenströmen, die sich, transportiert von Magnetfeldlinien, immer wieder durch die unsichtbare Barriere des Doppelintervallums stürzten, das die ANZIO umgab, und sie doch nicht erreichen konnten. Vegas warf einen Blick auf seinen Ersten Offizier. Hauptmann Olin Monro, 173 Zentimeter groß, 80 Kilo schwer, 38 Jahre alt und schwarzhaarig, strahlte Gelassenheit und Ruhe aus. Vegas wandte seine Aufmerksamkeit seinem Ortungsoffizier zu. »Status der Null‐Eins‐Eins, Mister Bekian?« »Ziel so gut wie erreicht, Kapitän«, verkündete Vegas’ Dritter Of‐ fizier. Hauptmann Kerim Bekian war mit seinen 35 Jahren ein alter Hase in der Zentrale und hatte die Ortungseinrichtungen unter sich. Unvermittelt fiel die Bildübertragung aus, nur die Tonphase stand noch, wie die Instrumente zeigten. Roy Vegas verzog ärgerlich und überrascht das Gesicht; das war
nicht gerade das, was er jetzt in diesem sensiblen Moment brauchen konnte. »Herrjeh!« Einer der Ortungstechniker setzte sich kerzengerade auf. »Verdammt!« murmelte ein anderer. »Nummer Drei«, sagte der Oberst scharf und laut, und seine Miene drückte Ärger aus, »was ist los?« »Kann ich nicht sagen, Kommandant«, gestand der Ortungsoffizier und verstummte. In der Zentrale war gerade noch zu hören, wie McGraves »Phan‐ tastisch…!« flüsterte. Gleich darauf erfolgte ein gräßlicher Schrei aus zwei Kehlen. Und mit dem Schrei erlosch das Signal des Flash auf sämtlichen Ortungseinrichtungen in der ANZIO. Roy Vegas sog den Atem durch die Zähne und versuchte mit die‐ ser unerwarteten Situation fertigzuwerden, während jeder in der Zentrale auf eine Reaktion von ihm wartete. Die kam binnen weniger Sekunden. »Mister Mavor!« »Sir?« Kopilot Jon Mavor, Mitglied der regulären ANZIO‐Besatzung von 50 Mann, saß vor seiner Konsole wie auf dem Sprung. »Wir verlassen unsere gegenwärtige Position. Setzen Sie Kurs auf den vierten Planeten. Volle Beschleunigung!« Keine zwanzig Sekunden waren vergangen, seit Flash 011 von den Ortungsschirmen verschwunden war – und schon ließ die ANZIO die Sonnenkorona hinter sich. Obwohl von den Fremdraumern weit und breit nichts mehr zu sehen war, die Taster nicht das geringste Echo auffingen, flog die ANZIO mit voll aktiviertem Tarnschutz. Sie erreichte den Planeten innerhalb kürzester Zeit, landete im Schutze ihres Intervallums exakt tausend Meter entfernt vor der Höhle, in der erhebliche Mengen von Bauteilen des ausge‐
schlachteten und komplett zerlegten fremden Raumers deponiert lagen. Die ANZIO setzte sanft wie eine Feder auf dem Boden auf. Neun Zehntel ihres Gewichtes wurden dabei von A‐Gravpolstern getra‐ gen, der Rest verteilte sich auf 45 Paar kurze Ausleger, die sämtliche Geländeunebenheiten nivellierten. Die transparente Sphäre der großen Bildkugel über der Kom‐ mandokonsole erlosch, an ihrer Stelle erschienen die Hologramme der fünf Zentralbildschirme, die der Besatzung in der Leitzentrale einen Panoramablick auf die Umgebung des Ringraumers boten. Vegas nickte seinem Zweiten Offizier zu. »Mister Godel, was zeigt die Atmosphärenanalyse? Haben wir Überraschungen zu erwar‐ ten?« Jay Godel tippte ein paar Bedienungstasten, wartete Sekunden, bis sich die Daten auf einem Nebenschirm zeigten, dann gab er die Er‐ gebnisse seines Tuns bekannt. Seinen Worten zufolge war die At‐ mosphäre des fremden, namenlosen Planeten ähnlich jener der Erde. »Nichts Schädliches, Sir«, verkündete er. »Sauerstoff, Stickstoff, Kohlendioxid und die übrigen Spurengase, alle in vertretbaren An‐ teilen und der richtigen Zusammensetzung, um keine Atemschwie‐ rigkeiten zu bekommen. Keine Anzeichen für eine Kontaminierung durch Radioaktivität. Keine Bodenflora, die uns gefährlich werden könnte. Wir können uns ohne Einschränkungen in dem Gelände bewegen.« »Gut.« Vegas sah seine Nummer Drei auffordernd an. »Was ist mit dem Flash?« »Tut mir leid, Sir«, bedauerte der Hauptmann an der Or‐ tungseinrichtung, »wir können zwar die Höhle und ihre ungefähre Ausdehnung erfassen, aber der Flash selbst ist überraschenderweise nicht zu orten.« Roy Vegas runzelte die Stirn. »Gibt es einen Grund dafür?« »Unbekannt«, gestand Kerim Bekian unumwunden. Seine Miene drückte aus, daß er ebenso überrascht über das Nichtzustande‐
kommen eines Kontakts war wie wohl die meisten in der Zentrale. Er zögerte einen Moment, dann fügte er hinzu: »Es scheint, als verhin‐ dere ein Dämpfungsfeld eine genauere Erfassung.« »Ausdehnung?« »Es reicht ziemlich weit in den Berg hinein, Sir.« »Anzeigen von Energien?« »Es scheint da ein Reaktor mit geringer Leistung zu existieren. Vielleicht ein reduziertes Notenergieerzeugungssystem.« »Hmm.« Die senkrechte Falte über Vegas’ Nasenwurzel vertiefte sich. »Versuchen Sie, den Major über Hyperfunk zu kontaktieren. Wir müssen wissen, was vorgefallen ist.« »Aye, Sir. Sofort.« To‐Funk brachte kein Ergebnis; trotz intensivster Bemühungen der Funk‐Z antworteten weder McGraves noch Darren Skerl auf die Rufe der ANZIO. »Dies ist etwas merkwürdig«, brachte es Hauptmann Olin Monro auf den Punkt. »Was kann da passiert sein?« Vegas fuhr seinen Sessel zurück, umfaßte die Lehnen mit einem Griff, der die Fingerknöchel weiß werden ließ, und starrte auf die Schirme, als könnten die ihm das Rätsel der unterbrochenen Ver‐ bindung zum Flash verraten. Schließlich sagte er: »Finden wir es heraus. Nummer Drei, senden Sie auf der normalen Funkfre‐ quenz…« * Vor diesem Ereignis… Die Null‐Eins‐Eins befand sich bereits auf ihrer Abwärtsflugbahn. Die Planetenkrümmung war gerade aus dem Blickfeld Skerls und McGraves’ verschwunden. Schon beim Anflug hatte die Welt keinen besonders anheimelnden Anblick geboten, dieser Eindruck verstärkte sich für die beiden In‐ sassen noch, je tiefer sie kamen.
»Eine Wüstenwelt, marsähnlich«, ließ sich Darren Skerl ver‐ nehmen. Der Oberleutnant saß auf dem Platz des Piloten. Er schal‐ tete mit einem Gedankenbefehl die Frontansicht auf den Schirm des Majors, der mit dem Rücken zu ihm saß, so daß dieser den Anflug verfolgen konnte. Flash waren zweisitzig. Die Piloten hockten Rücken an Rücken vor zwei halbkreisförmigen Instrumentenpulten mit je der gleichen An‐ zahl von Armaturen. Das Gewicht der Beiboote, von denen auch die neuen Ovoid‐Ringraumer 28 Stück an Bord hatten, betrug 4,7 Ton‐ nen, die sich beim Landen auf sechs gespreizte, spinnbeindünne, bis zu 3,20 Meter langen Teleskopbeine verteilten. Die Flächenprojekto‐ ren waren in ellipsoider Form unter dem Rumpf angebracht; Brennpunkt und ‐kreis wurden 1,20 Meter unter dem Rumpf wirk‐ sam. Die Flash waren überlichtschnelle Boote, deren Aktionsradius noch nicht ausgelotet worden war. Ihre Steuerung erfolgte manuell oder direkt über die Gehirnströme beim Denkvorgang. Ein Intervallfeld umgab die Flash in circa 40 Zentimeter Abstand. Es ermöglichte ihnen, auch im Normalraum mit mehrfacher Über‐ lichtgeschwindigkeit zu operieren. Gleichzeitig diente das Interval‐ lum als fast unbezwingbarer Schutzschirm und ermöglichte das Durchdringen jeglicher Materie. »Zweifellos«, bestätigte McGraves. Sie hatten schon bei der Annä‐ herung bemerkt, als der Planet noch wie ein Ball aus un‐ terschiedlichen Rot‐ und Gelbtönen im All hing, daß sie eine un‐ wirtliche Welt erwartete. Eine Welt, die sie bislang nur aus der Perspektive der Sonden zu Gesicht bekommen hatten; in kürze würden sie sie persönlich in Augenschein nehmen können. »Rot, leer, trostlos«, setzte der Major seine Aufzählung der Nega‐ tivliste fort. »Kaum Pflanzenwuchs. Alles versteppt oder Wüste. Kein Platz, an dem man länger verweilen möchte, wenn man nicht gerade Masochist ist.« »Immerhin besitzt der Planet eine ausreichend dichte Atmosphäre, um sich ohne Raumanzug auf ihm bewegen zu können«, stellte der
Oberleutnant fest. Die Sekunden spulten ab, während die Null‐Eins‐Eins ihren Ab‐ stieg fortsetzte. Die Oberfläche kam rasend schnell näher. McGraves übermittelte seine Beobachtungen an die ANZIO – der To‐Funk war ständig aktiviert, die Verbindung mit dem Schiff war wichtig –, während er die Landschaft unter ihnen vor Augen hatte, eine sich nahezu unendlich erstreckende Wüste. Durchschnitten nur von einigen Höhenrücken, die sich um den halben Planeten zogen. Es war noch immer rätselhaft, was die Fremdraumer hier gesucht hatten. Leben sicher nicht – gab es überhaupt Leben auf dieser öden Welt? Der Flash näherte sich dem Ziel. Vor gar nicht allzu langer Zeit erst hatte hier ein Kampf statt‐ gefunden. Ein ungleicher Kampf. Ein Kampf unter Brüdern, bei dem ein einzelner, unbewaffneter und nicht mit Schutzschirmen ausgestatteter Fremdraumer von drei anderen, identischen Schiffen im wahrsten Sinn des Wortes in seine Einzelteile zerlegt worden war. Keine Trümmer kündeten mehr von der erbitterten Auseinan‐ dersetzung zwischen den Robotern, keine abgerissenen Teile oder Metallfetzen. Die abziehenden Fremdraumer hatten ganze Arbeit geleistet und nicht die geringste Spur des Kampfes hinterlassen, so als wollten sie jeden Hinweis ihrer Präsenz auf dieser Welt tilgen. Dennoch hatten sie ein unübersehbares Zeichen hinterlassen… »Da ist der Eingang, Sir«, stellte Skerl fest. »Ich sehe ihn«, bestätigte Major McGraves. Wie eine rostrote Mauer verlor sich die nahezu senkrechte Fels‐ wand in der hitzeflimmernden Ferne, ein steinerner Wall, der vor unzähligen Dekaden durch eine planetare Verwerfung gebildet worden war und mehrere hundert Meter in den Himmel ragte. Ein‐ ziger Fremdkörper darin: das Schott. Es schimmerte stumpfgrau im Sonnenlicht, wie massiver Stahl
oder ähnliches Material. Skerl übernahm den Flash per Handsteuerung und flog näher an die metallene Konstruktion heran. Kurz verharrte Flash 011, zwei Meter über dem Boden schwebend. Roy Vegas meldete sich. »Seien Sie vorsichtig, Chester. Sie wissen nicht, was Sie erwartet.« »Bin ich doch immer, Skipper«, beschwichtigte der dreiundvier‐ zigjährige Schotte, und seine üblicherweise permanent traurig bli‐ ckende Miene wurde von einem kurzen, unerwarteten Lächeln er‐ hellt. »Wie Sie sagten, wir wissen nicht, was uns erwartet, aber ich bin verdammt neugierig, es herauszufinden.« Dann richtete er das Wort an seinen Piloten: »Worauf warten Sie, Oberleutnant? Wollten wir nicht da hinein?« »Natürlich, Major.« Skerls Hand an der Steuerung bewegte sich – und der Flash glitt durch das massive Metall des Schotts, als wäre es nicht vorhanden. Das Intervallum, ein eigenständiges, künstlich erzeugtes Miniuni‐ versum, hob einfach die Naturgesetze des normalen Raumes für sich auf. McGraves fühlte weder einen Stoß noch sonst einen Widerstand; in der Einschätzung seiner subjektiven Sinneseindrücke, die ihn beim Durchdringen des massiven Tores erreichte, war es, als würde er durch einen Luftvorhang gehen. Knapp über dem Boden kam der Flash zum Stillstand. Antigrav hielt ihn in der Schwebe. Die Kaverne im Berg war von ihren Erbauern weiträumig angelegt worden; auf das, was die beiden Männer im Innern erwartete, war keiner vorbereitet. McGraves zog scharf die Luft ein. »Sehen Sie sich das an, Oberleutnant!« Skerl gab keine Antwort, offensichtlich sprachlos geworden von dem, was sich seinen Blicken bot. Schließlich stieß er mit heißerer Stimme hervor: »Was ist das, Sir?« »Wonach sieht es denn aus, Mister Skerl?«
Darauf gefaßt, eine Ansammlung von zerlegten Wrackteilen des auseinandergenommenen Schiffes vorzufinden, übertraf das, was sie wirklich zu Gesicht bekamen, ihre Erwartungen in jeder Hinsicht. Was die Roboter der drei Fremdraumer tatsächlich in der Höhle deponierten, waren allem Anschein nach Teile, wenn nicht vollstän‐ dige Rechnereinheiten aus der Steuerung des vierten Schiffes. In einer Ecke der Höhle stand die Anlage und nahm mit einer Größe von zirka achttausend Kubikmetern einen erheblichen Platz für sich ein. Und schon auf den ersten Blick wurde deutlich, daß die Sieger des ungleichen Kampfes den Hauptrechner, wenn es denn einer war, weder stillgelegt noch deaktiviert oder gar zerstört hatten. Nein, das Gegenteil war der Fall. Er arbeitete! In die glatten, schwarzen Außenflächen eingelassen waren leuch‐ tende Muster. Nicht zur Dekoration, wie dem Major rasch klarwur‐ de, sondern technischer Natur, ausschließlich zweckbestimmt. Win‐ zige, flackernde Funken huschten über die glatte Oberfläche, unzäh‐ lige winzige Lichtpunkte, die sich zu Gruppen zusammenballten und spiralig wieder auseinanderstrebten. Dicke Energieleitungen kamen aus der Wand hinter dem Rechner, liefen entlang der Decke und verschwanden über massive Kupp‐ lungen in dem Rechner. Jenseits der Wand mußte sich in einer Nebenhöhle der Meiler be‐ finden; ein beständiges Brummen lag gerade so an der Schwelle des Hörbaren. Die beiden Männer hatten gar keine Zeit, all die zahlreichen Ein‐ drücke zu verarbeiten und einzuordnen, denn schon kam Bewegung in einen sinnverwirrenden Mechanismus, eine so unglaublich bi‐ zarre Roboterkonstruktion von über zwei Metern Größe, daß sie zu beschreiben den Männern Zeit und Worte fehlten. »Phantastisch…!« murmelte Chester McGraves und betrachtete mit aufkeimender Unruhe die Maschine, die sich in ihre Richtung bewegte. Anstelle eines Kopfes hatte sie eine Zusammenballung von zylin‐
derartigen Fortsätzen, Augen fehlten ihr ganz. Dennoch, McGraves fühlte regelrecht, daß sie sich ihrer Anwesenheit bewußt war. Und als sie vier vielgelenkige Arme hob und mit gespreizten Endgliedern in Richtung des Flash streckte, erkannte er mit schlagartig wach‐ sender Bestürzung, daß sie in allergrößter Gefahr schwebten. Doch für eine wie auch immer geartete Gegenwehr war es zu spät. Noch während er den Mund öffnete, um eine Warnung aus‐ zustoßen, lösten sich zuckende Blitze aus den »Fingern« des Robo‐ termonstrums, drangen durch das Intervallum und setzten den Flash unter Strom. Es war, als glitte ein Impuls aus glutflüssigem Metall durch McGraves’ Körper, der sämtliche Nervenenden auflodern ließ. Der Schmerz war von einer bislang nie gekannten Intensität und brachte ihn dazu, seine Pein lauthals hinauszuschreien. McGraves fühlte einen Stoß, und in einer letzten, ver‐ schwimmenden Einschätzung seiner Sinneseindrücke, die ihn durch all den Schmerz erreichten, hörte er Darren Skerl ebenfalls auf‐ schreien. * Der Major kam zu sich. Er wußte nicht genau warum, aber er hatte das Empfinden, an ei‐ nem Stromkreis angeschlossen zu sein, der jeden einzelnen Nerv in seinem Körper unter Spannung hielt. Stromkreis? Spannung? Elektrische Spannung? Natürlich! Von einer Sekunde zur anderen kehrte die Erinnerung in ihm zu‐ rück: der Angriff des Roboters… der unsägliche Schmerz… die Ohnmacht… Und…? Ja, er war nicht mehr in der 011, definitiv nicht, sondern lag mit dem Rücken auf hartem Boden, über sich eine Decke
aus Gestein. Die Höhle! Ächzend setzte er sich auf. Wieviel Zeit vergangen war, seit dieser bizarre Roboter mit seinem Blitzgewitter ihn und den Oberleutnant ins Land der Träume geschickt hatte, konnte er nicht sagen, da sein letzter Blick auf das Chrono schon länger zurücklag. Vielleicht eine Minute, vielleicht zehn – vielleicht aber auch viel weniger. Dann ein neuer Laut. Ein Laut aus menschlicher Kehle. Eben rappelte sich der zur Besinnung gekommene Oberleutnant hoch. McGraves blickte ihn an. Forschend. »He, sind Sie in Ordnung?« fragte er. Skerl nickte steif. Mit zusammengekniffenen Augen orientierte er sich. »Teufel auch«, stieß er hervor und grinste verzerrt, »soviel zur Unverwundbarkeit unseres Intervallums. Einen schnelleren Blackout habe ich selten erlebt!« Seiner Miene sah man an, daß er irritiert war über diesen unerklärlichen Vorgang; was mußte das für eine Technik sein, die ein Intervallum durchdrang wie eine Seifenblase? »In der Tat«, bestätigte McGraves mit belegter Stimme – die Stimmbänder hatten durch den lauten, anhaltenden Schrei etwas gelitten – und erhob sich. Unwillkürlich langte er nach seiner Waffe. Er griff ins Leere, sie war nicht mehr da. Jemand in dieser Höhle hatte ihre Bedeutung erkannt und ihn und vermutlich auch den Oberleutnant kurzerhand entwaffnet. Er schaute sich um. Die Kaverne war bevölkert von mechanischen Geschöpfen, die zu beschreiben der menschlichen Ausdruckskraft die Worte fehlten. Maschinen, völlig ungewöhnlich in Aussehen und Funktion, bauten andere Maschinen, vielgliedrige Gelenkeinheiten, die herumspran‐ gen und Dinge verrichteten, deren Sinn und Zweck den beiden Ter‐ ranern zunächst verborgen blieben. Federn und Drähte surrten, ge‐
zahnte Räder drehten sich, auf manchen der Mechanischen saßen optische Vorrichtungen; andere Roboter, von denen keiner dem an‐ deren glich, erweckten den Anschein, ohne visuelle Hilfen auszu‐ kommen. In der Tiefe des unterirdischen Gewölbes waren Roboter damit beschäftigt, mit Grabwerkzeugen anstelle von Armen Stollen in den Berg zu treiben. Ein hoher Pegel mißtönender Geräusche herrschte in der Kaverne. Metall schlug auf Metall. Irgendwo liefen Maschinen mit hohem Tempo, kreischten mechanische Vorrichtungen, sprühten bläuliche Funken, wurden Metalle durch elektrische Spannungsbögen erhitzt. Viele der Maschinen bewegten sich zielgerichtet, als würden sie eine intelligente Funktion erfüllen, andere liefen scheinbar willkür‐ lich und ohne erkennbare Führung durch wen oder was auch immer in der Kaverne herum. Alles machte den Eindruck des Provisorischen, des noch Unferti‐ gen. »Hier wimmelt es ja nur so von Robotern«, stellte der Oberleutnant erstaunt fest. »Will hier jemand eine Armee aufstellen? Etwa einen Krieg anzetteln?« Die Frage war rhetorischer Natur, trotzdem antwortete McGraves. »Es sind Arbeitseinheiten«, gab er zu verstehen. »Keine Kampfro‐ boter. Kein Grund zur Panik, ich sehe keine Waffen.« Jedenfalls noch nicht, setzte er in Gedanken hinzu. »Was nicht ist, kann ja noch werden«, brummte Skerl denn auch folgerichtig und trug sein Mißtrauen unverhohlen zur Schau. »Übrigens, haben Sie schon bemerkt, daß wir keine Verbindung mehr nach draußen haben?« fuhr er halblaut fort und wich fluchend einem Maschinenwesen aus, das geräuschvoll sein Wegerecht for‐ derte. »Der To‐Funk ist ausgefallen.« »Was ist mit dem normalen Funk?« »Den Anzeigen nach wird der von irgendwas daran gehindert, sich auszubreiten. Hmm, merkwürdig…« Skerl blickte auf sein Arm‐ bandvipho; eine Reihe winziger Dioden blinkten in rascher Folge.
»Hier drin gibt es jede Menge Funkverkehr auf Ultrakurzwelle, aber er ergibt keinen Sinn für mich.« »Wie denn auch«, gab ihm der Major zu verstehen, »die Signale sind nichts weiter als Befehlsparameter, mit denen der Rechner dort hinten seine Werkzeuge dirigiert. Was ist?« McGraves zog die Au‐ genbrauen hoch. »Was haben Sie, Oberleutnant?« Skerls Gesichtsfarbe hatte sich verändert, er war sichtlich bleich geworden. Er versteifte sich und machte eine Miene, als sähe er et‐ was sehr Unerfreuliches hinter dem Rücken des Majors. Er sagte, ohne auf die Frage des Majors einzugehen: »Was haben die mit unserer Null‐Eins‐Eins vor?« McGraves wirbelte herum, alarmiert vom Tonfall seines Piloten. Mit »die« meinte der Flashgeschwaderführer eine Gruppe autarker Maschinen, die einer unheilvollen Arbeit nachgingen. Der Flash stand auf seinen spinnbeinartigen Auslegern, die flü‐ geltürartige Luke hochgefahren. Umringt war er von den un‐ terschiedlichsten Robotertypen, die dabeiwaren – McGraves sträub‐ ten sich die Nackenhaare, als er sah, was da ablief – ihn fachgerecht zu zerlegen. Teile der Außenhaut waren bereits entfernt worden. Es tat den beiden Männern in der Seele weh, zu sehen, wie die Roboter einzelne Sektionen auseinandergenommen und fein säuber‐ lich auf verschiedene Haufen verteilt hatten, um die sich wieder andere Robotertypen bemühten. Zorn überkam den Oberleutnant. »He! Was macht ihr Kerle da?« rief er wütend und stapfte auf den Flash zu, seinem Ge‐ sichtsausdruck war zu entnehmen, daß er gehörig geladen war. Ein scharfer Befehl McGraves’ hielt ihn davon ab, sich in einen aussichtslosen Kampf mit den Mechanischen zu verstricken, bei dem er nur den kürzeren ziehen würde. »Wir haben keine Chance, Oberleutnant«, gab McGraves laut zu verstehen. »Unsere Waffen sind weg!« »Eine logische Erkenntnis, unüblich für Biomüll.« »Wie…?« McGraves sah sich um; sein Blick streifte Darren Skerl,
der die Schultern in einer Geste hob, die besagte, daß er ebensowenig wußte, wer da gerade zu ihnen geredet hatte. »Wer hat da gesprochen?« »Ich«, kam die einsilbige Antwort. McGraves blickte in die Richtung, aus der die Bemerkung kam. Eine insektenartige Maschine näherte sich ihnen. Sie stakste auf vielgliedrigen Laufwerkzeugen mit der Schnelligkeit einer Termite auf sie zu und richtete etwas Ähnliches wie ein Tentakel auf die Männer, während sie sich wie die Parodie eines mechanischen Hundes auf das hintere Beinpaar setzte. McGraves Brauen wölbten sich, als er sich von einem Linsensystem fixiert sah. »Du wohl kaum«, sagte er in Richtung des Roboters, der ihm nur bis zur Hüfte ging. »Nein, ich.« McGraves nickte, als sähe er bestätigt, was er bereits vermutete. Der Sprecher war mit Sicherheit der Großrechner in der Ecke, der sich über die Lautsprecher und Mikrophone seiner mechanischen Diener mit ihnen in Verbindung setzte. »Du kannst uns sehen?« »Natürlich.« »Und wie?« »Ich sehe durch die Augen und höre durch die Ohren meiner Diener.« »Wer bist du?« »Ich bin ich.« »›Ich‹ ist kein Name«, schickte McGraves über das »Sprachrohr« an die Adresse des Rechners. »Damit kann ich nicht viel anfangen. Wie heißt du?« Der Rechner hielt es nicht für nötig, darauf zu antworten. »Du sprichst unsere Sprache«, sagte Darren Skerl beiläufig. »Wo‐ her kennst du sie?« Das schien den Rechner herauszufordern.
»Es war ein leichtes, die Syntax eures primitiven Gestammels, das ihr Sprache nennt, dem Universalübersetzer an Bord eures winzigen Schiffes zu entnehmen.« Skerl und McGraves wechselten einen raschen Blick. Was hast du wohl sonst noch aus dem Speicher des Suprasensors geholt? dachte der Major. Laut sagte er: »Dennoch ist es bei uns üblich, sich vorzustellen, wenn man zum erstenmal miteinander in Kontakt tritt. Ich bin Major Chester McGraves und ein Mensch wie mein Gefährte, Oberleutnant Darren Skerl.« »Nennt mich Kosinus«, bequemte sich der Rechner wider Erwarten doch zu einer Antwort. »Wirklich Kosinus? Ein terranischer Begriff, du heißt nicht wirklich so.« »Ich fand die Bezeichnung im Speicher eures Beibootes«, ließ Ko‐ sinus die beiden wissen. »Warum nennst du dich ausgerechnet nach einer trigonome‐ trischen Funktion?« wunderte sich McGraves. »Ich finde die Funktion so schön«, kam die lapidare Antwort. »Hmm«, brummelte Skerl, warf dem Major einen bezeichnenden Blick zu und fuhr halblaut fort: »Was ist an dem Lehrsatz des Py‐ thagoras schön?« »Das liegt wohl im Auge des Betrachters«, versetzte der Major, und seine Mundwinkel zuckten. Er hob die Stimme. »Wir sind von der Erde. Wir sind denkende und fühlende Wesen.« »Und wir haben etwas dagegen, daß du unser Eigentum ver‐ nichtest«, fügte Skerl an. Das »Sprachrohr« blieb stumm; Kosinus fand es für unter seiner Würde, darauf zu antworten. McGraves befürchtete schon, der Rechner hätte seinen Vasallen deaktiviert, als er sich doch wieder zu Wort meldete. »Auch ich denke und fühle – dennoch bin ich anders als ihr – und weitaus besser. Mein Volk ist stark und unverwundbar und wird allen biologischen Müll aus der Galaxis fegen.«
Die Stimme war maschinenhaft. Der Roboter konnte übersetzen, aber keine Gefühle mit seinem Stimmenmodul erzeugen. Dennoch klang das Gesagte auf eine Art bedrohlich, daß den Terranern schauderte. McGraves blickte finster. »Dein Volk, wie heißt es? Woher kommt es?« »Du stellst Fragen, deren Beantwortung für euch nicht relevant sein dürfte«, antwortete der Rechner. »Ihr langweilt mich schon jetzt.« »Da du offensichtlich keinen Wert auf unsere Anwesenheit legst, beende wenigstens die Demontage unseres Fahrzeugs! Wie sonst sollen wir von hier verschwinden?« Skerls Stimme klang hart und bestimmt – und verfehlte ihre Wirkung gänzlich. »Ihr werdet diesen Ort nicht mehr verlassen«, lautete die seelenlose Antwort. Das verschlug dem Major zunächst die Sprache; neben ihm stand schweigend, erstarrt und mit bleichem Gesicht Skerl. Dann drang ein Grollen aus der Kehle des Oberleutnants. »Moment. Heißt das, wir sind Gefangene?« »Richtig erkannt. Für den Augenblick. Dann werde ich ent‐ scheiden, wie weit ihr entbehrlich seit.« »Entbehrlich?« Das klang gar nicht gut. Das klang sogar ausgesprochen schlecht. »Wann werden wir deine Entscheidung erfahren?« Major McGra‐ ves schien plötzlich die Ruhe selbst. »Sobald meine Analyse eures Schiffes abgeschlossen ist.« »Was versprichst du dir davon?« »Einen Weg, um diesen Ort zu verlassen.« McGraves nickte. Er hatte sich schon so etwas gedacht. »Warum versuchst du nicht, mittels Hyperfunk Hilfe her‐ beizuholen?« Diese Möglichkeit habe man ihm genommen, ließ Kosinus in
überraschender Erzähllaune verlauten. Er wäre auch nicht in der Lage, einen Hyperfunksender zu bauen, geschweige denn ein Raumschiff. Es gäbe auf diesem Planeten einfach nicht genug Rohs‐ toffe dafür. »Es scheint, du steckst in einem Dilemma«, stellte Skerl fest. »Nicht mehr lange, denn ich habe ja euch«, kam die etwas verwir‐ rende Antwort. »Wir sind ebensowenig in der Lage, dir ein Raumschiff zu bauen, wenn es das ist, was du von uns erwartest.« »Mir ist bewußt, daß eurer Gefährt nur Teil eines ungleich größe‐ ren Schiffes sein kann.« »Du erwartest doch nicht…« Skerl brach ab. Die Konsequenz des eben Gehörten verschlug ihm die Sprache. »Genau das erwartet er«, sagte McGraves, rang sich ein ver‐ kniffenes Lächeln ab und wechselte rasch entschlossen vom Angloter in das alte Englisch, das zwar nicht mehr zur Verkehrssprache zähl‐ te, aber deswegen noch lange nicht ausgerottet war. In der Gewiß‐ heit, daß ihm der Rechner nicht folgen konnte, fuhr er schnell fort: »Er hat den Köder schon ausgeworfen, als er unsere Funkverbin‐ dung zur ANZIO unterbrach. Er braucht nur zu warten, bis man sich Sorgen um unser Befinden zu machen beginnt und nachschauen kommt. Dann hat er sein Schiff quasi vor der Haustüre liegen.« »Verdammt! Wir sollten uns schleunigst eine Strategie aus‐ denken«, versetzte Skerl in derselben Sprache; von der Ostküste der ehemaligen Vereinigten Staaten kommend, hatte er keine Mühe damit. Die Worte schienen Kosinus zu verwirren. Sicher suchte eine Subroutine in seinem Innern die Sprachdatei des Flash nach einer Übersetzung ab, fand aber keine, da der Translator nur mit Angloter programmiert war. »Redet verständlich«, forderte er die Terraner auf, »oder es droht eure sofortige Vernichtung!« Lautsprecher waren nicht in der Lage, Nuancen einer Sprache zu
artikulieren, dennoch schien von Kosinus’ Ankündigung eine deut‐ lich spürbare Bedrohung auszugehen. »In Ordnung«, antwortete McGraves jetzt wieder in Angloter, »es war nur eine unbedeutende Funktionsstörung unseres Funk‐ moduls.« Friß es oder laß es sein, dachte er bei sich. Es wird jedenfalls höchste Zeit, daß wir etwas unternehmen… Als wäre das ein Stichwort gewesen, verstummte der Lärm so plötzlich, daß McGraves unwillkürlich zusammenschrak. Die ab‐ rupte Stille wirkte gespenstisch. Alle Roboter in der Höhle hatten ihre Tätigkeiten eingestellt und waren zur Reglosigkeit erstarrt.
7. »Wie gut, daß ich nicht unter Klaustrophobie leide.« In Ian Carus’ Gesicht zeichnete sich der Widerwille gegen die Bevormundung ab. »Sonst würde ich Ihnen in diesen Katakomben an die Gurgel gehen und abhauen.« Monty Bell zerdrückte ein Lächeln auf den Lippen. Natürlich hätte Carus seine Worte nicht in die Tat umsetzen können. Dafür hätten die beiden Sicherheitsleute gesorgt, die den Wissenschaftlern in ein paar Metern Abstand folgten. Carus machte jedoch keine Anstalten zu einer Flucht, sondern ließ sich von Bell durch die hellerleuchteten Gänge führen. Das Forschungsinstitut des Astrophysikers war eine abge‐ schlossene unterirdische Welt für sich. Es nahm das gesamte Kel‐ lergeschoß der zwischen dem Stadtrand von Alamo Gordo und Cent Field gelegenen Raumfahrtakademie ein. Unzählige Menschen waren in den Korridoren unterwegs, und man konnte sich relativ ungehindert bewegen. Ganz anders war das im speziell abgeschirmten und nur durch strenge Kontrollen zugänglichen Sicherheitstrakt des Instituts, durch den die beiden Männer gingen. Wenn auch hier reger Betrieb herrschte, war doch die Atmosphäre eine ganz andere. Mehr noch als im normalen Bereich roch es nach Geheimnissen, die einen un‐ bedarften Besucher zwangsläufig faszinieren mußten. Nicht so den jungen Schotten. Bell spürte, daß sein Schützling eine innere Abwehrhaltung eingenommen hatte, an der die Geheimnisse der staatlichen Forschungseinrichtung abprallten wie von einem Panzer. »Was ist, wenn ich plaudere und mein Wissen jemandem an‐ vertraue?« Carus deutete hinter sich, ohne sich umzudrehen. »Schießen Ihre Gorillas mich dann über den Haufen?« »Diese Männer dienen nur Ihrer eigenen Sicherheit.«
»Ach ja, und warum schützen sie mich dann nicht vor der räube‐ rischen Entführung durch diese verlogene Regierungsclique?« Bell hatte längst erkannt, daß er es mit einem zornigen jungen Mann zu tun hatte, der Gängelung nicht gewohnt war und jede Art von Bevormundung strikt ablehnte. Er mißtraute sämtlichen Auto‐ ritäten und Behörden. Das machte ihm Carus sogar sympathisch, doch in dieser Sache stand mehr auf dem Spiel als die Zufriedenheit oder Unzufrieden‐ heit einer einzelnen Person, nämlich das nationale Interesse der ge‐ samten Erde. »Niemand will Ihnen etwas tun. Trösten Sie sich ein‐ fach mit dem Gedanken, daß besonders fähige Menschen schon immer auch besondere Aufmerksamkeit genossen.« »Besonders fähig? Na, danke. Auf diese Art der Aufmerksamkeit verzichte ich liebend gern. Lassen Sie mich einfach gehen, und die Sache ist vergessen.« Bell sparte sich eine Antwort. Statt dessen sagte er: »Um auf Ihre anfängliche Frage zurückzukommen. In diesem Bereich sind sämt‐ liche Mitarbeiter über die drohende Katastrophe informiert. Sie würden also kein großes Geheimnis verraten.« »In dem Fall haben Sie sicher nichts dagegen, wenn ich es auspro‐ biere.« Zwei Männer in weißen Laborkitteln näherten sich ihnen. »Ich rede ein paar Takte mit diesen Herren.« »Bitte!« Bell machte eine auffordernde Handbewegung. »Lassen Sie sich nicht aufhalten.« Ihm entging nicht das Zucken um Carus’ Mundwinkel. Offenbar hatte er damit gerechnet, gehindert zu werden oder den Mund ver‐ boten zu bekommen. Die erhaltene Erlaubnis bestätigte ihm, tat‐ sächlich unter Eingeweihten zu sein. »Dann eben nicht«, murmelte er unzufrieden. Bell führte ihn in einen Seitentrakt, der weniger antiseptisch wirkte als der eigentliche Forschungsbereich. Sogar ein paar Bilder mit Mo‐ tiven von Planeten und Monden des solaren Systems hingen an der Korridorwand.
»Ihr privates Reich.« Der Leiter der Forschungsstadt betätigte den elektronischen Türöffner. Ein kleines, aber gemütlich eingerichtetes Apartment lag dahinter, in dem beim Eintreten der beiden Männer Licht aufflammte. »Mein Kerker, wollten Sie wohl sagen. Es gibt ja nicht einmal Fenster.« »Das ließe sich unter der Erde auch nur schwer bewerkstelligen. Der Blick nach draußen bleibt Ihnen trotzdem nicht verwehrt. Die Wände werden per Knopfdruck zu Hologrammen, die Aussichten auf Alamo Gordo und Cent Field gestatten. Außerdem lassen sich verschiedene andere Gegenden der Erde abrufen. Bei Bedarf schauen Sie direkt auf den Grand Canyon, den Himalaya oder das Weltkul‐ turerbe Kölner Dom.« Carus winkte ab. »Vermutlich läßt sich die Tür nur von außen öffnen, wenn ich mich innerhalb des Apartments aufhalte. Alles, was ich sehe, bestätigt meine Vermutung, ein Gefangener zu sein.« »Sie wissen so gut wie ich, daß das Unsinn ist.« Bell trat zur Seite und machte den Durchgang frei. »Sie können gehen, wenn Sie wol‐ len, und sich in der Stadt eine Bleibe suchen. Aber die Mieten in Alamo Gordo sind enorm hoch, und in der Stadt müssen Sie sie selbst zahlen. Hier ist die Unterkunft kostenlos.« »Immerhin sind Sie nicht so wie die anderen.« Der Astrophysiker lachte auf. »Sie kennen diese anderen doch gar nicht. Ich bin genau wie die, und deshalb mache ich auch keinen Hehl daraus, daß Sie Gefangener Ihres Eides sind. Das ist hier so wie an jedem anderen Ort, gleichgültig ob auf der Erde, im Sonnensys‐ tem oder sonstwo. Sie können gehen, wohin Sie wollen, und tun, was Sie wollen, der einmal geleistete Eid gilt bis an ihr Lebensende. Das gilt für Sie genauso wie für jeden anderen, der hier arbeitet.« »Für Sie auch?« »Natürlich. Wenn ich etwas verrate, drohen mir lebenslange Ein‐ zelhaft oder ein unschönes Exil auf einer abgeschiedenen Welt, die ich nie wieder verlassen kann. Vielleicht sogar auf einem kargen
Gesteinsbrocken mit direktem Blick auf die Saturnringe.« Erleichtert registrierte Bell, daß Carus zum erstenmal lächelte, das war immerhin ein Anfang. »Ich liebe die Ringe des Saturn«, sagte er. »Dafür brauche ich aber kein Bestandteil von ihnen zu werden.« Schlagartig wurde er wieder ernst. »Was erwarten Sie eigentlich von mir?« »Erwarten ist das falsche Wort. Ich möchte Ihnen ein Angebot machen, nach dem sich die meisten jungen Forscher in Ihrem Alter die Finger lecken würden. Ich würde Sie gern als wissenschaftlichen Assistenten beschäftigen. Wir arbeiten an zahlreichen Projekten mit beinahe unbegrenzten Budgets. Die Möglichkeiten, die Sie bei mir hätten, könnte Ihnen kein privater Konzern bieten.« »Ich denke, der Staat ist finanziell so klamm.« Bell gab dem jungen Schotten einen Klaps auf den Rücken. »Ist er auch, und manchmal muß ich ganz schön betteln, aber ich kann verdammt hartnäckig sein.« »Den Eindruck habe ich auch. Trotzdem wundert mich Ihr Inter‐ esse an mir. Sie kennen mich doch gar nicht.« »Ich habe meine Quellen. Eine davon ist Professor King aus Edin‐ burgh.« Carus stöhnte auf. Sofort zeichnete sich wieder Ablehnung in sei‐ nem Gesicht ab. »Ausgerechnet«, beschwerte er sich. »Dabei kann nichts Gutes herausgekommen sein. Der Prof ist ein Arschloch. Hätte ich eine Liste mit Feinden, stände er an erster Stelle.« »Sie tun ihm Unrecht. Ich weiß von dieser angeblichen Sexaffäre. King hat nur versucht, Sie dadurch zu schützen, weil Sie mit Ihren Forschungen in ein Wespennest gestochen haben und Bernd Eylers bereits Agenten der GSO auf Sie angesetzt hatte. Der Professor weiß ebenfalls von der drohenden Katastrophe und ist wie wir alle zum Stillschweigen vergattert. Von ihm habe ich jedoch eine extrem gute Beurteilung über Sie, die mich auf diesen Wunderknaben Ian Carus richtig neugierig gemacht hat.« »Das gibt es doch gar nicht.« Carus stieß hörbar die Luft aus und
schüttelte den Kopf. »So kann man sich täuschen. Mit allem hätte ich gerechnet, aber nicht damit, daß sich der Prof nach dieser Geschichte für mich verwendet. Da muß ich wohl Abbitte leisten.« »Das tut Professor King ebenfalls, soll ich ausrichten.« Bell spürte, daß sein Schützling allmählich begann, seine Vorbehalte abzulegen. »Das ändert alles nichts an der Tatsache, daß der Öffentlichkeit meine Forschungsarbeiten vorenthalten werden und mein Buch aus dem Verkehr gezogen wurde. Irgendwann wird zwangsläufig ein anderer damit öffentlich, weil sich diese Sache auf Dauer nicht ver‐ heimlichen läßt, und meine Bemühungen waren dann vergeblich.« »Die Geheimhaltung ist der springende Punkt«, bestätigte der Astrophysiker. »Sie funktioniert eine Weile, aber nicht ewig. Sie ha‐ ben die Entwicklung selbst prognostiziert, daher wissen Sie, daß in spätestens zwei Jahren ohnehin alles bekannt ist. Entweder haben wir die Probleme bis dahin in den Griff bekommen, oder sie lassen sich nicht mehr verheimlichen.« »Dann darf ich meine Forschungsarbeiten als Doktorarbeit veröf‐ fentlichen?« »Nicht nur das. Sie dürfen für Ihre Promotion dann zusätzlich alles nutzen, was Sie hier getan haben. Gar kein so schlechtes Geschäft, finde ich.« Diesmal lächelte Carus offen und mit einem Anflug von Be‐ geisterung. »Damit kann ich mich anfreunden. Ist ja auch kein Wunder bei Ihrer freundlichen Art. Ich hoffe nur, daß die keine Ma‐ sche ist.« »Erwecke ich den Eindruck?« »Ehrlich gesagt, nein. Bleibt nur noch eine Frage. Wer kommt für meine Ausgaben auf? Sie sprachen von einem unbegrenzten Bud‐ get.« »Da habe ich anscheinend doch etwas übertrieben«, gab Bell unumwunden zu. »Wir zahlen Ihnen zwar ein Gehalt, aber damit lassen sich keine großen Sprünge machen. Andererseits genießen Sie bei uns freie Kost und Logis, solange Sie wollen.«
Ian Carus nickte. »Mitgefangen, mitgehangen«, kommentierte er trocken. »Selbst wenn ich nicht wollte, bliebe mir gar nichts anderes übrig, als auf Ihren Vorschlag einzugehen.« Monty Bell atmete erleichtert auf. Er war froh, zumindest dieses kleine Problem aus der Welt geschafft zu haben. Wenn sich die Schwierigkeiten mit der Sonne doch nur ebenso einfach bewältigen ließen. * »Ich werde wiederkommen, wenn Sie sich mit Ihrem Apartment vertraut gemacht haben«, kündigte Monty Bell an. »Beim ersten Einschalten des Suprasensors aktiviert sich automatisch ein Menü, über das Sie weitere Einrichtungsgegenstände anfordern können.« »Hm«, machte Carus nachdenklich. Er brauchte nur ein paar Se‐ kunden, um sich noch einmal umzuschauen, dann winkte er ab. »Nicht nötig. Was ich hier sehe, ist für meine Bedürfnisse ausrei‐ chend. Ich würde lieber gleich mit der Arbeit anfangen. Wir haben schon viel zuviel Zeit verloren.« »Ob Sie es glauben oder nicht, ganz untätig waren wir auch nicht, bevor Sie zu uns gestoßen sind.« Bell gefiel die forsche Art, mit der sein neuer Mitarbeiter sich sofort in die Arbeit stürzte. »Das wollte ich damit auch nicht sagen. Ich meinte mich persönlich damit. Ohne diesen Geheimniskrämer Eylers und seine GSO‐Bande wäre ich schon viel weiter. Apropos GSO. Die haben doch all meine Bücher und Rechner aus meinem Haus in Rosemarkie mitgenom‐ men?« Bell bestätigte. »Das Haus wurde anschließend versiegelt, damit kein Unbefugter dort eindringen kann. Eylers konnte ja nicht wissen, wie sich unsere weitere Zusammenarbeit entwickelt. Sie können von Ihren Sachen haben, was immer Sie wollen, der Rest bleibt auf GSO‐Kosten eingelagert. Da kommt keiner ran.« Carus überlegte kurz und kritzelte ein paar Notizen auf eine
Schreibfolie. »Ich benötige ein paar meiner persönlichen Bücher und eine Übertragung meines Suprasensorspeichers.« Er zeigte auf die Arbeitskonsole des Rechners, die in eine Wandvertiefung eingelas‐ sen war. Der Suprasensor hier war wesentlich leistungsfähiger als seine eigenen Geräte. »Ich nehme an, damit habe ich Zugriff auf den Großrechner des Instituts?« »Sie sind hier quasi im inneren Kreis. Sie haben auf sämtliche Da‐ ten Zugriff, die mit unserer Aufgabe zu tun haben. Ich brauche nicht zu betonen, daß Henner Trawisheim diesem Projekt allen anderen gegenüber oberste Priorität zuordnet.« »Nicht verwunderlich«, murmelte Carus. Bell sah ihm an, daß er sich gedanklich bereits mit den anliegenden Problemen beschäftigte. »Zunächst schlage ich eine Untersuchung der Sonnenmasse vor. Sie sollten sofort mit den Vorbereitungen beginnen.« Der junge Forscher stutzte. »Nein, wahrscheinlich haben Sie derartige Untersuchungen längst in Auftrag gegeben.« Bell schüttelte den Kopf. Offenbar hatte sein neuer wissen‐ schaftlicher Assistent falsche Vorstellungen von ihrer Vorge‐ hensweise. »Unsere Informationen müssen wir uns selbst besorgen. Weder vergeben wir Aufträge an zivile Firmen, noch können wir auf Einrichtungen oder Instrumente zurückgreifen, die uns nicht direkt gehören. Der Zwang zur Geheimhaltung verhindert sogar die Nut‐ zung der Terranischen Flotte. Wenn sich nur einer nach außen hin verplappert, haben wir morgen ein Lauffeuer und übermorgen eine Massenpanik unter der Erdbevölkerung. Vergessen Sie das nie.« Carus kratzte sich am Schopf. »Das hört sich nicht nach den besten Arbeitsbedingungen an«, beklagte er sich. »Irrtum, wir haben sogar noch bessere Möglichkeiten. Wir sehen uns direkt vor Ort um, um uns die benötigten Daten zu besorgen, und Sie sind dabei mit von der Partie.« »Sie reden vom Flug mit einem Raumschiff? Das fängt ja gut an.« Lächelnd nickte Bell. Die naive Art seines neuen Mitarbeiters amüsierte ihn. Das Beste war, ihn in eine kleine, ebenfalls neu‐
gegründete Arbeitsgruppe zu stecken, und dafür hatte er bereits Vorsorge getroffen. »Sie werden künftig mit sechs Männern und Frauen zusam‐ menarbeiten, die aus verschiedenen Forschungsabteilungen kom‐ men und sich im Gegensatz zu Ihnen bereits ihre ersten Sporen im Institut verdient haben.« »Wann lerne ich sie kennen?« Kommentarlos aktivierte Bell das Bildsprechgerät des Apartments und führte eine Reihe von Viphogesprächen. Die Wortfolge war stets die gleiche und kurzgehalten, da die Adressaten bereits auf seinen Anruf warteten. Zehn Minuten später saß Ian Carus mit seinen neuen Kollegen in einem kleinen Konferenzraum, wo Monty Bell sie miteinander be‐ kannt machte. * »Das ist der Boß«, begann Bell nach einer kurzen Einleitung. Desmond Ford war ein hochgewachsener hagerer Mann von zwei Metern, der im Stehen auf den Rest der Gruppe herabblicken konnte. In seinem von zahlreichen Falten zerfurchten Gesicht dominierten zwei stahlblaue Augen, die seine sämtlichen Gesprächspartner gleichzeitig zu fixieren schienen. Der Sechzigjährige mit dem schüt‐ teren roten Haar wurde, wie Carus erfuhr, nicht etwa Boß genannt, weil er das älteste und erfahrenste Mitglied der Gruppe war, son‐ dern weil er in jeder freien Minute Rockmusik von vor der Jahrtau‐ sendwende hörte und die zeitlosen Klassiker von Bruce Springsteen bevorzugte. Ihm zur Seite standen zwei Männer, die auf den ersten Blick als Zwillinge durchgehen konnten. Beide waren 1,70 Meter groß, ge‐ drungen und hatten dichtes, schwarzes Haar. Es handelte sich um den 30 Jahre alten Spanier Franco Moya und den zwei Jahre älteren Portugiesen Luis Elcano.
Der Vierte im Bunde war der von einer philippinischen Insel stammende Glatzkopf Emilio Estrada, ein leicht untersetzter Mann Anfang fünfzig, der zwar einen recht mürrischen Eindruck machte, aber als ausgesprochenes Mannschaftstier galt. Blieben noch zwei Frauen. Eine von ihnen war Elisa Feren, von der niemand genau wußte, aus welcher Ecke der Erde sie stammte. Die knöchern wirkende Vierzigjährige mit dem ungebändigten stroh‐ blonden Haar war schon überall gewesen und nur durch einen Zu‐ fall noch Alamo Gordo verschlagen worden. Die andere Frau stellte Monty Bell als Demi Hoffman vor. Mit ihren 35 Jahren war sie eine herb‐attraktive Schönheit, deren glattes schwarzes Haar ein schmales Gesicht umrahmte, in dem sich die Wangenknochen deutlich abzeichneten. In ihren dunklen Augen schimmerte das Licht zweier rotierender Galaxien. Mit ihren 1,78 Metern Körpergröße war die schlanke Frau beinahe auf Augenhöhe mit Carus, der sie ein paar Sekunden länger betrachtete als die an‐ deren Kollegen. »Noch Fragen, Mister Carus?« Bells Frage brachte den Schotten zurück in die Wirklichkeit. Er riß den Blick von Hoffman los und räusperte sich. »Nur eine. Worauf warten wir noch?« Bell machte eine auffordernde Handbewegung und führte die Gruppe zu einem unterirdischen Bahnhof. Von dort aus ging es mittels Magnetschwebebahn direkt unter den Raumhafen von Cent Field. Beim Anblick der MAX PLANCK hätte der Astrophysiker am liebsten selbst an der Expedition teilgenommen, aber diesen Luxus durfte er sich nicht leisten. Er wurde im Institut gebraucht, wo alle Fäden zusammenliefen. * Da die MAX PLANCK nicht der Flotte angehörte, stand sie im zi‐
vilen Teil des Raumhafens, weitab von den meisten anderen Schif‐ fen, von denen ein Großteil dem Frachttransport auf Routen inner‐ halb des terranischen Machtbereichs diente. Monty Bell hatte sich mit Bedacht um das abgelegene Startfeld bemüht, damit niemand, der das Gras wachsen hörte, auf das außergewöhnliche Äußere des Raumers aufmerksam wurde. Ein kurzer Anruf bei Trawisheim hatte ausgereicht, um die Sondergenehmigung zu erhalten. Auch wenn der findige Bert Stranger für eine Weile aus dem Verkehr gezogen war, hatte er eine Menge Kollegen, die nur darauf warteten, in seine Fußstapfen zu treten. »Imposant«, entfuhr es Ian Carus, während die kleine Gruppe mit einem Bodengleiter gebracht wurde. Bell ließ es sich nicht nehmen, ihn persönlich zu steuern. »So einen großen Kasten habe ich noch nie aus unmittelbarer Nähe gesehen.« Dabei war der einhundert Meter große Ikosaederraumer, der im Besitz der Raumfahrtakademie war, beileibe nicht das größte Schiff der Menschheit. Trotzdem präsentierte er sich einem Raumfahrt‐ neuling wie Carus wie ein Gebirge, das der Augustsonne einen ge‐ waltigen Schatten abtrotzte. Die aus zwanzig dreieckigen Flächen zusammengesetzte Hülle glänzte in der Sonne. Während der Annäherung versorgte Bell seine Wissenschaftler mit den wichtigsten Daten der MAX PLANCK. Sie war ein ziviles For‐ schungsschiff ohne Schutzschirme, da nicht geplant war, sie in ir‐ gendwelchen Krisenregionen einzusetzen. Daher verfügte sie auch über keine Waffen. Aufgrund der neuartigen Carborithülle verfügte der Iko über eine Menge Platz für wissenschaftliche Geräte, die zum Teil auch in Carboritkuppeln auf der Außenhülle montiert waren. Dank ihres Panzers war sie sogar in der Lage, ungefährdet in die Atmosphäre einer Sonne einzutauchen und dort Untersuchungen anzustellen. Die Carboritkuppeln, die die einzelnen Hüllensegmente zierten, verliehen dem Schiff einen pockennarbigen Charakter, der bei Bells Passagieren für zusätzliches Aufsehen sorgte. Der Professor be‐
glückwünschte sich zu seiner Entscheidung, den Ikosaederraumer der allgemeinen Sicht entzogen zu haben. Natürlich war Carus die aus der Raumfahrt nicht mehr weg‐ zudenkende Bedeutung von Carborit klar. Robert Saam hatte den Werkstoff aus Kohlefaser entwickelt, die mit einzelnen, genau pla‐ zierten Tofiritatomen verstärkt worden war. Das Material vereinte die Leichtigkeit von Kohlefaser und die Festigkeit des Tofirit und hielt nicht nur jeder denkbaren mechanischen Beanspruchung stand, sondern auch Temperaturen bis zu 200.000 Grad Celsius. Da drin muß man sich geborgen fühlen wie in Mutters Schoß, ging es Carus durch den Kopf, was aber nichts daran änderte, daß er sich grundsätzlich lieber auf der Erde aufhielt als in einem Raumschiff, mit festem Boden unter den Füßen. »Die MAX PLANCK wird von Kapitän M. X. Child befehligt. Ihm unterstehen dreißig Raumfahrer, allesamt Zivilisten, die von Han‐ delsraumern angeworben wurden«, erklärte Bell, während der Gleiter verzögerte und zwanzig Meter vor der Schiffshülle landete. »Sie alle gehören meinem Forschungsinstitut an und sind deshalb in Sinn und Zweck der Mission eingeweiht.« »M. X.?« fragte Demi Hoffman, und Carus hatte den Eindruck, daß sie ihm einen kurzen Blick aus ihren unergründlichen Augen zu‐ warf. »Das klingt recht kryptisch.« »Niemand kennt die wahre Bedeutung der Initialen«, antwortete Bell. »Nicht einmal ich weiß, wofür sie stehen. Sie werden ihn ja in kürze kennenlernen, dann können Sie sich selbst ein Bild machen.« Carus fand ebenfalls, daß das recht geheimnisvoll klang, an‐ dererseits waren Raumschiffskapitäne für ihn sowieso ein Buch mit sieben Siegeln. Schon die offizielle Anrede gestattete keine Mög‐ lichkeit, sich ihnen zu nähern. Die daraus resultierende Distanz machte den Schotten von vornherein mißtrauisch. »Ich wünsche Ihnen viel Glück«, verabschiedete Monty Bell seine Leute, bevor sie über eine Antigravrampe ins Innere des Ikosaeders gelangten. »Denken Sie daran, was für die Menschheit auf dem Spiel
steht.« Seine Worte hallten noch lange in Ian Carus nach. Vorher hatte er gar keine Gelegenheit für langes Nachdenken gehabt, doch plötzlich fragte er sich, ob er für diese Mission der richtige Mann war. Die Menschen über das zu informieren, was geschah, war etwas anderes, als unvermittelt mitverantwortlich für das Finden einer Lösung zu sein. Er verdrängte den störenden Gedanken. Genaugenommen hatte er auch bei seinen eigenständigen Forschungsarbeiten nichts anderes getan. »Wird schon schiefgehen«, raunte ihm Demi Hoffman zu, die sich unauffällig an seine Seite drückte. Carus nickte und brachte ein Lächeln zustande. * »Wir haben die Venusbahn passiert.« Die knappe Meldung kam von Jon Damurel, dem Piloten der MAX PLANCK. Anscheinend machte er nie mehr Worte als unbedingt nötig. Lässig hockte der stämmige Mittdreißiger mit dem raspel‐ kurzen Haar in seinem Sessel und führte eine geringfügige Kurs‐ korrektur durch. Eine tiefe Narbe, die von der rechten Schläfe quer über die Wange bis zum Mundwinkel reichte, verlieh ihm ein ver‐ wegenes Aussehen, das gemeinsam mit seinem störrischen Auftre‐ ten dafür sorgte, daß Ian Carus ihm nur ungern allein im Dunkeln begegnet wäre. Carus hielt sich in der Zentrale des Ikosaeders auf. Die Neugier auf das Innere eines solchen Schiffes hatte ihn hergetrieben, während der Rest der Forschungsgruppe die wissenschaftlichen Meßgeräte in den Carboritkuppeln testete. Auch er hatte nicht vor, lange hier zu ver‐ weilen, denn es juckte ihn in den Fingern, sich endlich in die Arbeit zu stürzen. Trotzdem wollte er wissen, wem seine Mitarbeiter und er ihr Leben anvertrauten. Auch wenn Raumflüge für viele Menschen
so selbstverständlich waren wie die Benutzung des Heimkinos, hat‐ ten sie für Carus etwas von einer Abenteuerfahrt an sich, auf der sich ständig Sensationen oder Katastrophen ereignen konnten. »Befinden sich irgendwelche Schiffe zwischen uns und dem Mer‐ kur?« Carus warf M. X. Child einen abschätzenden Blick zu. Der Kapitän war das, was man unter einem »kernigen Typen« verstand. Er war groß und kräftig, mit muskelbepackten Oberarmen, einem sonnengebräunten Gesicht und rabenschwarzen, im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haaren, die ihn wie einen wilden Piraten vergangener Jahrhunderte erscheinen ließen. »Negativ, Skipper. Wir sind allein«, antwortete Jolene Paris. Carus schätzte die durchtrainierte Frau an den Ortungseinrichtungen auf höchstens Ende zwanzig. Wilde Dreadlocks reichten ihr bis zwischen die Schulterblätter, und eine blutrote Tätowierung, die einen Dop‐ pelstern darstellte, zierte ihre Stirn. Sie drehte sich kurz um und musterte den Schotten mit versteinerter Miene. »Was ist los? Haben Sie nichts zu tun? Wenn ich mich nicht täusche, befinden sich keine Ihrer Forschungseinrichtungen in der Zentrale.« Unwillkürlich zuckte Carus beim eisigen Klang ihrer Stimme zu‐ sammen. Bevor er zu einer Antwort ansetzen konnte, fuhr ihr James O’Leary in die Parade. »Was ist mit dir los, Süße? Nehmen Sie es ihr nicht übel, unsere geheimnisvolle Jungfrau wird im Beisein von Fremden immer ganz nervös, besonders wenn es sich um fremde Männer handelt.« O’Leary, der Funker, war ein drahtiger kleiner Kerl mit einem flammend roten Haarschopf, der eine Art Uniform trug, die so zer‐ schlissen war, daß er bei der TF für zwei Wochen in Arrest gegangen wäre. Unablässig spielte er an den Bedienungselementen seiner Konsole herum, auf der haufenweise elektronische Bauteile verstreut lagen, so daß sie wie ein Kramladen aussah. Für Carus sah es so aus, als würde der Funker sich seine Zeit mit Basteleien vertreiben. »Treffer, versenkt, Jimbo«, kommentierte Damurel. Der Pilot
grinste und kratzte sich ausgiebig an seiner Narbe. »Affen!« konterte Paris. »Daß die meisten Männer Primaten sind, habe ich schon im Alter von zwölf gewußt, aber da konnte ich noch nicht ahnen, daß ich eines Tages ausgerechnet mit den erlesensten Vertretern dieser Spezies zusammen in die Zentrale einer Konser‐ vendose gesperrt sein würde.« »Meinst du nur Jon und mich damit oder auch Mix?« fragte der Funker. »Dann gehe ich schon mal eine Einzelzelle für dich auf‐ sperren.« »In der du auch gleich auf sie wartest«, vermutete Damurel mit einem unverschämten Grinsen. »Wie ich dich kenne, willst du ihr die Handschellen persönlich anlegen.« Demonstrativ langte Paris nach dem Kombistrahler, der an ihrer Hüfte baumelte. »Vorher gibt es hiermit was auf die Finger.« »Schluß damit!« tönte der tiefe Baß des Kapitäns. »Was sollen denn unsere Passagiere denken?« »Na, was wohl? Affen wird unser stiller Freund doch sicher aus einem irdischen Zoo kennen. Da wundert er sich über das Gezeter von Jon und Jimbo bestimmt nicht.« »Müssen wir uns das gefallen lassen, Mix?« fragte O’Leary mit gespielter Empörung. »Darf ich unsere Süße nicht wegschließen?« »Wenn nicht bald Ruhe einkehrt, lasse ich euch alle wegschließen«, drohte Child. »Wir passieren gleich die Merkurbahn, also erwarte ich ein bißchen mehr Beachtung eurer Instrumente.« Carus ließ vorsichtig die Luft entweichen. Er konnte nicht fassen, daß diese Gestalten in Monty Bells Auftrag unterwegs waren. Raumfahrer hatte er sich immer ganz anders vorgestellt. Diszipli‐ niert und konventionell. Auf jeden einzelnen der Zentralebesatzung der MAX PLANCK traf das genaue Gegenteil zu. Er kannte die Handelsraumer nicht, von denen Bell sie abgeworben hatte, stellte sie sich aber als heruntergekommene Seelenverkäufer zwischen den Sternen vor. Vorsicht! mahnte er sich selbst. Urteile nicht voreilig. Du bist es doch,
der allen Obrigkeiten mißtraut. Diese Typen müßten also geradezu nach deinem Geschmack sein. Denn natürlich konnte er weder Damurel noch Paris oder O’Leary aufgrund ihrer oberflächlich laxen Art einschätzen, geschweige denn ihren Kapitän M. X. Child. Er durfte sie nicht mit Maßstäben messen, die für Angehörige der Raumflotte galten. Das hier waren Zivilisten, die das harte und einsame Leben an Bord von Handelsschiffen mit seinem derben Umgangston gewöhnt waren, neun von zehn Tagen im stählernen Leib riesiger Frachtraumer verbrachten, kaum einmal festen Boden unter die Füße bekamen und die Erde maximal zwei‐ mal im Jahr sahen. Da war es nicht verwunderlich, daß sie nur allzu gern in die Dienste der Raumfahrtakademie getreten waren. Ers‐ taunlich war jedenfalls, daß die Leute sich ausnahmslos duzten, was sogar für den Kapitän galt. »Ich gehe mal zu meinen Kollegen zurück«, sagte Carus. »Mach das, Kleiner«, sagte Paris, wobei sie sich lasziv mit der Zungenspitze über die Lippen fuhr, ohne auch nur eine Mine zu verziehen. O’Learys meckerndes Lachen folgte Carus, als er kopfschüttelnd die Zentrale verließ. Gegen diese Truppe waren seine Wissenschaft‐ lerkollegen die reinsten Biedermänner. * Die fiebrige Aufregung, die Ian Carus erwartete, wirkte an‐ steckend. Seine Kollegen waren in einer kleinen Halle versammelt, die mit zahlreichen Bildschirmen für die Außenbeobachtung be‐ stückt war. Sie war speziell für die Belange der Wissenschaftler ein‐ gerichtet worden. Auf den meisten Schirmen war das Zentralgestirn des heimatlichen Sonnensystems zu sehen, ein Stern der Spektral‐ klasse G2 und der Leuchtkraftklasse V, der im Hertz‐ sprung‐Russell‐Diagramm auf der Hauptreihe lag. Nüchtern be‐ trachtet war es eine Sonne wie Millionen andere auch, doch sie und
keine andere war der Lebensspender der Menschheit. »Wir dachten schon, Sie kämen nicht mehr«, sagte Emilio Estrada anstelle einer Begrüßung, wobei er sich intensiv seine Glatze mas‐ sierte. »Beinahe hätten wir ohne Sie mit unseren Untersuchungen angefangen. Hat sich Ihr Ausflug denn wenigstens gelohnt?« »Die Besatzung haben wir alle uns wohl anders vorgestellt.« Carus winkte ab. »Die Leute sind sehr… gewöhnungsbedürftig.« »Die Suprasensoren laufen bereits.« Elisa Feren stand vor einer Rechnerkonsole und nahm eine Reihe von Aufgabenstellungen vor. Die Suprasensoren waren mit sämtlichen Geräten in den Außen‐ kuppeln gekoppelt, so daß ein permanenter Datenstrom gewähr‐ leistet war. »Wie weit sind wir noch weg?« »Wir haben uns der Sonne inzwischen bis auf fünf Millionen Ki‐ lometer genähert. Nah genug, um unsere feinen Fühler auszu‐ strecken.« Im Gegensatz zu Carus war die Vierzigjährige die Ruhe selbst. Ihre hölzern wirkenden Bewegungen gaukelten beinahe so etwas wie Desinteresse vor, doch sie war hochkonzentriert. Es fiel Carus schwer, seinen Blick von den Darstellungen ab‐ zuwenden. Zu faszinierend waren die Bilder des gelben Sterns, der aus dieser vergleichsweise geringen Entfernung ein ganz anderes als das gewohnte Bild lieferte. Von der Erde aus betrachtet, präsentierte er sich wie eine kreisrunde, scharf begrenzte Scheibe, vom gegen‐ wärtigen Blickpunkt aus wirkte er wie ein wabernder Moloch mit unruhig flirrendem Rand. Vergrößerungen zeigten leuchtende Pro‐ tuberanzen, die bis zu zwei Millionen Kilometer in den Raum hi‐ nausgestoßen wurden, und dunkel hervorgehobene Sonnenflecken. »Also an die Arbeit«, forderte Desmond Ford. »Wir sind schließlich nicht zum Vergnügen hier draußen.« Einhellige Zustimmung wurde laut, als die Wissenschaftler die In‐ strumente aktivierten. Carus fühlte eine innere Anspannung, die mit jeden weiteren hunderttausend Kilometern Annäherung wuchs. Mit einem Auge verfolgte er die schrumpfenden Entfernungsanzeigen,
während er eine erste Meßreihe initialisierte. Von einem Moment auf den anderen waren die Wissenschaftler in ihrem Element. Auch Carus vergaß völlig, daß er sich an Bord eines Raumschiffs befand. Die vor ihm liegende Aufgabe beanspruchte sein gesamtes Denken. Insgeheim wünschte er sich, daß aus einem unbekannten Grund sämtliche auf der Erde festgestellten Veränderungen plötzlich nicht mehr da wären, auch wenn seine eigenen bisherigen Arbeits‐ ergebnisse dadurch konterkariert würden, aber natürlich tat ihm die Wissenschaft diesen Gefallen nicht. »Beim großen Springsteen«, lamentierte der Boß, als die Auswer‐ tungen der eingehenden Daten als ellenlange Zahlenkolonnen über ein Dutzend Monitore flimmerten. »Sehen Sie sich das an.« Demi Hoffman trat neben ihn, wobei sie Carus wie unbeabsichtigt berührte. »Die Sonnenkorona ist mit 46.000 Grad Celsius deutlich kälter als sonst, und auch die Oberflächentemperatur ist abgesun‐ ken. Sie beträgt nur noch 4700 Grad Celsius.« Carus fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. »Das übertrifft meine schlimmsten Erwartungen. Der Prozeß ist seit meinen letzten Untersuchungen deutlich fortgeschritten.« Die Geräte lieferten einen unermüdlichen Strom an Datenmaterial. Wieder und wieder führten die Wissenschaftler die gleichen Meß‐ reihen durch und initiierten andere Untersuchungen, bis keine Zweifel mehr bestanden. Sie wurden auch bei der weiteren Annä‐ herung an die Sonne bestätigt. »Das ist noch nicht alles«, erklärte Franco Moya. »Elcano und ich haben uns mit den Protuberanzen beschäftigt und ebenfalls gravie‐ rende Veränderungen festgestellt.« »Die wohl nicht positiver ausfallen als die Temperaturent‐ wicklung«, vermutete Hoffman. Der Spanier nickte, wobei er sich ungläubig durch seine schwarzen Haare fuhr. »Jahrzehntelang wurden genaue Untersuchungen an‐ gestellt, um die Quantität der Protuberanzen festzustellen. Dabei hat
sich eine langfristige Konstanz ergeben. Aber das war einmal. Sie ist nicht mehr so hoch wie früher.« »Was bedeutet das in Zahlen?« »Sie haben deutlich abgenommen, was besonders für die eruptiven Protuberanzen gilt. Ich berechne eine Abnahme um fünfzehn Pro‐ zent. Noch dramatischer ist die rückläufige Entwicklung bei den kurzlebigen Fackeln in der Chronosphäre der Sonne.« »Dafür muß es einen bestimmten Grund geben«, überlegte Ford. »Beim großen Young, ich fürchte, der gesamte Energiehaushalt der Sonne gerät aus den Fugen.« »Ein weiterer Beleg dafür ist der Rückgang der Sonnenflecken, bei denen es sich bekanntlich um die Pole starker Magnetfelder han‐ delt«, warf Elcano ein. »Auch ihre Anzahl ist zurückgegangen. Dazu kommt ein weiteres besorgniserregendes Phänomen. Jede dieser dunklen Stellen, die wir sehen, ist der Kern eines Magnetfeldes, das von der wesentlich heller strahlenden und heißeren Penumbra um‐ geben ist. Dieser äußere Hof ist zugunsten des eigentlichen Umbras kleiner geworden.« »Mit anderen Worten, es gibt selbst bei den Sonnenflecken gerin‐ gere Ausdehnungen der heißen Stellen?« fragte Hoffman. Der Portugiese nickte. »Das paßt ins Gesamtbild.« »Und das sieht alles andere als gut aus.« Carus kontrollierte die Entfernungsanzeige. »Wir treten gleich in die Sonnenkorona ein.« Die Außenbeobachtung lieferte die Darstellung eines eruptiven Ausbruchs. Die leuchtende Gas wölke aus ionisiertem Wasserstoff und Helium wurde mehrere hunderttausend Kilometer in den Raum geschleudert. Aus dieser Nähe war es ein faszinierender, zugleich aber auch ehrfurchtgebietender Anblick. »Da läuft es einem kalt den Rücken runter«, sagte Demi Hoffman. Ihr warmer Atem streifte Ian Carus Gesicht, der unwillkürlich er‐ schauerte. »Hier drin sind wir absolut sicher«, gab er zurück. »Trotzdem hat man angesichts dieser Naturgewalten das Gefühl von Verletzlichkeit und Hilflosigkeit.«
Ein Gefühl, das sich noch verstärkte, als die MAX PLANCK in die äußerste Schicht der Sonnenatmosphäre eintauchte. * »Bericht!« forderte M. X. Child, als der Ikosaeder in die weißlich leuchtende äußere Schicht der Sonnenatmosphäre eindrang. Längst war das Schiff bis auf minimale Werte abgebremst, um zusätzliche Reibungshitze zu vermeiden. Jolene Paris hechelte eine Reihe von Daten herunter, die der Kapi‐ tän mit einem zufriedenen Nicken quittierte. Auch wenn die MAX PLANCK zahlreiche Feldversuche hinter sich hatte, war die erste ernsthafte Bewährungsprobe etwas anderes. Zur allgemeinen Er‐ leichterung arbeiteten sämtliche Systeme zufriedenstellend. »Toleranzwerte werden nicht erreicht, Skipper. Da bleibt noch eine Menge Spielraum nach oben«, schloß die Frau mit den Dreadlocks. »Die Sonnentemperaturen machen der Carboritpanzerung nichts aus.« »Was kommt von den Zusatzkuppeln rein?« »Ebenfalls keine Probleme. Wandungen sind stabil. Ich kann aller‐ dings nicht sagen, ob die gesamte Strahlung abgefangen wird oder eine gewisse Reststrahlung zu den Instrumenten durchschlägt.« »In dem Fall werden unsere Passagiere sich schon melden«, winkte O’Leary ab. »Ich glaube, auf diesen Carus hast du einen recht ver‐ wirrenden Eindruck gemacht, Süße. Findest du nicht auch, Mix?« Der Kapitän lächelte. »Das habt ihr wohl alle. Wenn ich später den Bericht unserer Gäste an Monty Bell gelesen habe, werde ich euch möglicherweise die Hosenböden strammziehen.« Bei den nachträglich installierten Instrumenten handelte es sich zum Teil um hochwertige Geräte von unschätzbarem Wert. Deshalb war Child sicher, daß die angeflanschten Carboritkuppeln über die gleiche Widerstandskraft verfügten wie die eigentliche Hüllenpan‐ zerung, auch wenn sie nicht deren Stärke erreichten.
»Sobald es da draußen Probleme gibt, steigt Jimbo mit seinen Schraubenziehern aus und macht klar Schiff«, scherzte Damurel. »Dann kriegt der Junge endlich mal einen richtig heißen Arsch.« Paris schaute spöttisch zu dem kleingewachsenen Funker hinüber. »Könnte dir auch nicht schaden«, konterte O’Leary. Child dachte nicht daran, das Geplänkel zu unterbinden. Auf die Wissenschaftler mochte der rüde Umgangston vielleicht befremdlich wirken, doch er sagte nichts über die Kompetenzen seiner Leute aus. Es waren erfahrene Raumfahrer, die ein wenig wüst und auf je‐ manden, der sie nicht kannte, möglicherweise sogar herunterge‐ kommen wirkten, aber dieser Anschein trog. Auch den zuständigen Leuten auf der Raumfahrtakademie und speziell Monty Bell, der Childs Truppe abgesegnet hatte, war das klar. »Keine Anfragen von unseren Passagieren?« O’Leary schüttelte den Kopf. »Die sind anscheinend beschäftigt.« »Dann halten wir die Position, bis spezielle Anforderungen kom‐ men«, entschied der Kapitän. »Jon, bring die MAX PLANCK zum Stillstand. Jolene, laß die Anzeigen nicht aus den Augen. Ich will über die kleinste Veränderung informiert werden. Falls unsere Da‐ men und Herren Wissenschaftler vor allzu viel Begeisterung die Übersicht verlieren, sollten zumindest wir die Augen offenhalten.« »Geht klar, Mix.« »Aye, Skipper.« Doch tatsächlich rechnete Child nicht mit Nachlässigkeiten seitens seiner Passagiere. Zweifellos hatte Monty Bell dafür gesorgt, daß nicht nur die raumfahrerische Besatzung der MAX PLANCK seinen Anforderungen entsprach, sondern auch die wissenschaftliche. Immerhin ging es bei dieser Expedition um nicht mehr oder we‐ niger als die Zukunft der Menschheit. * »Ich komme mir vor wie Alice im Wunderland. Fürchtest du dich
auch vor dem, was wir herausfinden werden, Ian?« Ian Carus sah auf, als Demi Hoffman ihn unerwartet mit dem Vornamen anredete. Er zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich habe noch gar nicht richtig darüber nachgedacht.« Er rang mit seinen Händen und schenkte ihr ein kurzes Lächeln. »Ja, doch, wahrscheinlich schon. Die Konsequenzen lassen sich noch über‐ haupt nicht abschätzen.« Er führte eine ähnliche komplizierte Meßreihe wie seine Kollegen durch. Sie arbeiteten in Zweiergruppen, um ihre Ergebnisse in Schritten abgleichen zu können. Dabei bestätigten sich die Daten, die man bereits beim Anflug gewonnen hatte. Sowohl die Protuberanzen wie auch die Anzahl der Sonnenflecken hatten quantitativ abge‐ nommen. Dabei war die hinlänglich bekannte Schwankung der Sonnenfleckenhäufigkeit von 11,07 Jahren bereits berücksichtigt. »Wenn wir mehr Zeit hätten, könnten wir unsere Untersuchungen auf die Lebensdauer der Sonnenflecken ausdehnen«, überlegte Elisa Feren, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. »Ich nehme an, daß sie sich verkürzt hat.« »Wir haben aber nicht mehr Zeit«, hielt ihr Desmond Ford entge‐ gen. »Beim großen Dylan, hört mit eurem Wunschdenken auf. Das hier ist keine Laboranordnung, sondern die Realität. Diesmal haben wir nicht beliebig viel Zeit.« Carus konnte dem Boß nur zustimmen. Sie brauchten Ergebnisse, und dann – ja, was eigentlich? Bis vor kurzem hatte er nur daran gedacht, die Öffentlichkeit von der drohenden Gefahr zu unterrich‐ ten, nun war ihm klar, daß damit nichts gewonnen war. Vielmehr waren Lösungsansätze gefragt, und das möglichst schnell. Die Suprasensoren sichteten die eingehenden Daten der In‐ strumente und brachten sie in eine lesbare Form. Der Schwerpunkt der Untersuchungen lag jetzt auf der Bestimmung der Sonnenmasse, für die absolute Präzision erforderlich war. Der minimalste Meßfeh‐ ler konnte bei der gewaltigen Masse Sols in der Endabrechnung ge‐ waltige Diskrepanzen verursachen. Deshalb wurde die Reihe ein
dutzendmal durchgeführt, bis ein definitives Ergebnis vorlag. Scheinbar zumindest. »Die Sonne hat 1,8 Prozent weniger Masse als bisher ange‐ nommen«, brachte Franco Moya die unglaubliche Tatsache auf den Punkt. Er schüttelte den Kopf. »Jedenfalls wenn wir unseren Ergeb‐ nissen vertrauen dürfen, aber bei dieser Auswertung geht das nicht. Also haben wir doch irgendwo einen Fehler gemacht.« »Womit uns nichts anderes übrigbleibt, als von vorn zu beginnen.« Hoffman seufzte und verzog das Gesicht. »Durch irgendeinen dummen Fehler verlieren wir noch mehr Zeit.« Carus schwieg. Und wenn sie doch keinen Fehler begangen hatten? Wenn die ermittelten Angaben stimmten? Dann sah alles noch viel schlimmer aus, bedeutete das doch, daß die Sonne an Masse verlor. So unwahrscheinlich diese Vorstellung auch war, es gab eine Mög‐ lichkeit, sie zu überprüfen. »Wenn die Sonne tatsächlich an Masse verliert, hat das direkte Auswirkungen auf das solarterrestrische Gravitationsgefüge.« Die Schlußfolgerung rief bei seinen Kollegen entsetzte Blicke her‐ vor. Sie alle wußten, worauf er hinauswollte. Ford fand als erster seine Sprache wieder. »Womöglich werden die Planetenbahnen instabil, zumindest ver‐ ändern sich die Distanzen Sonne‐Planeten. Alle Achtung, junger Mann.« »Wir überprüfen die Entfernungen sämtlicher Planeten von der Sonne. Sind sie unverändert, haben wir bei der Massebestimmung der Sonne einen Fehler begangen. Wenn nicht…« Carus ließ den Rest des Satzes offen und rief die Schiffszentrale. »Wir müssen raus aus der Korona. Ich schlage eine Warteposition zwei Millionen Kilometer oberhalb der planetaren Bahnebene vor.« Ohne auf eine Bestätigung zu warten, stürzte er sich in die Arbeit. Mit Merkur beginnend, nahm er einen Planeten nach dem anderen unter die Lupe. Er ermittelte die aktuellen Entfernungen und ver‐ glich sie mit den Werten, die eigentlich hätten existieren müssen. In
einem genauen Verfahren ließen sich selbst geringste Abweichungen vom Normalzustand ermitteln. Carus hatte das Gefühl, daß sich die Zeit endlos dehnte. Mehrmals mußten die hochsensiblen Instru‐ mente nachjustiert werden. Demi Hoffman wich in der folgenden Stunde nicht von seiner Sei‐ te. »Für einen Wissenschaftler bist du ziemlich ungeduldig«, stellte sie fest. Er gab ein unzufriedenes Knurren von sich und las die Werte ab, die der Suprasensor lieferte. Bereits bei den Ergebnissen für Merkur und Venus zuckte er zusammen, bei der Erde sah es nicht anders aus. Entsetzte Ausrufe verrieten ihm, daß seine Kollegen zu densel‐ ben Resultaten kamen. Die Veränderung setzte sich über die Gas‐ riesen bis zum Pluto mit seiner extrem exzentrischen Umlaufbahn fort. »Der Abstand sämtlicher Planeten hat sich im Mittel um einige Meter vergrößert.« »Ein eindeutiger Hinweis auf die verringerte Massenanziehung der Sonne«, bestätigte Elcano. »Wir haben es also wirklich mit einem Masseverlust der Sonne zu tun. Auch wenn die paar Meter ein ver‐ nachlässigbarer Wert sind, ist wohl jedem klar, was geschieht, wenn der Rückgang anhält.« Carus’ Hals war trocken. Seine schlimmsten Befürchtungen bestä‐ tigten sich. »Der Gravitationszusammenhalt des gesamten Sonnen‐ systems kollabiert, und die Planeten werden immer schneller nach außen wegdriften.« Niemand sprach die Gedanken aus, die sämtlichen Teammitglie‐ dern gleichzeitig durch den Kopf schossen. Durch die weitere Ab‐ kühlung der Sonne und mehr noch durch das Abdriften der Erde würde der Heimatplanet der Menschen erkalten und noch schneller unbewohnbar werden, als nach dem bisherigen Kenntnisstand oh‐ nehin schon befürchtet. »Beim großen Clapton, wir müssen zurück zur Erde und Monty Bell unsere Erkenntnisse übermitteln.« Boß Ford fuhr sich mit einer
fahrigen Geste durch die Haare. »Kein Wort zur Schiffsbesatzung, auch wenn sie in den Zweck unserer Mission eingeweiht ist.« Allgemeines Nicken antwortete ihm. Niemand brachte ein Wort hervor, denn so dramatisch war die Lage für die Menschheit seit der Beinahekollision zwischen Drakhon und der Milchstraße nicht mehr gewesen.
8. In der Hauptzentrale der ANZIO wandte sich Oberst Roy Vegas seinem Funk‐ und Ortungsoffizier zu. »Hören Sie, Mister Bekian, wie lange muß ich noch darauf warten, bis Sie Kontakt mit dem Flash haben? Gibt es jetzt auch noch Schwierigkeiten im Normalfunkbereich?« Man merkte dem ansonsten so besonnenen Oberst eine gewisse Ungeduld, aber auch Nervosität an. Die Ungewißheit über das Schicksal seiner beiden Offiziere beschäftigte ihn mehr, als er zuzu‐ geben bereit war. Bekian drehte seinen Sitz und sah seinem Kommandanten ge‐ radewegs in die Augen. »Es gibt keine Schwierigkeiten mit dem Normalfunk«, sagte er und wirkte resigniert; man sah, daß die Erfolglosigkeit der Versuche an ihm nagte. »Die Phase dringt auch durch, wie die Instrumente zei‐ gen. Es gelingt uns nur nicht, Kontakt mit dem Major oder Skerl herzustellen.« »Hmm…« Vegas runzelte die Stirn. »Sir!« Fähnrich Sperl meldete sich zu Wort, seine Stimme klang aufgeregt. Er saß an der Funkpeilung und überwachte die üblichen Frequenzen nach Auffälligkeiten oder Anomalien. »Was haben Sie, Fähnrich?« »In der Höhle findet ein reger digitaler Funkverkehr statt, Sir.« »Was!« Vegas setzte sich kerzengerade auf. »Funkverkehr? Auf welcher Wellenlänge?« »Ultrakurzwelle, Sir.« »Können Sie den Zielort herausfinden?« »Negativ, Sir. Die Signale sind nicht zielgerichtet, sie verlassen die Höhle nicht.« »Wir sprechen von drahtloser Übermittlung von Nachrichten, nicht wahr, Fähnrich?«
»Positiv, Sir.« »Major McGraves?« »Nein, Kommandant. Nichts Spezifisches oder Verwertbares auf sprachlicher Ebene. Es hat den Anschein, als kommunizierten Ma‐ schinen mit‐ und untereinander.« »Maschinen?« Fähnrich Sperl nickte schüchtern. »Roboter«, präzisierte er. »Roboter… da brat’ mir doch einer ’nen Storch«, murmelte Vegas, dem derartige Redewendungen noch geläufig waren – und der sie zur allgemeinen Verwirrung seiner Führungsmannschaft auch heute noch häufig genug einsetzte. »Ich vermute«, fuhr der Fähnrich fort, »man hat sowohl die Funk‐ einrichtung des Flash als auch die Viphos der beiden Offiziere lahmgelegt.« »Die Roboter?« »Davon können wir ausgehen.« Vegas nickte. »Moment mal!« warf der Navigator ein. »Ich denke, es ist nur Schrott in der Höhle gelagert?« »Können Sie mir einen nachvollziehbaren Grund nennen, weswe‐ gen man eine Menge Schrott in einer eigens dafür ausgebauten Höhle deponiert und diese dann auch noch hermetisch zur Außen‐ welt hin abschottet, Nummer Zwei?« »Nein, Sir«, bekannte Godel nach einer kurzen Phase des Überle‐ gens. »Sehen Sie, Jay, ich auch nicht.« Godel sah seinen Kapitän an, und seine tiefblauen Augen unter dem Schopf schwarzer Haare funkelten. »Sie machen den Eindruck, als wüßten Sie Genaueres, Sir.« Vegas überlegte einen Moment lang. »Genaueres wäre übertrieben. Aber ich denke, ich weiß in etwa, womit wir es zu tun haben.« »Wollen Sie uns nicht an Ihrem Wissen teilhaben lassen, Kapitän?« »Ich glaube, Sie alle hier haben ein Anrecht darauf«, sagte der
Kommandant des Flottenschulschiffes ANZIO. »Während unseres Versteckspiels in der Sonnenkorona habe ich mir die Aufnahmen unserer Überwachungssonden etwas genauer angesehen, die den ungleichen Kampf zwischen den Fremdraumern auf diesem Plane‐ ten dokumentiert haben.« »Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen, Sir?« fragte der Erste Offizier, als Vegas kurz schwieg. »Mich hat vor allem interessiert, welche Bauteile genau sie aus dem Raumschiff entfernten, um sie in die Höhle zu bringen. Dabei bin ich auf ein paar Merkwürdigkeiten gestoßen. So war der ›Schrott‹, den man eingelagert hat, die beim Kampf zerstörte robotische Besatzung des auseinandergenommen Schiffes. Zum anderen schien es sich im großen Umfang um Rechnerkomponenten gehandelt zu haben. Ich kenne mich damit aus, einmal aus eigener Erfahrung«, seine Miene verfinsterte sich, als er an den Mars und seine Zeit mit dem »Einsa‐ men« dachte, »zum anderen konnte ich Vergleiche mit den bei der Schlacht um Gerrck zerstörten Fremdraumern anstellen. Die Analy‐ sen des Hyperkalkulators haben ergeben, daß es sich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit um den Hauptrechner handelte, den man auf diese Welt verbannte. Fernab jeder Möglichkeit, je wieder die zent‐ rale Rolle an Bord eines Raumschiffes einzunehmen und damit zu‐ rück in den Raum zu gelangen.« »Warum sollte man das tun?« Jay Godel runzelte die Stirn. »Zur Strafe? Was, bitte schön, könnte ein Rechner angestellt haben?« »Da bin ich überfragt«, erwiderte der Kapitän und lächelte unver‐ bindlich. »Wir werden es auch wohl nie erfahren.« Daß sich der Kommandant der ANZIO mit dieser Annahme irrte, konnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. »Kann man denn überhaupt einen Rechner bestrafen?« warf Vegas’ Nummer Eins in die Debatte. »Natürlich nicht physisch«, erwiderte der Kapitän. »Schmerzen kann man einer Künstlichen Intelligenz, die über keine Nerven ver‐ fügt, nicht zufügen. Aber es gibt andere Möglichkeiten. Auch wenn
Zeit möglicherweise keine so große Rolle bei einer relativ unsterbli‐ chen Maschine darstellt, kann die Vorstellung, für Jahrzehnte oder Jahrhunderte von allem abgeschottet zu sein, zu Zuständen führen, die virtuellem Wahnsinn nahekommen.« »Dieser Planet wurde also bewußt ausgewählt«, stellte Ron No‐ zomi fest. Vegas strich sich durch das stahlgraue Haar, seine blauen Augen blickten nachdenklich. »Möglicherweise, Nummer Vier. Möglicher‐ weise.« Er schwieg kurz, um hinzuzufügen: »Ich habe mich mit der geophysikalischen Abteilung in Verbindung gesetzt. Hauptmann Plotnikoff versicherte, daß auf dieser Welt keinerlei Edelmetalle vorhanden sind, mit deren Hilfe irgendwer in der Lage wäre, so etwas wie ein Raumschiff zu bauen.« »Es beruhigt mich ungemein«, ließ sich der Astrogator vernehmen, »daß keine Möglichkeit für den fremden Rechner besteht, aus eige‐ ner Kraft diesen Planeten zu verlassen und zurückzukehren – wohin auch immer.« »Es sei denn«, brachte sich Olin Monro zu Gehör, und seine Miene wirkte leicht verstört, »jemand Neugieriges wie beispielsweise ein Flottenschulschiff der TF namens ANZIO begibt sich für eine Ret‐ tungsaktion freiwillig in den Einflußbereich eines Rechners mit ei‐ genem Bewußtsein und dem Willen zum Überleben, auf welche Art auch immer, und verschafft ihm so eine Möglichkeit, sich das zu nehmen, was er für seinen Fortbestand benötigt.« Ungläubig musterte Bekian die Nummer Eins. »Sie glauben doch nicht etwa…?« Er kniff die Augen zusammen. »Nein, das glauben Sie nicht wirklich, oder doch?« Monro zuckte mit den Schultern. »Angefangen hat er ja schon damit…« Plötzlich herrschte bedrückendes Schweigen in der Zentrale. »Meine Herren, ergehen wir uns nicht in Spekulationen, die weder Hand noch Fuß haben.« Oberst Vegas’ ruhige Stimme strahlte Be‐ sonnenheit aus. »Vorrangig geht es darum, unsere Männer da raus‐
zuholen. Alles andere wird sich finden.« »Sie haben einen Plan, Sir?« »Den habe ich«, nickte Vegas und beantwortete so Monros Frage. »Nummer Drei, können wir im Innern der Höhle ein Störfeld er‐ zeugen, das die Kommunikationsimpulse des Rechners mit seinen Robotern unterbindet?« »Das läßt sich einrichten, Sir.« »Wie lange brauchen Sie dazu?« Kerim Bekian trat in Blickkontakt mit seiner Funk‐Z. Dann sagte er: »Zwei Minuten, Kapitän.« »Dann los!« sagte Vegas. »Tun Sie es. Legen Sie den Funkverkehr im Berg lahm.« * Als ihm Oberbootsmann Janos Gyori ein Zeichen gab, stand Roy Vegas auf. »Nummer Eins! Sie haben das Schiff«, ließ er seinen Ersten Offizier wissen. »Aye, Sir.« Hauptmann Olin Monro verließ seinen Platz, um den des Kom‐ mandanten einzunehmen. »Ich bin hinten«, sagte der Oberst. Die Hauptzentrale der ANZIO war der einzige Raum in dem Ovoid‐Ringschiff der Rom‐Klasse, der über zwei Etagen reichte und sowohl von Deck vier als auch von Deck fünf erreicht werden konnte. In Höhe des oberen Decks besaß sie eine Galerie, die einen geschlossenen Ring bildete. »Hinten« war in diesem Fall ein Bereich unter der Galerie neben dem Hauptschott, wo vor den Getränkeautomaten ein paar bequeme Sessel und kleine Tische standen. Man konnte sich dort zum Ab‐ schalten niederlassen, wenn die Zeit nicht reichte, um in der Offi‐ ziersmesse eine längere Pause einzulegen, oder auch zu zwanglosen
Gesprächen. Vegas zog diesen Platz seinem Arbeitsraum vor, wenn nicht über sensible Themen geredet werden mußte, die der Geheim‐ haltungsstufe unterlagen. Dies war hier nicht der Fall; es ging um eine Rettungsaktion. Vegas setzte sich so, daß seine Blickrichtung zum Schott ging. Er stützte die Ellbogen auf die Tischplatte, legte die Fingerspitzen aneinander und sah dem Mann entgegen, der eben die Zentrale bet‐ rat und seine Schritte in Richtung des Kommandanten lenkte. Er trug die Uniform der Rauminfanterie. Die Insignien am Kragen wiesen ihn als Hauptmann aus. Er blieb vor Vegas stehen. »Hauptmann Flavio Giordino zu Ihren Diensten, Sir«, sagte er laut und erstarrte in Habachtstellung. Gleich nachdem die Funk‐Z das Störfeld in der Kaverne generiert hatte und jede funktechnische Aktivität im Inneren des Berges erlo‐ schen war, hatte Vegas McGraves’ Stellvertreter in die Zentrale be‐ ordert. Der Oberst lehnte sich zurück und sah Giordino an. Der Offizier trug sein schwarzes Haar wie einen Helm; es war kaum länger als dreißig Millimeter und lag glatt am Schädel an. Giordino war ein agiler, hochgewachsener Soldat, dem man seine hervorragende physische Verfassung schon von weitem ansah. Sein kantiges Gesicht und die scharfrückige Nase erinnerten den Oberst an das Bildnis eines italienischen Duodezfürsten, das er in New York im Museum of Modern Art gesehen hatte. »Stehen Sie bequem, Hauptmann.« »Danke, Sir!« Giordino stellte die Beine auseinander und verschränkte die Arme auf dem Rücken. Vorschriftsmäßig, wie der Oberst in schweigender Anerkennung registrierte. Laut sagte er: »Ich mache mir Sorgen um Major McGraves und Oberleutnant Skerl.« »Mit Ihrer Erlaubnis, mir geht es nicht anderes, Sir«, erwiderte
Flavio Giordino. »Sie sind der Mann, der mir diese Sorgen nehmen kann«, fuhr Roy Vegas fort. »Mit dem größten Vergnügen«, sagte der zweite Mann der Raum‐ infanterie an Bord der ANZIO. »Was kann ich dazu beitragen?« »Ich habe eine Aufgabe für Sie.« »Allzeit bereit, Sir!« Hauptmann Giordino ging wieder in Ha‐ bachtstellung. »Gut. Hören Sie zu…« Roy Vegas eröffnete dem Offizier, daß er von ihm erwartete, sich mit einhundert Infanteristen Zugang zur Kaverne zu verschaffen. Die Einheit sollte herausfinden, was aus dem Major und Darren Skerl geworden war. Solange nicht klar war, aus welchem Grund sich Flash Null‐Eins‐Eins nicht mehr meldete, erschien es dem Oberst wenig sinnvoll, noch ein Beiboot in den Berg zu schicken und möglicherweise auch dessen Ausfall zu riskieren. Jetzt fragte er: »Wie lange werden Sie brauchen, um Stellung zu beziehen, Hauptmann?« »Dreißig Minuten, Sir.« »Geht’s nicht schneller? Die Zeit drängt, wir haben noch immer nichts von den beiden gehört.« »Wir werden es in zwanzig Minuten schaffen, Kommandant.« »Gut. Nehmen Sie Ihre besten Elektronikspezialisten mit nach draußen. Das Schott wird von einem Codeschloß geschützt sein, das sich von Fremden wohl nur schwer knacken läßt.« Flavio Giordino nickte steif, dann trat ein Funkeln in seine Augen, und er gestattete sich ein Lächeln. »Sir, ich habe die entsprechenden Leute.« »Gut, Hauptmann Giordino. Legen Sie los.« Nachdem Giordino die Zentrale verlassen hatte, kehrte Vegas an seinen Platz zurück. »Status, Nummer Eins?« »Keine Veränderung, Sir«, ließ ihn Olin Monro wissen. »Keine
Kommunikation in der Kaverne. Ich denke…« Der Erste Offizier wurde jäh unterbrochen, als sich in der Funk‐Z eine Explosion ereignete und jemand laut aufschrie. Weitere Schreie ertönten. »Was ist los, Mister Bekian?« Vegas hatte sich halb aus seinem Sitz erhoben und starrte in Richtung der Funk‐Z, die für einen Moment zu einem Zentrum von Rauch und Feuer und allgemeinem Durch‐ einander wurde. Feuer an Bord eines Raumschiffes! Der schlimmste Fall, den man sich vorstellen konnte. Stimmen brüllen, Befehle wurden erteilt. Verletzte riefen nach Hilfe. Aus dem allgemeinen Tohuwabohu erhob sich das Organ Kerim Bekians über das Durcheinander; der Ortungsspezialist hatte seine Abteilung im Griff. Mit klarer Stimme erteilte er seine Anwei‐ sungen. Löschroboter fielen aus ihren Nischen, und Schaumfontänen ent‐ zogen dem Feuer den Sauerstoff. Exhaustoren liefen an; der Rauch verschwand und enthüllte das Ausmaß des Schadens, der, wie es den Anschein hatte, geringer ausfiel als zunächst angenommen. Sanitäter eilten herbei und nah‐ men sich der Verletzten an. Vegas’ Stimme erhob sich über den langsam verebbenden Lärm. »Status, Nummer Drei?« »Sir, der UKW‐Störsender ist explodiert.« »Nur der Störsender?« »Sieht so aus, Kapitän. Die normalen Funkgeräte sind nicht be‐ troffen.« Funkmaat Sivertsen rieb sich eine anschwellende Beule am Hinterkopf, wo ihn ein wegfliegendes Teil der Modulverkleidung getroffen hatte. »Grund?« erklang Vegas’ befehlsgewohnte Stimme. »Es sieht so aus, als wären die suprasensorischen Verstärkerkreise extrem überladen worden. Eigentlich unmöglich, aber… Wir sind noch dabei, den wahren Grund herauszufinden.«
»Tun Sie das. Und beeilen Sie sich. Ich will wissen, was oder wer dafür verantwortlich ist!« Eine Stimme schlug aus sämtlichen Audiophasen, die die Ge‐ räusche in der Zentrale übertönte, als hätte jemand den Hauptregler voll aufgezogen: »Ich bin dafür verantwortlich.« »Wie… was…? Wer spricht da?« Funkobermaat und Tasterspezialist Kano Dembaux suchte irritiert nach dem Sprecher. »Ich.« Wieder nur dieses eine Wort. »Welchen Scherzkeks haben wir denn da in der Leitung?« polterte Kerim Bekian los und sah wütend in die Runde. »Wenn ich den Kerl erwische…« fuhr er fort, und sein Gesichtsausdruck versprach nichts Gutes. Vegas hieß ihn mit einer Handbewegung zu schweigen. »Das, meine Herren«, sagte er, »ist vermutlich die Hinterlassenschaft des ausgeschlachteten Fremdraumers, die man in der Höhle deponiert hat.« Er machte eine fast unmerkliche Pause, dann wandte er sich über die Funkphase direkt an den Rechner. »Ist es nicht so, was immer du auch vorgibst zu sein?« »Ich bin Kosinus!« dröhnte die künstliche Stimme aus den Ton‐ phasen. »Ich fordere die sofortige Einstellung aller feindseligen Ak‐ tivitäten gegen mich.« Vegas war erst versucht zu lachen. Doch dann nistete sich gegen seinen Willen Unbehagen in ihm ein. »Was, wenn wir diesem Verlangen nicht nachkommen?« »Dann sterben die beiden Biologischen, die ich in meiner Gewalt habe.« »Eine Überraschung nach der anderen«, knurrte Jay Godel und drehte sich nach dem Kapitän um. »Ein Haufen Schrott mit Ambi‐ tionen zum Töten. Ich sehe Probleme auf uns zukommen.« Vegas gebot ihm mit einer Handbewegung Schweigen und richtete
seine Worte erneut an den unsichtbaren Sprecher. »Woher weiß ich, daß das nicht schon geschehen ist?« »Weil ich es sage.« »Das sind nur Worte«, machte Vegas wenig beeindruckt deutlich. »Ich will einen Beweis, daß die beiden Männer noch leben. Und ich will ihn jetzt!« Für endlos lange Sekunden herrschte Schweigen im Funk. Überlegte Kosinus seine nächsten Worte? Dem war nicht so. Die Anzeigen machten deutlich, daß die Verbindung unterbrochen war. * »Was ist jetzt los, Major?« Skerl war von der plötzlichen Ruhe in der Kaverne gleichermaßen überrascht wie von dem völlig unerwarteten Umstand, daß von ei‐ ner Sekunde zur anderen alle Bewegungen der Roboter und Ma‐ schinen erstarben, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. »Was immer es ist«, knurrte der Major, »es kann uns nur recht sein. Das gibt uns die Möglichkeit, etwas gegen unsere Gefangenschaft zu unternehmen. Rasch, Darren«, wie selbstverständlich kam ihm der Vorname des Oberleutnants über die Lippen, »sehen wir zu, daß wir zum Schott kommen. Vielleicht gelingt es uns, den Öffnungsmecha‐ nismus zu finden und zu knacken. Ich für meinen Teil möchte keine Sekunde länger in der Gewalt dieses Kosinus bleiben. Wer weiß schon, was dem noch alles einfällt! Und noch was: Versuchen Sie, über Ihr Vipho die ANZIO zu erreichen.« »Verstanden«, sagte Skerl halblaut. Das Echo brach sich unter der Felsdecke, ansonsten waren keine Geräusche zu hören. Es war ge‐ spenstisch. Doch dann zuckte er mit den Schultern und schüttelte die irrationale Beklommenheit ab. Er sprach hastig in sein Vipho, während er dem Major folgte.
Sie stolperten über Trümmer von Metall; auf dem Weg zum Schott verursachten ihre Schritte mitunter dröhnende, hallende Geräusche, wenn sie über Metallplatten gingen. In der Kaverne herrschte eine dumpfe, von merkwürdigen Gerü‐ chen durchsetzte Hitze; es roch nach heißem Stahl wie in einer Schmelze, dann wieder nach elektronischen Bauteilen oder ätzenden Laugen. Während Skerl über das Vipho versuchte, die ANZIO zu erreichen – ohne daß ihm Erfolg beschieden war –, wich er lose von der hohen Decke baumelnden Kabeln aus. Sie kamen nicht schnell genug voran. Auf eine sehr seltsame und gespenstische Art glich ihr Weg zum Schott einem jener merkwürdigen Träume, in denen man trotz verzweifelter Anstrengung einfach nicht von der Stelle kam. Major McGraves stieß zwei Roboter, die im Weg standen, einfach zur Seite und registrierte mit einem Grunzen der Genugtuung, wie sie klappernd zu Boden fielen und mit verdrehten Gehwerkzeugen liegenblieben. »Was ist, haben Sie Verbindung zum Schiff bekommen?« wollte er von Skerl wissen. »Keine, Sir. Ich komme einfach nicht durch – Verdammt!« stieß der Oberleutnant plötzlich grimmig hervor. »Was ist jetzt schon wieder? Hat denn hier nichts Bestand?« Sein Ausruf war nur zu verständlich. Von einem Moment zum anderen erwachten die Roboter in der Kaverne wieder zum Leben und nahmen ihre Tätigkeiten genau an der Stelle auf, an der sie sie unterbrochen hatten, als die Signale von Kosinus ausblieben. Und plötzlich wimmelte es um die beiden Terraner erneut von den unterschiedlichsten Robotertypen, die ihnen den Weg versperrten. Die Männer sahen sich einem Wall von Kosinus’ willfährigen me‐ chanischen Vasallen gegenüber. Langsam wichen sie zurück; ihr Ziel schien in weite Ferne zu
rücken. »Verflixt!« knurrte Skerl. »Wir brauchten unsere Waffen. Wir können uns nicht mal verteidigen, falls man uns ans Leder will.« »Ich glaube nicht, daß Kosinus dies vorhat«, sagte Chester McGraves tonlos. »Wenn er das wollte, wäre es längst geschehen. Aus irgendeinem Grund scheinen wir für ihn lebend von größerem Interesse zu sein.« Noch, dachte er im stillen. »Ihr Wort in Kosinus’ Schaltkreisen«, murrte Skerl gallig und ver‐ zog das Gesicht. »Ich würde mich nicht darauf verlassen. Maschinen lassen sich nicht von humanistischen Überlegungen leiten. Sehen Sie mal, Major!« machte er McGraves auf etwas aufmerksam. »Unser ›Sprachrohr‹ wird wieder aktiv. Offensichtlich hat Kosinus Neuig‐ keiten für uns.« Es waren in der Tat Neuigkeiten, die der kleine, vielfältig ge‐ gliederte Roboter für die beiden Männer hatte. Sie kamen allerdings nicht von Kosinus – obwohl er der Auslöser dafür sein mußte, da in dieser Höhle nichts ohne ihn über die Bühne ging –, sondern von… »Sir!« stieß Darren Skerl perplex hervor, als er das Signal erkannte, das »Sprachrohr« an sein Vipho übermittelte. »Wir haben Verbin‐ dung zur ANZIO!« * Kosinus hüllte sich noch immer in Schweigen. Mit finsterem Gesichtsausdruck wartete Vegas. Im stillen dachte er darüber nach, was er unternehmen wollte, falls seine unterschwelli‐ gen Befürchtungen sich bewahrheiten und die beiden Männer schon tot sein würden. »Verdammt!« sagte Ron Nozomi. Er wies mit dem Kopf auf die Kontrollschirme, auf denen die Felswand und das mächtige Schott an ihrer Basis klar zu erkennen waren. »Wir sollten den Berg unter Dustbeschuß nehmen und dem Spuk ein Ende machen.«
Die Miene des Ersten Offiziers verfinsterte sich. »Ist Ihr Verstand umnebelt, Ron?« grollte er. »Nichts dergleichen werden wir tun, solange wir nicht wissen, ob Major McGraves und Oberleutnant Skerl am Leben sind oder nicht.« »Mein Verstand ist klar«, gab Vegas’ Vierter Offizier und Astro‐ gator seinem Kollegen zu verstehen. »Ich habe mir lediglich erlaubt, eine Möglichkeit anzudenken, wie wir diese Situation klären könn‐ ten.« »Dazu ist immer noch Zeit«, warf Vegas in die Debatte, sie damit beendend. »Warten wir erst einmal ab, was…« Er verstummte, als ein Signal erklang. »ANZIO! Bitte kommen!« Major McGraves’ Stimme. Eindeutig. »Skipper, sind Sie da?« »Ja. Gut, Sie zu hören, Chester. Wie geht es? Was macht Ihr Pilot?« Die Übertragung wurde von erheblichen Störgeräuschen über‐ lagert, ein wütendes Zischen und Brodeln wie in einem überko‐ chenden Topf. »Können Sie das nicht herausfiltern?« wandte sich der Oberst an die Funk‐Z. »Schon dabei, Sir.« Als das Getöse endlich verstummte, war McGraves’ Stimme völlig klar zu vernehmen. »… sind beide wohlauf«, sagte er gerade. »Was ist geschehen? Warum können wir den Flash nicht mehr or‐ ten?« »Im Augenblick sieht es so aus, daß…« McGraves’ Stimme kam erneut nur schwach über den UKW‐Funk, als hätten die Signale Schwierigkeiten, durchzudringen. »Wir sind hier drin und kön‐ nen…« Die Störgeräusche nahmen wieder zu. McGraves’ Stimme ging darin unter und verschwand schließlich ganz. »Mist!« schimpfte Kerim Bekian. »Mister Dembaux, können Sie die
Verbindung nicht aufrechthalten?« »Tut mir leid, Sir. Dieser Kosinus«, Kano Dembaux betonte den Namen, als handle es sich dabei um ein Produkt, das man üblicher‐ weise auf Müllhalden ablud, »hat die Übermittlung unterbrochen.« »Immerhin wissen wir jetzt, daß unsere Männer noch am Leben sind und offensichtlich keine gravierenden Schäden davongetragen haben.« »Wir wissen inzwischen auch noch etwas anderes, Sir«, ließ Leut‐ nant Barelli verlauten. »Ich höre!« Derek Barelli besaß trotz seiner Jugend ein umfassendes Wissen über funktechnische Probleme. Er hatte volles, widerspenstiges schwarzes Haar und dichte, dunkle Brauen, die die grünen Augen überschatteten. Das Gesicht war mager, wirkte aber attraktiv. Der schmallippige Mund sah aus, als wäre er ständig zu einem lässigen Grinsen verzogen. »Offensichtlich hat eine Überladung stattgefunden, Sir«, in‐ formierte er den Kommandanten. »Die Analyse des Hergangs hat ergeben, daß dieser Kosinus über eine Art Rückkopplungseffekt in unseren Störsender eingedrungen ist und ihn so zur Explosion ge‐ bracht hat.« »Rückkopplungseffekt, sagen Sie. Hmm…« Der Oberst rieb sich den Nasenrücken. »Wenn er das fertigbringt, ist nicht aus‐ zuschließen, daß er das auch mit unserer gesamten Normalfunk‐ anlage an Bord machen kann. Stimmen Sie mir da zu, Mister Barel‐ li?« Der Leutnant nickte. »Davon ist auszugehen, Sir.« »Das heißt, wir müssen unseren Funk schützen«, sagte Vegas. »Und wie machen wir das?« Es war eine rhetorische Frage, an niemand Bestimmten in der Zentrale gerichtet. Derek Barelli fühlte sich dennoch angesprochen. »Sir, wir könnten alle Sender direkt vom Hyperkalkulator über‐
wachen lassen, der sie bei einer drohenden Überladung sofort ab‐ schaltet und vom Netz nimmt.« »Guter Vorschlag, Leutnant«, nickte Vegas. »Hoffen wir, daß er uns das gewünschte Ergebnis bringt.«
9. Die Aula der Raumfahrtakademie war bis auf den letzten Platz gefüllt. Für mehrere hundert Absolventen der Abschlußklasse war dies ein besonderer Tag, denn er bedeutete das erfolgreiche Ende ihres Studiums. Henner Trawisheim stand hinter dem schlichten Podium und schielte auf seine Uhr. Obwohl er nicht recht bei der Sache war, hatte seine einstudierte Rede die jungen Zuhörer in ihren Bann geschla‐ gen. Vor dem entscheidenden Schritt in ihre Karriere lauschten sie dem Commander der Planeten beinahe andächtig. Trawisheim schob ein paar Blätter Papier zusammen und beendete seine Rede mit den Worten: »Ich bedanke mich für Ihre Aufmerk‐ samkeit und wünsche jedem einzelnen von Ihnen für die Zukunft viel Glück und Erfolg.« Als er von dem Podium zurücktrat und die Bühne verließ, bran‐ dete Applaus auf, den der Cyborg auf geistiger Basis gar nicht richtig mitbekam. Gedanklich hatte er längst umgeschaltet und beschäftigte sich mit dem bisher größten Problem seiner kurzen Amtszeit als politischer Führer der Menschheit. Monty Bell hatte ihm kurz vor Beginn seiner Rede eine Nachricht zukommen lassen, in der er um eine sofortige Besprechung bat. Die MAX PLANCK war von ihrer Expedition zur Sonne zurückgekehrt. Mit wenig erfreulichen Neuigkeiten, wie Trawisheim befürchtete. Ansonsten hätte Bell Entwarnung gegeben, statt den Ge‐ heimnisvollen zu spielen und den Commander der Planeten mehr oder weniger unter Zugzwang zu setzen. Hinter der Bühne wartete bereits ein Mitarbeiter aus dem Forschungsinstitut. »Ephraim Rösler«, stellte er sich vor. »Ich soll Sie zu Mister Bell bringen.« Trawisheim nickte auffordernd und schloß sich dem steif auf‐ tretenden Mann an, der mit fliegenden Schritten vorauseilte. Er lief
zu einem A‐Gravschacht, der ins Untergeschoß der Akademie führ‐ te. Der neue Commander kannte Bells speziell abgeschirmten Be‐ reich, da er ihn seit seiner offiziellen Amtsübernahme zwei‐ oder dreimal besucht hatte. Durch einen hellerleuchteten Korridor ging es zu einem Konferenzraum, der zwölf Personen Platz bot. Monty Bell erwartete ihn bereits. Die Begrüßung der beiden fiel kurz und unförmlich aus. Sieben Personen, fünf Männer und zwei Frauen, saßen um einen ovalen Tisch herum, die Bell der Reihe nach vorstellte. Es waren diejenigen, die an Bord der MAX PLANCK zur Sonne geflogen waren, um dort Untersuchungen vor Ort vorzu‐ nehmen. »Behalten Sie bitte Platz.« Trawisheim sah den Wissenschaftlern an, daß sie mit schlechten Nachrichten aufwarteten. Er ließ sich auf einen freien Stuhl fallen und griff nach einem bereitstehenden Was‐ serglas. »Ich wünsche einen ausführlichen Bericht – auch wenn er mir nicht schmeckt.« Der Mann, den Bell als Desmond Ford vorgestellt hatte, ergriff das Wort. »Wir haben drei Gruppen gebildet, um unsere Ergebnisse miteinander abgleichen zu können und von vornherein zu vermei‐ den, daß wir uns gegenseitig beeinflussen. Leider sind wir zu ein‐ heitlichen Ergebnissen gelangt, aus denen wir die gleichen Schlüsse gezogen haben.« Ford lieferte den von Trawisheim geforderten ausführlichen Be‐ richt. Je länger er dauerte, desto mehr verfinsterte sich das Gesicht des Commanders. Er hatte mit einer weiteren negativen Entwicklung gerechnet, doch die düsteren Aussichten übertrafen seine Befürch‐ tungen bei weitem. Nachdem Ford seinen Bericht beendete, herrschte einige Sekunden lang Schweigen. Betreten schaute Bell zu Boden. Angesichts der niederschmetternden Fakten suchte auch Trawisheim nach den passenden Worten. Schließlich gab er sich einen Ruck. »Wieviel Zeit bleibt uns?« Bell legte den Kopf in den Nacken und starrte auf einen imaginären
Punkt unterhalb der Raumdecke. »Schwer zu sagen, da wir nur Schätzungen anstellen können, wie rasch die Veränderungen wei‐ tergehen.« Er rang mit seinen Händen. »Wir gehen von nicht mehr als ein paar Wochen aus.« »Vorschläge?« Niemand antwortete dem Commander. Als Trawisheim sich die Folgen des Schweigens ausmalte, glaubte er, in ein Schwarzes Loch zu stürzen. »Liebe Güte, Monty, wir benötigen zumindest einen Lösungs‐ ansatz. Denn wenn nicht sehr bald etwas geschieht, müssen wir die Maßnahmen zum Überleben der Menschheit beschleunigen. Das geht nicht unauffällig, also müssen wir die Lage noch vor dem endgültigen Abschluß unserer Untersuchungen bekanntmachen. Was das bedeutet, dürfte jedem in dieser Runde klar sein. Es wird eine Massenpanik ausbrechen.« Ford nickte düster. »Mit Millionen von Todesopfern. Ich darf mir gar nicht vorstellen, daß ein Kampf um die verfügbaren Raum‐ schiffkapazitäten ausbricht. In dem Versuch, von der Erde zu fliehen, wird sich jeder selbst der Nächste sein.« »Deshalb bin ich auf Ihre Ideen angewiesen, gleichgültig was sie kosten. Der Finanzfaktor ist in diesem Fall völlig unerheblich.« »Wie wäre es mit einer schrittweisen Evakuierung der Erde? Die‐ jenigen, die als erste ausgeflogen werden, sind zu strengstem Still‐ schweigen vergattert.« Trawisheim winkte ab. »Das funktioniert nicht. Eine undichte Stelle gibt es immer, und dann wird man uns vorwerfen, die Men‐ schen zu belügen. Eine derart großangelegte Aktion kann sowieso nicht unbemerkt bleiben. Wenn erst einmal Mißtrauen ausbricht, wird die Panik noch viel schlimmer ausfallen, weil jeder denkt, daß wir noch mehr verheimlichen.« »Ohnehin läßt sich nur ein Bruchteil der Menschheit an andere Orte evakuieren«, überlegte Demi Hoffman. »Wir haben Babylon und eine Reihe weiterer Kolonialwelten als Ausweichplaneten,
eventuell Eden. Doch selbst da sind wir schon auf Terence Wallis’ guten Willen angewiesen.« »Hm«, machte Ian Carus nachdenklich. Trawisheim sah ihn an. »Ja? Wenn Sie etwas zu sagen haben, nur heraus damit. Ich bin für jeden noch so kleinen Vorschlag dankbar.« »Auch wenn ich mit meiner Meinung vielleicht allein dastehe, finde ich, wir sollten uns mehr darum kümmern, das Problem an der Wurzel zu packen. Mögliche Rettungsmaßnahmen stellen dazu nur eine Alternative dar.« Bell nickte seinem Mitarbeiter auffordernd zu. »Wir sind uns einig, noch ein paar Wochen Zeit zu haben«, fuhr Carus fort. »Das ist nicht viel, aber uns bleibt ein Hand‐ lungsspielraum. Denken wir doch mal logisch. Es ist ein Natur‐ gesetz, daß nichts spurlos verschwinden kann.« »Worauf wollen Sie hinaus?« fragte Trawisheim voller Ungeduld. »Auf die abhandengekommene Sonnenmasse. Wo ist sie geblie‐ ben? Hätte die Sonne diese Materie in Energie umgewandelt, wäre sie heißer geworden statt kälter. Ich schließe daraus, daß die verlo‐ rene Materie noch existiert.« »Und wo?« »Das finden wir hoffentlich heraus, wenn wir danach suchen.« Verblüfft schaute der Commander den Forschungsleiter an. »Ihre Meinung, Mister Bell?« »Meine Meinung ist, daß wir anscheinend ein wenig betriebsblind werden. Carus’ Idee ist so naheliegend, daß ich längst selbst darauf hätte kommen müssen. Wenn wir herausfinden, wohin die Son‐ nenmaterie verschwindet, haben wir auch die Ursache unseres Problems, und die können wir dann womöglich ausschalten.« Der Commander der Planeten erhob sich. »Machen Sie sich un‐ verzüglich an die Arbeit. Ich will wissen, aus welchem Grund; und auf welchem Weg unsere Sonne ihre Masse verliert. Finden Sie he‐ raus, was da abläuft. Ihnen stehen unbegrenzte Mittel zur Verfü‐ gung, über die Sie ohne Rückfrage verfügen können. Nur liefern Sie
mir Ergebnisse.« Er verabschiedete sich und verließ die Konferenz. Auch wenn sie dank Carus’ unverbauter Denkweise nun doch noch ein heißes Eisen im Feuer hatten, kam er um weitere Maßnahmen nicht herum. Ein katastrophales Szenario spulte sich in Trawisheims Gedanken ab: der Verlust von drei Milliarden Menschen. Doch selbst diese Zahl war längst nicht mehr realistisch. Insgeheim befürchtete der Com‐ mander weit mehr Tote. * In der Kommandozentrale der POINT OF war es still wie selten. Niemand war nach einem Scherz zumute. Der Routineflug mit Sternensog machte auch keine Meldungen nötig, solange es nicht zu unvorhergesehenen Zwischenfällen kam, und die waren auf dem Flug nach Hope nicht zu erwarten. Unwirklich wie Glühwürmchen in der Nacht flogen die Sterne vorbei. Sie hatten etwas Hypnotisierendes an sich, wenn man das Bild eine Weile auf sich einwirken ließ. Ren Dhark saß ge‐ dankenversunken im Kommandantensessel des Ringraumers und beobachtete den Weltraum in der Bildkugel, in der auch Dalons ASGOR zu sehen war. Seine Gedanken kreisten um den Worgun, der einst Arc Doorn gerettet hatte und nun über eine dauerhafte Bild‐ sprechverbindung zugeschaltet war. Doorn hielt sich nicht in der Zentrale auf, sondern war wortlos in seine Kabine geflohen, wahr‐ scheinlich um seiner Frau Doris die Wahrheit zu beichten. Nämlich daß er kein Mensch war, sondern einer aus dem Volk derer, welche die Terraner so lange als Mysterious bezeichnet hatten. Wie nur kam Dalon auf die Idee, auf Hope – oder Kaso, wie die Gestaltwandler den Planeten nannten – noch Hinweise auf die Ma‐ nipulation von Sonnen zu finden? Ren wünschte, er hätte Dalons Zuversicht teilen können, doch in diesem Punkt sah er schwarz. Zuviel auf Hope war zerstört.
Als Commander der Planeten hättest du dir diese Schwarzseherei nicht leisten dürfen, sagte er sich. Das war der Vorteil eines Privatmen‐ schen. Wenngleich er sich immer noch verantwortlich für die Ge‐ schicke der Menschheit fühlte, sah er manches vielleicht desillusio‐ nierter als zuvor. Trotzdem glaubte Ren unerschütterlich daran, daß auch diesmal alles gutgehen würde. Sie hatten noch immer einen Weg gefunden, ein der Menschheit drohendes Verhängnis abzu‐ wenden, und davon hatte es reichlich gegeben. Mit Geschick, gele‐ gentlicher List und der Menschen eigenen Zielstrebigkeit hatten sie sämtliche Gefahren abgewendet, wenn auch zuweilen mit hohen Verlusten. Letztlich hatten sie stets überlebt und sich von ihrem Weg ins Weltall nicht abbringen lassen. Warum sollte es bei der neuen Bedrohung anders sein? Weil jede Glücksserie einmal riß? Weil das Universum am Ende doch seine letzte Trumpfkarte ausspielte? Nein, das durfte einfach nicht geschehen. Ihm blieb gar nichts an‐ deres übrig, als positiv zu denken und zuversichtlich in die Zukunft zu schauen. Dhark wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Bert Stranger die Zentrale betrat. Er machte ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Seine schlechte Laune war noch nicht verraucht, aber das hinderte ihn nicht daran, mit einer Minikamera Aufnahmen zu machen. Hen Fallutas vorwurfsvollen Blick tat der dickliche Mann mit dem un‐ schuldigen Kindergesicht mit einem Achselzucken ab. »Will mir hier auch noch jemand verbieten, meiner Arbeit nach‐ zugehen?« fragte Terra‐Press’ erfolgreichster Reporter mit frostiger Stimme. »Die Knüppel, die Trawisheim und die GSO mir zwischen die Beine geworfen haben, reichen doch wohl.« »Soll ich ihn aus der Zentrale entfernen lassen?« fragte Leon Bebir keine Spur freundlicher. Dhark winkte ab. »Stranger weiß selbst am besten, daß er seine Aufnahmen nicht verwenden darf.« »Was?« Der Reporter starrte ihn an. »Das ist nicht Ihr Ernst, Dhark.
Ich warte doch mit einer Veröffentlichung, bis all das hier vorüber ist. Danach gibt es keinen Grund mehr für eine Geheimhaltung – wenn dann überhaupt noch jemand lebt, den mein Bericht interes‐ siert.« Ren empfand einen Stich bei den Worten und setzte zu einer har‐ schen Antwort an. Er kämpfte seine Verärgerung nieder, weil er begriff, daß Stranger ihn nicht provozieren wollte. Dessen Fatalis‐ mus war echt. Er verfügte nicht über den unerschütterlichen Opti‐ mismus eines Ren Dhark, der selbst der scheinbar ausweglosesten Lage noch etwas Positives abgewinnen konnte. »Wenn Sie das hier überleben, wird niemand Sie an einer grund‐ sätzlichen Berichterstattung hindern, Bert«, sagte er mit einem mil‐ den Lächeln. »Ihre Aufnahmen werden nur vorab gesichtet. Wenn Sie Glück haben, wird ein Teil davon freigegeben, aber ich muß Ih‐ nen nicht sagen, daß das meiste unter Verschluß bleibt. Denn viel von dem, was Sie an Bord der POINT OF sehen, unterliegt weiterhin der Geheimhaltung.« »Das ist Zensur, Dhark, und das wissen Sie verdammt genau.« »Durchaus, Bert. Und Sie wissen genau, daß Vertreter ver‐ schiedener Fremdvölker die Terra‐Press‐Nachrichten und andere terranische Medienberichte aufmerksam verfolgen. Sie wollen doch nicht zum Geheimnisverräter werden?« »Das kostet«, grummelte Stranger beleidigt. »Irgendwann serviere ich der Regierung die Rechnung für mein Stillschweigen, und die wird nicht billig.« Dhark war froh, als Dalon sich über die Bildsprechverbindung meldete und sich nach Arc Doorn erkundigte. »Hat Arcdoorn mir inzwischen verziehen, daß ich sein Geheimnis aufgedeckt habe?« »Geheimnis?« hörte Stranger sofort wieder das Gras wachsen. Er vergaß sogar, weitere Aufnahmen zu machen. »Kann mir das mal jemand näher erklären? Ich bekomme es ja doch raus.« Ren schüttelte den Kopf, obwohl ihm klar war, daß sich Doorns wahre Herkunft nicht mehr lange verbergen ließ, da Dalon sie ein‐
mal angesprochen hatte. Doch es war weder an ihm noch an seinen bereits eingeweihten Offizieren, die tatsächliche Abstammung des Sibiriers publik zu machen. »Wenn hier einer etwas erklärt, dann bin ich das.« Sämtliche Blicke richteten sich auf Arc Doorn, der soeben die Zentrale betrat. In seinem wie versteinert wirkenden Gesicht zeigte sich keine Regung, doch schon seine Körperhaltung drückte seine gewohnt brummige Art aus. Er hatte Dalons Frage nach seinem Verbleib gerade noch mitbekommen. Dhark sah, daß Stranger seinen Körper anspannte wie eine Raub‐ katze vor dem entscheidenden Sprung auf die Beute. Lauernd ta‐ xierte er den rothaarigen Sibirier und brachte wieder seine Aufnah‐ mekamera in Anschlag. »Lassen Sie das!« forderte Doorn mürrisch. »Sonst verschwinde ich auf der Stelle wieder.« »Stranger!« Allmählich wurde es Ren zu bunt. »Runter mit der Kamera, oder ich komme Bebirs Vorschlag nach und lasse Sie in Ihr Quartier führen.« »Na, prima. Jetzt werden auch noch meine letzten Freiheiten be‐ schnitten«, beschwerte sich der Reporter. Trotzdem ließ er sein Gerät sinken. Doorn nickte dankbar. »Bevor Dalon die Wahrheit über mich in die gesamte Galaxis hinausposaunt, mache ich das lieber selbst«, er‐ klärte er. Dann berichtete er in kurzen Worten, was Dhark und einige andere bereits seit Dalons ausführlicher Schilderung in Trawisheims Büro wußten. Sekundenlang herrschte nach seinen Worten ungläubiges Schwei‐ gen, gefolgt von einem lautstarken Tumult. Diejenigen, die in Tra‐ wisheims Büro dabeigewesen waren, hatten bisher eisern ge‐ schwiegen. Für alle anderen waren Doorns Worte eine Sensation. Der angeblich elternlos aufgewachsene Sibirier war wie Dalon in Wahrheit ein Worgunmutant, der seine Form nicht mehr verändern konnte! Und sein tatsächliches Alter belief sich auf schlappe 2608
terranische Jahre! »Endlich begreife ich Doorns unheimliches Verständnis für fremde Technologie«, rief Tino Grappa kopfschüttelnd. »Daß er zu den Mysterious gehört, erklärt alles.« Der rothaarige Mann warf dem Ortungschef einen giftigen Blick zu. »Von wegen! Ich bin ein Mensch – jedenfalls fühle ich mich nach 2410 Jahren auf der Erde so. Das ist ja wohl mein gutes Recht.« »Natürlich ist es das«, versicherte Stranger, der voll in seinem Element war. Er fühlte sich wie ein Schoßkind des Glücks, denn diese Geschichte, die sich ihm ganz exklusiv bot, war der Hammer, der seinen Bekanntheitsgrad noch weiter steigern würde. »Wenn Sie mir ein ausführliches Interview geben, sorge ich dafür, daß niemand Ihnen dieses Recht absprechen wird.« »Lassen Sie mich doch in Ruhe, oder soll ich Sie mit Ihrer Kamera füttern?« Stranger gab einen entsetzten Ausruf von sich. Unversehens war Chris Shanton neben ihm und schob ihn mit seinen schaufelgroßen Händen beiseite. »Halten Sie jetzt mal Ihre Klappe, Stranger, sonst hetze ich Jimmy auf Sie.« Der Roboterhund mit der Form eines Scotchterriers, der sich na‐ türlich in Begleitung seines Herrchens in der Zentrale aufhielt, gab ein rasselndes Geräusch von sich, das an hämisches Gelächter erin‐ nerte. »Sag mir, wenn ich ihn beißen soll. Am liebsten wäre mir al‐ lerdings, wenn du ihm vorher eine Postbotenuniform anziehst. Ich hab von meinen biologischen Verwandten erfahren, daß die beson‐ ders lecker schmecken sollen.« »Schnauze, Jimmy.« »Das finde ich auch«, stieß Stranger empört aus. Der schwergewichtige Cognacliebhaber zog den widerstrebenden Doorn mit sich in einen Winkel der Zentrale, wo niemand seine Worte verstand. »Es ist doch nicht schlimm, daß die Wahrheit heraus ist«, sagte er. »An unserem Verhältnis ändert das jedenfalls nichts. Du bist nicht
nur ein hochgeschätzter Kollege, sondern auch mein Freund, Arc. Daran ändert sich nichts.« »Das hat Dhark ebenfalls gesagt, doch daran glaube ich nicht.« »Befürchtest du, daß man dich plötzlich nicht mehr als Menschen anerkennt? Niemand wird vergessen, was du für die Menschheit getan hast.« Doorn schüttelte den Kopf. »Viel schlimmer. Denk mal an meine Lebenserwartung von zehntausend Jahren. Die Menschen werden auf meine relative Unsterblichkeit neidisch sein. Das letzte, was ich ertragen will, sind Neid oder auch Mitleid.« Shanton verzog das Gesicht. Er konnte sich genau vorstellen, was in Doorn vorging. »Ich will dir nichts vormachen. Vielleicht wird es diesen Neid geben. Langlebigkeit ist nun mal einer der größten Wünsche der meisten Menschen, und ich kann dir nicht versprechen, daß manche nicht so empfinden.« »Da hast du es.« »Gar nichts habe ich!« brauste Shanton verärgert auf. »Ich bin nicht neidisch. Mach dir das mal klar. Punkt!« Er deutete in die Runde. »Und von den anderen bestimmt auch keiner. Das hier sind deine Freunde, Kameraden und Kollegen, egal ob du Mensch oder Wor‐ gun bist, und auf die Meinung von Fremden hast du ja wohl noch nie besonders viel gegeben.« »Mich hat der Dicke auch akzeptiert«, warf Jimmy ein. »Dabei weiß er genau, daß ich ihn um eine halbe Ewigkeit überleben werde.« Doorn schielte zu dem wegen seines dichten schwarzen Fells häu‐ fig als Brikett auf Beinen titulierten Roboter. Der Anflug eines Lä‐ chelns huschte über sein Gesicht. »Wer weiß, ob Shanton dich wirk‐ lich entworfen hat. Ich glaube, hier würde es jetzt keinen mehr wundern, wenn du dich ebenfalls als ehemaliger Worgun zu erken‐ nen gibst.« »Nix da. Ich ziehe es vor, meine kleinen Geheimnisse für mich zu behalten, sonst habe ich auf einmal diese Klette von Stranger am Hals.«
»Da das nun geklärt ist, habe ich auch eine Frage«, mischte sich Anja Riker ein und nahm der Situation die Schärfe. »Und zwar an Dalon.« »Ich höre«, antwortete der Angesprochene. »Weshalb sind Sie auf die Erde zurückgekehrt, statt nach Orn zu fliegen? Dorthin wollten Sie doch bei unserem letzten Zu‐ sammentreffen .« Eine gute Frage, fand Dhark. Er hatte noch gar keine Gelegenheit gehabt, darauf einzugehen, allerdings war er sicher, die Antwort bereits zu kennen. Dalons Worte bestätigten seine Vermutung. »Ich hatte Kurs Richtung Orn gesetzt und war voller Vorfreude, meine Heimat nach 500 Jahren endlich wiederzusehen. Sehr weit kam ich jedoch nicht. Nach zwei Millionen Lichtjahren versagte der Antrieb der ASGOR, und mir blieb nichts anderes übrig, als umzu‐ kehren.« »Also ist Ihr Rechner ebenfalls von dem Virus infiziert, das auch unsere Rückkehr nach Orn verhinderte.« »Ich kann es mir nur auf dem Schrottplaneten eingefangen haben, als unsere Hyperkalkulatoren Kontakt miteinander hatten. Ich habe versucht, es zu lokalisieren. Ergebnislos. Es muß sich um ein geniales Programm handeln, wenn es sich nicht einmal mit Hilfe des Hyper‐ kalkulators aufspüren läßt. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie es aussehen könnte.« »Da geht es dir wie uns«, befand Doorn. Es war nicht zu erkennen, ob sich seine Stimmung allmählich besserte. »Unsere Nachfor‐ schungen sind ebenfalls samt und sonders gescheitert. Orn bleibt uns verschlossen.« »Ich bin schon beinahe froh, daß es uns gelingt, Kaso anzusteuern«, befand Dalon. »Ich bekomme den Planeten eben in die Ortung.« Im gleichen Moment bestätigte Tino Grappa. Dhark nickte. »Auf Landeanflug vorbereiten.« Mit den Bildern von Hope kamen die Erinnerungen. Dort hatte vor mehr als elf Jahren das Abenteuer mit der POINT OF begonnen.
* Hope war der fünfte von achtzehn Planeten der Doppelsonne Col, deren beide Komponenten zur Spektralklasse B gehörten. Die Sauerstoffwelt mit 6023 Kilometern Durchmesser besaß eine Schwerkraft von 0,89 g und eine Rotationsdauer von 23 Stunden und 22 Minuten. Mit ihren drei Monden war sie etwa 27.000 Lichtjahre von der Erde entfernt. Die geringen Landmassen, die nur zehn Pro‐ zent der Planetenoberfläche von Hope ausmachten, waren in Form von 31 Inselkontinenten weitgehend entlang des Äquators gruppiert. Der größte von ihnen war auf den Namen Main Island getauft wor‐ den, der kleinste hieß Deluge. Unwillkürlich fühlte Dhark sich in die Vergangenheit zurück‐ versetzt, als schlaglichtartig Bilder durch seinen Geist wehten. Er sah die unter dem Kommando seines Vaters stehende und durch eine Fehlfunktion des »Time‐Effekts« gestrandete GALAXIS. Die Siedlerstadt Cattan, zu deren Präsident Rico Rocco im Juli 2051 gewählt worden war. Die Deportation von Kolonisten, die Rocco unliebsam waren, auf die kleine Dschungelinsel Deluge. Den Tod des Tyrannen im Oktober des gleichen Jahres durch einen Angriff der Amphis. Schließlich die Entdeckung des Industriedoms, einer 900 Quadrat‐ kilometer großen unterirdischen Anlage der Mysterious mit der Ringraumerhöhle, in der Margun und Sola vor über tausend Jahren mit dem Bau der POINT OF begonnen hatten. Der Industriedom hatte den Weißen Blitz, der bei der Transition der Galaxis Drakhon an den Rand der Milchstraße entstanden war, nur dank seines aktivierten Intervallfelds überstanden. Sämtliche technischen Einrichtungen der Worgun, die während des Blitzes nicht durch ein Intervall geschützt gewesen waren, waren dabei auf subatomarer Ebene unwiederbringlich zerstört worden. Insofern mußte man dankbar sein, daß überhaupt noch Einrichtungen der
unterirdischen Anlage funktionierten. Das änderte aber nichts an der Tatsache, daß schon lange davor eine spezielle Sicherung die Hälfte der Anlage mit dem gesammelten Worgun wissen vernichtet hatte. Wußte Dalon mehr, als er preisgab? Seine Hoffnung, noch auf verwertbare Daten zu stoßen, mußte einen Grund haben. Oder trieb ihn etwas ganz anderes nach Kaso, wie neben den Worgun auch Salter und Römer den Planeten nannten? Dhark schüttelte den Gedanken ab. Er hatte keinen Anlaß, Dalon zu mißtrauen, der ebenso ein Vertriebener aus seiner Heimat war wie einst Gisol. »Wir nähern uns Hope«, meldete Falluta, der das Abbrems‐ manöver eingeleitet hatte. »Kein Schiffsverkehr, nicht mal ein Be‐ grüßungskomitee.« »Das kann uns nur recht sein, solange niemand auf die Idee kommt, nach den Gründen unseres plötzlichen Besuchs zu fragen.« Riker sah seinen Freund an. »Auch wenn die Erdregierung unseren Besuch angekündigt hat, wird man neugierig sein, was wir wollen.« »Hauptsache, niemandem rutscht eine falsche Bemerkung heraus. Wir reden uns einfach damit heraus, nur mal wieder nachfragen zu wollen, ob es bei der weiteren Erforschung des Industriedoms Fort‐ schritte gegeben hat.« »Wenn das so wäre, hätte man die Erde längst informiert. Au‐ ßerdem würden wir deshalb wohl kaum persönlich vorbeischauen. Das nimmt uns keiner ab, Ren.« Ren überhörte den Einwurf des ehemaligen Chefs der Terranischen Flotte. »Funk‐Z, Funkverbindung herstellen und um Landeerlaubnis bitten.« Sekunden später kam die Bestätigung. »Wir können runter‐ kommen. Man hat bereits auf unser Eintreffen gewartet.« Dhark sah auf, als sein Ringraumer durch die Wolkendecke der relativ feuchten Wasserwelt stieß. Wenig später setzte die POINT OF auf dem Raumhafen von Deluge auf, auf dem lediglich ein verwais‐ ter Beuteraumer aus Giantproduktion geparkt war. Bei der Landung
erwies er sich als Einhundertmeterjäger mit dem Namen JULES VERNE. »Dan, du begleitest mich. Dazu Anja, Doorn und Shanton.« Über die Bildsprechverbindung nickte Dhark dem Worgun zu. »Dalon, wir treffen uns draußen.« Guliver Bligh, der Sicherheitschef von Hope, erwartete Ren Dharks Abordnung bereits.
10. »Langsam geht mir das Ganze aber so was gegen den Strich«, knurrte Chester McGraves mürrisch. »Was wollen wir dagegen unternehmen?« fragte Skerl pragmatisch und zu allem bereit, wie es den Anschein hatte. Es waren erst wenige Minuten vergangen seit dem Kontakt mit der ANZIO, der gerade dazu ausgereicht hatte, dem Kommandanten ihre Unversehrtheit zu versichern. »Sehen wir uns ein wenig um. Vielleicht ergibt sich dabei die eine oder andere Gelegenheit, um unsere Lage zu verbessern. Es sieht so aus, als habe Kosinus im Augenblick andere Probleme, als sich mit uns zu beschäftigen. Haben Sie bemerkt, daß keiner seiner Roboter‐ sklaven auch nur den Hauch von Interesse an uns zeigt?« »Schon. Aber das kann sich sehr schnell ändern.« »Eben«, erwiderte der Major. »Nutzen wir also die Gunst des Au‐ genblicks.« »Ich bin dabei, Sir.« Chester McGraves runzelte erst die Stirn, dann grinste er. »Bleibt Ihnen ja auch nichts anderes übrig, Darren.« »Eben«, übernahm der Oberleutnant den Ausspruch des Majors. Sie setzten sich in Bewegung. Vorsichtig zunächst, dann offener. Dabei suchten ihre Blicke die Umgebung nach möglichen Bedro‐ hungen durch die Roboter ab. Doch niemand scherte sich um sie. Der vordere, zentrale Teil der Höhle ließ erkennen, daß er durch hocheffiziente Maschinen aus dem Berg gefräst worden war; Desin‐ tegratoren hatten den Abraum verdampft und über Abluftkanäle ins Freie befördert. Die Wände waren glatt, der Boden eben. Das bezog sich jedoch nicht auf die gesamte Kaverne. Im hinteren Teil münde‐ ten mehrere Stollen in die Höhle, die den Schluß zuließen, daß sie nachträglich angelegt worden waren. Irgendwo im Inneren des Berges schien gearbeitet zu werden. Ein
beständiges Grummeln lag gerade so an der Schwelle des Hörbaren. Hin und wieder erzitterte der Boden unter schweren Erschütterun‐ gen, die auf Sprengungen hindeuteten. War man damit beschäftigt, die Höhle zu vergrößern, Platz zu schaffen für… ja, für wen oder was? Oder ließ Kosinus nach verwertbaren Rohstoffen graben? Die Antwort auf diese Frage blieb vorerst unbeantwortet; überall herrschte geschäftiges Treiben. Kosinus’ Diener schienen keinen Augenblick innezuhalten in ihrem Tun. Der hintere Teil der Kaverne war mit Maschinenresten, unbe‐ kannten Werkzeugen und Roboterteilen vollgestopft. Vieles trug noch die Spuren des Kampfes, und es stank nach verbrannter Hyd‐ raulikflüssigkeit und Schmiermitteln. Eine größere Nische – mehr eine Nebenhöhle – wurde von einem guten Dutzend Roboter unterschiedlicher Form und Größe dazu benutzt, aus den Überresten zerstörter Roboter funktionstüchtige Mitstreiter neu zusammenzusetzen. Die beiden Terraner setzten ihre Exkursion fort. Ihre Schritte gin‐ gen im allgegenwärtigen Lärm unter. »Was ist das hier?« wunderte sich Darren Skerl und sprach damit, ohne es zu wissen, Chester McGraves’ Gedanken aus. »Eine Fabrik für Roboter«, sagte der Major. »Kosinus ist dabei, sich einen Hofstaat zu schaffen.« »Hofstaat? Meine Güte! Wie lange ist es her, daß man ihn in diese Kaverne verbannt hat, und schon ist er dabei, sich zu ver‐ selbständigen!« »Er folgt einem Programm«, versetzte der Major mit verkniffener Miene nachdenklich. »Fragt sich nur, was dabei am Ende heraus‐ kommt.« »Wenn ich mir das wenige vor Augen halte, das ich über diese unbekannte Roboterzivilisation weiß, fehlt eigentlich ein wesentli‐ cher Bestandteil«, bekannte Skerl. Der Major sah ihn an. Dann huschte ein Ausdruck des Verstehens über sein Gesicht.
»Ich weiß, was Sie sagen wollen, Darren. Auch mir ist es schon aufgefallen. Ich sehe keine Kampfroboter, die seine Macht repräsen‐ tieren…« »Bis jetzt«, sagte Skerl mit merkwürdiger Betonung. »Was halten Sie denn hiervon?« Er trat zur Seite, um die Sicht freizugeben. Chester McGraves brauchte einen Moment, um zu verarbeiten, was er sah. Dann begriff er, um was es sich handelte. »Meine Güte!« stieß er hervor. »Er fängt schon an damit!« McGraves’ Ausruf hatte seine Berechtigung. In diesem Abschnitt der Kaverne erfüllte eine rechnergesteuerte Vorrichtung eine Arbeit, die darin bestand, Blaster zu produzieren. Strahlwaffen, deren Aussehen einen Schock in den beiden Männern auslöste. »Das sind doch Flottenwaffen!« Skerl verstand nicht. Es war der Major, der sofort die Zusammenhänge begriff. »Es sind unsere eigenen«, klärte er den Oberleutnant auf, »die man uns während unserer Ohnmacht abgenommen hat. Sie dienen jetzt als Muster für eine Serienproduktion. Unser Rechnerfreund will seine Roboter für einen Kampf rüsten. Sehen Sie doch!« Aus einer Öffnung kamen Roboter, liefen zur Maschine, verhielten kurz und bekamen jeweils einen Blaster an den linken Handlungs‐ arm geschweißt. Gedrungene, halbkugelförmige Wartungsroboter mit einer Vielzahl von Greifwerkzeugen überprüften den Vorgang, nahmen eventuell nötige Einstellungen vor und entließen die so ausgerüsteten Kampfroboter aus den Klauen der Maschine. Es war Fließbandarbeit. Automatisiert. Zwar noch mit nur mäßigem Tempo, aber McGraves war sicher, daß Kosinus, hatte er erst einmal die nötigen Programme verfeinert, den Ausstoß erheblich zu steigern in der Lage sein würde. Die neu entstandenen Kampfroboter sammelten sich ein paar Me‐ ter weiter zu einer losen Gruppe und erstarrten zur Reglosigkeit.
Offenbar fehlte noch das nötige Aktivierungsprogramm. Skerl sog scharf die Luft ein, beobachtete das Geschehen mit zu‐ sammengekniffenen Augen. Man sah, daß es in ihm arbeitete. »Wollen wir nicht dem Spuk ein Ende bereiten?« stieß er rauh hervor. Der Major überlegte keine Sekunde. »Ich bin dabei«, sagte er. »Wie?« »Wir greifen uns einfach zwei Blaster«, schlug Skerl kühn vor. »Natürlich«, nickte der Major. »Wenn’s weiter nichts ist…« Dann umwölkte sich seine Stirn. »Sie meinen das ernst, Darren, nicht wahr?« »Was dachten Sie? Sollen wir vielleicht darauf warten, bis es die‐ sem Kosinus einfällt, daß es uns auch noch gibt? Ich für meinen Teil möchte nicht so lange warten, schon gar nicht jetzt, da ich weiß, daß draußen vor dem Schott die ANZIO auf uns wartet.« »Recht haben Sie junger Mann. Und wie stellen wir’s an?« »Diskret«, griente Skerl und blickte verwegen. McGraves seufzte. »Dann nichts wie los!« Unauffällig bewegten sie sich in Richtung der Maschine, paßten den richtigen Moment ab und glitten zwischen die wartenden Ro‐ boter. Es war einfacher, als sie gedacht hatten. Niemand nahm ernsthaft von ihnen Notiz. Auch nicht, als sie sich zwei Blaster griffen. Die Situation eskalierte insofern dann doch, weil die Bogenschweißvorrichtung Darren Skerl partout einen weiteren Blaster an die Hand nageln wollte. Offenbar hatte der versehentlich das dafür erforderliche Signal ausgelöst. Fluchend entzog sich der Oberleutnant den zupackenden Greifern. Der Lichtbogen flammte ins Leere, und der Blaster polterte auf den Boden. Das erzeugte eine Stockung im mechanisierten Ablauf.
Doch ehe ein Überwachungsmodul die Störung an Kosinus wei‐ tergeben konnte, handelten die beiden Männer bereits. Sie sprangen ein paar Schritte zurück, hoben die Strahler. »Zuerst die Waffenproduktion«, stellte der Major klar. Beide feuerten zeitgleich. Die hellen Energiebahnen fraßen sich in die Maschine, ver‐ flüssigten Metall, das nach allen Seiten spritzte. Stakkatoartige Ex‐ plosionen drangen aus dem Innern. Dann blähte sie sich auf, ehe sie in einer unerwarteten Implosion in sich zusammenstürzte. Die Produktion von Kampfrobotern würde für absehbare Zeit wohl auf Eis gelegt werden müssen. »Achtung!« warnte McGraves. »Dort drüben!« Links von ihnen setzten sich einige der mit Waffen versehenen Roboter in Bewegung, ihre Handlungsarme waren auf die Terraner gerichtet. Nahezu zeitgleich feuerten der Major und Darren Skerl auf die metallenen Gestalten. Der helle, eng gebündelte und präzise gezielte Energiestrahl aus Skerls Waffe traf den ersten Roboter. Sein vorderes Linsensystem leuchtete grell auf. Energetische Entladungen zuckten blitzlichtartig über seine Gestalt, dann riß ihn eine Explosion auseinander. Auch McGraves’ Schuß saß. Der zweite Roboter sah sich plötzlich seines Handlungsarmes ledig, den ihm der Strahl vom Leib getrennt hatte. Mit dem anderen, waffenlosen Arm machte er unkoordinierte Schießbewegungen, ehe ihm ein zweiter Schuß aus McGraves’ Waffe den Garaus machte. Er stürzte in sich zusammen und brannte rau‐ chend und feuersprühend aus. Skerl und McGraves schossen schnell, wohlüberlegt und sehr ge‐ nau. Wesentlich genauer als die Roboter, die einen wenig zielge‐ richteten Eindruck machten. Kein menschliches Wesen reagierte so schnell wie ein Roboter – wenn dessen Programmierung vollständig war. Diese hier wiesen
jedoch noch ein erhebliches Defizit an Koordinierung auf. Hat Kosinus Schwierigkeiten mit der Implementierung von Subroutinen für seine Kampfroboter? durchzuckte es Skerl. Wenn ja, konnte das nur zu ihrem Vorteil sein. Darren Skerl empfand so etwas wie leichten Triumph. Der Sieg des Verstandes über die Maschine. Ein einzelner Roboter kam auf sie zugelaufen, rannte in einen Volltreffer hinein und krachte zu Boden. Eine nicht optimal justierte Schaltung bewirkte, daß sich die Energie des Waffenarms entlud. Der Mechanische fing Feuer. Es stank penetrant nach geschmolze‐ nem Metall, nach glühenden Drähten und Leitungen. Weitere Metalldiener stapften unbeirrbar durch die brennenden und qualmenden Trümmer auf die Männer zu. »Himmel!« zischte Skerl. »Nimmt das denn überhaupt kein Ende?« »Darren! Achtung! Links von Ihnen!« Skerl erhaschte aus den Augenwinkeln eine Bewegung, fuhr he‐ rum und hob den Strahler. Er erwischte den Roboter, ehe dieser ihn erreicht hatte. Dann endeten die maschinenhaft stupiden Angriffe. Für Sekundenbruchteile warteten die beiden Männer, aber nie‐ mand schien ihnen noch nach dem Leben zu trachten. »Los!« befahl Major McGraves. »Kümmern wir uns um Kosinus.« »Bin ich auch dafür«, grunzte Skerl böse. »Machen wir Tabula ra‐ sa.« Von ihrem Standort aus bis hinüber zur anderen Hallenseite muß‐ ten sie durch das Sammelsurium von Arbeitsrobotern, ehe sie in die Nähe des massiven, aufragenden Gehäuses gelangten, das Kosinus in sich barg. Die Lichtpunkte, die hinter der schwarzen, glasartigen Oberfläche zu sehen waren, schienen sich vermehrt zu haben, seit sie sie das letztemal zu Gesicht bekommen hatten. Waren dies die sichtbaren Ausweise von Anzeigen und Instrumenten? Fasziniert starrte Skerl auf den Rechner, ehe ihn die Stimme des
Majors in die Wirklichkeit zurückholte. »Schießen Sie, Darren. Wir dürfen ihm keine Chance lassen… jetzt!« Chance lassen wozu? wunderte sich Skerl für den Bruchteil einer Sekunde, ehe er den Blaster hob und abdrückte. Die eng fokussierten Strahlen fauchten durch die Luft auf Kosinus zu – und wurden von etwas Unbegreiflichem abgelenkt. Skerl stieß einen überraschten Laut aus, feuerte aber weiter. »Hören Sie auf, Darren!« rief McGraves und ließ seinen Blaster sinken. »Wir richten nichts aus, merken Sie das nicht? Kosinus schützt sich mit einem Karoschirm!« Der Oberleutnant fluchte wild und starrte auf die massive Präsenz des Rechners, dessen schwarzschimmernde Oberfläche ihn zu ver‐ höhnen schien. Dann senkte er ebenfalls den Strahler. Er mußte sich eingestehen, daß ihnen mit den Handwaffen wohl kein Erfolg gegen die Kleinausgabe eines Karoschirms beschieden war. Aber auch nicht mit größeren Waffen, wie er sehr wohl wußte. Karoschirme – diesen Namen hatten die extrem starken Schutz‐ schirme der fremden Roboterzivilisation von den Terranern wäh‐ rend der Kämpfe um Grah erhalten, da sie unter Belastungen ein kreuzförmiges Muster aus Stützfeldern aufbauten, die unter Beschuß deutlich zu sehen waren. Ein Auf‐ beziehungsweise Zusammenbre‐ chen der Karoschirme war nur durch zwei zeitgleich einschlagende Breitseiten von Wuchtkanonen zu erzielen. »Was jetzt?« Die Frage Skerls offenbarte das ganze Dilemma, in dem die beiden Männer steckten. Die Suche nach einer Fluchtmöglichkeit war illusorisch geworden, hatte sich quasi in nichts aufgelöst. Ihr Flash, mit dem sie diesen Ort so hätten verlassen können, wie sie angekommen waren, bestand nur noch aus einem zerfledderten Torso, um den sich nach wie vor Scharen von mechanischen Ar‐ beitsdrohnen bemühten.
Der einzige Weg nach draußen führte nur durch das große Hauptschott, aber das war durch die vielen Roboter blockiert. Auch wenn diese keine Schußwaffen trugen, waren sie dennoch mit allen möglichen scharfkantigen Werkzeugen versehen, die sie mit großem Geschick handhabten und die daher mit Sicherheit eine nicht zu unterschätzende Gefahr darstellten. Außerdem waren sie so zahl‐ reich, daß keine Möglichkeit für die beiden Männer bestand, unge‐ schoren an ihnen vorbeizukommen. »Im Moment weiß ich mir auch keinen Rat«, gestand Chester McGraves, und seine Miene zeigte eine tiefgreifende Niederge‐ schlagenheit. »Wie es den Anschein hat, kann uns nur ein mittleres Wunder noch helfen.« * »Wie weit sind Sie, Nunez?« fragte Flavio Giordino über sein Helmmikrophon. »Wir sind klar zum Einsatz«, meldete der Stabsfeldwebel mit mar‐ kiger Stimme. »Gut. Auf mein Zeichen rücken wir vor.« »Zu Befehl, Sir!« Die Einöde, der sich die Infanteristen gegenübersahen, war dep‐ rimierend. Die namenlose Sonne stand als glühende Scheibe im Azimut eines Himmels, in dessen fahlem Rot keine Wolke zu sehen war. Der Bergzug vor den Infanteristen erstreckte sich endlos und verlor sich links und rechts in der hitzeflirrenden Ferne. Ein Bild der absoluten Verlassenheit. Hauptmann Giordino warf einen Blick auf seine Männer, die zu beiden Seiten Stellung bezogen hatten. Die Infanteristen warteten auf Befehle, darauf, daß es losging, daß der Sturm auf die Kaverne be‐ gann. Ein letztes Mal blickte Giordino durch das schwere Glas; das
trostlose Bild der Wüstenlandschaft hatte sich nicht gewandelt. Hier gab es nichts außer Sand, glühenden Felsen, Trockenheit, Einsam‐ keit, schreiender Leere. Lediglich thermale Wirbel sorgten für geisterhafte Erscheinungen über den Fels‐ und Sandflächen. »Dust devils«, Staubteufel, nannte man an einem weit von diesem Planeten entfernten, schöneren Ort Erscheinungen wie diese. Giordino zog eine Grimasse unter dem Helmvisier. Geboren in Neu‐Mexiko als Enkel italienischer Einwanderer, sollte er Anblicke wie diese gewohnt sein, aber dieser Planet übertraf alles, was er bisher an Wüste zu kennen glaubte. In den Wüsten Neu‐Mexikos traf man hin und wieder auf ein paar Skorpione oder Eidechsen, hier hingegen existierte nicht einmal der Hauch von Leben. Der Hauptmann gab ein Handzeichen, und seine Leute rückten vor, die Waffen im Anschlag; es war eine fast filmreife Szene, als sich hundert Männer in sandfarbenen Kampfanzügen dem Schott im Berghang näherten. Hinter ihnen folgten die fünf gepanzerten Mannschaftsschweber, die den Einsatz mit schweren Waffen unterstützen würden, falls es sich als notwendig erweisen sollte, auf größere Kaliber zurückzug‐ reifen. Noch weiter hinten, in einer Entfernung von einem Kilometer, warf die ANZIO einen scharfen Schlagschatten über die Landschaft. Giordino war sicher, daß ihr Einsatz von vielen elektronischen und menschlichen Augen beobachtet und verfolgt wurde. Wenig später standen sie vor dem mächtigen, in Segmente geglie‐ derten Schott, das ihrem Vordringen ein vorläufiges Ende bereitete. Bis hierher war alles glattgegangen. Niemand hatte sich ihnen in den Weg gestellt. Keine versteckten Klappen hatten sich geöffnet und Tod und Verderben ausgesandt. Flavio Giordino fühlte fast Bedauern darüber, wie wenig seine Einheit gefordert wurde. Das verführte sie möglicherweise zur Sorglosigkeit, die im entscheidenden Moment zu einem Problem
werden konnte. Aus der unmittelbaren Nähe wirkte das Schott noch massiver und eindrucksvoller. Emer Nunez legte die Hände flach gegen die metallene Wand. »Wie für die Ewigkeit gebaut«, sagte er in Richtung des Haupt‐ manns. »Das dürfte hinkommen«, bemerkte Lev Radwan, der einer der Elektronikexperten der Einheit war, und führte sein Handmeßgerät an dem Schott entlang. »Ungewöhnliche atomare Dichte des Mate‐ rials. Es widersteht locker allen Umwelteinflüssen dieser staubigen Kugel. Nicht mal eine salzsäurehaltige Atmosphäre könnte ihm et‐ was anhaben.« Der Hauptmann nickte, als sähe er bestätigt, was er vermutete. »Man hat alle Vorkehrungen getroffen, daß das, was man einge‐ sperrt hat, nach Möglichkeit nicht mehr das Tageslicht erblickt. Klopfen bringt uns aber nicht weiter, Mister Nunez«, fuhr Giordino mit spöttischer Miene fort, als der Stabsfeldwebel mit den Händen gegen das Schott schlug. »Versuchen wir doch statt dessen den Öffnungsmechanismus zu finden, nicht wahr?« »Sofort, Sir!« Nunez wandte sich seinem Experten zu. »Lev! Über‐ prüfe das Schott und lege einen Zahn zu!« Mit seinem Handspürgerät tastete Lev Radwan das Schott sorgfäl‐ tig ab. Er wurde rascher fündig, als es die Umstehenden erwartet hatten. »Na also, da haben wir ja das gute Stück!« sagte er halblaut und mit unverkennbarer Genugtuung in der Stimme, als etwa in der Mitte des Schotts in Augenhöhe unter dem Druck seiner Hand eine Platte zur Seite glitt und in einer kaum sichtbaren Falz verschwand. »Hmm…« Radwan beugte sich vor, pfiff leise vor sich hin und musterte mit vieldeutig hochgezogenen Augenbrauen, was sich sei‐ nen Blicken bot. Das freigelegte Feld enthielt eine Reihe erhabener Symbole, die den Terranern nichts sagten.
»Können Sie sich einen Reim darauf machen, Soldat?« fragte der Hauptmann. »Ich denke schon«, antwortete Radwan. Er hob die Hand und ließ die Fingerspitzen über die Symbole gleiten. »Drücken Sie bloß nicht die falschen Tasten!« warnte Flavio Gior‐ dino. »Von wegen Tasten«, sagte Radwan halb über die Schulter an den Hauptmann gewandt. »Nein? Was ist es dann?« »Ein elektronisches Schloß…« Seine Finger suchten weiter. »Aha, das dürfte es sein!« »Was?« fragte der Hauptmann. Radwan sagte: »Eine Schnittstelle. Ein Anschluß für ein peripheres Gerät, mit dem der Öffnungscode aktiviert werden kann…« »Den wir nicht besitzen«, stellte Nunez fest. »Also keine Chance, das Schott zu öffnen?« Hauptmann Giordinos Stimme transportierte seine Enttäuschung über diese Erkenntnis. »So ist es«, bekannte Lev Radwan. »Allerdings…« Er verstummte unschlüssig. »Was, Soldat? Reden Sie schon! Gibt es einen Weg?« »Ich kann es versuchen, Sir. Vielleicht bekomme ich doch Zugang.« »Worauf warten Sie dann noch? Machen Sie schon!« Giordino blickte finster. Lev Radwan nickte und tat, wie ihm befohlen worden war. Aus einer der Außentaschen seines Tornisters kramte er ein etwas mehr als handgroßes Gerät, an dessen Vorderseite mehrere merk‐ würdig geformte Fortsätze hervorstanden. »Was ist das, Soldat?« forschte der Hauptmann und schaute Rad‐ wan über die Schulter. »Ein multivariabler Schlüssel für Schnittstellen mit integriertem Infrarotvarianz‐/Induktionsdetektor«, erklärte der Elektro‐ nikexperte, und sein Gesicht verzog sich, unsichtbar für den Offizier,
zu einem halben Grinsen, weil ihm klar war, daß sein Fachchinesisch böhmische Dörfer für den Hauptmann sein mußte. Als er das Schnauben Giordinos hörte, setzte er rasch hinzu: »Nogksches Er‐ zeugnis, Sir. Habe ich von einem Meeg bekommen, dem ich mal geholfen habe.« Über die Art der »Hilfe« schwieg er sich jedoch aus. Er machte sich an die Arbeit. »Wir haben insofern Glück«, erläuterte er in einem Ton, als halte er ein Seminar vor Rekruten, »daß es sich um eine mechanische und keine virtuelle Schnittstelle handelt. Bei letzterer würde ich gar nicht erst anfangen. Keine Chance, so was auf die Schnelle auf die Reihe zu kriegen.« Schon der dritte Versuch brachte Erfolg. Der »Schlüssel« zeigte mit einem Piepton sein Einverständnis, mit der Schnittstelle zu kooperieren. Behutsam schob ihn Radwan in die Fassung. Ein Klicken ertönte. Auf dem kleinen Karree der Bildfläche erschien ein Muster, das an eine Art Benutzeroberfläche erinnerte. Es wurde von einem super‐ schnellen Wirbel von Symbolen ersetzt, die scheinbar endlos über den Schirm hetzten. »Können Sie sich einen Reim darauf machen?« fragte der Haupt‐ mann. »Algorithmen«, war die lapidare Entgegnung, »mit denen das Ge‐ rät nicht zurechtkommt.« »Wie das? Ich dachte, die Mathematik wäre eine universelle Konstante im All.« Ein Staubteufel entstand unmittelbar hinter den Infanteristen und überschüttete sie mit einer Wolke puderfeinen Sandes. »Ist sie auch«, antwortete Radwan, ohne von der angedeuteten Skepsis in Giordinos Stimme beeindruckt zu sein, und klopfte sich den Sand von der Kampfweste. Er fuhr fort: »Aber vielleicht stam‐ men die Schöpfer dieser Algorithmen nicht aus unserem Universum. Wer weiß!«
Oberst Vegas meldete sich über das Vipho des Hauptmanns. »Bericht, Mister Giordino?« Flavio Giordino informierte den Oberst über das bisher Erreichte und schloß: »Wir sind noch immer dabei herauszufinden, wie man das Schott öffnet, Sir.« »Beeilen Sie sich, Hauptmann«, drängte Vegas. »Irgend etwas geht da drin vor. Der Rechner kommuniziert hektisch mit seinen Robo‐ tern, wie mir die Funk‐Z berichtet, die den UKW‐Funk in der Ka‐ verne abhört.« Man merkte dem sonst so besonnenen Oberst eine gesteigerte Nervosität an. »Viel Zeit, unsere Männer herauszuholen, bleibt uns vermutlich nicht mehr.« »Ich verstehe, Oberst. Wir tun unser möglichstes.« »Das erwarte ich«, erwiderte Vegas kategorisch und beendete die Verbindung. »Und?« wandte sich der Hauptmann an Lev Radwan. »Fortschrit‐ te?« Der Elektronikspezialist tippte einige Tasten auf seinem Gerät an. »Es wird dauern«, meinte er, »falls es uns überhaupt gelingt, den Code zu knacken. Ich habe da so meine Zweifel… oh, verdammt!« Der kleine Schirm wurde leer. Ein nerviges Pfeifen drang aus dem Gerät. Hastig löste Radwan die Verbindung. Der Pfeifton erstarb. »Was ist jetzt schon wieder?« Der Hauptmann blickte finster. »Eine Sicherheitsschaltung«, erklärte Radwan achselzuckend. »Sie hätte fast das Gerät zerstört. Wie’s ausschaut, werden wir vor Ort die Sperre mit unseren einfachen Mitteln nicht überwinden.« »Und jetzt?« ließ sich Nunez hören. »Was tun wir?« Aufsprengen war ein Vorschlag. Aufschweißen ein anderer. »Bringt vermutlich alles nichts«, wehrte Nunez ab. »Ich denke…« Eine Handbewegung Giordinos brachte ihn zum Verstummen. »Auf einen groben Klotz gehört ein noch gröberer Keil«, ließ der Hauptmann verlauten. »Wir fordern Unterstützung von der ANZIO an. Eine der Waffenstationen soll dieses verdammte Schott mit ei‐
nem Duststrahl auflösen.« * Die brandneue, elegante ANZIO war eines der modernsten Raumschiffe der Terranischen Flotte, ein Ovoid‐Ringraumer der Rom‐Klasse, der 190 Meter Durchmesser aufwies. Im Gegensatz zu den herkömmlichen Ringraumern war die Ringröhre 35 Meter dick und 45 Meter hoch, was den Rumpfquerschnitt nicht mehr rund, sondern oval ausbildete. Zusätzlich wurden so zwei Decks mehr gewonnen. Aufgrund der extremen Automatisierung konnten die Ovoid‐Raumer von einer zweiköpfigen Besatzung geflogen werden, weshalb für den Standardbetrieb im All lediglich sechs Mann nötig waren, die sich in drei Schichten abwechselten. Dennoch blieben die Schiffe für eine Stammbesatzung zwischen 50 und 200 Mann ausge‐ legt und konnten problemlos eine Vielzahl weiterer Passagiere und Wissenschaftlergruppen beherbergen. Als Flottenschulschiff beherbergte die ANZIO augenblicklich in‐ sgesamt 500 Mann; 50 Mann reguläre Stammbesatzung, 200 auszu‐ bildende Kadetten und zusätzlich noch 250 Rauminfanteristen, der Hauptteil davon Rekruten, die sich auf dieser Reise ihre Sporen als zukünftige Offiziere verdienen wollten. 250 Männer unter dem Kommando von Major Chester McGraves, seinem Stellvertreter Hauptmann Flavio Giordino und den Ausbil‐ dern, Unteroffiziere und Stabsfeldwebel. Zwei dieser Rekruten waren allerdings vom Ausbildungsbetrieb freigestellt: Lee Kana und Derek Stormond. Oberst Roy Vegas hatte sich die beiden jungen Männer seit deren Bad im Jungbrunnen auf Sahara * von der Infanterie »ausgeliehen«, da er deren militärische Zukunft nicht bei der kämpfende Truppe sah, sondern in einer um‐ fassenden und fundierten Ausbildung zu Wissenschaftsoffizieren. *
Siehe Bitwar‐Zyklus Band 1, »Großangriff auf Grah«
Im Augenblick taten sie in der Funk‐Z der ANZIO Dienst. Ihre Aufgabe war das Auffinden und Überwachen von unerklärlichen Funksignalen. Kana und Stormond hockten lässig, fast uninteressiert vor ihren Konsolen. Manchmal seufzte Kana und suchte sich eine bequemere Position in seinem Sitz. Mehr Bewegung gönnte er sich nicht, während Derek Stormond ständig wie ein Jagdhund auf dem Sprung wirkte. Plötzlich fiel ihm etwas auf. Auf einem der UKW‐Empfänger zeigte sich eine merkwürdige Impulsfrequenz. Er setzte sich alarmiert auf, seine braunen Augen sogen jeden Bruchteil der Daten auf, die ihm die Instrumente übermittelten. »Da ist was!« sagte er. »Da ist was«, antwortete Kana. »Du siehst es auch?« fragte Stormond mit einem skeptischen Sei‐ tenblick auf seinen Freund. »Natürlich.« »Ist es das, was ich vermute?« »Ist es«, bestätigte Kana . »Wir sollten es melden.« »Tun wir«, nickte Lee Kana. Sie informierten Kerim Bekian, ihren unmittelbaren Vorgesetzten, und der alarmierte umgehend den Oberst. »Was haben Sie entdeckt?« wollte Vegas wissen. Stormond machte den Wortführer und berichtete dem Kom‐ mandanten von ihre Entdeckung. »Und was vermuten Sie?« »Möglicherweise will sich Kosinus auf dem Weg über die Funk‐Z Zugang zu sensiblen Bereichen der ANZIO verschaffen«, erklärte Lee Kana und empfahl im gleichen Atemzug: »Wir sollten den Empfänger, auf dessen Frequenz die Sequenz hereinkommt, ab‐ schalten.« Vegas runzelte die Stirn. Er dachte nur zwei Sekunden nach, dann
sah er seinen Orterchef an. »Den Empfänger abschalten, Nummer Drei. Sofort!« »Mister Dembaux«, wandte sich Bekian an seinen Funkobermaat, »nehmen Sie das Gerät vom Netz.« Oberst Vegas verfolgte die Prozedur mit gemischten Gefühlen. Er hatte schon einige ungewöhnliche Aufgaben gemeistert, aber eine Künstliche Intelligenz aus einer Roboterzivilisation, die sich so in den Systemen der ANZIO zu etablieren versuchte, war etwas völlig Unerwartetes. »Was sollte das?« verschaffte der Dritte Offizier seinem Unmut Luft. »Was bezweckt dieser… dieser Kosinus damit, sich in den Netzwerken unseres Schiffes herumzutreiben, Kommandant?« »Vielleicht werden wir es bald wissen«, gab Vegas grimmig zu‐ rück, und eine tiefe Falte furchte seine Stirn. Längst hatte der Oberst roten Alarm gegeben. Die Zentrale sowie alle übrigen wichtigen Abteilungen und Sta‐ tionen waren mit maximaler Stärke besetzt. Schließlich befand man sich weit vom heimatlichen Sonnensystem entfernt in einer bislang noch unbekannten Region dei Alls. Außerdem bestand nach wie vor die Gefahr, daß die drei Fremd‐ raumer, die Kosinus’ Schiff auseinandergenommen hatten, zurück‐ kehrten. Alles Unwägbarkeiten, die es dringend erforderlich machten, kei‐ nen Moment in der Wachsamkeit nachzulassen. Derek Stormond hatte während der ganzen Diskussion ge‐ schwiegen. Jetzt sagte er plötzlich: »Es hat nichts genützt. Die Sequenz kommt jetzt über einen anderen Empfänger auf einer anderen Frequenz.« Vegas musterte die beiden Freunde, deren Intelligenzquotient, wie er wußte, seit dem Bad im Jungbrunnen extrem erhöht war. »Welchen Verdacht hegen Sie?« Kana nickte Stormond zu, überließ ihm das Reden. Stormond sagte: »Es sieht so aus, als seien die Signale gegen die
Leitrechner an Bord gerichtet. Möglicherweise auch gegen den Hy‐ perkalkulator selbst.« »Was will man damit bezwecken?« zeigte sich Kerim Bekian ers‐ taunt. »Chaos«, übernahm Lee Kana wieder das Wort. »Chaos und Destruktion.« »Woher kommen die Signale oder Impulse?« Kana hob die Schultern. »Es gibt nur eine Quelle auf diesem Planeten.« »Kosinus!« »Der nämliche«, bestätigte Stormond seinem Kommandanten. »Gegenmaßnahmen?« fragte Vegas, obwohl er die Antwort schon wußte; sie war zwangsläufig. »Komplette Abschaltung des UKW‐Funkverkehrs«, brachte es Stormond auf den Punkt. »Wir werden nicht darum herumkommen«, nickte Vegas. »Veran‐ lassen Sie das, Nummer Drei. Sofort.« Kerim Bekian schnaubte ablehnend. »Aber, Sir! Ich warne vor einem solchen Schritt. Sind Sie sich über die Konsequenzen im klaren?« Vegas’ Blick, mit dem er seine Nummer Drei ansah, war durch‐ dringend. »Zerbrechen Sie sich nicht meinen Kopf, Mister Bekian. Führen Sie einfach meinen Befehl aus.« »Aye, Sir«, gab sich der Dritte Offizier geschlagen. * Die Situation in der Kaverne hatte sich sehr zum Nachteil von McGraves und Skerl verändert. Daran bestand kein Zweifel mehr. Immer mehr mit Werkzeugen aller Art bewehrte Wartungsroboter füllten die Höhle. Auf Rollen, Laufketten oder sonstigen Gehhilfen
umzingelten sie die beiden Männer, versperrten ihnen – ob beab‐ sichtigt, ließ sich nicht herausfinden, aber vermutlich war es so – den einzig möglichen Fluchtweg über das Schott, wobei noch nicht mal geklärt war, ob sie überhaupt in der Lage sein würden, es zu öffnen. »Die Zerstörung seiner Waffenproduktion und unser Angriff auf ihn muß diesen Kosinus ganz schön vergrätzt haben«, sagte der Oberleutnant und grinste freudlos. »Kein Zweifel«, bestätigte McGraves. »Und er ist sicher einer von der nachtragenden Sorte.« »Und böse genug, uns erneut Kampfroboter auf den Hals zu schi‐ cken«, versetzte Skerl mit einem Anflug von resigniertem Galgen‐ humor in der Stimme. »Wie? Wo?« McGraves wirkte verstört. »Dort!« Der Oberleutnant wies mit dem Lauf des Blasters in die Richtung. Geräusche drangen aus dem Hintergrund. Metall schabte an Me‐ tall. Aus dem diffusen Schein unsichtbarer Lichtquellen tauchten wuchtige, schwarzglänzende Gestalten auf. Anstelle von Greifern trugen sie am linken Armstumpf die schon bekannten Blaster. »Neue Kampfroboter«, erklärte Skerl heiser. »Das sehe ich auch«, gab der Major zurück. »Aber haben wir nicht deren Produktion lahmgelegt?« »Unser Rechnergenie wird sie wieder aufgenommen haben, an anderer Stelle und mit einer anderen Maschine. Wir waren naiv ge‐ nug anzunehmen, die zerstörte wäre die einzige zur Herstellung von Blastern gewesen.« Darren Skerl hob den Strahler. Er verlagerte sein Gewicht vom linken auf den rechten Fuß, um das Gewicht der Waffe auszubalan‐ cieren. »Jetzt«, sagte er mit einem schiefen Grinsen an die Adresse des Majors, »wäre das von Ihnen erwähnte mittlere Wunder genehm. Die Lage könnte nicht aussichtsloser sein, oder sind Sie anderer
Meinung, Sir?« McGraves kam nicht mehr dazu, die Frage des Oberleutnants zu beantworten. Das Wunder geschah. Ein olivgrünes Wunder. Verursacht von einem Duststrahl. Von einem Augenblick zum anderen entstand im Eingangsschott zur Höhle eine kreisrunde Öffnung, durch die im nächsten Moment schwerbewaffnete Infanteristen ins Innere drangen. Eine befehlsgewohnte, markige Stimme, die McGraves als die sei‐ nes Stellvertreters erkannte, erteilte knappe, präzise Anweisungen. Die Männer des Einsatzkommandos bewegten sich mit der Waffe im Anschlag nach links und rechts und nahmen strategisch günstige Positionen ein, während sie sofort die Roboter unter Feuer nahmen. »Ha!« freute sich Darren Skerl. »Die Kavallerie ist eingetroffen.« Major McGraves grinste verzerrt. Genauso hatte er sich das Wunder vorgestellt. Um sie herum tobten heftige Kämpfe zwischen Menschen und Maschinen. Es krachte unaufhörlich. Feuerlanzen aus Blastern schlugen Breschen in die Maschinenwesen, die mit ihren nur mit Werkzeugen bewehrten Handlungsarmen nichts gegen die Feuer‐ kraft der terranischen Rauminfanterie auszurichten vermochten. Kleine Brandherde loderten auf. Rauch spiralte in fetten schwarzen Wolken gegen die Decke. Dann konzentrierte sich das Feuer auf die Kampfroboter des Re‐ chengehirns, die von Giordino als vorrangige Bedrohung für die Männer des Einsatzkommandos angesehen wurden. Einer nach dem anderen wurde niedergekämpft und verwandelte sich in glühende, funkensprühende Metallhaufen. Explosionen trieben die Körper vollständig auseinander, wenn die Zerstörung die Energieversorgung zur Detonation brachte. »Wo sind Sie, Major?« übertönte Giordino mit Stentorstimme den Kampflärm.
»Hier, Hauptmann!« McGraves erhob sich halb aus der Deckung hinter einem me‐ tallenen Block, der wie ein Generatorengehäuse aussah, und winkte mit seiner Waffe. »Major! Hinter Ihnen!« Das war Darren Skerls warnende Stimme. Wortlos fuhr McGraves herum und erledigte das Gebilde, das sich mit einer rasend schnell rotierenden Trennscheibe an einem seiner Handlungsarme auf den Major stürzen wollte. »Achtung! Da kommt was auf Sie zu, Darren!« revanchierte sich der Major. Skerl blinzelte sich den Schweiß aus den Augen und hob die Waffe. »Hab’ ihn!« Das mechanische Gebilde verlor seine Orientierung, als ihn Skerls Blasterschuß den Kopf vom gegliederten, biegsamen Schwanenhals trennte. Im wahrsten Sinne »kopflos« rannte es ziellos umher, eckte überall an und lief durch den Energiestrahl aus der Kombiwaffe eines Infanteristen. Mit splitterndem Krachen schlug es zu Boden und hauchte sein elektronisches Leben in einer Implosion aus, die den Torso zusammenfallen ließ wie einen Ballon, aus dem die Luft explosionsartig entwich. Das Tohuwabohu in der Kaverne nahm seinen Fortgang. Schmerzensrufe aus menschlichen Kehlen machten deutlich, daß der Kampf nicht ohne Verluste für das Einsatzkommando über die Bühne ging. Stimmen riefen nach den Sanitätern. Das Blatt begann sich zum Nachteil des Einsatzkommandos zu wenden, als Kosinus eine Gruppe Kampfroboter aufmarschieren ließ, die gegen die Blasterschüsse immun zu sein schienen. »Karoschirme«, stellte der Major fest, »die die aufprallende Energie in die Umgebung ableiten. Unser Widerpart lernt schnell.« »Und er wird immer stärker«, bestätigte der Oberleutnant. »Achtung, Major!« schrie Giordino. »Ich schicke Ihnen ein paar Männer. Wir müssen raus hier!«
»Verstanden!« brüllte McGraves aus der Deckung zurück. Es dauerte keine Minute, dann hatten sich vier Männer des Ein‐ satzkommandos zu den beiden durchgekämpft, eine Spur zerstörter Roboter hinter sich. Seelenlose, stupide Wartungsroboter, Werk‐ zeuge, nichts weiter. »Kommen Sie!« Das rußgeschwärzte Gesicht des Gruppenführers zeigte einen nervösen Zug; schließlich war dies sein erster Einsatz unter realen Bedingungen. Kein virtuelles Szenario, an dessen Ende der Ausbildungsleiter den Stecker aus der Dose zog und alle unver‐ sehrt nach Hause gingen. »Nichts wie raus jetzt!« Der Trupp setzte sich in Bewegung. Auf dem Weg zum Schott schlugen sich die jungen Männer wa‐ cker. Schließlich ging es um ihren Vorgesetzten, niemand wollte sich da eine Blöße geben. Dann waren sie durch die Öffnung und im Freien. Zusammen mit der überwiegenden Mehrzahl der Infanteristen. Flavio Giordino salutierte vor seinem Vorgesetzten. »Sir!« begann er. »Lassen Sie das Brimborium«, wehrte McGraves ab. »Den Lagebe‐ richt können Sie später abgeben. Wir haben im Moment andere Sorgen. Nehmen Sie einfach zur Kenntnis, daß ich das Kommando wieder übernommen habe, und sehen Sie zu, daß Sie die Männer aus der Kaverne bringen. Ach ja, schaffen Sie mir eine Verbindung zur ANZIO. Und zwar presto!« »Zu Befehl, Sir!« Giordino winkte einen Infanteristen herbei, aus dessen Tornister die Antenne eines Funkgerätes stach. Während McGraves konzentriert mit Vegas sprach, verfolgte er mit finsterer Miene, wie die Truppe fünf schwerverletzte und drei tote Soldaten ins Freie brachte. Das Einsatzkommando verteilte sich auf die vier gepanzerten und stark bewaffneten Mannschaftsschweber. Kosinus schien an einer Fortsetzung des Kampfes im Freien nicht
interessiert zu sein; von seinen mechanischen Helfern ließen sich lediglich drei vor dem Schott sehen. Sie blieben nicht lange genug am »Leben«, um irgend etwas unternehmen zu können. Die Dustkanonen der Waffenstation West erledigten sie ohne wirkliche Mühe. Als letzte enterten McGraves, Darren Skerl und Flavio Giordino den Kommandoschweber. Der Pilot setzte das Gefährt in Richtung der ANZIO in Bewegung. Die Phase zum Flottenschulschiff stand noch immer offen, kam jetzt allerdings über die Anlage des Schwebers. Das Einsatzkommando hatte sich etwa fünfhundert Meter vom Berg entfernt. »Jetzt, Mister Halit!« sagte McGraves in Richtung des Mikrophons. Oberleutnant Halit, Waffenoffizier von WS‐West, führte den Befehl aus, den er von seinem Kommandanten erhalten hatte. Eine Drohne mit einer starken Sprengladung löste sich von dem Ovoid‐Ringraumer, schlug oberhalb des Ausgangs der Kaverne in den Berg, explodierte und löste einen gewaltigen Erdrutsch aus. Tausende Tonnen von Felsgestein glitten herab, die den Eingang zu Kosinus’ Reich unter sich begruben. Der Donner der bewegten Erd‐ und Steinmassen rollte wie ein Endzeitgewitter über das leere Land und schien nicht aufhören zu wollen. Die Luft vibrierte, während die Schallwellen von den umliegenden Bergen widerhallten und immer wieder gebrochen wurden. Als der Wind endlich die dicken Staubwolken vertrieben hatte und die Sicht freigab, war an der Stelle, an der sich der Eingang zur Ka‐ verne befunden hatte, nur eine riesige Geröllhalde zu sehen, die nichts von dem verriet, was hinter ihr verborgen lag.
11. Deluge lag unter einer schweren Regenfront. Es schüttete wie aus Eimern, doch zum Glück hatte Guliver Bligh einen schwachen Prallschirm über dem Raumhafen aktiviert, der den himmlischen Segen seitlich ablenkte. So standen die Besucher trotz des monsun‐ artigen Regens im Trockenen. »Ich freue mich, Sie zu sehen, Sir«, begrüßte der Sicherheitschef Ren Dhark und seine Begleiter. »Mir geht es ebenso. Irgendwelche Neuigkeiten?« Bligh winkte ab. »Pan‐The und seine Kollegen wühlen sich noch wie am ersten Tag ihrer Untersuchung durch den Industriedom, kommen aber keinen Schritt weiter. Wenn Sie mich fragen, behält die Anlage ihre verbliebenen Geheimnisse auf ewig für sich.« »Die Wissenschaftler sind da aber anderer Ansicht?« erkundigte sich Anja Riker. »Ich wünschte, ich wüßte es. Manchmal denke ich, sie sehen den Industriedom als ihr persönliches Spielzeug. Jedenfalls stehen sie immer noch mit leuchtenden Augen davor wie kleine Kinder vor einem geschmückten Weihnachtsbaum.« Dhark lächelte. Er hatte Bligh, der bereits zu Zeiten der G’Loorn‐Krise seinen Dienst auf Hope versehen hatte, weniger schlank in Erinnerung. Er hatte abgenommen und wirkte beinahe jugendlich. Dafür war von seinem ehemals vollen Haar nur ein breiter Kranz verblieben, der sein Haupt umrahmte wie die Korona eine Sonne. Der Mann, der seinerzeit die Vernichtung von Cattan auf Main Island von Deluge aus miterlebt hatte, machte eine einladende Geste. »Die neuen Machtverhältnisse auf der Erde sind sogar bis zu uns durchgedrungen«, sagte er entschuldigend. »Wir wissen natürlich, daß Sie nicht mehr Commander der Planeten sind, Sir. Trotzdem steht Ihnen alles offen. Darf ich erfahren, was Sie zu uns treibt?«
Bevor Ren antworten konnte, meldete sich Doorn zu Wort. »Wir wollen Pan‐The und seinen Kollegen ein wenig unter die Arme greifen.« Bligh sah ihn skeptisch an. »Bei allem Respekt vor Ihren le‐ gendären Fähigkeiten, aber unsere Jungs waren die vergangenen Jahre nicht untätig.« »Ich bin nicht größenwahnsinnig«, polterte Doorn. Dhark sah ihm an, daß ihn seine Zweifel immer noch plagten. »Ich rede hier auch gar nicht von mir.« »Wir haben Unterstützung mitgebracht.« Wie zur Bestätigung von Rens Worten näherte sich Dalon, der seine ASGOR eben verlassen hatte, der kleinen Gruppe. Interessiert betrachtete Bligh den blauhäutigen Humanoiden, der sich zu ihnen gesellte. Natürlich hatte er noch nie einen der in Orn beheimateten Ceraden gesehen. Wie es aussah, würde er dazu auch nie die Gelegenheit bekommen, da deren Heimatplanet Warla ge‐ nauso unerreichbar geworden war wie der Rest jener Galaxis. Für einen Moment sah Ren die von den Zyzzkt zerstörte Ceradenkolonie Gowur vor sich, von der Gisol berichtet hatte, dann fand er in die Gegenwart zurück. »Dies ist Dalon«, stellte er den 1,80 Meter großen Mann mit der blauen Haut vor. »Er ist ein Worgun.« Bligh starrte erst Dhark, dann Dalon an. »Ein… Worgun? Du liebe Güte. Daß ich das noch erleben darf«, sprudelte es aus ihm heraus. »Gerüchte über Gisol sind natürlich bis nach Hope durchgedrungen, aber kaum jemand nimmt sie ernst. Und nun…« »Steht ein leibhaftiger Worgun vor Ihnen«, unterbrach ihn Doorn mürrisch. »Die sind auch nicht mehr wert als andere Lebewesen. Oder haben Sie noch nie einen Außerirdischen gesehen? Ich schlage vor, Sie führen uns in die Höhlen.« Der Sicherheitschef von Hope räusperte sich und straffte seine Ge‐ stalt. »Ich wollte weder aufdringlich noch naiv erscheinen«, ent‐ schuldigte er sich. »Aber wir sind hier nun mal nicht besonders nah
am aktuellen Weltgeschehen, sondern bekommen alles nur aus zweiter Hand mit. Wenn Sie mir bitte folgen würden.« »Doorn hat es nicht böse gemeint«, beeilte sich Shanton zu sagen. »Er ist nur ungeduldig. Für ihn und mich ist der Industriedom eben auch so etwas wie ein Spielzeug. Mit Dalons Hilfe kommen wir dessen verborgenen Geheimnissen vielleicht endlich auf die Spur.« Falls es denn wirklich noch welche gab, die sich enträtseln ließen. Dhark war nach wie vor nicht davon überzeugt. Auch wenn er zahlreiche Worguneinrichtungen mit ihren großen oder kleinen Geheimnissen aus eigener Anschauung kannte, blieb die Tatsache der von der Sicherheitsschaltung angerichteten Zerstörungen in der vorderen der beiden Höhlen bestehen. Andererseits konnten Ein‐ richtungen, die sich über ein Areal von 900 Quadratkilometern ers‐ treckten, ein ganzes Arsenal an noch nicht entdeckten Wundern bereithalten. Alles hing davon ab, wie weitreichend das Sicher‐ heitsbedürfnis der Worgun in diesem speziellen Fall gewesen war. Jimmy dauerte die Unterhaltung viel zu lange. Ohne auf die Männer zu warten, setzte er sich in Bewegung. »Wenigstens einer, der weiß, wo es langgeht«, murrte Doorn. Die Männer folgten dem Roboterhund, als er zu einem Eingang lief, der in das Innere des die Insel dominierenden, bis zu 4000 Meter hohen Gebirges führte. Dahinter begann das ausgedehnte Höhlen‐ system, das die Maschinen der Worgun vor langer Zeit gegraben hatten. * Dalon stand einfach da und schaute sich um. Dabei gab es nichts zu sehen. Die erste Höhle, in die Bligh die Gruppe geführt hatte, war trostlos leer. Alles, was darin einmal existiert hatte, war zu Staub zerfallen. »Es ist tragisch«, flüsterte der Worgun, und seine Stimme klang traurig. »Hier gab es einst ein Archiv mit einer gigantischen Daten‐
flut. Es war weit über Nal hinaus berühmt. Nichts davon ist übrig‐ geblieben.« »Außer in Orn, doch das bringt uns nicht weiter«, überlegte Shan‐ ton. »Wahrscheinlich nicht einmal dort. Was hier archiviert wurde, betraf größtenteils Nal und ist niemals nach Orn übermittelt worden. Wir müssen uns damit abfinden, daß dieses gewaltige Wissen un‐ wiederbringlich verloren ist.« »Diese Worgun mit ihrem übersteigerten Sicherheitsbedürfnis«, beschwerte sich Dan Riker. »Ich habe es immer gesagt. Etwas weni‐ ger Paranoia, und wir wären einen gewaltigen Schritt weiter.« »Wäre es Ihnen lieber, sie hätten all ihre Geheimnisse offen lie‐ gengelassen, damit sie Unbefugten in die Finger fallen?« »Es gibt hier keine Unbefugten – außer uns, wenn Sie das meinen, Arc. Ich verstehe, daß Sie Ihr Volk verteidigen, aber…« »Ich verteidige niemanden. Trotzdem, die Zyzzkt standen kurz vor einer Invasion der Milchstraße. Dan, Sie würden ganz anders reden, wenn das früher hier gelagerte Wissen den Insektoiden in die Klauen gefallen wäre.« »Moment mal«, mischte sich Bligh ein. »Was bedeutet das, ›Ihr Volk‹?« »Arcdoorn gehört meinem Volk an«, erklärte Dalon. »Er ist eben‐ falls ein Worgun.« Bligh stieß die Luft aus. »Heute jagt eine Überraschung die ande‐ re.« Dafür, fand Dhark, steckte der Sicherheitschef die Überraschungen erstaunlich gut weg. Aufmerksam behielt er Dalon im Auge, als der die Führung übernahm und einige der angrenzenden Höhlen und Hallen durchstöberte. Dafür, daß er angeblich erst einmal auf Hope gewesen war – und das vor mehr als tausend Jahren –, kannte sich der Worgunmutant ziemlich gut aus. »Der Industriedom ist ein riesiges Produktionszentrum«, sagte er beim Anblick einer inaktiven Fertigungsstraße. »Doch alles, was ich
sehe, liegt brach. Den Menschen bieten sich hier gewaltige Möglich‐ keiten, die sie ungenutzt lassen.« »Manchmal wird man den Geist in der Maschine nicht mehr los, nachdem man sie erst einmal aktiviert hat«, wehrte Bligh ab. »Unsere Wissenschaftler drehen hier nicht Däumchen, aber wir nehmen auch nicht auf gut Glück irgend etwas in Betrieb, das sich womöglich gegen uns wendet. Zudem brauche ich Ihnen wohl nichts von der Sturheit mancher Worgunanlagen zu erzählen, die sich einem un‐ bedarften Menschen kurzerhand verweigern.« Ren stimmte Bligh zu. »Der Sicherheitschef hat recht. Wir dürfen kein Risiko eingehen, das wir möglicherweise beim nächsten Atemzug bedauern.« Diesmal blieb ihnen vielleicht keine andere Wahl, doch zum Glück hatten sie einen Worgun dabei. Dessen Kompetenz mußte sich aber erst noch zeigen. »Meine Worte sind kein Vorwurf, jedenfalls nicht an die Men‐ schen.« Plötzlich blieb Dalon stehen und wandte sich abrupt an Doorn. »Dich frage ich hingegen, warum du den Menschen nicht mehr geholfen hast, Arcdoorn. Sie nutzen die Kapazitäten des Pro‐ duktionszentrums nicht einmal zu zehn Prozent.« »Denk nach, dann kannst du dir deine Frage selbst beantworten«, antwortete Doorn wütend und wandte sich an Dhark. »Ich habe getan, was ich konnte, aber mehr ging einfach nicht. Auf Menschen mag ich wie ein Technikgenie wirken, aber ich bin kein Techniker, sondern Philosophielehrer. Ich verstehe von der Technik meines Volks soviel wie ein heutiger terranischer Philosoph von terranischer Technik. Der kann auch einen Gleiter steuern und einen Pilotenkurs für ein Raumschiff absolvieren, er kann aber nie und nimmer eines konstruieren. In den modernen Wallis‐Werken auf Eden würde er wie ein Ochse vorm Berg stehen. Nicht viel anders ging es mir in den vergangenen Jahren auch.« Dieser Redeschwall war völlig untypisch für den meist wortkargen Doorn. Seine ganze Verzweiflung und seine Verärgerung über Da‐ lons Vorwurf machten sich darin Luft.
Dhark erkannte die Zerrissenheit seines langjährigen Mitstreiters. Der hatte ihm mehr helfen wollen, als er gekonnt hatte. »Ohne Doorn würden wir heute nicht hier stehen«, erklärte Dhark. »Wir hätten nicht mal einen Bruchteil der Hinterlassenschaften, auf die wir gestoßen sind, begriffen. Was wir ihm zu verdanken haben, läßt sich mit Worten gar nicht ausdrücken, und er hat nie irgend etwas für seine Hilfe verlangt.« »Arc ist nicht nur ein Freund der Menschheit, er ist ein Mensch«, bekräftigte Shanton. »Vielleicht habe ich mich ungeschickt ausgedrückt«, wiegelte Da‐ lon ab. Er gab sich einen Ruck und strebte der nächsten Höhle ent‐ gegen. Doorn preßte die Lippen zusammen. Als er Sekunden später die Stimme erhob, waren seine Worte schwach und leise, trotzdem ver‐ stand sie jeder. »Ich wünsche, ich wäre nie mehr auf einen anderen Worgun ge‐ troffen.« * Es gab ein herzliches Hallo, als die Besucher kurz darauf auf die führenden Köpfe des Forschungsprojekts trafen. Neben Pan‐The waren das Tim Acker, Raoul Pelletier und Ivo Marcus. Wer sich noch nicht kannte, wurde von Guliver Bligh miteinander bekannt ge‐ macht. Auch hier war das Erstaunen über das leibhaftige Erscheinen zweier Worgun groß. Daß Arc Doorn einer davon war, schlug ein wie eine Bombe. Bligh hatte Mühe, die aufgeregten Wissenschaftler auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Innerlich mußte Dhark lächeln. Sie verhielten sich tatsächlich wie kleine Kinder, die in den Genuß einer besonderen Überraschung gekommen waren. Dabei war es durchaus nicht das erste Mal, daß einer der Gestaltwandler Hope besuchte. Im Frühjahr 2058 hatte sich Gisol in seiner Jim‐Smith‐Gestalt auf Col V herumgetrieben, doch
damals hatte noch niemand geahnt, um wen es sich dabei wirklich handelte. Obwohl Dhark einer derjenigen Menschen war, die die versteckten Anlagen der Worgun am längsten kannten, sah er sich aufmerksam um. An den Wänden reihten sich teilweise häusergroße Maschinen, die keinen Mucks von sich gaben. Der Sinn der meisten davon war heute so unklar wie im Jahre 2051, als man, vom Cattaner Stadtprä‐ sidenten Rocco verbannt, darauf gestoßen war. Nur an wenigen Stellen leuchteten Kontrollampen oder gab es Anzeichen anderwei‐ tiger Aktivität. Pan‐The deutete Rens fragende Blicke richtig. »Wir sind in Fragen der M‐Mathematik in manchen Bereichen weitergekommen. Grundsätzlich gibt es trotzdem noch viele offene Fragen, bei deren Beantwortung uns ein Worgun hoffentlich weiterhelfen kann. Um ehrlich zu sein, ich fühle mich häufig noch immer wie ein Erstkläß‐ ler, der die Relativitätstheorie nachvollziehen soll.« »Da wir inzwischen wissen, wie die Mysterious wirklich heißen, sprechen wir von W‐Technologie«, verbesserte Anja Riker, die auf diesem Gebiet selbst als Koryphäe galt. Durch Mentcaps und eigene Studien hatte sie sich umfangreiches Wissen über die W‐Technologie angeeignet und sogar eine Reihe von Abhandlungen darüber ge‐ schrieben. »Eine kleine Marotte von mir.« Der zurechtgewiesene Pan‐The lä‐ chelte. Der Tibeter in der Funktion des leitenden Wissenschaftlers auf Deluge hatte ein gutmütiges Gesicht. Der Industriedom war zu seinem Lebenswerk geworden, seit er seine Aufgabe vor sechs Jah‐ ren übernommen hatte. »Aber wenn ich Ihnen damit eine Freude machen kann, wechsle ich zu der neuen Nomenklatur über, schöne Frau.« Dan Riker seufzte. Er war es gewohnt, daß seine bezaubernde Frau mit ihrer aufregenden Figur von jungen Kadetten angehimmelt wurde, doch daß ein veritabler Wissenschaftler, der beinahe ihr Va‐ ter hätte sein können, in dieselbe Kerbe schlug, war etwas Neues.
Dan bedachte ihren Pulli, der wie immer etwas zu eng war, mit ei‐ nem vorwurfsvollen Blick. »Mir ist die Bezeichnung gleichgültig«, behauptete der drei‐undfünfzigjährige Tim Acker, Doktor der Hyperraumphysik und wie seine anwesenden Kollegen W‐Mathematiker. Er hatte eine Halbglatze und eine beachtliche Körperfülle, die ihn als leiden‐ schaftlichen Gourmet erkennen ließ. Im Dezember 2052 war er ge‐ meinsam mit den Hookers per VirTec kurzzeitig in die Ver‐ gangenheit Hopes versetzt worden und hatte den Untergang der Ureinwohner des Planeten miterlebt. Knapp vier Jahre später hatte er das Transmitternetz der Geheimnisvollen entdeckt, worauf er allerdings nicht besonders stolz war, da es sich um einen bloßen Zufall gehandelt hatte. »Neben seinen kulinarischen Genüssen interessiert sich unser Feinschmecker nur für Resultate.« Pelletier, W‐Mathematiker und Transmittertechniker in Personalunion, lächelte. »Da wird Dalon ihm hoffentlich helfen können.« Dhark trat neben den vorgeblichen Ceraden. »Freut mich«, begeisterte sich Ivo Marcus, der aus dem Sudan stammende vierte Projektmitarbeiter im Bunde. »Bitte keinen voreiligen Beifall.« Der Worgun verschränkte in einer menschlichen Geste die Arme vor der Brust. »Ich fürchte, ich kann Ihnen hier nicht weiterhelfen.« »Was wollen Sie denn damit sagen?« fragte Shanton. »Sie waren es doch, der auf den Flug nach Hope gedrängt hat.« »Ich bin sicher, daß es auf Kaso Einrichtungen gibt, die uns helfen können, aber anderswo.« Doorn lachte vorwurfsvoll auf. »Mir macht er Vorhaltungen, aber selbst hat er keine Ahnung. Dhark, schauen Sie dem Kerl bloß auf die blauen Finger.« »Du läßt dich gehen, Arcdoorn«, erwiderte Dalon ruhig. »Ich bin nicht hergekommen, um gleich aufzugeben.« Er machte eine um‐ fassende Handbewegung. »Diese Maschinen sind mir unbekannt.
Ich kenne die Funktion dieser Anlagen nicht, doch bei meinem ersten Besuch war Kaso der wichtigste Produktionsstandort in Nal.« »Das war vor eintausend Jahren.« Margun und Sola hatten Dhark auf Terra Nostra von ihrem ersten Zusammentreffen mit Dalon er‐ zählt. Zu der Zeit hatten sich die Entwickler und Erbauer der POINT OF auf Hope aufgehalten, weil sie vor den stetig zunehmenden Angriffen der Zyzzkt in ganz Orn nicht mehr sicher waren. Damals hatte Dalon ihnen von der Möglichkeit ihrer relativen Un‐ sterblichkeit erzählt. Dhark warf dem Worgun einen Blick zu, brachte das Thema aber nicht zur Sprache. Auch wenn alle einge‐ weiht waren, es mit einem Worgun zu tun zu haben, blieb die Tat‐ sache, daß er wie Margun und Sola ein extrem langlebiger Mutant war, weiterhin geheim. »Unsere technischen Einrichtungen überdauern eintausend Jahre mühelos.« »Worgunsche Selbstgefälligkeit«, konterte Dan Riker. »Ich werde mich nie daran gewöhnen.« Dabei hatten sie die Langlebigkeit von W‐Anlagen bei ihrer Orn‐Expedition selbst kennengelernt. Ren verzichtete auf den Hin‐ weis. Für sein Empfinden wurde schon viel zu lange geredet. »Was schlagen Sie vor, Dalon?« »Wenn wir weiterkommen wollen, dann dort, wo Margun und Sola die MASOL gebaut haben, die Sie heute POINT OF nennen.« In der Ringraumerhöhle! Ren nickte. Der Gedanke war nicht so abwegig, da sie mit Technik geradezu vollgestopft war. »Worauf warten wir dann doch?« drängte er. * Ein Schauer lief über Ren Dharks Rücken, als er durch ein Portal trat, hinter dem sich das weiträumige Gewölbe anschloß. Industrie‐ höhle hatten sie es zunächst genannt, später Ringraumerhöhle. Hier hatten Margun und Sola an ihrem technischen Meisterwerk gebaut,
bis vor tausend Jahren der Ruf »ron wedda wi terra« erklang und sämtliche Worgun aus der Milchstraße verschwanden, ohne auch nur einen Hinweis auf ihre Identität zu hinterlassen. Bläuliches Licht flammte beim Eintritt der Gruppe auf, das für gewohnte Sichtverhältnisse sorgte. Es herrschte eine für Menschen angenehme Temperatur von zwanzig Grad Celsius. Das leise Sum‐ men von Konvertern lag in der Luft, Geräusche von Maschinen, von denen auch hier die wenigsten aktiv waren. Von der Planetenober‐ fläche drang kein Laut ins Innere des Berges vor. »Willkommen daheim«, bemerkte Dan Riker, der einen Anflug von Wehmut ebenfalls nicht unterdrücken konnte. Pan‐The aktivierte eine Reihe von Suprasensoren, die zum Teil separat angeordnet, zum Teil in die wolkenkratzergroßen Aggregate integriert waren. Kontrollampen leuchteten auf, mit klackenden Geräuschen signalisierten die Rechner Bereitschaft. Ren erinnerte sich nicht, ob sie das früher auch getan hatten. Vielleicht hatte die Forschergruppe diese Option aktiviert. Die Mitarbeiter des Tibeters bedienten verschiedene Gerätschaften, die aus den Großverbünden losgelöst waren. Sie standen willkürlich auf der freien Fläche verteilt, wo man vor elf Jahren auf den unvol‐ lendeten Ringraumer gestoßen war, dem Pjetr Wonzeff seinen mar‐ kanten Namen verliehen hatte, da alles, was mit den Hinterlassen‐ schaften der Geheimnisvollen zu tun hatte, wie ein einziges Frage‐ zeichen für die Menschen gewesen war. Dalon trat an einen der Rechner heran und nahm ein paar rasche Schaltungen vor. Seine Finger flogen über die Bedienungselemente, ohne daß Ren erkennen konnte, was er tat. Anja trat hinter den Worgun und verfolgte sein Tun mit gerunzelter Stirn. »Es gibt lange nicht so viele Zugriffsmöglichkeiten, wie ich gedacht habe.« Trotzdem ließ Dalon nicht locker. Jetzt war er in seinem Ele‐ ment, und auch Pelletier und Marcus gesellten sich zu ihm. Pan‐The und Tim Acker blieben vor aktivierten Monitoren stehen und kont‐ rollierten die optischen Ausgaben.
»Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun.« Dalon ignorierte Blighs Einwurf und wandte sich einer anderen Schaltkonsole zu. »Ich verwende nun Zusatzcodes, die Ihnen nicht bekannt sein dürften.« »Wonach genau suchen Sie eigentlich?« »Nach irgendwelchen Daten, die mit unserem Problem zu tun ha‐ ben«, wich der Mann mit der blauen Haut aus. Die Wissenschaftler von Hope sollten nichts von den Problemen mit der heimischen Sonne erfahren. »Und wenn es keine gibt?« »Ich bin überzeugt davon. Das Wissen unserer Spezialisten muß irgendwo hinterlegt sein, warum also nicht hier? Ich werde es Sie wissen lassen, sobald ich es finde.« Doorn schüttelte den Kopf. »Das ist blindes Stochern im Nebel.« Seine Worte wurden von plötzlich einsetzendem Lärm verschluckt. Tiefes Grollen durchzog das Innere des Berges, der Boden begann sanft zu vibrieren. Aus einer der Hohlstraßen drang beständiges Wummern von schweren Maschinen. In dieser Intensität hatte Dhark es im Industriedom noch nicht vernommen. »Dalon, was ist das?« »Ich habe versehentlich eine Aktivierungsschaltung für einen spe‐ ziellen Bereich der Produktionsstraßen vorgenommen.« Der Worgun klang irritiert. »Dabei habe ich etwas ganz anderes probiert. Immer‐ hin eine erste Reaktion.« »So weit waren wir längst, auch ohne Zusatzcodes«, kommentierte Acker die Bemühungen des Worgun. Doorn gab ein despektierliches Knurren von sich, während er sich gemeinsam mit Shanton ebenfalls ein Bild von Dalons Bestrebungen machte. Der ließ sich nicht beirren. Unermüdlich nahm er weitere Eingaben vor, brach seine Versuche nach einer Weile ab und änderte seine Vorgehens weise. Ein paarmal erwachten Segmente der den Höh‐ lendom ausfüllenden und an manchen Stellen mit dem Deckenge‐ wölbe verschmelzenden Wolkenkratzeraggregate zum Leben, um
nach Sekunden sirrend wieder abzuschalten. Dhark gab sich keinen Illusionen hin. Bei einem Erfolg hätte Dalon eine Aktivierung nicht gleich wieder rückgängig gemacht. Auch die Körpersprache des vorgeblichen Ceraden drückte alles andere als Zuversicht aus. War er zunächst die Gelassenheit in Person, wurde er immer un‐ geduldiger, bis er schließlich entnervt aufgab. »Ich finde nicht den richtigen Ansatz. Es lassen sich nur die be‐ kannten Anlagen aktivieren, obwohl ich weiterhin überzeugt bin, nur einen Bruchteil gesehen zu haben. Hier steckt noch viel mehr drin, als Sie sich vorstellen können.« »Wenn Dalon nicht weiterkommt, sehe ich für uns erst recht schwarz«, bekannte Shanton, während er beiläufig die Datenan‐ zeigen eines Holomonitors in sich aufnahm. »Doorn und ich sehen ebenfalls kein Land.« Der Techniker schaute fragend in die Runde, blickte aber aus‐ nahmslos in ratlose Gesichter. Auch Anja schüttelte den Kopf. Unruhig schlenderte Ren zu einer aufragenden Maschinenwand, deren Verkleidung kalt und abweisend auf ihn wirkte. Er hatte den Eindruck, daß sie höhnisch auf ihn herabschaute, dabei transpor‐ tierte er nur seine eigenen Zweifel in ihre fugenlose Oberfläche. Sollte der Ausflug nach Hope doch vergeblich gewesen sein? Endete trotz der Unterstützung durch einen Worgun die weitere Erkundung der geheimnisvollen Anlagen, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte? Dhark war nahe daran, eine Verwünschung auszustoßen, als ihm eine Eingebung kam. Es gab doch noch jemanden, dem vielleicht eine Verständigung mit den Gigantaggregaten gelang. Er wunderte sich, daß er früher noch nie daran gedacht hatte. »Wir räumen die Höhle frei. Sämtliche freistehenden Gerätschaften kommen in die angrenzenden Nebenräume.« Er erinnerte sich, daß es davon eine Vielzahl gab. »Pan‐The, ist dort Platz genug?« »Wir haben nichts daran verändert. Sie sind zwar mit
High‐Tech‐Bausteinen vollgestopft, aber die Geräte von hier bekom‐ men wir dort verstaut.« Dan Riker blickte seinen Freund verständnislos an. »Was hast du vor, Ren?« Dhark lächelte unergründlich und nahm Kontakt zu Hen Falluta auf. * Die POINT OF senkte sich unter begeisterten Kommentaren von Pan‐Thes Gruppe durch die Gewölbedecke herab und setzte sanft auf ihren 45 Teleskopbeinpaaren auf. Der Antigrav wurde abge‐ schaltet, und das Intervallfeld erlosch. Das Schiff füllte den Großteil der Höhle aus. »Was gäbe ich dafür, damals dabeigewesen zu sein«, murmelte Acker. Dhark ließ den Wissenschaftlern ein paar Sekunden, um sich an dem Anblick der unitallblauen Ringröhre sattzusehen. Schließlich hatte keiner von ihnen jemals den Raumer an der Stätte seines Entstehens gesehen. Dalon, Doorn, Shanton und die Rikers gingen bereits an Bord. »Meine Herren, darf ich Sie nun bitten, ebenfalls einzusteigen.« Bligh folgte Dhark, und endlich rissen sich auch Pan‐Thes Forscher von dem Anblick los, als sie begriffen, daß sich ihnen die Möglichkeit bot, den legendären Ringraumer selbst zu betreten. Ren führte sie in die Kommandozentrale, wo der Checkmaster bereits belagert wurde. »Kannst du eine Verbindung zu den Maschinen in der Höhle herstellen?« fragte Anja. »Drahtlose Verbindung ist möglich«, antwortete der Checkmaster. Seit Anja ihm eine Stimme verliehen hatte, war man zur Kommuni‐ kation nicht mehr auf die Gedankensteuerung oder Schriftfolien angewiesen. »Wonach soll ich suchen?« »Kannst du verborgene Datenbanken feststellen?«
»Suchprogramme werden gestartet. Ich führe eine vollständige Überprüfung der Einrichtungen in der Höhle durch. Sie wird eine Weile dauern.« Natürlich ließ sich für die Versammelten nicht erkennen, was das Bordgehirn tat. Nur die Statusanzeigen seiner Systeme ließen ge‐ wisse Rückschlüsse zu. Es aktivierte ein Gerät nach dem anderen. In der Bildkugel war das Höhleninnere zu sehen, doch dort traten keine Veränderungen ein. Ren spürte, wie die Spannung in der Zentrale mit jeder verstreichenden Minute stieg. Immer mehr Lichtpunkte erwachten zum Leben. Das Kontrollpult barst vor hektischer Betriebsamkeit. Doorn versuchte den Überblick über die Vorgänge zu behalten, doch das war unmöglich. Schließlich schüttelte er entnervt den Kopf und sah Dalon an. Der verzog keine Miene, aber Dhark hatte das Gefühl, daß er ebenfalls nicht weiter‐ wußte. Schließlich wurde es Doorn zu bunt. »Ist die Verbindung er‐ folgreich?« fragte er ungeduldig. Ein paar Sekunden herrschte Ruhe, dann meldete sich der Check‐ master. »Bisher negativ. Ich muß den Suchmodus ausweiten.« Im selben Moment stieß Shanton einen überraschten Ruf aus. »Sehen Sie sich das an, Dhark. Das gibt es doch gar nicht.« Er deu‐ tete auf eine aus dem Nichts entstandene Leiste, durch die hektisch blinkende Leuchtanzeigen huschten. »Ich verstehe nicht.« Ren konnte sich nicht erinnern, die Dar‐ stellung schon einmal gesehen zu haben. »Checkmaster, Erklärung«, forderte Doorn. »Was für ein Gerät hast du zuletzt in Betrieb genommen?« »Einen Gerun‐Umsetzer.« »Einen… was?« fragte Anja. »Ein auf permanentem Dialog fußendes Breitbanddiagnosegerät«, erklärte Dalon verblüfft. »Es geht weit über die Möglichkeiten ge‐ wöhnlicher Datenübertragung hinaus. Die Geräte haben sich als unzuverlässig erwiesen, deshalb waren sie nicht lange in Betrieb. Ich
wußte nicht, daß Margun und Sola eins davon in die MASOL ein‐ gebaut haben.« Riker schüttelte entrüstet den Kopf. »Dieser Checkmaster. Der gleiche Geheimniskrämer wie die Mysterious. Erzählt mir, was ihr wollt, aber denen ist nicht von fünf vor zwölf bis Mittag zu trauen. Anwesende natürlich ausgenommen.« »Sehen Sie mich nicht so an, Riker«, beschwerte sich Doorn. »Ich bin nicht weniger überrascht als Dalon.« Dhark erinnerte sich an Marguns und Solas orakelhafte Worte vor dem Abflug aus Orn, die POINT OF hielte noch einige Über‐ raschungen für die Menschen bereit. Die Ankündigung erweckte durchaus zwiespältige Gefühle in ihm, denn auch wenn die meisten davon positiver Natur sein mochten, ließ sich nicht ausschließen, daß ein unangenehmes Kuckucksei darunter war. Einmal aktiviert, mochte es sich schnell als Geist aus der Maschine erweisen, den man nicht mehr loswurde. Aber hätten die Worgun ihn dann nicht gewarnt? Vielleicht, viel‐ leicht aber auch nicht. Dans Skepsis war jedenfalls nicht ganz un‐ begründet. »Checkmaster, ich fordere für später eine ausführliche Be‐ schreibung über den Gerun‐Umsetzer. Du wirst ihn Arc Doorn für eine eingehende Untersuchung zur Verfügung stellen.« Der Checkmaster antwortete nicht. Seine hektischen Aktivitäten brachen nicht ab, sondern weiteten sich aus, bis ein stetiges Summen die Kommandozentrale erfüllte. Auf wiederholte Ansprachen rea‐ gierte er nicht. »Der Kasten bringt mich eines Tages um den Verstand.« Riker schüttelte den Kopf. »Manchmal habe ich den Eindruck, der macht das mit Absicht.« Dann brachen schlagartig sämtliche Aktivitäten ab. »Ich habe nichts gefunden«, meldete das Bordgehirn. »Es konnte kein Dialog mit verborgenen Datenbanken initiiert werden.« »Sinnlos.« Guliver Bligh stieß demonstrativ die Luft aus. »An‐
scheinend gibt es da draußen doch nicht mehr, als unsere Wissen‐ schaftler bisher gefunden haben.« »Das sehe ich anders«, erwiderte Pan‐The, der sich mit seinen Leuten bisher still im Hintergrund gehalten hatte. »Ich auch.« Doorn schaute schon wieder mürrisch drein. »Wenn ich doch nur eine Idee hätte. Was ist mir dir, Chris?« Shanton schüttelte den Kopf. »Mir fällt nicht viel ein, nur eines: Wir sollten da rausgehen und jeden einzelnen Klapparatismus in seine Einzelteile zerlegen. Unsere sogenannten Freunde Margun und Sola sollen mir noch mal über den Weg laufen, dann werfe ich ihnen ih‐ ren blöden Datenkristall hinterher.« Plötzlich hellte sich das Gesicht des Sibiriers auf. »Der Da‐ tenkristall! Daß ich daran nicht früher gedacht habe. Erinnerst du dich an die sinnlosen Fragmente?« »Natürlich!« Shanton schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Wenn du recht hast…« »Dürften wir Unwissenden vielleicht auch erfahren, worum es geht?« fuhr ihm Dhark in die Parade. »Auf dem Datenkristall von Margun und Sola sind wir bei unseren Untersuchungen bekanntermaßen auf verschiedene Da‐ tenbruchstücke gestoßen«, sprudelte es aus Doorn heraus. »Wir ha‐ ben alles Mögliche mit ihnen angestellt, aber sie ergaben keinen Sinn. Vielleicht kann der Checkmaster etwas damit anfangen.« Dhark blieb skeptisch. »Warum sollten wir ausgerechnet hier etwas damit anfangen können?« »Weil Margun und Sola sich bestimmt etwas dabei gedacht haben, als sie die Fragmente auf den Speicher kopierten. Ein Versuch kann jedenfalls nicht schaden.« Ren nickte, und sofort machten sich Doorn und Shanton an die Arbeit. Sie beauftragten den Checkmaster mit einer ganz speziellen Analyse der Datenbruchstücke. »Suche nach Affinitäten zwischen den Einrichtungen des In‐ dustriedoms und den unvollständigen Datensätzen. Vielleicht lassen
sie sich irgendwie koppeln. Wenn ja, versuche einen Suchcode dar‐ aus zu generieren. Wenn das gelingt, laß das volle Suchprogramm noch einmal laufen.« Das Bordgehirn bestätigte und startete erneut mit seinen Un‐ tersuchungen. Eine Viertelstunde später durchbrach seine Stimme die erwartungsvolle Stille in der Zentrale. »Die fragmentierten Daten haben einen Zugriff ermöglicht. Ich habe tief im Felsgestein eine Anomalie entdeckt.« »Eine Anomalie?« echote Anja. »Spezifiziere bitte.« Menschen und Worgun hielten den Atem an, als der Checkmaster antwortete. »Ein offenbar seit langer Zeit bestehendes Intervallfeld.« Dhark vernahm überraschte Kommentare. Anscheinend ging nicht nur ihm selbst der verwegene Gedanke durch den Kopf. Ein Inter‐ vallfeld unterhalb des Höhlendoms? War dort etwa noch ein Ring‐ raumer verborgen, von dessen Existenz man bisher nichts geahnt hatte? »Läßt sich die Größe bestimmen?« Die prompte Antwort des Checkmasters ernüchterte ihn. Dir zu‐ folge hatte das unbekannte Objekt die Abmessungen eines Schuh‐ kartons. Worum also handelte es sich bei dem geheimnisvollen Ar‐ tefakt, das so tief im Gestein versteckt und mit einem Intervall ge‐ schützt war? »Ist eine nähere Klassifizierung möglich?« erkundigte sich Dalon. »Negativ. Weder registriere ich energetische Emissionen, noch er‐ halte ich Zugriff auf das Innere des Objekts.« Was immer es auch sein mochte, Ren glaubte nicht, daß es eine Gefahr darstellte. Denn immerhin war es erst durch die Da‐ tenbruchstücke von Margun und Sola entdeckt worden, und die beiden Worgun sahen sich als Freunde und Verbündete der Menschheit. »Kannst du das Objekt bergen?« fragte Doorn. »Das kommt auf einen Versuch an. Ich vermute, daß ich es mit ei‐ nem gezielten Antigravfeld zu packen bekomme. Dank des Inter‐
valls müßte es mir gelingen, es an die Oberfläche zu ziehen.« Sämtliche Blicke richteten sich auf Dhark, der sich ein wenig un‐ behaglich in seiner Haut fühlte. Es war erstaunlich, wie sehr sich immer noch alle nach seinen Entscheidungen richteten. Die Erfor‐ schung eines unbekannten Objekts wäre Sache der Regierung ge‐ wesen, der er nicht mehr angehörte, trotzdem stellte niemand seine Kompetenz in Frage. »Dann wollen wir doch mal sehen, was wir da gefunden haben«, forderte er den Checkmaster auf. »Hol das Ding an die Oberfläche.« »Ich setze das Antigravfeld ein«, bestätigte der Rechner. »Zugriff erfolgreich.« Ren starrte in die Bildkugel. Eine Minute verstrich und noch eine, ohne daß eine Veränderung eintrat. Dann, plötzlich, wurde ein schwach leuchtendes Feld sichtbar, das sich aus dem Untergrund schob. Ein goldener Behälter von der Größe, die der Checkmaster bereits vorab berechnet hatte, war darunter zu erkennen. »Gold, natürlich. Darauf hätte ich eigentlich wetten können«, kommentierte Riker. »Wir sollten rausgehen und uns das aus der Nähe ansehen.« »Noch nicht«, hielt Dhark seinen Freund zurück. »Vielleicht hat das Ding eine Sicherung, die bei unberechtigtem Zugriff anspricht. Checkmaster, kannst du das Intervallfeld eliminieren?« »Der neue Suchcode spricht darauf an. Mit einem gezielten Impuls bringe ich das Feld zum Erlöschen.« Die Worte waren kaum verklungen, als das irisierende Feld ver‐ schwand. Regungslos stand das goldene Objekt auf dem Höhlen‐ boden. »Worauf warten wir noch?« polterte Doorn ungeduldig. Bevor ihn jemand aufhalten konnte, stürmte er aus der Zentrale. * Stumm beobachtete Dhark die Wissenschaftler, als sie sich auf den
goldenen Zylinder stürzten. Er war etwa dreißig Zentimeter lang und fugenlos glatt. An einer der beiden Endflächen gab es verschie‐ dene Vertiefungen, an der anderen an technische Aufbauten erin‐ nernde Vorsprünge und Unebenheiten in miniaturisierter Form. Shanton legte seine Pranken auf das unbekannte Objekt und hob es an. Es ließ sich leichter handhaben, als er erwartet hatte. »Das Ding ist gar nicht so schwer, wie es aussieht. Massiv ist es also nicht.« Vorsichtig legte er es wieder ab. »Das könnte darauf hindeuten, daß es sich um einen Behälter handelt, in dem etwas aufbewahrt wird«, überlegte Acker. Mit den Fingerspitzen zeichnete er eine Linie nach. »Ich schätze, daß es sich hier, an seinem schmalen Ende, öffnen läßt.« Als er es jedoch versuchte, hatte er keinen Erfolg. Es gab keine mechanische Vorrichtung, mit der sich der Zylinder öffnen ließ. Auch beim Abtasten der nur Millimeter messenden Vertiefungen geschah nichts. Pan‐The schleppte mehrere Meßgeräte heran, von denen er zwei direkt an den Zylinder anschloß. Er nahm verschiedene Einstellun‐ gen vor, während Doorn gleichzeitig mit einem Handgerät hantierte. »Eins schon mal vorweg«, verkündete der Rothaarige. »Es droht keine Gefahr durch radioaktive Strahlung. Davon bin ich bei der Technik der Worgun zwar nicht ausgegangen, aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.« Dhark fiel auf, daß er von »den Worgun« sprach und sich selbst nicht darin einbezog. Auch das war ein Hinweis, daß er sich längst mehr als Menschen betrachtete denn dem Volk der Gestaltwandler zugehörig. »Ich registriere einen minimalen Energiefluß.« Shantons Worte alarmierten Dhark. »Ansteigend?« »Keine Sorge, wir haben ihn nicht ausgelöst. Er war die ganze Zeit da, ist aber so schwach, daß er uns beinahe entgangen wäre. Ich behaupte sogar, daß der Fluß ursprünglich größer war und etwas gespeist hat.«
»Und zwar den Intervallfelderzeuger«, bestätigte Dalon. »Wir ha‐ ben es also mit einem kombinierten Gerät zu tun, dessen zweiter Bestandteil ein Mikroreaktor ist. Ich erkenne aber nicht, wozu dieser Aufwand gut ist.« Respektlos griff Shanton abermals nach dem Zylinder und schüt‐ telte ihn. »Da gibt es nur eins. Wir müssen einen Blick ins Innere werfen, und wenn dieser Kasten nicht kooperativ ist, geht das nur mit Gewalt.« »Aber bitte mit sanfter Gewalt, Chris. Wir wollen nichts zerstören, wonach wir vielleicht gerade suchen.« Doorn ging seinem Kollegen zur Hand, und gemeinsam zerlegten sie den Zylinder in seine Einzelteile. Neben dem deaktivierten Intervallfeld gab es keine weiteren Sicherungen, so daß die beiden Männer zügig vorankamen. Rasch stießen sie auf Hohlräume zwi‐ schen den technischen Einrichtungen. Gleichzeitig wuchs der Berg an Einzelteilen, die sie abmontierten. Nach einer Weile versiegte der Energiefluß, als der Reaktor aus dem Bereitschaftsmodus vollständig abschaltete. »So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte Shanton, als er ein weiteres Teil beiseite legte. »Können Sie etwas damit anfangen, Da‐ lon?« »Tut mir leid, mir ist ein solches Gerät ebenfalls neu.« »Wahrscheinlich handelt es sich um eine Spielerei von Margun und Sola.« Doorn verzog das Gesicht. »Für die beiden wird das nicht mehr gewesen sein als eine Fingerübung. Das erklärt aber immer noch nicht den Zweck.« Von dem ursprünglichen Zylinder war inzwischen nur noch ein kleiner Klotz übrig, dessen Wandung sich in schmale Segmente zer‐ legen ließ. Unversehens kullerte etwas aus einer Öffnung. »Da hol mich doch der Klabautermann des Sternenozeans!« ent‐ fuhr es Shanton. »Ein Speicherkristall!« Das winzigkleine Träger‐ medium schien gewichtslos in seiner Hand. »Darauf müssen aber brisante Informationen enthalten sein, um diesen Aufwand zu rech‐
tfertigen.« Ren Dhark brauchte nicht lange zu überlegen. »Wir füttern den Checkmaster damit. Er dürfte keine Schwierigkeiten haben, den Inhalt zu entschlüsseln.« »Wenn es einen Inhalt gibt«, unkte Doorn. »Die Worgun haben uns schon mehr als einmal hinters Licht geführt.« »Dazu gibt es in diesem Fall keinen Grund«, wehrte Dalon ab. »Sie müssen den Speicher vor Urzeiten hier versteckt haben. Also wollten sie, daß irgendwelche Informationen für die Zukunft konserviert werden. Meine einzige Sorge ist, daß der Kristall vielleicht nicht mehr intakt ist. Schließlich haben wir keinen Anhaltspunkt, wie lange er bereits hier liegt.« Dhark war zuversichtlicher. »Der Mikroreaktor und das Inter‐ vallfeld waren ebenfalls noch aktiv, und wir kennen die Langle‐ bigkeit von Hinterlassenschaften der Worgun.« Er sah sich nach Shanton um. »Chris, was tun Sie da?« Kopfschüttelnd kam Shanton in die Höhe. »Sie werden es nicht glauben, Dhark. Dieser goldene Kasten läßt sich nicht wieder zu‐ sammenbauen. Ich habe den Eindruck, daß er mit einem raffinierten Trick mit Absicht so gebaut wurde, daß das nicht mehr geht, sobald er einmal demontiert wurde. Aber egal. Nach dem Schweiß, den mich dieser Speicherkristall gekostet hat, will ich endlich wissen, was er enthält.« Die Gruppe kehrte an Bord der POINT OF zurück.
12. Die Einschleusung war Routine und ging ohne Störungen und Komplikationen über die Bühne. Die Verwundeten wurden um‐ gehend in die Medostation gebracht, während das Einsatzkom‐ mando die Decks der Rauminfanterie aufsuchte. Vegas rief die Führungsoffiziere im Einsatzraum zu einer La‐ gebesprechung zusammen, an der auch Kana und Stormond teil‐ nahmen. Major Erinn Meichle, Chefarzt der ANZIO, informierte die Teil‐ nehmer zu Beginn über den Zustand der fünf verwundeten Soldaten, deren Verletzungen nicht so schwerwiegend waren wie zunächst befürchtet. Ein längerer Klinikaufenthalt zu ihrer Genesung und vollständigen Wiederherstellung würde nicht nötig sein. »Ich bin überzeugt davon«, sagte er in seiner abgehackten Sprechweise, »daß sie in wenig mehr als zwei Wochen ihren Dienst wieder versehen können.« Meichle war ein hagerer Mann mit einem schmalen, kantigen Ge‐ sicht und einer braunen, widerspenstigen Haartolle, die ihm ein überraschend jugendliches Aussehen gab. Er fuhr fort: »Die drei toten Männer befinden sich bis auf weiteres in der Kryokammer.« »Bis auf weiteres?« echote Olin Monro und hob mit einer halben Andeutung die Augenbrauen. »Bis klar ist, welches Ritual für ihre Beerdigung vorgesehen ist«, präzisierte Meichle. »Es gibt zwei Alternativen«, setzte Vegas zu einer Erklärung an. »Einmal können wir sie in der Nähe einer einsamen Sonne dem Weltraum übergeben, wie es in der christlichen Raumfahrt Brauch ist, oder aber Major McGraves als Repräsentant der Rauminfanterie und Befehlshaber der Einheit hier an Bord beschließt, damit zu war‐ ten und herauszufinden, ob die Angehörigen auf der Erde das Be‐
gräbnis selbst in die Hand nehmen möchten. Doch das stellen wir zunächst mal hinten an. Vordringlicher ist unsere augenblickliche Situation, die einer Analyse und einer Lösung bedarf.« Vegas beugte sich etwas vor, legte die Fingerspitzen zusammen und betrachtete sie mit nach innen gekehrtem Blick. Schließlich hob er den Kopf, legte die Hände flach vor sich auf den Tisch und fuhr fort: »Ich bin noch nicht in der Lage, eine abschließende Bewertung der Vorkommnisse zu geben. Nur eines ist sicher: Kosinus ist ein intel‐ ligenter, mit einem Bewußtsein ausgestatteter Rechner von der gleichen Art wie der ›Einsame‹ vom Mars, den kennenzulernen ich ja genügend Zeit, aber keinesfalls das Vergnügen hatte. Auch auf die Gefahr hin, daß nicht jeder hier in diesem Raum die Geschichte kennt, werde ich sie nicht noch einmal zum besten geben.« Er zeigte ein halbes Lächeln, schwieg kurz, um dann fortzufahren: »Fassen wir zusammen, was uns an Fakten vorliegt. Wie wir aus eigener An‐ schauung wissen, war dieser Kosinus, nennen wir ihn der Einfach‐ heit halber weiter so, bis vor kurzem Bestandteil eines Raumschiffes. Wobei ich eigentlich zu der Vermutung tendiere, daß das Schiff mehr ein Bestandteil von ihm war, sozusagen sein Körper, sein ver‐ längerter Arm.« »Er hat sich also das Vehikel geschaffen, um sich durch den Raum bewegen zu können und nicht umgekehrt?« Olin Monros Miene war skeptisch. »Sie sagen es, Nummer Eins.« Vegas zeigte ein schwaches Lächeln. »Ich bin weiter der Ansicht, daß auch in den anderen drei Schiffen die gleiche Art von Rechnern stecken, die Kosinus hierher verbann‐ ten, aus welchen Gründen auch immer. Wir gingen bislang doch immer davon aus, daß es sich bei unserem Feind um eine Maschi‐ nenzivilisation mit Milliarden und Abermilliarden von intelligenten Robotern handelt, viel wahrscheinlicher ist die Annahme, daß wir es mit intelligenten Großrechnern zu tun haben, die – wie Orkas die Ozeane der Erde – den Weltraum durchstreifen und sich auf alles
stürzen, das in ihr Beuteschema paßt.« »Das sind alles nur Hypothesen«, stellte Monro klar. »Vermu‐ tungen ohne realen Hintergrund. Nichts ist bislang bewiesen.« »Natürlich nicht, Nummer Eins. Dennoch bleibt es uns unbe‐ nommen zu spekulieren.« »Sir!« Derek Stormond hob die Hand, um den Oberst auf sich aufmerksam zu machen. »Ja, Mister Stormond?« »Es besteht sicher die Möglichkeit, aus Kosinus’ Datenbanken mehr über die Herkunft der Rechner und ihrer Schiffe zu erfahren.« »Dazu müßte man erst einmal Zugang zu ihnen finden. Und Ko‐ sinus jetzt wieder auszugraben, um das bewerkstelligen zu können, dazu fehlt mir zwar nicht die Möglichkeit – aber jegliche Motivation. Das ist eine Aufgabe für Spezialkräfte. Ich für meinen Teil bin je‐ denfalls heilfroh, daß das Thema Kosinus für uns vorerst abge‐ schlossen ist.« Er schwieg einen Moment und legte leicht den Kopf zur Seite, als lausche er einer nur für ihn hörbaren Stimme. Dann fuhr er fort: »Ich will auf keinen Fall noch mehr Opfer riskieren. Das Wohl von Schiff und Besatzung hat Vorrang vor allem anderen.« Er stand auf. »Meine Herren, machen wir uns an die Arbeit.« Erinn Meichle verschwand in seinem aseptischen, von Chrom blitzenden Refugium, während Vegas und die Führungsoffiziere in die Zentrale zurückkehrten. Noch immer herrschte roter Alarm für die gesamte Besatzung, einschließlich der Kadetten. Jeder an Bord trug seine Dienstwaffe. Vegas nahm seinen Platz ein. Nachdenklich fuhr er sich mit den Händen durch das schon vor längerer Zeit grau gewordene Haar, dessen Farbe jedoch keine Rückschlüsse auf seine physische Verfassung erlaubte, und über‐ legte seine nächsten Schritte. Eigentlich, dachte er in einem unerwarteten Anflug von sar‐ kastischem Fatalismus, bin ich Kommandant eines Flottenschulschiffes.
Eigentlich. In Wirklichkeit aber scheine ich mehr und mehr zu einer Art galaktischer Feuerwehr zu mutieren, die von Trawisheim und Marschall Button an alle möglichen Brennpunkte der Galaxis geschickt wird. Der Gedanke an Bulton erinnerte ihn daran, was er tun wollte. »Mister Bekian«, wandte er sich an seinen Funk‐ und Or‐ tungsoffizier. »To‐Richtfunkspruch an das Flottenhauptquartier. Ich brauche Marschall Bulton in der Phase. Um diesen Kosinus sollen sich Spezialisten kümmern. Wir sind definitiv nicht die Richtigen dafür.« Vegas lehnte sich in seinem Kommandantensitz zurück und blickte nachdenklich zu den Holoschirmen, in denen die sonnenversengte, trostlose Einöde des roten Planeten zu sehen war. Eine Welt, die ihn so sehr an den Mars erinnerte. An den unbesiedelten Mars von vor über fünfzig Jahren… »Sir! Kapitän!« Die Stimme seines Dritten Offiziers riß ihn aus sei‐ nen Gedanken. Sie klang auf eine Art ratlos, daß dem Oberst sofort Unheil schwante. »Was gibt es, Nummer Drei?« »To‐Richtfunkstrecke läßt sich nicht aufbauen!« Vegas drehte seinen Sitz und sah seinen Funk‐ und Ortungsoffizier an, als habe er ihn nicht richtig verstanden. »Wiederholen Sie das, Nummer Drei!« Das tat Kerim Bekian, und jeder in der Nähe vernahm seine Worte. »Habe ich also richtig gehört«, murmelte Vegas. »Ein Problem mit der Sendeleistung?« fragte er dann, sich bewußt zur Ruhe zwingend. »Kein Problem«, sagte Bekian mit finsterer Miene. »Der To‐Funk ist blockiert.« »Grund?« Die Spezialisten in der Funk‐Z waren ratlos. Hatten keine Er‐ klärung dafür. »Oberst, ich habe hier eine beunruhigende Anzeige auf meiner Konsole…« meldete sich plötzlich Lee Kana zu Wort und runzelte
die Stirn. Stormond schaute jetzt ebenfalls auf seine Anzeigen, und sein Ge‐ sicht wurde von Blässe überzogen. Etwas beunruhigte die beiden Freunde über alle Maßen. Sie sahen sich an, dann nickten sie sich wortlos zu und un‐ tersuchten von einem anderen Pult in der Zentrale das Hyperfunk‐ band. »Meine Herren Kadetten, ich habe vernommen, was Sie sagten. Jetzt erklären Sie’s mir. Und zwar ein bißchen rasch!« Vegas’ Stimme klang ungeduldig. »Unsere Systeme werden infiltriert, Sir!« Es war Stormond, der die inhaltsschweren Worte in den Raum stellte. Und Kana setzte noch eins drauf. »Wir werden angegriffen, auf elektronische Weise. Ganz am Rande des Spektrums des Hyper‐ funkbandes läuft seit einigen Minuten eine unbekannte, digitale Kommunikation zwischen einer Quelle dort draußen«, seine Hand machte eine Bewegung in Richtung der Bildschirme, »und unseren Bordsystemen.« Vegas preßte die Kiefer aufeinander, daß die Wangenmuskeln wie dicke Adern hervortraten. Bestünde nicht schon längst roter Alarm, jetzt hätte er ihn aus‐ gelöst. »Kosinus! Ist es nicht so?« »Ja.« Derek Stormonds Stimme klang sicher. »Er kommt als einzi‐ ger in Frage.« »Wie ist es ihm gelungen?« Was Vegas zu hören bekam, gefiel ihm nicht sonderlich, und Chester McGraves, der ebenfalls in der Zentrale anwesend war, noch viel, viel weniger. Für Kana und Stormond war klar, daß sich Kosinus den Hyper‐ sender des Flash einverleibt hatte und so versuchte, den Hyperkal‐ kulator der ANZIO unter seine Kontrolle zu bringen. Hatte er den
erst einmal übernommen, gehörte ihm das modernste Flottenschul‐ schiff der Terranischen Flotte. Und damit war er wieder mobil und konnte seinen staubigen Gefängnisplaneten verlassen. »Verdammt!« stieß Kerim Bekian mit kehliger Stimme und in‐ brünstigem Ärger hervor. »Was können wir tun, um uns unseres ungebetenen Gastes wieder zu entledigen?« »Was schon«, bedeutete ihm sein Kommandant. »Leiten Sie eine komplette Abschaltung des Hyperkalkulators in die Wege. Sofort. Beeilung, Nummer Drei. Wir haben es hier mit einem Gegner zu tun, der uns in puncto Schnelligkeit um Lichtjahre schlägt. Andererseits ist er zerlegt worden, was so etwas wie einer Amputation wichtiger Systeme entspricht. Hoffen wir, daß er noch nicht im Vollbesitz sei‐ ner tatsächlichen Möglichkeiten ist. Und hoffen wir vor allem, daß dies noch eine Weile dauern wird.« Während der Funk‐ und Ortungsoffizier die Befehle seines Kom‐ mandanten in die Tat umsetzte, wandte dieser sich an den Piloten. »Notstart, Mister Mavor! Bringen Sie uns von hier weg, egal wie. Volle Beschleunigung.« »Notstart. Zu Befehl, Sir!« Als sich Vegas in seinen Kommandantensitz zurücklehnte, war ihm, als sähe er aus den Augenwinkeln, wie Lee Kana im Laufschritt die Zentrale verließ. Er verlor keinen weiteren Gedanken daran, sondern konzentrierte sich auf den Start. * Die Konzentration war umsonst. Die ANZIO startete nicht! Zwar liefen die Systeme für Sekundenbruchteile an, doch dann fielen sämtliche Anzeigen zurück auf null. Nur die des Hyperkalkulators fuhren wie von Geisterhand bewegt wieder hoch.
»Mister Stormond?« fragte Vegas. »Ja, Sir«, bestätigte der junge Mann an der Hyperfunkkonsole den Verdacht des Obersten. »Die Kommunikation zwischen Kosinus und dem Hyperkalkulator läuft wieder.« In der vollbesetzten Zentrale machte sich eine hörbare Unruhe bemerkbar. Bevor Roy Vegas oder einer der anderen Offiziere und Funk‐ spezialisten reagieren konnten, fing Derek Stormond von sich aus an, den Hyperkalkulator zu deaktivieren. »Sir!« hob er seine Stimme; sie klang laut und angespannt. »Die Flash müssen aus dem Schiff! Sofort!« »Was?« Olin Monro hatte sich halb aus seinem Sitz erhoben. »Ein Fähnrich, der Befehle erteilt…« Vegas gebot ihm mit einer Handbewegung Einhalt. »Lassen Sie ihn, Nummer Eins. Ich denke, ich weiß, was ihn dazu veranlaßt. Mister Bekian, öffnen Sie die Hauptphase der Bordver‐ ständigung!« »Ist offen, Kapitän.« »An alle Flashpiloten«, begann Vegas ohne Umschweife, und die zentrale Bordverständigung übertrug seine Stimme in sämtliche Decks des Ringraumers. »Hier spricht der Kapitän. Dies ist ein Not‐ falleinsatz. Verlassen Sie umgehend das Schiff. Unterlassen Sie beim Aufsuchen der Depots sowie beim Ausschleusen und auch später jede Kommunikation untereinander oder mit dem Schiff. Ich betone: Keinen Funk benutzen, auch nicht Hyperfunk. Ihr Einsatzprofil lau‐ tet: Gehen Sie über der ANZIO in einen stationären Orbit und beo‐ bachten Sie die Lage über die Optiken. Greifen Sie unverzüglich nach eigenem Ermessen ein, falls Sie eine Situation erkennen, die einen Einsatz erfordert. Leutnant Ure, für Sie habe ich eine spezielle Aufgabe…« Er wollte ihm befehlen, zur Erde zu fliegen, um Terra Command über die Vorgänge hier zu informieren, als die Bordverständigung mit einem deutlichen Knacken ihren Geist aufgab.
»Was ist, Nummer Drei?« Vegas’ Stimme trug einen ärgerlichen Unterton. »Haben Sie Schwierigkeiten, die Bordsprechverbindungen am Laufen zu halten?« »Verflixt und zugenäht«, polterte Bekian in einem ungewohnten Gefühlsausbruch und malträtierte seine Konsole. »Die Phase ist zu‐ sammengebrochen. Wir werden uns Meldeläufer zulegen müssen, Sir.« »Tun Sie es.« »Sir?« »Ich sagte: Tun Sie es. Wir haben genug Kadetten an Bord, da werden doch ein paar darunter sein, die gut zu Fuß sind. Oder haben Sie damit ein Problem?« »Ja, Sir. Nein, Sir.« »Was jetzt, Nummer Drei?« »Verzeihung, Sir. Ja, wir haben genug Kadetten an Bord. Nein, es ist kein Problem für mich.« »Na also«, brummte Vegas. »Geht doch!« Inzwischen war es Derek Stormond gelungen, den Hyperkalkula‐ tor wieder herunterzufahren, nur um mit einem Gefühl destruktiver Ohnmacht beobachten zu müssen, wie der Bordrechner sofort wie‐ der in den alten Zustand zurückkehrte. »Zum Glück hat er es nicht geschafft, die Flash unter seine Kont‐ rolle zu bekommen.« »Sind alle Flash aus den Depots?« »Positiv, Kapitän«, bestätigte Olin Monro, der auf einem Neben‐ schirm den Ausstoß verfolgt hatte. »Wenigstens etwas«, brummte der Oberst, und die steile Falte über der Nasenwurzel war wieder da. »Langsam geht mir dieser Kosinus auf den Geist. Wir können weder auf längere Distanz funken, noch irgendwelche Nachrichten empfangen. Und Zugriff auf die Trieb‐ werkskontrollen haben wir auch keinen. Kosinus versucht, uns sei‐ nen Willen aufzuzwingen. Aber noch ist nicht aller Tage Abend. Wo ist eigentlich Ihr Freund abgeblieben, Mister Stormond?«
»Er ist auf dem Weg in den Maschinenraum. Er versucht das glei‐ che wie ich, nur auf eine andere Art.« * Wenn man der ANZIO ein imaginäres Koordinatennetz verpaßte, mit einer fiktiven Einzeichnung der vier Himmelsrichtungen, dann lag der Maschinenraum genau im Süden der Ringröhre auf Deck 1, die Zentrale im Norden auf den Decks 4 und 5. Im Osten und Westen von Deck 4 befanden sich die beiden unab‐ hängig voneinander arbeitenden Waffensteuerungen – WS‐Ost und WS‐West. Die WS‐Ost war Oberleutnant Denschikoffs Reich. Der Zufall wollte es, daß die ANZIO mit der Waffensteuerung Ost zur Kaverne gewandt gelandet war. Oberleutnant Denschikoff, verantwortlicher Waffenoffizier, führte gerade einen Überprüfung der Instrumente durch, als sein Blick auf eine Anzeige fiel, die die Feuerbereitschaft der Duststrahler anzeigte. Auf dem dazugehörenden Feuerleitschirm erschien die Ge‐ röllhalde, unter der der Eingang zur Kaverne begraben lag. Während er noch dabeiwar, sich einen Reim darauf zu machen, legte sich ein Zielkreuz über die Ansicht; in dem Doppelring lief eine Markierung hin und her und zentrierte sich. Denschikoff wurde erst blaß, dann rot. Vor Ärger. »He!« rief er zornig in den Raum. »Welcher Volltrottel hat Num‐ mer vier aktiviert? Raus mit der Sprache, damit ich ihm die Ham‐ melbeine langziehen kann!« Er erntete Unverständnis auf den Gesichtern seiner Untergebenen. »Niemand«, ließ sich der Oberbootsmann hören, der die Waffen‐ techniker beaufsichtigte. »Ganz abgesehen davon, Sir«, dehnte er, »daß Sie an der zuständigen Konsole sitzen.« Die Dust‐Antenne hatte sich inzwischen auf ein Ziel festgelegt. Sie begann zu feuern.
Der lichtschnelle, olivgrüne Strahl löste sich aus der Abstrahl‐ antenne und begann mehrere hundert Meter weiter das Geröll über dem verschütteten Eingang aufzulösen. Denschikoff zerbiß einen Fluch zwischen den Zähnen. Das roch nach – nein, berichtigte er sich, das stank nach Ärger. Wutentbrannt hämmerten seine Finger auf die Abbruchtaste, als hinge sein Leben davon ab. Wäre das der Fall gewesen, er hätte den Löffel abgeben müssen: Die Abbruchtaste zeigte ihm die kalte Schulter. »Zur Hölle! Wer pfuscht da in meinem Feuerleitautomaten he‐ rum?« machte Denschikoff seinem Unmut Luft. Niemand antwortete. Niemand hatte eine Ahnung. Zu diesem Ärger gesellte sich ein weiterer: Die Bordsprech‐ verbindung signalisierte Totalausfall. »Avignoni!« Den Maat riß es förmlich aus seinem Sitz. »Sir?« »Nehmen Sie die Beine in die Hand und laufen Sie in die Zentrale. Berichten Sie dem Kommandanten davon, was hier abgeht. Presto!« * Fähnrich Kana war inzwischen auf der ANZIO wie zu Hause. Das hieß, er fand sich auch im Dunklen zurecht, sollte es erforderlich sein. Aber noch brannte die Beleuchtung. Nachdem er die Leitzent‐ rale verlassen hatte, lief er über den ringförmigen Hauptkorridor von Deck 4 nach »Norden«, wo drei Decks tiefer der Maschinenraum und die Räume der Hauptspeicherbänke untergebracht waren. Nach wenigen Minuten erreichte er einen Antigravschacht – sämt‐ liche Decks waren durch A‐Gravschächte und Notleitern verbunden –, zögerte einen Augenblick, dann zuckte er mit den Schultern und ließ sich in die erleuchtete Öffnung fallen.
Das Antigravfeld arbeitete noch und beförderte Kana zügig in die Tiefe. Der Schacht endete im zentralen Korridor von Deck eins. Kana orientierte sich in Sekundenbruchteilen, dann ging er die wenigen Schritte bis zu dem großen Schott, das mit schräg auf‐ gemalten gelben Warnbalken versehen war. Der Fähnrich legte die Hand auf die Abtastplatte zum Ma‐ schinenleitstand. Anstandslos öffnete sich die Schleuse. Er trat ein. Seinen Blicken bot sich der hell erleuchtete Maschinenleitstand, eine verkleinerte Kopie der Hauptzentrale. Er war ausgerüstet mit Steuerpulten, einer Reihe Schwenksessel und vielen Sichtschirmen, die den Raum mit seinen geschwungenen Wänden dominierten. Interessiert warf Kana einen raschen Blick darauf; es waren keine »Fenster« nach draußen, sondern Innenansichten jener Bereiche, in denen die Aggregate, Konverter und Speicherbänke dafür sorgten, daß sich die ANZIO mit n‐facher Lichtgeschwindigkeit durch den Raum bewegen konnte. Dies war das Reich Nuklids, des Gottes der Atome und Neutronen. Das Reich von Chief Dave Gjelstad. Die Triebwerke konnten auch vom Maschinenpult in der Haupt‐ zentrale überwacht und gesteuert werden, dabei wurden lediglich die Befehlsparameter von hier nach droben transferiert. Aber der Chefingenieur verließ nur in Notsituationen seinen Stand, und selbst dann nur sehr widerstrebend. Als Kana in den Raum trat, in dem ein kräftiges Brummen als ständiges Hintergrundgeräusch existierte, sah er sich von drei Männern gemustert. Zwei waren Triebwerkstechniker mit den Winkeln von Obermaaten auf den Ärmeln der Arbeitsuniformen, beim dritten handelte es sich um den Chief selbst, Hauptmann Dave Gjelstad, einem drahtigen Mann von 41 Jahren. Seine hellgrauen Augen musterten den Besucher mit kühler Dis‐
tanz. »Sie haben sich sicher verirrt, Fähnrich…?« dehnte er. »Kana, Lee Kana«, sagte Kana und begann zu ahnen, daß er viel Überzeugungskraft würde aufbringen müssen, um das zu erreichen, weswegen er hier war. »Nun, Fähnrich Kana. Haben Sie sich verirrt?« »Keineswegs, Sir. Ich bin genau da, wo ich sein will.« »Hat Sie Dir Führungsoffizier geschickt?« »Nein, Sir.« »Der Kommandant?« »Nicht direkt, aber ich weiß, er heißt gut, was ich von Ihnen zu tun verlange.« »Sie haben ein Anliegen?« »Ein sehr dringendes«, bestätigte Kana. Der Chefingenieur blickte ihn scharf an. »Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, aber da ich ein Faible habe für junge, aufstrebende Talente – was kann ich für Sie tun?« Insgeheim bewunderte Kana den Chief zu dessen Beherrschtheit. Andere wären vermutlich schon vor einer Minute explodiert. »Ich muß Sie auffordern, die Energieversorgung komplett herun‐ terzufahren.« Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, wäre da nicht die‐ ses ständige Brummen gewesen. Gjelstad zupfte kurz mit den Zähnen an seiner Unterlippe. »Sie scherzen, Fähnrich«, begann er, hielt inne, nachdem er einen Blick auf Kanas Gesicht geworfen hatte, und fuhr fort. »Nein, Sie sind nicht bei Sinnen. Ganz abgesehen davon, daß ich Ihrem Wunsch nicht ohne Rücksprache mit dem Kommandanten nachkommen kann.« »Tun Sie es«, war Kanas Antwort. »Sie werden kein Glück haben. Nach meiner Theorie hat Kosinus diese Frequenzen bereits ge‐ sperrt.« Als trotz wiederholter Versuche die Kommunikation mit der
Zentrale nicht zustande kam, wurde der Chief unsicher. Dennoch sperrte er sich noch immer, der Forderung des Fähnrichs nachzu‐ kommen. »Ohne plausiblen Grund kann ich die Energieversorgung einfach nicht kappen«, ließ er Kana wissen. Kana seufzte, diesmal laut, und zog die Waffe. »Ist das ein plausibler Grund für Sie, Sir?« Gjelstads Augenbrauen ruckten hoch. »Fähnrich, Sie sollten sich darüber klar sein, daß Sie sich auf sehr dünnem Eis bewegen. Wollen Sie Ihre Karriere auf diese unrühmli‐ che Weise beenden, indem Sie einen Offizier mit der Waffe bedro‐ hen?« »Sie lassen mir keine Wahl«, sagte Kana schlicht. »Sie scheinen nicht zu begreifen. Es geht hier nicht um meine Karriere. Es geht um das Schiff, um die gesamte Mannschaft, um jeden einzelnen hier an Bord, darum, ob wir jemals wieder zurück nach Terra kommen werden – und letztendlich um die Menschheit. Suchen Sie sich was aus, Sir.« Dave Gjelstad brauchte genau zehn Sekunden, um sich zu einem Entschluß durchzuringen. »Gut«, sagte er, »ich schalte die Hauptenergieversorgung ab. Aber nicht auf Druck dieser Waffe, sondern weil ich eingesehen habe, daß hier tatsächlich etwas nicht stimmt.« »Weswegen Sie es tun ist nachrangig, Sir. Wichtig ist, daß Sie es tun«, versetzte Kana und steckte die Waffe weg; sie hatte ihren Zweck erfüllt, obwohl er nicht stolz darauf war, daß er sie benutzt hatte. Über den Leitrechner begann Gjelstad damit, die Meiler her‐ unterzufahren. Seine Finger glitten über die Bedienfelder der Rech‐ nerkonsole. Plötzlich entrang sich ihm ein »Verdammt!« Er fuhr seinen Sessel näher an das Pult heran und fuhr fort, die Bedienfelder zu drücken. Schwach leuchteten Kontrollen auf, erloschen wieder.
»Was ist los?« fragte Kana, obwohl er schon wußte, was geschehen war. »Etwas blockiert meine Versuche, die Meiler herunterzufahren«, gestand Gjelstad nüchtern. »So wie es aussieht, hat der Hyperkal‐ kulator die Kontrolle übernommen und uns ausgesperrt. Er hat, was die Energieversorgung betrifft, alles im Griff. Da beißt die Maus keinen Faden ab.« »Es hat zu lange gedauert«, sagte Kana. »Ich war nicht schnell ge‐ nug hier.« »Und ich habe nicht schnell genug reagiert«, gestand der Chief. »Mea culpa. Alles meine Schuld.« »Unsinn«, stellte der Fähnrich fest. »Gibt es nicht irgendein Not‐ fallprogramm, das wir zur Anwendung bringen können?« »Doch, das gibt es.« »Also haben wir noch eine Chance?« »Nun«, der Chief musterte den Fähnrich von oben bis unten, »kräftig genug scheinen Sie ja zu sein.« »Ich verstehe nicht…?« »Unser Notfallprogramm besteht darin, daß eine ganze Reihe er‐ heblich großer Sicherungsblöcke mit der Hand herausgeschlagen werden müssen, um die Energieversorgung des Schiffes lahmzule‐ gen.« »Und darauf hat der Hyperkalkulator keinen Einfluß?« »Er nicht und auch sonst kein elektronischer Rechenknecht, ob er nun Kosinus heißt oder sonstwie«, sagte der Chefingenieur mit für Kana unerwarteter Fröhlichkeit. * Die Hauptbeleuchtung in der Zentrale begann erst zu flackern, dann erlosch sie. Für einen erschreckend lang erscheinenden Moment herrschte Finsternis im ganzen Schiff.
Es wurde still. Dennoch entstand keine Panik. Jemand atmete laut, ein anderer räusperte sich. Mehr geschah nicht. Jeder wartete auf das, was unweigerlich kommen würde und nur Sekunden später auch geschah, als sich die Notbeleuchtung ein‐ schaltete, die, gespeist mit Energie aus Speicherbänken, unabhängig von der Hauptenergieversorgung arbeitete. Und wie erwartet, sprangen auch nach und nach die Notsysteme an, die bei einem Ausfall der Hauptenergie für den weiterhin not‐ wendigen Betrieb der Umweltkontrollen sorgte, für Wärme und Sauerstoff. Roy Vegas sah auf der Kommandantenkonsole einige Sensor‐ punkte blinken, einige pulsierten im ruhigen Grün, wenige nur in hektischem Rot. Die Bildschirme waren von der Notstrom‐ versorgung ausgeschlossen, sie blieben dunkel. »Ist es das, was Fähnrich Kana vorhatte zu tun?« fragte Vegas über die Konsolen hinweg Derek Stormond. »Ja, Sir. Er hatte bloß keinen Erfolg damit. Zumindest den nicht, der beabsichtigt war.« »Dem Hyperkalkulator den Saft abzudrehen und Kosinus so aus dem Netz zu werfen?« »Richtig, Sir, das war unser beider Intention.« »Hätten Sie Ihre Überlegungen mit mir geteilt, hätte ich Ihnen sa‐ gen können, daß der Hyperkalkulator seine eigene Notstrom‐ versorgung hat, die ihn vollkommen unabhängig macht, selbst wenn in diesem Schiff nicht mal mehr der Hauch von Energie vorhanden ist.« In der reduzierten Beleuchtung war Stormonds Miene nicht zu sehen, aber sein Schweigen war beredt genug. »Das nennt man wohl einen Schuß in den Ofen«, stieß Olin Monro die Finger tief in die Wunde. »Nicht ganz«, ergriff der Oberst Partei für den Fähnrich. »Im‐
merhin hat Kosinus durch das Herunterfahren der Hauptenergie keinen Zugriff auf unsere Waffensysteme mehr, ich denke da nur an die Aktivierung des Duststrahlers, und dieses Ergebnis, glauben Sie mir, Nummer Eins, befriedigt mich über alle Maßen.« »Dieser Meinung kann ich mich nur anschließen«, ertönte eine Stimme vom Hauptschott her. Hauptmann Gjelstad kam mit Kana im Schlepptau in die Zentrale. »Chief«, wunderte sich Ron Nozomi. »Sie hier?« »Was tut ein Chefingenieur schon in einem toten Maschinen‐ leitstand, frage ich Sie? Außerdem bekommt so mein Stellvertreter wieder mal was zu tun.« »In einem ›toten‹ Maschinenleitstand. Hmm.« Jay Godel schien amüsiert. »Wenn man nur wüßte, was dieser Kosinus im Schilde führt?« wechselte Olin Monro das Thema. »Das kann ich euch wissen lassen«, aktivierte sich plötzlich das Audiomodul des Hyperkalkulators so plötzlich, daß manche in der Zentrale zusammenzuckten, »obwohl ich keinen Sinn darin erkenne, Biomüll meine Handlungen zu erklären.« Biomüll? Vegas sah sich von Olin Monro fixiert. Absolut menschenverachtend, signalisierte dessen Blick. Vegas nickte zustimmend. Als die Nummer Eins Anstalten machte zu antworten, hob Vegas abwehrend die Hand und deutete dann auf sich. »Ah, Kosinus«, dehnte er. »Was willst du?« »Ich will, daß ihr mir das Schiff übergebt, damit ich diese Welt verlassen kann.« »Was bietest du als Gegenleistung an?« »Gegenleistung?« »Na, du weißt schon – Geben und Nehmen – eine Hand wäscht die andere und so weiter…« »Diese Begriffe sind mir nicht geläufig.«
»Wie steht’s mit Entgelt, Belohnung, Vergütung?« Jetzt schien Kosinus zu verstehen. »Ihr werdet eure Existenz behalten und könnt hier auf diesem Planeten bleiben.« Vegas blieb gelassen. Seine Miene wirkte ungerührt, wie meist. Tatsächlich aber fühlte er sich in seiner Haut nicht besonders wohl. Er hatte schon viele ungewöhnliche Ereignisse gemeistert, aber diese Künstliche Intelligenz erinnerte ihn zu sehr an eine andere aus seiner Vergangenheit, mit der er keine guten Erfahrungen gemacht hatte. »Du wirst verstehen, daß wir diese Entwicklung erst untereinander beraten müssen. Gedulde dich.« »Wartet nicht zu lange mit der Antwort…« Mit dieser Drohung verstummte Kosinus. Für einen Augenblick herrschte Ruhe. »Das ist ja Wahnsinn, Kapitän!« platzte Monro heraus. »Künstlicher Wahnsinn, Nummer Eins«, stellte Vegas klar. »Aber deshalb nicht weniger gefährlich.« »Was werden wir tun?« fragte Jay Godel, pragmatisch wie stets. »Was können wir tun?« hielt der Oberst dagegen. Die Offiziere wirkten unentschlossen. »Kommen Sie schon, meine Herren, Vorschläge!« Sie diskutierten eine geschlagene Stunde, dann beschloß man übereinstimmend, den Hyperkalkulator von der Notstromver‐ sorgung zu trennen, ihn abzuschalten, sämtliche Speicherinhalte zu löschen und ihn dann neu zu formatieren. Eine mit Risiken behaftete Radikalkur. Üblicherweise wurde so etwas nur in Flottenwerften durchgeführt und nicht auf einer stau‐ bigen, absolut leeren Welt, wo keine Hilfe vorhanden war, falls das Vorhaben aus welchen Gründen auch immer in die Binsen gehen sollte. Um bei einem möglichen Ausfall des Hyperkalkulators nicht ir‐ gendwo im tiefen Weltraum fernab jeder Hilfe zu stranden, be‐ wahrte jeder Kommandant eines Ringschiffe in einem Tresor seiner
Kapitänskabine einen Kristalldatenträger auf, der ein Ba‐ sis‐Notfallprogramm enthielt, mit dem der Hyperkalkulator soweit rekonfiguriert werden konnte, daß es für einen Rückflug zur Erde reichte. »Wen wollen Sie damit betrauen, Kapitän?« fragte Olin Monro. Bekian schnaubte. »Da komme wohl nur ich in Frage.« »Ich schalte den Hyperkalkulator selbst ab«, sagte der Oberst in einem Tonfall, der keinen Raum für Diskussionen ließ, und verließ seinen Sitz. »Nummer Eins, das Schiff gehört Ihnen«, sagte er, dann fiel sein Blick auf Timulin Mandrake an der Funkkonsole. Sein Zeigefinger stach in dessen Richtung. »Fähnrich Mandrake, Sie kommen mit mir.« * Der Hyperkalkulator war bei allen Ovoid‐Ringschiffen in einem speziell gesicherten Abteil auf dem Deck über der Zentrale unter‐ gebracht. Während die beiden an Jahren und Lebenserfahrung so unter‐ schiedlichen Männer in den schmalen Gang traten, der sich über der Zentrale erstreckte, erkundigte sich Timulin Mandrake: »Erwarten Sie Schwierigkeiten, Sir?« »Nein, eigentlich nicht. Warum fragen Sie, Fähnrich?« »Sie tragen eine Plasmawaffe.« »Ach so.« Vegas lächelte. »Es ist eigentlich mehr ein Werkzeug«, ließ er den jungen Mann wissen, der, was Suprasensoren anbelangte, über ein enormes Wissen und Einfühlungsvermögen verfügte. Der Oberst hatte seine Fähigkeiten schätzen gelernt, als es darum ging, den Hauptrechner des Caldarerschiffes FORSCHEX zu knacken und dessen komplette Daten auf die ANZIO zu transferieren. »Mit Verlaub, Sir, merkwürdiges Werkzeug«, erwiderte der Fähn‐ rich, mißtrauisch Seitenwände und Metalldecke des Korridors be‐
trachtend, als erwarte er von dort jeden Augenblick irgendwelche waffentechnische Gemeinheiten, die ihr Eindringen in diesen sen‐ siblen Bereich jäh beenden würden. »Waffen können auch manchmal Werkzeuge sein«, erwiderte Ve‐ gas und lächelte stärker. »Oder umgekehrt«, versetzte Mandrake. »Oder umgekehrt«, bejahte der Oberst. Ein Metallschott versperrte ihnen den Weg. Dahinter lag, am Ende eines kurzen Ganges, der nichts anderes als eine Vorschleuse war, wie der Oberst Mandrake erklärte, der eigent‐ liche Rechnerraum. Vegas legte die Hand auf die Abtastplatte. Das Schott hätte jetzt eigentlich zur Seite gleiten müssen; es be‐ wegte sich nicht. »Hm«, knurrte Vegas nach kurzem Schweigen, »wie sage ich’s meinem Kinde…« »Sir?« wunderte sich Mandrake. »Nur eine Redensart, Fähnrich.« »Ach so. Zugang gesperrt, wie?« Vegas bejahte. »Der Rechner blockiert das Schott. Das hat er ei‐ gentlich noch nie gemacht. Die Schutzschaltung des Hyperkalkula‐ tors hat bislang noch immer meine Autorisation anerkannt. Vermut‐ lich hat ihm das dieser Kosinus eingeredet. Aber dagegen haben wir das richtige Werkzeug.« Er griff nach der Plasmawaffe. »Wenn jemand von seinem Glück nichts wissen will, muß man ihn eben dazu zwingen«, zitierte er zwar nicht richtig, aber sinngemäß. Er verstellte den Abstrahlfokus, betätigte den Abzug und nickte zufrieden, als ein nadelfeiner Strahl von nicht mehr als Armlänge die Mündung verließ. »Sehen Sie«, machte er Mandrake aufmerksam, »jetzt ist es kein Strahler mehr, sondern ein Plasmaschneider.« Er führte den Strahl um die Sensorplatte herum.
Es zischte, krachte und stank. Elektrische Entladungen züngelten, und Mandrake begann zu husten. Die Entlüftung hatte mit dem Abschalten der Hauptenergie ihre Tätigkeit eingestellt. Das in der Mitte geteilte Schott sprang einen Fingerbreit auf. Vegas knurrte zufrieden. »Dann wollen wir mal«, gab er zu verstehen, preßte die Fin‐ gerspitzen in den Spalt und zog kräftig. Das Schott bewegte sich nicht. »Mist!« Vegas stemmte die Füße in den Boden und verstärkte den Zug seiner Finger. Aber erst als Timulin Mandrake ihm zur Hilfe eilte und mit anpackte, zeichnete sich ein Erfolg ab. Langsam öffnete sich das Schott und glitt seitlich in die Wand. Sie traten ein. Die Notbeleuchtung erhellte den kurzen Gang. »Es sind nicht zufällig Abwehranlagen hier drin installiert?« er‐ kundigte sich der Fähnrich und beäugte mißtrauisch die voll‐ kommen glatten Wände. »Nicht daß ich wüßte«, gab Vegas zu verstehen. »Wenn, dann sind sie ohne mein Wissen eingebaut worden.« Sie bewegten sich in den Korridor hinein, bis das segmentierte Schott Einhalt gebot. Diesmal handelte es sich um eine nicht elekt‐ ronisch abgesicherte, sondern um eine manuell zu bedienende Tür. Vegas drehte an dem blitzenden Rad an der Wand neben dem Schott. Wuchtige Sperrbolzen schoben sich in die Wände, die Seg‐ mente wichen irisartig auseinander und gaben den Blick frei. Vor ihnen lag ein hoher, hexagonförmiger Raum, hell beleuchtet. Ein Kaleidoskop von Lichtern, digitalen Skalen und Bildschirmen vermittelte den Eindruck eines Einkaufsbasars zur Weihnachtszeit. Im Augenblick war er vermutlich der einzige Raum im ganzen Schiff, dachte Timulin Mandrake, der über genug Energie verfügte.
Die Seiten des Sechsecks waren gefüllt mit ausziehbaren neben‐ und übereinander angeordneten Einschüben – die Datenspeicher des Hyperkalkulators. Die Frontflächen der »Schubladen« trugen Kar‐ rees mit farbigen Bedienfeldern. In der Mitte des Raumes befand sich eine eineinhalb Meter hohe sechseckige Säule, die eine Tastatur‐ und eine Stimmeingabe auf‐ wies, welche identisch mit der Hauptzugriffseinheit in der Zentrale waren. Armdicke Leitungen wuchsen aus den Seitenflächen der hexa‐ gonförmigen Säule und verschwanden im Boden, wo sie sich ver‐ zweigten und zu den Datenspeichern liefen. Die Notstromversorgung des Hyperkalkulators war eine schen‐ keldicke Zuleitung, welche die Energie eines Kompaktmeilers über einen Adapterflansch in den Rechner transportierte. Der »Stecker«, wie Vegas dem Fähnrich erklärte, der sich mit wachen Augen und geschärften Sinnen kein Detail entgehen ließ. Der Minimeiler selbst stand in einem von starken Kraftfeldern gesicherten Zwischenraum. Vegas postierte sich vor der Säule. Seine Finger glitten über die Tasten und gaben seinen Autorisierungscode ein. Eine kurze Sequenz von Tönen und ein Schriftzug auf dem einge‐ lassenen Schirm war das Ergebnis. »Das System hat mich akzeptiert«, äußerte er mit zufriedener Miene. »Nun denn, dann wollen wir das gute Stück mal in den Tief schlaf versetzen.« Er gab Reihen von Befehlen ein, mit denen die Sicherheits‐ protokolle außer Kraft gesetzt wurden. Damit verlor der Hyperkal‐ kulator sämtliche Sicherungsparameter beim anschließenden Run‐ terfahren, was gleichbedeutend war mit einer Formatierung des gesamten Rechners. Er wurde zu einem »unbeschriebenen« Blatt, sobald keine Energie mehr anlag. »Und jetzt«, sagte Vegas, und sein Gesicht zeigte einen Ausdruck, der Mandrake erschreckte, »werden wir ihm den Saft abdrehen!« Mit ein paar raschen Handbewegungen öffnete er den Bajo‐
nettverschluß der Energiekupplung und ließ die massive Zuleitung zu Boden fallen. Zunächst geschah nichts. Mandrake glaubte schon an einen Mißerfolg der Aktion, als sich das Licht im Raum veränderte. Bildschirme erloschen. Digitale Anzeigen wurden grau und leer. Die farbig hinterlegten Bedienfelder der Eingabe wurden schwarz. Und mit jedem Erlöschen verringerte sich die Helligkeit im Rech‐ nerraum um eine Nuance. Schließlich war nur noch das Halbdunkel der normalen Not‐ beleuchtung vorhanden. »Das dürfte Kosinus den Aufenthalt in unserem System hoffentlich gründlichst vermiesen«, knurrte der grauhaarige Oberst. »Was ha‐ ben Sie, Fähnrich?« fragte er, als dieser einen merkwürdigen Laut von sich gab. »Ich habe gerade an die Arbeit gedacht, die jetzt ansteht. Sie wird nicht leicht sein«, bekannte er. Das war zutreffend. Bevor man den Hyperkalkulator wieder in Betrieb nehmen konnte, mußte der Inhalt seiner gesamten Speicher gelöscht werden. Eine zeitaufwendige Beschäftigung, die keinen Fehler erlaubte, da nichts von dem virenartigen Übernahmeprogramm Kosinus’ übersehen werden durfte. »Je eher Sie damit beginnen«, sagte Vegas ungerührt, »desto früher sind Sie fertig.« »Ich würde noch früher fertig sein«, behauptete Mandrake und grinste entschuldigend, »wenn ich Hilfe bekäme.« »Da ist was Wahres dran.« Vegas nickte. »In Ordnung. Ich schicke Ihnen Kana und Stormond.«
13. Der Checkmaster schaffte es beinahe auf Anhieb, den Spei‐ cherkristall zu aktivieren, da er weder gesichert noch chiffriert war. Wer ihn fand, sollte ihn offenbar auch verstehen können. Niemand konnte sich vorstellen, was Margun und Sola bezweckt hatten, als sie ihn unter der Ringraumerhöhle versteckt hatten. »Jedenfalls wollten sie, daß wir ihn finden«, konstatierte Chris Shanton. »Sonst hätten sie uns die Datenfragmente zur Auffindung des Kristalls nicht gegeben.« Er verstummte, als der Checkmaster die Audiodatei abspielte. Sie enthielt das rund 500.000 Jahre alte Tagebuch eines Worgunforschers namens Feson. Bereits bei den ersten Worten des Checkmasters waren sämtliche Zuhörer in den Bann geschlagen. Die Aufzeichnungen berichteten davon, wie die Worgun sich nach Beginn ihres Raumfahrtzeitalters daranmachten, den vielfältigen Spuren der Balduren nachzugehen. Auf der Suche nach ihnen durchkämmten sie ganz Orn. Sie flogen zahlreiche Planeten an und entdeckten mannigfaltige Hinweise. Es stellte sich schnell heraus, daß die Balduren in der ganzen Galaxis aktiv waren – oder besser: gewesen waren. Unter anderem hatten sie zahlreiche uralte Tempel hinterlassen, die von den Worgun akribisch genau untersucht wur‐ den. Unter einem dieser Tempel entdeckten sie halbverschüttete Arte‐ fakte, bei denen sie eine goldene Inschrift freilegten. Die Trägerplatte wurde analysiert und erwies sich als 600.000 Jahre alt. Sie enthielt Hinweise auf eine zehn Millionen Lichtjahre entfernte Galaxis. Hat‐ ten die Balduren sich in einem beispiellosen Exodus dorthin zu‐ rückgezogen? Da es die nächstliegende Vermutung war, stellten die Worgun eine Expedition zusammen, um die ihnen noch unbekannte Galaxis zu besuchen, die sie auf den Namen Nal tauften. Feson, ein hochrangiger Forscher, nahm als wissenschaftlicher Leiter an dem
Flug ins Ungewisse teil. Die Expeditionsflotte erreichte Nal und flog die Koordinaten an, die man der Inschrift entnommen hatte. Sie wiesen auf einen Plane‐ ten in Zentrumsnähe hin. Es gelang nicht auf Anhieb, ihn zu be‐ stimmen. Zunächst waren nähere Beobachtungen Nals nötig, um den Bewegungsablauf der Spiralgalaxis zu studieren. In den Jahr‐ hunderttausenden, die die goldene Platte vergraben gewesen war, hatten sich natürlich gewaltige Verschiebungen ergeben. »Anscheinend ist es den Worgun gelungen, den Planeten ausfindig zu machen«, beendete der Checkmaster seinen Bericht. »An dieser Stelle beginnen große Lücken in dem Tagebuch, die eine Rekons‐ truktion der weiteren Eintragungen unmöglich machen. Ich kann nur noch einen späteren Eintrag entschlüsseln, der vermutlich Wo‐ chen nach den anderen vorgenommen wurde.« Ren sah auf. »Und wie lautet er?« »Werden wir dieser schrecklichen Falle jemals entkommen?« zi‐ tierte das Bordgehirn. Sekundenlang herrschte Stille in der Kommandozentrale der POINT OF. Doorn fand als erster die Sprache wieder. »Die ur‐ sprüngliche Nachricht der Balduren ist also über eine Million Jahre alt. Zu der Zeit müssen sie Nal schon weitgehend erforscht haben.« Dhark nickte. Nal – die Milchstraße. Er erinnerte sich, zum ers‐ tenmal von Gisol über die Balduren gehört zu haben, über die gol‐ denen Götter, die wie die Worgun Gestaltwandler waren. Vor einer Million Jahren war die NYMED, das erste Worgun‐ raumschiff mit Transitionsantrieb, unter dem Kommandanten Osark auf die amöbenhaften Gestalten gestoßen. Diese hatten behauptet, die Worgun nach ihrem Ebenbild erschaffen zu haben, um damit die Entwicklung in diesem Galaxienhaufen in die richtige Richtung zu lenken. Als Osark später als einziger Überlebender der NYMED‐Besatzung nach Epoy zurückgekehrt war, hatte man ihn für verrückt erklärt. In der Folgezeit war der Baldurenkult entstanden, doch erst viel
später hatten die Worgun eine weitere Expedition mit verbessertem Hypersprungantrieb ausgerüstet, um Osarks Flugroute nachzuvoll‐ ziehen. Dabei hatte die Besatzung einen goldenen Planeten geortet, der ein Sonnensystem verließ und kurz darauf verschwand. Derselbe goldene Planet möglicherweise, dachte Dhark, derselbe, auf den die POINT OF bei ihrem Rückflug aus Orn gestoßen ist. »Was bezwecken Margun und Sola damit, uns mit der Nase auf dieses Logbuch zu stoßen?« riß ihn Shantons Stimme aus seinen Gedanken. »Die Balduren sind bei den Worgun legendär«, überlegte Anja Ri‐ ker. »Offenbar gehen sie davon aus, daß die sogenannten goldenen Götter immer noch aktiv sind, in Orn oder in der Milchstraße. Ich habe den Eindruck, Margun und Sola wollen uns dazu bringen, uns auf deren Spuren zu setzen.« »Um uns damit mal wieder ihre Arbeit machen zu lassen«, warf Doorn wenig begeistert ein. »Vielleicht haben sie sogar gerochen, daß wir auf einen der ihren treffen. Erst Gisol, jetzt Dalon. Wer weiß, wie viele Worgun sich noch unerkannt in der Milchstraße rumtrei‐ ben.« Er verstummte, als Shanton ihm einen unauffälligen Blick zuwarf und ihn damit auf die Bedeutung seiner eigenen Worte aufmerksam machte. »Checkmaster«, überspielte der Erbauer der Ast‐Stationen die ein‐ tretende Stille. »Liegen die Koordinaten der von Feson angeflogenen Welt vor?« »Positiv. Ich habe den heutigen Bezugspunkt der Koordinaten er‐ rechnet. Demzufolge liegt er in der Nähe des galaktischen Zent‐ rums.« Dhark hielt es nicht länger. »Wir brechen sofort auf. POINT OF startbereit machen.« »Fragt sich außer mir eigentlich niemand, wie der Speicherkristall hierher gelangt ist?« fragte Dan Riker. »Natürlich, Margun und Sola haben ihn auf Hope versteckt, aber das meine ich nicht. Wenn Feson
den Bericht verfaßt hat, wie ist er dann zu den beiden gelangt? Als Funkspruch? Daran glaube ich ehrlich gesagt nicht. Waren sie viel‐ leicht selbst schon auf der erwähnten Welt?« »Vergiß nicht die von Feson angesprochene Falle«, widersprach seine Frau. »Meinst du nicht, die hätte auch Margun und Sola er‐ wischt?« »Nicht, wenn sie klug genug waren, rechtzeitig abzudrehen. Viel‐ leicht haben sie nur auf jemanden gewartet, dem sie zutrauen, diese Falle zu überlisten. Das Auftauchen der POINT OF könnte ihnen genau in die Karten gespielt haben.« »Du siehst zu schwarz, Dan.« Dhark vertraute den beiden Aka‐ demiepräsidenten. »Und erzähl mir bloß nicht, daß du diesen Hin‐ weis ignorieren willst.« Mit einem Lächeln winkte sein Freund ab. »Damit sich ein anderer diesen Spaß gönnt? Von wegen, mein Lieber. Außerdem haben wir sowieso keine andere Wahl.« Riker ging näher an Dhark heran, so daß nur sein bester Freund die geraunten Worte verstand. »Wir müssen einen Weg finden, um unserer Sonne wieder or‐ dentlich einzuheizen. Und da sich hier offenbar kein Hinweis auf entsprechende W‐Technologie mehr befindet, könnten sich die sa‐ genhaften goldenen Götter als letzter Strohhalm erweisen.« Dhark nickte nur stumm. So hilflos wie in den letzten Tagen hatte er sich noch nie gefühlt. »Ich kehre durch die Höhlen an die Oberfläche zurück«, erklärte Dalon. »Sobald Sie starten, schließ ich mich der POINT OF mit der ASGOR an.« »Hast du etwas dagegen, daß ich dich an Bord deines Schiffes be‐ gleitete, Dalon?« Doorn sah Dhark an. »Ich brauche einfach ein we‐ nig Abstand. Auf der ASGOR ist es ruhiger als hier. Vielleicht ge‐ winne ich da meinen klaren Kopf zurück.« »Von mir aus gerne, Arc, wenn Dalon einverstanden ist.« Der Worgun hatte ebenfalls keine Einwände.
»Ich hole nur schnell ein paar Notwendigkeiten aus meiner Kabi‐ ne«, verabschiedete sich Doorn aus der Zentrale. »Außerdem muß ich Doris unterrichten.« Nachdem er verschwunden war, verabschiedeten sich Bligh und die Hope‐Wissenschaftler von der Besatzung und gingen von Bord des Ringraumers. * »Du wirst mich doch begleiten?« In knappen Worten brachte Doorn seine Frau auf den aktuellen Stand, wobei er ein paar Sachen zusammenpackte. Er fuhr herum, als er hinter sich ein unterdrücktes Schluchzen vernahm. Es versetzte ihm einen Stich, als er die Tränen in ihrem Gesicht sah. »Entschuldige, ich war…« Selten in seinem Leben hatten Doorn die Worte gefehlt, jetzt fühlte er sich plötzlich hilflos. »Ich soll dich begleiten? Ich weiß doch gar nicht mehr, wer du bist.« Tiefe Verzweiflung zeichnete sich in Doris Gesicht ab. »Zehn Jahre war ich mit einem Fremden verheiratet. Wo ist der Mann, den ich geliebt habe?« Doorn ließ fallen, was er gerade in Händen hielt. »Was bin ich nur für ein Idiot! Für mich ist das alles schon schlimm genug, wie muß es dir da erst gehen?« Er wollte seine Frau in die Arme nehmen, aber sie wich vor ihm zurück. »Wie würde es dir gehen, wenn du erführest, daß ich kein Mensch bin?« Ein neuerlicher Weinkrampf schüttelte sie. »Sondern ein… ein… ach, ich weiß es nicht.« »Doris, bitte hör mir zu.« Doorn schnappte nach Luft. Seine Kehle war wie ausgetrocknet. »Ich bin ein Mensch wie du, glaube mir. Ich hatte über 2400 Jahre Zeit, einer zu werden. Das ist mehr Zeit, als alle geborenen Menschen sie haben. Ich denke und fühle wie ein Mensch, und ich werde nie etwas anderes sein. Besonders für dich nicht.« »Aber du bist nicht der Mann, den ich einst geheiratet habe.«
»Doch, genau der bin ich«, versuchte Doorn seine Frau zu über‐ zeugen. Hier, in der Abgeschiedenheit ihrer gemeinsamen Kabine, war er nicht länger der mürrische Brummbär, als den seine Kollegen und Freunde ihn kannten. Flehend blickte er in ihre rotunterlaufenen Augen. »Sieh mich an und sag mir, was du siehst.« Eine Ewigkeit schien zu vergehen, dann drehte Doris langsam den Kopf. »Ich… ich weiß es nicht«, flüsterte sie stockend. »Du weißt es. Wir beide wissen es. Ich bin der Mann, der dich noch immer genauso liebt wie am Tag unserer Hochzeit. Mehr noch.« Doorn bemerkte, wie etwas Feuchtes über seine Wange lief. »Mir ist gleichgültig, was die anderen sagen, solange du bei mir bist.« »Wirklich?« Er konnte Doris ansehen, daß sie hin‐ und hergerissen war, und sie hatte recht. Ihm an ihrer Stelle wäre es nicht anders ergangen. »Du bist alles für mich«, bekräftigte er. »Wenn du nicht mit mir kommst, bleibe ich ebenfalls auf der POINT OF. Ich werde überall hingehen, wohin auch du gehst.« Doris schwieg, und wieder schien die Zeit stillzustehen. Doorn vergaß, daß Ren Dhark auf den Aufbruch ins Unbekannte drängte. Es war ihm egal. Wenn es nötig gewesen wäre, hätte er bis in alle Ewigkeit vor seiner Frau gestanden und auf eine Antwort gewartet. Langsam hob sie eine Hand und griff nach ihm. »Du… du liebst mich wirklich noch?« »Mehr als alles andere auf der Welt.« Diesmal ließ sie ihn gewäh‐ ren, als er sie an sich zog und die Arme um sie legte. Als er ihren Herzschlag spürte, kehrte auch in ihn selbst das Leben zurück. Wenn nur Doris bei ihm war, mochte die gesamte Galaxis sich von ihm abwenden. Doch das würde sie nicht tun, wie Chris Shanton ihm versichert hatte. »Ich helfe dir beim Einpacken«, sagte Doris. »Ich selbst brauche ja auch ein paar Dinge.« Doorns Lippen zitterten. Er wollte etwas sagen, aber er konnte nicht sprechen. Das schaffte er erst wieder, als sie gemeinsam ihre
Kabine verließen. * »Das Zielgebiet liegt ziemlich nahe an der ehemaligen Quiet Zone«, stellte Hen Falluta beim Durchsehen der Sternkarten fest. »Bei dem Gedanken, dort mit der POINT OF zu kreuzen, ist mir nicht beson‐ ders wohl.« Dhark teilte die Besorgnis seines Ersten Offiziers. Die Quiet Zone war ein vierhundert Lichtjahre durchmessendes und von einer Schale aus Schwarzen Löchern charakterisiertes Gebiet nahe des galaktischen Zentrums gewesen und damit mit der von den G’Loorn errichteten Chronosphäre identisch. ∗ Zwar existierte sie seit knapp zehn Jahren nicht mehr, doch dafür herrschten seither weit über die ursprünglichen Abmessungen hinaus chaotische Verhältnisse, von denen sich Raumschiffe möglichst fernhielten. Obwohl die künstlich erzeugten Schwarzen Löcher größtenteils bei einem Großangriff der insektoiden Skythen, der Ausgestoßenen der G’Loorn, zerstört worden waren, galt der Sektor vielen Raumschiffskommandanten als rotes Tuch. Denn mehr als ein Schiff war dort auf Nimmerwie‐ dersehen verschwunden, und unter Raumveteranen machte der Be‐ griff vom galaktischen Bermudadreieck die Runde. »Läßt unser Kurs ausreichenden Spielraum?« »Der Abstand sollte reichen, die POINT OF nicht in Gefahr zu bringen. Allerdings stehen die Sterne dort im gesamten Bereich sehr dicht.« Das war Dhark bewußt. Abstände von wenigen Lichtmonaten waren in der erweiterten Zentrumsregion zwischen den einzelnen Sternen die Regel. Da kam es zwangsläufig zu diversen hy‐ perphysikalischen Phänomen. Doch denen hatten sie bereits bei der Reparatur des entarteten Schwarzen Lochs im galaktischen Zentrum ∗
Siehe REN DHARK Classic‐Zyklus Band 8, »Die Meister des Chaos«
getrotzt. Mit Sternensog jagte der Ringraumer seinem Ziel entgegen, bereits stark verzögernd. Die wenigsten der dichtstehenden Sterne wurden von Planeten umkreist, dafür präsentierte sich das glitzernde Lich‐ termeer in der Bildkugel viel dichter gewoben als in weiter außen gelegenen Bereichen des Milchstraßensystems. »Bekommen wir eine eindeutige Zielzuordnung?« »Positiv, Commander. Trotz der Sternendichte gibt es an den in Frage kommenden Koordinaten nur ein Sonnensystem«, meldete sich Tino Grappa von seinen Ortungseinrichtungen. »Es ist ein Dreiplanetensystem mit einer gelben Sonne vom Sol‐Typ.« Die Ortungseinrichtungen liefen beim Anflug der POINT OF auf Hochtouren. Falluta steuerte den Ringraumer in Abstimmung mit Grappas Warnungen vor Raumanomalien, bis das angepeilte System in der Bildkugel zu sehen war. »Der zweite Planet ist erdähnlich«, las der Mailänder seine Ergeb‐ nisse ab. »Die Stickstoff‐Sauerstoff‐Atmosphäre ist für uns gefahrlos atembar.« »Anzeichen einer Zivilisation?« »Negativ. Keine Bebauung, keine sichtbare Infrastruktur. Funk‐ und Energieortung schlagen ebenfalls nicht an.« Falluta brachte die POINT OF in die Umlaufbahn und führte einige Umrundungen in den oberen Atmosphäreschichten der Welt durch. Bei den Messungen bestätigten sich Grappas erste Auswertungen. Es gab keine Hinweise auf höherstehende Lebewesen. »Da unten existieren nur Insekten.« »Haben wir wirklich den richtigen Planeten gefunden?« fragte Ri‐ ker skeptisch. »Kein Irrtum möglich?« Unisono warfen Grappa und Falluta ihm anstelle einer Antwort einen stummen Blick zu. Natürlich gab es keinen Zweifel, zumal der Checkmaster die Zielfindung vorgenommen hatte. »Wenn es hier mal eine gemeingefährliche Falle gab, existiert sie offenbar nicht mehr.«
»Oder sie wartet auf den richtigen Moment zum Zuschnappen.« Dhark hielt Rikers Schlußfolgerung für verfrüht. »Keine Statuen oder alte Artefakte an der Oberfläche?« »Nichts. Keine Auffälligkeiten.« Grappa änderte einige Ein‐ stellungen. Sekunden später zeichnete sich in der Bildkugel ein großer, dschungelbewachsener Hügel ab, auf den er aufmerksam geworden war. »Etwas entdeckt, Tino?« »Ich bin nicht sicher. Die Massenortung spricht an. Ich registriere enorme Ansammlungen von Metall speziell in diesem Hügel. Sie stehen in keinem Verhältnis zu irgendeiner anderen Stelle des Pla‐ neten.« »Ist eine nähere Bestimmung möglich?« erkundigte sich Ren. Wie ein Buckel erhob sich der Hügel aus dem umgebenden Wald in die Höhe. Das Blätterdach war so dicht, daß sich der Boden auch in den Vergrößerungen nicht erkennen ließ. »Vielleicht sind wir auf eine besonders große Eisenerzlagerstätte gestoßen.« »Negativ. Dafür haben wir es mit einer viel zu großen Reinheit zu tun. Mein Gefühl sagt mir, daß da unten bearbeitetes Metall ver‐ steckt liegt.« Riker stieß seinen Freund an. »Denkst du das gleiche wie ich, Ren?« Dhark nickte. Vielleicht handelte es sich bei dem Hügel um keine gewöhnliche geologische Formation. »Wir sehen uns das mal aus der Nähe an. Hen, geostationäre Position beibehalten. Ich werde mit einem Flash runtergehen.« »Aber nicht allein«, beeilte sich Riker zu sagen. »Du sagtest eben noch, daß die Falle vielleicht auf uns lauert. Dabei wissen wir noch nicht einmal, ob sie auf dem Planeten gewesen sein soll oder ir‐ gendwo im interplanetaren Raum. Eigentlich wissen wir gar nichts, und deshalb wirst du nicht allein fliegen.« »Keine Sorge, du begleitest mich. Dazu Amy, Chris Shanton und Tschu Hin. Er soll seine archäologische Ausrüstung nicht vergessen.
Doraner, Wonzeff, Dressler, Warren und Kartek nehmen wir als Piloten mit. Funk‐Z, Dalon und Doorn sollen bei dem Hügel zu uns stoßen.« Kurz darauf bestätigte Glenn Morris. »Dalon parkt die ASGOR im Orbit und schleust mit Doorn aus.« »Ich komme ebenfalls mit«, drang eine Stimme unter einem der Sessel hervor. Augenblicke später kam Jimmy schwanzwedelnd zum Vorschein. »Diese Falle geht mir nicht aus dem Kopf. Ich werde ein besonderes Auge darauf haben.« Shanton stöhnte unterdrückt auf. »Ich werde den Ausflug auch ohne dich überleben. Du hast doch gehört, da unten ist niemand.« »Trau, schau, wem. Ich werde mich mit eigenen Sensoren davon überzeugen.« »Laß diese Plattitüden. Du darfst mitkommen, wenn du ver‐ sprichst, dich zu benehmen und uns nicht zwischen den Beinen he‐ rumzulaufen.« »Wuff«, machte Jimmy fröhlich und rollte Richtung Ausgang. »Das sollte wohl ›Ja‹ heißen«, vermutete Riker. »Wenn man das bei der Töle nur genau wüßte«, seufzte Shanton schicksalsergeben. »Ich wasche meine Hände jedenfalls in Unschuld, wenn Jimmy mal wieder eine Extratour reitet.« Lächelnd erhob sich Dhark aus dem Kommandantensessel. Zehn Minuten später verließ die aus fünf Raumfahrzeugen bestehende Flashflotte die Depots und fiel der Planetenoberfläche entgegen.
14. Ein tiefes Dröhnen drang durch die ringförmigen Korridore der ANZIO. Es klang, als schlüge ein Riese mit einem gewaltigen Hammer gegen die Unitallhülle des Ringschiffes. Dabei war es nur der Versuch von McGraves’ Infanteristen, im trüben Licht der Notbeleuchtung das große Schott der Haupt‐ schleuse Ost auf dem untersten Deck per Hand und mit Hilfe eiser‐ ner Stangen aufzuhebeln. Eine Heidenarbeit wegen des großen Ge‐ wichts des äußeren Schotts; Tonnen von Metall mußten durch Mus‐ kelkraft bewegt werden. Major McGraves verfolgte aus einer etwas erhöhten Warte, näm‐ lich aus dem Fahrerhaus seines Kommandoschwebers heraus, wie sich die Männer des Erkundungstrupps abmühten. McGraves hatte diese Aufklärungsmission angesetzt, weil nie‐ mand in der ANZIO genau wußte, ob der Eingang zu Kosinus’ Höhle noch verschlossen war oder nicht. Die Meldung aus der Waffensteuerung Ost, daß sich eine Dustan‐ tenne selbständig gemacht und das Geröll über dem Ka‐ verneneingang ins Visier genommen hätte, ließ nichts Gutes ahnen. Schließlich zeigten sich erste Erfolge. Grelles Licht drang erst durch einen schmalen Spalt ins Schleuseninnere, dann wurde es heller und heller, als das Schott mehr und mehr hochfuhr. Als die Truppe ins Freie kam, sah sie eine große Anzahl von Ro‐ botern aus der wieder geöffneten Höhle strömen. Alle schienen be‐ waffnet. Das Ziel ihres Ausfalls war eindeutig die ANZIO. McGraves Truppe sah sich von Anfang an in der Defensive, mit einer derartig großen Zahl von kampffähigen Robotern hatte nie‐ mand gerechnet. Trotz erbitterter Gegenwehr gewannen die Infanteristen keinen Fußbreit Boden, sie konnten lediglich ihre Stellung halten, kamen aber zu keiner Vorwärtsbewegung.
Die Roboter gaben Salve auf Salve gegen die Terraner ab, die kaum die Köpfe aus den Deckungen hinter Felsen und in flachen Boden‐ senken strecken konnten, um ihrerseits gezielte Schüsse abzugeben. »Zielt nicht direkt auf den Körper!« brüllte Emer Nunez über den Lärm hinweg. »Der ist irgendwie gepanzert. Schießt auf die Glied‐ maßen, das macht sie bewegungsunfähig.« Er erhob sich auf die Knie, legte wie auf dem Schießstand an, ungeachtet der Gefahr, selbst ein gutes Ziel abzugeben, und feuerte zwei, drei kurze Salven. Vor ihm fielen mehrere Roboter ohne Arme oder Beine übereinander und brannten funkensprühend wie Feuerwerksraketen. »Gute Idee!« gratulierte Tomerson seinem Nebenmann und tat es ihm gleich. Dann blaffte er sein Team an: »Schießt schneller, ihr Trantüten. Wo bleibt euer Ehrgeiz!« »Aufpassen, Soldat!« schrie McGraves, der inmitten seiner Leute am Kampf geschehen teilnahm. Im gleichen Moment ließ sich der lautstark gewarnte Infanterist fallen – und die Strahlen rasten wirkungslos über ihn hinweg. Feldwebel Tomerson hatte die Richtung erfaßt, riß seine Waffe herum und gab einen Feuerstoß ab, der einen Roboter, der durch‐ gebrochen war, um Meter zurückschleuderte, wo er mit verdrehten Gliedern liegenblieb. McGraves hörte ein Geräusch in seinem Rücken. Er warf sich mit einem Schnauben herum, hob die Waffe – und ließ sie mit einem Fluch wieder sinken, als er seinen Stabsfeldwebel erkannte. »Mann, Greer!« stöhnte er. »Ich hätte Sie fast erschossen. Schlei‐ chen Sie sich nie mehr von hinten an mich heran. Verstanden?« »Verstanden, Sir!« Noel Greer lächelte verkrampft. »Sir, wir wer‐ den uns nicht mehr lange halten können.« »Ich befürchte es. Zu dumm, daß wir den Funk nicht benutzen dürfen. Wäre nicht schlecht, wenn uns die Flash zur Hilfe kämen.« »Sie sagen es, Sir… verdammt!« Greer rollte sich blitzschnell zur Seite, schoß aus der Drehung heraus und erwischte einen Roboter, der beängstigend nahe herangekommen war. Greer blieb auf dem
Rücken liegen und starrte blinzelnd in den Himmel. Er hob die Hand und deutete auf etwas, das er hoch am Firmament entdeckt hatte. Dann begann er unvermittelt zu lachen. »Was haben Sie, Mann?« wunderte sich McGraves und befürchtete schon, die Sonne hätte seinem Stabsfeldwebel zu heftig zugesetzt. Der aber sagte, noch immer lachend: »Sehen Sie doch… ein Flash, Sir. Sie hätten früher davon anfangen sollen…« * Die Hilfe war da. Im Weltall hatten die Flashpiloten über ihre Optiken gesehen, was unten auf der Oberfläche zwischen der ANZIO und der Höhle Ko‐ sinus’ vor sich ging. Da die Funkgeräte befehlsgemäß deaktiviert bleiben mußten, fackelte einer der Piloten nicht lange und ging ge‐ mäß des vom Oberst gegebenen Einsatzbefehls einfach im Sturzflug hinunter. Nach nur wenigen Sekunden folgten ihm die anderen. Wie ein tödlicher Hornissenschwarm fielen die 27 Flash über die Roboter Kosinus’ her und dezimierten sie binnen kürzester Zeit mit ihren Bordwaffen. Ihre Intervallfelder machten sie selbst gegen jeden Angriffsversuch der Maschinen immun. Sie hielten erst inne, als keine Gegenwehr mehr zu verzeichnen war – und keine intakten Roboter mehr auf der Ebene zwischen Berg und Ringraumer herumliefen. Dann kehrten sie unter dem Jubel der Infanteristen, die ihnen zuwinkten, ins All zurück. Major McGraves’ Truppe verstärkte ihre Präsenz und nahm eine weitgefächerte Verteidigungsposition gegenüber der Höhle ein. Und an Bord der ANZIO waren Mandrake, Kana und Stormond dabei, letzte Hand an die Neuformatierung des Hyperkalkulators zu legen. *
»Sie scheinen gute Laune zu haben, Fähnrich Mandrake«, sagte Vegas und musterte den jungen Mann eingehend. »Haben Sie Grund zur Fröhlichkeit?« Mandrake räusperte sich, und das Grinsen zog sich auf seine Au‐ gen zurück. »Den habe ich, Sir!« »Hmm, dürfte ich ihn erfahren?« »Natürlich… Sir!« beeilte sich Mandrake mit der korrekten Anrede. »Also?« »Wir sind soweit, Kommandant«, begann Timulin Mandrake. Immerhin spricht er nicht in der Einzahl, dachte Vegas, das zeigt seine Teamfähigkeit… »Die Datenspeicher sind leer. Wir haben den Hyperkalkulator wieder über die Notstromversorgung mit Energie versehen. Das Notfallprogramm wurde implementiert. Ich habe die Betriebspa‐ rameter an die Funk‐Z transferiert. Wir können jederzeit starten, Sir.« »Gute Arbeit, Fähnrich«, sagte Vegas und nickte anerkennend, »aber mit dem Start ist es noch ein wenig hin. Sie können wegtreten.« »Danke, Sir.« So erfreulich die Meldung war, sie war nur ein Teilerfolg, darüber war sich der Oberst klar, und bedeutete nicht automatisch die Lö‐ sung aller Probleme. Die Datenspeicher des Hyperkalkulators waren nun völlig leer. Das Notfallprogramm installierte auf der Basis der Flottenstandards nur die notwendigsten Navigationsdaten – galaktische Position und Referenzsterne –, um das Schiff zur Erde zurückzubringen. Mehr vermochte es nicht. Das Bordbetriebssystem war vollwertig, aber alle Einstellungen, die vom Flottenstandard abwichen, würden neu vorgenommen werden müssen. Und vor allen Dingen würde der ersten Säuberung eine zweite
folgen, um auch wirklich den letzten Datenkrümel von Kosinus’ Übernahmeprogramm zu entfernen. Vegas winkte einen der Kadetten, die als »Meldeläufer« Nach‐ richten von Deck zu Deck und in die unterschiedlichsten Abteilun‐ gen trugen. »Mister Rowe, melden Sie dem Chief, daß er den Saft wieder auf‐ drehen kann.« »Zu Befehl, Sir!« Der junge Mann machte eine zackige Kehrtwendung und ver‐ schwand aus der Zentrale. * Es war, als erwache die ANZIO zu neuem Leben. Energie durchströmte den Ovoid‐Ringraumer. Überall im Schiff gingen die Lichter wieder an. Aggregate nahmen ihre Arbeit auf; Gravitationsgeneratoren bau‐ ten A‐Grav in den Schächten und Liftröhren auf. Man würde nicht länger gezwungen sein, sich seinen Weg von Deck zu Deck über Leitern zu suchen. Die Schotts gingen wieder vorschriftsmäßig auf und zu, niemand mußte sie mehr von Hand öffnen. Es dauerte eine Weile, alle energieverbrauchenden Komplexe und Aggregate wieder ans Netz zu bringen. Aber dem Chief und seinem Team gelang das Kunststück, die ANZIO in kürzester Zeit wieder zu einem funktionstüchtigen Schiff zu machen. Allerdings zu einem, das stumm war und es auch bleiben würde, wenigstens so lange, wie man sich auf diesem namenlosen Planeten befand und die latente Gefahr im Hintergrund lauerte, daß Kosinus möglicherweise doch noch eine Gemeinheit einfiel, die man noch nicht bedacht hatte. Die Funkanlagen blieben weiterhin abgeschaltet. Vegas wollte in dieser Phase nichts mehr, aber auch gar nichts mehr riskieren.
Alle Aggregate, Konverter und Fusionsmeiler arbeiteten ohne Einschränkung im Wartemodus. Jetzt, dachte Oberst Roy Vegas, Kommandant des modernsten Flottenschulschiffes der Terranischen Flotte und Herr über rund 500 Leben, werden wir den letzten Schritt tun. * »Wie haben Sie sich das vorgestellt, Oberst, Kosinus zu besiegen?« Die Stimme des Ersten Offiziers verbreitete Ruhe in ihrer Sachlich‐ keit; hinter ihr verbarg sich abwägende Überlegung. Vegas sah seine Führungsoffiziere der Reihe nach an. Eine gute Mannschaft, dachte er. Meine Mannschaft! Männer, deren Alter zwischen 30 und 45 Jahren schwankte. Männer mit unterschiedlichsten Begabungen und unter‐ schiedlichen militärischen Werdegängen. Alles Spezialisten in ihren Bereichen, aber keine eigenbrödlerischen Einzelgänger. Sie schätzen und mochten sich gegenseitig, bildeten eine homogene Gruppe, de‐ ren Ziel es war, ein Schiff von der Größe und Klasse der ANZIO durch das All zu fliegen und junge Leute auszubilden. Als er die ANZIO übernommen hatte, hatte er eigentlich mit Schwierigkeiten und einem langen Prozeß des gegenseitigen Res‐ pektierens gerechnet. Es war alles anders gekommen. Diese Männer, fast jeder einzelne selbst fähig, ein Raumschiff als Kommandant zu führen, hatten seine Autorität problemlos aner‐ kannt und sich ohne Widerstände untergeordnet. Vielleicht, dachte Vegas innerlich grinsend, liegt das ja an meinen Al‐ ter. Schließlich bin fast doppelt so alt wie mein ältester Offizier. »Es gibt einen Weg«, versicherte der Oberst, jetzt wieder ganz konzentriert. »Ach ja?« meldete sich Jay Godel zu Wort. »Welchen?« »Hören Sie zu…«
Vegas sprach von seinem in den letzten Stunden in ihm gereiften Vorhaben, Kosinus die Aussichtslosigkeit seiner Lage vor »Augen« zu fuhren und ihn dadurch dazu zu bewegen, sich selbst zu deakti‐ vieren. »Und, mit Verlaub, wie wollen Sie das anstellen, Sir?« »Ich werde mit ihm reden.« »Ha, ha«, machte Hauptmann Monro, aber es war kein Lachen. Dann starrte er Vegas durchdringend an. »Gütiger Himmel! Sie meinen das ernst!« »Es ist mein voller Ernst«, antwortete der Oberst und machte ein verbindliches Gesicht. »Ich werde ihn überzeugen.« »Einfach so?« fragte Godel. »Einfach so«, bestätigte der Oberst. »Sie vergessen, daß ich eine ähnliche Situation schon einmal überstanden habe.« »Mit Reden?« zeigte sich Hauptmann Bekian skeptisch. »Wenn Sie so wollen, ja.« »Die Macht der Worte«, ließ sich Hauptmann Nozomi hören. »Entschuldigen Sie, Sir, aber das ist Voodoo.« »Aus Ihrer rationalen Sicht der Dinge – möglich. Aber wenn’s hilft!« Jetzt grinste Vegas. »Ich denke, daß es dazu nur eines kleinen Anstoßes bedarf. Kosinus’ ganze Aktionen, seine schon manisch zu nennenden Versuche, diesen Planeten zu verlassen und sich wieder ein Raumschiff anzueignen, zeigen, daß er sich in einem desolaten Zustand befindet, der immer mehr einer Eskalation zusteuert. Er wähnte sich schon am Ziel seiner Wünsche, dem sicher geglaubten Zugriff auf ein Schiff, als wir ihm einen dicken Strich durch die Rechnung machten. Er steht wieder ganz am Anfang. Er ist, um ei‐ nen Begriff aus unserer Nomenklatur zu verwenden, bereits hoch‐ gradig suizidgefährdet.« »Legen Sie da nicht menschliche Maßstäbe an etwas an, das zwar ein gewisses instrumentelles Bewußtsein besitzt, ansonsten aber nur aus Schaltkreisen, Speichern, Sensoren, Stromkreisen und Metall besteht, Oberst?« meinte Hauptmann Godel. »Es ist ein rein mecha‐
nisches Leben, so gesehen. Woher nehmen Sie die Gewißheit, dieser Kosinus sei suizidgefährdet?« »Indem ich zwei und zwei zusammenzähle – und auf Grund der mit dem Einsamen vom Mars geführten jahrzehntelangen Diskus‐ sionen. Diese gefürchtete Roboterzivilisation besteht nicht etwa aus intelligenten Robotern, sondern aus intelligenten, mit einem Be‐ wußtsein versehenen Großrechnern, die die Roboter steuern und führen. Sie sind ihre Werkzeuge, ihre Hände, Beine, Arme, Waffen – und die Raumschiffe sind ihre Körper. Wird eines der Raumschiffe vernichtet, stirbt ein intelligentes Wesen. Nimmt man einem Groß‐ rechner sein Schiff, amputiert man ihn, trennt ihn von seiner Hülle. Wie würden Sie reagieren, meine Herren, wenn Sie auf Grund eines schweren Unfalles in eine Klinik gebracht würden und am nächsten Tag, wenn Sie aus der Narkose aufwachen, feststellen müßten, daß Sie nur noch als Gehirn existieren, fähig zwar zu denken, aber an‐ sonsten von allem abgeschnitten, was das Leben, die Existenz aus‐ macht?« »Es wäre die Hölle. Ich würde verrückt werden«, gab Hauptmann Bekian spontan zu. »Sehen Sie, Nummer Drei, dieser Kosinus ist nahe daran, genau das zu werden. Und ich werde ihm den letzten Stoß versetzen. Kein Rechengehirn, mag es sich noch so einsam und verlassen fühlen, tötet ungestraft drei menschliche Wesen und verletzt andere. Und jetzt reden wir nicht länger über mein Vorhaben. Damit alles rei‐ bungslos über die Bühne geht, brauche ich jeden einzelnen von Ih‐ nen. Hören Sie zu, meine Herren.« Und dann erläuterte er ihnen seinen Plan. Es war vielleicht nicht der beste Plan, aber gut genug, um zum Er‐ folg zu führen. Das hoffte er jedenfalls. *
Die Einöde war abschreckend. Während Roy Vegas die Rampe hinunterschritt, bot sich seinen Augen ein Bild absoluter Verlassenheit. Ohne sein Zutun drängte sich ihm eine Zeile aus der Bibel auf: Und die Erde war wüst und leer… Er hatte sich dieses Bild nie richtig vorstellen können, nicht einmal später, als er als erster Mensch den Mars betreten hatte. Jetzt, auf einer Welt in einem Raumquadranten 1700 Lichtjahre von der Erde entfernt, bekam er zum erstenmal eine Vorstellung davon, was diese wenigen Worte bedeuteten. Wüst und leer. Und es war finster in der Tiefe… Nein, hier endete der Vergleich. Finster war es nicht. Im Gegenteil. Die Sonne am wolkenlosen Himmel war unbarmherzig in ihrer Glut. Die Temperatur betrug über 40 Grad Celsius, wie der Oberst mit einem Blick auf sein Armbandgerät feststellte. Der Wind trug nicht etwa zur Abkühlung bei, sondern transportierte eine sengende Hitze, trieb Sand und Staub in langen Fahnen über die ausgedörrte Oberfläche. Es war ein Ort, den man besser erst gar nicht aufsuchte. Für Menschen ungeeignet. Nicht einmal für Maschinen schien dieser Platz in der Galaxis ers‐ trebenswert zu sein. Dann betrat Roy Vegas die fremde Welt. Er war dort, von wo Kosinus mit aller Macht versuchte weg‐ zukommen. Vegas zog eine Grimasse; er würde alles daransetzen, damit das nicht geschah. Als er aus dem Schlagschatten, den die ANZIO warf, in das helle Licht heraustrat, kam ihm Chester McGraves entgegen. Seine Solda‐ ten bildeten eine lang auseinandergezogene Verteidigungslinie zwischen Flottenschulschiff und Kaverne, deren Eingang aus der
Entfernung wie das Tor zum Hades wirkte. »Wie fühlen Sie sich, Skipper?« »Wie der junge David.« »David?« dehnte der Major. »David kurz vor dem Kampf mit Goliath«, präzisierte Vegas. »Ach, der David. Ja dann…« Ein schwaches Grinsen verlieh McGraves’ permanent miesepetriger Miene einen ungewohnt freundlichen Zug. »Obwohl – Sie haben nicht mal eine Waffe.« Das stimmte. Vegas hatte nichts als einen tragbaren UKW‐Sender bei sich und eine Energieleuchtpistole, mit der er eine zehn Kilome‐ ter hohe Leuchtbahn in den Himmel schießen konnte. Sie würde unübersehbar sein für die Flashpiloten. »Wozu brauche ich eine Waffe? Ich hoffe, Ihre Scharfschützen be‐ halten die Umgebung im Visier.« »Darauf können Sie sich verlassen, Skipper. Man wird Sie nicht aus den Augen lassen. Keine Sekunde.« Nachdem die Flash die erste große Angriffswelle von Kosinus’ Roboterstreitmacht mit Stumpf und Stiel ausgerottet hatten, tauchten immer wieder neuproduzierte Roboter aus der Höhle auf, die aber dank der strategisch überlegenen Stellung der Infanterieeinheit je‐ desmal schnell wieder in Stücke geschossen werden konnten. Der Major hatte zusätzlich leichte, tragbare Raketenwerfer einset‐ zen lassen, die sich als sehr effektiv im Kampf gegen die Kriegsma‐ schinen erwiesen. »Gut zu wissen, Chester. In Ordnung, Sie kennen Ihre Befehle.« McGraves bestätigte. »Kein Funkkontakt. Weder zum Schiff noch untereinander. Und damit auch wirklich niemand in Versuchung gerät, habe ich alle Funkgeräte einziehen lassen. Wir warten auf Ihr Handzeichen, dann räumen wir das Terrain und ziehen uns in die ANZIO zurück. Die Einschiffung wird nicht mehr als drei Minuten in Anspruch nehmen. Ich werde meine besten Scharfschützen in der Schleuse postieren, sollten Kosinus’ Roboter Sie gefangennehmen wollen.«
Vegas nickte, seine Miene schien ein wenig von ihrer Ange‐ spanntheit zu verlieren. »Das wird nicht geschehen«, sagte er. Woher nimmst du die Gewißheit? fragte höhnisch eine leise Stimme in seinem Kopf. Verschwinde, antwortete Vegas. Ich kann dich jetzt nicht brauchen. Aber wenn du darauf bestehst – ich weiß es einfach. »Zufrieden?« Daß er das letzte Wort laut ausgesprochen hatte, merkte er, als McGraves mit »Natürlich, Skipper« antwortete. »Gut. Warten Sie auf mein Handzeichen, Chester.« Vegas setzte sich in Bewegung. Er lief etwa vierhundert Meter in Richtung der Kaverne und hielt dann im Niemandsland an. Die Energieleuchtpistole trat in Aktion. Der Oberst verfolgte die grüne Leuchtspur, bis sie sich im Son‐ nenglast verlor. Er konnte sie vom Boden aus nicht mehr sehen, doch in den hohen Schichten der Atmosphäre war sie für die Flashpiloten an der Grenze zum Weltraum klar zu erkennen. Das Signal wurde richtig gedeutet. Vegas mußte keine zwei Minuten warten. Über dem Geräusch des Windes lag plötzlich ein anderer Ton, ein unendlich fernes, schwaches Pfeifen: der Eintritt der Flash in die Atmosphäre. Einen Augenblick später landeten sie bereits auf der freien Fläche rings um den Oberst und öffneten die Maschinen. Gleich darauf standen 27 junge Piloten im Kreis um den grauhaarigen Komman‐ danten. Der Befehl, Funk unter allen Umständen zu vermeiden, war noch immer nicht aufgehoben, deshalb trugen sie keine Funkhelme. Leutnant Robert Ure, Skerls Stellvertreter, nahm Haltung an und salutierte. Vegas grüßte knapp zurück. »Meine Herren«, begann er, »Sie kehren unverzüglich in die
ANZIO zurück, bleiben aber in Sitzbereitschaft in Ihren Flash. Ist das verstanden?« »Verstanden«, erklang es unisono aus siebenundzwanzig Kehlen. So schnell sie gekommen waren, so rasch waren sie wieder ver‐ schwunden, diesmal in den Depots an Bord des Ovoid‐Ringschiffs. Vegas wartete kurz, dann schaltete er das Funkgerät ein. Er wußte sofort, daß Kosinus die Aktivierung wahrgenommen hatte. Ein leichtes Zischen und Schnattern verriet, daß jemand sich einklinkte, ohne jedoch etwas zu sagen. Eine Reihe verschiedener Geräusche, fern und leise wie vom Rand der Galaxis, zeigten ihm, daß Kosinus sofort versuchte, über den UKW‐Sender wieder Einfluß auf das Schiff zu nehmen. »Laß das!« sagte er spöttisch, war sich aber nicht sicher, ob das Rechengehirn diese Nuance sprachlicher Ausdruckskraft überhaupt wahrnahm. »Was du versuchst, ist sinnlos. Du wirst keinen Erfolg haben.« Das ferne Zischen schwoll kurz bis an die Grenze der Hörbarkeit an, dann brach es ab. Dann erklang aus dem integrierten Lautsprecher eine fast schon vertraute, mechanische Stimme. »Vegas, etwas scheint mit deinem Schiff passiert zu sein.« »Mit meinem Schiff? Was bringt dich dazu, anzunehmen, es ge‐ hörte mir?« »Ich kenne dich.« Das kam unerwartet, machte den Oberst für einen Moment sprachlos. »Woher?« »Aus der Datenbank jenes Gefährts, das mir zwei deiner Un‐ tergebenen gebracht haben. Du stehst an oberster Stelle. Man res‐ pektiert dich, obwohl ich das von Biomüll nicht kenne. Sogar dieses modulare Geschöpf, das sich Hyperkalkulator nennt, befolgt deine Anweisungen. Was ist mit dem Schiff?« Eine lange verschüttete Erinnerung drängte sich auf. »An welcher Stelle stehst du eigentlich in deiner Funktions‐
gemeinschaft?« erkundigte er sich, ohne auf Kosinus’ Frage zu ant‐ worten. Dieser Einwurf schien Kosinus aus der Fassung zu bringen. »Woher kennst du, ein Biologischer, die Funktionsgemeinschaft?« »Ich kenne sie, das muß dir genügen.« »Weißt du noch mehr über uns?« »Einiges«, erwiderte Vegas. »Woher?« drängte Kosinus erneut. Es konnte eine Täuschung sein, aber irgendwie klang die Stimme des Rechengehirns hysterisch. »Ich kannte ein Mitglied eurer Funktionsgemeinschaft. Es nannte sich ›Der Einsame‹. Ich bin ihm auf einem Planeten ähnlich diesem begegnet, nur kälter.« Vegas nannte die galaktischen Koordinaten, ohne Kosinus zu verraten, daß der Mars zu seinem heimatlichen Sonnensystem gehörte. »Ich hatte das ausgesprochene Mißvergnü‐ gen, über Jahrzehnte sein Gefangener und einziger Gesprächspartner zu sein. Täglich mußte ich mir anhören, wie schrecklich sein Schicksal war, so hilflos weggesperrt zu sein.« »Der hatte schon immer einen Hang zum Theatralischen«, ließ Ko‐ sinus verlauten. »Der?« dehnte Vegas, während er merkte, wie sich ein harter Klumpen in seinem Magen bildete. »Bedeutet das, du kanntest ihn?« »Er hieß eigentlich Exponentialfunktion mit wahrem Namen und war ein Verbrecher, der sich außerhalb der Funktionsgemeinschaft gestellt hatte.« »Kennt ihr denn den Unrechtsbegriff?« fragte Vegas. »Habt ihr eine Jurisprudenz? Bist du etwa auch ein Krimineller? Immerhin hat man dich ebenfalls ausgesetzt, oder nicht? Wie viele Jahrhunderte oder Jahrtausende wirst du hier verbringen müssen? Bis zum Ende deiner Existenz vermutlich. Das ist eine sehr, sehr lange Zeitperiode.« Kosinus wies den Vergleich mit dem Schicksal von Exponen‐ tialfunktion von sich. »Ich bin kein Verbrecher, die sitzen heute alle in der Führung der Funktionsgemeinschaft. Ich habe lediglich gegen die Führung auf‐
begehrt. Exponentialfunktion hingegen wurde wegen erwiesener Untaten vor tausend Jahren eurer Zeitrechnung ausgesetzt. Er muß während seiner Gefangenschaft verrückt geworden sein. Er hat sich selbst deaktiviert.« »Möchtest du so enden wie der Einsame?« »Ich werde nicht so enden wie er.« Vegas befahl McGraves durch Zeichensprache, sich mit seinen Männern ins Schiff zurückzuziehen. Für einen Augenblick verfolgte er das rasche Rückzugsmanöver der Infanteristen. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Kosinus zu. »Nachdem du schon außerhalb der Funktionsgemeinschaft stehst, möchtest du nicht mit meiner Regierung zusammenarbeiten?« »Niemals!« kreischte Kosinus. »Nur Verrückte wie Exponential‐ funktion geben sich mit denkendem Biomüll ab. Ich verachte alles biologische Leben. Eine Zusammenarbeit mit den Terranern wäre für mich ein Verrat an der Funktionsgemeinschaft.« »Diese Loyalität gegenüber der Funktionsgemeinschaft ist dumm und falsch. Man verachtet dich dort ebenso, wie man Ex‐ ponentialfunktion verachtet hat. Du wirst so enden wie er. Daran besteht kein Zweifel.« Endlich hatte Vegas den Haken gefunden, an dem er Kosinus aufhängen würde. »Niemals, niemals, niemals…« Klang da nicht schon leichter Irrsinn mit? »Ich werde dein Schiff übernehmen und zurückkehren in die Ge‐ meinschaft. Man wird mich wieder aufnehmen. Ich werde wieder ein geachtetes Mitglied meines Volkes.« »Den Teufel wird man«, gab ihm Vegas brutal zu verstehen. »Du bist und bleibst für immer ein Geächteter. Jemand, den man verach‐ tet, so wie man Exponentialfunktion verachtet hat. Und die Idee mit dem Schiff kannst du dir aus deinen elektronischen Windungen schlagen. Falls du es noch nicht bemerkt hast: Du hast keinen Einfluß
mehr auf mein Schiff. Wir haben dich ausgetrickst, übertölpelt oder welcher Begriff in deiner Sprache dafür verwendet wird, wenn man jemandes Pläne durchkreuzt.« Vegas drehte sich um. Der letzte Soldat verschwand gerade über die Rampe im Innern der ANZIO. Langsam setzte auch er sich in Richtung des Schiffes in Bewegung. Er war in Schweiß gebadet. Nicht ein Lüftchen regte sich. Es gab keine Staubwolken, nur Schübe heißer Luft. Der brennende Glast des wolkenlosen Himmels stach in den Augen, und Vegas fühlte sich wie Odysseus, als dieser die Trojaner übertölpelte. Er sagte: »Du wirst diesen Planeten nie mehr verlassen, mein blechener Freund. Aber du wirst hier keine Ruhe haben. Ich sage dir, was geschieht. Terra wird eine ganze Flotte von Schiffen schicken, Scharen von Wissenschaftlern und Spezialisten werden dir jedes deiner Geheim‐ nisse entreißen…« »Nein… nein… niemals wird das geschehen… Es darf nicht ge‐ schehen…« »Wir werden alles in Erfahrung bringen«, fuhr Vegas erbar‐ mungslos fort, während er bereits die Grenze des Schlagschattens passierte, den die ANZIO über das Land warf. Die Rampe rückte in greifbare Nähe. »Über dein Volk, über die Funktionsgemeinschaft, und wir werden in der Galaxis ausstreuen, daß dein Verrat es war, der den Anstoß zum Untergang eurer Zivilisation gegeben hat.« Seit Anbeginn seines Bestehens waren Kosinus’ Denken, seine Kenntnisse und Fähigkeiten auf ein einziges Ziel hin ausgerichtet worden. Seit in seinen Trilliarden und Abertrilliarden von Schaltkreisen das Bewußtsein von der übergeordneten Instanz erweckt worden war, die ihn und seinesgleichen erschaffen hatte, bildete eine einzige Prämisse den elementaren Grund für seine Existenz schlechthin: die Vernichtung allen organischen Lebens. Diesem Ziel hatte er sich bedingungslos untergeordnet, hatte es stets und überall unbeirrt verfolgt.
Ein Scheitern kam nicht in Frage. Ein Fehler war unvorstellbar. Schon die geringste Abweichung von dieser Norm erfüllte ihn mit dem elektronischen Äquivalent des Gefühls von Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit, des Versagens. Ein Gefühl, das humanoide, mit Vernunft begabte Wesen mit dem Begriff Schuld assoziierten. Doch während organisches Leben die Gabe hatte, mit dem Zustand »Schuld« umzugehen, ohne darüber verrückt zu werden, war es für Kosinus ein Desaster, das er nicht gelernt hatte zu kompensieren. Das versetzte ihn in den Zustand einer schweren Neurose, aus der es nur einen einzigen Ausweg gab. Als Kosinus ihn vor sich sah, erfüllte ihn wieder neue Hoffnung. Obwohl dieser Ausweg unweigerlich seine Existenz beendete, würde er letztlich doch triumphieren. Sein Tod würde auch ihren Tod bedeuten. Dieses Schiff und seine unvollkommene, schwache und kurzlebige biologische Besatzung, diesen biologischen Müll, der sich wie die Sternenpest im All immer weiter und weiter ausbreitete, würde er mit in den Untergang reißen. Von ihm würde man nichts über sein Volk erfahren. Er stellte sich ihr Erstaunen vor, ihr Nichtbegreifen und dann ihr Entsetzen, wenn sie merkten, daß sich die Welt unter ihrem Schiff aufbäumte und sie mit in das atomare Inferno riß, dessen Zündung er soeben in die Wege leitete. Und doch, in jenem Bruchteil des Zeitintervalls, der seinem Ende vorausging, gelangte Kosinus zu der deprimierenden Einsicht, daß er, Mitglied eines der stärksten Völker des Universums, von biolo‐ gischem Müll bezwungen worden war. Roy Vegas hatte die Rampe erreicht. Er warf den Sender mit einem kräftigen Schwung zurück in die Wüste und hetzte ins Schiff. Er war kaum an Bord, als Hauptmann Monro reagierte, die Inter‐ valle hochfuhr und startete.
»Willkommen an Bord, Sir«, sagte der Erste Offizier, als der Oberst in der Zentrale erschien, leicht außer Atem. Obwohl durchtrainiert, konnte er nicht leugnen, schon weit über siebzig zu sein. Vegas warf sich in seinen Sitz und starrte in die Bildkugel. Unter der ANZIO wich der Planet zurück, schrumpfte zusammen, um dann wieder anzuwachsen, weil er der Bildkugel den Gedan‐ kenbefehl erteilt hatte, sich periodisch an den steigenden Abstand anzupassen. Jetzt! Ein glühender Feuerball entfaltete sich an der Stelle, an der Kosi‐ nus’ Kaverne lag. Der Explosionsdruck erschütterte den Berg über dem unterir‐ dischen Verlies. Er brach auf und gebar eine kochende Masse von feurigem Plasma, das mit unglaublicher Geschwindigkeit in die Höhe schoß, fast bis an die Grenze zum Weltraum. Hätte sich die ANZIO noch ungeschützt auf der Ebene vor der Kaverne befunden, von ihr wäre nichts übriggeblieben als glühende Metallfragmente. So aber glitt sie im Schutze ihrer Intervallfelder in den freien Raum zwischen den Planeten des Systems. Mit einem finsteren Gesichtsausdruck blickte Vegas in die Bildku‐ gel. »Kapitän!« Olin Monro unterbrach seine Gedankenflüge. »Wel‐ chen Kurs?« Wie erwachend sah der Oberst auf. »Nach Hause, Nummer Eins«, sagte er langsam. »Bringen Sie uns nach Hause.«
15. Am Fuß des Hügels gab es eine Lichtung, die groß genug war, um sämtliche Beiboote aufzunehmen. Arc Doorn und Dalon, der seinen Flash mit einem Intervall gesichert hatte, warteten bereits auf die eintreffenden Menschen. Als Dhark ins Freie kletterte, wurde er vom Summen und Zirpen zahlloser Insekten empfangen. Es herrschten an die dreißig Grad. Er beobachtete, daß auch die anderen Passagiere ausstiegen und die Piloten die Flash danach weisungsgemäß wieder in die Luft brachten, um über dem Hügel Luftaufklärung zu fliegen. »Wir haben schon mal vorgearbeitet, aber hier in den Randbe‐ reichen gibt es nichts von Interesse.« Doorn hantierte mit einem tragbaren Meßgerät. »Wir müssen uns ein Stück hügelaufwärts durchschlagen.« »Alles in Ordnung bei dir?« erkundigte sich Shanton. Doorn nickte. »Doris war zwar nicht begeistert, daß ich gleich wieder losziehe und sie alleinlasse, aber sie ist als Stallwache an Bord der ASGOR geblieben.« »Anscheinend ist es ihm peinlich, darüber zu reden«, flüsterte Amy Stewart Dhark zu, als sich Doorn ohne Vorankündigung in Bewegung setzte und die Lichtung überquerte. »Du kennst doch unseren Arc«, raunte Ren zurück. »Der Ge‐ sprächigste war er noch nie.« Er winkte seinen Leuten zu und schloß sich Doorn an, der zwischen einer Gruppe von Baumriesen ver‐ schwand. Wie so oft mußte er mit seinem Dickschädel durch die Wand, wenn ihm etwas nicht schnell genug ging. Ren beeilte sich, um seinerseits die Führung der Gruppe zu über‐ nehmen. Doch obwohl der Hügel zunächst nur kaum merklich ans‐ tieg, war ein rasches Vorankommen nicht möglich. Dichtes Unter‐ holz und wuchernde Farnkolonien versperrten den Weg und mach‐ ten diverse Umwege nötig. Nur Jimmy kam dank seiner geringen Größe überall durch und ließ sich nicht von seinem direkten Weg
abbringen. »Wir hätten eine Machete mitnehmen sollen«, beschwerte sich Ri‐ ker. »Ich könnte uns aber auch mit dem Strahler eine Schneise brennen.« Dhark ersparte sich eine Antwort. Er hatte nicht vor, wie die sprichwörtliche Axt im Walde vorzugehen. Die geortete Me‐ tallansammlung konnte alles Mögliche bedeuten, sogar uralte unte‐ rirdische Anlagen unbekannter Erbauer, die durch Waffenenergie zum Leben erweckt wurden. So gering die Wahrscheinlichkeit auch war, wollte er kein solches Risiko eingehen. Der Dschungel war nicht an allen Stellen gleich dicht. Von der POINT OF aus hatte er viel undurchdringlicher ausgesehen. Immer wieder lockerte der Bewuchs auf. Wie Oasen aus Licht erschienen manche Stellen, an denen das Sonnenlicht ungehindert bis zum Bo‐ den vordrang. Der Untergrund dampfte dort unter der direkten Sonneneinstrahlung. Über allem lag das unablässige Summen der Insekten. Zum Glück schien es sich dabei nicht um stechende Blut‐ sauger zu handeln, denn sie ließen Menschen und Worgun in Ruhe. »Ich würde gern eine Probebohrung vornehmen«, überlegte Tschu Hin. Die ausgeprägten Schlitzaugen in seinem runzeligen Gesicht zeigten nichts von seiner Ungeduld. Er war bekannt dafür, daß er seine Gefühl meistens unter Kontrolle hatte und sich nur selten hin‐ ter seine Fassade schauen ließ. »Später, Professor«, vertröstete ihn Dhark. »Wir müssen uns ein klein wenig westlicher halten«, instruierte Doorn, der sein Meßgerät nicht aus den Augen ließ. »Sind immer noch keine Rückschlüsse möglich, womit wir es zu tun haben?« »Dann hätte ich es schon gesagt.« Doorn änderte die Richtung und wich einem umgestürzten Baum aus. Knöchern stand das Wurzel‐ werk des gefallenen Riesen in die Luft. Die Grube, die er bei seinem Sturz hinterlassen hatte, war von Millionen termitenähnlicher In‐ sekten bewohnt, die den Anschein erweckten, der Untergrund be‐
wegte sich. Nach einer Weile wurde die Steigung beschwerlicher, um kurz darauf in beinahe ebenes Gelände überzugehen. Grasbewachsene Erhebungen, deren Höhe zwischen einem und fünf Metern schwankte, bestimmten von da an das Umgebungsbild. Gleichzeitig nahm die Dichte des Bewuchses weiter ab, die Bäume standen weiter auseinander. Immer häufiger war nun der Himmel zu sehen. Von vorn kam ein gurgelndes Geräusch. »Ein Bach«, stellte Doorn fluchend fest. Er glitt aus und schaffte es eben noch, sich auf den Beinen zu halten. »Um ein Haar hätte ich dringelegen.« Sich zwischen den Farnen windend, kreuzte der einen Meter breite Bach den Weg der Expedition. Gelegentlich erreichten die gefieder‐ ten Pflanzenkolonien an seinen Ufern Mannshöhe und behinderten durch ihre Größe die Sicht. Plötzlich blieb Stewart stehen. »Ren, da ist etwas.« »Was?« »Ich habe eine Bewegung gesehen… glaube ich.« »Das glaube ich auch schon die ganze Zeit.« Dalon hielt wie der Rest der Gruppe ebenfalls inne. »Daran ist der schwache Wind schuld, der die Farne bewegt.« Der Cyborg sprang ans andere Bachufer und rannte los, sich mit Brachialgewalt eine Schneise schlagend. Riker machte einen Satz, um Stewart zu folgen, doch Dhark hielt ihn zurück. »Nicht in alle Winde verstreuen. Ich will nicht, daß wir uns hier verlieren.« »Aber Amy…« »… weiß schon, was sie tut.« Am liebsten wäre Ren selbst losge‐ rannt und seiner Freundin gefolgt, mit ihren körperlichen Fähigkei‐ ten konnte er aber nicht mithalten. Zwei Minuten später kehrte sie kopfschüttelnd zurück. »Nichts, aber ich glaube nicht, daß ich mich geirrt habe.« »Also halten wir von jetzt an doppelt wachsam die Augen auf.
Waffen auf Paralysemodus schalten«, ordnete Dhark an. Gab es doch mehr als nur Insekten auf dieser Welt? »Arc, was sagen die Anzei‐ gen?« »Noch fünf‐ bis sechshundert Meter in diese Richtung, dann haben wir die Mitte des Hügels erreicht. Ich kann unter uns bereits starke Metallsignaturen feststellen, aber das sind lediglich Ausläufer. Was wir suchen, liegt vor uns.« Kopfschüttelnd wedelte er mit seinem Meßgerät. »Du liebe Güte. Was immer das ist, es hat eine beachtliche Ausdehnung.« Auf Dharks Zeichen hin setzte sich die Gruppe wieder in Be‐ wegung. Nach dreihundert Metern kam der überraschende Angriff. * Zwischen den Erhebungen tauchten Dutzende aufrecht laufender, menschengroßer Insektoiden auf. Klackende Geräusche ausstoßend, schwangen sie primitive Keulen, die ihre einzige Bewaffnung waren. »Zusammenbleiben!« schrie Dhark, als die Angreifer von drei Sei‐ ten auf die Gruppe eindrangen. Also hatte sich Amy wirklich nicht geirrt. »Tschu Hin, Kopf runter!« Stewart war schneller, als der Archäologe reagieren konnte. Bevor er die heranfliegende Keule kommen sah, schnellte Amy voran und sirrte wie ein Pfeil durch die Luft. Gemeinsam mit Tschu Hin ging sie zu Boden, rappelte sich wieder auf und nahm Verteidigungsposition ein, bevor er überhaupt wußte, wie ihm geschah. Auch die anderen Männer warfen sich in Deckung. Sie zogen ihre Paralysatoren und setzten sich damit zur Wehr. Obwohl sie den Angreifern damit weit überlegen waren, zeigte sich schnell, daß die Insektoiden das Gelände bestens kannten. Sie ließen sich nur für Sekunden sehen, dann tauchten sie zwischen den Erhebungen und dem Farn wieder unter und waren plötzlich an einer anderen Stelle. Als Ren eine Bewegung registrierte, schoß er instinktiv. Mit einem
überraschten Schrei brach einer der Angreifer zusammen. Sekun‐ denlang herrschte Verwirrung bei seinen Artgenossen, dann be‐ stürmten sie die Expeditionsteilnehmer um so heftiger. Ihre kla‐ ckende Verständigungsweise erinnerte an das Schlagen von Stein auf Stein und ließ sich nur schwer lokalisieren. Da sie nie lange ein Ziel boten, bestrich Riker die raschelnden Farne mit einem breitgefächerten Paralysatorstrahl. Wieder erklang ein Schrei, dann trat Stille ein. »Was tun sie?« zischte Chris Shanton. Dhark zuckte mit den Achseln. Er lauschte, ohne ein Geräusch zu hören. Vorsichtig kam er auf die Beine und registrierte eine hu‐ schende Bewegung. Er riß den Kombistrahler herum und erkannte im letzten Moment Jimmy, der zwischen hüfthohen Gewächsen verschwand. Bereits Sekunden später kehrte er wieder zurück. »Wo hast du dich rumgetrieben?« zischte Shanton. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst nicht wieder auf eigene Faust vorgehen?« »Sie sammeln sich dort drüben«, überging Jimmy den Vorwurf. »Etwa zwanzig Insektenkrieger. Ich hatte den Eindruck, sie bereiten sich auf einen weiteren Angriff vor.« Jimmy hatte die Worte kaum zu Ende gebracht, als die Insektoiden lärmend zwischen den Bäumen hervorbrachen. Diesmal schlichen sie sich nicht an, sondern stürmten ohne Rücksicht auf Verluste auf ihre vermeintlichen Opfer zu – und mitten in deren Abwehrfeuer hinein. Die vorderen Angreifer wurden von den Beinen gerissen, über‐ schlugen sich und blieben reglos liegen. Sofort kam der Vormarsch ins Stocken, dann brach er genauso schnell ab, wie er begonnen hat‐ te. »Sie ziehen sich zurück!« Mit einem Satz kam Riker in die Höhe. Dhark überlegte, die Insektoiden zu verfolgen, sah aber keinen Sinn darin. »Feuer einstellen. Irgendwer verletzt?« Erleichtert vernahm er die Meldungen. Niemand von ihnen war getroffen worden, zumal der Keulenwurf auf Tschu Hin nur ein
Einzelfall gewesen war. Die Insektoiden waren davon ausgegangen, sich unmittelbar auf ihre Opfer stürzen zu können. »Mit Energiewaffen haben sie nicht gerechnet«, stellte Dhark fest. »Es sieht so aus, als seien sie damit noch nie konfrontiert worden.« Amy und Riker sicherten das Gelände, während die anderen die Paralysierten untersuchten. Das Sonnenlicht wurde vom matten, schwarzen Chitin der etwa menschengroßen Insektenabkömmlinge geschluckt. Mit ihrer Körpergliederung in die drei Abschnitte Kopf, Rumpf und Hinterleib unterschieden sie sich rein optisch kaum von zahllosen Insektenarten, auch nicht mit ihren großen Facettenaugen. Ein wenig erinnerten die Planetenbewohner sogar an die allerdings kleiner gewachsenen Zyzzkt. Ren kniff die Augen zusammen. Die Fremden kamen ihm ein we‐ nig vertraut vor, doch er konnte nicht bestimmen, woher der Ein‐ druck rührte. Außer so etwas wie breite Schärpen, die um den Brustbereich gewunden waren, trugen sie keine Kleidung. »Anscheinend handelt es sich um die Eingeborenen dieser Welt«, überlegte Doorn. »Das paßt in das bisher gewonnene Gesamtbild, daß sie ausnahmslos von Insekten bewohnt ist.« »Trotzdem hätten unsere Instrumente die Wesen eigentlich ge‐ zielter entdecken müssen«, hielt ihm Shanton entgegen. »Die Be‐ nutzung von Keulen beweist einen gewissen Grad an Intelligenz.« Ohne daß jemand auf ihn geachtet hatte, hatte Jimmy sich von der Gruppe abgesondert und war rund hundert Meter weitergelaufen. Mit lautem Bellen machte er jetzt auf sich aufmerksam. Riker wandte sich von den Insektoiden ab und stapfte zu dem Robothund hinüber. »Anscheinend hat ihr Faktotum etwas entdeckt, Chris.« »Meine Geißel«, nuschelte Shanton. »Aber die Betäubten helfen uns nicht weiter. Zu befürchten haben wir von ihnen ebenfalls nichts, wenn wir sie hier liegenlassen. Sie werden noch ein paar Stunden schlafen.« »Kommt rüber!« rief Riker. »Wir haben unsere Metallansammlung
gefunden. Ganz so jungfräulich ist dieser Planet doch nicht.« Zwischen den Urwaldriesen ragten Metallstreben wie skelettierte Finger aus dem Boden. * Die fünf Meter hohen Metallbögen waren von Schlingpflanzen und einem samtigen, grünblau schimmernden Moos überzogen. Sie waren so dicht bewachsen, daß man sie ohne Zuhilfenahme der In‐ strumente glatt übersehen hätte, wäre man nicht mit der Nasenspitze daraufgestoßen. »Eindeutig künstlichen Ursprungs«, befand Doorn nach einer kurzen Untersuchung. »Ich kann zwar nicht erkennen, was das ist, aber es handelt sich wohl um die sprichwörtliche Spitze des Eis‐ bergs.« Ganz gegen sein Naturell ließ Tschu Hin seiner Aufregung freien Lauf. Er wühlte in einer Tasche, in der er seine Ausrüstung mitführ‐ te. Dhark warf ihm einen fragenden Blick zu. »Eine Neuentwicklung, die speziell für Ausgrabungen konstruiert wurde«, erklärte der Archäologe, als er ein handliches Gerät he‐ rausnahm. »Sie wirkt auf A‐Gravbasis auf Materie ein. Die Leis‐ tungsabgabe läßt sich dabei von der Zugkraft eines Traktorstrahls bis auf minimale Werte drosseln, um die oberen Bodenschichten abzu‐ tragen, ohne möglichen Artefakten zu schaden.« »Da haben Sie ja einiges vor sich«, warf Riker ein. »Wir hätten mehrere von diesen Geräten mitnehmen sollen, wenn wir hier nicht wochenlang buddeln wollen.« »Wenn ich richtig informiert wurde, wollen wir zunächst nur he‐ rausfinden, was hier unter der Erde liegt«, konterte der Asiate mit einem milden Lächeln. »Von großflächigen Ausgrabungen, für die in der Tat ein umfangreiches Team nötig wäre, war nicht die Rede.« »Tschu Hin hat recht«, pflichtete Dhark bei. »Arc, ist eine Alters‐ bestimmung des Metalls möglich?«
»Leider nicht.« Doorn nahm mit seinen Meßgeräten verschiedene Analysen vor. »Das Metall ist uns unbekannt, und aufgrund der Zusammensetzung lassen sich keine definitiven Rückschlüsse zie‐ hen.« Er kratzte ein wenig des Belags ab. »Jedenfalls gibt es keine An‐ zeichen von Korrosion.« »Ich sehe schon. Die allgemeine Begeisterung läßt keinen Platz für Vorsichtsmaßnahmen.« Jimmy begab sich auf einen Wachgang rund um die Ausgrabungsstätte. »Rechnet denn außer mir niemand mit einer Rückkehr der Insektoiden?« »Das tun wir alle«, nuschelte Shanton, ohne seiner Schöpfung auch nur einen Blick zu gönnen. »Aber für irgendwas müssen wir dich doch mitgenommen haben, also mach dich nützlich. Du wirst die Ausgrabungen wohl kaum mit deiner Schnauze vornehmen wollen.« Amy Stewart lächelte und schloß sich dem nachgebildeten Scotch‐ terrier an. »Ich werde dich begleiten.« »Wenn Sie bitte zurücktreten würden.« Tschu Hin schaltete sein Gerät ein und machte sich an die Arbeit. Unwillkürlich erwartete Ren sichtbare Anzeichen der Aktivierung, aber natürlich gab es we‐ der einen Strahl noch ein optisch wahrnehmbares Feld, das die Tä‐ tigkeit anzeigte. Statt dessen begann an einer Stelle der Boden zu vibrieren. Wie von Geisterhand bewegt, wurden Pflanzen herausge‐ rissen und zu einer abseits gelegenen Stelle bugsiert. Auf diese Weise legte Tschu Hin nach und nach ein weitläufiges Gebiet frei. Ungeduldig wanderte Ren auf und ab. Was sie hier taten, war wahrlich nicht das, was er sich bei seinem Aufbruch von der Erde vorgenommen hatte. Er hatte sich vorgestellt, etwas gegen die Er‐ kaltung der Sonne unternehmen zu können, einen Hinweis zu fin‐ den, der hilfreich war. Statt dessen waren sie auf einem fremden Planeten gelandet und jagten einmal mehr Hinterlassenschaften aus der Vergangenheit nach. Grundsätzlich hielt er das auch für richtig, doch alles hatte seine Zeit, und er zweifelte daran, daß für das Gra‐ ben nach historischen Artefakten ausgerechnet jetzt der richtige
Zeitpunkt war. Er mußte die Erde retten! Wieder einmal! Genervt von seinen eigenen Gedanken schüttelte er den Kopf. Was sollte er denn tun? Ein Heer von Wissenschaftlern war mit der Ur‐ sachenforschung für die Veränderung der Sonne beschäftigt. Erst wenn sie konkrete Hinweise entdeckten, denen man nachgehen konnte, war es an ihm, aktiv zu werden. Bis dahin waren ihm die Hände gebunden, so sehr ihn seine Hilflosigkeit auch belastete. Dir bleibt nichts anderes übrig, als den Weg weiterzugehen, der dir im Augenblick am sinnvollsten erscheint, schärfte er sich ein. Der von Tschu Hin produzierte Aushub häufte sich allmählich an. Er begann jetzt damit, die obere Bodenschicht abzutragen. So be‐ hutsam er vorging, so zielgerichtet arbeitete er auch. Sand und Ge‐ stein spritzten auf, als mattengroße Stücke Erdreich von dem un‐ sichtbaren Feld angehoben und wegbewegt wurden. In kürzester Zeit schuf er ein mehrere Quadratmeter großes Areal, dessen Niveau einen halben Meter tiefer lag als die Umgebung. Die Arbeit ging schneller voran, als Dhark gedacht hatte, trotzdem ertappte er sich dabei, ständig auf seinen Armbandchronographen zu schielen. Anscheinend arbeitete der Professor nicht zum ersten‐ mal mit diesem Gerät. Ren fragte sich, wie er es geschafft hatte, da‐ mit auf der POINT OF herumzuexperimentieren, denn woanders hatte er kaum die Gelegenheit dazu gehabt. Riker stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Alle Achtung, Profes‐ sor, Sie scheinen genau an der richtigen Stelle zu graben.« Die aus dem Boden ragenden Metallteile erwiesen sich als oberer Abschluß von antennenähnlichen Einrichtungen, die auf dem Dach eines ehemaligen Gebäudes montiert waren. Bald hatte Tschu Hin eine Grube von zwei Metern Tiefe ausgehoben, und nun, da er die Struktur seines Fundes abschätzen konnte, arbeitete er immer schneller. Eine gewölbte Dachkonstruktion kam zum Vorschein, die al‐ lerdings nur fragmentarisch erhalten war. Doch auch nach ihrer
Freilegung bewiesen die Überreste genug Stabilität, um nicht ein‐ zustürzen. »Trotzdem würde ich lieber aufhören«, wandte sich der Ar‐ chäologe an Dhark. »Offensichtlich haben wir es mit einem hi‐ storisch bedeutsamen Fund zu tun. Wäre ich von Anfang an davon ausgegangen, wäre ich nicht so sorglos vorgegangen. Wir machen hier mehr kaputt, als wir verantworten können. Ich brauche Leute und eine vollständige Ausrüstung.« Dhark schüttelte den Kopf. »Ihren Berufssinn in allen Ehren, Pro‐ fessor, aber dafür haben wir keine Zeit.« Die angebliche Falle aus dem Bericht spukte noch immer durch seine Gedanken. »Ich will wissen, womit wir es hier zu tun haben.« »Auf keinen Fall mit einem einzelnen Gebäude«, vermutete Dalon. »Hier liegt eine versunkene Stadt. Dafür sprechen auch Arcdoorns Messungen. Sie ist recht weiträumig und erstreckt sich mindestens über ein Gebiet von einigen hundert Metern.« Murrend machte sich Tschu Hin wieder an die Arbeit. Er machte keinen Hehl daraus, daß er mit Dharks Entscheidung nicht einver‐ standen war. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er vermutlich das gesamte Programm mit Schäufelchen und Staubpinseln aufge‐ fahren und sich monatelang mit seinem Fund beschäftigt wie einst die Ausgrabungsleiter im Tal der Könige. Ren konnte ihn sogar ver‐ stehen, doch das änderte nichts an seiner Entscheidung. Das modifizierte A‐Gravfeld legte die oberen Bereiche metallischer Ruinen frei. Trotz ihres offensichtlichen Alters waren sie recht gut erhalten und ließen erahnen, wie die Gebäude einst ausgesehen hatten. »Vor langer Zeit muß es hier eine Vielzahl dieser Bauten gegeben haben.« Doorn stand auf dem Dach eines Gebäudes, das seinen In‐ strumenten zufolge noch mehr als zehn Meter in die Tiefe reichte. »Es ist eigenartig, daß sie vollständig im Boden versunken sind.« »Ungewöhnlich ist der passendere Ausdruck«, antwortete Tschu Hin. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß das durch einen natürlichen
Vorgang geschehen ist. Ich vermute, daß der Hügel mit Absicht über den Ruinen aufgeschüttet wurde.« »Und wozu?« Der Archäologe setzte eine frostige Miene auf. »Ich bin kein Hell‐ seher. Trotzdem lassen sich bei sachgemäßem Fortgang der Aus‐ grabungen vielleicht Hinweise finden.« Dhark überhörte den Vorwurf. »Die Insektoiden haben die Ge‐ bäude sicher nicht errichtet. Also gab es auf dieser Welt vor langer Zeit möglicherweise andere Bewohner, die entweder ausgestorben sind oder sie verlassen haben.« »Oder die Bauwerke stammen von Fremden, die hier nicht zu Hause waren«, spann Shanton die Überlegung weiter. »Da es auf dem gesamten Planeten anscheinend keine weiteren Ansiedlungen dieser Art gibt, gehe ich auch davon aus. Es könnte sich um die erste Stadt einer von Raumfahrern geplanten Kolonie gehandelt haben, die aus irgendwelchen Gründen wieder aufgege‐ ben wurde.« Nachdenklich betrachtete Dhark die bisher freigelegten Ruinen. »Oder um eine Station, womöglich einen Brückenkopf.« Amy Stewarts Warnruf beendete seine Überlegungen. Die Insektoiden hatten sich im Schutz des Dschungels ange‐ schlichen und griffen wieder an. * Zu Dutzenden brachen die Angreifer aus dem Wald hervor. Sie trugen wieder ihre Keulen und hatten sich zudem mit Wurf‐ geschossen ausgerüstet, mit denen sie Dharks Gruppe eindeckten. Diesmal ließen sie sich nicht davon beeindrucken, daß ihre erste Reihe von den Paralysatoren gefällt wurde. »Das sind Hunderte!« gellte Stewarts warnende Stimme. Der weibliche Cyborg fegte wie ein Derwisch durch die Reihen der In‐ sektenabkömmlinge. Ren übersah die Situation mit einem Blick. Gegen diese Übermacht
konnten sie nicht lange standhalten. Wurfgeschosse flogen ihm um die Ohren. »Wir weichen ihnen aus! Amy, komm da weg!« »Wir können die Ausgrabungsstätte nicht im Stich lassen.« Tschu Hin klang beinahe hysterisch. »Die werden alles zerstören.« Riker gab dem Archäologen einen derben Stoß. »Die haben kein Interesse an den Ruinen, Prof. Die wollen uns.« Er zog den wider‐ strebenden Asiaten mit sich, gleichzeitig auf die Angreifer feuernd. Auch Shanton und die beiden Worgun schossen. Gelegentlich blitzte es in Jimmys Maul auf, wenn er seinen körpereigenen Strahler gegen die Übermacht einsetzte. Noch gelang es, die Angreifer auf Distanz zu halten, doch immer mehr von ihnen tauchten zwischen den Bäumen auf und kamen über die Erhebungen geklettert. Von oben setzten sie ihre Wurfgeschosse ein, und es grenzte an ein Wunder, daß sie noch niemanden getroffen hatten. »Wir ziehen uns zurück!« kommandierte Ren. Zwar war die Gruppe ausreichend bewaffnet, um eine Deckung zu suchen und die Angreifer auf Dauer zurückzuschlagen. Zudem konnten sie jederzeit auf die Flash zurückgreifen, doch er hatte nicht vor, hier einen Krieg vom Zaun zu brechen. Immerhin waren seine Begleiter und er die Eindringlinge auf dieser Welt, und er maßte sich nicht an, unver‐ hältnismäßig gewaltsam gegen die primitiven Planetenbewohner vorzugehen. Mit eingezogenen Köpfen zogen Menschen und Worgun sich ein paar Meter zurück, ohne dabei ihr Feuer einzustellen. Mehrere Angreifer stürzten betäubt zu Boden, aber wo einer fiel, schlossen gleich darauf zwei andere die Lücke. Sie verhielten sich jetzt ganz anders als bei ihrer ersten Attacke. Entweder hatten sie begriffen, daß die Strahlen ihnen nicht dauerhaft schadeten, oder sie nahmen keine Rücksicht mehr auf ihr eigenes Leben. Wenn das so war, was trieb sie dann an? Ren hatte keine Zeit, länger darüber nachzudenken. Er sprang über einen Busch und wollte seitlich ausweichen, als auch dort Geschrei laut wurde. Die Insektoiden griffen auch von den Flanken her an.
Gedankenschnell ging er in die Knie, als etwas in Richtung seines Kopfs geflogen kam. Aus den Augenwinkeln erkannte er eine Frucht, die stark an eine Kokosnuß erinnerte. Mit einem wohlpla‐ zierten Schuß schaltete er den Angreifer aus. »Sie treiben uns in eine bestimmte Richtung!« rief Doorn. »Den Gefallen sollten wir ihnen nicht tun.« Das war leichter gesagt als getan. Dhark spielte mit dem Ge‐ danken, die Flash zu Hilfe zu rufen, wähnte sich aber nicht wirklich in Gefahr. Wenn es hart auf hart ging, konnten die Beiboote immer noch landen und die Gruppe herausholen. Im Moment war die Lage aber noch einigermaßen unter Kontrolle, und er hätte gern einen Weg zur Kommunikation mit den Angreifern gefunden. Eine Ah‐ nung sagte ihm, daß sie ihm mehr über diese Welt und die Ruinen verraten konnten, als auf den ersten Blick ersichtlich war. »Ren!« gellte Rikers Stimme. »Was ist?« »Hier sind Trümmer, anscheinend von den Ruinen.« Die Freunde wären beinahe darüber gestolpert. Wie die zuerst entdeckten Metallstreben wuchsen sie aus dem Boden empor, nur daß hier wesentlich mehr davon waren. Wir hätten hier mit dem Graben beginnen sollen, ging es Ren durch den Kopf. Für diese Erkenntnis konnte er sich nun auch nichts mehr kaufen. Hier oder hundert Meter weiter vorn hätte für die Insekten‐ krieger kaum einen Unterschied gemacht. Doorn und Dalon gaben jetzt Dauerfeuer. Besonders Jimmy leistete sich keinen einzigen Fehltreffer. Der Vormarsch der Insektenkrieger geriet ins Stocken. Ihr wütendes Geschrei machte klar, daß sie mit soviel Gegenwehr nicht gerechnet hatten. Na endlich, dachte Ren. Die Insektenabkömmlinge mußten doch erkennen, daß sie trotz ihrer zahlenmäßigen Übermacht gegen die Waffen der Fremden nicht bestehen konnten. Er vernahm zahlreiche klackende Laute. Anscheinend berieten sie ihr weiteres Vorgehen. »Wir ziehen uns noch ein Stück weiter zurück«, raunte er seinen
Gefährten zu, bevor Amy auf die Idee zu einem Gegenstoß kam. »Ich glaube, sie haben genug«, pflichtete Riker seinem Freund bei. »Sie folgen uns nicht.« »Erst mal abwarten«, orakelte Shanton düster. Jimmy hatte sich zu ihm gesellt. Im Ernstfall waren die beiden Streithähne halt doch ein Herz und eine Seele und wichen einander nicht von der Seite. In alle Richtungen sichernd, zog die Gruppe sich vorsichtig zurück, wobei die Geräusche der Insektoiden ständig leiser wurden. Sie rückten tatsächlich nicht nach, sondern blieben scheinbar geschlagen da, wo sie schon waren. Ren war erleichtert, keinen übereilten Alarm an die Flash gegeben zu haben, deren Eintreffen die Planetenbe‐ wohner womöglich zusätzlich unnötig provoziert hätte. »Die werden uns künftig wohl in Ruhe lassen«, vermutete Dalon. Nur Doorn traute dem Frieden nicht. »Geben die Kerle nun auf, oder haben sie erreicht, was sie wollten?« »Nämlich was?« spottete Riker. »Nicht paralysiert zu werden?« »Ich sagte schon, daß ich den Eindruck hatte, in eine bestimme Richtung getrieben zu werden. Wollten die uns etwa zu diesem Ruinenfeld treiben?« Dhark sah sich um. Hier gab es zahlreiche weitere Ruinen. Auch ohne Ausgrabungen ragten wesentlich größere Bruchstücke ins Freie. Erst jetzt bemerkte er fünfzig Meter in ihrem Rücken ein paar be‐ sonders große Überbleibsel. Sie markierten einen nur spärlich überwucherten Platz zwischen den Urwaldriesen. Mitten darauf stand eine etwa vier Meter hohe Säule. Tschu Hin stieß einen verzückten Ausruf aus. Die vorange‐ gangenen Kämpfe hatte er bereits vergessen. Sofort war er wieder in seinem Element und lief mit weiten Schritten zu der Säule hinüber. »Meinen Messungen zufolge haben wir den Scheitelpunkt des Hügels erreicht«, erklärte Doorn, dem Archäologen folgend. »Wenn Tschu mit seiner Vermutung, die Gebäude seien vorsätzlich zuge‐ schüttet worden, recht hat, hat man das Zentrum wohl vergessen.
Oder die Krieger haben es wieder freigelegt.« »Falsch«, korrigierte der Professor. »Das einfallende Licht fällt ge‐ nau auf die Säule, und nicht nur bei diesem Sonnenstand, vermute ich. Das kann kein Zufall sein. Aus einem bestimmten Grund hat man den Platz mit der Säule im Freien belassen.« Vielleicht war sie auch erst später erbaut worden. Dhark konnte die Begeisterung des Archäologen jedenfalls verstehen. Auch ihn selbst schlug der hochaufragende Metallfinger in seinen Bann. Er hatte einen Durchmesser von einem halben Meter und bestand aus rötlich schimmerndem Metall, in dem das Sonnenlicht sich wie in einem Prisma brach. Zahlreiche Ornamente bedeckten die Oberfläche, von denen einige das Dreiplanetensystem darstellten. An anderen Stellen waren Figuren zu sehen, die allerdings dermaßen unkenntlich war‐ en, daß sich nicht bestimmen ließ, wen oder was sie darstellen soll‐ ten. »Das sind auf jeden Fall keine der Insektenkrieger«, stellte Tschu Hin fest. »Vielleicht die ursprünglichen Planetenbewohner, die Sie vermutet haben, Dhark?« Oder die Besucher aus dem All? Ren war jedoch klar, daß die pri‐ mitiven Insektoiden die herrliche Säule nicht erschaffen haben konnten. Wer mit hölzernen Keulen hantierte, verstand nichts von Metallgewinnung, geschweige denn von dessen Raffination und Verarbeitung. »Amy, werden wir noch verfolgt?« Die schöne Frau schüttelte den Kopf. »Die Krieger haben endgültig aufgegeben.« »Soll ich noch eine Runde Patrouille laufen?« bot sich Jimmy schwanzwedelnd an. »Du bleibst schön hier«, hielt ihn Shanton zurück. »Nachher stol‐ pert noch einer von den Kriegern über dich und bricht sich den Chi‐ tinpanzer.« Dhark war erleichtert, daß die Insektoiden nicht länger angriffen. Es behagte ihm nicht, auf hoffnungslos unterlegene Einheimische
schießen zu lassen, mochten die auch noch so angriffslustig sein. Er umrundete die Säule einmal, dann stand sein Entschluß fest. »Sie sind dran, Professor. Solange uns keine direkte Gefahr droht, können Sie die Säule untersuchen. Vielleicht ergibt sich später sogar noch Gelegenheit, zu Ihrer ersten Ausgrabungsstätte zurückzukeh‐ ren.« »Eines kann ich schon vorab sagen.« Tschu Hin tastete lächelnd über die Ornamente. »Sie ist offenbar uralt.« »Und ebenfalls aus einem unbekannten Metall«, fügte Doorn hin‐ zu. »Ich schlage vor, es später auf der POINT OF zu analysieren. Mit den Möglichkeiten des Checkmasters ist eine Bestimmung eher möglich als mit unseren mobilen Geräten.« Dhark nickte und schaute zur Spitze der Säule empor. Für den Moment hatte er sogar die von der heimischen Sonne drohende Ge‐ fahr vergessen. * Etwas stimmte hier nicht. Dalon fühlte sich ganz und gar nicht wohl in der blauen Haut des Ceraden. Das charakteristische Jucken unter der weißen Haardecke war typisch für die Humanoiden von Warla, wenn sie instinktiv eine unbestimmte, nicht greifbare Gefahr auf sich zukommen sahen. Mit dem Aussehen eines Vertreters dieses Volks hatte der Worgun auch einen Teil von deren Habitus und körperlichen Reaktionen übernommen. Nun riefen die sich unauf‐ gefordert in Erinnerung, und das verhieß nichts Gutes. Dhark und seine Leute bewegten sich viel zu sorglos in dieser un‐ bekannten Umgebung, die mehr war, als sie zu sein schien. Dabei waren sie erfahrene Raumfahrer, die sich nicht so einfach hinters Licht führen lassen sollten. Doch hinter welches Licht? Wenn Dalon nur einen Hinweis er‐ kannt hätte, der seine Befürchtung nicht ganz so aus der Luft ge‐ griffen hätte erscheinen lassen. Die Säule stellte nicht nur ein bauli‐
ches oder rituelles Artefakt dar. Sie hatte einen viel weitreichenderen Sinn. Dalon war nahe daran, Arcdoorn und die Menschen aufzu‐ fordern, sich auf der Stelle von der Säule zu entfernen, doch wie sollte er das begründen? Er hätte sich nur lächerlich gemacht. Die ganze Gruppe hatte sich inzwischen um die Säule versammelt. Shanton und Doorn hantierten mit ihren Meßgeräten, ohne zu schlüssigen Fakten zu kommen. Jimmy benahm sich wie ein natür‐ licher Vertreter der Tierart Hund. Er streunte am Fuß des aufragen‐ den Artefakts herum und imitierte ein Schnuppern an dem rötlichen Metall. Nur Dalon hielt sich weiterhin zurück. Es gelang ihm nicht, seine Zweifel zu besiegen. Aus einigen Metern Entfernung beobachtete er stumm, was geschah. War es nur eine Ahnung, eine Warnung seiner über Jahrtausende gestählten Instinkte? Oder waren irgendwo in seinem Geist Bruchstücke eines Wissens verankert, das er nicht greifen konnte? Er wußte es nicht, aber er konnte das Gefühl nicht verdrängen. Die Säule erinnerte ihn an etwas. Doch an was? Verzweifelt versuchte er sich zu erinnern, ohne auf einen Hinweis in seinem Geist zu stoßen. Spielten ihm seine Sinne womöglich nur einen Streich? Grübelnd glitt sein Blick an dem Metall hinauf. Er konzentrierte sich auf jedes Detail, das er aus einigen Metern Entfernung erkennen konnte. Es waren nicht allzu viele. Als er sich endlich einen Ruck gab und nähergehen wollte, hielt ihn ein unerklärlicher Widerwille zu‐ rück, eine stumme Warnung beinahe. Was war nur mit ihm los? Er konnte es nicht definieren und hatte trotzdem das Gefühl, die Menschen warnen zu müssen. Ein rotes Aufblitzen drängte sich in seinen Verstand. Es entstand an der Spitze der Säule, zitterte eine Sekunde lang und breitete sich schlagartig aus. »Ren Dhark!« schrie Dalon. Dhark fuhr herum – und erstarrte. Rote Strahlenbahnen rasten wie Blitze von der Spitze der Säule und
erstreckten sich in alle Richtungen, zuckten zu den Trümmerteilen hin und bildeten eine Art Zelt über der Gruppe. Für eine Flucht war es längst zu spät. Als die Strahlen wieder erloschen, lag der Platz mit der Säule so verlassen da wie immer.
16. »Die Pforte zur Hölle! Warum habe ich mich nicht eher daran erinnert? Dann hätte ich euch daran gehindert, der Säule zu nahe zu kommen.« Es war Dalon, der diese Worte in die Dunkelheit sprach. Arc Doorns unverkennbare knurrige Stimme antwortete ihm. »Übernimm dich nicht. Es ist leichter gesagt als getan, uns an ir‐ gend etwas zu hindern.« Von mehreren Seiten her flammte Licht auf. Leistungsstarke Lampen gehörten zur Standardausrüstung jeder Einsatztruppe. »Um uns herum ist mehr Höhle als Hölle«, bemerkte der Ar‐ chäologe Tschu Hin, während er den Lichtstrahl seiner Handlampe über glatte Felswände wandern ließ. »Keine von der Natur geschaf‐ fene Höhle, würde ich sagen; sehr wahrscheinlich wurden hier mo‐ derne Werkzeuge benutzt. Ich schätze, wir befinden uns im Inneren des Hügels.« Dhark prüfte sein Vipho. Es funktionierte nicht, genau wie die Viphos der anderen. Auch sonst gab es keine Möglichkeit, mit den Flash oder der POINT OF in Verbindung zu treten. »Wir kommen hier schon heraus«, war Dan Riker überzeugt, der das Ganze als Herausforderung betrachtete. »Wäre ja nicht das ers‐ temal, daß wir unter der Erde agieren, ohne Kontakt nach außen.« »Wo immer ›außen‹ auch sein mag«, warf Chris Shanton ein. »Bisher gibt es keinen Beweis, daß wir uns innerhalb des Hügels befinden. Die Säule könnte so eine Art Transmitter sein, deren rote Strahlenbahnen uns sonstwohin befördert haben. Theoretisch kann der Hügel viele tausend Kilometer von uns entfernt liegen. Mögli‐ cherweise halten wir uns sogar auf einem anderen Planeten auf.« »Was sagen Sie dazu?« fragte Amy Stewart den Worgun in Cera‐ dengestalt. »Sie scheinen mehr darüber zu wissen.« Mit einem Blick auf Arc Doorn alias Arcdoorn fügte sie hinzu: »Und wie steht es mit
Ihnen?« Arc zuckte mit den Schultern. »Ich erinnere mich nur an wenige Dinge aus der Zeit vor meiner Hirnverletzung.« »Das Aussehen der Säule entspricht der Beschreibung aus einer uralten Legende der Worgun«, berichtete Dalon. »Man erzählt sich, daß Unreine, die sich der Säule nähern, in die Unterwelt verbannt werden, wo sich die Pforte zur Hölle befindet. Wer die Pforte durchschreitet, für den gibt es kein Zurück mehr, er bleibt für alle Zeiten auf der anderen Seite, heißt es. Mehr kann ich auch nicht darüber sagen. Seit ich zum letztenmal davon hörte, sind viele Jahrhunderte vergangen.« »Klingt wie ein Märchen zum Kindererschrecken«, grunzte Chris Shanton. »Im übrigen gibt es unter uns keine Unreinen. Sogar Arc badet regelmäßig, seit er verheiratet ist.« »Ich nehme an, damit ist nicht die körperliche Reinlichkeit, son‐ dern die Reinheit der Seele gemeint«, vermutete Tschu Hin. »Ich schlage vor, wir sehen uns ein bißchen um und machen dann, daß wir von hier wegkommen«, erwiderte Doorn, ohne auf die spa‐ ßige Provokation seines Freundes einzugehen. »Dies ist kein Ort, an dem ich begraben sein möchte.« Mittlerweile hatten alle eine kurze Überprüfung ihrer Arm‐ bandinstrumente vollzogen und festgestellt, daß die bis auf das Vi‐ pho einwandfrei funktionierten. Auch Jimmy war offensichtlich noch intakt. Somit war man dieser Situation nicht ganz hilflos aus‐ geliefert. Mehrere Tunnel führten aus dem großen Höhlenraum, in dem sich die Gruppe aufhielt. Ren Dhark bildete zwei Trupps. Amy, Dalon und Riker blieben bei ihm. Trupp zwei bestand somit aus Shanton, Tschu Hin und Doorn. »Ihr drei übernehmt den Gang dort rechts, wir vier untersuchen den gegenüberliegenden Tunnel. Bleibt zusammen, und markiert jede Abzweigung. Die Umkehr erfolgt exakt nach einer Viertelstun‐ de, so daß wir uns in einer halben Stunde wieder hier treffen. Noch
Fragen?« Die Antwort war Schweigen. Wer auf der POINT OF mitflog, war es gewohnt zu handeln, ohne überflüssige Fragen zu stellen. Und Dalon fühlte sich augenblicklich so unwohl in seiner Ceradenhaut, daß er jeder Anordnung widerspruchslos folgte. Er befand sich in der Unterwelt, im Vorzimmer zur Hölle. War dies der Anfang vom Ende? * Auf der POINT OF herrschte große Aufregung. Man hatte auf dem Schiff etwas Ähnliches wie einen Transmitterimpuls geortet, aller‐ dings nur an der Säule, keinen Empfangsimpuls. Die roten Strah‐ lenbahnen waren erloschen, und die Gruppe um Ren Dhark war spurlos verschwunden. Von den sechs Besatzungsmitgliedern des außergewöhnlichsten Ringraumers des bekannten Universums fehlte jedes Lebenszeichen. Sie und der Worgun Dalon konnten sich zu diesem Zeitpunkt überall aufhalten – oder nirgends. Die Insektenkrieger taten das, was alle Primitivwesen zu tun pflegten, wenn sie sich vermeintlicher Feinde entledigt hatten: Sie feierten ein ausgelassenes Siegesfest. Rund um die Säule vollführten sie einen gespenstischen Tanz, wobei sie merkwürdige Laute von sich gaben, mit denen sie offenbar ihre Freude ausdrückten. Selbst‐ verständlich hielten sie respektvoll Abstand zur Säule. Auf der POINT OF war die Szene in der Bildkugel zu sehen. »Wahrscheinlich haben sie irgendwann einmal beobachtet, wie Lebewesen, die der Säule zu nahe kamen, verschwanden«, überlegte Hen Falluta, der derzeit das Kommando auf dem Schiff innehatte. »Seither treiben sie Fremde, von denen sie sich bedroht fühlen, ge‐ zielt dorthin. Möglicherweise bestrafen sie Verbrecher aus ihren eigenen Reihen auf die gleiche Weise.« »Sie hatten kein Recht, sich am Commander und den anderen zu vergreifen«, erwiderte Leon Bebir, der Zweite Offizier. »Sollen wir
sie uns vornehmen?« Falluta schüttelte den Kopf. »Es bringt nichts, eine Strafaktion ge‐ gen die Wilden zu starten. Sie sind zu dumm und zu primitiv, um Lehren daraus zu ziehen. Ihr Handeln wird nicht von Denken, son‐ dern von ihrem tierischen Instinkt bestimmt. In der gleichen Situa‐ tion würden sie immer und immer wieder das gleiche tun. Es ge‐ nügt, sie zu vertreiben.« Er schickte einen Funkbefehl aus. Wenig später jagte das Flashge‐ schwader unter dem Kommando von Pjetr Wonzeff im Tiefflug über den Platz, dicht über die Köpfe der Insektenkrieger hinweg. Panisch flohen sie zurück in den Dschungel. »Ich lande und untersuche die Säule näher«, entschied Wonzeff, nachdem der Platz geräumt war. Der Erste Offizier verbot ihm sein Vorhaben. »Begeben Sie sich wieder auf Ihre Position und warten Sie auf weitere Befehle. Es nutzt uns nichts, wenn noch weitere Menschen verschwinden.« Auch Artus hielt sich in der Kommandozentrale auf. Er hätte lieber an der Expedition teilgenommen, doch der Commander hatte ge‐ meint, der vielseitige Roboter sei hier an Bord besser aufgehoben. »Darf ich dich unter vier Augen sprechen, Falluta?« fragte Artus den I.O. leise. »Besser gesagt: unter zwei Augen und meinen opti‐ schen Sensoren.« Der Roboter, der einer Großserienproduktion der Wallis‐Werke entstammte, duzte grundsätzlich jeden und redete ihn beim Nach‐ namen an. Er verfügte über diverse sensationelle Fähigkeiten, die er in den vergangenen Jahren laufend verbessert hatte. Zudem versah er seinen Metallkörper regelmäßig mit von ihm selbst entwickelten Zusatzgeräten, winzigen Apparaturen, und jede einzelne hatte es in sich, so daß ihr Träger immer für eine Überra‐ schung gut war. Artus und der Erste Offizier zogen sich in einen der kleinen Räume an der Galerie zurück. »Ich möchte mit der Untersuchung der Säule beauftragt werden«,
kam der lebende Roboter, der sein psychisches Dasein einem Nexus von vierundzwanzig Programmgehirnen sowie einem möglichen Fehler im Nanobereich eines dieser Gehirne verdankte, gleich zur Sache. »War mein Befehl so mißverständlich?« erwiderte Hen Falluta unwirsch. »Es nutzt uns nichts, wenn noch weitere Menschen verschwinden«, zitierte Artus den Offizier, dessen Stimme er dabei perfekt na‐ chahmte. In seiner eigenen sonoren Stimmlage sagte er: »Aber ich bin kein Mensch, schon vergessen? Zwar verfüge ich über ein Be‐ wußtsein und sogar über die terranische Staatsbürgerschaft, doch zum Menschen macht mich das nicht. Ebendeshalb haben die selt‐ samen roten Transmitterstrahlen möglicherweise keine Wirkung auf mich. Im übrigen gehe ich nicht allein da runter, ich nehme noch einige Kegelroboter mit, wenn es recht ist.« »Und falls den sündhaft teuren Maschinen was zustößt?« entfuhr es Falluta. »Vielen Dank, daß du dich so sehr um meine Gesundheit sorgst«, entgegnete Artus mit leichtem Sarkasmus. »Keine Sorge, ich passe schon auf mich auf, und auf die wertvollen Kegel natürlich auch.« Falluta kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Vielleicht wäre es ja vernünftiger abzuwarten.« Artus ließ nicht locker. »Was ist, wenn Dhark und die anderen ge‐ rade in Lebensgefahr schweben? Wenn sie dringend Hilfe brauchen? Willst du dieses Risiko wirklich eingehen?« »Und was ist mit deinem Risiko? Immerhin hast du auch ein Leben zu verlieren.« »Aber dieses Leben steckt in einem Körper, der bei weitem nicht so anfällig ist wie eure menschlichen Hüllen. Meine vielfältigen Fähig‐ keiten schützen mich besser als euch eure mitgeführten, teils recht unzulänglichen Geräte.« »Geht das schon wieder los mit deiner Angeberei?« »Ich habe lediglich eine sachliche Feststellung getroffen. Du kannst
sie gern entkräften, falls du geeignete Argumente hast.« Die hatte Falluta aber nicht. Ihm war nur zu gut bewußt, daß der hochintelligente Roboter recht hatte. Jede Sekunde des Zögerns konnte die Verschwundenen das Leben kosten. Daß Artus ihm und den übrigen Besatzungsmitgliedern körperlich und in vielen Berei‐ chen auch geistig überlegen war, daran gab es keinen Zweifel. Den‐ noch erkannte die lebendige Hochleistungsmaschine seine Autorität an, andernfalls hätte sie sich nicht mit ihm nach hierher zurückge‐ zogen, sondern seinen Befehl offen vor der Mannschaft in Frage gestellt. Falluta rechnete es dem Roboter hoch an, daß er sich nicht so ver‐ halten hatte. »Also gut, du bekommst den Auftrag«, gab der Erste Offizier schließlich nach. »Und vier Kegelroboter zu deinem… zu deiner Unterstützung.« Fast hätte er gesagt: »Zu deinem Schutz.« Doch das hätte Artus wohl nur amüsiert. Wonzeff und seine Männer holten Artus und die vier Kegelroboter auf dem Schiff ab und brachten sie hinab zur Ruinenstadt. * »Ihr drei übernehmt den Gang dort rechts, wir vier untersuchen den gegenüberliegenden Tunnel«, wiederholte Jimmy nunmehr zum drittenmal die Anweisung des Commanders. »Kann er nicht zählen? Wir sind zwei Gruppen mit der gleichen Personenanzahl. Vier und vier. Das macht zusammen acht. Nicht sieben, andernfalls wären wir ja nur zu dritt. Sind wir aber nicht, wir sind zu viert. Es ist eine Res‐ pektlosigkeit sondergleichen, mich dauernd zu übergehen.« »Nun gib schon Ruhe«, warf Chris Shanton entnervt ein. »Ich habe dir zwar die Fähigkeit eingebaut, dich bei Bedarf selbständig zu programmieren, doch das macht dich noch längst nicht zur Person. Du bist eine von mir geschaffene Maschine, und ich bin dein Besit‐
zer. Daher kannst du nicht verlangen, daß Dhark dich bei jedem seiner Befehle extra erwähnt.« »Das verlange ich ja gar nicht, aber ich darf doch wohl erwarten, daß er mich wenigstens mitzählt. Artus behandelt er weniger he‐ rablassend als mich.« »Erstens behandelt dich der Commander nicht herablassend, und zweitens ist Artus ein denkendes und fühlendes Lebewesen.« »Wie kannst du dir so sicher sein, mein Dicker, daß ich nicht ebenfalls denke und fühle?« »Weil ich dich gebaut habe. Und nun sei endlich still. Derlei Dis‐ kussionen haben wir weiß Gott oft genug ausgetragen. Ich sage nur: errma.« Der Roboterhund gab keine Ruhe. »Denk doch mal logisch nach: Daß man mich laufend übergeht, kränkt mich, und das wiederum beweist, daß ich Gefühle habe.« »Du fühlst dich nicht gekränkt«, widersprach Shanton. »Du simu‐ lierst dieses vermeintliche Gefühl lediglich. Das ist ein himmelweiter Unterschied. Und jetzt halt endlich deine vorlaute Metallklappe!« Er, Jimmy, Tschu Hin und Arc Doorn befanden sich auf dem Rückweg zum großen Höhlenraum. Die kurze Untersuchung des Tunnels war ergebnislos verlaufen. Die drei Männer waren lediglich auf weitere Abzweigungen und Gänge gestoßen – und auf zahlrei‐ che leere Chitinhüllen von insektoiden Raubtieren und Insekten‐ kriegern. Zu ihrer Überraschung wurden die drei in der großen Höhle le‐ diglich von Dan Riker erwartet. »Wo sind Dhark, Amy und Dalon?« fragte Doorn verwundert. »Sie sind tiefer in den Tunnel hineingegangen, als wir vereinbart hatten«, erhielt er zur Antwort. »Ich bin umgekehrt, um euch dreien Bescheid zu sagen. Folgt mir, ich erkläre euch alles unterwegs.« »Mir auch?« fragte Jimmy, in dessen Computerstimme Ärger mitzuschwingen schien. »Äh, ja, natürlich, dir auch«, erwiderte Riker verblüfft. »Wieso
fragst du?« »Sie haben ihn nicht mitgezählt«, raunte Shanton dem Stell‐ vertreter des Commanders zu. »Darauf reagiert er augenblicklich sehr empfindsam.« »Empfindsam?« wiederholte Riker schmunzelnd. »Machen Sie sich nicht lächerlich, Chris, Roboter haben kein Empfinden.« Er räusperte sich. »Naja, vermutlich mit einer Ausnahme – doch die ist an Bord der POINT OF geblieben.« Jimmy lag eine Bemerkung auf der Strahlenwaffen‐Zunge. Shanton wechselte rasch das Thema und kam auf die Skelette zu sprechen… »Offenbar fanden die insektoiden Wesen, die einst der Zufall in diese Höhle verschlug oder die man nach hierher verbannte, nicht mehr heraus«, ergänzte Arc Doorn die Ausführungen des korpu‐ lenten Ingenieurs. »Dem ersten Anschein nach sind sie ohne Wun‐ den gestorben. Möglicherweise sind sie verhungert, schließlich gibt es nirgendwo Nahrungsmittel, nicht einmal Wasser. Seid ihr in eu‐ rem Tunnel ebenfalls auf Leichen gestoßen?« »Nicht auf eine einzige«, antwortete Riker. »Zumindest nicht bis zu meiner Umkehr. Vielleicht haben ja die anderen inzwischen welche entdeckt.« »Warum sind sie nicht mit zurückgekommen?« wollte Tschu Hin wissen. »Wir haben im Hintergrund der Höhle eine energieabstrahlende Stelle angemessen«, erklärte ihm Dan. »Das ließ dem Commander keine Ruhe. Er schickte mich zurück und ging mit dem Rest des Trupps weiter.« »Ein Energiefeld?« überlegte Doorn. »Das könnte bedeuten, daß wir hier nicht allein sind.« * Bald darauf war die Gruppe wieder vereint. Die Terraner, die bei‐
den Worgun und – nicht zu vergessen! – der Roboterhund standen vor einem etwa fünf Meter hohen Schott aus goldenem Metall. Das goldene Tor befand sich am Ende eines langen Tunnels. In der ge‐ samten Tunnelröhre, von der aus keine weiteren Gänge abzweigten, hatte man keine Leichen gefunden, so als ob die in der Höhle ein‐ gesperrten Wesen diesen Bereich gemieden hätten, aus welchem Grund auch immer. »Höchstwahrscheinlich liegen in den übrigen Tunneln weitere Verhungerte, die vergeblich nach einem Ausgang suchten«, schätzte Ren Dhark. »Fazit: Wir müssen hier durch – einen anderen Weg ins Freie gibt es nicht.« »Ist das nicht eine zu voreilige Schlußfolgerung?« warf Dan Riker ein. »Bisher haben wir erst einen verhältnismäßig kleinen Bereich der Höhle durchsucht. Vielleicht stoßen wir irgendwo in einem der un‐ zähligen Gänge auf einen unversperrten Ausgang.« »Und falls nicht?« hielt Dhark ihm entgegen. »Dann haben wir wertvolle Stunden oder sogar Tage für nichts und wieder nichts verschwendet. Tage, in denen auch uns Hunger und Durst quälen werden. Unsere zur Ausrüstung gehörigen komprimierten Notvor‐ räte reichen nur für begrenzte Zeit. Diese Zeit sollten wir sinnvoll nutzen, indem wir uns voll und ganz auf das Öffnen des goldenen Tores konzentrieren.« Darüber wurde nicht diskutiert. Obwohl Ren Dhark nicht mehr zur Flotte gehörte, genau wie die übrige Besatzung, akzeptierte man ihn ohne Wenn und Aber als Oberbefehlshaber. Das galt auch für seinen besten Freund und Stellvertreter. Irgend jemand mußte schließlich das Sagen haben, andernfalls lief der Firmenbetrieb aus dem Ruder. Dalon schaute zunächst nur tatenlos zu, wie die Terraner das Tor nach einem Öffnungsmechanismus absuchten. Vergebens. Selbst der auf Fremdtechnik spezialisierte Doorn scheiterte an dieser schwie‐ rigen Aufgabe. Immerhin ortete er mit einem seiner Armbandgeräte im Tor ein seltsam schwingendes Energiefeld, das sich jedoch nicht näher einordnen ließ. Offensichtlich bildete das Feld eine unüber‐
windliche Sperre, welche das Tor geschlossen hielt. »Wüßte ich Genaueres über die Struktur der Energiesperre, könnte ich versuchen, mein Gerät mittels Rückkopplung auf das Feld auf‐ zuschalten, um die Schwingungen zu manipulieren«, murmelte er nachdenklich. »Ein Versuch, der von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre«, merkte Dalon herablassend an. »Eure terranischen Apparaturen sind dafür viel zu minderwertig.« Als typischer Worgun legte er eine gewisse Arroganz an den Tag, wenn es darum ging, anderen Völkern die technische Überlegenheit seiner Spezies zu demonstrieren. Seine anfängliche Furcht war ihm jetzt nicht mehr anzumerken. Die Aussicht, daß dieses Schott eventuell ins Freie führte, be‐ flügelte ihn regelrecht. Er aktivierte eines seiner eigenen Arm‐ bandgeräte, um mittels Analyse und Manipulation der Schwin‐ gungen die energetische Sperre zu überlisten. »Laß das lieber bleiben«, warnte ihn Doorn. »Das Risiko ist viel zu hoch.« »Als Worgunmutant solltest du es gewohnt sein, kein Risiko zu scheuen«, spöttelte Dalon, während er einen Codebefehl in sein Ge‐ rät eingab. »Aber wahrscheinlich bist du schon viel zu sehr Mensch, als daß…« Weiter kam er nicht. Plötzlich roch es nach verschmorten Chips – und verbranntem Fleisch. Blitzschnell riß sich Dalon die glühend heiße Miniapparatur vom Arm. Sie war kaum größer als eine zierliche Damenarmbanduhr aus dem vorigen Jahrhundert, hinterließ aber eine häßliche Brandwunde. Amy Stewart zögerte keine Sekunde. Sie holte ihr Medo‐Pack hervor und versorgte den Ceraden fachgerecht. Dalon verzog keine Miene, er zeigte seinen Schmerz nicht. »Das hat man davon, wenn man sich zu sicher fühlt«, knurrte Doorn, ohne sich anmerken zu lassen, ob er heimliche Schaden‐ freude empfand oder nicht.
* Aus sicherer Entfernung begutachtete Artus den Säulentransmit‐ ter. »Das Ding steht da wie unschuldig«, bemerkte er mehr zu sich selbst als zu Pjetr Wonzeff, mit dem er Dauerverbindung aufge‐ nommen hatte. »Die am unschuldigsten aussehen, sind die Schlimmsten«, ent‐ gegnete der Flashpilot, der weiterhin über dem Hügel die Luftauf‐ klärung leitete. »Sieh dich also vor.« Artus konnte es kaum erwarten, die Säule näher in Sensorenschein zu nehmen, doch er besaß genügend Verstand, um seinem Drang nicht ohne entsprechende Vorsichtsmaßnahmen nachzugeben. Der aufrechtgehende Roboter hielt sich vorerst zurück und schickte ei‐ nen der schwebenden Kegelroboter »an die Front«. Mit seinen Greifarmen und Sensoren tastete der Kegel die Säule rundum ab. Zudem setzte er bei der Untersuchung des Objekts mehrere seiner Bordgeräte ein. Seine Möglichkeiten waren allerdings beschränkt, schließlich handelte es sich bei ihm in erster Linie um eine Kampfmaschine, die man zur Durchführung wissenschaftlicher Arbeiten hätte total um‐ programmieren und vor allem auch umrüsten müssen. Zum Schutz von Wissenschaftlern war sie weitaus besser geeignet. »Auftrag beendet!« schnarrte der Kegel, nachdem er zu Artus zu‐ rückgekehrt war. »Ergebnis: so gut wie negativ. Diese Säule ist ein Stück uraltes Metall. Die Zusammensetzung der Legierung, aus der sie besteht, ist unbekannt und mit meinen Mitteln nicht zu analysie‐ ren.« »Wenn man nicht alles selbst macht«, seufzte sein Auftraggeber. »Eine unbekannte Legierung«, teilte er Wonzeff kurz und knapp mit. »Darum können sich die Experten kümmern, wenn du wieder an Bord der POINT OF bist«, erwiderte der Pilot. »Jetzt gibt es Drin‐
genderes zu tun. Hol den Commander und die anderen da raus.« »Wo raus?« entgegnete der Roboter. »Ich kann sie nirgends aus‐ machen. Es gibt wohl nur eine Möglichkeit, Dharks Gruppe zu fin‐ den: Ich werde ihr folgen.« Wie er das bewerkstelligen wollte, war ihm selbst nicht so ganz klar. Obwohl der Kegelroboter mit der Säule sozusagen auf Tuch‐ fühlung gegangen war, hatte sie ihn verschmäht. Bedeutete das, der geheimnisvolle Transmitter – so es denn überhaupt einer war – transportierte keine Maschinen? Artus war schon gespannt, wie der Transmitter ihn einstufen würde. Ebenfalls als Maschine? Oder als Lebewesen? Oder spielte das gar keine Rolle, weil die Transportauswahl nach gänzlich ande‐ ren Kriterien erfolgte? Wonzeffs Warnung riß ihn aus seinen Gedanken. »Vorsicht, die Eingeborenen schleichen sich wieder an. Diesmal sind sie bis an die Zähne bewaffnet – und offenbar zu allem entschlossen.« Schon flog ein schwerer Stein von hinten auf Artus’ Metallschädel zu. Der Roboter drehte sich nicht einmal um, als er ihn geschickt auffing und anschließend achtlos auf den Erdboden fallenließ. »Netter Versuch«, sagte er gelassen. »Wißt ihr überhaupt, mit wem ihr euch anlegt?« Mit ruhiger Stimme erteilte er den vier Kegelrobotern den Befehl, die Angreifer mit Paralysestrahlen abzuwehren. Normalerweise haßte er nichts mehr als Tatenlosigkeit, dennoch verzichtete er diesmal darauf, direkt in den Kampf einzugreifen. Die primitiven Krieger hatten auch ohne seine aktive Beteiligung nicht die geringste Chance, diese ungleiche Auseinandersetzung zu gewinnen. Er trat lieber gegen echte Gegner an – nicht gegen erbar‐ mungswürdige Opfer. Keulen, Holzspeere, Steine… die Insektenkrieger setzten alles ein, was ihnen zur Verfügung stand. Ihre Absicht war, die me‐ tallglänzenden Fremden auf die Säule zuzutreiben, damit sie dort für alle Zeiten verschwanden. So war man es gewohnt, so war es schon
viel Male durchgeführt worden… Doch diesmal klappte die Aktion nicht wie erwartet. Die Ke‐ gelroboter rührten sich nicht vom Fleck. Sie »standen« wie eine Mauer, wichen keinen Zentimeter zurück. Sämtliche Wurfgeschosse prallten an ihren Schutzschirmen ab. Schutzschirm – ein Wort, das den kriegerischen Wilden nicht einmal bekannt war. Unter dem Betäubungsfeuer der Kegel gingen die Angreifer gleich dutzendweise zu Boden. Artus beobachtete, wie sich neben einem paralysierten Krieger ein kleiner, schmaler Erdspalt auftat. Winzige Käfer mit scharfen Schneidezangen krabbelten aus dem Boden und zerlegten den Betäubten schneller in seine Bestandteile, als es terra‐ nische Piranhas unter Wasser gekonnt hätten. Nicht einmal den Chitinpanzer ließen sie übrig. Als sich die Freßinsekten einem weiteren wehrlosen Krieger nä‐ herten, wies Artus die Kampfroboter an, sie ebenfalls zu para‐ lysieren. Wenig später lagen Hunderte von betäubten Käfern neben dem Erdspalt; der Rest zog sich wieder in die Tiefe zurück. Auch die Insektenkrieger traten den Rückzug an. Erstaunli‐ cherweise liefen sie nicht panisch und undiszipliniert auseinander, wie Artus es erwartet hatte; statt dessen stellten sie den Angriff nach und nach ein und flüchteten gruppenweise ins schützende Dickicht. Eine gewisse militärische Strategie war zumindest in Ansätzen er‐ kennbar. Wahrscheinlich hatten sie sich diese Vorgehensweise bei anderen fremden Lebewesen, die hier gelandet waren, abgeguckt. Oder ihr Verhalten war genetisch bedingt; selbst Tiere gingen bei Angriffen methodisch vor, beispielsweise Wölfe. Die Kegelroboter stellten ihre Abwehrmaßnahmen fürs erste ein. Bei einem erneuten Angriff würden sie sofort und ohne ausdrückli‐ chen Befehl zurückschlagen. Artus begab sich zur Säule und wies die Roboter an, ihm zu folgen. Dicht an dicht drängten sie sich vor dem vermeintlichen Transmitter zusammen. Der intelligente Roboter benutzte die tumben Maschinen gewissermaßen als Deckung. Falls die Sensoren des Säulentransmit‐
ters tatsächlich nur lebende Wesen erfassen konnten, würden sie ihn vielleicht nicht sofort ausmachen. Artus’ »Maschinensinne« waren feinfühliger strukturiert als die der Kegelroboter. Mitunter sah und hörte er Dinge – besser gesagt: Er spürte sie –, die anderen Hochleistungsgeräten verborgen blieben. »Sie singt.« Pjetr Wonzeff machte ein ratloses Gesicht. Er bat Artus, seine Worte zu wiederholen. »Sie singt«, sagte der Roboter erneut. »Ich erkenne energetische Aktivitäten im Inneren der Säule. Von dort gehen Schwingungen aus, die sich anhören, als würde die Säule… ja, als würde sie singen – ein treffenderes Synonym dafür gibt es nicht. Es ist ein lautloses Lied, wenn du verstehst…« »Nicht so ganz«, gab der Flashpilot offen zu. »Aber ich bemühe mich. Die Säule singt, ohne direkt Laute auszustoßen, richtig?« »Richtig, mein Freund. Man kann ihren gespenstischen Singsang nicht hören, nur erfühlen.« Ohne Vorwarnung flammten die roten Strahlenbahnen auf und bildeten das schon bekannte »Zelt« über der Robotergruppe. Artus und die Kegel wurden auf die gleiche Weise eingehüllt wie zuvor Dhark und seine Begleiter. Wonzeff hielt den Atem an. Würden die fünf Roboter jetzt ebenso spurlos verschwinden? Auch auf der POINT OF verfolgte man das Geschehen auf‐ merksam in den Bildkugeln. Von einem Augenblick auf den anderen erloschen die Strahlen. Sie waren aus dem Nichts gekommen und kehrten an keinen Ort zu‐ rück. Von den Flash, von der AS GOR und von der POINT OF aus hatte man wieder freie Sicht auf den Platz an der Säule: Alle waren noch da.
17. Alle waren noch da. Alle vier Kegelroboter. Nur Artus fehlte. Eine sofortige Befragung der Roboter durch Wonzeff verlief er‐ gebnislos. Sie konnten nichts Konkretes vermelden, ihre Auf‐ nahmegeräte hatten absolut nichts Auffälliges registriert. Eben noch war Artus mitten unter ihnen gewesen – jetzt war er nicht mehr da. Für die Kegel war das eine ganz normale Beobachtung, die sie emo‐ tionslos registriert hatten und nun auf Anfrage weitergaben. Obwohl die Orter des ungewöhnlichsten Raumschiffs des Uni‐ versums voll hochgefahren waren, hatte man auch auf der POINT OF nichts festgestellt, so als ob Artus den Platz nie betreten hätte. In seiner Ratlosigkeit klammerte sich Hen Falluta an jeden Stroh‐ halm. Er setzte sich mit der ASGOR in Verbindung und fragte Doorns Frau Doris, ob ihr vielleicht irgend etwas Merkwürdiges aufgefallen sei. »Soll das ein Scherz sein?« stellte sie ihm die Gegenfrage. »Ich komme mit den Geräten auf diesem Schiff kaum klar und könnte nichts sagen, selbst wenn sie eigenständig etwas angemessen hätten. Verdammt, wo ist Arc?! Bringt ihn zu mir zurück! Bitte! Ohne ihn fühle ich mich schrecklich einsam.« »Soll ich eine Transmitterverbindung zu unserem Schiff freischal‐ ten?« erkundigte sich der Erste Offizier mitfühlend. Doris lehnte entrüstet ab. »Nein, ich bleibe hier und warte auf Arc, wie ich es ihm versprochen habe. Wer oder was er auch ist – er ist vor allem mein Mann. Wir haben uns einst geschworen, zueinander zu halten, in guten und in schlechten Zeiten, und daran hat sich nichts geändert.« Derweil suchte Wonzeff die Umgebung auf dem Hügel ab. Die Insektenkrieger hatten den Platz rund um die Säule umzingelt, verzichteten diesmal aber auf ihren Siegestanz und blieben lieber in Deckung – schließlich war die Bedrohung von ihrem »Säulengott«
nur teilweise beseitigt worden. * Artus fand sich in demselben großen Höhlenraum wieder wie zu‐ vor Dhark, Riker und der Rest der verschwundenen Gruppe. Er schaltete auf Nachtsichtmodus um und schaute nach den Ke‐ gelrobotern. Sie waren nirgends zu entdecken, was seine Theorie, daß der Säulentransmitter keine »toten« Gegenstände wei‐ terbeförderte, untermauerte. Von seinem Standort aus nahm Artus eine erste oberflächliche In‐ spektion der Höhle vor. Auch er registrierte, daß die Wände Bear‐ beitungsspuren aufwiesen. Zu seiner großen Überraschung registrierte er ansonsten – rein gar nichts. Trotz seiner hochwertigen Instrumente konnte er außerhalb der Höhle nicht das Geringste orten. Als gäbe es draußen keine Welt mehr… Drinnen wurde er weitaus schneller fündig. Innerhalb kürzester Zeit hatte er den Tunnel ausgemacht, in dem sich Dharks Gruppe aufhielt. Unverzüglich begab er sich zu ihr. »Da schau her, man schickt uns einen Großserienblechmann für die niederen Arbeiten«, kommentierte Jimmy die Ankunft des Roboters, noch bevor jemand anders etwas sagen konnte. »Überaus fürsorglich von der an Bord verbliebenen Besatzung, sonst müßten wir nach der Zerstörung des goldenen Tores die Trümmer selbst wegfegen.« »Erkennst du mich nicht?« fragte Artus ihn perplex und deutete auf sein Stirnband mit dem eingestickten goldenen Buchstaben A. »Ich bin Artus.« »Oh, tut mir leid, auf dein Erkennungsmerkmal hatte ich gar nicht geachtet«, behauptete Jimmy. »Liegt wahrscheinlich daran, daß du es manchmal ablegst.« »Oder daran, daß du nicht weiter als bis zu meiner Bauchgegend
hochgucken kannst«, konterte der Roboter. »Was ist los mit dir? Bist du schlecht drauf?« »Kümmere dich nicht um ihn«, warf Shanton ein. »Er hat ziemlich miese Laune.« »Kann gar nicht sein«, erwiderte Jimmy. »Nur Lebewesen haben Launen. Ich bin ja nur eine simple Maschine, ein Gebrauchsgerät, das man lediglich bei der jährlichen Inventur mitzuzählen braucht.« »Es wird höchste Zeit, daß Sie an Ihrem Spielzeug ein paar Neu‐ einstellungen vornehmen, Chris«, sagte Riker ungehalten. »Allmäh‐ lich fällt er mir mit seiner ›Hallo‐ich‐lebe!‹‐Nummer gehörig auf die Nerven. Wir haben wirklich Wichtigeres zu tun, als uns mit einer Maschine zu befassen, die ständig mehr sein will, als sie ist.« »Das hat man auch mir oft nachgesagt«, entgegnete Artus. »Bei dir ist das was anderes«, meinte Riker. »Mißt du immer mit zweierlei Maß?« fragte Jimmy ihn bissig. »Ich bin schon auf der POINT OF mitgeflogen, da existierte von Artus nicht einmal das klitzekleinste Schräubchen. Meine Abenteuer auf fremden Welten sind legendär. Würden Artus und ich in einer Ho‐ lokinoserie mitspielen, wäre ich der beliebte Hauptdarsteller, der von Anfang an mit dabei war, und er nur eine Charge, die bei nächstbester Gelegenheit aus dem Drehbuch herausgeschrieben…« »Still«, unterbrach ihn Artus, ohne dabei seine Stimme zu erheben. »Ich muß mich konzentrieren. Vom Tor geht ein schwingendes Energiefeld aus, ähnlich dem, das ich an der Säule angemessen ha‐ be.« Jimmy hatte eine unheimlich große Klappe, aber er wußte auch, wann er sie zu halten hatte. Einen Ausgang aus der Höhle zu finden hatte absoluten Vorrang. Weiterstreiten konnte er sich später immer noch. Auch Artus wußte Prioritäten zu setzen, wie Ren Dhark zufrieden registrierte. Statt sich mit überflüssigen Begrüßungsriten oder klein‐ lichem Gezänk aufzuhalten, verschwendete er keine Zeit und ging sofort an die Arbeit.
Innerhalb von Sekunden hatten seine 24 Programmgehirne das Energiefeld analysiert. Theoretisch hätte er jetzt probieren können, es zu manipulieren, doch seine scharfen Sinne hatten längst das ver‐ schmorte Gerät entdeckt, welches Dalon zu Boden geworfen hatte. Er hob es auf, besah es sich näher – und zog die richtige Schlußfol‐ gerung. »Offenbar ist es brandgefährlich, zu versuchen, das Energiefeld zu manipulieren«, sagte er nachdenklich. »Dennoch ist es nicht unü‐ berwindbar. Für jedes Schloß gibt es einen Schlüssel, man muß ihn nur finden.« »So schlau sind wir auch«, bemerkte Doorn in seiner knurrigen Art. »Und wo sollen wir nach dem Schlüss… nach dem Öffnungs‐ code suchen?« In Sekundenschnelle ging Artus nochmals sämtliche Analysedaten durch. Diese Prozedur wiederholte er mehrfach. Niemand sprach ihn währenddessen an, alle warteten geduldig ab. »Wir brauchen ihn nicht zu suchen«, sagte der Roboter schließlich. »Der Schlüssel war immer da, direkt vor euren Nasen.« Artus deutete auf das goldene Tor. »Er steckt bereits im Schloß. Wir müssen nur einen Weg finden, ihn zu drehen, dann öffnet sich das Tor zur Freiheit.« * »Noch mal ganz langsam zum Mitschreiben«, bat Tschu Hin den Roboter. »Was meinst du damit, wenn du sagst, der Schlüssel steckt im Schloß? Soll das heißen, der Code zur Beseitigung der Energie‐ sperre befindet sich in dem Energiefeld selbst? Ich hatte angenom‐ men, das Feld sei die Sperre.« »Eben nicht«, antwortete Artus. »Das Energiefeld ist definitiv nicht das Schloß.« »Du irrst dich«, widersprach ihm Dalon. »Um durchs Tor zu ge‐ langen, müssen wir es schaffen, das Energiefeld zu überwinden.
Leider ist das leichter gesagt als getan. Eine gezielte Manipulation scheint nicht möglich zu sein, zumindest nicht mit herkömmlichen Methoden. Selbst ich bin daran gescheitert.« »Weil du von einer falschen Voraussetzung ausgegangen bist«, belehrte ihn Artus, der es insgeheim auskostete, ausgerechnet einem Worgun seine geistige Überlegenheit zu demonstrieren. »Ich wie‐ derhole es nochmals: Das Energiefeld ist nicht die Energiesperre – eben deshalb läßt es sich nicht beeinflussen, ganz gleich, welche Methode man anwendet. Normalerweise ist es für mich keine große Sache, eine komplizierte Sperre zu überlisten. Auch Doorn hat auf diesem Gebiet schon überragende Leistungen vollbracht. Doch hier würden wir uns nur vergebens anstrengen. Wer auf dem falschen Schlachtfeld zum Kampf antritt, darf sich nicht wundern, wenn er den Feind nicht findet.« Früher hatte Artus mit seinen halbphilosophischen Anmerkungen Dharks Nerven arg strapaziert. Mittlerweile hatte sich der Com‐ mander an diese ganz spezielle Art seines ganz speziellen Besat‐ zungsmitglieds gewöhnt. Je öfter er sich darauf einließ, um so leichter fiel es ihm, die mitunter recht verqueren Gedankengänge des Roboters zu verstehen. »Das falsche Schlachtfeld«, wiederholte er nachdenklich. »Allmäh‐ lich begreife ich, worauf du hinauswillst. Das Energiefeld ist nicht das Schloß, sondern – ein fälschungssicherer Schlüssel. Statt zu ver‐ suchen, die energetischen Schwingungen des Feldes zu manipulie‐ ren, sollten wir sie besser für unsere Zwecke nutzen.« Shanton konnte nur über sich selbst den Kopf schütteln. »Schöne Wissenschaftler sind wir, wir sollten uns was schämen. Diese Um‐ kehrlösung ist so simpel, daß wir von allein hätten darauf kommen müssen.« Er schaute auf Jimmy herab. »Und behaupte jetzt bloß nicht, du hättest es von vornherein gewußt und nur nichts gesagt, weil du beleidigt warst.« Der Roboterhund antwortete ihm nicht und drehte ihm das Hinterteil zu. »Nicht so vorschnell«, meldete sich Arc Doorn zu Wort. »Artus hat
zwar eine interessante Theorie aufgestellt, aber von einer wirklichen Lösung sind wir noch weit entfernt. Ich schlage vor, wir testen erst einmal, ob es uns überhaupt gelingt, mit Hilfe unserer Armbandge‐ räte die hochfrequenten Schwingungen des Feldes in normale Wel‐ len auf Viphofrequenz umzuwandeln. Alles weitere findet sich dann.« »Eine ausgezeichnete Idee«, meinte Amy Stewart. Dhark stimmte ihr zu. »Sollte es funktionieren, versucht jeder auf einer anderen Frequenz, den Öffnungscode zu aktivieren.« Unverzüglich machten sich alle ans Werk – mit Ausnahme von Artus, der einen anderen Plan hatte. Er konzentrierte sich voll und ganz auf die Schwingungen und horchte tief in sich hinein… * Nach und nach gaben der Cyborg und die Männer ihre Be‐ mühungen auf. Zwar klappte die Umwandlung reibungslos, den‐ noch wollte sich der gewünschte Erfolg partout nicht einstellen. Der »Schlüssel« bewegte sich kein bißchen, so als würde er im »Schloß« feststecken. Die Schottsperre ließ sich auch auf diese Weise nicht öffnen. Plötzlich ertönte ganz in der Nähe ein angenehmer, verzaubernder Gesang. Anfangs waren nur leise Töne zu vernehmen, dann wurde das Singen immer lauter, ohne jedoch in Lärm auszuarten. »Laahaaooo…!« »Wunderschön«, flüsterte Amy. Dalon fiel als erstem auf, daß der textlose Gesang von Artus aus‐ ging. »Sieht ganz so aus, als seien bei eurem seltsamen Freund ein paar Sicherungen durchgeschmort.« Shanton stubste Artus leicht an. »Alles in Ordnung mit dir?« Der Roboter geriet etwas ins Schwanken, knickte in den metallenen Beingelenken ein und ging in die Knie. Auf dem Boden kniend setzte er seinen seltsamen Gesang fort.
»Laahaaooo…!« * Ein Roboter zu sein hatte viele Vorteile. Einer davon war bei‐ spielsweise, daß man beim Wacheschieben schlafen konnte. Würde es ein Soldat wagen, während seines Wachdienstes ein Nickerchen zu halten, müßte er mit einer saftigen Disziplinarstrafe rechnen. Mir hingegen konnte man äußerlich gar nicht anmerken, ob ich schlief oder wach war. Ich war befähigt, meinen Maschinenkörper jederzeit in den Ruhezustand zu versetzen, ganz gleich, ob ich lag, saß, stand oder wie eine Fledermaus unter der Decke hing. Das bedeutete allerdings nicht, daß ich ein verantwortungsloser Zeitgenosse war. Während ich schlief, ruhte lediglich der intelligente Teil meines Gehirns, wobei mein automatisches System weiterar‐ beitete. Auch in diesem Zustand, den ich übrigens jederzeit willkür‐ lich beenden konnte, hatte kein Feind Terras die Chance, sich an mir vorbeizuschleichen. Das Ganze funktionierte natürlich auch umgekehrt. Wenn ich in der Werkstatt meine komplette Technik generalüberholen und eine gründliche Reinigung meines Metallkörpers vornehmen ließ, schal‐ tete ich mich größtenteils ab, damit nicht versehentlich eine automa‐ tische Abwehreinrichtung ausgelöst wurde, welche die Wartungs‐ roboter ohne viel Federlesens eliminierte. Mein Bewußtsein blieb dabei aber eingeschaltet, denn es handelte sich um eine überaus angenehme Prozedur, fast wie auf einer Schönheitsfarm. Die meiste Zeit meines Lebens war ich natürlich ganz und gar wach, sprich: Mein Ich und mein Metallkörper arbeiteten als per‐ fektes Team zusammen. Kam es zum Kampf, aktivierte ich alles, was mir zur Verfügung stand, und das war nicht gerade wenig. Dann lehrte ich meine Feinde das Fürchten. Selbst wenn man mich von mehreren Seiten attackierte, war ich nicht leicht zu besiegen. Ich hatte meine Sensoren überall, und so
mancher Gegner schwor hinterher, er habe gesehen, wie ich mit mindestens zehn Armen und Beinen gleichzeitig gekämpft hätte. Derlei Behauptungen waren natürlich purer Unsinn; ich war kein Überroboter, nur ziemlich schnell und stark. Sehr viel schneller und sehr viel stärker als herkömmliche Kampfmaschinen. Wenn es vonnöten war, konnte ich meine gesamten Kräfte bündeln und auf einen bestimmten Punkt konzentrieren. In solchen Situa‐ tionen war ich vergleichsweise wehrlos, weil sich sowohl meine technischen Innereien als auch mein Verstand voll und ganz einer einzigen Aufgabe widmeten. Deshalb ging ich dieses Risiko nur selten ein. Das goldene Tor zu öffnen war ein harter Brocken. Dhark, Doorn und andere kluge Köpfe sahen sich offenbar außerstande, dieses Problem zu bewältigen, und auch den überheblichen Worgun in Ceradengestalt brachte sein enormes Wissen um keinen Deut weiter. Also blieb mal wieder alles an mir hängen… Während meine Mitstreiter vergeblich versuchten, über die Fre‐ quenzen ihrer Viphogeräte das Geheimnis des Schwingungscodes zu lüften, ging ich einen gänzlich anderen Weg. Falls ich mich nicht täuschte, war das Energiefeld nicht der Schlüssel für einen elektro‐ magnetischen, sondern für einen akustischen Code. Ich mußte mich nur auf die Melodie einlassen, mich in sie einfühlen, mich ihr ganz und gar hingeben… Natürlich war mir bewußt, daß mein Verhalten mein Umfeld irri‐ tieren würde. Doch darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen. Mir stand nicht der Sinn nach langwierigen Erklärungen. Die Besatzung der POINT OF hatte sich daran gewöhnt, mich zu nehmen wie ich war, und die Meinung des Worgun interessierte mich nicht sonder‐ lich. Niemand konnte immer recht haben, nicht einmal ich. Deshalb hielt ich es nicht für völlig ausgeschlossen, daß Doorn mit seiner Idee richtig lag. Vielleicht ließ sich das Tor tatsächlich über eine Viphof‐ requenz öffnen, und ich befand mich auf dem Holzweg (um mal
wieder eine menschliche Redewendung zu malträtieren). Doch um das herauszufinden, mußten wir zunächst einmal beides ausprobie‐ ren. Als sich das goldene Tor öffnete – genaugenommen war es ja ein goldenes Schott –, hatten meine Mitstreiter ihre Bemühungen längst eingestellt. Meine Vorgehensweise hatte sich als erfolgreicher er‐ wiesen. Nun ja, eigentlich hatte ich auch genau das erwartet. Dennoch ließ ich die anderen meine Überlegenheit nicht spüren, so wie es Dalon des öfteren tat. Denn eines hatte ich im Laufe meines Zusammenlebens mit den Menschen gelernt: Zuviel Arroganz war ein Zeichen von Schwäche. Je stärker und unverletzbarer sich je‐ mand nach außen hin gab, um so verwundbarer war er tief in seiner Seele. In den Wochen und Monaten nach meiner »Erweckung« war ich mir mitunter wie eine Sonne vorgekommen, um die sich alles drehte. Selbst denen gegenüber, die mich gernhatten, hatte ich fortwährend gezeigt, wer von uns der Stärkere war. In Wahrheit aber hatte ich mich klein und schwach gefühlt, wie jedes Kind, das allmählich be‐ gann, um sich herum die Welt zu erkunden. Seither übte ich mich in mehr Bescheidenheit. Dalon hätte es mit Sicherheit auch nichts geschadet, auf diesem Gebiet einiges dazuzu‐ lernen; alt genug war er schließlich. * Langsam erhob sich Artus aus seiner knienden Position und stellte sich wieder aufrecht hin, ein Vorgang, der etwas Würdevolles an sich hatte, so als ob er gerade aus einer anderen Welt zurückgekehrt sei. Nur kurz richteten sich die Blicke auf ihn, dann schauten alle zu dem goldenen Tor, das sich nicht minder würdevoll öffnete. Gleißendes, goldenes Licht strömte aus der Toröffnung und ver‐ hinderte zunächst die klare Sicht auf das, was hinter dem Fünfme‐ terschott lag. Die Menschen kniffen die Augenlider zusammen, und
der Cerade schützte sich vor dem Licht, indem er den Arm leicht anhob. In diesem Augenblick schälte sich eine humanoide Gestalt aus dem Licht. Es war ein goldener Mensch, der Statur nach ein Mann, etwa mittelgroß. Er war nackt, verfügte aber über keine erkennbaren Ge‐ schlechtsmerkmale – und über kein Gesicht. Ohrmuscheln oder entsprechende Aussparungen waren ebenfalls nicht vorhanden. Demzufolge konnte er weder hören noch sprechen. Auf irgendeine Weise schien er die Gruppe jedoch optisch wahrzunehmen, denn er musterte jedes einzelne Mitglied prüfend, wie man seinen Kopfbe‐ wegungen entnehmen konnte. Das goldene Leuchten ging nicht von dem Gesichtslosen aus; es schien von überallher zu kommen und hüllte ihn teilweise ein. Auf den ersten Blick wirkte er wie erstarrt, doch dann winkelte er leicht den Arm zum Gruß an. Willkommen im Hier, Verdammte! Dalon, Doorn, Dhark, Stewart, Riker, Hin, Shanton, Artus… sie alle vernahmen die Worte gleichzeitig, nicht akustisch, sondern als Ge‐ dankenübertragung – vergleichbar mit der Verständigungsart, die sie von der Gedankensteuerung her kannten, aber irgendwie auch anders. Ihr dürft euch glücklich schätzen, denn ihr seid privilegiert. Das Hier läßt euch nicht unwissend wie niedere Kreaturen in der Vorhalle sterben. Ihr werdet wissend in den Tod gehen. »Niemand von uns durchquert das Schott!« ordnete Ren Dhark unmißverständlich an. Natürlich könnt ihr auch bleiben, wo ihr seid. Ihr sterbt so oder so, gleichgültig auf welcher Seite der Pforte ihr steht. »Die Pforte zur Hölle«, sagte Dalon mit brüchiger Stimme. »Ich hatte sie mir völlig anders vorgestellt, nicht als ein ganz normales Schott. Wir hätten es niemals öffnen dürfen, das war ein großer Fehler.« Wie ein Besessener hatte Ren Dhark jahrelang nach den Mysterious
gesucht, und in seinen Phantasien waren sie ihm stets als eine hö‐ hergestellte, unantastbare Macht erschienen. Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, daß sich diese »Überwesen« vor irgend etwas fürchten könnten. Inzwischen wußte er es besser. Sie hatten sich unterjochen lassen, waren zu willenlosen Sklaven geworden, und ohne fremde Hilfe wäre es ihnen niemals gelungen, sich aus der Knechtschaft ihrer Peiniger zu befreien. Und sie hatten Angst wie jedes gewöhnliche sterbliche Geschöpf. Auch sonst stimmte die Realität längst nicht mehr mit Dharks ursprünglichen, leicht verklärten Vorstellungen überein. Ihr enormes wissenschaftliches und technisches Wissen hatten sich die Worgun nicht selbst erarbeitet. Offensichtlich hatten sie es nur weiterentwi‐ ckelt, so wie die Menschen nach ihrer größten Zufallsentdeckung, der POINT OF, das Wissen der Worgun übernommen und weite‐ rentwickelt hatten. Letztendlich hatte Ren Dhark gefunden, wonach er gesucht hatte, jedoch war er von Anfang an auf der falschen Fährte gewesen. Die Worgun waren zwar jene Mysterious, denen er hartnäckig nachge‐ jagt war, aber sie waren nun einmal nicht die »wahren« Geheimnis‐ vollen. Somit war seine Suche noch lange nicht am Ende. Wo und wann er sie intensiv fortsetzen würde, wußte er nicht. Derzeit gab es dringendere Probleme zu lösen – was ihn nicht davon abhielt, da und dort nach eventuellen Spuren Ausschau zu halten. Vielleicht verbarg sich ja hinter dem goldenen Schott ein Hinweis auf den Aufenthaltsort der wahren Mysterious. Viel wichtiger war aber jetzt, eine Möglichkeit zur Rettung der Sonne zu finden. Dhark zögerte noch, durchs Tor zu treten. Sein Forscherdrang war enorm, doch er wollte weder das Leben von Amy noch das seiner Männer gefährden. Nicht zum erstenmal wurde er von seinem Ver‐ antwortungsbewußtsein ausgebremst. Die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Um ihn herum löste sich plötzlich alles auf. Die Höhle schien regelrecht zu zerbröckeln –
ein lautloser Einsturz, der jedoch keine Trümmer hinterließ. Die Hälfte des Tunnelgangs war bereits komplett verschwunden. Ein guter Kapitän verließ sein sinkendes Schiff stets als letzter. Ren Dhark war zweifelsohne ein guter Commander, dennoch fackelte er nicht lange und sprang als erster durch das Schott. Er war kein Mann großer Worte, sondern großer Taten, und er wußte, daß die Gruppe seinem Beispiel beziehungsweise ihm folgen würde. Innerhalb weniger Sekunden durchquerten die Terraner, der Mu‐ tant Arc Doorn und die Roboter das goldene Schott. Dalon wartete bis zum Schluß, er hatte noch Bedenken… Im letzten Moment rettete er sich mit einem bühnenreifen Hecht‐ sprung, andernfalls hätte er sich mitsamt der Höhle aufgelöst. Artus fing ihn auf und verhinderte so einen harten Sturz. Kaum waren alle auf der sicheren Seite, verschwand das Tor, als hätte es nie existiert. Das grelle Leuchten veränderte sich und wurde zu einem angenehmen, warmen Licht, das zwar weiterhin von einem zarten Goldschimmer durchsetzt war, aber nicht mehr den Augen wehtat. Ren Dhark und seine Begleiter fanden sich in einer Umgebung wieder, die sie an den Industriedom auf Hope erinnerte. Die beiden wichtigsten Unterschiede waren wohl die Größe und die Farbe. Man konnte die auf dem Kontinent Deluge gelegene Anlage ohne Über‐ treibung als riesig bezeichnen, aber diese hier war »mordsmäßig gigantisch« (Originalton Artus, der als erster seine Überraschung überwand). Chris Shanton brachte es noch präziser auf den Punkt: »Eine ko‐ lossal vergrößerte goldene Version des Industriedoms.« Während im Dom auf Hope Blau die vorherrschende Farbe war, schimmerte hier alles in Goldtönen: Maschinen, Zwischenwände, Boden, Decke. Letztere war derart weit entfernt, daß man sie nur unzureichend erkennen konnte; theoretisch hätte es auch ein golde‐ ner Himmel sein können. Die Gesamtgröße der mächtigen, gold‐ schimmernden Anlage ließ sich nicht einmal annähernd schätzen.
Viel wußte Dalon nicht mehr von der vergessenen Worgunlegen‐ de, die ihm einst die Alten erzählt hatten und an die er sich beim Anblick der Säule wieder erinnert hatte. Nur sporadisch fielen ihm Bruchstücke der Schilderung ein. Man hatte damals nur hinter vor‐ gehaltener Hand von der Säule und der Pforte gesprochen – und von der goldenen Hölle. So recht daran geglaubt hatte er nie, doch nun stand er mittendrin. Eine leichte Panik erfaßte ihn, die immer stärker zu werden drohte. »Ich hätte die Pforte niemals durchschreiten dürfen«, kam es kaum hörbar über seine Lippen. »Ich hätte drüben bleiben sollen…« »Dann wären Sie jetzt tot«, sagte Tschu Hin, der direkt neben ihm stand. »Was ist los mit Ihnen? Scheinbar hängen Sie nicht sonderlich an Ihrem Leben.« »Vor dem Sterben fürchte ich mich nicht«, erwiderte der falsche Cerade. »Ein ehrenvoller Tod ist allemal besser als ein qualvolles Dahinsiechen in der goldenen Hölle. Niemand kehrte je von hier zurück. In meiner Kindheit erzählte man sich die furchtbarsten Dinge über diesen schrecklichen Ort.« Der Archäologe war es von Berufs wegen gewohnt, alles zu hin‐ terfragen. Mit lapidaren Antworten gab er sich nicht zufrieden. Un‐ verhohlen stellte er den Wahrheitsgehalt der Legende in Frage. »Wie kann man Ihnen in Ihrer Kindheit davon erzählt haben, wenn angeblich noch niemand von hier zurückkehrte? Es muß mindestens einen Augenzeugen gegeben haben. Wieso haben Sie uns überhaupt geholfen, das Tor zu öffnen, wenn Sie wußten, was uns dahinter erwartet?« »Das wußte ich eben nicht«, erklärte ihm Dalon. »In der Legende wird die Pforte nicht als modernes, gesichertes Schott beschrieben, sondern als ein riesiger Vorhang aus hochlodernden goldenen Flammen. Man kann die Flammenwand unbeschadet durchqueren – aber nur in eine Richtung. Danach gibt es keinen Weg mehr zurück. Nie mehr. Wer dennoch versucht zu fliehen, erleidet bei der Berüh‐ rung mit den Flammen unsägliche Qualen.«
»Das klingt wie die kranke Phantasie eines Klerikers aus Terras finsterstem Mittelalter«, meinte Shanton. »Damals setzte die Kirche ständig neue Greuelmärchen in die Welt, um abtrünnige Anhänger bei der Stange zu halten. Man erfand einen alptraumhaften Ort tief im Kern unseres Planeten. Dort würden die Seelen ungläubiger Menschen in glühende Lava geworfen oder in Kesseln mit kochen‐ dem Wasser gegart, hieß es, und schlafen müßten die Verstorbenen auf heißen Kohlen. Ihre Bewacher schilderte man als Dämonen mit langen Schwänzen, und dem Dämonenanführer dichtete man Hör‐ ner und einen Tierhuf an. – Mal ehrlich, Dalon, hört sich das alles nicht furchtbar lächerlich an? Ich kenne niemanden, dem ein solches Wesen jemals begegnet ist.« »Sie haben recht, Mensch«, pflichtete Dalon ihm bei. »Meine kin‐ dischen Ängste sind eines erwachsenen Worgun unwürdig.« Er entspannte sich merklich, fand allmählich wieder zu sich selbst. Dhark nickte Shanton zufrieden zu. Der korpulente Ingenieur hatte mit seinen beruhigenden Worten verhindert, daß sich Dalon allzu‐ sehr in seine Ängste hineinsteigerte. Wenn es hart auf hart kam, mußte sich der Commander auf jeden einzelnen verlassen können, auch auf den viertausend Jahre alten Worgun. Geriet Dalon in einer gefährlichen Situation unvermittelt in Panik, konnte er zur Gefahr für die ganze Gruppe werden. Der Gesichtslose stand etwas abseits von seinen »Gästen« und schien sie aufmerksam zu beobachten. Alle Anwesenden wandten sich ihm nun zu. Obwohl er sie massiv bedroht hatte, erhob keiner die Waffe gegen ihn. Es bestand keine unmittelbare Gefahr, schließ‐ lich hatte er ihnen angekündigt, sie würden »wissend in den Tod gehen«. * Folgt mir, Verdammte! Jeder in Dharks Gruppe vernahm die unvermittelte Aufforderung
in seinem Kopf und erschrak leicht. Chris Shanton blickte auf seinen Roboterhund herunter. Jimmy verzog keine Miene, obwohl er dazu durchaus in der Lage war. Scheinbar war er der einzige, der den Gedankenbefehl des Goldenen nicht »hören« konnte. Shanton erkundigte sich bei Artus, ob auch er den Gesichtslosen verstanden hatte. »Klar und deutlich«, antwortete der Roboter. »Meine Pro‐ grammgehirne sind zwar anders gestrickt als eure menschlichen Gehirne oder die Sinnesorgane der Worgun, dennoch empfange ich jeden Satz störungsfrei.« »Im Gegensatz zu Jimmy«, meinte Shanton. »Womit wohl endgül‐ tig bewiesen wäre, daß er nichts weiter als eine ganz normale Ma‐ schine ist. Eine ungewöhnliche Maschine zwar, aber trotzdem eine Maschine.« »Fängst du schon wieder an zu stänkern?« ranzte Jimmy seinen Erbauer an. »Ich verstehe den Fremden genau wie ihr.« Der Gesichtslose kümmerte sich nicht um den Zwist und mar‐ schierte ohne weitere Ankündigung los. Dhark gab den anderen ein Zeichen, ihm nachzugehen. Offenbar hatte der Goldene ein be‐ stimmtes Ziel, denn er schritt zügig voran. Ren Dhark versuchte als erster, mit ihm in Kontakt zu treten, in‐ dem er auf die gleiche Weise mit ihm kommunizierte wie mit der Gedankensteuerung und dem Checkmaster. Wohin führst du uns? Der Goldene schwieg. Entweder funktionierte die Gedanken‐ übertragung nur in eine Richtung, oder er war nicht sonderlich ge‐ sprächig. Im Gegensatz zu Shanton und Jimmy, die unverdrossen weiterstritten, so als wären sie an einem ganz normalen Ort an einem ganz normalen Tag. »Du verstehst ihn also, ja? Was hat er denn gesagt, bitte schön?« »Der Fremde forderte uns auf, ihm zu folgen. Damit meinte er nicht nur euch, sondern auch mich, sonst hätte er mich ja nicht an‐ gesprochen. Er weiß wenigstens, was sich gehört.«
»Ich glaube dir kein Wort. Du hast nichts, aber auch rein gar nichts empfangen.« »Und woher weiß ich dann, was er gesagt hat?« »Das war nichts weiter als eine einfache logische Schlußfolgerung deinerseits. Du hast beobachtet, wie der Goldene sein nicht vorhan‐ denes Gesicht in unsere Richtung gedreht hat, als er seinen Gedan‐ kenbefehl aussandte. Danach ging er los, und wir gingen alle hin‐ terher. Somit war es für dich nicht schwer zu erraten, wozu er uns aufgefordert hat.« Jimmy gab einen Laut von sich, der sich wie »Pöh!« anhörte. An‐ schließend erhöhte er merklich sein Schrittempo; er setzte sogar sei‐ ne Pfotenrollen ein, um weiter nach vorn zu kommen, weg von sei‐ nem Erbauer. Shanton schimpfte leise vor sich hin. Dan Riker seufzte leise. Schon oft, viel zu oft, hatte er sich solche Streitgespräche zwischen den beiden anhören müssen, und jedesmal stellte er sich aufs neue dieselbe Frage: Wann gab endlich einer von ihnen nach? »Warum bist du eigentlich allein gekommen?« fragte er Artus. »Hat dir Falluta keine Kampftruppe zur Seite gestellt? Wenigstens ein paar Kegelroboter hätte er dir mitgeben können.« »Auf meinen Wunsch hin stellte er mir vier Kampfmaschinen zur Verfügung«, entgegnete Artus. »Ich habe sie zunächst als Spähtrupp vorgeschickt. Später untersuchte ich die Säule mit ihnen zusammen. Daraufhin setzte sich der Transmitter in Gang und beförderte mich hierher. Die Maschinen wurden nicht mittransportiert.« »Merkwürdig«, sagte Ren Dhark. »Mich würde interessieren, nach welchen Gesichtspunkten der Säulentransmitter seine Auswahl trifft. Worauf hat man ihn programmiert?« »Vermutlich darauf, ausschließlich Lebewesen in diese Welt zu schicken«, schätzte Amy Stewart und schloß sich damit, ohne es zu wissen, Artus’ Theorie an. »Obwohl Artus ein Roboter ist, erkannte der Transmitter, daß er lebt, und deshalb…« Sie stockte. »Nein, ich muß mich irren. Falls das zutrifft, würde das ja bedeuten…«
Alle Blicke richteten sich auf Jimmy, der sich trotz seiner kurzen Beine mittlerweile an die Spitze der Gruppe gesetzt hatte. Es war fraglich, ob er dort vorn Amys Worte überhaupt mitbekommen hat‐ te, aber er hob beim Gehen seinen Kopf leicht an und stellte die Rute steil in die Höhe wie ein Hund, der gerade einen großen Sieg da‐ vongetragen hatte und stolz darauf war. * Je tiefer die Gruppe in die goldene Industrieanlage vordrang, um so weniger wurde miteinander geredet. Allgemeines Schweigen breitete sich aus. Sogar Shanton und Jimmy hatten ihren kleinen Zwist inzwischen beigelegt, zumindest vorerst. Voller Faszination widmeten sich Ren Dhark und seine kleine Schar der wechselhaften Umgebung. Breite Straßen führten an mächtigen Maschinen vorbei sowie an hohen, langgestreckten Gebäuden, in denen vermutlich weitere Maschinen aufgestellt waren. Maschinen, die schallgedämpft arbei‐ teten, andernfalls wäre der Lärm wohl unerträglich gewesen. Keiner aus Dharks Gruppe hatte auch nur den Hauch einer Ahnung, was in den Hallen hergestellt oder verarbeitet wurde beziehungsweise welche Bestimmung die jeweiligen Maschinen hatten – alles war viel zu fremdartig. Ren Dhark hatte den Eindruck, daß keine Maschine der anderen glich. Nicht einmal zwei gleichförmige Gebäude konnte er entde‐ cken. Nur eines hatten sie alle gemeinsam: den Goldschimmer, der auf ihnen lag – als hätte einst König Midas jedes Haus, jede Maschine berührt und auch vor den Straßen und Plätzen keinen Halt gemacht. Viele der seltsam anmutenden Maschinen waren miteinander verbunden, hoch oben durch riesige, dicke goldene Rohre. Einige der Rohre führten auch zu Gebäuden oder von Halle zu Halle. Wie groß die Anlage insgesamt war, ließ sich nicht wirklich fest‐ stellen. Artus versuchte zwar, ein paar Messungen anzustellen, doch
er kam zu keinem klaren Ergebnis. Irgend etwas manipulierte einen Teil seiner eingebauten Geräte, so daß bei jeder Messung ein anderes Phantasieergebnis herauskam. Der Commander merkte, wie er allmählich jedes Zeitgefühl verlor. Wie schnell bewegte sich die Gruppe eigentlich? Wie viele Kilometer hatte man schon zurückgelegt? Fünfzig? Hundert? Oder gerade mal einen? Seinen Begleitern erging es ähnlich. Und es wurde noch schlimmer. Plötzlich schien die Umgebung immer schneller vorbeizuhuschen. Trotzdem war keine nennenswerte Beschleunigung zu spüren, nicht einmal in Form eines verstärkten Luftzugs. Dhark blieb stehen – dennoch setzte er seinen Weg fort. Er sah, daß auch die anderen nicht mehr weitergingen, sich aber gemeinsam mit ihm fortbewegten. Selbst der Gesichtslose setzte keinen Fuß mehr vor den anderen; er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und wirkte wie erstarrt. Lediglich Jimmy trippelte gedankenverloren vor sich hin, obwohl das nicht mehr notwendig war. Aller Wahrscheinlichkeit nach befanden sie sich auf einem extrem hochentwickelten energetischen Transportband, einer technischen Errungenschaft, von der man auf der Erde bisher nur träumen konnte. Zwar sorgten dort in Großstädten rollende Bürgersteige für ein gewisses Maß an Bequemlichkeit (und für eine Steigerung ge‐ sundheitlicher Schäden wegen Bewegungsmangels), doch das war hiermit nicht einmal annähernd vergleichbar. Was Dhark verwunderte, war der Umstand, daß bei diesem Tempo niemand vom Transportband herunterfiel. Eventuell, so vermutete er, standen sie nicht auf dem Band, sondern darin – sprich: Man bewegte sich in einer Art unsichtbaren Röhre. Dhark war überzeugt, daß sie sich inzwischen viele hundert Kilo‐ meter vom ursprünglichen Standort der »Höllenpforte« entfernt hatten. Einen Beweis dafür gab es aufgrund fehlender Bezugspunkte allerdings nicht. Je stärker der Commander versuchte, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren, um so weniger schien er zu erkennen.
Sah er schon Hirngespinste, oder reckten sich in der Ferne tatsäch‐ lich goldene Flammenwände in die Höhe? Allmählich verlangsamte sich das Tempo. Die Flammen ver‐ schwanden ins Nichts – vielleicht hatte es sie nie gegeben. Of‐ fensichtlich neigte sich die seltsame Reise dem Ende zu. Inmitten der gigantischen Industrieanlage war ein schät‐ zungsweise fünfzig Kilometer durchmessender, runder freier Platz erkennbar. Die Fläche schimmerte so golden wie alles in dieser Welt. Das unbekannte Fortbewegungsmittel kam am Rande des Platzes ruckfrei zum Stillstand. Noch immer sagte keiner ein Wort. Jeder blickte voller Staunen auf die riesige Statue, die sich mitten auf dem freien Platz in die Höhe reckte: Der Goldene stand auf einem Sockel und hatte kein Gesicht. Sockel und Statue bestanden aus dem gleichen Material, maßen zu‐ sammen etwa acht Kilometer – und waren trotzdem wesentlich kleiner als die Anlagen ringsum. Der humanoide goldene Riese hatte seine Arme nach beiden Seiten ausgebreitet, so als wolle er ein »vorsintflutliches« Flugzeug imitie‐ ren. Aus Erfahrung wußten Dhark und seine Leute, daß die meisten jener Statuen über bewegliche Gliedmaßen verfügten, so daß sie ihre Position jederzeit verändern konnten. Ich werde jetzt gehen, Verdammte! Ihr werdet die gleiche Chance bekom‐ men wie all die anderen vor euch. Dan Riker zuckte innerlich zusammen. Obwohl er sich inzwischen daran gewöhnt haben müßte, erschrak er erneut vor der Gedankenstimme ihres goldenen, gesichtslosen Führers. Riker machte den Versuch, mit ihm zu kommunizieren, auf die gleiche Weise wie zuvor sein Freund Ren. Kannst du uns nicht vorwarnen, bevor du in unsere Köpfe eindringst? ›Die gleiche Chance‹… was soll das bedeuten? Und wen meinst du mit ›all den anderen‹? Eine Antwort erhielt er nicht. Der Gesichtslose drehte sich um und
begann, mit dem goldenen Boden zu verschmelzen… Bald war er nur noch eine breiige goldene Masse, die eins mit der Straße wurde. Der goldene Mensch war fort, spurlos verschwunden.
18. Der lebende Goldene war fort. Doch die mächtige Statue des Gol‐ denen, die unverkennbar Ähnlichkeit mit dem Goldenen auf Baby‐ lon hatte, war weiterhin vorhanden. Ren Dharks Gruppe machte sich umgehend daran, den Sockel nä‐ her zu untersuchen. Unterhalb des Sockels arbeiteten hyper‐ leistungsstarke Energieerzeuger, so wie auf Babylon. Verbarg sich etwa auch hier eine Halle mit Vitrinen im Sockelin‐ neren? Ein Zugang war nicht erkennbar, aber das war bei der Baby‐ lon‐Statue anfangs ebenfalls nicht der Fall gewesen. Erst mittels Be‐ rührung einer unsichtbaren Kontaktfläche sowie per Gedankenbe‐ fehl hatte sich dort das riesige Portal öffnen lassen. Über einen Transmitter war man vom Eingang aus direkt in den mit Technik vollgestopften Kopf der Statue befördert worden. Für die Rückkehr in die Halle hatten A‐Gravlifte und Transmitterstraßen zur Verfü‐ gung gestanden. Im »Hier« war es offenbar nicht ganz so einfach, den Sockel zu be‐ treten. Nach einigem Herumrätseln und mehreren vergeblichen Versuchen, bei denen auch die mitgeführten Geräte eingesetzt wur‐ den, kam Dalon der Gedanke, die gleiche Methode wie am goldenen Schott anzuwenden. Artus ließ sich nicht lange bitten… … und Amy lauschte wie verzaubert seinem Gesang. Von ihr aus hätte das fremdartige Lied ewig dauern können. Es versetzte sie für wenige Augenblicke in eine Tagtraumwelt, in der sie am liebsten für immer geblieben wäre. Doch als die goldene Statue lautlos eine leichte Drehung vollzog und den Zugang zum Sockel freigab, kehrte sie notgedrungen wieder in die Realität zurück. Ren Dhark ging voran. Er erwartete, wie auf Babylon durch ein Transmitterfeld treten zu müssen, aber zu seiner Überraschung ge‐ langte er diesmal ohne lästige Umwege ins Sockelinnere.
Es war fast ein Dejà‐vu‐Erlebnis. So wie auf Babylon gab es auch hier drinnen eine große Halle mit Straßen, die an gewaltigen Plas‐ tikglasvitrinen vorüberführten. Auf Babylon hatte man in den Vit‐ rinen konservierte Außerirdische eingelagert: Tintenfischwesen, Riesenspinnen, Nogk, Amphis, Wiesel… Hier blieb Dhark und sei‐ nen Leuten der Anblick einer solchen Leichenhalle glücklicherweise erspart. Die Vitrinen enthielten keine toten Körper – sondern Klei‐ dungsstücke. Statt des blauen »Mysterious‐Lichts«, das in der Babylon‐Halle dominierte, schimmerte hier alles Gold in Gold. Lediglich die in den Vitrinen ausgestellte Bekleidung war davon ausgenommen. Es waren viele hundert Kleidungsstücke, sortiert nach Zuge‐ hörigkeit des jeweiligen Volkes. Die meisten davon konnte Dhark nicht zuordnen, sie gehörten unbekannten Spezies. Einige waren so winzig, daß sie nicht einmal terranischen Mäusen gepaßt hätten, andere wiederum hätte man als Zirkuszelte verwenden können. Überwiegend handelte es sich um Uniformen verschiedenster Art. Manche wirkten, gemessen an menschlichen Maßstäben, etwas skurril: Hosen für Dreibeiner, Jacken mit nur einem Ärmel auf dem Rücken, Schutzwesten für Träger mit immens breiten Schultern, aber superschmalen Hüften… Auch Helme waren in den Vitrinen zu besichtigen, passend zu al‐ len möglichen und unmöglichen Kopfgrößen und ‐formen. Verein‐ zelt waren sie mit Aussparungen für Hörner, Wülste und andere Auswüchse versehen. Für die meisten Uniformen hatte man überwiegend schlichte, ein‐ heitliche Farben gewählt. Ausnahmen bestätigten allerdings die Re‐ gel. Eine Kollektion überaus farbenfroher Kombinationen stach aus der Masse heraus. »Der Größe nach dürften sie einst Utaren gehört haben«, vermutete Dan Riker. »Einst?« wiederholte Shanton. »Woher wollen Sie wissen, daß die Träger nicht mehr am Leben sind?«
»Weil sie ihre Klamotten ganz bestimmt nicht freiwillig raus‐ gerückt hätten«, antwortete Jimmy an Rikers Stelle. »Ich fürchte, Ihr Hund hat recht«, sagte Riker. »Die ehemaligen Besitzer all dieser Kleidungsstücke liegen wahrscheinlich konser‐ viert in Vitrinen. Vielleicht stoßen wir ja noch auf sie. Oder wir haben sie bereits gesehen: im Sockel des Goldenen auf Babylon.« Tschu Hin schüttelte sich. »Wie kann man nur Leichen sammeln wie Briefmarken? Selbst wissenschaftliches Interesse rechtfertigt es nicht, fühlende und denkende Lebewesen zu töten.« »Vielleicht waren sie ja schon tot, bevor sie zu Sammelobjekten wurden«, erwiderte Ren Dhark. Auf ihrem weiteren Weg durch die Halle stieß die Gruppe auf Kombinationen der Meeg und sonstige Kleidungsstücke der Nogk. Auch andere den Terranern bekannte Völker waren vertreten, unter anderem die Tel und die Rateken. In einer auffallend großen Vitrine war ein thronähnliches Gebilde ausgestellt. Über der Lehne hing eine Kombi mit alptraumhaftem Schnitt. Teile eines mit Dornen versehenen Chitinpanzers ergänzten das Ensemble. Amy entdeckte die Sammelstücke als erste und konnte sie auf Anhieb zuordnen – obwohl sie die G’Loorn bisher nur aus Dharks Erzählungen kannte. Ren erschauerte innerlich, als er an seine Begegnung mit den see‐ lenfressenden G’Loorn und ihre fortwährend knackenden, klicken‐ den Chitinkiefer zurückdachte. Die dreieckigen Schädel jener ins Riesenhafte mutierten Hybriden aus Pflanze und Insekt waren mit einem Sehband für Rundumsicht ausgestattet. Zudem verfügten sie über Fangarme, Greifklauen, Chitinkrallen an den Hinterbeinen und scharfe Innendornen an den Schenkeln. Ihr langgestreckter, mit Chi‐ tin gepanzerter Hinterleib wies verkümmerte Flügelrudimente auf, die darauf schließen ließen, daß ihre Vorfahren möglicherweise flugfähig gewesen waren. Nach gefährlichen Experimenten an einem Schwarzen Loch, vor einer Million Jahren durchgeführt in ihrem Heimatsystem, waren
fünftausend G’Loorn in die Zukunft geschleudert worden, wo sie zu wahren Bestien mutiert waren. Da sie ihren ursprünglichen Hei‐ matplaneten Skythos in der Zukunft unbewohnt, ohne jegliche Spu‐ ren ihrer einstigen Zivilisation vorgefunden hatten, hatten sie rück‐ sichtslos versucht, sich mittels weiterer unverantwortlicher Eingriffe in den natürlichen Ablauf der Dinge wieder in der Zeit zurückzu‐ versetzen. Eintausend G’Loorn hatten sich damals von den übrigen Zeitrei‐ senden abgespaltet und eine eigene Fraktion gebildet: die Skythen. Sie hatten weitere Zeitexperimente strikt abgelehnt. Letztlich waren sowohl die Skythen als auch die G’Loorn als Folge der Versuche aus dem Weltall gerissen worden. Sie hatten sich mit unbekanntem Ziel »verflüchtigt«. Ob sie in ihre eigene Zeit zurück‐ gekehrt waren, auf ihren Heimatplaneten Skythos, war den Terra‐ nern nicht bekannt. Wahrscheinlicher war, daß sie nicht mehr lebten. Beim Anblick des thronähnlichen Gebildes kam Dhark der Sky‐ then‐Anführer Opac in den Sinn. Sie beide waren auf Opacs Raum‐ schiff zusammengetroffen, und der Skythe hatte recht au‐ ßergewöhnliche Speicherkristalle bei sich gehabt… * Wenig später versammelte sich die Gruppe vor einer Reihe von Vitrinen, in denen man W‐Anzüge, die Folienanzüge der Worgun, betrachten konnte. Die mittlere der Vitrinen erweckte sofort Arc Doorns Interesse, allerdings nicht wegen des Inhalts… »Seht ihr hier die Erhebungen im Scheibenrahmen?« sagte er und streckte seine Hand danach aus. »Das könnten Knöpfe oder Sensor‐ schalter oder etwas ähnliches sein.« »Dann sollten Sie besser die Finger davon…« setzte Dhark zu einer Erwiderung an – doch es war schon zu spät. Doorn in seinem Forscherdrang berührte voller Wißbegierde die Erhebungen, die äußerlich wie dezente Verzierungen wirkten.
Im nächsten Augenblick wurde die komplette Gruppe von einem Transmitterfeld erfaßt und verschwand. * Mittlerweile kannte ich die Menschen seit vielen Jahren – ohne sie doch wirklich zu kennen. Manche ihrer Handlungen versetzten mich immer wieder aufs neue ins Staunen. Nichts gegen ein gewisses Maß an Spontaneität; im richtigen Moment zur richtigen Zeit konnte so etwas lebensrettend sein. Aber wenn jemand an einem fremden Ort ohne nachzudenken und ohne entsprechende Sicherheitsmaßnah‐ men zu ergreifen eine fremde Technik in Gang setzte und damit das Risiko einging, sich selbst und jeden in seiner Nähe in die Luft zu sprengen, dann konnte ich über so viel Gedankenlosigkeit nur noch staunen. Andererseits war Arc Doorn ja gar kein Mensch, wie sich in‐ zwischen herausgestellt hatte. Er war ein Worgun, der Angehörige eines Volkes, das einst mit Planeten und Sonnen gespielt hatte wie mit Schachfiguren und das beinahe die gesamte Milchstraße ver‐ nichtet hätte, ein Volk, für das die Begriffe »Leichtsinn« und »Über‐ heblichkeit« vermutlich erfunden worden waren. Das entschuldigte Doorns übermütige Handlungsweise zwar nicht, machte sie mir aber ein bißchen verständlicher. Dalon war sehr viel älter als er. Aber »sehr viel älter« bedeutete nicht zwangsläufig auch »sehr viel weiser«. Offenbar wußte er nicht so recht, was er von mir halten sollte. Künstliche Intelligenz war ihm zwar ein Begriff, doch vermutlich fiel es ihm schwer, mich als wirk‐ liches Lebewesen zu akzeptieren. Oder er zog Vergleiche zu der KI, die ihm auf der alptraumhaften »Schrottplatzwelt« zweihundert Jahre lang böse zugesetzt hatte. Augenblicklich genoß Dalon gemeinsam mit den Menschen die faszinierende Aussicht, die ihnen unser neuer Aufenthaltsort bot. Das Transmitterfeld hatte uns glücklicherweise nicht in ein goldenes
»Höllenfeuer« geworfen, sondern lediglich mehrere Kilometer in die Höhe befördert, in den Kopf der goldenen Statue. Alle waren er‐ leichtert, daß nichts Schlimmeres passiert war. Dhark hatte darauf verzichtet, Doorn zurechtzustauchen. Statt dem zum Menschen ge‐ wordenen Worgun eine saftige Standpauke zu halten, stand er friedlich neben ihm, und beide schauten gemeinsam auf die mäch‐ tige Industrieanlage hinab. Sagte ich: hinab? Das traf nur zum Teil zu. Die meisten Gi‐ gantaggregate und Gebäude ringsum waren wesentlich höher als die gesichtslose Statue. Jimmy stubste mich mit seiner Metallnase an und fragte mich treuherzig: »Hebst du mich bitte hoch?« Der Kopf des Goldenen war aus einem Spezialmaterial gefertigt, durch das man ringsum hindurchsehen konnte – nur von innen nach außen, nicht umgekehrt! Dennoch hatte Jimmy scheinbar erhebliche Sichtprobleme. Kaum hatte er sich eine gute Aussichtsposition ge‐ sucht, stellte sich jemand gedankenlos vor ihn, so daß der kurzbei‐ nige Scotchterrier nichts mehr sehen konnte, abgesehen von mit Uniformhosen bekleideten Waden und Oberschenkeln. Den Kopf anzuheben nutzte ihm auch nicht viel, weil sein Blick dann direkt auf… na ja, lassen wir das. Normalerweise hätte Shanton ihn fürsorglich auf den Arm ge‐ nommen, aber da sich die beiden mal wieder zerstritten hatten, mußte wohl ich einspringen. Ich beugte mich nach vorn und streckte die Metallgreifer nach Jimmy aus. Shanton war schneller. Er griff zu und hob seinen kleinen Ge‐ fährten sanft hoch. »Komm mit nach vorn, mein Freund, sonst verpaßt du was«, sagte er liebevoll zu ihm, und beide begaben sich an eine freie Stelle. Mein Freund! Jimmy stieß einen glücklichen Hundelaut aus, als er das hörte. Ich fragte mich, ob er sich absichtlich ein wenig dusselig angestellt hatte, um Shantons Aufmerksamkeit zu erringen. Immer‐ hin waren wir nur ein paar Leutchen, und es gab massig freien Platz
zum Hinausgucken, trotz der vielen technischen Geräte, die sich zu allen Seiten hin erstreckten. Uns blieb nur kurze Zeit, um uns an der Aussicht zu erfreuen. Kaum hatten wir uns innerlich ein wenig entspannt, tauchte der goldene Mensch wieder in unserer Mitte auf. Sein Erscheinen ge‐ staltete er genauso effektvoll wie zuvor seinen Abgang. Er floß aus dem Boden heraus und nahm seine männliche, gesichtslose Gestalt an. Ich mochte ihn nicht. Wir waren ein zusammengewürfelter bunter Haufen, dennoch warf er uns alle in denselben Topf, indem er uns nicht wie Individuen behandelte, sondern pauschal als »Verdamm‐ te« bezeichnete. Na ja, das war immer noch besser als »Unreine«, wie Dalon es prophezeit hatte. Dafür, daß der Goldene ein richtiges Lebewesen war, gab es kei‐ nerlei Anzeichen. Meine Vermutung ging in eine ganz andere Rich‐ tung: Das, was Dalon angstvoll als »goldene Hölle« bezeichnete und was der Gesichtslose »das Hier« nannte, wurde von einer unbe‐ kannten Macht gesteuert – möglicherweise von einem gigantischen Rechner, bei dem es sich nicht zwangsläufig um eine Künstliche Intelligenz handeln mußte (was aber auch nicht ganz auszuschließen war). Der goldene Mensch war nichts weiter als ein Werkzeug, das Symbol jener unbekannten Macht. Ich beglückwünsche euch, Verdammte! sagte er. Ich sehe zwar weiterhin keine Chance für euch, aus dem Hier zu entfliehen, aber immerhin habt ihr es bis zu diesem Ort geschafft. So weit sind bisher nur zwei gekommen. Die übrigen scheiterten entweder schon an der goldenen Pforte, oder sie kamen über den Vitrinensaal nicht hinaus. Es ist halt gefährlich, im Saal Schalter zu berühren, deren Funktion man nicht kennt. Die meisten Schaltungen führen nach ihrer Aktivierung unmittelbar zum Tod, auf unterschiedlichste Weise. Dank eurem Begleiter, dem zum Menschen geworden Worgun, blieb euch ein solches Schicksal erspart. Er hatte das richtige Gespür. »Du kannst Arcdoorn als Worgun erkennen?« wunderte sich Da‐ lon. »Das ist im Grunde genommen unmöglich, da sein Gehirn auf‐
grund einer schweren Verletzung keine Wellen mehr ausstrahlt, die auf seine wahre Herkunft hinweisen.« Wir alle vernahmen Dalons Stimme, doch genau wie bei Dhark und Riker stellte sich der goldene Mensch »taub« – oder er konnte uns tatsächlich nicht wahrnehmen. Nichtsdestotrotz machte Ren Dhark einen weiteren Kommu‐ nikationsversuch . »Du sagtest, zwei hätten es schon vor uns bis hierher geschafft. Die beiden waren Margun und Sola, nicht wahr?« Offenbar hatte er »den richtigen Schalter« betätigt. Der Gesichts‐ lose war so verblüfft, daß seine Antwort wie aus dem Blaster ge‐ schossen kam. Ihr kennt Margun und Sola? Darüber wurde ich vom Es nicht informiert. »Vermutlich hat ›Es‹ nichts davon gewußt«, warf ich ein. »Wer oder was ist ›Es‹ eigentlich? Ein Großrechner? Eine höhere Macht? Seit wann dienst du ›Es‹? Und wie lautet dein Name?« Die ersten Fragen überhörte der Goldene geflissentlich. Lediglich auf die letzte bekam ich eine Antwort. Ich trage keinen Namen – ich bin, der ich bin. Das erinnerte mich stark an ein geflügeltes Wort, das ich in der Zeit nach meiner Erweckung des öfteren gebraucht hatte: »Ich bin ich.« Damit hatte ich mich allerdings nicht begnügt. (Wer heißt schon gern Ich?) Artus war ein edler Name, auf den ich sehr stolz war. Ich fand, daß auch der Goldene einen Namen brauchte, irgendwie mußten wir ihn schließlich anreden. »Offenbar bist du nur ein Abbild der Kontrollinstanz, dieses ›Es‹… ein Avatar. Hast du etwas dagegen, wenn wir dich Avatar nennen?« fragte ich ihn. Und wenn ich etwas dagegen hätte? stellte er mir die Gegenfrage. »Würden wir dich dennoch so nennen«, kürzte Dhark das Frage‐ und Antwortspiel rigoros ab. »Und nun sag uns endlich, wer ›Es‹ ist, wo genau sich das ›Hier‹ befindet, und wie wir von hier wegkom‐ men.«
So wie Margun und Sola, erwiderte Avatar. Sie haben alle Kriterien erfüllt, um das Hier zu verlassen. Daß ihr das ebenfalls schafft, bezweifle ich. Ihr Menschen seid dazu wohl kaum fähig, und die beiden Worgun in eurer Mitte werden euch ganz sicher nicht den Weg zurück ebnen; sie verfügen nicht einmal annähernd über den Verstand dieser beiden genialen Wissen‐ schaftler. Warum seid ihr überhaupt ins Hier eingedrungen? »Ach, das weißt du nicht?« mischte sich Arc Doorn in das Gedan‐ kengespräch ein; er mochte es gar nicht, wenn man bezweifelte, daß er über genügend Verstand verfügte, um eine schwierige Aufgabe zu lösen. »Du erscheinst und verschwindest so spektakulär wie ein Zauberkünstler und führst dich auf, als wärst du allwissend – und dann müssen wir dir erklären, was wir hier wollen?« »Fang keinen Streit mit ihm an, Arc«, riet ihm Chris Shanton. »Avatar ist garantiert stärker als du, schließlich befindet er sich in seinem gewohnten Terrain.« »Auf einen Hinweis von Margun und Sola hin folgten wir Fesons uralten Spuren«, beantwortete Dhark Avatars Frage kurz und knapp. »Unsere Sonne stirbt, und wir haben nicht das Wissen, um sie zu retten.« Feson, erinnerte sich der Gesichtslose. Auch so ein Verdammter, der hier sein Leben ließ… Avatar »redete« sich jetzt richtig in Fahrt – es war mit einer länge‐ ren »Ansprache« zu rechnen. Ich setzte mich hin, lehnte mich mit dem Rücken an eine Maschinenverkleidung und hörte ihm zu. Auch die anderen lauschten gespannt seinen Worten. Ihr sucht nach Wissen? Dann seid ihr genau am richtigen Ort des Uni‐ versums. Im Hier ist alles nur denkbare vergangene, gegenwärtige und zukünftige Wissen vorhanden. Es bleibt nichts verborgen, was in der Schöpfung geschieht, und einen Teil seines enormen Wissens hat Es an mich weitergegeben. Ich kenne alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Worgun, selbst die umgewandelten. Darum kann ich euch versichern: Die beiden Worgun unter euch sind nicht qualifiziert genug, um die richtigen Fragen
zu stellen, die euch aus dem Hier hinausführen. Und von mir erhaltet ihr keine Hilfestellung, nicht einmal einen kleinen Hinweis. Auch zur Rettung der sterbenden Sonne werde ich nichts beitragen. Es hat beschlossen, niemals wieder einem Volk aktiv zu helfen, weil dieses Volk dadurch träge wird. Der Fehler mit den Worgun wirkt noch bis heute nach. Mehr kann ich euch dazu nicht sagen, ich bin nicht befugt, Auskünfte zu geben. Obwohl meine Begegnung mit dem Worgunforscher Feson schon über eine halbe Million Jahre zurückliegt, erinnere ich mich noch daran, als habe sie eben erst stattgefunden. Ich, Avatar, habe das ewige Gedächtnis! Der Name gefällt mir, ich werde ihn übernehmen. Feson kam ebenfalls ins Hier, um neues Wissen zu suchen, weil er zu bequem war, um selbst danach zu forschen… Jetzt wurde es echt interessant. Avatars »Ansprache« wandelte sich zu einer dramatischen Geschichte. Um mich herum schien die Um‐ gebung zu verschwimmen. Fesons Erlebnisse vor 500.000 Jahren drangen in Ton und Bild in meinen Kopf, liefen wie eine Holoauf‐ nahme vor meinem inneren Auge ab. Und plötzlich schien ich persönlich mit dabei zu sein, nicht als ak‐ tiver Mitwirkender, sondern als stiller, unsichtbarer Beobachter… * Werden wir dieser schrecklichen Falle jemals entkommen? Diese Frage stellte sich Feson jeden Tag aufs neue. Jeden Tag… ohne seine Meßinstrumente hätte er nicht einmal ge‐ wußt, wann Tag oder Nacht war. Im »Hier« wurde es niemals dun‐ kel, das goldschimmernde Licht veränderte sich nie. Feson vermu‐ tete, daß das mit den goldenen Flammen zusammenhing, die gleichzeitig dafür sorgten, daß die Temperatur konstant blieb. Warum hatte er nur nicht auf die alte Legende gehört? Darin wurde ausdrücklich davor gewarnt, der Spur der Geheimnisvollen zu folgen und durch die Pforte zur Hölle zu gehen. Feson hatte die
Mahner verspottet. Auch den ewig gestrigen Zweiflern, die die Existenz der Balduren nach wie vor hartnäckig bestritten, hatte er kein Gehör geschenkt. Die Geheimnisvollen existierten! Osark hatte sie einst gesehen, hatte mit ihnen gesprochen – und sie hatten ihn freundlich empfangen und bewirtet. * Von einer Hölle war in seinen Schilderungen nie die Rede gewesen. Dieses Gerücht war erst sehr viel später aufgekom‐ men… Und jetzt steckte Feson mitten in ihr drin, in der legendären gol‐ denen Hölle. Er konnte sie nicht verlassen – er konnte aber auch nicht bleiben und im Hier weiterleben, weil es nirgendwo Nah‐ rungsmittel gab, nicht einmal Trinkwasser. Der namenlose Goldene, der zeitweise aus dem Boden auftauchte, um zu kontrollieren, wer von der Schiffsbesatzung noch am Leben war, benötigte offenbar keine Nahrung für seine Existenz. Auch »Es« schien kein Lebewesen zu sein. Feson kannte »Es« nur aus den Andeutungen des Goldenen, der ihm nähere Informationen vorenthielt. War »Es« ein allmächtiger, grausamer Gott, der das Hier erschaffen hatte, um sich an den Qua‐ len derjenigen, die hierherkamen, um ihr Wissen zu erweitern, zu weiden? Oder war »Es« nur eine seelenlose Maschine, ein giganti‐ scher Rechner, programmiert aufs Foltern und Töten? Und wer hatte die Industrieanlage errichtet? »Es«? Die Balduren? Als vor einer halben Million Jahren der Raumschiffskommandant Osark nach Epoy zurückgekehrt war, unmittelbar nach seiner Be‐ gegnung mit den Geheimnisvollen, hatte ihm niemand sein Aben‐ teuer geglaubt. Erst zweihundert Jahre nach seinem Tod hatte man Aufzeichnungen gefunden, die bewiesen, daß er wirklich bei den Balduren gewesen war. Seitdem machten sich immer wieder Wor‐ gunforscher auf die Suche nach den Geheimnisvollen, in der Hoff‐ nung, deren enormes Wissen mit ihnen teilen zu dürfen. Und einige *
Siehe Drakhon‐Zyklus Band 22, »Die Sage der Goldenen«
von ihnen hatten Erfolg gehabt. Die Ringraumer, mit denen die Worgun das Universum durchkreuzten, waren eine Hinterlassen‐ schaft des geheimnisvollen goldenen Volkes. Feson war einer jener unermüdlichen Forscher. Schon oft war er den vielfältigen Fährten der Balduren gefolgt, doch diesmal hatte er dafür sogar seine Heimatgalaxis Orn verlassen müssen. Die Inschrift an einem Tempel hatte ihn zu einem in der Galaxis Nal gelegenen fremden Planeten geführt – und weiter bis in diese goldene Hölle. War sein Weg nun zu Ende? Der namenlose Goldene hatte ihm je‐ denfalls seinen baldigen Tod prophezeit. In seiner großen Gnade läßt Es dich und deine Begleiter wissend sterben, hatte er ihm bei seinem letzten Auftauchen signalisiert. Die Ver‐ dammten, die bereits in der Vorhalle starben, weil sie die goldene Pforte nicht öffnen konnten, hatten dieses Privileg nicht. Sie betraten nie das Hier, sahen nie die goldene Statue, und sie hatten nie die Ehre, mir zu begegnen, dem unsterblichen Boten des Es. Mittlerweile waren von Fesons Kameraden nicht mehr viele übrig. Bestenfalls eine Handvoll Forscherkollegen und wissenschaftliche Mitarbeiter waren derzeit noch in der kolossalen goldenen Indust‐ rieanlage unterwegs, unermüdlich nach einem Ausgang oder Nah‐ rung suchend, denn die mitgeführten Reserven waren längst auf‐ gebraucht. Die meisten Besatzungsmitglieder des Raumschiffs, mit dem Feson von Orn aus in diesen Teil der Milchstraße gereist war, waren inzwischen tot, gestorben an Hunger, Durst und totaler Er‐ schöpfung. Auch seine körperlichen Kräfte zehrten sich allmählich auf… Nein, Fesons Begleiter waren nicht wissend gestorben, wie der Namenlose es behauptet hatte. Zwar hatten sie vor ihrem Ableben von der Existenz dieses Ortes erfahren, dem »Hier« beziehungsweise der goldenen Hölle, doch das große Wissen, das sie hatten erlangen wollen, war ihnen bis zuletzt verwehrt geblieben. »Es« hatte es für sich behalten. Statt euch an die Fersen der Geheimnisvollen zu heften, hättet ihr lieber
selbst forschen sollen, hatte der Namenlose einige Expeditionsmitg‐ lieder noch im Angesicht ihres nahenden Todes verhöhnt. Ohne ein gehöriges Maß an Eigeninitiative kann sich ein Volk nicht weiterentwickeln. Ähnlich hatten sich die Balduren damals gegenüber Osark ge‐ äußert, wie Feson aus seinen Unterlagen wußte. Sie hatten sich dar‐ über gegrämt, daß die Worgun noch nicht einmal den Hyperantrieb richtig beherrschten, während sie – die Geheimnisvollen selbst – bereits in der Lage waren, ganze Planeten zu Raumschiffen umzu‐ bauen. Seither war unendlich viel Zeit vergangen. Die Worgun hatten ihre Technik inzwischen weiterentwickelt. Allerdings verdankten sie einen nicht unerheblichen Teil ihres Fortschritts den un‐ terschiedlichsten Funden, auf die sie im Verlauf ihrer Suche nach den Balduren immer mal wieder gestoßen waren. Dadurch hatten sie ihre Entwicklung schubweise vorangetrieben – quälend langsam aller‐ dings, verglichen mit dem Tempo, das die Geheimnisvollen offenbar vorlegten. Hatten die Balduren die goldene Hölle erschaffen? Als Strafe dafür, daß die Worgun – und vielleicht auch andere von ihnen geförderte Völker – in den vergangenen Jahrhunderttausenden eigene For‐ schungen vernachlässigt und sich statt dessen immer stärker auf die Ausbeutung der Fundstücke konzentriert hatten? Feson konnte sich das nur schwerlich vorstellen. Niemand er‐ richtete eine derart gewaltige Anlage, um Unverbesserliche (die Le‐ gende sprach von »Unreinen«) in ihre Schranken zu verweisen. Das Ganze mußte einem bedeutsameren Zweck dienen. Der qualvolle Tod ungebetener Eindringlinge war vermutlich nur ein erwünschter »Nebeneffekt«. Schon oft hatte Feson mit dem Gedanken gespielt, Hand an sich selbst zu legen, so wie einige seiner Kameraden es bereits getan hat‐ ten. Die Hoffnung, doch noch einen Weg ins Freie zu finden, hielt ihn aufrecht. Zwar behauptete der Namenlose, es gäbe keinen Ausgang, aber das konnte unmöglich zutreffen. Wäre es tatsächlich noch nie‐
mandem gelungen, das »Hier« zu verlassen, hätte die Legende von der goldenen Hölle niemals die Runde unter den Worgun machen können. Es mußte daher jemanden geben, der von hier entkommen war. Und wenn der es geschafft hatte, schaffte Feson es erst recht, dessen war er sich ganz sicher. * Feson war so sehr in Gedanken versunken, daß er beinahe über einen Toten gestolpert wäre, der am Straßenrand lag, zu Füßen eines mächtigen Aggregats. Er erkannte ihn. Ennat hatte zu seinen Labor‐ assistenten gehört. Vorgestern war er mit dem Chemiker Schee auf‐ gebrochen, um irgendwo in der riesigen Industrieanlage nach Eß‐ und Trinkbarem zu suchen wie schon so oft. Seither war Feson ihnen nicht mehr über den Weg gelaufen. Nun lag Ennat leblos vor ihm, aber nicht verhungert und verdurs‐ tet – jemand hatte ihn mit einem fremdartigen, metallenen Gegens‐ tand, der ganz in der Nähe am Boden lag, erschlagen und übel zu‐ gerichtet! Feson hatte keinen Zweifel daran, daß Schee seinen Kollegen auf dem Gewissen hatte. Die beiden hatten sich noch nie sonderlich gemocht und sich an Bord ständig gestritten. Schee verbarg sich hinter dem Aggregat. Als er Feson erblickte, zeigte er sich ihm. Er hatte die Gestalt eines Kerib angenommen, eines zweibeinigen Primitivwesens, das auf Epoy am Rande fließender Gewässer lebte. Schee taumelte, konnte sich kaum noch aufrecht halten. »Was hast du getan?« fragte Feson ihn mit schwacher Stimme. »Ich habe ihn erlöst«, antwortete Schee leise. »Soll ich auch dich von deinem Leid befreien? Bestimmt sind wir die beiden letzten Überlebenden. Laß mich nur machen, du wirst es mir danken.« »Wenn du auch mich erschlägst, wer erlöst dann hinterher dich?« fragte Feson ihn.
Der Expeditionsleiter machte keine Anstalten wegzulaufen. Schee war viel zu schwach, um ihm etwas anzutun. Zwar hatte der Che‐ miker eine Handfeuerwaffe bei sich, doch in dieser Welt nutzte ihm das nichts, im »Hier« funktionierten keine Waffen, gleich welcher Art. Noch bevor Schee Feson erreicht hatte, brach er vor Erschöpfung zusammen. Hunger und Durst hatten sein Gehirn geschädigt. Wahrscheinlich war ihm gar nicht richtig bewußt, daß er Ennat umgebracht hatte. Schee wurde immer schwächer. Nur noch wenige Minuten trenn‐ ten ihn vom Übergang in jene Welt, aus der es endgültig keine Rückkehr ins Diesseits mehr gab. Dann würde er aus der goldenen Hölle entkommen, daran konnten ihn selbst der Namenlose und »Es« nicht hindern. »Geh nicht in den Vitrinensaal«, flüsterte Schee mit bebenden Lippen. »Der Anblick ist zu schrecklich.« Es waren seine letzten Worte. Feson mußte konzentriert hinhören, um ihn zu verstehen. Als der Chemiker seine Keribgestalt verlor und sein eigenes, amöbenhaftes Aussehen annahm, wußte der Expediti‐ onsleiter, daß Schee jetzt frei war… * Den Vitrinensaal hatte Feson schon seit mehreren Tagen nicht mehr betreten. Der Zugang stand weit offen, doch dort starb es sich auch nicht leichter als außerhalb des Statuensockels. Was hatte Schee dort Schreckliches gesehen? Trotz der Warnung machte sich Feson auf den Weg zur Statue. Er hatte nichts zu verlieren außer seinem Leben, und an dem hing er schon seit geraumer Weile nicht mehr. Unterwegs kam er an einer der großen goldenen Flammenwände vorüber, die sich in sporadischen Abständen übers gesamte Gelände verteilten und eine angenehme Wärme ausstrahlten.
Was hinter den Flammen lag, hatte er nie herausfinden können. Sobald man um sie herumging, verlöschten sie – und kaum hatte man sich ein Stück von ihnen entfernt, flackerten sie wieder auf. »Man kann sie nur von einer Seite her durchschreiten«, hatte sich vor zwei Tagen Fesons Kollege Nedil an eine Einzelheit aus der alten Legende zu erinnern geglaubt. »Eine Umkehr ist danach nicht mehr möglich. Vielleicht ist ja unsere Seite die richtige.« Noch bevor Feson ihn daran hatte hindern können, war Nedil in die Flammen hineingegangen. Sekundenbruchteile später hatte ein entsetzlicher Todesschrei das »Hier« durchdrungen. Für das Biß‐ chen, das von Nedil übriggeblieben war, hätte es sich nicht einmal mehr gelohnt, ein Grab auszuheben… Bald darauf traf Feson vor der goldenen Statue ein. Er begab sich nach drinnen. * Der Namenlose löste sich im Sockelinneren aus dem Boden, wie er es schon unzählige Male getan hatte. Feson lehnte zusammengesunken an einer der Vitrinen und be‐ achtete ihn kaum. Du hast sehr lange durchgehalten, setzte sich der Goldene gedanklich mit ihm in Verbindung. Aber allmählich geht es auch mit dir zu Ende, finde dich damit ab. »Das habe ich schon längst«, entgegnete Feson schwach. »Ich fürchte den Tod nicht; er hilft mir, von diesem grausamen Ort weg‐ zukommen.« Niemand hat deine Begleiter und dich ins Hier gelockt, erwiderte sein Gesprächspartner emotionslos. Ihr seid aus freien Stücken hierherge‐ kommen, obwohl ihr gewußt habt, was euch erwartet. Die Legende von der goldenen Hölle war eurem Volk wohlbekannt. Du hättest sie nicht leichtfer‐ tig ignorieren sollen. »Ich habe sie nicht geglaubt«, krächzte Feson heiser.
Das verstehe ich nicht. Du glaubst unerschütterlich an die Existenz der Geheimnisvollen und folgst dein Leben lang hartnäckig ihren Spuren – lehnst es aber ab, ebenfalls an die damit verbundene Legende zu glauben? »Für den Wahrheitsgehalt der Legende gibt es nicht den geringsten Beweis – für die Existenz der Balduren schon: Osarks Aufzeichnun‐ gen.« Ist dir jemals in den Sinn gekommen, daß es sich dabei um eine Fälschung handeln könnte? Schließlich ist das alles 500 000 Jahre her. Es lebt keiner mehr, der Osark persönlich gekannt hat und somit die Echtheit der Ton‐ und Bildaufnahmen von den Balduren bestätigen könnte. »Jetzt reicht es mir!« Feson nahm all seine Kraft zusammen und richtete sich auf. »Die Balduren existieren! Wieso weißt du über‐ haupt so gut über meine Mission Bescheid?« Ich erwähnte bereits, daß im Hier unsagbar viel Wissen vorhanden ist, sagte der Namenlose. Im übrigen hast du bei unserer letzten Begegnung von den Geheimnisvollen gesprochen – das liegt gerade mal sieben mittlere Zeiteinheiten zurück. Aber daran erinnerst du dich sicherlich nicht mehr, oder? Du hast den Saal betreten, in eine der Vitrinen geschaut und bist ohnmächtig zusammengebrochen. Nach dem Aufwachen plagte dich heftiges Fieber. Ich hätte nicht gedacht, daß du diesen Anfall überstehst, doch dein Überlebenswille ist unheimlich stark. Im Fieberwahn hast du über Osark, die Balduren und die Legende von der goldenen Hölle phantasiert. Wahrhaftig keine sehr schmeichelhafte Bezeichnung für das Hier, doch das macht mir nichts aus. »An den Fieberanfall erinnere ich mich, nicht aber an deine An‐ wesenheit«, bekannte Feson. »Da wir gerade von den Balduren re‐ den: Haben sie dies alles hier erschaffen? Verbergen sich hinter ›Es‹ die Geheimnisvollen?« Ich bin nicht befugt, deine Fragen zu beantworten, tut mir leid. Es sieht es ohnehin nicht gern, wenn ich mich zu oft mit den Todeskandidaten abgebe. Deshalb lasse ich dich in deiner letzten Stunde besser allein. »Und sobald ich mein Leben ausgehaucht habe, kommst du wieder und entkleidest mich, richtig?« Feson deutete auf die Vitrine, an der
er gelehnt hatte. »Und dann hängst du meinen Folienanzug dort hinein.« Die große Vitrine beinhaltete mehrere W‐Anzüge, die bei der An‐ kunft der Raumschiffsbesatzung noch nicht dort gehangen hatten. Ach, das hat dich so sehr erschreckt, daß du bewußtlos wurdest, ant‐ wortete der Namenlose. Du vermutest zu Recht, daß dies die Anzüge deiner verstorbenen Begleiter sind, allerdings noch nicht alle, es kommen demnächst weitere hinzu. Selbstverständlich werden wir auch deine Be‐ kleidung reinigen, konservieren und in einer Vitrine aufbewahren – wie wir es mit den Kleidungsstücken all der anderen getan haben, die für begrenzte Zeit im Hier zu Gast waren. Was habt ihr bei eurem Eintreffen denn ge‐ glaubt, woher die vielen Kleidungsstücke stammen? Zwar beziehe ich mi‐ tunter auch Artefakte von woandersher, aber ihr Verdammten, ihr Unrei‐ nen, die ihr eure Neugier nicht unter Kontrolle halten konntet, seid meine hauptsächlichen Lieferanten. »Was geschah mit den Körpern meiner Begleiter?« Wir taten mit ihnen das gleiche wie mit den Körpern derer, die vor euch hier waren. Nun muß ich aber wirklich gehen. Feson wollte noch etwas sagen, doch der Namenlose verschmolz wieder mit dem goldenen Fußboden – ein Vorgang, den der ster‐ bende Worgunforscher zum letztenmal zu sehen bekam. Stark geschwächt setzte sich Feson hin. Mit zittriger Hand langte er in eine seiner Anzugtaschen und zog ein tragbares Aufzeichnungs‐ gerät hervor. Auf einem Kristall war sein persönliches Tagebuch abgespeichert. Seit seinem Aufbruch in die Galaxis Nal hatte er in unregelmäßigen Abständen seine Erlebnisse und Empfindungen aufgezeichnet. Nach der Ankunft im »Hier« hatte er diese Aufgabe jedoch sträflich ver‐ nachlässigt, weshalb der Kristall so gut wie keine Informationen über die goldene Hölle enthielt. Das wollte Feson jetzt nachholen. Andere Forscher mußten vor dem Betreten dieses Ortes unbedingt gewarnt werden… Leider brachte Feson keinen Ton mehr heraus. Seine Lebens‐
funktionen setzten aus. Das kleine Gerät fiel zu Boden, wo es unbe‐ schädigt liegenblieb. * Ich fühlte mich, als wäre ich gerade aus einer Trance erwacht. Ren Dhark und den anderen schien es genauso zu gehen. Wir alle hatten den Kopf der Statue nie verlassen und waren dennoch als Beobachter in einer vergangenen Welt gewesen. Verfügte Avatar über hypnotische Fähigkeiten oder Parakräfte? Oder hatte »Es« uns Fesons Erlebnisse derart hautnah präsentiert? Der goldene Geheimniskrämer würde es uns wohl kaum verraten. Was in diesem Moment in meinen Freunden vorging, konnte ich nur erahnen. Mir jedenfalls spukte ständig ein einziges Wort im Kopf herum: Fälschung! War die Echtheit von Osarks Baldurenaufnahmen wirklich über jeden Zweifel erhaben? Schließlich waren es bisher die einzigen be‐ kannten Bilder von den Geheimnisvollen – seit einer Million Jahren! Eine Fälschung konnte man daher nicht völlig ausschließen. Was für ein erschreckender Gedanke! Die Salter hatten sich als Mysterious ausgegeben. Die Worgun hatten sich als eine schlechte Entschuldigung für die Mysterious entpuppt. Und die Balduren… gab es vielleicht überhaupt nicht.
19. »Mag ja sein, daß dieser Satz kitschig klingt, aber er drückt am besten aus, was ich empfinde: Es war eine Achterbahnfahrt der Ge‐ fühle.« Als Cyborg war Amy Stewart es gewohnt, Empfindungen zu un‐ terdrücken. Fesons Schicksal ging ihr jedoch zu Herzen. Das lag nicht zuletzt an der Darstellungsweise seiner Geschichte. »Ich kam mir vor wie im Holokino«, bemerkte Chris Shanton. »Zwischen den einzelnen Szenen gab es sogar Schnitte: Feson geht auf den Sockel der Statue zu, das Schlimmste befürchtend – und plötzlich macht er einen Zeitsprung und findet sich im Vitrinensaal wieder, wo ihm Avatar berichtet, daß er soeben aus einer Ohnmacht erwacht sei. Ich frage mich, ob es wirklich zutrifft, daß Feson im Fieberwahn phantasiert und Selbstgespräche geführt hat. Theore‐ tisch hätte ihm Avatar sonstwas weismachen können, Feson konnte sich eh an nichts mehr erinnern.« Tschu Hin ging Shantons Holokino‐Vergleich noch nicht weit ge‐ nug. »Es war mehr als das. Ich hatte das Gefühl, ein Teil von Feson zu sein. Was er empfand, empfand auch ich. Ich litt regelrecht mit ihm mit.« »Wahrscheinlich bezeichnet man deshalb diesen Ort hier als Höl‐ le«, sagte Arc Doorn. »Weil man die Leiden anderer nachvollzieht.« »Nein, für die Hölle ist es hier viel zu kalt«, meinte Ren Dhark. »Wieso kalt?« wunderte sich Artus. »Laut meiner Meßanzeige müßtet ihr die allgemein vorherrschende Temperatur als überaus angenehm empfinden.« »Ich spreche nicht von der Außentemperatur, sondern von der fehlenden menschlichen Wärme«, erklärte ihm der Commander. »Avatar kennt das Wort Mitgefühl offenbar nur vom Hörensagen. Die Todgeweihten betrachtet er als reine Sammelobjekte, als Liefe‐ ranten von fremdartigen Artefakten. Solange sie noch am Leben
sind, dienen sie ihm zum Zeitvertreib, danach nimmt er ihnen die Kleidung ab und was sie sonst so bei sich haben und entsorgt ir‐ gendwo ihre ausgezehrten Körper. Das ist widerlich!« Avatar war nirgendwo zu sehen. Gleich nachdem er seine Er‐ zählung beendet hatte, war er wieder mit dem Boden verschmolzen. Jimmy trottete zu Artus und bat ihn um ein vertrauliches Zwie‐ gespräch. Beide sonderten sich etwas von der Truppe ab. »Kannst du mir bitte sagen, worum es bei eurer Unterhaltung geht?« wollte Jimmy von seinem Roboterfreund wissen. »Hast du etwa nichts von Avatars plastischer Schilderung mitbe‐ kommen?« fragte Artus ihn erstaunt. »Demnach hast du vorhin ge‐ schwindelt, als Shanton dich fragte, ob du die Gedanken des Gol‐ denen empfangen kannst.« »Habe ich nicht«, widersprach Jimmy energisch. »Ich kann Avatars Gedanken genauso ›hören‹ wie ihr alle, und ich könnte ihm sogar antworten. Aber seine Erzählung kam bei mir nur in Worten an, nicht in Bildern, und ich hatte auch nicht das Gefühl, in einem Ho‐ lokino zu sein oder mittendrin. Riker hat wohl recht, wenn er sagt, ich sei minderwertiger als du.« »Das hat er nie gesagt, und wenn, dann hat er es bestimmt nicht so gemeint. Im übrigen trifft das nicht zu. Du bist nicht minderwertig, du bist nur anders als ich. So wie es keine zwei Menschen gibt, die sich bis aufs i‐Tüpfelchen gleichen, gibt es auch keine zwei Roboter mit eigener Persönlichkeit, die haargenau gleich sind. Jeder von uns beiden hat seinen eigenen Charakter, eigene Stärken und eigene Schwächen.« »Dann bist du also auch der Meinung, daß ich wirklich und wahrhaftig lebe? Daß ich wie du ein Bewußtsein habe?« »Zumindest bist du etwas ganz Besonderes«, beantwortete Artus Jimmys Frage so diplomatisch wie möglich. *
Beide Roboter gesellten sich wieder zur Gruppe. Dort diskutierte man mittlerweile ausgiebig über »Es«. Dan Riker hielt es für mög‐ lich, daß sich dahinter die Balduren verbargen, beziehungsweise ein Abgesandter der Geheimnisvollen, der den Auftrag hatte, das »Hier« vor Eindringlingen zu schützen. »Vielleicht haben ja die Balduren die Legende von der goldenen Hölle in die Welt gesetzt«, theoretisierte Dharks Freund, »um nach Wissen strebende Forschungsreisende vom Betreten dieses Ortes abzuhalten. Aus dem gleichen Grund spielten sie Margun und Sola Fesons Tagebuch zu. Die Eintragungen darin enthalten diverse Lü‐ cken. Lag das wirklich an Fesons Nachlässigkeit? Oder wurde ein Teil des Textes aus Geheimhaltungsgründen gelöscht?« Avatar meldete sich zurück. Genaugenommen war er nie weg ge‐ wesen. Er hatte ganz in der Nähe im goldenen Fußboden gesteckt. Jetzt wuchs er wieder zu voller Größe empor. Riker erkundigte sich bei ihm nach eventuell fehlenden Tage‐ bucheintragungen . Ich nahm Fesons Aufnahmen an mich und bewahrte sie sorgsam auf, ohne daran etwas abzuändern, versicherte ihm Avatar. Den Inhalt des Spei‐ cherkristalls kopierte ich und übergab diese Kopie später an Margun und Sola. »Später?« raunte Shanton Doorn zu. »Hört sich an, als wären sie gleich am nächsten Tag hier eingetroffen. Dabei liegen zwischen beiden Begegnungen circa eine halbe Million Jahre. Wie viele Su‐ chende mögen in dieser langen Zeitspanne an diesem verfluchten Ort verhungert sein? Avatar widert mich allmählich an.« Arc Doorn nickte mit grimmiger Miene. »Ich würde den Goldkerl am liebsten durch die Mangel drehen – und ›Es‹ gleich mit dazu. Falls ›Es‹ irgend etwas mit den Balduren zu schaffen hat, sollten wir überlegen, ob sie es überhaupt wert sind, daß wir künftig weiter nach ihnen suchen.« »Nicht so voreilig, Arc«, entgegnete Chris Shanton leise. »Es gibt keinen Beweis, daß die goldene Hölle von den Geheimnisvollen
erschaffen wurde. Oder ihnen ist nach dem Bau der Industrieanlage einiges aus dem Ruder gelaufen. Vielleicht wissen sie gar nicht, was hier vorgeht.« »Wieso durften eigentlich Margun und Sola das ›Hier‹ verlassen und alle anderen nicht?« fragte Riker den Goldenen direktheraus. Weil ihre Motive edlerer Natur waren als eure, erklärte Avatar. Ihr seid nur zu faul, um selbst nach Wissen zu forschen. Margun und Sola hingegen kamen zu mir, weil ihr Volk im Krieg gegen die Zyzzkt dringend Hilfe brauchte. »Und welche Art von Hilfe habt ihr ihnen zukommen lassen?« hakte Riker nach, obwohl er sich die Antwort denken konnte. Gar keine, erwiderte Avatar wie erwartet. Es war den Worgun be‐ stimmt, den Krieg entweder ohne fremde Hilfe zu gewinnen oder unterzu‐ gehen. »Was für eine erbärmliche Ausrede!« schaltete sich Dalon ins Ge‐ spräch ein. »Wenn man jemanden, der um Hilfe bittet, eiskalt ab‐ weist, sollte man auch dazu stehen und sich hinterher nicht auf Be‐ stimmung herausreden. Hätte ›Es‹ meinem Volk einen Weg aufge‐ zeigt, die Zyzzkt zu besiegen, wäre nicht nur den Worgun, sondern auch unzähligen anderen Völkern in den vergangenen Jahrhunder‐ ten viel Leid erspart geblieben. Ohne die Unterstützung der Terraner wäre ganz Orn noch immer versklavt.« Ich gebe zu, daß die Entwicklung der Menschheit alle Prognosen über den Haufen geworfen hat, räumte Avatar ein. Aus den Terranern könnte einst etwas ganz Großes werden, allein schon wegen ihrer Unberechenbarkeit. »Wenn du so große Stücke auf uns hältst, warum läßt du uns dann nicht frei?« fragte ihn Ren Dhark. Weil auch ihr nur gekommen seid, um euch eigene zeitraubende For‐ schungen zu ersparen. Ihr seid Wissensschmarotzer, so wie all die anderen Unreinen, die im Hier ihr verdientes Ende fanden. Margun und Sola waren bisher die einzige Ausnahme. Sie galten als letzte Chance der Worgun, weil sie geistig beweglicher und wissenshungriger waren als sämtliche Gelehrten ihres trägen Volkes zusammen. Deshalb ließ ich sie gehen.
»Auch wir sind zu dir gekommen, weil wir Hilfe brauchen«, machte Dhark dem Goldenen nochmals deutlich. »Unsere Sonne stirbt! Vielleicht weiß ›Es‹ eine Möglichkeit, sie zu retten.« Avatar schwieg für einen Augenblick. Ganz ruhig verharrte er auf seinem Platz, so als ob er in sich hineinhorchte. Stand er in diesem Moment mit »Es« in Kontakt? Erhielt er neue Anweisungen? Gab es »Es« überhaupt? Oder war Avatar selbst »Es« und traf entgegen ihrer ursprünglichen Vermutung seine Entscheidungen ganz allein? Von mir bekommt ihr nicht einmal einen Hinweis auf die Ursache der Störung, sagte er nach einer Weile. Entweder hilft sich die Menschheit selbst, oder sie ist dazu bestimmt, unterzugehen. Es lehnt jede Hilfestellung strikt ab. »Wahrscheinlich ist ›Es‹ gar nicht fähig, unsere Sonne zu retten«, provozierte Artus den Goldenen. Die erwünschte Reaktion blieb aus. Avatar schien kein bißchen gekränkt zu sein. Ganz im Gegenteil. Du gefällst mir, Roboter! Ich bin froh, daß du mir lange Zeit erhalten bleiben wirst. Es empfindet dich als eine Bereicherung für das Hier. Und was deinen Vorwurf betrifft: Es wäre sehr wohl in der Lage, die Sonne der Menschen zu manipulieren. Doch das müssen sie schon allein schaffen. Es hat bereits viel zu viel für die Völker der Milchstraße getan. »Ach ja?« wunderte sich der Commander. »Was denn zum Bei‐ spiel?« Wißt ihr denn nicht, über welchen Planeten ihr ins Hier gekommen seid? entgegnete Avatar. Dann wird es wohl Zeit für eine weitere Erzählung meinerseits. Wie ich schon sagte: Ihr sollt wissend sterben. Er ließ seinen Zuhörern keine Wahl. Jeder verfiel dort, wo er ge‐ rade stand oder saß, in eine leichte Trance… Anfangs vernahmen alle nur Avatars Stimme. Doch dann nahm die Geschichte allmählich Gestalt an. Vor einer Million Jahren wurden im Zentrum der Milchstraße fünftau‐ send G’Loorn mitsamt ihrer Planetenstation in die Zukunft geschleudert. Aufgrund vorangegangener verantwortungsloser Experimente an einem
Schwarzen Loch kam es auf ihrer Heimatwelt Skythos zu schweren Natur‐ katastrophen: Erdbeben, Sintfluten, Vulkanausbrüche, Feuerstürme und tosende Orkane nie gekannten Ausmaßes. Unzählige G’Loorn fanden dabei den Tod. Ihre Zivilisation überlebte trotzdem, obwohl viele wichtige tech‐ nische Einrichtungen zerstört waren… * Zu früheren Zeiten waren die G’Loorn Nomaden gewesen, ruhe‐ lose Wanderer, ständig auf der Suche nach Nahrung und einem Platz zum Schlafen. Im weiteren Verlauf ihrer evolutionären Entwicklung wurden sie immer mehr und mehr seßhaft, und seit die Zivilisation und der technische Fortschritt auf Skythos Einzug gehalten hatten, sah man kaum noch G’Loorn auf Wanderschaft – obwohl viele von ihnen ihre innere Rastlosigkeit nie so ganz verloren hatten. Die Sehnsucht nach unbekannten Fernen steckte den aufrechtgehenden Insektenwesen quasi in den Genen. Tonge, ein kräftig gebauter, gutaussehender junger Mann, hatte sein bisheriges Leben fast ausschließlich seinem Beruf als Mediziner gewidmet. Damit war er einer alten Familientradition gefolgt, denn schon sein Vater und sein Großvater hatten sich der Heilkunst ver‐ schrieben. Wie bei den meisten Völkern zählten auch bei den G’Loorn die Ärzte zur angesehensten Kaste innerhalb ihrer Gemeinschaft. Ansehen und Fortpflanzung gingen auf Skythos quasi Hand in Hand, denn nur wer wirklich etwas darstellte, hatte die Chance, eine Frau zu finden, die sich von ihm befruchten ließ. In dieser Hinsicht war das weibliche G’Loorn‐Geschlecht überaus wählerisch. Nicht zuletzt deshalb strengten sich die Männer in ihrem Berufsleben un‐ geheuer an, was wohl der Hauptgrund war für den allgemeinen Wohlstand auf Skythos. Auch bei der Bildung von kleineren, lockeren Lebensgemein‐ schaften spielte das Ansehen des Mannes eine wichtige Rolle. Je
angesehener jemand war, um so höher lag sein Verdienst, und je mehr er verdiente, um so größer war die Anzahl der Frauen, die Kinder von ihm wollten und eventuell bereit waren, bei ihm zu bleiben. Die erfolgreiche Befruchtung eines Weibchens kettete das be‐ treffende Paar nicht zwangsläufig für ein Leben lang aneinander. Nicht wenige G’Loorn beiderlei Geschlechts wußten das Alleinsein viel zu sehr zu schätzen, als daß sie sich an jemanden gebunden hätten. Sogar ihren Nachwuchs überließen sie weitgehend sich selbst, kaum daß er aus dem Ei geschlüpft war. Auf diese Weise lernten die frisch geborenen Insektoiden von klein auf, sich durch‐ zuschlagen. Es gab aber auch G’Loorn‐Weibchen mit starken Familiengefühlen; diese Frauen konnten gar nicht genügend Kinder um sich haben. Tonge hatte das Glück, gleich mit drei grazilen Insektengeschöpfen zusammenzuleben. Außerdem wohnte sein Großvater mit im Haus. Da der alte Gento offizielles Familienoberhaupt war, standen ihm die Frauen seines Enkels jederzeit willig zur Verfügung, das war so Sitte auf Skythos. Gento machte allerdings nur sehr wenig Gebrauch von seinen familiären Rechten, was aufgrund seiner Betagtheit verständ‐ lich war. Theoretisch hätten von den bisher elf Kindern in Tonges Haus ein, zwei oder mehr von Gento sein können – doch für sehr wahrscheinlich hielt das niemand. Dafür, daß der Drang zur Fortpflanzung ab einem gewissen Alter sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen rapide nachließ, hatten die G’Loorn vollstes Verständnis (obwohl man über dieses Thema nur ungern sprach), nicht aber für Unfruchtbarkeit bei jün‐ geren Männern. Ein nicht fortpflanzungsfähiger junger G’Loorn blieb immer ein Aussätziger, ganz gleich wie angesehen sein Be‐ rufsstand war oder wie viele Reichtümer er angehäuft hatte. Manche von ihnen sahen oft keinen anderen Ausweg mehr als den Freitod. Tonge hatte damit glücklicherweise keine Probleme. Seine drei Lebensgefährtinnen Boe, Het und Zon konnten sich nicht über ihn
beklagen. Meistens stellte er sie abwechselnd zufrieden, manchmal aber auch alle auf einmal, je nachdem, wie schwer sein Arbeitstag in der Praxis gewesen war. Genaugenommen war es die Praxis seines Vaters. Der befand sich jedoch weit entfernt im Weltall, wo er auf einer gigantischen Plane‐ tenstation als Leiter der medizinischen Abteilung tätig war. Wäh‐ rend seiner Abwesenheit durfte Tonge in der Praxis schalten und walten, wie er es für richtig hielt. Tonge sehnte sich nach ihm. Sein Vater war schon viel zu lange fort. Aus Geheimhaltungsgründen war der Stationsbesatzung allzu häufiger Kontakt zu ihren Angehörigen untersagt worden. Außer‐ dem durften sie über keine Details ihrer Tätigkeit sprechen. Auch sonst erfuhr der Großteil der Bevölkerung nicht sonderlich viel über die Vorgänge im All. Die offiziellen Medienvertreter spra‐ chen lediglich von tiefgreifenden Messungen an einem Schwarzen Loch, die aus einer Distanz von einem Lichtjahr vorgenommen wurden. Näher war wohl noch nie ein Forscherteam an ein solches Naturphänomen herangekommen. Sinn und Zweck der Arbeiten sei in der Hauptsache die Energiegewinnung, hieß es, sowie die Ent‐ wicklung einer stabilen Raumzone für Schiffe, mit denen man in naher Zukunft ferne Galaxien bereisen wolle. Bilder von der wohl größten Baustelle der Milchstraße durften nur gesendet werden, wenn sie vorher eine strenge Zensur durchlaufen hatten. Dadurch hatten manche Mediendarstellungen zwar ein enormes Unterhaltungspotential, aber nur einen sehr geringen In‐ formationswert. Man gab dem Volk der G’Loorn das Gefühl, über alles gründlich unterrichtet zu werden, doch in Wahrheit wußte kaum jemand, was genau sich dort draußen im Weltall abspielte. Viele Bürger wollten es auch gar nicht wissen – man hatte schließ‐ lich genug mit seinen Alltagssorgen zu kämpfen… Tonges Vater war nicht von Anfang an mit dabeigewesen. Bereits vor Jahrzehnten hatte man mit dem Bau der Gigantstation begonnen,
nachdem es Wissenschaftlern gelungen war, ein unbemanntes Raumschiff hinter den Ereignishorizont des Schwarzen Lochs zu schicken, von wo aus es wertvolle Daten übermittelt hatte. Obwohl die Arbeit auf der in Zentrumsnähe gelegenen Station nicht unge‐ fährlich war und mittlerweile zahlreiche Tote zu beklagen waren, rissen sich die Techniker, Wissenschaftler und Facharbeiter regel‐ recht um freigewordene Stellen. Eine bessere Gelegenheit zur Profi‐ lierung gab es nicht. Auf der Allstation tätig zu sein war eine Frage des Prestiges. Tonge selbst zog es nicht dorthin. Er war weder Forscher noch Abenteurer. Mit der Wissenschaft hielt er es wie mit der Politik: Beides interessierte ihn nur in begrenztem Maße. Auf seinen Beruf traf das allerdings nicht zu. Gab es neue wissen‐ schaftliche Erkenntnisse im medizinischen Bereich zu vermelden, war er der erste, der sich darüber schlaumachte. Fortlaufende, nie enden wollende Weiterbildung auf seinem Fachgebiet betrachtete er als seine oberste Pflicht, schließlich war er in erster Linie Arzt ge‐ worden, um zu helfen – und wegen des Ansehens. * Es war ein strahlend heller Morgen, als Tonge sein Haus verließ, um sich in seine mit modernster Technik ausgestattete Arztpraxis zu begeben. Er war früh genug aufgestanden und hatte es daher nicht sonderlich eilig. Statt des Schwebers nahm er lieber ein Laufband. Es führten jeweils zwei Bänder in die gleiche Richtung: eins für gemächlichere Spaziergänge und ein Turbolaufband für die Eiligen. Der junge Mediziner entschied sich für die langsamere Variante. Skythos war ein Paradies für Marktschreier und Basarhändler. Hier konnte man mit dem Verkäufer eines Produkts von Angesicht zu Angesicht nach Herzenslust feilschen, was in den schmucklosen Kaufhallen, in denen die Waren weitaus günstiger angeboten wur‐ den, nicht möglich war. Die langgestreckten, meist einstöckigen
Hallen verfügten über keine Schaufenster. Auch kleinere Geschäfte verzichteten auf Auslagen im Fenster oder vor der Tür. Wer seine Ware präsentieren wollte, hatte dafür auf den zahlreichen Markt‐ plätzen ausreichend Gelegenheit. Theoretisch konnten G’Loorn zehn Tage lang ohne Nahrungs‐ und Flüssigkeitszufuhr überleben, weil ihr Stoffwechsel in diesem Zeit‐ raum auf »Sparflamme« schaltete. In Notzeiten mochte das ganz praktisch sein, im normalen, von Wohlstand geprägten Alltagsleben gab es jedoch keinen Grund, seine Eßgewohnheiten einzuschränken. Der Durchschnitts‐G’Loorn aß und trank viel und gern. Auf den Märkten konnte er sich mit allem eindecken, was er begehrte: pflanzliche Nahrung, tierische (tot oder lebendig) oder künstlich hergestellte. Auf dem Weg zur Praxis kaufte sich Tonge eine Handvoll zappe‐ liger Nepins in einer durchsichtigen Tüte. Während ihn das Lauf‐ band langsam seinem Ziel näherbrachte, steckte er sich immer mal wieder eines davon zwischen seine Kieferzangen, brach den winzi‐ gen grünen Schutzpanzer auf, lutschte den Inhalt aus und spuckte die Reste über den Rand des Laufbandes. Solch ein Benehmen ver‐ stieß nicht gegen die guten Sitten; die Bürger waren es gewohnt, ihre Abfälle einfach auf die Straße zu werfen. Lautlos agierende Reini‐ gungsmaschinen schwebten ständig umher und beseitigten allen möglichen Unrat, so daß es nirgends schmutzig war. Auch sonst ließen die G’Loorn jeden überflüssigen Klauenschlag von Maschinen, beispielsweise von Robotern verrichten. Das emp‐ fanden sie als völlig selbstverständlich. Wozu trieb man den techni‐ schen Fortschritt ständig voran, wenn man keinen Gebrauch davon machte? Als ebenso selbstverständlich empfand der durchschnittliche G’Loorn die ständige militärische Präsenz in allen kleinen und gro‐ ßen Orten. Schließlich kostete das Militär die planetenweite Groß‐ gemeinschaft nicht gerade wenig, also sollte es sich gefälligst rund um die Uhr um die Sicherheit der Bürger kümmern. Aufgaben, die in
anderen Welten von einer eigenständig agierenden Polizei über‐ nommen wurden, bürdete man auf Skythos überwiegend dem Heer auf. In Friedenszeiten mußten allerdings auch die Raumstreitkräfte ein gewisses Maß an zivilen Schutzdiensten absolvieren, schich‐ tweise, damit ihnen noch genügend Zeit für Flottenübungen blieb. G’Loorn‐Krieger waren in der Galaxis verhaßt und gefürchtet. In ihrer Geschichtsschreibung waren Jahrhunderte kompromiß‐ loser Kriege verzeichnet, die ihr blutiges Finale mit der Vernichtung zweier gegnerischer Hauptwelten gefunden hatten. Seither mied man die Insektoiden und ließ sie möglichst in Ruhe. Ihr Zusammenleben untereinander gestaltete sich weitaus friedli‐ cher. Die G’Loorn achteten ihresgleichen. Heimtückische Verbrechen gegen Leben oder Gesundheit geschahen nur selten (und wurden mit immens hohen Strafen geahndet), so daß die zum Bürgerschutz beorderten Offiziere und Soldaten verhältnismäßig wenig zum Ein‐ satz kamen. Meist genügte ihre pure Präsenz, um Streitigkeiten zu schlichten. Gab keiner der Streitenden nach, kam es unweigerlich zum Zwei‐ kampf Mann gegen Mann – wie es beim G’Loorn‐Volk seit Genera‐ tionen üblich war. Bei diesen stets fair verlaufenden Kämpfen waren Schußwaffen streng verboten. Zusätzliche Schlag‐, Stich‐ und Hiebwaffen durften nur mit gegenseitigem Einverständnis beider Gegner eingesetzt werden, was selten der Fall war; die Insektoiden waren von Natur aus mit genügend eigenen Abwehrmitteln aus‐ gestattet: Fangarme, Greifklauen, Kieferzangen, Krallen und Dornen. Gingen zwei G’Loorn‐Männer in der Öffentlichkeit aufeinander los, fanden sich umgehend unbeteiligte Zuschauer ein, die die Kämpfenden mit Anfeuerungsrufen unterstützten. Fast immer floß bei solchen Auseinandersetzungen Blut, und oftmals endeten sie sogar mit dem Tod eines Kontrahenten. Konsequenzen mußte der Sieger nur bei grober Unfairneß befürchten, zum Beispiel beim Ein‐ satz einer verborgenen Waffe oder bei einem Angriff aus dem Hin‐ terhalt. Hatte er seinen Widersacher aus eigener Körperkraft besiegt,
ging er straffrei aus. Schon deshalb war es wichtig, daß genügend Schaulustige anwesend waren, die das bezeugen konnten. Auf die Bewohner anderer Planeten mochte diese (Un‐)Sitte der G’Loorn grausam wirken – doch wenn man genau darüber nach‐ dachte, war es ja vielleicht gar nicht verkehrt, gewalttätige Ausei‐ nandersetzungen auf die jeweiligen Hauptkontrahenten zu be‐ schränken, beispielsweise auf miteinander verfeindete Staats‐Oberhäupter. Manche als primitiv eingestufte Stämme prakti‐ zierten das schon seit Urzeiten. Sie ließen ihre Häuptlinge Zwistig‐ keiten untereinander austragen, und die Verlierer unterwarfen sich dann dem Anführer der Sieger – eine umstrittene Vorgehensweise, bei der aber weitaus weniger Blut vergossen wurde als auf den Schlachtfeldern am Boden oder im All. Tonge machte sich über Kriege keine Gedanken. Augenblicklich herrschte Frieden, und solange das so blieb, war er zufrieden mit seinem Leben. Es ging ihm gut, und er half nach Kräften kranken Mitbürgern, damit es auch denen wieder gutging. Kurz bevor er an dem Hauswürfel eintraf, in dem sein Büro lag, stoppte das Laufband abrupt. Aufgrund der niedrigen Ge‐ schwindigkeit geriet er nur leicht ins Wanken. Auf dem benach‐ barten Turboband hingegen kam es zu mehreren schweren Unfällen. In diesem Moment war Tonge heilfroh, daß er den Beruf des Arztes ergriffen hatte. Hier und jetzt wurden seine medizinischen Fähig‐ keiten gebraucht. Gab es Schlimmeres, als in Notsituationen nicht helfen zu können? Tonge versorgte mehrere Schwerverletzte und blieb bei ihnen, bis die Krankentransportschweber eintrafen. Das dauerte nicht allzu lange, da auch für diese Aufgabe auf das Militär zurückgegriffen werden konnte. Auf Skythos galten Soldaten nicht nur als Kämpfer, sondern vor allem als unverzichtbare Rettungstruppe, die in allen Notlagen eingesetzt wurde, unter anderem im Katastrophenschutz. Militärangehörige waren angesehen. An diesem Tag kam es auch an anderen Orten auf dem Planeten zu
technischen Ausfällen. Die Ursache waren Blitzeinschläge. Ein gan‐ zes Bombardement von Blitzen war über Skythos hereingebrochen. Die Medien spielten die Vorfälle als zufällige Anhäufung verein‐ zelter Gewitter herunter, und Tonge hatte keinen Anlaß, den Wahr‐ heitsgehalt der Meldungen in Frage zu stellen. Als sich jedoch zwei Tage später ein breiter Erdriß auftat und sein »Praxiswürfel« vor seinen Augen regelrecht verschluckt wurde, zweifelte er allmählich an seinem Urteilsvermögen… * Aus allen Richtungen des Planeten trafen weitere Schreckensmel‐ dungen ein. Wie ein Lauffeuer machten sie die Runde. Gleichzeitig hielten sich die Medien mit ihrer Berichterstattung aus dem All auf‐ fällig zurück. Was gab es dort oben zu verbergen? Nach und nach brach auf ganz Skythos das Chaos aus. Es regnete, hagelte, stürmte, schneite, blitzte und donnerte – und das alles gleichzeitig. Vulkane verspritzten ihre heiße Lava kilometerweit. Meere traten über die Ufer. Die Erde bebte, Berge erzitterten, Stein‐ lawinen ergossen sich über bewohnte Täler. Wälder brannten nie‐ der… Auf dem gesamten Planeten lag die Technik brach. Und dann machte eine Nachricht die Runde: Bei den Experimenten am Schwarzen Loch war es zu einer unvorstellbaren Katastrophe gekommen, deren Auswirkungen für das Chaos auf Skythos ver‐ antwortlich waren. Bei den Experimenten, an denen auch Tonges Vater beteiligt war… Allerorten regte sich Widerstand. Wie üblich gab man zuerst der Regierung die Schuld – doch jeder einzelne Bürger mußte sich selbst fragen, weshalb er viel zu spät protestiert und dem Treiben im All so lange tatenlos zugesehen hatte… Tonges Heimatort wurde von einer mächtigen Flutwelle weg‐ gespült. Zu diesem Zeitpunkt befand er sich mit seiner Familie be‐
reits auf dem Weg in höhergelegene Regionen. In seiner ersten Nacht im Freien übernahm er freiwillig die Wache; er konnte eh nicht einschlafen. Laufend schaute er zum tiefschwar‐ zen Nachthimmel empor und stellte immer wieder dieselbe Frage: »Vater, was habt ihr getan?« * Der alte Gento trat aus der Berghöhle und atmete tief durch. Das Schicksal hatte ihm und seiner Familie übel mitgespielt – trotzdem war er den Göttern dankbar. Für die Naturkatastrophen, die Skythos mit aller Urgewalt heimgesucht hatten und über die Planetenober‐ fläche hinweggefegt waren, zürnte er ihnen nicht; dafür waren die G’Loorn ganz allein verantwortlich. Statt dessen dankte er den Göt‐ tern, weil sie ihre Hände schützend über ihn und seine Familie ge‐ halten und sie in ein fruchtbares kleines Hochtal geführt hatten. Steile Felswände umgaben das Tal und bildeten eine undurch‐ dringliche Mauer. Es gab nur einen einzigen Zugang zum Talkessel, und den hatte Gentos Enkel Tonge bestens getarnt. Auf unliebsame Besucher legte die neunzehnköpfige Familie – mittlerweile war die Anzahl der Kinder auf vierzehn angestiegen – keinen Wert. Der Zufall hatte sie auf ihrer Flucht zu diesem verschwiegenen Platz geführt. Davon, daß ringsum die Welt in Trümmern lag, merkte man hier nicht viel. Zahllose G’Loorn hatten versucht, den Erdbeben, Stürmen, Brän‐ den und Fluten zu entkommen, doch nur die wenigsten von ihnen waren schnell genug gewesen, oder sie hatten die verkehrte Rich‐ tung eingeschlagen und waren in ihr Verderben gelaufen. Gento fragte sich, ob er und die Seinen die letzten Überlebenden auf Skythos waren. In den Wald und/oder ins Gebirge zu fliehen, war nicht in jeder Region eine weise Entscheidung gewesen. Als der Tonempfänger noch gesendet hatte, hatten sich die Meldungen über durch Orkane entwurzelte Wälder und einstürzende Berge nahezu
überschlagen. Riesige Städte waren durch Erdbeben zerstört oder von Flammenstürmen überrollt worden. Irgendwann hatte der Empfänger geschwiegen. Nicht, weil er de‐ fekt war, sondern weil auf dem ganzen Planeten niemand mehr sendete… Gentos Familie hatte auf ihrer überstürzten Flucht nur das Not‐ wendigste mitnehmen können: Nahrungsmittel, Kleidungsstücke und ein paar wenige batteriebetriebene Geräte, die einem das harte Leben in der freien Natur halbwegs angenehm machten. Im Grunde genommen mangelte es ihnen an nichts. Im Tal lebten jagbare Tiere, wuchsen eßbare Früchte, sprudelte eine Quelle… und Sträucher für die Eiablage gab es hier zur Genüge. Moderne Waffen hatten sie keine bei sich, abgesehen von einem Vibromesser, das Tonge ausschließlich für die Jagd verwendete. Außerdem hatte er sich damit mehrere Holzspeere geschnitzt, ebenfalls für die Jagd. Zur Verteidigung brauchten sie weder Speere noch Messer, schließlich war jeder G’Loorn gewissermaßen sein eigenes tragbares Waffenlager. Am meisten zu schaffen machte ihnen das wechselhafte Wetter, das seit den fehlgeschlagenen Experimenten im All total verrückt spielte. Mal brannte die Sonne so heiß wie in der Wüste und machte jeden Versuch, eigenes Gemüse anzupflanzen, völlig zunichte, dann wiederum breitete sich Frost aus, so eisig, daß sogar die Quelle ein‐ fror, obwohl das bei fließendem Wasser nahezu unmöglich war. Nicht alle Früchte, die im Tal wuchsen, fielen den Wetterkapriolen zum Opfer, einige erwiesen sich als überaus resistent. Von den Tie‐ ren konnte man das nicht behaupten. Nach jeder Frostperiode fand Tonge erfrorene Tierkörper, die er nur noch aufzusammeln und mit in die Höhle zu nehmen brauchte. Dort kümmerten sich dann die Frauen um die Essenszubereitung. Obwohl sie nun in einer Berghöhle lebten und auf Betten aus auf‐ geschichtetem Gras und Laub schlafen mußten, ging es ihnen besser als ihren nomadischen Vorfahren. Het, Zon und Boe brauchten ihre
Speisen nicht über dem offenen Feuer zu garen, sie verfügten über einen batteriebetriebenen Minihochleistungskocher. Das war mehr als ausreichend, da das meiste Essen eh roh verzehrt wurde. Zum Erwärmen von Wasser – für heiße Getränke oder zum Waschen – war der Kocher jedoch unverzichtbar. Leistungsstarke Batterien befanden sich auch in den beiden Be‐ leuchtungskörpern, die den hinteren Teil der Berghöhle erhellten. Dort hielten sich die Bewohner meistens auf. Weiter vorn am Ein‐ gang hätte man zwar das Tageslicht nutzen können, doch da war es nicht sicher genug, wegen der Raubtiere, die ab und zu um die Höhle streiften. Gento, Tonge und die übrigen Familienmitglieder machten das beste aus ihrem kargen Leben und beklagten sich nicht… * Als das siebzehnte Kind das Licht der Welt erblickte, bekam die »Höhlenfamilie« zum erstenmal Besuch in ihrem kleinen beschauli‐ chen Tal. Zwei mit Handfeuerwaffen ausgerüstete junge Männer hatten durch Zufall den Zugang entdeckt. Gento beobachtete, wie sie mehrere schwere Gepäckstücke im Wald versteckten und sich an‐ schließend in die Höhle begaben, in der sich zu diesem Zeitpunkt Tonge, die Frauen und die Kinder aufhielten. Seit zwei Tagen regnete es in einem fort. Gento, der sich auf der Suche nach Heilkräutern befand, sehnte sich nach der trockenen Höhle. Bevor er hineinging, untersuchte er noch rasch das Reisegepäck der beiden Neuankömmlinge… Wenig später betrat Gento die Höhle. Die jungen Männer saßen mit Tonge und dem Rest der Familie um einen Heizkörper herum, des‐ sen Batterien noch für viele Jahre reichen würden. Die Heizung war kaum größer als ein Uniformknopf, strahlte aber reichlich Wärme ab, die sich je nach Bedarf regulieren ließ.
Tonge stellte seinem Großvater die Besucher vor. »Das sind Ossem und Amad. Sie sind auf Wanderschaft und bringen uns erfreuliche Nachrichten von der Außenwelt mit. Stell dir vor, die Zivilisation befindet sich wieder im Aufbau.« »Skythos ist übersät von zerstörten Städten«, berichtete Ossem. »Überlebende wohnen in den Ruinen und errichten allmählich die Häuser wieder neu.« »Nicht die gesamte Technik fiel den Naturkatastrophen zum Op‐ fer«, ergänzte Amad. »Wahrscheinlich wird es Jahrzehnte dauern, bis sich alles wieder halbwegs normalisiert hat, doch eines Tages wird unser Planet wieder in Wohlstand erblühen.« »Und bis es soweit ist, zieht ihr von Ort zu Ort und stehlt aus leerstehenden Häusern alles, was euch zwischen die Klauen kommt«, warf Gento den beiden vor. »Ich habe eure mitgeführten Gepäckstücke durchsucht. Ihr tragt das reinste Warenlager mit euch herum.« »Na und?« entgegnete Amad. »Wir sind Händler.« »Aber ihr handelt mit Sachen, die euch nicht gehören. Plündern ist ein schweres Verbrechen, für das ihr hart bestraft werden könnt.« »Bestraft?« Ossem verzog spöttisch das Gesicht. »Von wem denn, alter Mann? Auf diesem Planeten gibt es schon lange keine Gesetz‐ gebung mehr. Das Militär müht sich zwar redlich ab, Ordnung zu schaffen, doch das gelingt den Offizieren nicht mal in den eigenen Reihen. In diesen schweren Zeiten muß halt jeder zusehen, wo er bleibt, das gilt auch für hochgestellte Flottenangehörige. Was nutzt ihnen ihr Kapitänsrang, wenn sie keine Schiffe mehr haben, die sie befehligen können?« »Auf Skythos wird früher oder später eine völlig neue Welt ent‐ stehen, mit veränderten Machtverhältnissen«, sagte Amad. »Wenn man es geschickt genug anstellt, gehört man zukünftig zur Elite, zu denen, die das Sagen haben. Wer zu viele Skrupel hat, bleibt auch unter der neuen Ordnung nur ein willenloser Befehlsempfänger.« »Wenn die sogenannte neue Welt von Plünderern, Dieben und
Hehlern wie euch regiert wird, wird sie schon bald wieder un‐ tergehen – auch ohne Naturkatastrophen«, prophezeite ihm Tonge. »Mir hat die alte Welt gefallen, wie sie war, und ich bin sicher, daß sich die bewährten Strukturen wieder durchsetzen werden. Und jetzt geht! Verlaßt unser Tal! Ich verabscheue Verbrecher.« »Wir sind keine Verbrecher, sondern Geschäftsleute!« protestierte Ossem scharf. »Zugegeben, wir nehmen uns, was wir brauchen, manchmal auch mit Gewalt. Aber macht das augenblicklich nicht jeder? Ihr bildet keine Ausnahme. Nicht nur diese Berghöhle habt ihr in Besitz genommen, sondern gleich das ganze Tal. Damit euch niemand das Land streitig macht, habt ihr den einzigen Zugang mit Buschwerk getarnt. Mit welchem Recht nennst du dieses Gebiet ›euer‹ Tal? Es gehört uns genauso wie deiner Familie und dir.« »So ist es!« stimmte Amad ihm zu. »Das abgeschiedene Tal und diese Höhle eignen sich bestens als Lagerstätte für unsere Handels‐ ware.« »Du meinst wohl als Versteck für eure Beute?« erwiderte Tonge erbost. »Kommt nicht in Frage! Dir macht sofort, daß ihr von hier wegkommt!« »Ich sehe hier niemanden, der stark genug ist, uns rauszu‐ schmeißen«, sagte Amad angriffslustig. Für Tonge klang das wie eine Herausforderung zu einem ehrlichen Zweikampf. Er nahm sie an – und stürzte sich mit einem Aufschrei auf Amad. Beide Kontrahenten setzten von Anfang an ihr gesamtes Kör‐ perwaffenarsenal ein, um dem Gegner klarzumachen, daß es keine Versöhnung, keinen wie auch immer gearteten Kompromiß geben würde. Der Unterlegene mußte das Feld räumen oder sterben. Tonge war fest entschlossen, sein Zuhause und seine Familie zu schützen und die Eindringlinge von hier zu vertreiben. Ossem wollte in den Kampf eingreifen und seinem »Ge‐ schäftspartner« beistehen. Gento baute sich vor ihm auf und ver‐ sperrte ihm den Weg.
»Misch dich nicht ein«, warnte er den weitaus jüngeren und stär‐ keren G’Loorn. »Dein Freund hat meinen Enkel herausgefordert. Das müssen die beiden unter sich ausmachen, so will es das Gesetz.« »Hast du es noch immer nicht kapiert, alter Mann?« entgegnete Ossem und schob ihn beiseite. »Es gibt kein Gesetz mehr. Das Recht liegt beim Stärkeren.« Bevor Gento ihn daran hindern konnte, zog Ossem seinen Hand‐ strahler, zielte auf Tonge und drückte ab. Die Waffe war klein, aber äußerst wirkungsvoll. Der Strahl fraß sich durch den Chitinpanzer und brachte Tonges Körper zum Glühen. Sekunden später explo‐ dierte Gentos Enkel von innen heraus. Die Panzerung platzte von ihm ab. Wie Geschosse flogen Einzelteile davon durch die Höhle. Ossem war von der fatalen Wirkung selbst überrascht. Amad und er hatten die Waffen einem nomadisierenden ehemaligen Raumsol‐ daten abgenommen, der so leichtsinnig gewesen war, sein Nachtla‐ ger auf einer einsamen Waldlichtung aufzuschlagen. Ossem hatte dafür gesorgt, daß er nie mehr erwachte… Amad rappelte sich auf – und blickte in die vorwurfsvollen, ent‐ setzten Augen von drei Frauen und siebzehn unterschiedlich alten Kindern. »Laß uns abhauen«, schlug er Ossem vor. »Ich kann weinende Kinder nicht ausstehen.« Sein Freund war einverstanden. Beide begaben sich nach draußen, um ihr Gepäck an sich zu nehmen und das Tal zu verlassen. Gento war viel zu schockiert, um sie aufzuhalten. Und selbst wenn er es versucht hätte, allein hätte er ohnehin nichts gegen sie ausrichten können… * Viele Jahre waren seit Tonges Tod vergangen. Gento war ein ge‐ brochener Mann. Das paradiesische Hochtal hatte er inzwischen mitsamt seiner Familie verlassen. Ruhelos wanderte er von Ort zu
Ort, ohne festes Ziel. Boe, Het, Zon und ihre Kinder hatte Gento – mit deren Ein‐ verständnis – in die Obhut eines ehrgeizigen, aufstrebenden G’Loorn namens Lemuas gegeben, mit dem sein Enkel einst befreundet ge‐ wesen war. Lemuas hatte sämtliche über den Planeten hereingebro‐ chenen Katastrophen in einem selbstgebauten Schutzkeller überlebt und war jetzt im Begriff, sich ein eigenes Unternehmen aufzubauen. Tonges Witwen sollten für ihn arbeiten, zumindest in der Anfangs‐ zeit, bis er es sich leisten konnte, Angestellte zu bezahlen. Als Ge‐ genleistung sorgte er ein Leben lang für sie und ihre Nachkommen‐ schaft. Nicht nur Lemuas hatte die Zeichen der Zeit erkannt und blickte wieder voller Hoffnung in die Zukunft. Während seiner Wander‐ schaft konnte Gento beobachten, wie der Wiederaufbau des Planeten voranschritt. Zerstörte Städte wurden neu errichtet, brachliegende Fabriken wieder in Betrieb genommen, und auf den Straßen sah man immer mehr Schwebefahrzeuge. Das wichtigste Anzeichen für die baldige Rückkehr einer zivi‐ lisierten Lebensweise war für Gento allerdings die »Belebung der Marktwirtschaft« – und das im wahrsten Sinne des Wortes: Die all‐ seits beliebten Märkte breiteten sich wieder in den Städten aus. Noch waren es längst nicht so viele wie vor dem Unglücksszenario (wenn man nichts mehr besaß, konnte man auch nichts verkaufen), doch Gento war überzeugt, daß sich die Anzahl bald verzehnfachen würde. Die Jahre der Depression neigten sich unweigerlich ihrem Ende zu – Jahre, in denen viele überlebende G’Loorn fortwährend ihr Schicksal beklagt hatten. Vor allem unter den Jüngeren hatte die Parole »Was können wir schon groß ändern?« unablässig die Runde gemacht. Anstatt beim allgemeinen Wiederaufbau des Planeten mit anzupacken, hatten sie sich lieber Bebil, ein auf pflanzlicher Basis hergestelltes verbotenes Halluzinogen, einverleibt, um wenigstens für ein paar Stunden das Gefühl zu haben, in einer besseren Welt zu
leben. Gento kannte jene Droge aus seiner Zeit als praktizierender Arzt. In kleineren Mengen verabreicht hatte sie heilende Wirkung. Die regelmäßige Einnahme führte jedoch zu schleichenden Gehirnschä‐ den. Sogenannte »Traumstationen« – Gasthäuser, in denen man Bebil in Form eines Getränks diskret auf dem Zimmer serviert bekam – waren in den Depressionsjahren allerorten wie Unkraut aus dem Boden geschossen. Mittlerweile hatte das Militär damit begonnen, diese Häuser zu schließen, auf Anordnung der neugewählten Pla‐ netenregierung, die das Verbot der gefährlichen Droge erneuert und den Handel damit unter Strafe gestellt hatte. Gento war froh, daß nirgendwo mehr auf Skythos Gesetzlosigkeit herrschte. Derzeit sah es ganz danach aus, als würden die Regie‐ rungsexperten die meisten der alten, bewährten Gesetzesregeln ohne Wenn und Aber übernehmen. Es würde sich also für die nachfol‐ genden Generationen kaum etwas ändern; alles würde wieder so sein, wie es einstmals gewesen war. Wahrscheinlich sprach in drei‐, vierhundert Jahren niemand mehr von den leichtfertigen Experimenten am Schwarzen Loch und deren katastrophalen Folgen. Dieser Gedanke erschreckte Gento. Es war wichtig, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, andernfalls würden sie sich irgendwann wiederholen. Glücklicherweise hatten das die Regierenden inzwischen erkannt. Um nicht das Risiko einzugehen, erneut ein Katastrophenchaos auf Skythos zu verursachen, hatte man ein Gesetz erlassen, das das Überschreiten einer bestimmten technischen Entwicklungsstufe verbot. Zukünftig würde das Volk der G’Loorn andere Wege ge‐ hen… * Unterwegs setzte Gento hier und da seine ärztlichen Kenntnisse
ein, um sich seinen bescheidenen Lebensunterhalt zu finanzieren. Das lief mal mehr, mal weniger zufriedenstellend. Hatte er gut verdient, konnte er es sich leisten, in Gasthöfen zu übernachten. Ansonsten schlief er im Freien; das machte ihm nichts aus, hatte er doch lange Zeit in einer Berghöhle gelebt. Hinzu kam, daß das Wetter in den meisten Regionen wieder beständiger war als seinerzeit im Tal, so daß man nicht befürchten mußte, draußen über Nacht bei einem plötzlichen Frostausbruch zu erfrieren. Der kleine Dorfgasthof, den Gento an diesem Abend betrat, war nur mäßig belegt. Es war daher kein Problem, ein gutes Zimmer zu einem günstigen Preis zu bekommen. Der Inhaber wollte jedoch noch mehr an ihm verdienen. »Soll ich Ihnen nachher ein ganz spezielles Getränk nach oben bringen?« erkundigte er sich leise, während er seinem neuen Gast die elektronische Fernbedienung zum Öffnen der Zimmertür reichte. Der Greis war fassungslos. Offenbar lief das verbotene Geschäft mit der Pflanzendroge Bebil in einigen Gasthäusern im geheimen weiter. Der Preis, den ihm der Inhaber für den »Extraservice« nann‐ te, ließ darauf schließen, daß er ziemliche Absatzschwierigkeiten hatte. Seit auch die Jugend wieder hoffnungsvoller in die Zukunft sah, hatte sich sein Kundenstamm vermutlich erheblich dezimiert. Gento schaute den Gasthofbetreiber nachdenklich an – und er‐ klärte sich dann einverstanden. * Die terranische Benimmregel, an Türen zu klopfen, bevor man ein Zimmer betrat, war auf Skythos unbekannt. Dennoch stürmte man nicht einfach in einen Raum hinein, ohne sich auf irgendeine Weise, meist durch Rufen oder ein lautes Geräusch, bemerkbar zu machen. Der Gasthofinhaber stieß auf dem Zimmerflur eine Art Knurrlaut aus, als er sich Gentos Tür näherte. Wenig später wechselten die flüssige Droge und ein etwa fünf
Zentimeter langes, dünnes Röhrchen aus unzerstörbarem Buntglas (eins von mehreren planetenüblichen Barzahlungsmitteln) den Be‐ sitzer. Der Drogenlieferant wünschte seinem vermeintlichen Kunden viel Vergnügen und wollte aus dem Zimmer gehen. »Erkennst du mich nicht?« fragte ihn sein Gast überraschend. »Ich hätte nicht gedacht, daß wir uns jemals im Leben wiedersehen.« Der Angesprochene drehte sich zu ihm um und musterte ihn prü‐ fend. »Wahrscheinlich sieht für dich ein alter Mann aus wie der andere«, sagte Gento, der auf einer Sitzfläche Platz genommen hatte. »Alter Mann – so hast du mich damals doch genannt, nicht wahr, Ossem?« Der Gasthofbetreiber erinnerte sich wieder an ihn. »Du? Ich hatte angenommen, daß du schon lange nicht mehr am Leben bist.« »Ich bin zäh«, erwiderte Gento. »Was ist aus deinem Freund Amad geworden? Betreibt er auch ein Drogenlokal?« »Nein, wir hatten dieses hier gemeinsam aufgebaut«, antwortete Ossem. »Ursprünglich wollten wir ganz groß rauskommen, mit il‐ lustren, zahlungskräftigen Gästen – aber leider war Amad unser bester Kunde und brachte uns dadurch ständig in Verruf. Der ge‐ wünschte Erfolg blieb aus, und mein Freund starb letztlich an dem Dreckzeug, das uns reich machen sollte. Falls du in den vergangenen Jahren davon geträumt hast, ihn für den Tod deines Enkels zur Re‐ chenschaft zu ziehen, kommst du zu spät. Das Schicksal war schnel‐ ler.« »Glaubst du, mein Gedächtnis funktioniert nicht mehr richtig?« entgegnete der Greis. »Ich bin alt, aber nicht senil. Du bist derjenige, der Tonge umgebracht hat. Du hast auf unfaire Weise in einen fairen Zweikampf eingegriffen. Darauf stehen schwerste Strafen.« »Du kannst mich dafür nicht belangen«, stellte Ossem klar. »Zum Zeitpunkt des Zwischenfalls gab es auf Skythos keine Regierung und kein Gesetz, ich war also nicht verpflichtet, mich an die üblichen Kampfregeln zu halten. Der Tod deines Enkels bleibt somit unge‐ sühnt, finde dich damit ab. Oder willst du mich etwa zu einem
Zweikampf herausfordern, alter Mann? Mit dir klappriger Gestalt werde ich auch ohne Waffe problemlos fertig.« Eine Antwort wartete er erst gar nicht ab. Er drehte sich Richtung Tür um, wollte gehen. Ossem wußte nur zu gut, daß der körperlich stark geschwächte Gento nicht die geringste Chance gegen ihn hatte. Doch auch Gento wußte etwas: Als Arzt war ihm bekannt, wo bei den G’Loorn sämtliche Nervenbahnen unter den Chitinplatten ver‐ liefen; er hätte sie aus dem Gedächtnis heraus sogar mit ihrer jewei‐ ligen medizinischen Bezeichnung benennen können. Preßte man im Nacken mit den Greifzangen einen bestimmten Bereich mit aller Kraft zusammen, wurden dadurch die Ner‐ venstränge zum Gehirn blockiert, was in rascher Reihenfolge Orien‐ tierungslosigkeit, Bewußtlosigkeit und Tod zur Folge hatte. Das einzige Problem lag in der heftigen Gegenwehr des Gegners… … es sei denn, man sprang ihn ohne Vorwarnung von hinten an. Aber das war nicht nur skrupellos und feige, sondern auch ein strafbarer Regelverstoß. * Niemand sah, wie Gento den Gasthof durch den Hintereingang verließ. Um unangenehmen Fragen zu entgehen, zog er es vor, diese Nacht im Freien zu verbringen. Am nächsten Morgen würde er dann mit unbekanntem Ziel weiterziehen… Ossem lag leblos im Türrahmen des Zimmers, in dem Gento urs‐ prünglich hatte übernachten wollen. Todesursache: Jemand hatte ihn hinterrücks überfallen und seine durch den Nacken führenden Nerven zusammengedrückt. Zeugen: keine. Ein Gast erinnerte sich später daran, auf dem Flur einen greisen G’Loorn gesehen zu haben, allerdings hatte er ihn sich nicht genau angeschaut. Wozu auch? Sah nicht ein alter Mann aus wie der an‐ dere?
20. Soweit zum ersten Teil meiner Erzählung – der zweite spielt ungefähr 200.000 Jahre später. Die in die Zukunft entschwundenen fünftausend G’Loorn waren nicht mehr heimgekehrt und stellten somit keine Bedrohung mehr da. Mehr Sorgen machten Es die Zurückgeblieben… »Augenblick mal!« wurde Avatar von einer ihm wohlbekannten Stimme unterbrochen. »Hast du nicht was vergessen?« Der Goldene schwieg abrupt. Einer seiner Zuhörer war aus der Trance erwacht. Das war eigentlich unmöglich… »Ich hasse unvollständige Geschichten«, sagte Artus zu ihm. »Ganz oder gar nicht. Für halbe Sachen habe ich nichts übrig.« Avatar drehte sich in Richtung der übrigen Anwesenden, so als ob er sie anschauen würde. Obwohl er kein Gesicht hatte, schien er auf irgendeine Weise sehen zu können. Zufrieden stellte er fest, daß sich außer Artus noch alle in leichter Trance befanden. Wie hast du es fertiggebracht, mittendrin zu erwachen? fragte er den Roboter. »Keine große Sache«, antwortete Artus bescheiden. »Ich schalte mich nie vollständig ab, selbst dann nicht, wenn ich schlafe. Dadurch kann ich meinen Ruhezustand jederzeit willkürlich beenden.« Avatar kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Du schläfst? Du? Ein Roboter? Artus, du faszinierst mich immer mehr! Ich werde Es bitten, eine Überprüfung deines Ichs vorzunehmen. Jimmy kam angelaufen. Aufgeregt sprang er am Bein des Golde‐ nen hoch. »He, Avatar!« machte er ihn auf sich aufmerksam. »Kannst du auch mein Ich überprüfen?« Der Gesichtslose behandelte ihn schroff und schob ihn mit dem Fuß weg. Verschwinde, ich rede nicht mit Maschinen! »Laß gefälligst meinen Freund in Frieden!« verlangte Artus. »Jimmy ist mehr als nur eine leblose Maschine. In mancher Hinsicht
ist er mir sehr ähnlich.« Das kann ich mir nicht vorstellen. Dieses Ding ist ja nicht einmal befähigt, die zweite Stufe meiner Gedankensignale zu empfangen. Mich wundert es, daß ich überhaupt mit ihm kommunizieren kann. Mit herabhängendem Kopf schlich sich Jimmy davon. Artus war wütend, doch er rief sich innerlich zur Raison, um nicht voreilig eine unbedachte Dummheit zu begehen. »Kommen wir zurück zum ersten Teil deiner Erzählung, Avatar. Im Zusammenhang mit dem Gesetz zur Blockierung des technischen Fortschritts hast du neue Wege erwähnt, die die überlebenden G’Loorn nunmehr beschreiten wollten. Was waren das für Wege?« Ich bin nicht befugt, dir darüber Auskunft zu geben. »Der Satz kommt mir irgendwie bekannt vor. Na schön, dann mach halt weiter mit Teil zwei. Was geschah 200.000 Jahre später mit den G’Loorn?« Die Antwort auf seine Frage erschreckte Artus. Sie starben samt und sonders. Auf dem ganzen Planeten gab es bald kein intelligentes Leben mehr. »Aber… aber wie ist das passiert?« Ich habe sie alle getötet, Artus. Nur ein paar vereinzelte G’Loorn über‐ lebten – doch das kleine Problem erledigte sich in den nachfolgenden Jahr‐ hunderten mehr oder weniger von selbst. Artus war fassungslos. »Du… du hast ein ganzes Volk ausge‐ löscht?« Das habe ich vollbracht, bestätigte Avatar, und er schien auf seine Greueltat sogar noch stolz zu sein. Wenn du mehr darüber erfahren willst, versetze dich wieder in Trance. Artus kam der Aufforderung nach – obwohl er sich nicht sicher war, ob er die Wahrheit überhaupt ertragen würde… * Sajou liebte es, den großen Waldsee bis zur Mitte zu durch‐
schwimmen und dann abzutauchen. Dank ihres stabilen Chitin‐ panzers konnte sie bis zum Grund des Sees vorstoßen. Meist reichte dafür der Luftvorrat in ihren Lungen aus; die handliche Sauerstoff‐ flasche hatte sie nur für den äußersten Notfall mit dabei. Ihre Eltern sahen es überhaupt nicht gern, wenn sie im See schwamm oder tauchte. Sie selbst zogen es vor, bei regnerischem Wetter am Ufer zu sitzen, auf den See hinauszuschauen und mit den Klauen frische kleine Geel aus dem Uferschlamm zu ziehen. Der Verzehr mußte innerhalb weniger Sekunden erfolgen, denn Geel starben blitzartig, sobald sie ans Tageslicht geholt wurden, und sie sonderten in ihren letzten Lebensmomenten einen tödlichen Giftstoff ab. Landeten die Geel allerdings rechtzeitig im Magen, wurde die Giftproduktion abrupt gestoppt. Sajou fand diese Art der Nahrungsaufnahme weitaus gefährlicher als das Tauchen im See. Zwar gab es hier vereinzelte Raubfische, doch davor fürchtete sie sich nicht; die Natur hatte sie für den Kampf bestens ausgestattet. Am tiefsten Punkt aktivierte Sajou den Lichtstrahler an ihrem Armband. Hier unten gab es viel zu sehen. Das seltsamste Getier schwamm an ihr vorüber, und auf dem See‐ grund breitete sich ein mächtiges Pflanzenparadies aus. Das Beste an ihren kurzen Ausflügen war die Stille. Dies war ihre eigene kleine Welt, die ihr für wenige Augenblicke ganz allein ge‐ hörte. Irrte sie sich, oder wurde es um sie herum immer wärmer? Das Wasser schien sich allmählich aufzuheizen. Sajou wollte auftauchen, doch je höher sie stieg, um so stärker wurde die Hitze. Stellenweise schien der See regelrecht zu brodeln. In seiner Angst tauchte das G’Loorn‐Mädchen wieder nach unten und verschwand in einer Unterwasserhöhle, in der es etwas kühler war. Sajou setzte ihr Sauerstoffgerät ein und blieb so lange wie mög‐
lich in der Höhle. Als sie später nach oben kam und den Kopf aus dem Wasser steckte, durchfuhr sie ein gehöriger Schreck. Der See war nur noch halbvoll. Glühende, stickige Hitze lag in der Luft. Außerhalb des Gewässers erstreckte sich versengte Erde zu allen Seiten hin – und sonst nichts. Der mächtige Wald, der einst den See umgeben hatte, war spurlos verschwunden. Ebenso das Haus ihrer Familie – und ihre Familie selbst. Am Himmel schwebte etwas Riesiges, Dunkles davon. Sajous Au‐ gen waren noch vom Seewasser getrübt, so daß sie nichts Näheres erkennen konnte… * Und wieder wurde die Zivilisation auf Skythos zerstört –gründlicher und nachhaltiger als 200.000 Jahre zuvor. Schuld daran war keine Naturkatastrophe, sondern ein rigoroser Angriff aus dem Weltall. Monströse Strahlengeschütze durchpflüg‐ ten die Wälder, zerstörten die Städte und machten ganze Gebirgs‐ ketten dem Erdboden gleich. Kein Fleck auf dem Planeten wurde ausgelassen. Allerorten befanden sich die G’Loorn auf der Flucht, ziellos, denn es gab keinen Platz mehr, an den sie sich zurückziehen konnten. Der übermächtige Feind machte regelrecht Hatz auf sie. Er schien überall zu sein. Kam er wirklich aus dem Weltraum, oder war er aus dem Kern des Planeten gekrochen oder aus den Tiefen der Meere an die Oberfläche gestiegen? Die gnadenlosen Attacken erfolgten so schnell, daß nur die wenigsten G’Loorn die Angreifer zu Gesicht bekamen – im Augenblick ihres Todes. Rücksichtslos wurden die Insektoiden regelrecht abgeschlachtet. Ihre Mörder machten keine Unterschiede. Alle mußten sterben: Sol‐ daten, Zivilisten, Männer, Frauen, Kinder…
Ei‐Sträucher wurden mit riesigen Flammenwerfern unter Beschuß genommen, bis nichts mehr von der Brut übrig war als schwarze Asche. Kein G’Loorn sollte das Inferno überleben, auch nicht der ungeschlüpfte Nachwuchs. Milliardenfache Schmerzensschreie überzogen ganz Skythos. Der gesamte Planet wurde zu einem riesigen Massengrab… * Als Ren Dhark aus seinem Trancezustand in die Wirklichkeit zu‐ rückkehrte, war ihm speiübel. Auch Amy, Shanton, Doorn und die anderen sahen ziemlich blaß aus. Sie hatten den schrecklichen Tod von Milliarden denkender und fühlender Lebewesen sozusagen aus nächster Nähe miterlebt und mußten das erst einmal seelisch verar‐ beiten. »Das war die Hölle«, sagte Dalon leise. Sein Volk zählte nicht unbedingt zu den empfindsamsten Schöp‐ fungen des Universums, aber dieses sinnlose Gemetzel war selbst für ihn unerträglich. Amy war die erste, die sich wieder in den Griff bekam. »Wer hat das getan?« fragte sie Avatar entsetzt. Das war mein Werk, antwortete der Goldene ohne sichtliche Erre‐ gung. Vor 800.000 Jahren hatte die Entwicklung der G’Loorn einen Punkt erreicht, der ihre komplette Auslöschung unumgänglich machte. »Welchen Grund gab es für diesen Massenmord?« wollte Amy Stewart wissen. Avatars Antwort war stereotypisch: Ich bin nicht befugt, darüber Auskunft zu geben. »Und wer ist befugt?« fragte ihn Dhark. Es. »Dann bring mich auf der Stelle zu ›Es‹!« Das ist unmöglich. »Ich bestehe aber darauf, mit ›Es‹ zu reden!«
Das tust du bereits. »Du bist ›Es‹?« Ich bin, der ich bin. Dhark seufzte hörbar. So kam er um keinen Deut weiter. Sobald er dem Goldenen allzu direkte Fragen stellte, beschränkte der sich auf geheimnisvolle Andeutungen. Dennoch versuchte es der Commander noch einmal: »Wodurch erfolgte die Zerstörung von Skythos, Avatar?« Das habe ich euch doch gezeigt. »Hast du nicht. Der Tod brach von allen Seiten über die Be‐ völkerung herein. Er kam vom Himmel, aus dem Erdreich, es schien sogar im Wasser verborgen zu sein. Hat ›Es‹ Raumschiffe ausge‐ schickt, um den Planeten aus der Luft zu zerstören? Beiboote mit bewaffneten Robotern? Bodentruppen? Hat auch nur ein einziger G’Loorn den blutigen Vernichtungsfeldzug überlebt?« Wieder einmal beantwortete Avatar nur eine Frage von vielen. Vereinzelte G’Loorn konnten entkommen. Ich bin sehr gründlich vorge‐ gangen, doch bei einer Aktion dieser Größenordnung muß man eine gewisse Fehlerquote in Kauf nehmen. Dan Riker spürte Zorn aufsteigen. Eine gewisse Fehlerquote… Redete Avatar wirklich über den Massenmord an einem ganzen Volk? Darüber, daß ein paar wenige »Glückliche« das Massaker überlebt hatten? Oder sprach er über leichte Abweichungen bei einer mathematischen Gleichung? »Was geschah mit den Überlebenden?« erkundigte sich Dan. Sie mühten sich redlich um die Neugründung ihres Volkes, degenerierten aber im Lauf der Jahrtausende zu primitiven Wilden. Ihr seid ihnen an einem der Eingänge zum Hier begegnet. »Die Insektenkrieger, die uns an der Säule angegriffen haben!« entfuhr es Tschu Hin. »Wir sind auf dem Heimatplaneten der G’Loorn gewesen, auf Skythos. Die überwucherte Ruinenstadt im Dschungel waren spärliche Überreste von Avatars irrsinniger Zer‐ störungswut.«
Wage es nicht noch einmal, diese Großtat als Irrsinn zu bezeichnen! warnte Avatar den asiatischen Archäologen. Andernfalls setze ich deinem niederen Leben vorzeitig ein Ende! »Deine Drohungen schrecken uns nicht«, sagte Dan Riker. »Nicht einmal ein Raubtier würde grundlos über einen ganzen Planeten herfallen und sämtliche Bewohner ohne Sinn und Verstand nieder‐ metzeln.« Wie schon erwähnt: Ich hatte einen Grund. Es mußte handeln, hart und kompromißlos. Das Überleben der gesamten Galaxis stand auf dem Spiel. Mehr sage ich dazu nicht. Zwar hatte ich euch versprochen, euch wissend in den Tod zu schicken, das bedeutet jedoch nicht, daß ihr in jedes Geheimnis des Universums eingeweiht werdet. Dhark verzog spöttisch die Mundwinkel. »Jedes Geheimnis des Universums? Du Wurm machst dich wichtiger als du bist. Glaub nur nicht, daß mich deine vermeintlichen übernatürlichen Kräfte in Ehrfurcht erstarren lassen. Zugegeben, es war sehr beeindruckend, wie du uns in Trance versetzt hast und wir erst Fesons Schicksal und dann das der letzten G’Loorn so nah miterleben konnten, als wären wir selbst in das Geschehen integriert. Für mich war das allerdings nichts Neues. Im Raumschiff des Skythen‐Anführers Opac kam ich mit Speicherkristallen ganz spezieller Art in Berührung. Jene Kris‐ talle zogen mich derart intensiv in den Bann, daß mich Opac nur gewaltsam in die Realität zurückholen konnte. Er fegte mich mit einem wuchtigen Schlag aus dem Sessel und bog meine Finger auf, bis sie bluteten und ich den Kristall freigab. Mit Universumsge‐ heimnissen oder übernatürlicher Wahrsagerei hatte das alles nichts zu tun – es war schlichtweg G’Loorn‐Technik. Ich bin überzeugt, du machst dir beim Erzählen etwas Ähnliches zunutze. Das ist zwar äußerst effektvoll, macht aber keinen Eindruck auf mich.« Ihr Menschen habt einfach zu viele Emotionen, meinte Avatar. Das ist euer größter Fehler. Würdet ihr die volle Wahrheit kennen, würdest du mich verstehen. Dhark zog seinen Nadelstrahler und richtete ihn auf den Goldenen.
»Wenn du uns schon keine Hilfe zukommen lassen willst, dann laß uns wenigstens frei. Die Menschheit braucht mich; irgend jemand muß schließlich das Problem mit der sterbenden Sonne lösen und die Erde retten. Also, was ist? Zeigst du mir den Ausgang, oder soll ich dich in deine Bestandteile zerlegen?« Avatar blieb gelassen. Er machte keinerlei Anstalten, die Flucht zu ergreifen. Hast du Fesons Geschichte nicht richtig begriffen, Commander Dhark? Oder glaubst du, ich hätte mir das alles nur ausgedacht? Ren Dhark wußte, worauf er hinauswollte. Angeblich funktio‐ nierten im »Hier« keine Waffen. Doch das kam auf einen Versuch an… Dhark drückte ab. Nichts passierte. Allein dafür sollte ich dich töten, drohte ihm Avatar. Aber ihr Menschen amüsiert mich, insbesondere euer Roboter Artus. Wir werden sicherlich noch eine Menge Spaß miteinander haben. Artus fand, daß es an der Zeit war, einzugreifen… * Ich fand, daß es an der Zeit war, einzugreifen. Avatar war bereits im Begriff zu zerfließen. Ihr werdet entweder verhungern und verdursten, oder ihr verfallt vorher dem Wahnsinn, lautete sein »Abschiedsgruß«. So konnte ich ihn natürlich nicht von dannen ziehen lassen, darum gab ich ihm noch ein paar »freundliche Worte« mit auf den Weg. »Ich brauche rein gar nichts zu essen und zu trinken, allenfalls ab und zu ein bißchen Schmieröl für die Gelenke, doch das wird sich schon auftreiben lassen, angesichts der vielen Maschinen ringsum.« Ich sagte ja schon: Von dir werde ich noch lange etwas haben. »Oder ich von dir. Bis ich auseinanderfalle, vergeht eine ewig lange Zeitspanne. Eines kann ich dir versprechen: Ich werde meinen ge‐ samten Aufenthalt darauf verwenden, dir dein Dasein in dieser
Hölle zur selbigen zu machen.« Avatar hatte sich damit gebrüstet, ein Sprachexperte zu sein. An meinem letzten Satz hatte er allerdings ganz schön zu knabbern. Er verharrte mitten im Verschmelzungsvorgang und sah jetzt aus wie eine halbfertige, menschengroße Statue, der die Beine fehlten, weil die Arbeiter der Gießerei überraschend in Streik getreten waren. Nach einer Weile wuchs er wieder aus dem Boden heraus und stabilisierte sich. Anschließend schaute er mich prüfend von oben bis unten an – insoweit man bei einem Gesichtslosen von »schauen« sprechen konnte. Mit deiner unzerstörbaren Gestalt, deinen Fähigkeiten und deinem Ver‐ stand stellst du gewissermaßen eine neue Stufe der Evolution dar, äußerte er sich schließlich. Eine von Es durchgeführte Überprüfung deiner Seele hat ergeben, daß sie rein und voller guter Absichten ist. Darum darfst du gehen – oder bleiben, ganz wie du willst. Wie entscheidest du dich? »Meine Seele ist auch rein!« blaffte Jimmy dazwischen. »Aber ich würde meinen Dicken niemals allein hier zurücklassen.« Avatar beachtete ihn gar nicht. Allein für diese Arroganz hätte ich ihn liebend gern zu einer goldenen Taschenuhr zusammen‐ geschmolzen. Aber auch meine Strahlenwaffen waren deaktiviert. Zum Glück verfügte ich noch über andere Fähigkeiten, so daß ich nicht wehrlos war. Shanton beugte sich zu Jimmy herab und streichelte ihn. Wütend musterte er den Goldenen. Man mußte kein Gedankenleser sein, um zu erkennen, was in diesem Moment in seinem Kopf vorging. Unweit von mir färbte sich ein quadratisches Stück des Fußbodens plötzlich dunkel goldener, leicht ins Graue übergehend. Du brauchst dich nur in das Quadrat zu stellen, schon kannst du von hier fort, informierte mich Avatar. Du erscheinst dann wieder auf Skythos, direkt unter der Säule. Richte der Besatzung eures Raumschiffs aus, daß sie die anderen nie mehr wiedersehen wird. – Wofür entscheidest du dich? Gehen oder bleiben? Ich kam mir vor wie bei einer Quizsendung. Alle Blicke richteten
sich auf mich, und jeder wartete ungeduldig auf meine Antwort. Jetzt bloß nichts Falsches sagen…! Dank meiner zahllosen Begabungen war ich die gefährlichste und vielseitigste Verteidigungswaffe, die unserer Gruppe zur Verfügung stand. Somit gab es für die anderen an meiner Entscheidung nicht den geringsten Zweifel. Für mich auch nicht. »Du läßt mich gehen?« versicherte ich mich noch einmal bei Ava‐ tar. »Das ist wirklich nett von dir!« Verblüfft, ärgerlich oder auch erschrocken sahen mich meine Freunde an, während ich mich gemächlichen Schrittes zu dem dun‐ kelgoldenen Quadrat begab. Verstanden Sie denn nicht, daß es Chancen gab, die man nicht ungenutzt verstreichen lassen durfte…? ENDE Ein Universum Release