Nina Varelli
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Nina Varelli
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Vielen Dank an Anja Schierl, Redakteurin für „Hinter Gittern“ bei RTL, für ihren Einsatz und ihre Unterstützung bei der Entstehung dieses Buches.
© 2001 by Dino entertainment AG, Rotebühlstraße 87, 70178 Stuttgart Alle Rechte vorbehalten © RTL Television 2001. Vermarktet durch RTL Enterprises. © Grundy UFA TV Produktions GmbH 2001 Das Buch wurde auf Grundlage der RTL-Serie „Hinter Gittern – der Frauenknast“ verfasst. Die hier niedergeschriebenen Geschichten sind frei erfunden. Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig. Mit freundlicher Genehmigung von RTL Cheflektorat: Veronica Reisenegger Redaktion: Waltraud Ries Fotos: Stefan Erhard Umschlaggestaltung: tab Werbung GmbH/ Holger Stracker, Nina Ottow, Stuttgart Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck: Ebner, Ulm ISBN: 3-89748-421-8 Dino entertainment AG im Internet: www.dinoAG.de Bücher – Magazine – Comics
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Jule Neumann verlebt eine sorglose Jugend in geordneten Verhältnissen. Als sie erfährt, dass sie ein Adoptivkind ist, bricht für sie eine Welt zusammen. Sie rutscht in die Drogenszene ab und gerät auf die schiefe Bahn: Jule stiehlt, betrügt und raubt, um an Geld für Drogen zu kommen. Dabei wird sie erwischt und landet in Reutlitz…
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Erster Teil
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„Jule, beeil dich mein Schatz, wir wollen gehen“, tönte die Stimme von Ingrid Neumann durch die großzügige Berliner Neubauwohnung. „Ich komme schon, ich muss nur noch…“ Jules Stimme brach ab. Sie versuchte gerade mit zusammengebissenen Lippen ihr buntes Sommerkleid zuzumachen, und das war gar nicht so einfach, wenn der Reißverschluss hinten und man selbst zu klein war, um daran zu kommen. Aber sie wollte ihre Mutter nicht um Hilfe bitten. Bestimmt hätte sie ihr verboten das Kleid anzuziehen, weil es ganz neu war und noch ein bisschen geändert werden musste. Jule biss sich auf die Lippen, so wie sie es immer tat, wenn sie sich auf etwas besonders konzentrierte. Dann beugte sie sich vorsichtig nach vorne, drehte den Oberkörper ein wenig zur Seite und griff mit einer Hand nach dem Reißverschluss. Sie zog ihn ganz langsam zu. Geschafft, stöhnte sie, als sie ihn endlich glücklich bis nach oben gebracht hatte und schaute im nächsten Augenblick neugierig in den Spiegel. Sie war acht Jahre und ein hübsches Mädchen: Ihre dunklen Augen blickten klar und aufgeweckt. Wenn sie so wie jetzt lächelte, dann kräuselte sich ihre Stupsnase mit den leichten Sommersprossen und auf den Wangen erschienen zwei zarte Grübchen. Ihre Haut war nach den drei Wochen an der französischen Atlantikküste von der Sonne gebräunt und ihr schwarzes gelocktes Haar gab ihr ein fast südländisches Aussehen. Das Kleid hatte einen gelbrötlichen Grundton und war mit lustigen türkisfarbenen Schlangenlinien durchzogen. Es waren afrikanische Muster, hatte ihre Mutter erklärt. Und Afrika war ganz weit weg, am 5
anderen Ende vom Meer. Die Menschen dort hatten eine schwarze Hautfarbe, so wie Jimmy aus ihrer Klasse. Sein Vater war allerdings nicht aus Afrika, sondern aus Chicago. Aber der Verkäufer vom Strand war ein Afrikaner und wenn er gelacht hatte, hatten seine weißen Zähne aufgeblitzt. Er war sehr nett gewesen und hatte Jule alle seine Kleider geduldig gezeigt, so lange bis sie sich entschieden hatte. Das ausgesuchte Exemplar war zwar ein bisschen zu groß für ihre schmale Figur, doch ihre Mutter änderte Kleidungsstücke schnell und gerne. Allerdings wollte Jule heute nicht auf die notwendigen Näharbeiten warten. Sie schwang sich ein breites Tuch um die Taille, dass den weiten Stoff eng zusammenraffte. So sah man fast gar nicht mehr, dass das neuerworbene Stück zu groß war, fand sie und zupfte das Ganze noch ein bisschen zurecht. „Mama! Ich bin fertig, wir können gehen!“, rief sie und eilte über den langen Flur in Richtung Küche. Fast stieß sie mit ihrer Mutter zusammen. Sie hatte Jules Trödelei genutzt, um noch schnell das Geschirr für das Abendessen zurechtzustellen. „Jule! Das Kleid ist doch viel zu groß, wir müssen noch den Saum kürzen und an den Seiten gehören auch ein paar Abnäher rein.“ Ingrid Neumann betrachtete ihre Tochter kopfschüttelnd. Sie war eine Frau so um die 40. Ihr dichtes rotbraunes Haar ging ihr bis zur Schulter, und ihre braunen Augen blickten normalerweise sanft und verständnisvoll. Jetzt allerdings hatte sie die Augenbrauen hochgezogen und sie schaute verärgert auf Jules Aufmachung. „Aber mit dem Tuch als Gürtel geht es doch“, protestierte Jule und stemmte ihre schmalen Arme in die Hüften. Sie legte die Stirn in Falten und blitzte ihre Mutter wütend an. Oh nein, bitte jetzt keinen von Jules berüchtigten Wutausbrüchen, dachte Ingrid Neumann. Den konnten sie vor dem Einkaufsbummel wirklich nicht gebrauchen. Außerdem,
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was war so schlimm daran, wenn Jule das Kleid trug? Wenn ihr so viel daran lag? „Wenn du meinst“, lenkte sie ein, und wurde sofort von Jules Jubelschreien unterbrochen. Sie drehte sich tänzelnd vor ihrer Mutter, sodass der Rock des Kleides mitschwang. „Die anderen in der Schule werden staunen, wenn ich ihnen sage, dass ich das Kleid von einem…“ Jule hielt inne und biss sich nachdenklich auf die Lippen, sie schaute ihre Mutter von unten an. „Wie heißen die noch mal?“ „Fliegende Händler“, lachte ihre Mutter. „Wir haben das Kleid bei einem Fliegenden Händler gekauft, der von der Elfenbeinküste kam.“ Sie schmunzelte über das aufgeregte Gesicht ihrer Tochter. Jule konnte sich wirklich über die kleinste Kleinigkeit freuen, nicht so wie bei so manchen anderen Kindern, die sie als Grundschullehrerin in einem ziemlich feinen Viertel von Berlin täglich erlebte. Da ging es nur darum, wer den teuersten Pullover hatte, wer die beste Uhr oder die angesagtesten Markenturnschuhe. Bei ihrer Tochter war das Gott sei Dank anders. Sie freute sich über ein billiges Kleidchen aus Nordafrika genauso wie über ein Paar Turnschuhe von Adidas. Bei ihr spürte man nichts von einem solchen Marken-Terror. Ingrid Neumann betrachtete ihre Tochter glücklich. Sie konnte wirklich froh sein, dass Jule sich so gut entwickelte. Und das Wichtigste war: Sie ahnte nichts davon, dass sie in Wirklichkeit gar nicht ihre leibliche Tochter war. Die Neumanns hatten Jule adoptiert, als sie noch ein Baby war. Sie selbst konnten keine Kinder bekommen und hatten sich schließlich für eine Adoption angemeldet. Nach jahrelangem Warten war dann endlich Jule zu ihnen gekommen. Sie liebten sie abgöttisch. „Jetzt trödelst du aber, Mami“, unterbrach die Stimme von Jule ihre Gedanken. Ingrid Neumann lachte und nahm ihre Tochter bei der Hand, um zur Bushaltestelle zu
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gehen. Sie fuhren bis Bahnhof Zoo, von hier aus wollten sie rüber zum Kurfürstendamm, der berühmtesten Straße Berlins. Hier konnte man wunderbar bummeln und die Mischung zwischen teuren und einfachen Boutiquen machte die Auswahl an Kleidern wirklich groß. Außerdem mussten jede Menge Hefte, Stifte und sonstiger Schulkram für Jule gekauft werden. Auch für ihren eigenen „Schulanfang“ wollte Ingrid Neumann ein neues Kostüm kaufen. Denn sie musste schließlich am selben Tag wieder in der Schule stehen wie Jule. Ein bisschen graute es ihr davor. Sicher, sie liebte ihren Beruf, deswegen hatte sie auch schon vor fünf Jahren diese Zehn-Stunden-Stelle angenommen, doch diesmal stand ihr ein anstrengenderes Jahr bevor: Schon seit langem drängte ihre Direktorin sie, mehr zu arbeiten, doch bisher hatte Ingrid Neumann gezögert. Sie wollte so viel Zeit wie möglich mit ihrer Jule verbringen. Aber ihre Aufgaben als Lehrerin kamen dabei häufig zu kurz, denn es war gar nicht so leicht, bei so wenigen Stunden ein Verhältnis zu den Schülern aufzubauen. Sie waren alle in Jules Alter und brauchten viel Aufmerksamkeit und Fürsorge. Für dieses Jahr hatte sie zugesagt, mehr zu arbeiten. „Guck mal, Mama“, rief in dem Moment Jule. Sie klang ganz aufgeregt und zog ihre Mutter näher an ein Schaufenster heran. „Das würde dir doch sicher stehen.“ Sie zeigte auf einen bordeauxroten schlichten Hosenanzug. Ingrid Neumann nickte nachdenklich. Sie hatte Jule noch nichts von der beruflichen Veränderung gesagt. Irgendwie hatte bisher die richtige Gelegenheit gefehlt und sie war sich auch nicht sicher, wie Jule es aufnehmen würde. Sie hatte sich sehr daran gewöhnt, ihre Mutter ständig um sich zu haben und sie verbrachten sehr viel Zeit zusammen. Vielleicht sogar manchmal zu viel Zeit. Ingrid Neumann wusste, dass es nicht gut war, ein Kind zu
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sehr an die Eltern zu binden, doch sie mochte sich manchmal gar nicht von Jule trennen. „Na, was ist?“ Jules Stimme klang drängelnd. Ingrid Neumann gab sich einen Ruck und konzentrierte sich auf das Kleid. Jule hatte Recht, die Farbe würde in schönem Kontrast zu ihrem braungebrannten Gesicht stehen und auch mit ihren rotbraunen Haaren gut harmonieren. Sie strich Jule lächelnd übers Haar. „Wenn ich dich nicht hätte, meine kleine Modeberaterin“, sagte sie zärtlich. „Dann probier es doch an, bestimmt sieht es ganz toll aus!“ Jule nahm ihre Mutter ungeduldig bei der Hand. Sie waren schon eine ganze Weile unterwegs und Jule genoss es sehr, ihre Mutter für sich zu haben. Aufgeregt lief sie neben ihr her und schwang stolz ihre Tüten mit den neuen Schulsachen hin und her. Sie kam sich auch schon richtig groß vor, wenn sie mit ihr zusammen in die Modegeschäfte ging. Ihre Mutter nahm ihre Meinung ernst und fragte sie um Rat, wie eine Freundin. Außerdem kauften sie auch immer etwas Schönes für Jule: Ein Spielzeug oder etwas zum Anziehen. Heute waren es ja vor allen Dingen Schulsachen, die sie bekam. Hefte mit lustigen Comics, ein neues Mäppchen, eins mit einem neuen Füller, genauso einen, wie die anderen in der Klasse auch alle hatten. Außerdem waren da ganz viele bunte Stifte drin. Damit würde sie in der Schule toll malen können, – das machte sie besonders gerne. Lustig war es auch, wenn sie Sport hatten und die Lehrerin sich Spiele ausdachte. Da konnte man sich so richtig austoben und laut sein, das war klasse. Jule blieb bei dem Gedanken an Sport abrupt stehen. Sie schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Mama! Wir müssen ja noch Sportzeug kaufen“, rief sie aufgeregt. „Die Sachen vom letzten Jahr sind ganz schön eng geworden. Wie viel Zeit haben wir noch?“
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„Jule das müssen wir verschieben. Die Läden habe zwar noch eine gute Stunde auf, aber ich habe deinem Vater versprochen, dass wir heute frühzeitig zu Abend essen. Er wollte später noch einmal weg, um sich mit Onkel Peter zu treffen.“ Jule rümpfte die Nase, als sie den Namen ihres Onkels hörte. Sie mochte den Bruder ihrer Mutter nicht. Ein dicker Mann mit einer lauten Stimme, der schon bei der geringsten Anstrengung ins Schwitzen kam und permanent außer Atem war. „Onkel Peter kann doch warten. Papa sieht ihn doch immer zum Karten spielen“, gab Jule angewidert zurück. Ihr Sportzeug war ja wohl bei weitem wichtiger als der doofe Onkel Peter. Sie zog eine Schnute und blickte ihre Mutter mit zusammengekniffenen Augen an. „Nein, Jule. Diesmal geht es wirklich nicht. Sieh mal, dein Vater ist doch den ganzen Tag arbeiten und freut sich auch, dich abends mal in Ruhe zu sehen.“ „Aber Papa will bestimmt nicht, dass ich ohne neues Turnzeug in die Schule muss“, erklärte Jule triumphierend, als es um ihren Vater ging. „Wir können ihn ja nachher mal fragen.“ Sie wusste genau, was sie sagte. Denn tatsächlich ergriff ihr Vater in den meisten Fällen für sie Partei. Er hatte schon oft gesagt, wie sehr er es hasste, wenn der Haussegen schief hing oder und eine angespannte, aggressive Stimmung in der Luft war. Jule musste nur einen Tobsuchtsanfall ankündigen, dann lenkte er in den meisten Fällen ein. „Für dich haben wir schließlich auch jede Menge Klamotten gekauft“, schimpfte Jule weiter und funkelte ihre Mutter mit wütenden Blicken an. „Du hast mich gar nicht mehr richtig lieb“, jammerte sie dann und ihr wütendes Gesicht verwandelte sich in eine Unglücksmine. Das sagte sie oft in letzter Zeit, dieses Du hast mich nicht mehr lieb und irgendwie glaubte sie in dem Moment auch daran. Sie war es gewohnt, zu
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bekommen, was sie wollte, wenn das mal nicht so war, fühlte sie sich schnell zurückgesetzt und benachteiligt. „Jule, du weißt, dass du jetzt ungerecht bis“, erwiderte Ingrid Neumann bemüht ruhig. „Nur, weil es einmal nicht nach deinem Kopf geht, heißt das nicht, dass ich dich nicht lieb habe.“ Sie seufzte. Manchmal war es wirklich wie verhext. Jule konnte ja nicht ahnen, dass sie dieser Satz besonders traf, weil wahrscheinlich jede Adoptivmutter immer auch in der Angst lebte, ihrem angenommenen Kind nicht genug Liebe zu geben. Obwohl Ingrid Neumann Jule über alles liebte, blieb sie an diesem Punkt immer verletzlich. Deshalb hatten sie und ihr Mann Jule auch immer noch nicht die Wahrheit gesagt. Sie wollte verhindern, dass ihre Tochter auch nur den geringsten Zweifel an ihrer Liebe hatte. Wie so oft in diesen Fällen gab sie auch heute nach. Allerdings mehr aus taktischen Gründen: Sie wollte beim Abendessen darüber sprechen, dass sie in Zukunft mehr arbeiten würde. Und da war es nicht gut, Jule gegen sich aufgebracht zu haben. Ihre Rechnung ging auf. Als sie beim Abendessen erzählte, dass sie in Zukunft mehr Zeit in der Schule verbringen würde, kam kaum Protest von Jule. Auch als sie erklärte, dass sich dadurch vielleicht sogar das ein oder andere Mal das Mittagessen verzögern würde, verhielt sich Jule erstaunlich ruhig. „Hauptsache, du kommst überhaupt mittags nach Hause“, erklärte sie mit einem großen Augenaufschlag und ließ sich bereitwillig den Teller füllen. Ingrid warf ihrem Mann einen kurzen Blick zu. Er lächelte beruhigend, so als wolle er sagen, siehst du, es ist doch gar nicht so schlimm, deine Sorgen waren ganz umsonst. Doch Ingrid Neumann kannte Jule. Normalerweise hätte sie wenigstens ein bisschen protestiert, und wenn es nur aus Prinzip war. Jule hatte das Gefühl,
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vernachlässigt zu werden, noch nie gemocht. Irgendetwas an ihrem Verhalten war merkwürdig!
Jule lag an diesem Abend lange wach. Sie hatte sich den Schulbeginn echt anders vorgestellt. Sie hatte sich darauf gefreut, allen zu erzählen, wie toll es in den Ferien war. Aber jetzt hatte sie ihre Mutter in einen ganz schönen Schock versetzt. Als sie vorhin erklärte, dass sie mehr arbeiten würde, war Jule fast der Bissen im Halse stecken geblieben. Ihr war von jetzt auf gleich ganz kalt geworden und sie hatte starr gelächelt. Natürlich, warum sollte ihre Mutter nicht ein bisschen mehr arbeiten, versuchte sie sich jetzt einzureden. Die meisten Mütter ihrer Freundinnen arbeiteten halbe Tage. Doch schon bei dem Gedanken daran stiegen Jule die Tränen in die Augen. Sie vergrub ihren Kopf in den Kissen und schluchzte leise. Warum zog ihre Mutter es auf einmal vor, sich um fremde Kinder zu kümmern, anstatt wie bisher für sie dazusein? Was hieß das, die Kinder brauchten sie? Jules Schluchzen wurde heftiger, als sie an die Erklärungen ihrer Mutter dachte. Irgendwas von „Verantwortung und mehr Zeit, um einen guten Job zu machen“ hatte sie geredet. Jule drückte ihren Teddy fest an sich. Aber sie brauchte doch ihre Mutter auch! Wer hatte Zeit für sie, wenn ihre Mutter plötzlich nicht mehr da war?
Ein paar Tage später war es soweit: Der erste Schultag nach den großen Ferien. Jule war ganz aufgeregt, als sie aus dem Auto ihrer Mutter stieg. Trotz der Enttäuschung über die neuen Arbeitszeiten ihrer Mutter freute sie sich auf die anderen Kinder in der Klasse. Sie hatte zwar keine richtig feste Freundin, doch sie verstand sich mit allen gut und hatte 12
meistens viel Spaß in der Schule. Sie schlenderte über den Schulhof und hielt Ausschau nach einem bekannten Gesicht. In der Nähe vom Eingang stand Clarissa und schaute ihr entgegen. „Na, immer noch das Mamakindchen, das sich zur Schule bringen lässt?“, bemerkte sie spöttisch, als Jule sie begrüßte. Mamakind?, durchfuhr es Jule. Was sollte das denn? Clarissa war zwar für ihre schlechte Laune bekannt, aber so was hatte sie noch nie gesagt. Verärgert betrachtete sie die Mitschülerin. Sie war groß und schlaksig, die dünnen Haare hatte sie immer zu einem Pferdeschwanz gebunden. Obwohl sie nichtssagend aussah und ein eher mürrisches Wesen hatte, war sie sehr beliebt in der Klasse. Ihre Eltern hatten ziemlich viel Geld und sie brachte oft Süßigkeiten mit, die sie großzügig unter ihren Mitschülern verteilte. Jule mochte ihre angeberische Art nicht. „Du wirst doch selber immer von deinem Vater gebracht“, entgegnete sie trotzig und blickte auf ihre Fußspitzen. Doch kurze Zeit später hob sie den Kopf und lächelte versöhnlich. Sie hatte keine Lust, mit Clarissa zu streiten. „Also, was hast du in den Ferien gemacht?“, fragte sie neugierig. „Bestimmt wart ihr wieder an so einem megaschicken Urlaubsort.“ Clarissa nickte und für einen Moment umspielte ein bitteres Lächeln ihre Mundwinkel, dann fasste sie sich wieder. „Ja, wir waren in Nizza. Papa hat sich da eine Jacht angeschaut, die er vielleicht kaufen will.“ Sie machte eine Pause und genoss die Wirkung, die ihre Worte auf Jule machten. Dann fügte sie lässig hinzu: „Es war ganz schön.“ Jule nickte bewundernd. Clarissa hatte es wirklich gut, an so tolle Orte zu kommen. Sie dagegen fuhr mit den Eltern immer auf einen Campingplatz in der Nähe von Bordeaux. Und auch wenn sie diese Urlaube sehr genoss, so beneidete sie Clarissa doch
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manchmal, wenn sie von tollen Hotels, riesigen Stränden und tausend Geschenken erzählte.
Wenig später saßen sie in der Klasse und wurden von ihrer Lehrerin Frau Dornbeck begrüßt. Um sich nach den langen Ferien wieder aneinander zu gewöhnen, sollten sie alle von ihren Urlaubserlebnissen erzählen. Als die Reihe an Jule war, schwärmte sie von den Tagen am Strand und erzählte, dass sie mit ihrem Vater sogar auf einem Schiffskutter mitgefahren ist. „Mein Vater ist echt spitze im Urlaub. Wie ausgewechselt. Der nimmt sich dann viel Zeit für mich, weil wir uns ja hier so selten sehen. Wegen der Arbeit.“ Jule berichtete von den tollen Spielen am Strand und den Ausflügen in kleinere Orte der Umgebung. „Allerdings war es ziemlich langweilig, sich die ganzen Kirchen anzugucken. Da habe ich gesagt, dass mir die Füße weh tun und dann sind wir meistens in eine Eisdiele gegangen.“ Die anderen in der Klasse lachten, nur Clarissa warf Jule einen bitteren Blick von der Seite zu. Dann zischte sie: „So etwas von einem Kleinkind. Wie kann man nur den ganzen Tag im Urlaub mit den Eltern verbringen.“ Ihre Stimme klang verächtlich und sie warf Jule einen hasserfüllten Blick zu. Jule zuckte zusammen und senkte den Kopf. „Na, na, Clarissa“, mischte sich die Lehrerin ein, der die Wirkung von Clarissas Worten nicht entgangen war. „Jule ist doch kein Kleinkind, nur weil ihre Eltern etwas mit ihr unternehmen. Und außerdem…“ Mitten im Satz stockte sie, weil sie sich nicht sicher war, was sie sagen sollte. Clarissas Eltern hatten sie nämlich angerufen. Sie würden sich in Kürze scheiden lassen und befürchteten nun, dass die Trennung nicht spurlos an ihrer Tochter vorübergehen würde. Frau Dornbeck seufzte. Es war gar nicht so leicht, allen Kindern gerecht zu werden. Sie wollte Clarissa nicht noch mehr Grund zur
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Traurigkeit geben, aber sie konnte auch nicht dulden, dass sie auf anderen Mitschülern herumhackte.
Nach der Schule stand Jule mit einigen aus der Klasse zusammen und erzählte gerade von dem afrikanischen Kleid, dass sie dem ,Fliegenden Händler’ abgekauft hatte. Clarissa stand etwas abseits und hörte mit verkniffenem Gesichtsausdruck zu. „Pah!“, machte sie, als Jule geendet hatte. „So ein billiger Fetzen. Können sich deine Eltern es nicht leisten, dir ein richtiges schickes Kleid in einer Boutique zu kaufen?“ Sie machte eine Pause und schaute triumphierend in Jules unglückliches Gesicht. „Sie sind doch sonst so dahinter her, dass es ihrer kleinen Jule an nichts fehlt“, bemerkte sie höhnisch. Die anderen Schüler fingen bei Clarissas Worten an zu lachen und Jule schossen die Tränen in die Augen. Das war gemein! Nicht jeder konnte so viel Geld haben wie Clarissa und außerdem erzählte sie doch sonst auch immer, was ihre Eltern alles Tolles mit ihr veranstaltet hätten. Und warum lachten die anderen? Ihre Eltern hatten doch auch nicht viel mehr Geld, manche waren noch nicht einmal in die Ferien gefahren, das wusste sie von Frau Dornbeck. Aber wahrscheinlich war jeder froh, dass er von Clarissas beißendem Spott verschont wurde.
Jule war froh, als die Schule endlich vorbei war. Sie hatte die ganze Stunde kein Wort gesagt, so verletzt war sie und wütend. Jetzt eilte sie nach Hause. Sie wollte ihrer Mutter alles erzählen. Die wusste in solchen Fällen immer was zu tun war. Sie drückte heftig auf die Klingel und wippte ungeduldig von einem Bein auf das andere. Sie versuchte es noch einmal, doch niemand öffnete. Ach ja, ihre Mutter kam ja heute später, fiel
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ihr siedend heiß ein. Sie hatte gesagt, dass es am ersten Schultag immer so viel zu tun gab. Sie wäre unmöglich vor zwei, drei Uhr zu Hause. Jule presste die Zähne ganz fest aufeinander, um nicht loszuheulen. Ausgerechnet heute! Umständlich kramte sie den Schlüssel aus der Tasche und betrat die Wohnung. Sie pfefferte den Ranzen in die Ecke und setzte sich an den großen Küchentisch. Ein Teller stand für sie bereit und ein Glas. Daneben eine Flasche mit Orangensaft. Auf einem Zettel stand: Im Kühlschrank findest du Kartoffelbrei und eine Mettwurst, das magst du doch so gerne? Heute Abend kochen wir dann zusammen und erzählen uns von unserem ersten Schultag. Einverstanden? Einen dicken Kuss von deiner dich liebenden Mama. Jetzt schossen Jule doch die Tränen in die Augen. Und erzählen uns von unserem ersten Schultag. Toller erster Schultag! Was hatte sie davon, heute Abend mit ihrer Mutter zu kochen und zu reden? Jetzt brauchte sie jemanden. Jetzt sofort! Ohne einen Bissen anzurühren, räumte sie den Teller und das Glas wieder in den Schrank. Dann ging sie in ihr Zimmer und legte sich auf ihr Bett. Sie starrte regungslos an die Decke. Ganz verlassen und einsam fühlte sie sich. In der Schule waren alle gegen sie und jetzt gab es noch nicht mal mehr eine Mutter, die ihr half. Jule hatte das sichere Gefühl, niemand auf der ganzen Welt würde sich für ihr Unglück interessieren. Mit einer Hand suchte sie ihren Teddy und nahm ihn in den Arm. „Ich bin ganz alleine“, flüsterte sie dem Teddy ins Ohr und spürte, wie ihr langsam die Tränen über die Wange liefen.
Die nächsten Wochen wurden die reinste Hölle für Jule. Clarissa schaffte es innerhalb kürzester Zeit, die ganze Klasse gegen sie aufzuhetzen. Jule verstand überhaupt nicht, wie ihr
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geschah. Zu Hause erzählte sie nichts und verharrte in ihrer Trotzecke. Ihre Mutter war nicht da gewesen, als Jule sie gebraucht hatte, jetzt brauchte sie niemanden mehr. Außerdem fand Jule, dass ihre Mutter wirklich nur noch mit ihrer eigenen Schule beschäftigt war. Auch an diesem Abend erzählte sie ellenlange Geschichten über ihre Klasse und erkundigte sich erst ganz zum Schluss nach Jule. Ihr Vater war schon längst aufgestanden und hatte es sich vor dem Fernseher bequem gemacht. Jule schaute ihre Mutter nur kurz an. „Alles in Ordnung“, erwiderte sie knapp und stand unter den misstrauischen Blicken ihrer Mutter auf. Sie half noch beim Abräumen, blockte die Fragen ihrer Mutter jedoch alle ab. Jetzt habe ich auch keinen Bock mehr, dachte sie stur.
Als sie abends alleine in ihrem Bett lag, fühlte sie sich allerdings ziemlich einsam und unglücklich. Aber was hätte es gebracht, ihrer Mutter alles zu erzählen? Sie hätte ja doch nur kurz Zeit gehabt und wäre dann wieder in ihr Arbeitszimmer verschwunden, um den Unterricht vorzubereiten. Jule kuschelte sich in ihre Decke und versuchte zu schlafen, doch immer hatte sie die Bilder von der Schule vor Augen. Clarissas hämisches Grinsen und die schadenfrohen Gesichter der anderen. Sie öffnete die Augen. Das Zimmer war von einem hellen Lichtstreifen durchzogen, den der volle Mond durchs Fenster warf. Was habe ich nur falsch gemacht, flüsterte sie in die Stille. Was? Auch wenn sie keine beste Freundin in der Klasse hatte, war sie doch immer beliebt gewesen. Sie hatte doch in den Pausen immer mit den anderen gespielt und musste nie alleine herumstehen wie jetzt. Sie hatte es immer gerne gehabt, wenn sie herumgetobt hatten oder nach der Schule zusammengeblieben waren, um sich gegenseitig ihre Geheimnisse anzuvertrauen. Und jetzt hatte diese Clarissa ihr
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alles kaputt gemacht! Warum nur? Jule runzelte verzweifelt die Stirn. Sie konnte natürlich nicht ahnen, dass ihre Mitschülerin einfach nur eifersüchtig war, und verbittert, weil ihre Eltern sich scheiden ließen. Es gibt nur eine Lösung, dachte Jule nach langer Zeit erschöpft. Ich muss weg von dieser Schule. Weg von dieser gemeinen Clarissa. „Mama, kann ich nicht auf eine andere Schule gehen?“, fragte sie am nächsten Morgen beim Frühstück vollkommen unvermittelt. „Eine in einem anderen Viertel oder zu dir?“ Ingrid Neumann war gerade dabei, Kaffee aufzuschütten und hielt bei Jules Worten inne. Sie setzte den Wasserkocher zurück auf die Herdplatte und setzte sich zu ihrer Tochter. „Warum willst du denn nicht mehr in die Schule gehen?“ Sie strich Jule vorsichtig über den Kopf und schaute sie abwartend an. „Alle sind so gemein zu mir“, platzte es jetzt heftig aus Jule heraus. „Clarissa ärgert mich, wo sie nur kann und die anderen sind alle auf ihrer Seite.“ Sie hatte Tränen der Verzweiflung in den Augen und biss die Zähne ganz fest aufeinander, weil sie nicht mit verheulten Augen in die Schule wollte. Ingrid Neumann betrachtete ihre Tochter nachdenklich. Was war nur los mit Jule? Seit Wochen schon bekam sie kein Wort mehr aus ihrer Tochter heraus. Dabei hatte sie früher immer alles von der Schule erzählt. Und seit wann nahm sie sich einen blöden Streit so zu Herzen. Ingrid Neumann schaute auf die Uhr. So ein Mist, dachte sie. Es war schon wieder Zeit. Sie mussten los, wenn sie pünktlich sein wollten. „Hör zu, Jule, wir reden ein anderes Mal darüber ja? Jetzt gehst du erst mal in die Schule und sagst dieser Clarissa, dass sie aufhören soll, dich zu ärgern. Du wirst sehen, das ist alles nur halb so schlimm.“ Sie stand auf und räumte die Frühstückssachen vom Tisch. „Weißt du, weglaufen ist sowieso keine Lösung“, sagte sie und strich ihrer Tochter über
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den Kopf. Jule presste die Lippen aufeinander. Hätte sie doch den Mund gehalten, ihrer Mutter war ja doch egal, was die anderen mit ihr machten. Ihre doofe eigene Klasse war ihr viel wichtiger. Jule zitterte vor Wut. Noch nie hatte sie sich so verlassen und einsam gefühlt.
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Als Jule an diesem Morgen in die Klasse kam, hatten die anderen die Köpfe zusammengesteckt und tuschelten aufgeregt. Jule ging unsicher an ihren Platz. Sie dachte schon, die Heimlichtuereien gälten ihr, doch da entdeckte sie bei der Lehrerin ein Mädchen, das sie noch nie vorher gesehen hatte. Eine Neue? Jule grinste. Die sah ja lustig aus mit ihren knallroten Haaren und den vielen Sommersprossen. Sie trug ein dunkelblaues kurzes Kleid und hatte einen überdimensionalen Ranzen neben sich abgestellt. „Ruhe bitte, Kinder, setzt euch doch bitte auf eure Plätze und seid ruhig“, rief die Lehrerin Frau Dornbeck. In Windeseile saßen die Schüler, schließlich waren alle neugierig, wer die Neue war. „Wie ihr sicher nicht übersehen habt, bekommen wir Verstärkung“, scherzte Frau Dornbeck und legte den Arm um die Schulter der Neuen. „Aber am besten stellt Lotte sich euch selber vor!“ Lotte, was für ein lustiger Name, dachte Jule und beobachtete das Mädchen. Sie stand aufrecht vor der Klasse und schaute mit einem geraden offenen Blick zu den Schülern. Ihre Haltung wirkte irgendwie kämpferisch, so als wolle sie sagen: „Ich bin neu, aber legt euch bloß nicht mit mir an.“ „Hi“, begrüßte sie die Schüler und ein leicht überlegenes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Mein Name ist Lotte! Lotte Kemp. Ich bin acht Jahre alt und ich bin neu in Berlin. Vorher habe ich mit meinen Eltern in Hamburg gewohnt.“ Sie machte eine Pause und ließ ihren Blick durch die Klasse schweifen. Die ist ja ganz schön cool, fuhr es Jule anerkennend durch den Kopf. Sie selbst hätte bestimmt ein bisschen gezittert, wenn sie 20
so vor einer fremden Klasse hätte stehen müsste. Sie hörte, wie die Lehrerin die Schüler aufforderte, Fragen zu stellen. Ein paar meldeten sich zögernd zu Wort. Wie alt Lotte sei, wollten sie noch mal wissen, und ob sie noch Geschwister hätte. „Warst du auch schon mal auf einem Schiff im Hamburger Hafen“, fragte einer der Jungs und staunte nicht schlecht, als Lotte mit einem verächtlichen „nicht nur einmal“ antwortete. „Und wo hast du diese Pipi-Langstrumpf-Haare her?“, tönte es plötzlich spöttisch von Clarissa. Jule zuckte zusammen. Neugierig wartete sie auf die Reaktion der Neuen. „Erstens: Wenn du findest, dass meine Haare aussehen wie Pipi Langstrumpf, okay.“ Sie sprach dieses okay gedehnt aus, amerikanisch, oder so, wie sie glaubte, dass die Amerikaner es sagen würden. Jule war beeindruckt. Ihre Mutter hatte mal eine amerikanische Austauschschülerin mit nach Hause gebracht, die hatte auch immer okay gesagt. „Das war immerhin ein mutiges Mädchen und kein Waschlappen, wie es so viele gibt“, beendete Lotte nach einer kurzen Pause ihren Satz und schaute Clarissa mit einem bedeutungsvollen Blick an. Jule riss erstaunt die Augen auf. Das war stark. Die nahm ja wirklich kein Blatt vor den Mund. Da würde Clarissa echt Probleme bekommen, freute sie sich. Schon jetzt schauten die anderen Schüler ziemlich aufgeregt zu Lotte und nahmen kaum Notiz von Clarissas Bemerkung. „Und zweitens“, fuhr Lotte mit aller Seelenruhe fort. „Zweitens finde ich Leute, die solche Fragen stellen, generell doof!“ Sie grinste breit und amüsierte sich ganz offensichtlich über die Wirkung, die ihre Worte in der Klasse hervorriefen. Es wurde mäuschenstill. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so leise waren die normalerweise immer unruhigen Kinder. Alle blickten mit offenem Mund zu Lotte. Wie konnte die Neue es wagen, so mit Clarissa zu sprechen? Auch Jule schaute bewegungslos nach vorne, allerdings konnte
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sie sich kaum ein Grinsen verkneifen. Die Neue hatte Mut, so viel stand fest. Kam einfach so in die Klasse, kannte niemanden und machte erst mal klar, dass sie sich von niemandem etwas gefallen lassen würde. Aus den Augenwinkeln schielte Jule zu Clarissa. Sie saß stocksteif an ihrem Platz, das Gesicht vor Zorn gerötet und die Lippen fest aufeinander gepresst. Nach der ersten Stille ging ein Raunen durch die Klasse. Alle Kinder tuschelten, bis Frau Dornbeck eingriff und sie zur Ruhe mahnte. „Wenn ihr wollt, könnt ihr Lotte bis zum Klingeln noch ein paar Fragen stellen“, sagte sie und warf Clarissa einen strengen Blick zu. „Aber bitte solche, die nicht beleidigend sind.“ „Seit wann bist du denn schon hier?“, rief ein Mädchen und ein anderes wollte wissen, ob Lotte denn schon Freunde in Berlin hätte. „Was machen deine Eltern?“ „Warum seid ihr hierher gezogen?“, riefen die Schüler durcheinander und Frau Dornbeck hatte Mühe, die Kinder zur Ordnung zu rufen und sie dazu zu bringen, ihre Fragen nacheinander zu stellen. Lotte genoss es offensichtlich, im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses zu stehen. Sie erzählte lang und breit, dass sie erst seit einer Woche in Berlin war, dass ihr Vater als Manager einer großen Firma hierher versetzt worden war und dass sie noch niemanden kannte. „Aber jetzt bin ich ja in dieser Schule hier und denke, dass es hier auch ein paar nette Leute gibt.“ Jule schüttelte bei diesen Worten fast unmerklich den Kopf. Damit war Clarissa gemeint. Zwei zu Null für die Neue! Neugierig verfolgte Jule die aufgeregte Stimmung in der Klasse. Es war eindeutig, dass Lotte mit ihrem ersten Auftritt jede Menge Pluspunkte gesammelt hatte. „Jule?“, unterbrach die Lehrerin ihre Gedanken. „Räumst du das Pult neben dir leer? Dann kann Lotte sich zu dir setzen.“
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Frau Dornbeck war neben sie getreten und lächelte freundlich auf sie herab. Jule stammelte ein selbstverständlich und nahm schnell ihren Ranzen weg, den sie auf den leeren Platz neben sich gelegt hatte. „Hi, schön, dass ich hier sitzen kann“, begrüßte Lotte sie und schwang sich auf den Stuhl neben Jule. „Ja, genau“, stammelte Jule verwirrt, dann lachte sie über ihre eigenen Nervosität. „Ich meine, ich bin Jule. Jule Neumann.“
In den darauffolgenden Tagen wurde das Leben tatsächlich etwas leichter für Jule. Clarissa war so beschäftigt damit, ihre Position gegenüber der Neuen zu vertreten, dass sie gar keine Zeit hatte, Jule zu ärgern. Zwar sprachen die anderen aus der Klasse immer noch kaum mit ihr, doch wenigstens war sie nicht ständig den bösen Bemerkungen ausgesetzt. Allerdings war die Stimmung zu Hause im Moment wirklich angespannt. Ihre Mutter kam öfter erst nachmittags nach Hause und entschuldigte das mit dem Schulanfang. Ich muss einfach erst wieder Routine bekommen, jetzt mehr zu arbeiten. Hab ein bisschen Geduld mit deiner Mama, sagte sie häufig. Jule hatte aber keine Geduld. Mit wem sollte sie denn all die Sachen besprechen, die in der Schule passierten? Tage vergingen, bis ihre Mutter sich bei einem der wenigen gemeinsamen Mittagessen danach erkundigte, wie es mit Clarissa gelaufen sei. Doch Jule hatte keine Lust zu antworten. „Das interessiert dich doch gar nicht, wieso fragst du?“, entgegnete sie schlecht gelaunt und stocherte mit der Gabel in ihrem Essen herum. Ihre Mutter schaute sie stirnrunzelnd an. „Natürlich interessiert mich das. Was ist los? Habt ihr immer noch Streit?“
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„Wir haben keinen Streit! Clarissa ist supergemein zu mir, ich streite überhaupt nicht!“ Jule legte entnervt die Gabel neben ihren Teller und verschränkte die Arme vor der Brust. Das brachte doch alles nichts. Vom darüber reden würde sie von den anderen in der Klasse auch nicht besser anerkannt werden. Ingrid Neumann beobachtete ihre Tochter. Was war nur mit Jule? Dauernd wich sie einem Gespräch aus. Sie war doch immer so ein lustiger Fratz gewesen und hatte den ganzen Tag von ihren Schulerlebnissen geplappert. Aber jetzt war sie nur noch verstockt und abweisend. Das konnte doch nicht nur daran liegen, dass sie jetzt weniger Zeit hatte? Sobald sich der erste Stress mit der neuen Klasse gelegt hatte, würde sie sich wieder mehr um Jule kümmern. Aber im Moment wusste sie wirklich nicht, wo ihr der Kopf stand. Eine ganz neue Klasse und gleich jede Menge Probleme: Schüler, die schon im ersten Schuljahr nicht mehr kommen wollten, Eltern, die ihre Kleinen mindestens für Einstein hielten und sich Sorgen um die gute Förderung machten und ein paar der üblichen lauten Raufbolde. Ingrid Neumann schob ihren Teller ein Stück zurück und überlegte. Vielleicht fehlte Jule eine Beschäftigung außerhalb der Schule. Sie war in keinem Verein und auch in keiner Musikschule. Daran war Ingrid Neumann natürlich nicht ganz unschuldig, das wusste sie. Sie hatte immer so viel und so gerne etwas mit Jule unternommen, dass ihre Tochter gar nicht auf die Idee kam, sich für irgendetwas anderes zu interessieren. Allerdings hatte sie in diesem Sommer häufiger von einem Schwimmverein erzählt, in dem einige aus der Schule waren. „Wolltest du nicht nach den Sommerferien beim Schwimmverein vorbeischauen? Du hast doch erzählt, dass man da ganz tolle Sachen lernt. Außerdem wärst du mit Kindern in deinem Alter zusammen.“
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„Nein danke“, stieß Jule wütend hervor. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Der Schwimmverein, in dem Clarissa, Meike und die ganzen anderen Mädchen waren. „Außerdem, wieso willst du mich denn plötzlich los sein“, fragte sie in einem provozierenden Tonfall. Sie sah genau, wie ihre Mutter zusammenzuckte, und für einen Moment tat es Jule Leid, so gemein zu sein. Aber was sollte es. Schließlich war ihre Mutter auch gemein zu ihr, weil sie keine Zeit hatte und weil sie Jule mit den Streitereien in der Schule ganz alleine ließ. „Ich gehe Hausaufgaben machen“, erklärte sie kurz darauf und verließ die Küche.
Nachdem Jule gegangen war, blieb Ingrid Neumann eine ganze Weile regungslos am Küchentisch sitzen. Jule zog sich immer mehr zurück, das kannte sie gar nicht von ihrer Tochter. Sie schaute aus dem Fenster. Jules Veränderungen hatten exakt an dem Tag begonnen, an dem sie eröffnet hatte, dass sie nun mehr arbeiten wollte. Aber was sollte sie denn machen? Sie konnte doch nicht ihr ganzes Leben zu Hause bleiben? Irgendwann würde Jule aus dem Haus gehen und dann wäre sie ganz alleine. Und es war ja auch nur im Moment so viel. Sobald sie aus dem Gröbsten in der Schule raus war, dann würde sie wieder ganz viel Zeit haben. Ingrid Neumann stützte sich mit den Ellbogen auf dem Küchentisch ab und legte den Kopf in ihre Hände. Jule hatte immer an erster Stelle gestanden. Damals, als sie zu ihnen kam, hatte sie ziemlich bald aufgehört zu arbeiten. Sie war zu Hause geblieben, hatte sich um Jule gekümmert, sie gewaschen, gefüttert, sie in den Schlaf gewiegt. Bei dem Gedanken an diese Zeit stiegen Ingrid Neumann die Tränen in die Augen. Langsam erhob sie sich vom Küchentisch und ging in das Schlafzimmer. Manchmal tat es gut, in den alten 25
Erinnerungen zu wühlen, dachte sie und öffnete die Schranktüre. Sie schob die Kleiderbügel zur Seite, bis ein Wandsafe mit einem altmodischen Zahlenschloss zum Vorschein kam. Der Safe war schon in der Wohnung, als sie eingezogen waren. Sie hatten ihn damals mehr aus Spaß behalten, doch inzwischen hatte er sich als ganz nützlich erwiesen, besonders wenn es darum ging, das ein oder andere Geheimnis zu bewahren. Sie drehte den Griff, bis die Klappe aufsprang und nahm einen blauen Briefumschlag heraus. Sie entnahm ein Polaroid-Foto und betrachtete es lange. Die einzige Verbindung zu Jules Vergangenheit, die sie aufgehoben hatte. Ein Bild von Jules leiblicher Mutter, einer gewissen Mona Suttner mit dem frisch geborenen Baby im Arm. Mein Gott, ist das lange her, dachte Ingrid Neumann und umklammerte das Foto. Sie hatte sich damals vorgenommen, der kleinen Jule immer ihre ganze Liebe und Aufmerksamkeit zu geben, einem Kind, das von seiner leiblichen Mutter weggegeben wurde. Sie erinnerte sich auch noch ganz genau an den Tag, als die Frau von der Adoptionsstelle anrief. Seit Jahren hatten sie und ihr Mann sich um ein Kind bemüht, und jedes Mal, wenn sie bei der Stelle nachgefragt hatten, waren sie vertröstet worden. Der Zustand war unerträglich und ihre Ehe litt gewaltig darunter. Sie wünschten sich so sehr ein Kind, dass sie an nichts anderes mehr denken konnten, der Alltag zu zweit erschien ihnen leer und sinnlos. Jeder stürzte sich in seine Arbeit und die Abende verbrachten sie häufig gemeinsam vor dem Fernseher. Ingrid Neumann hatte fast schon die Hoffnung aufgegeben, als dieser Anruf kam. Man hätte ein Baby für sie und ihren Mann, allerdings müssten sie sich sehr schnell entscheiden. Noch am selben Tag war sie mit ihrem Mann ins Krankenhaus gefahren, um sich das Kind anzusehen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Wie süß Jule ausgesehen hatte, so klein und zerbrechlich, so schutzlos und
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liebesbedürftig. Sie hatten nicht lange gebraucht, um sich zu entscheiden. Natürlich würden sie Jule zu sich nehmen. Binnen weniger Tage waren die formellen Angelegenheiten erledigt und endlich waren sie eine richtige Familie! Ingrid Neumann wischte sich mit dem Handrücken eine Träne weg und steckte das Bild wieder in den Umschlag. Von dem Tag an war es in ihrem Leben wieder bergauf gegangen. Plötzlich war die alte Verbundenheit zu ihrem Mann wieder da und sie hatten sich wieder etwas zu sagen. Mit der Liebe zu Jule hatte auch ihre Liebe wieder eine Chance bekommen. Und sie selbst hatte damals eine neue Aufgabe bekommen: Jule. Und bis zum heutigen Tag war das Kind der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen und das sollte auch so bleiben. Ingrid Neumann ging ins Badezimmer und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Sie arbeitete mehr, okay. Doch das hieß nicht, dass sie ihre Tochter vernachlässigte. Jule musste lernen, dass sich nicht ihr Leben lang alles nur um sie drehen konnte. Menschen liebten einander, doch sie mussten auch ihren eigenen Bedürfnissen nachgehen. Ingrid Neumann seufzte. Sie kannte Jule und sie wusste, dass sie ihre Tochter ganz schön verwöhnt hatte. Nun würde es einiges an Geduld brauchen, um ihr Verhältnis wieder auf eine gesunde Basis zu stellen.
Am nächsten Morgen sprach Jule kaum ein Wort mit ihrer Mutter. Sie antwortete nur einsilbig auf ihre Fragen und ging früher als gewohnt zur Schule. Lieber saß sie noch eine Weile auf dem Schulhof herum, als ihrer Mutter bei den letzten Vorbereitungen für den Tag zuzusehen. Als sie in der Schule ankam, standen nur vereinzelt ein paar Kinder herum, es dauerte noch eine ganze Viertelstunde, bis der Unterricht anfing. Die wenigen, die schon früher von ihren Eltern hier abgesetzt wurden, kickten mit irgendwelchen Abfällen durch
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die Gegend oder standen tuschelnd an der Mauer. Jule suchte sich einen Platz in der Nähe vom Eingang, dann konnte sie schnell rein, sobald der Hausmeister das Tor öffnete. Sie hatte keine Lust, lange herum zu stehen und den anderen aus der Klasse Gelegenheit für ihre dämlichen Sprüche zu geben. Plötzlich tauchte wie aus dem nichts Lotte neben ihr auf und begrüßte sie mit einem kurzen Hallo. Sie saßen jetzt schon seit einer Woche nebeneinander, hatten allerdings in den Pausen noch nicht viel miteinander geredet. Jule war der Neuen gegenüber immer noch ein bisschen schüchtern, denn sobald die Schulglocke die Pause einläutete, wurde sie von den anderen Schüler umringt, da hatte Jule keine Lust sich dazuzugesellen. Die meisten ignorierten sie nämlich immer noch, wenn auch der ständige Streit mit Clarissa etwas nachgelassen hatte. Jule seufzte erleichtert. Das hatte sie zum großen Teil Lotte zu verdanken. Seit sie da war, hatte Clarissa ganz schön zu kämpfen. „Warum bist du denn schon so früh da?“, wollte Lotte gut gelaunt wissen. Jule zuckte mit den Schultern. „Hab mich in der Uhrzeit vertan!“ „Ach so“, entgegnete Lotte. „Meine Mama hat mich früher gebracht, weil sie gleich einen Arzttermin hat. Da wollte sie nicht zu spät kommen.“ Sie grinste und legte sie den Kopf ein bisschen zur Seite. „Magst du eigentlich in der großen Pause mal mit mir spielen?“, fragte sie dann und schaute Jule aufmunternd an. „Ich meine, wir sitzen nebeneinander, aber in der Pause bist du immer weg. Das ist doch eigentlich schade.“ Jule spürte, wie ein aufgeregtes Kribbeln durch ihren Körper lief. Es stimmte. Sie blieb meistens in der Nähe vom Schulbüdchen und hielt sich krampfhaft an ihrem Kakao fest, in der Hoffnung, dass die elende Pause bald vorüber war. Jetzt strahlte sie über das ganze Gesicht.
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„Ich dachte, du hast schon so viele Freundinnen“, bemerkte sie vorsichtig, wurde jedoch amüsiert von Lotte unterbrochen. „Was denn. Die Hühner? Die sind doch echt affig. Nerven mich die ganze Zeit mit blöden Fragen. Du hast mich noch nicht so gelöchert. Das fand ich echt klasse. Also was ist?“ Jule wurde rot und versprach, in der Pause nicht wieder zu verschwinden, sondern bei Lotte zu bleiben. Dann schellte es und Jule lief eilig in die Klasse. In den nächsten zwei Stunden war sie ganz aufgeregt. Immer musste sie daran denken, dass Lotte sie gefragt hatte, ob sie mit ihr spielen würde. „Was ist denn heute mit dir los, Jule?“, fragte Frau Dornbeck kopfschüttelnd, nachdem sie Jule schon zum zweiten Mal aufgefordert hatte, besser zuzuhören. „Entschuldigung“, murmelte Jule und kniff bemüht konzentriert die Augenbrauen zusammen. Endlich klingelte es. Jule räumte eilig ihre Hefte in den Ranzen und schaute abwartend zu Lotte, die schon wieder von zwei Schülern belagert wurde. Susi und Meike wollten mit ihr zum Turnplatz, doch Lotte schüttelte bedauernd den Kopf. „Tut mir Leid“, sagte sie im Tonfall einer Erwachsenen. „Aber ich habe schon eine sehr wichtige Verabredung. Also lasst mich in Ruhe, okay?“ Dann drehte sie sich zu Jule um. „Kommst du?“, fragte sie ungeduldig. Jule nickte aufgeregt. Lottes okay war echt Klasse und ließ sie noch cooler erscheinen als sie sowieso schon war. Sie stand auf und warf Meike und Susi einen triumphierenden Blick zu, dann stolzierte sie an Lottes Seite hinaus. Draußen hakten sie sich unter und spazierten die ganze Pause hindurch über den Schulhof. Wie die Großen, dachte Jule und genoss die neidischen Blicke der anderen. Lotte erzählte ihr von Hamburg, von der alten Schule und den Sommerferien. Sie mussten unheimlich lachen, als sie feststellten, dass sie beide in Frankreich und beide in der Nähe von Bordeaux auf einem
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Campingplatz ihre Ferien verbracht hatten. „Schade, dass wir uns in den Ferien noch nicht kannten“, überlegte Lotte. „Dann hätten wir unsere Eltern überreden können, sich zu treffen.“ „Oder wir hätten sie gleich von Anfang an auf denselben Campingplatz gelotst“, warf Jule ein und prustete. Lotte nickte und hielt Jule plötzlich fest. „Das können wir ja im nächsten Jahr machen“, schlug sie voller Tatkraft vor. Jule nickte. Gute Idee. Sie hatte schon oft davon geträumt, mal eine richtig gute Freundin zu haben. Zwar war sie bisher immer mit ihrer Mutter zusammen gewesen, und das war auch echt klasse, doch manchmal beneidete sie die anderen Mädchen mit ihren so genannten „besten Freundinnen“. Mit Lotte war es einerseits fast so vertraut wie mit ihrer Mutter, andererseits viel lustiger, weil sie eben genau die gleichen Sachen dachten oder fühlten. Doch bei dem Gedanken an ihre Mutter krampfte sich ihr Magen ein wenig zusammen. Die alte vertraute Zeit war vorbei, dachte sie traurig. „Hey, hörst du mir überhaupt zu?“, beschwerte sich Lotte in dem Moment und rüttelte Jule am Arm. „Du hast ausgeschaut als würdest du schon in Frankreich sein und nicht mehr hier auf der Schule.“ „Doch, doch, ich bin schon noch hier!“ Jule seufzte tief. „Ich habe nur gerade über etwas nachgedacht. Aber das erzähle ich dir ein andermal.“ „Okay, wie du meinst“, erklärte Lotte achselzuckend und hakte sich wieder bei Jule unter. „Aber jetzt lass uns schnell machen. Es hat schon geschellt und die Dornbeck bekommt sicher einen Herzinfarkt, wenn wir zu spät in die Stunde kommen.“ Jule nickte lachend und gemeinsam liefen sie die Treppen hoch. Vollkommen außer Atem kamen sie an ihren Plätzen an. Frau Dornbeck war noch nicht da und sofort wurde Lotte von ein paar Mädels umringt, die ihr irgendwelche
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Bildchen zum Tausch anbieten wollten. Jule grinste in sich hinein. Wie hatte Lotte die anderen genannt? Hühner? Na, wenn die wüssten. Als die Lehrerin hereinkam und alle wieder an ihren Plätzen saßen, zupfte Jule Lotte noch mal kurz am Arm. Als sie sich zu ihr umdrehte, lächelte sie und flüsterte: „Schön, dass du jetzt in unsere Klasse gehst.“
Ingrid und Klaus Neumann bemühten sich derzeit vergeblich, die Stimmung zu Hause etwas aufzulockern und mit Hilfe neutraler Themen wieder mit ihrer Tochter ins Gespräch zu kommen, aber Jule verschloss sich immer mehr. Ingrid Neumann war ziemlich niedergeschmettert. Sie hatte tiefe Ränder unter den Augen und bewältigte nur mit Ach und Krach den ganzen Stress in der Schule. Warum hatte sie diese Stelle nur angenommen, dachte sie in letzter Zeit häufig. Wenn sie nicht so viel arbeiten würde, hätte Jule sich vielleicht nicht so vernachlässigt gefühlt.
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„Wo warst du denn so lange?“ Ingrid Neumann begrüßte ihre Tochter mit einem kurzen Blick auf die Uhr. Jule zuckte die Schultern. „Ich bin noch mit Lotte in der Schule geblieben“, erklärte sie kurz angebunden und setzte sich an den gedeckten Tisch. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und fügte mit ernster Mine hinzu: „Wir hatten noch etwas zu besprechen.“ In letzter Zeit bequatschte sie tatsächlich alles, was ihr durch den Kopf ging, mit Lotte. Und es machte ihr richtig Spaß, so eine Freundin zu haben. Ingrid Neumann schmunzelte über den Tonfall ihrer Tochter und stellte den Herd an, um den Kartoffelbrei noch einmal aufzuwärmen. Sie gab sich mit Jules Antwort zufrieden und drang nicht weiter in sie. Sicher, sie hätte gerne weiter gefragt, vor allen Dingen würde sie gerne etwas über diese Lotte erfahren, aber sie hielt sich zurück. Sie wollte die langsame Annäherung Jules an sie nicht gefährden, denn wenigstens sprach Jule seit ein paar Tagen wieder etwas mehr und ihr Ton war nicht mehr ganz so abweisend. Als das Essen aufgewärmt war, verteilte sie es auf die Teller. Schweigend begannen sie zu essen. Geduld, sagte sich Ingrid Neumann immer wieder, als sei es eine göttliche Formel. Wir brauchen alle Geduld! „Könntest du denn am Freitag nach der Schule pünktlich sein?“, griff Ingrid Neumann die Unterhaltung nach einer Weile wieder auf. „Onkel Peter kommt zu Besuch, doch wie immer hat er wenig Zeit und du weißt ja, wie sehr er sich immer freut, dich zu sehen.“ Jule ließ die Gabel sinken und blickte ihre Mutter widerstrebend an. Onkel Peter. Sie 32
verspürte nicht die geringste Lust, diesen neugierigen, stinkenden Kerl zu sehen. Sie würde nie verstehen, dass er und ihre Mutter Geschwister waren. „Mal gucken“, antwortete Jule gedehnt. „Am Freitag haben wir glaube ich noch einen Wettlauf nach der Schule.“ Sie schaute ihre Mutter mit leicht geröteten Wangen an. Sie hatte noch nie gut lügen können, aber es erschien ihr immer noch besser, als diesen Onkel zu sehen und überhaupt hatte sie im Moment keine Lust auf diese Art von Familienfeiern. „Versuch es einfach“, bat ihre Mutter und bemühte sich ruhig zu bleiben. Jule war sonst immer pünktlich zu Familientreffen gekommen, doch jetzt machte sie nur noch was ihr gefiel. Aber Ingrid Neumann wollte um nichts in der Welt wieder Jules Hass auf sich ziehen, indem sie ihr etwas verbot oder sie zu etwas zwang. „Wir würden uns einfach alle sehr freuen, dich zu sehen“, sagte sie stattdessen und stand auf, um die Teller wegzuräumen.
Am Freitag in der Schule überlegte Jule den ganzen Vormittag fieberhaft, wie sie um dieses Familientreffen herumkam. Mit ihren Eltern verstand sie sich zwar wieder etwas besser, aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie Bock hatte, einen auf liebe Familie zu machen. Warum sollte sie vorspielen, dass alles in Ordnung war, wenn ihre Eltern sich in Wirklichkeit nicht mehr um sie kümmerten? Und ausgerechnet Onkel Peter, dachte Jule verächtlich. Sie bekam sowieso keinen Bissen herunter, wenn er schnaufend sein Mittagessen in sich hineinschlang. Sie stierte dabei auf die Klassentafel, ohne wirklich zu sehen, was die Dornbeck dorthin schrieb. „Sollen wir nach der Schule noch turnen?“, flüsterte sie Lotte zu und schaute die Freundin erwartungsvoll an. Lotte kaute an ihrem Bleistift und tat so, als überlege sie angestrengt. Jule
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stupste sie lachend. „Hey, ich weiß genau, dass du Lust hast!“ Lotte kicherte hinter vorgehaltener Hand. „Okay, lass uns noch ein bisschen turnen. Ich will es einfach noch schaffen, diese doofe Rolle rückwärts an der Stange hinzubekommen“, antwortete sie dann leise, doch es war nicht leise genug, denn die Lehrerin war schon neben die beiden Mädchen getreten. „Jule“, sagte sie mit mahnender Stimme. „Ich hatte dich zwar gebeten, Lotte alles zu zeigen und zu erklären, doch ich meinte damit, dass du es in den Pausen tun sollst.“ Sie wandte sich an Lotte. „Dasselbe gilt für dich, junge Dame. Wenn du Fragen hast, dann frag, aber bitte nach dem Unterricht.“ Sie drehte sich um und wollte zur Tafel gehen, doch dann hielt sie inne und drehte sich noch einmal um. „Jule, ich wollte sowieso etwas mit dir besprechen, kannst du nach der Stunde bitte kurz in der Klasse bleiben?“ Jule nickte und senkte den Kopf. Sie mochte Frau Dornbeck, aber sie sollte sich doch einfach freuen, dass Jule jetzt eine Freundin gefunden hatte. Dann brauchte die Lehrerin sie wenigstens nicht mehr vor Clarissa und den anderen zu verteidigen.
Als es zur Pause schellte, blieb Jule wie versprochen sitzen. Lotte lächelte sie beim Hinausgehen noch einmal an. „Sie wird dir nicht den Kopf abreißen“, meinte sie. „Und wenn doch, dann kannst du immer noch alles auf mich schieben.“ Jule schüttelte entrüstet den Kopf. So was wür de sie doch nie tun, die Schuld auf Lotte schieben. Dann schielte sie zu Frau Dornbeck. Die wartete, bis die Kinder alle den Raum verlassen hatten und kam dann zu Jule. Sie setzte sich auf den Stuhl von Lotte und legte die Hände in einander. Jule beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre, hätte sie so gar lachen müssen: Es sah lustig aus, wie die
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große schlanke Frau Dornbeck auf dem kleinen Stuhl saß. Ein bisschen wie eine Witzfigur. „Jule“, begann die Lehrerin nach einer Weile. „Ich hatte immer das Gefühl, du gehst ganz besonders gerne zur Schule und machst auch gerne im Unterricht mit.“ Jule nickte schweigend und schaute Frau Dornbeck erwartungsvoll an. „Aber in letzter Zeit bist du abwesend, oft weißt du nicht, wo wir gerade dran sind und scheinst mit deinen Gedanken ganz woanders zu sein. Was ist los mit dir?“ Jule presste die Lippen aufeinander. Warum konnte man sie nicht einfach in Ruhe lassen? Jeder wollte was von ihr: Ihre Mutter wollte, dass sie mit einem fiesen Onkel zu Mittag aß, ihr Vater wollte, dass sie freundlich war und Frau Dornbeck verlangte jetzt auch noch, dass sie immer schön brav in der Schule war. „Vielleicht bin ich nicht so, wie alle immer denken“, stieß Jule trotzig hervor. „Vielleicht bin ich keine gute Schülerin!“ „Du weißt, dass das nicht stimmt“, sagte Frau Dornbeck leise und legte ihre Hand auf Jules Arm. Bei der Berührung schossen ihr die Tränen in die Augen. Früher hatte sie sich immer von ihrer Mutter in den Arm nehmen lassen, doch in letzter Zeit ging sie solchen Liebkosungen aus dem Weg. Sie kamen ihr falsch vor und unehrlich. Aber bei der Berührung von Frau Dornbeck, bei ihrer sanften Stimme und dem ernsten aber liebevollen Blick, da spürte sie plötzlich, wie sehr sie sich danach sehnte, dass jemand sie in den Arm nahm, sie festhielt und tröstete. Frau Dornbeck bemerkte Jules Tränen und strich ihr vorsichtig über die Wange. „Jedenfalls sollst du wissen, dass du jederzeit mit mir reden kannst, wenn du möchtest.“ Jule nickte und blieb auch noch an ihrem Platz sitzen, nachdem die Lehrerin gegangen war. Normalerweise durfte man nicht alleine in der Klasse bleiben, doch offensichtlich machte Frau Dornbeck dieses Mal eine Ausnahme. Jule fühlte sich so einsam und verlassen, sie sehnte sich nach den alten
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vertrauten Stunden mit ihrer Mutter und nach den lustigen Ausflügen mit ihrem Vater am Wochenende. Langsam liefen ihr die Tränen über das Gesicht. Sie legte die Hände auf ihre Unterarme und ihr schmaler Körper wurde von heftigem Schluchzen geschüttelt. Erst als es schellte, wischte sie sich schnell die Tränen ab und schlug ein Heft auf. Mit gespielter Konzentration fing sie an, Buchstaben zu malen und kaute dabei auf ihrem Bleistift herum.
„Alles in Ordnung?“, fragte Lotte, bevor der Unterricht wieder anfing. „Ja, ja alles in Ordnung“, gab Jule tonlos zurück und vermied es, Lotte anzusehen. Niemand sollte ihre Tränen sehen, noch nicht einmal die Freundin. Am liebsten hätte sie sich irgendwo auf der Welt verkrochen, sich versteckt, so lange, bis alles einfach wieder in Ordnung war. „Hey, ist ja gut“, bemerkte Lotte, die Jules abweisenden Tonfall falsch verstand. Sie verzog die Mundwinkel nach unten und wandte sich beleidigt ab. „Brauchst ja nicht gleich rumzupflaumen.“ Jule schwieg trotzig. Na toll, dachte sie. Wenn ich jetzt auch noch mit Lotte streite, dann ist wirklich alles im Eimer. Sie versuchte ihren Blick nach vorne zu lenken und sich auf den Unterricht zu konzentrieren, doch da begegnete sie dem spöttischen Grinsen von Clarissa. Was wollte die denn plötzlich wieder, dachte Jule genervt und verdrehte demonstrativ die Augen. Von ihrer alten Schüchternheit war nicht mehr viel zu spüren, seit sie mit Lotte befreundet war.
In den folgenden zwei Stunden brauchte Jule ihre gesamte Kraft, um sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Ständig musste sie an zu Hause denken. In letzter Zeit war es besser
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gelaufen, weil sie in Lotte eine echte Freundin hatte und nicht ständig über ihre Mutter nachdenken musste. Aber jetzt hatte Frau Dornbeck sie daran erinnert, dass eigentlich gar nichts in Ordnung war! Ihre Mutter hatte ihre Arbeit, ihr Vater hatte auch kaum Zeit und sie musste mit all ihren Problemen ganz alleine fertig werden. Wie sie das schaffte, das war ihren Eltern auf einmal völlig egal. Als es zum Schulschluss klingelte, packte Lotte in Windeseile ihre Hefte zusammen und eilte aus der Klasse. Jule schaute ihr verdattert hinterher. Sie wollte sich gerade für ihren doofen Tonfall nach dem Gespräch mit Frau Dornbeck entschuldigen, da war Lotte schon halb aus der Türe. Oh nein, dachte Jule, jetzt ist sie sauer. Sie musste ihr sofort hinterher und die ganze Sache erklären. Sie beeilte sich ebenfalls zur Türe zu kommen. Doch plötzlich wurde sie von hinten angerempelt. Sie drehte sich um und schaute in das grinsende Gesicht von Clarissa. „Mach mal Platz, Mamakind“, höhnte sie abfällig und wollte sich an Jule vorbeidrängeln. Für einen Moment stockte Jule der Atem. Wieso fing Clarissa wieder damit an? Sie hatte in letzter Zeit schön ruhig gehalten, wahrscheinlich aus Angst vor Lotte. „Tja, was machen wir denn, wenn keine Mama und kein Rotschopf in der Nähe sind, um uns zu helfen?“, tönte Clarissa weiter. Ach so war das! Jule ballte die Fäuste, ihr Gesicht wurde rot vor Wut. Clarissa hatte den kleinen Streit zwischen Lotte und ihr mitbekommen und wollte Jule jetzt einen Denkzettel verpassen. Sie atmete tief ein, dann streckte sie ihre Hände vor dem Körper aus und stieß Clarissa mit aller Kraft nach hinten. Der Stoß war so fest, dass diese verhasste Kuh direkt auf dem Boden landete. „Aah“, kam es ziemlich kläglich aus ihrem Mund und Jule beugte sich zu ihr runter. Sie griff Clarissa am Kragen und zischte: „Lass deine miesen Sprüche, okay?
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Andernfalls…“ Sie hob die Faust als wäre damit alles gesagt und erhob sich. Mit erhobenen Kopf ging sie an den anderen Schülern vorbei nach draußen. Da stand Lotte und grinste sie breit an. „Na, der hast du es aber gegeben, ich wusste gar nicht, dass du raufen kannst“, lachte sie. „Das wusste ich auch nicht“, entgegnete Jule und spürte erst jetzt, wie ihre Beine anfingen zu zittern. Sie hatte einfach reagiert, aus Wut und weil sie nicht wollte, dass alles von vorne los ging. Sie schaute zu Lotte und beiden prusteten los. „Bist du noch sauer?“, fragte Jule nach einer Weile kleinlaut. „Nee, war ja Quatsch einfach abzuhauen“, meinte Lotte versöhnlich und legte den Arm um Jule. Gemeinsam gingen sie zu ihrem Lieblingsplatz auf dem Schulhof: Ein Mauervorsprung am Turnplatz. In einer Art Sandkasten waren mehrere Stangen aufgebaut. Man konnte prima turnen, ohne sich zu verletzen, wenn man den Halt verlor und in den weichen Sand fiel. „War ja eigentlich gar nicht so schwer, Clarissa einen Denkzettel zu verpassen“, überlegte Jule laut. „Logisch ist das nicht so schwer“, ereiferte sich Lotte. „Ist doch auch total wichtig, dass man sich wehrt.“ Na ja… Jule überlegte. Sie war schon froh, dass sie es Clarissa gezeigt hatte. Sie schaute zu Lotte. Die verdrehte die Augen, weil Jule anscheinend noch über ihre Aktion nachdachte und sprang von der Mauer. „Komm her, ich zeig dir was! Du darfst dich aber nicht wehren, musst mir vertrauen.“ Sie zog Jule neben sich in den Sand und stellte sie in Position. Dann umklammerte sie sie mit Armen und Beinen und warf sie mit einem sanften Ruck auf den Boden. Jule rappelte sich verwirrt wieder hoch und klopfte sich den Sand von den Klamotten.
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„Was sollte das denn?“ Sie schüttelte verständnislos den Kopf und fühlte noch mal nach, ob sie sich wirklich nichts verletzt hatte. „Das sollte ein Judotrick sein“, erklärte Lotte voller Stolz. „Das ist ein Kampf, bei dem man sich gegenseitig versucht auf die Matte zu bekommen. Toll was?“ Jule biss sich auf die Lippen. So etwas gab es? Man konnte als Mädchen lernen, wie man jemanden zu Boden warf? „Tut das denn nicht weh?“, fragte sie vorsichtig. „Nicht, wenn man aufpasst und genau das macht, was einem der Lehrer erklärt!“ Lotte neigte den Kopf zur Seite, wie sie es manchmal machte, wenn ihr eine Frage auf den Lippen lag. „Magst du nicht mal mit zum Training kommen? Wenn es dir gefällt, kannst du dich auch anmelden“, schlug sie vor. „Au ja!“, rief Jule spontan. „Das wäre toll!“ Sie klatschte begeistert in die Hände und schlug Lotte vor, ihr doch gleich schon mal was beizubringen, damit sie in der ersten Stunde nicht so doof dastehen würde. Doch plötzlich hielt sie inne und ihr Lächeln gefror ihr auf den Lippen. „Was ist los?“, wollte Lotte besorgt wissen. Jule biss sich auf die Lippen. Wie sollte sie der Freundin erzählen, dass es ja gar nicht gehen würde? Sie hatte keine Lust, ihre Mutter um irgendetwas zu bitten, dazu war sie zu stolz. Aber ohne die Erlaubnis der Eltern durfte man nicht in einen Verein, ganz abgesehen davon, dass sie ja auch gar kein Geld hatte. Sie spürte wie ihr eine dicke Träne die Wange herunter lief und wischte sie energisch ab. „Hey Jule, jetzt erzähl mal, was los ist“, flüsterte Lotte und legte unbeholfen den Arm um die Freundin. Jule versuchte mühsam die Tränen zurückzuhalten, doch ohne Erfolg. Wie in Sturzbächen liefen sie ihr über die Wangen und schluchzend erzählte sie ihrer Freundin, dass die Eltern sich gar nicht mehr für sie interessierten. „Meine Mutter arbeitet nur noch, und mein Vater hat auch selten Zeit. Ich bin wie Luft für die.“ Sie
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wischte sich die Augen und zog die Nase hoch. „Weißt du“, sagte sie dann leise. „Ich würde am liebsten einfach abhauen, dann würden sie schön traurig sein und sich Vorwürfe machen, weil sie so doof zu mir waren.“ „Du willst weg?“, fragte Lotte verständnislos. Jule nickte und erzählte ihr davon, dass ihre Mutter nur noch die Schule und die fremden Kinder im Kopf hatte. „Die sind der doch viel wichtiger als ich!“, jammerte sie. Lotte betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen. „Aber deine Mutter arbeitet doch nur mit diesen Kindern, so wie die Dornbeck mit uns.“ Sie schwieg einen Augenblick und stupste die Freundin dann von der Seite an. „Deswegen hat die Dornbeck uns doch bestimmt nicht lieber als ihre eigenen Kinder!“ Jule zuckte resigniert mit den Schultern. „Kann sein, kann aber auch nicht sein“, stieß sie düster hervor. „Fest steht: Früher war meine Mutter immer für mich da und heute hat sie eben wichtigere Dinge zu tun!“ Ihre Stimme klang trotzig und verletzt. „Also, wenn du meine Meinung hören willst“, meinte Lotte. „Dann muss ich dir sagen, dass ich in Hamburg ganz viele Freundinnen hatte, wo die Mütter gearbeitet haben.“ Sie nahm Jule an der Hand. „Das ist kein Zeichen dafür, dass Mütter einen nicht mehr lieb haben“, sagte sie überzeugt. Jule schwieg. Vielleicht ahnte sie sogar tief in ihrem Inneren, dass Lotte Recht hatte, doch sie war in ihrem kindlichen Egoismus und ihrer Starrsinnigkeit viel zu verletzt, um diesen Gedanken zuzulassen. „Frag sie doch einfach noch mal wegen dem Judo. Sie wird schon nicht Nein sagen“, forderte Lotte sie versöhnlich auf und klopfte ihr auf die Schulter. Jule murmelte ein kurzes okay, das sie sich von der Freundin abgeguckt hatte und verabschiedete sich. Doch statt die paar Straßen um die Ecke nach Hause zu gehen, schlug sie die andere Richtung ein. Sie wollte in
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Richtung Kuhdamm, einfach noch ein bisschen rumlatschen. Nicht nach Hause müssen, nicht zu diesem blöden Onkel Peter, aber auch nicht zu ihren Eltern. Sie wollte einfach alleine sein und lief, ohne auf die Zeit zu achten, kreuz und quer durch kleine und große Straßen des Viertels. Anfangs kannte sie sich noch aus, doch je weiter sie sich von ihrem Viertel entfernte, umso weniger wusste sie, wo sie eigentlich gerade war. Ob sie je wieder nach Hause finden würde? Wenn sie ehrlich war, taten ihr auch schon die Füße weh. Ach Quatsch, schalt sie sich selbst. Ich laufe noch ein bisschen und dann steige ich einfach irgendwo in einen Bus. Sie musste ja nur sagen, dass sie in die Nähe der Berliner Straße wollte. Ihre Mutter hatte ihr das vor langer Zeit einmal beigebracht. Merke dir unsere Adresse und dass es in der Nähe der U-Bahnhaltestelle Berliner Straße ist. Dann würde sie immer wieder nach Hause finden. Jule lief weiter. Vielleicht war es ja auch gar nicht so schlimm, wenn sie nicht mehr nach Hause finden würde, überlegte sie und stellte sich vor, wie sie tagelang ohne etwas zu essen durch Berlin rannte. Irgendwann würde sie müde und kaputt wieder vor der Türe bei ihren Eltern sein -plötzlich blieb Jule stehen. Das da vorne kannte sie, das war doch der Tiergarten, da war sie schon mal mit ihren Eltern gewesen, ganz in der Nähe war der Bahnhof, wo sie mal ihren Vater abgeholt hatten, als er aus der Kur kam. Jule suchte mit schleppenden Schritten die Busstation. Sicher würde sie jemand mitnehmen. Endlich sah sie die gelben Schilder und ließ sich erschöpft auf der Bordsteinkante nieder. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen war. Es wurde schon dämmrig und die Füße taten ihr ganz schön weh. Sie würde einen Augenblick ausruhen und dann nach Hause fahren. Sie zog die Füße ran und legte ihren Kopf auf die Unterarme.
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Plötzlich spürte sie wie jemand an ihrer Schulter rüttelte. Eine unbekannte Stimme redete auf sie ein. „Wer bist du denn, kleine Lady?“ Jule hob verwirrt den Kopf und blickte in das Gesicht eines Mannes, der eine Polizistenmütze auf dem Kopf trug. Erschrocken fuhr sie in die Höhe. „ Wa… was ist?“, stammelte sie. „Wer sind sie? Was wollen sie von mir?“ „Ich bin Polizist und du bist hier anscheinend eingeschlafen.“ Er blickte auf seine Armbanduhr. „Es ist schon 9 Uhr durch und normalerweise solltest du doch schon zu Hause sein. Oder hast du kein Zuhause?“ Er schaute Jule misstrauisch an. Es war an sich nichts Ungewöhnliches, hier am Bahnhof irgendwelche verwahrlosten Jugendlichen auf zugreifen, doch meistens waren sie ein bisschen älter und sahen auch nicht so gepflegt aus. „Natürlich habe ich ein Zuhause. Meine Eltern sind die Neumanns und wir wohnen in der Nassauischen Straße 8 in der Nähe der U-Bahn-Station Berliner Straße“, sagte Jule ihr Sprüchlein. Der Polizist lachte amüsiert und rief eine Kollegin. „Sag doch mal über Funk Bescheid, die sollen folgende Angabe überprüfen.“ Er gab ihr Jules Daten. Wenig später winkte die Polizistin ihren Kollegen und Jule zum Wagen. „Die Adresse stimmt. Die Eltern haben schon auf der Wache angerufen, weil sie sich Sorgen um ihre kleine Tochter gemacht haben.“ Jule zuckte zusammen. Au Backe, das würde Ärger geben. Wieso hatte sie auch nicht auf die Uhrzeit geachtet? „Dann wollen wir dich mal nach Hause fahren“, kündigte der Polizist mit einem freundlichen Lächeln an. Darauf folgte allerdings eine strenge Miene. „Aber dass diese Ausflüge nicht zu Regel werden!“ Jule nickte schüchtern und stieg in das Polizeiauto. Während der Fahrt entspannte sich Jule. Nachdem der erste Schock überwunden war, fand sie das Ganze sogar eher abenteuerlich. Wenn sie das in der Schule erzählte,
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würden die anderen echt Augen machen! Besonders diese hyperbrave Clarissa mit ihren langweiligen Tanz- und Klavierstunden. „So, da wären wir!“, erklärte der Polizist nach einer Weile und hielt den Wagen an der Seite an. Jule presste ihre Nase an die Fensterscheibe und erkannte ihr Haus. Ein bisschen unwohl war ihr doch. Langsam stieg sie aus und wurde von dem Polizisten noch bis zur Wohnungstüre begleitet. „Jule!“ Ingrid Neumann nahm mehrere Stufen auf einmal, um ihrer Tochter entgegenzueilen. „Jule“, seufzte sie, als sie vor ihr stand und schloss sie in ihre Arme. „Mein Gott, ich war halb tot vor Angst.“ Sie drückte sie fest an sich und Jule spürte das vom Weinen feuchte Gesicht ihrer Mutter an ihrer Wange. Aus dem Augenwinkel sah sie auch ihren Vater auf der Treppe stehen, er blickte gerührt auf Jule und seine Frau. Jule hob den Kopf ein Stück und lächelte ihn zaghaft an. „Hallo“, sagte sie leise und fügte dann hinzu: „Ich wollte nicht weglaufen. Es ist einfach so passiert, plötzlich war ich so weit weg.“ Kein Vorwurf, kein böses Wort, Ingrid und Klaus Neumann waren ganz offensichtlich einfach nur froh, dass Jule wieder da war. Seit Stunden suchten sie nach ihrem Kind. Sie hatten in der Schule angerufen, bei Frau Dornbeck zu Hause und sogar bei Lotte. Doch niemand konnte ihnen sagen, wo Jule war. Dann hatten sie die Polizei angerufen und voller Angst gewartet. Bei jedem Klingeln des Telefons war Ingrid Neumann zusammengezuckt, ihr Mann hatte versucht, sie zu beruhigen, doch sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er selber ganz krank vor Angst war. „Jule, meine kleine Jule. Bitte, bitte mach so etwas nie wieder“, flüsterte Ingrid Neumann nach einer Weile und presste ihre Tochter fest an sich. Dann ging sie zu den Polizisten und bedankte sich. Die verabschiedeten sich mit
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einem gern geschehen und der Mann strich Jule noch mal über den Kopf. „Und wenn du im Polizeiwagen fahren willst, dann frag doch einfach, anstatt so einen Unsinn zu machen“, dabei lachte er und zwinkerte Jule verständnisvoll zu. Sie musste gleichzeitig grinsen und weinen. Als die Polizeibeamten weg waren, drückte sie sich fest an ihre Mutter. „Tut mir Leid, Mama“, schluchzte sie leise. „Tut mir wirklich Leid!“ Sie stockte und holte tief Luft. „Auch dass ich so böse Sachen gesagt habe, tut mir Leid.“ „Es ist in Ordnung, Jule“, flüsterte ihre Mutter. „Jetzt wird alles wieder gut.“
Am nächsten Morgen ging Jule zum ersten Mal seit Wochen richtig gut gelaunt in die Schule. Sie kickte mit der Schuhspitze eine Dose vor sich her, die irgendjemand weggeworfen hatte und pfiff sogar eine kleine Melodie vor sich hin. Es war, als hätte der gestrige Tag den ganzen Spuk der letzten Zeit weggeblasen. Ihre Eltern hatten sich den ganzen Abend um sie gekümmert, hatten ihr Geschichten vorgelesen und waren ganz lange an ihrem Bett geblieben. Sie hatten Jule versprochen, dass sie in Zukunft wieder mehr miteinander unternehmen wollten und sogar die Sache mit dem Judo war geritzt. Jule sollte nur mit ihrer Freundin dorthin gehen, ihre Mutter war sogar richtig begeistert von der Idee. Jetzt brannte sie natürlich darauf, den ganzen gestrigen Tag ihrer Freundin Lotte zu erzählen. Die würde Augen machen. Am besten wäre es natürlich, wenn auch Clarissa alles mitbekäme. Das heißt, dachte sie und blieb kurz stehen. Das heißt, Clarissa dürfte natürlich nur das große Abenteuer erzählt bekommen, nicht die Heimkehr in Mamas Arme.
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Doch als sie in der Schule ankam, war von Lotte weit und breit nichts zu sehen. „So ein Mist“, fluchte Jule leise vor sich hin und bezog am Schultor Stellung, um die Freundin abzupassen, sobald sie ankam. Doch wenig später schellte es zum Schulbeginn, ohne dass Lotte aufgetaucht wäre. Jule beeilte sich, in die Klasse zu kommen. „Lotte kommt heute etwas später“, erklärte Frau Dornbeck zu Anfang der Stunde in Jules Richtung. „Sie muss etwas beim Direktor besprechen.“ „Beim Direktor?“, wiederholte Jule angstvoll und schaute ihre Lehrerin mit weit geöffneten Augen an. Hoffentlich war das nichts Schlimmes?! Jule war gerade an der Tafel, als sich die Türe öffnete und Lotte leise hereinkam. Sie entschuldigte sich bei Frau Dornbeck für die Verspätung und setzte sich an ihren Platz. Jule sah sie von der Seite an. Na, die sah aber niedergeschlagen aus. Doch dann machte sich ein Lächeln in ihrem Gesicht breit. Wenn Lotte ihre Neuigkeiten hörte, ging es ihr bestimmt gleich besser. In der Pause zog sie ihre Freundin dann auch eilig zu ihrem Lieblingsplatz bei den Turnstangen. „Rate, was passiert ist?“, fragte Jule freudestrahlend und wippte unruhig von einem Fuß auf den anderen. Lotte schaute sie an und sagte nichts. Sie sah besorgt aus, irgendwie traurig, fand Jule. „Ich darf zum Judo! Meine Mutter hat es mir erlaubt! Sie erlaubt mir jetzt sowieso viel mehr, weil gestern… also es ist so viel passiert!“ Ohne weiter auf Lottes trauriges Gesicht zu achten, plapperte sie los. Ohne eine Pause erzählte sie von dem gestrigen Tag, besonders die Fahrt im Polizeiauto schmückte sie in den buntesten Farben aus. Als sie geendet hatte, schaute sie Lotte abwartend an. „Na, was sagst du?“ Lotte blickte auf ihre Füße und murmelte irgendwas von toll. 45
„Hey, was ist los mit dir“, rief Jule und stupste die Freundin übermütig an. „Hast du Knetgummi in den Ohren? Wir beide machen zusammen Judo und ich…“ „Jule“, warf Lotte ungeduldig ein und schaute ihr ins Gesicht. In ihren Augen glitzerten Tränen! Sie räusperte sich, schaute wieder auf ihre Füße, steckte die Hände in die Taschen ihrer Jeans und blickte endlich wieder hoch. „Jule, wir gehen wieder weg aus Berlin. Zurück nach Hamburg. Papa muss wieder an seinen alten Arbeitsplatz. Irgendwas ist da schief gelaufen und jetzt muss er es retten. Ich verstehe es auch nicht so ganz!“ Jule starrte die Freundin fassungslos an, ihr Mund wurde trocken. Sie hatte das Gefühl, einen Schlag in den Magen bekommen zu haben. „Aber, aber“, stotterte sie. „Wir sind doch Freundinnen?!“ Sie schüttelte den Kopf und spürte, wie die Tränen ihr übers Gesicht liefen. Lotte legte hilflos den Arm um ihre Schultern. „Ja, wir sind Freundinnen!“
Lotte verließ die Schule zum Jahresende und Jule litt sehr unter dem Verlust der Freundin. Sie versprachen zwar, sich zu schreiben und zu telefonieren, doch der Kontakt schlief bald ein. Ein Trostpflaster war, dass Jule in der Klasse keine Probleme mehr hatte. Clarissa hatte genug und hütete sich, Jule noch mal zu ärgern, auch nachdem Lotte weg war. Jule ließ sich nicht mehr veräppeln, von keiner Clarissa und auch von niemand anderem. Aber das Wichtigste war: Sie verstand sich wieder richtig gut mit ihren Eltern. Beide versuchten, ihr so gut wie möglich über den Verlust der Freundin hinwegzuhelfen. Sie unternahmen fast jedes Wochenende etwas mit ihr, mal gingen sie zum Eis laufen, mal in den Zoo oder auf eine Kirmes.
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Zweiter Teil
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„Jule, kannst du bitte noch mal zusammenfassen, was wir in der letzten Stunde über die Anfänge der französischen Revolution gesagt haben?“ Der Geschichtslehrer Herr Bock stand vor der Tafel und hatte seine Augen auf Jule gerichtet. Er war so um die vierzig und hatte graue Strähnen in seinem braunen Haar. Im Gegensatz zu den anderen Lehrern trug er Anzug und Krawatte. Er wirkte irgendwie spießig, fand Jule und wie alle Schüler fürchtete sie seine strenge Art. „Die Anfänge der französischen Revolution – “, wiederholte sie verunsichert. Sie fühlte sich ertappt und fuhr nervös mit den Händen über die Tischplatte. Krampfhaft versuchte sie sich zu erinnern. Verdammt, sie hatte diesen blöden Text zu Hause nicht wiederholt. „Ja, also das war in Paris, da waren die Menschen wütend, weil sie nichts zu essen hatten und dann haben sie dieses Gefängnis gestürmt…“ Sie stockte und blickte ihren Geschichtslehrer mit einem entschuldigenden Lächeln an. „Kannst du uns vielleicht auch sagen, wie dieses berühmte Gefängnis hieß und in welchem Jahr die Revolution stattfand?“ Der Tonfall von Herrn Bock klang schneidend. Jule schluckte. Der Name, irgendwas mit P oder B. Sie konnte sich diese französischen Wörter nicht merken. Leise sagte sie: „Ich weiß es nicht mehr, ich habe den Text nicht noch mal gelesen!“ „Das habe ich bemerkt“, erklärte Herr Bock streng und schüttelte den Kopf. „Ich möchte dich nach der Stunde sprechen!“ Dann wandte er sich an Fabian. „Kannst du ein 48
wenig Licht in dieses wichtige Kapitel der Geschichte bringen?“ „Sicher, Herr Bock. Also, die Revolution fand im Jahr 1789 statt und das Gefängnis hieß Bastille und wurde vom Volk total gehasst. Und weil sie es hassten, haben sie es einfach abgerissen.“ Schleimer, dachte Jule verächtlich, bemühte sich jedoch zuzuhören, wie ihr Mitschüler die Anfänge der französischen Revolution in Paris schilderte. Sie wollte sich nicht noch einmal die Kritik von Herrn Bock einfangen. Sie meldete sich sogar freiwillig, als es darum ging, einen Text aus dem Geschichtsbuch vorzulesen. Es war ein Brief, den irgendjemand aus dem Volk damals geschrieben hatte, und in dem er sich über seine schlechte Lebenssituation beklagte. Vielleicht sollte ich auch einmal einen Brief schreiben, überlegte Jule amüsiert, als sie fertig gelesen hatte. Ich könnte mich beim Direktor darüber beschweren, dass wir bei sengender Hitze in der Schule sitzen müssen, um uns mit längst vergangenen Zeiten zu beschäftigen. Endlich war die Stunde vorbei. Jetzt noch das Gespräch mit dem Geschichtslehrer hinter sich bringen und dann nichts wie weg ins Schwimmbad. „Jule, kannst du mir bitte erklären, warum du in Geschichte so gar nicht aufpasst? Ich habe dir doch schon vor einem Monat eine Verwarnung gegeben? Und dann erfahre ich auf der Klassenkonferenz, dass du in den anderen Fächern ganz gut bist. Also, woran liegt es?“ Jule senkte den Kopf. Sie konnte Herrn Bock ja schlecht ins Gesicht sagen, dass sie ihn und seinen Unterricht nun einmal gähnend langweilig fand, und dass die Lehrer in den anderen Fächern einfach sympathischer waren. Sie war 15 Jahre alt und ging in die neunte Klasse des Gymnasiums. Normalerweise kam sie gut mit in der Schule, 49
nur im Fach Geschichte, da wollte es nicht so richtig klappen. Allerdings auch erst, seit sie in diesem Jahr den strengen Herrn Bock bekommen hatten, früher waren ihre Noten in Geschichte ganz gut. „Die Schule macht mir ja auch Spaß“, sagte sie gedehnt. „Es ist nichts Besonderes. Ich meine, ich habe keine speziellen Probleme mit Geschichte, falls Sie so etwas meinen.“ Sie machte eine Pause und sah aus dem Fenster. „Ich werde mich bemühen, ehrlich. Es ist einfach nur heiß und ich bin müde. Es war ja auch ein langes Jahr, wissen Sie.“ Herr Bock nickte. „Ja, nur dass das lange Jahr bei dir schon zu Beginn des Schuljahres anfing, und an Weihnachten, als du deine letzte Fünf geschrieben hast, konnte man eigentlich weniger von sengender Hitze sprechen.“ Er holte tief Luft und seufzte. Dann fügte er etwas freundlicher hinzu. „Wir freuen uns wohl alle auf die Sommerferien. Trotzdem möchte ich dich bitten aufzupassen und dir nicht wegen einem Fach den Durchschnitt zu ruinieren. Wenn du lernen würdest, könntest du auch in Geschichte bessere Ergebnisse erzielen.“ „Versprochen“, lachte Jule erleichtert darüber, dass Herr Bock offensichtlich nicht die Absicht hatte, sie weiter mit Verhören oder Vorwürfen zu quälen. Schnell packte sie ihre Tasche und ging zur Türe. „Einen schönen Nachmittag wünsche ich Ihnen noch“, rief sie und war im nächsten Moment durch die Türe verschwunden. Jetzt aber nichts wie weg hier, dachte Jule, als sie die Schule verließ. Sie schwang sich auf ihr Fahrrad und radelte eilig in Richtung Schwimmbad. Als sie dort ankam, eilte sie zur Kasse und ging dann zielstrebig zu einem schattigen Platz in einem der hinteren Winkel der Liegewiese. Dort wartete schon die ganze Clique: Nino, Tina, Sven, Ali, Sonja und Anke. Sie alle waren in Jules Klasse und sie hingen eigentlich ständig zusammen. Sobald die Schule vorbei war, unternahmen sie
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etwas zusammen, sie gingen schwimmen oder Eis essen, Tischtennis spielen oder hingen einfach im Jugendzentrum ab. Jule war beliebt in der Clique, auch wenn sie mit keinem der Mädchen enger befreundet war. Sonja und Anke hatten zwar schon öfter versucht, Jule mit in ihre Mädchen-Gespräche einzubinden oder sie zu einem Einkaufsbummel zu bewegen, doch sie hatte bisher immer dankend abgelehnt. Sie bekam auch so mit, wie diese Gespräche abliefen. Meistens ging es um Jungs und darum, wie man am besten bei ihnen ankam, ein Minirock hier, ein bisschen Lippenstift da. Das war nichts für sie. Sie hasste dieses Getue und konnte auch gar nicht verstehen, wie man sich einen Rock kaufen konnte, weil man damit vielleicht bei irgendeinem Typ besser ankam. Sie suchte sich ihre Klamotten danach aus, was ihr gefiel! Am liebsten bummelte sie nach wie vor mit ihrer Mutter. Sie war einfach ihre beste Beraterin. „Hi, da bist du ja endlich“, riefen ihr die anderen entgegen. „War’s schlimm mit Bock? Hat er dir ne Standpauke gehalten?“ Jule grinste und breitete ihr Handtuch auf dem Rasen aus. „Ne, alles in Butter. Der wollte mich wahrscheinlich nur merken lassen, dass er noch da ist.“ Sie zog ihre knappen Shorts aus und setzte sich hin. „Der hat ja selber keinen Bock mehr“, erklärte sie und grinste. „Gesucht wird Lehrer Bock ohne Bock.“ Allgemeines Gelächter machte sich breit. „Was hat er denn nun gesagt“, wollte Nino wissen, als sie sich wieder beruhigt hatten. „Wir freuen uns alle auf die Ferien“, wiederholte Jule die Worte des Lehrers. „Und damit war’s gut!“ „Echt ey? Mir hat der letztens noch eine riesige Standpauke gehalten, eh. Der spinnt wohl“, ereiferte sich Nino. „Bei einem Mädchen wagt der sich das natürlich nicht.“ Jule lachte und schüttelte den Kopf.
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„Mensch Nino, bei dir ist doch auch die Versetzung gefährdet. Den Ali hat er auch nicht angemotzt, als er den letztens zu sich bestellt hat.“ Sie schwieg und warf einen bedeutungsvollen Blick zu Ali. „Und der ist bestimmt ein Junge“, scherzte sie. „Nur eben einer mit guten Noten in Geschichte.“ Sie zog ihr T-Shirt aus und sah aus den Augenwinkeln, dass Nino sie dabei beobachtete. Sein Blick war genau auf ihre Brüste gerichtet. „Gucken ist erlaubt“, spöttelte sie und schaute belustigt zu, wie Nino rot wurde. Erst vor ein paar Tagen hatte er nämlich im Kino versucht, ihr an den Busen zu greifen und es sicher bereut: Jule hatte ihm so dermaßen eine runtergehauen, dass er noch nach dem Film stundenlang einen roten Striemen auf der Wange hatte. Jule legte sich grinsend zurück. Das hatten die Jungs davon, wenn sie ihre Finger nicht bei sich behalten konnten. Und im Kino anfummeln war ja nun wirklich megalangweilig, darin war sie sich ausnahmsweise mit den anderen Mädchen einig. „Hi, kommst du nachher mit ins Jugendzentrum?“, flüsterte ihr plötzlich Tina ins Ohr. „Diese Typen, die wir letztens im Schwimmbad getroffen haben, spielen mit ihrer Band!“ „Die aus der 10a, mit den Mofas?“ Jule pfiff anerkennend durch die Zähne. „Na, das wäre doch mal ne Abwechslung.“ „Pscht“, machte Tina. „Muss ja nicht jeder mitbekommen!“ Sie warf einen vielsagenden Blick zu den anderen aus der Clique. Jule hob erstaunt die Augenbrauen. Dass Tina die Jungs lieber zu Hause ließ, das verstand sie ja noch, aber wollte sie tatsächlich ihre besten Freundinnen nicht mitnehmen? „Was ist mit den anderen?“, fragte sie verwundert, doch Tina schüttelte den Kopf und stand auf. Mit einem Augenzwinkern fragte sie Jule, ob sie mit ins Wasser käme. „Okay, wer zuerst am Becken ist“, rief Jule und rannte los. Eine Menge Blicke hefteten sich auf sie, als sie über die Wiese
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lief. Sie hatte eine schlanke Figur, lange Beine und einen wohlgeformten Oberkörper. Ihre Haut war von den vielen Besuchen im Freibad von einer sanften Bräune überzogen. „Erster!“, schrie sie lachend und ließ sich kurz vor Tina ins Wasser fallend Der Bademeister warf ihr einen bösen Blick zu und sie schenkte ihm ihr bezauberndes es-tut-mir-so-Leid-ichwerde-es-nie-wieder-tun Lächeln. „Also, was ist nun mit den anderen“, forschte Jule weiter, als sie sich neben Tina am Rand des Schwimmbeckens festhielt. „Du kannst sie doch nicht einfach übergehen. Das ist nicht okay!“ „Ach nein?“, rief Tina spöttisch. „Und dann passiert mir das Gleiche wie damals bei Marco. Vielleicht erinnerst du dich an die Party vor zwei Monaten. Ich war schon seit Wochen hinter Marco her, habe es euch allen erzählt und was passiert? Anke schnappt sich den Typen. Ist das vielleicht okay?“ Jule musste grinsen. „Ach nee, und ich bin wohl keine Konkurrenz was?“, rief sie gespielt wütend und spritzte Tina das Wasser ins Gesicht. „Warum eigentlich? Bin ich so hässlich?“ Sie wusste, dass das nicht stimmte, doch sie genoss Tinas Verlegenheit. „Quatsch“, wehrte die auch sofort ab. „Aber bei dir ist es irgendwie anders. Ich kann’s gar nicht genau sagen, aber du bist nicht so link wie die anderen Mädchen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du hingehst und mir den coolsten Typen von der Band einfach vor der Nase wegschnappst.“ „Und der wäre?“, fragte Jule immer noch amüsiert und ruderte mit den Beinen im Wasser. „Piet“, sagte Tina leise und ihr Gesicht wurde von einer zarten Röte überzogen. „Piet? Der Rocker mit den breiten Schultern und der Lederjacke? Der, der immer so Machosprüche drauf hat, von wegen ,Was macht ein Macho, wenn seine Glühbirne kaputt ist? Gar nichts, die Alte kann ja im Dunklen schrubben?’ Der Piet?“ Jule schüttelte lachend den Kopf und tauchte für einige
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Sekunden unter Wasser. „Geschenkt“, sagte sie, als sie wieder hochkam, konnte aber gar nicht mehr aufhören zu lachen. Doch als sie Tinas ernstes Gesicht sah, beherrschte sie sich und zwinkerte der Freundin gut gelaunt zu. „Na, komm. Wir gehen da heute Abend hin, den kriegst du schon.“ Dann stieß sie sich kräftig vom Beckenrand ab und schwamm ein paar Bahnen ohne anzuhalten. Gegen fünf Uhr radelte sie nach Hause. Sie musste ihre Eltern noch davon überzeugen, dass sie heute Abend mit Tina weggehen durfte. Es war Freitag und normalerweise hatten sie nichts dagegen, dass Jule am Wochenende ausging, – solange sie die Schule nicht vernachlässigte. Allerdings wollten sie aus irgendwelchen, für Jule unerfindlichen Gründen immer schon Tage vorher informiert werden. Jule trat kräftig in die Pedale. Aber auch wenn sie in letzter Minute mit dem Wunsch ankam, würden ihre Eltern es sicher nicht verbieten. Erstens konnten sie schlecht Nein sagen und zweitens würde sie es einfach genauso erzählen wie es war: Dass Tina ihr das erst heute erzählt hatte und dass sie Schützenhilfe in Sachen Liebe bräuchte.
„Und du brauchst nicht zufällig Unterstützung, um einen von den Jungs kennen zu lernen?“, fragte ihr Vater amüsiert, nachdem Jule ihm die Geschichte mit Tina erzählt hatte. Sie waren in der Küche, während er am Küchentisch saß und Zeitung Pas, bereitete ihre Mutter das Abendbrot zu. „Ne, wieso? Ich find’s nur gut, deren Musik mal zu hören. Die Typen wirken ziemlich cool und wenn die Musik auch so ist, wird’s bestimmt ne irre Session. Aber hauptsächlich gehe ich wegen Tina da hin.“ Jule zog die Mundwinkel nach unten und schüttelte verständnislos den Kopf. Was ihr Vater nur immer wollte? Ständig fragte er sie, ob sie denn einen Jungen
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hätte, mit dem sie gehen würde. Warum musste denn jeder nur über das Thema, „wer mit wem“ reden. Sie hatte keinen Freund und die Anmachversuche in der Clique hatte sie bisher immer erfolgreich abgewehrt. Außerdem war das wohl mehr unter Spaß zu verbuchen. Nino zum Beispiel war eigentlich ein echt guter Kumpel. Jule seufzte. Egal, sie wollte sich jetzt nicht mit ihrem Vater streiten, schließlich ging es darum, dass er ihr erlaubte noch wegzugehen. „Ich dachte immer, Väter wären froh, wenn ihre Töchter brav wären“, versuchte sie es mit einem Scherz und hakte sich bei ihrer Mutter unter. „Darf ich denn jetzt noch mal weg? Ich bin auch nicht so spät zu Hause.“ „Zehn Uhr, wie immer, würde ich sagen“, meinte Jules Mutter und strich ihrer Tochter über die Wange. „Solange du es nicht übertreibst und deine Noten in der Schule nicht darunter leiden, haben wir nichts dagegen, dass du weggehst!“ Sie ging zu ihrem Mann und legte ihm die Hände auf die Schultern. „Und ich muss sagen, dass du das bisher immer glänzend gemanagt hast“, fügte sie mit einem Augenzwinkern zu Jule hinzu. Dann setzte sie sich zu ihrem Mann an den Küchentisch. „Ich finde es übrigens durchaus in Ordnung, dass Jule sich noch ein bisschen Zeit lässt mit den Jungs!“ Sie lachte und warf ihrer Tochter einen stolzen Blick zu. „Sie ist so ein hübsches und kluges Mädchen. Warum um alles in der Welt sollte sie den Erstbesten nehmen?“ Jule verdrehte gespielt die Augen bei den Worten ihrer Mutter und verschwand in ihr Zimmer. Sie streifte ihre abgewetzte Lieblings] eans über und zog ein rotes Trägertop an. Im Badezimmer malte sie sich die Lippen mit einem leichten Rotton an, mehr Schminke benutzte sie nicht. Das Aufdonnern überließ sie anderen. So gegen sieben Uhr klingelte Tina. Jule rannte mit einem ich mach schon auf zur Türe. „Wow!“ rief sie aus und pfiff anerkennend durch die
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Zähne. Tina hatte sich in einen ultrakurzen blauen Minirock gezwängt, dazu hochhackige Pumps in dem gleichen Farbton und ein superknappes gelbes Top, das die Bräune ihrer Haut unterstrich. Sie hatte eine ziemlich gute Figur, musste Jule neidlos zugeben. Ein bisschen üppiger als sie selbst, aber an den richtigen Stellen. Sie konnte sich eine solche Aufmachung leisten. Nur die mit schwarzem Kajal umrandeten Augen waren für Jules Geschmack eine Spur zu aufgetakelt, aber die Jungs von der Band würden’s sicher klasse finden.
Als sie im Jugendzentrum ankamen, tönte ihnen schon laute Musik entgegen. In dem riesigen Raum war nur eine spärliche Beleuchtung installiert und in der Luft hingen dicke Rauchschwaden. Jule brauchte einen Augenblick, um ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Sie ließ sich von Tina bis in die Nähe der improvisierten Bühne ziehen. Jede Menge Leute standen herum und bewegten sich im Rhythmus der Musik. Viele von denen gingen mit ihr auf die Schule, allerdings in die zehnte Klasse, so wie die Jungs, die da abrockten. Jule wippte im Takt der Musik. Gar nicht mal schlecht der Sound. Rockig, aber nicht so uncool wie die meisten Schülerbands. Die hier hatten schon einen echt professionellen Sound, teilweise klang es fast ein wenig wie Punk-Rock. Jule fing an zu tanzen und ihre Bewegungen wurden immer schneller und wilder. Sie vergaß die Leute um sich herum, Tina und die Jungs, die da spielten. Es gab nur noch sie, ihren Körper und den Sound der Musik. Sie hörte erst wieder auf, als irgendjemand ein lautes „Pause!“ ins Mikro brüllte. Im Raum wurden hellere Lichter angeschaltet. Benommen blickte Jule um sich. Wo war Tina? Sie suchte sie mit den Augen und entdeckte sie schließlich ganz vorne an der
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Bühne. In Sekundenschnelle hatte sie den Bassisten Piet in ein Gespräch verwickelt. Stimmt ja auch, flüsterte Jule und schüttelte amüsiert den Kopf. Deswegen sind wir ja schließlich hier. Sie bahnte sich einen Weg durch die Menge und hielt Ausschau nach etwas Trinkbarem. Im Flur entdeckte sie einen Stand und stellte sich in die lange Schlange. „Hi Traumtänzer!“, sagte plötzlich eine unbekannte Stimme hinter ihr. Jule rührte sich nicht. War sie gemeint? Aber sie kannte doch niemanden hier. Außerdem war es ihr peinlich, sich umzudrehen, um dann festzustellen, dass ganz jemand anderes gemeint war. Doch sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da tippte ihr jemand auf die Schulter. Sie drehte sich um. Vor ihr stand ein sympathisch aussehender Typ mit etwas längeren dunkelblonden Haaren. Jule kniff die Augen zusammen. „Bist du nicht…?“ „Der Sänger von den ,Simple Men’“, beendete er ihren Satz und grinste. „Ja, der bin ich. Und du bist der Traumtänzer, der unserer Musik Leben gibt.“ Jule musste unwillkürlich lachen. „Wenn schon, dann Traumtänzerin, wenn ich bitten darf!“, erwiderte sie schlagfertig und drehte sich wieder um. Sie war an der Reihe und bestellte eine Cola. „Willst du auch eine?“, fragte sie den Typen von der Band. „Ich lad dich ein.“ „Ne, lass mal. Ich brauch schon was für große Jungs. Er zwinkerte dem Mädel hinter der Verkaufstheke zu und bestellte sich ein Bier. Er folgte Jule, die sich ein ruhiges Plätzchen am Fenster suchte.“ Aber mal ehrlich. Du tanzt klasse, finde ich. Echt mit Ausdruck, nicht so gekünstelt. Macht Spaß dir zuzugucken… „Macht Spaß euch zuzuhören“, konterte Jule und prostete ihrem Gegenüber zu. „Sag mal, wie heißt du eigentlich?“, fragte sie und knetete die Cola-Dose in ihrer Hand.
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„Stan!“, gab er zurück und grinste. „Stan? Wie Stan und Olli? Das ist aber doch ein Künstlername oder? Kein Mensch heißt Stan!“ Jule schüttelte ungläubig den Kopf. Doch Stan protestierte heftig. Natürlich gäbe es Menschen, die so hießen, dann zum Beispiel, wenn die Mutter Engländerin sei. „In England ist das ein ganz normaler Name“, empörte er sich über ihren Unglauben. „Außerdem verrate mir mal lieber, wie du heißt.“ Jule sagte ihren Namen und entschuldigte sich immer noch lachend für ihre Reaktion. „Aber du bist es doch sicher gewöhnt, oder? Ich meine Stan und Olli, das ist einfach zu naheliegend.“ Sie wollte noch etwas sagen, doch da kam ein anderes Bandmitglied und unterbrach das Geplänkel. „Eis dich mal von der Schnalle los, Alter. Ohne Sänger ist es verdammt schwer weiterzuspielen“ Sein Tonfall klang ironisch und er zwinkerte Stan vieldeutig zu. Jule zog verächtlich die Mundwinkel nach unten. Mann, der war ja echt dämlich, der Kerl. „Seh ich dich noch?“, fragte Stan schon im Weggehen. Jule nickte und folgte den beiden in Richtung Bühne. Ja, warum nicht?, dachte sie. Reden kann man ja. Bei der Bühne traf sie Tina, die gezwungenermaßen von ihrem Traumtyp lassen musste, weil nun wieder sein Bass die erste Geige spielte. „Und?“, fragte Jule neugierig. „Wie war’s? Hat er angebissen?“ Tina lächelte verliebt und erzählte Jule in Windeseile, dass es zwischen ihnen wirklich gefunkt hätte, dass der Piet ein ganz toller Typ sei, der Tollste überhaupt, und ach die ganze Band sei spitze, es mache eben doch was aus, wenn die Jungs schon ein bisschen älter wären. Als die Musik wieder losging, schwieg Tina einen Augenblick und warf Piet einen verliebten Blick zu. „Traumfrau wirft Traummann einen Traumblick zu“ kommentierte Jule seufzend und duckte sich, weil Tina zum Schlag ausholte.
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„Aber du bist ja auch kein Kind von Traurigkeit“, brüllte Tina, als die Band wieder angefangen hatte zu spielen. „Aber ich gebe zu, dass der Sänger wirklich cool ist.“ Jule verdrehte genervt die Augen und winkte ab. Warum konnte man nicht einfach mal mit netten Typen quatschen, ohne dass Freundinnen oder Mütter sofort eine Liebesgeschichte daraus machten? Sie betrachtete Stan. Er war hübsch, keine Frage. Er hatte eine tolle Stimme und er wirkte unglaublich nett. Als er ihren Blick bemerkte, zwinkerte er ihr zu. Jule winkte ihm. Ja, sie hatte sogar Lust ihn kennen zu lernen, aber so wie sie auch Tina kennen lernte. Mehr war da nicht. Sie war nicht verliebt. Sie wusste zwar nicht genau, wie sich das anfühlte, aber das Gefühl, das sie für so jemanden wie Stan oder Nino hatte, das war keine Liebe. Das konnte es nicht sein. Das, was sie bisher immer für die Jungs empfunden hatte, das war Freundschaft. Mehr nicht! Als die Band aufhörte zu spielen, fand Jule es schade und rief begeistert nach einer Zugabe. Doch die Band ließ sich nicht erweichen. Stattdessen winkte Stan sie zu sich an die Bühne. „Wir können unsere Zugabe ja nachher im kleinen Kreis feiern“, sagte er und warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. Jule schaute ihm hinterher, wie er zu Piet ging. Wahrscheinlich überlegen die jetzt, wie sie uns klar kriegen, überlegte sie wütend und ging zu Tina. Die wollte natürlich unbedingt noch auf Piet warten. „Was ist mit dir?“, fragte sie. „Ich geh nach Hause“, antwortete Jule entschlossen. „Und was ist mit deinem Sänger?“ Tina machte ein enttäuschtes Gesicht. „Das ist nicht mein Sänger, du meine Güte. Nerv mich einfach nicht, okay?“ Jule verdrehte die Augen. Wenn Tina Piet angeln wollte, war das ihr Ding, aber sie hatte nun mal keine Lust, wieder irgendwelche Hände unter
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ihrem T-Shirt zur Vernunft zu bringen. Tina schaute etwas verdutzt. „Und was ist, wenn er nach dir fragt?“ „Dann sag ihm einfach, mir wäre schlecht geworden und gib ihm auf keine Fall meine Telefonnummer!“ Jule schaute Tina eindringlich an. Tina nickte verständnislos. Doch dann erhellte sich ihr Gesicht wieder und in ihrer Vorfreude auf das eigene Rendezvous gab sie Jule einen dicken Kuss auf den Mund. Eine Sekunde später verschwand sie in der Menge. Jule stand noch eine Weile regungslos da, weil sie noch nie ein Mädchen auf den Mund geküsst hatte. Sie fasste sich an ihre Lippen, strich zart mir ihren Fingern darüber und wunderte sich ein bisschen darüber, wie gut diese weiblichen Lippen geschmeckt hatten. Dann sah sie plötzlich Stan und drehte sich auf dem Absatz herum, um nach Hause zu fahren.
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„Hi Jule! Da bist du ja endlich!“ Die Clique stand zusammen auf dem Schulhof. Jule gesellte sich zu ihnen. „Hi, ihr habt es aber eilig, wieder in die Schule zu kommen, ist ja noch vor acht!“, neckte sie ihre Freunde. Es war der erste Tag nach den Sommerferien und sie hatte die meisten von ihnen lange nicht gesehen. Entweder war sie gerade mit ihren Eltern in Frankreich gewesen oder die anderen waren mit ihren Familien in die Ferien gefahren. Nur Tina hatte sie ein- oder zweimal angerufen, doch seit sie mit Piet zusammen war, hatte sie kaum noch Zeit. Jetzt kam sie überschwänglich auf Jule zu und umarmte sie. „Wenn man die Möglichkeit hat, Meister Bock wiederzusehen, steht man ja gerne früh auf“, spottete sie. Jule lächelte und betrachtete Tina. Sie hatte sich ganz schön verändert: Die aufgetakelten Klamotten hatte sie gegen Jeans und Lederjacke eingetauscht, das Make-up war eher dezent. Piets Einfluss, dachte Jule, wurde jedoch schon im nächsten Moment von Nino in Beschlag genommen. „Jule, erzähl doch mal, wie waren bei dir die Ferien? Hast du auch jemanden aufgerissen? Die anderen haben!“ Er blickte sie erwartungsvoll an und grinste vieldeutig. „Was haben die anderen?“, fragte Jule mit einem betont unschuldigem Lächeln. „Na, jemanden aufgerissen: Anke so nen Griechen, Sven irgendeine Schnalle aus München und Ali verrät nix, lächelt aber die ganze Zeit geheimnisvoll.“ Ali versetzte Nino einen Stoß in die Rippen. Jule verdrehte die Augen und tat so, als würde sie es erst jetzt kapieren.
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„Ach so“, erwiderte sie gedehnt und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Die berüchtigten Urlaubsflirts sind an der Reihe. Gott bewahre.“ Sie hob abwehrend die Hände. „Mit einem Lover kann ich nicht dienen. Ich habe Urlaub gemacht, so richtig mit allem drum und dran. Lange schlafen, schwimmen, spazieren gehen und abends irgendwelche Lagerfeuer mit supernetten Leuten aus Spanien, Italien, Frankreich und ein Ami, der aber in Deutschland lebt, war auch dabei.“ Sie schwieg einen Augenblick und schwelgte in der Erinnerung. Es waren wirklich abgefahrene Abende gewesen. Den großen Teil der Leute kannte sie ja schon lange, denn sie kamen wie sie regelmäßig in den Sommerferien mit den Eltern auf den Campingplatz. Zu den meisten hatte sie einen richtig guten Draht, sie standen auf dieselbe Musik und liebten es, den ganzen Tag am Strand mit Musik und Volleyball abzuhängen. Auch abends versammelten sie sich direkt am Meer. Meistens zündeten sie ein Lagerfeuer an und manchmal spielte sogar einer von den Spaniern Gitarre. Jule grinste bei dem Gedanken an die Cowboy-Romantik, so was hatte sie echt noch nie erlebt. Sie wandte sich wieder an Nino. „Es ist einfach ein irres Gefühl, wenn alle möglichen Leute mit unterschiedlichem Akzent ,The house of the rising sun’ singen“, schwärmte sie. Nino schaute sie ungläubig an. „Singen? ,The house of the rising sun’? Von den Animals? Das ist doch uralt! Mann ey, wir haben richtige Feten am Strand gefeiert, mit Boxen und Musik von Nirvana aus dem Lautsprecher.“ Er imitierte das wilde Gitarrenspiel von Kurt Cobaine, aber Jule winkte lachend ab. „Ich sehe schon, du bist echt nicht romantisch.“ Sie lehnte sich an die Mauer und blickte Nino mitleidig an. „Wir haben uns da alle irgendwie so frei gefühlt. Keine Schule, keine Lehrer und die Eltern hat es kaum interessiert was wir machen. Ich meine, wir konnten jeden Tag einfach tun und lassen, was
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uns gefällt. Leben eben!“ Sie hatte gerade ausgesprochen, als die Schulklingel ertönte. „Auf in das nächste lange und langweilige Schuljahr“, sagte sie mit einem Achselzucken in Ninos Richtung. Nach den Ferien fiel es ihr immer schwer, sich wieder in den Alltagstrott einzugewöhnen. Und dieses Mal ganz besonders. Sie warf den anderen einen verstohlenen Blick zu. Von der morgendlichen Energie war nicht mehr viel zu spüren, als sie so die Treppe hochtrotteten. Wahrscheinlich ging es ihnen ähnlich wie ihr. Die Freunde wiederzusehen machte ja noch Spaß, doch bei dem immer noch schönen Wetter ins Klassenzimmer eingesperrt zu sein war eben nicht so verlockend. Im Klassenraum verteilten sie sich auf ihren alten Plätzen. Jule hatte im letzten Jahr neben Tina gesessen und beließ es dabei. Sie blickte gedankenverloren aus dem Fenster. Warum konnten die Ferien nicht einfach noch andauern? Wenigsten ein kleines bisschen. „Was macht denn die Simone hier“, raunte Tina ihr plötzlich ins Ohr und blickte zur Tür, wo gerade ein junges Mädchen mit kurzen schwarzen Haaren hereinspazierte. „Die müsste doch mit den Jungs von der Band in der Aula sein: Begrüßungsansprache für die 11.“ Jule zuckte die Schultern, ohne sich umzudrehen. Woher sollte sie das wissen? Sie wusste ja nicht mal wer Simone war. „Vielleicht dreht sie ne Ehrenrunde“, überlegte sie laut und schaute sich nun doch nach dieser so genannten Simone um. Ihre Gesichtszüge erstarrten, als sie sah, wer da neben der Lehrerin stand. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Das war die dumme Kuh vom Jugendzentrum. Kurz vor den Sommerferien war Jule mit Tina bei einem Konzert gewesen. Stan war auch wieder da und diesmal hatte Jule ein bisschen mit ihm gequatscht. Er hatte wohl kapiert, dass er die Finger von ihr lassen sollte. Plötzlich war dieses Mädchen aufgetaucht und
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hatte Stan mit großem Tamtam begrüßt: Küsschen hier und Küsschen da. Stan hatte die beiden vorgestellt, doch Jule war ziemlich abweisend geblieben. Sie mochte so übertriebene Frauen nun mal nicht. Bei der Erinnerung an diese Szene rümpfte sie widerwillig die Nase. Sie erinnerte sich noch sehr genau an den prüfenden und taxierenden Blick, mit dem Simone sie damals betrachtet hat. In welche Klasse gehst du denn, hatte sie spöttisch gefragt. Jule war sich wie ein Kleinkind vorgekommen. Zu allem Ärger war sie dann auch noch rot geworden, als sie leise in die 9a gesagt hatte. Simone hatte ihr einen amüsierten Blick zugeworfen und ihr fest in die Augen geschaut. Zu Stan hatte sie gesagt, er solle gut auf das Küken aufpassen. Jule ballte die Fäuste bei der Erinnerung. Das durfte einfach nicht wahr sein. Jule hatte keinen Feind auf der Welt, diese Simone war wirklich die einzige Frau weit und breit, der sie am liebsten an die Gurgel gesprungen wäre. Und von allen Klassen und Schulen dieser Welt, war sie ausgerechnet bei Jule gelandet. Sie betrachtete Simone genauer. Ihr rabenschwarzes Haar war kurz und stand nach allen Seiten ab. Sie trug eine knapp unter dem Po abgeschnittene Jeans und ein superknappes T-Shirt. Viel Busen hat sie ja nicht, aber irgendwie sah sie sexy aus, fand Jule. „Das wäre ja echt ein Ding, wenn die in unsere Klasse kommt. Die ist, glaube ich, echt nett und außerdem ziemlich cool“, schwärmte Tina unterdessen. Jule zuckte verächtlich mit den Schultern. War ja klar, dass Tina auf das Getue von solchen Frauen abfuhr, überlegte sie. Die machte unheimlich einen auf lässig und kam sich dabei auch schon irre erwachsen vor. Klar, auf so was stand Tina. Ständig erzählte sie überall herum, dass Piet auch schon fast 18 war und viel toller als die ganzen Jungs aus der Klasse. „Was um alles in der Welt ist cool daran, wenn man wie diese Simone als Aushängegroupie von ner Band rumläuft, bei
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der man noch nicht mal selber mitspielt?“ Jule schüttelte verständnislos den Kopf. Tina murmelte noch ein kurzes Du bist gemein, die ist kein Groupie, doch da mahnte ihre Klassenlehrerin zur Ruhe. Sie begrüßte die Schüler mit dem üblichen Ich hoffe ihr hattet schöne Ferien und seid so richtig schön erholt für die neuen Anforderungen, die da auf euch zukommen… „Gut, ich möchte euch auch gleich Simone vorstellen. Einige von euch kennen sie vielleicht schon, denn sie geht schon länger auf unsere Schule.“ „Hi“, sagte Simone lässig und grinste in die Runde. „Ich dachte, ich ruh mich bei euch in der 10 noch mal ein bisschen aus, bevor ich das mit der Oberstufe wirklich mache. Ihr habt doch nichts dagegen?“ Alle bis auf Jule lachten. Die kam sich ja echt toll vor, dachte sie stattdessen. Auf so ein blödsinniges Getue würde sie garantiert nicht hereinfallen. Sah doch ein Blinder, dass da nix dahintersteckte. „Neben mir ist noch ein Platz frei“, hörte sie Nino rufen und schoss ihm einen giftigen Blick zu. Was sollte das denn? Seit wann stand Nino auf solche Mädchen? Bisher hatte er immer irgendwelche üppigen Blondinen mit wallender Mähne gehabt. Simone hingegen war eher knabenhaft schlank und die schwarze Kurzhaarfrisur entsprach auch nicht Ninos herkömmlichen Idealbild von einer Frau. „Ich denke, Simone sollte lieber neben jemandem sitzen, der dem Unterricht folgt und nicht ständig wilde Geschichten erzählt“, entgegnete die Lehrerin spöttisch und ohne weiter auf Ninos Protest zu achten, wandte sie sich an Fabian. „Könntest du den Platz neben dir räumen?“ Jule grinste. Geschieht der Neuen Recht, dachte sie. Ausgerechnet den Platz neben dem größten Schleimer der Schule. Zufrieden lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück. Doch während der nächsten zwei Stunden musste sie immer wieder zu Simone hinüberschauen. Sie saß
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mit regungslosem Gesichtsausdruck da und folgte dem Unterricht, oder zumindest tat sie so. In der Pause wurde Simone sofort von einigen Schülern umlagert. Allen voran Nino und Tina. Jule beobachtete die Szene genervt. Hatte sie es eigentlich nur noch mit Bekloppten zu tun? Da kam so eine Möchtegern-Rockerin in ihre Klasse und die anderen hatten nix Besseres zu tun, als sie zu löchern. In dem Moment löste sich Anke aus der Gruppe um Simone und gesellte sich zu Jule. „Die wirkt ja ganz nett“, meinte sie. „Aber irgendwie übertreiben die ein bisschen. Sooooo toll ist es auch nicht, wenn man kleben bleibt.“ Jule nickte. „Ganz deiner Meinung“, entgegnete sie kurz angebunden. „Aber die werden sich schon wieder beruhigen.“ Sie schaute dem Treiben noch eine Weile missmutig zu und war fast froh, als es zum Pausen-Ende klingelte. „Sehen wir uns heute alle am Plätzchen?“, fragte sie Anke beim Gang ins Klassenzimmer. „Na klar! Immerhin müssen wir ja noch die neuesten Neuigkeiten aus dem Urlaub austauschen.“ Anke zwinkerte Jule zweideutig zu und eilte zu ihrem Platz. Jule schaute ihr kopfschüttelnd nach. Was die nur wieder alle mit ihren Urlaubsflirts hatten. Na ja, Hauptsache sie konnte sich heute Nachmittag ein bisschen von dem morgendlichen Schock mit Simone erholen. Die nächsten Stunden gingen besser herum. Warum sollte sie sich nerven lassen, nur weil ihr diese Simone quer kam? Sie hatte schließlich einen echt abgefahrenen Urlaub hinter sich, das konnte sie sich doch nicht von so einer Kleinigkeit vermiesen lassen?
Jule hatte ihr Mittagessen in aller Eile hinuntergeschlungen und radelte jetzt zum Fotoshop. Sie war schon ganz heiß auf
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ihre Urlaubsfotos. Und tatsächlich waren die Bilder super! Alles war prima zu erkennen, sie hatte wirklich von allen Fotos, auch vom Strand, wie sie abends das Holz für das Feuer zusammensuchten. Die anderen würden Augen machen. Zufrieden steckte sie die Bilder ein und fuhr weiter zum Treffpunkt im Park. Es war ein schattiger Ort, an dem eine alte steinige Tischtennisplatte stand, doch die war in den Jahren so verwittert, dass sich praktisch nie jemand hierhin verirrte. Die Clique blieb so unter sich und war in der Regel auch vor neugierigen Blicken der anderen Mitschüler geschützt. Als Jule sich dem Plätzchen näherte, trat sie voller Wucht in die Bremse. Das gibt’s doch nicht, flüsterte sie zu sich selbst und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Doch sie hatte sich nicht verguckt: Da vorne neben Nino saß in aller Seelenruhe Simone am Rand der Tischtennisplatte und ließ die Füße in der Luft baumeln. Jule überlegte einen Augenblick, ob sie wieder kehrt machen sollte, doch Nino hatte sie schon entdeckt und winkte ihr freudestrahlend zu. Jule kam näher und stellte ihr Fahrrad ab. „Hi“, begrüßte sie die beiden eisern und blieb stehen. „Hi“, gab Nino zurück und strahlte Jule an. „Ich habe Simone mitgebracht. Ich dachte, wir könnten sie ein bisschen einweisen in die Klasse und die Lehrer, die sie nicht kennt.“ „Ach und was ist an unserer Klasse so anders als an anderen? Was muss man da einer Wiederholerin, die mindestens schon 17 ist, erklären, he?“ Jules Ton klang eisig und Nino hob abwehrend die Hände. „Okay, okay. Keine Ahnung, was bei dir zu Hause los war, aber lass deine schlechte Laune nicht an uns aus!“ Er warf Jule einen ärgerlichen Blick zu und wandte sich wieder an Simone. „Was hast du denn so in den Sommerferien verbrochen?“, fragte er mit zuckersüßer Stimme. Jule schüttelte unmerklich den Kopf. Sie hatte keine schlechte Laune, jedenfalls nicht bis
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eben! Und zu Hause war erst recht alles in Ordnung, das Einzige was hier quer lief war Simone! Jetzt erzählte sie auch noch von irgendeinem Jugendlager, in dem sie gewesen war und Nino war natürlich ganz beeindruckt. So ein Vollidiot. Während sie sich noch ärgerte, trudelten die andern nach und nach ein. Jule beobachtete Simone – die war voll in ihrem Angeberelement. „Und was habt ihr so getrieben?“, wollte Simone nach einer Weile wissen und blickte dabei zu Nino. „Ooch, bei mir war nix Besonderes“, gab er gedehnt zurück. „Ich war bei meiner Familie in Italien.“ Er blickte etwas betreten auf die Erde. „Aber es ist nun mal der einzige Zeitpunkt im Jahr, an dem ich sie alle sehen kann“, beeilte er sich fast entschuldigend hinzuzufügen. Jule verdrehte die Augen. Wie konnte so ein Typ wie Nino nur innerhalb von wenigen Stunden zu so einem kompletten Schwachkopf mutieren? Er himmelte Simone ja regelrecht an und bemühte sich verzweifelt, den coolen Typen rauszukehren. Am liebsten hätte sie ihm zugeflüstert, dass sein Unternehmen voll in die Hose ging und er einfach nur lächerlich wirkte. „Aber die Jule, die hat nen Campingurlaub hinter sich, mit ner Menge Leuten aus verschiedenen Ländern. Abends haben die so richtig einen auf Wildwestromantik gemacht, mit Gitarrenmusik am Lagerfeuer und so, stimmt’s Jule?“ Nino merkte wohl etwas von ihrem Ärger über den neuen Gast in der Runde und wollte sich vermutlich damit wieder bei ihr einschmeicheln. „Ehrlich?“ Simone warf Jule einen bewundernden Blick zu. „Hätte ich dem Küken gar nicht zugetraut.“ Bei diesen Worten lächelte sie Jule so unschuldig an, als wolle sie gerade die Sonntagsmesse betreten. Jule atmete tief durch. Dieselben Worte wie im Jugendzentrum, also erinnerte sie sich noch daran. Damit waren die Fronten ja wohl geklärt. Verzweifelt
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überlegte sie, wie sie reagieren sollte, ohne dass es zum offenen Streit kam. Doch ihr fiel nichts Passendes ein. Sie musste Simone einfach aus dem Weg gehen! Sie konnte allein ihre körperliche Anwesenheit nicht ertragen. Irgendetwas bereitete ihr größtes Unbehagen bei dieser Frau und deshalb wollte sie sich lieber von ihr fernhalten. Außerdem verunsicherte Jule der stechende Blick der Neuen. Was bildete die sich eigentlich ein, so selbstbewusst hier aufzutreten und sie dann auch noch so dreist zu fixieren, als wolle sie sagen: Ich sehe dich trotzdem, auch wenn du versuchst, dich unsichtbar zu machen. Die anderen aus der Clique trudelten nach und nach ein, doch niemanden schien die Anwesenheit von Simone zu stören. Sie tauschten die gleichen Heimlichkeiten aus wie sonst auch und prahlten sogar vor der Neuen mit wahren und erfundenen Storys. Es war offensichtlich, dass die ältere Simone mächtig Eindruck auf alle machte. „Was treibt ihr denn immer so nach der Schule?“, wollte sie wissen, als die Ferienthemen durch waren. „Wir treffen uns irgendwo, hier oder im Jugendzentrum“, antwortete Nino schnell. „Dann bequatschen wir alles, was so los ist, in der Schule oder zu Hause.“ „Wie, ihr steht immer bloß rum und quatscht? Da kommen einem doch die eigenen Geschichten aus den Ohren raus“, rief Simone erstaunt und steckte sich lässig eine Zigarette an. „Na hör mal, wir gehen auch schwimmen oder ins Kino“, protestierte nun Anke gekränkt. „Und bei den Konzerten von den ,Simple Men’ waren wir auch schon oft.“ Simone lachte. Es war eindeutig, dass sie das Programm der Clique außerordentlich langweilig fand. Nino war verärgert und wollte wissen, was Simone so machte. „Ich spiele Gitarre“, sagte sie mit einem Seitenblick auf Jule. „E-Gitarre. Aber nur, wenn ich Zeit habe und das ist nicht so
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oft“, erklärte sie und warf einen triumphierenden Blick in die Runde. „Ich jobbe ja noch in nem Café in Kreuzberg. An drei Nachmittagen die Woche!“ Ihre Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Die anderen blickten sie völlig verdattert an und schwiegen. Einen Job hatte keiner von ihnen. Sicher, sie hatten schon mal Prospekte verteilt oder waren mit ein paar Klamotten auf dem Flohmarkt gewesen, aber einen Job? Nino war sofort Feuer und Flamme und fragte neugierig, wo die Kneipe denn sei. „Wir kommen dich mal besuchen!“, kündigte er unternehmungslustig an. Aber Simone wehrte spöttisch ab. „Ne, Nino, das iss nix für kleine Jungs.“ „Was sagen deine Eltern denn dazu?“, wollte Tina wissen. Ihre Augen waren voller Bewunderung. Jule drehte sich angewidert weg. Diese Angeber-Nummer würde sie keine Sekunde länger ertragen. Sie hörte noch wie Simone sagte, dass ihre Eltern ihr sogar dazu geraten hatten, sich ein bisschen eigenes Geld zu verdienen. Und das, obwohl sie als Ärzte gut verdienten. Jule wandte sich entnervt ab und rief ein kurzangebundenes Ich bin mal weg, muss noch was erledigen in die Runde. Ohne auf die verdutzten Gesichter der anderen zu achten, schwang sie sich auf ihr Fahrrad und war weg.
Doch als sie abends im Bett lag, musste sie wohl oder übel an Simone denken. Sie war eine Angeberin, gar keine Frage, und Jule mochte sie nicht, aber irgendetwas von dem, was sie gesagt hatte, beschäftigte Jule. Es stimmte nämlich, dass sie alle nur herumhingen. Sie machten nichts, außer mal ins Kino zu gehen. Wie oft hatte Jule sich schon unwohl gefühlt oder war früher abgehauen, weil ihr das Ganze zu öde war. Sie wälzte sich unruhig im Bett hin und her. Aber was sollten sie machen? Sie konnten sich ja nicht alle einen Job suchen und wenn Jule ehrlich war, hatte sie darauf auch gar keinen Bock.
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Schulaufgaben machen war Stress genug, fand sie. Den Rest der Zeit wollte sie was Sinnvolles machen. Sie seufzte und drehte sich zur Seite. Aber was sollte das sein? Ein Instrument kam nicht in Frage, zu viel üben war nichts und Sport war auch nicht ihr Ding. Sie erinnerte sich an Lotte und dass sie fast zusammen Judo gemacht hätten. Aber das war lange her. Also blieb alles so wie es war. Man müsste sich verlieben, dachte sie, als sie schon kurz vorm Einschlafen war. So wie Tina. Dann würde man den ganzen Tag was mit dem anderen unternehmen. Ja, sie hatte Lust sich zu verlieben. Dann wäre sie auch nicht mehr so viel mit der Clique zusammen und müsste sich nicht mit dieser dämlichen Angeberkuh herumschlagen. Simone würde Augen machen, wenn sie mit einem coolen Typen aufkreuzen würde. Sie versuchte sich irgendjemanden vorzustellen. Ihr gingen Stan und Piet durch ihren Kopf und dann wieder jemand, den es vielleicht gar nicht gab. Ein 18-Jähriger mit einem Auto, der nicht mehr in die Schule musste. Doch die Gesichter der Jungs verschwammen allmählich und sie sah nur noch die Umrisse eines Menschen, der sie in den Armen hielt und küsste. Ihr wurde ganz wohlig und sie schlief mit diesen Gedanken ein.
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Simone wurde in den folgenden Monaten zum festen Bestandteil der Clique. Wenn sie nicht arbeiten musste, traf sie sich mit den anderen am „Plätzchen“ oder ging mit ihnen aus. Am Wochenende verabredete sie sich sogar hin und wieder mit Nino oder Tina zur Disco im Jugendzentrum. Jule kam fast nie mit. Sie hätte zwar gerne mal wieder so richtig abgetanzt, aber die Vorstellung von Simones herausforderndem Grinsen war ihr zuwider. Wieso hing die eigentlich nicht mit den Leuten aus ihrer alten Klasse zusammen, überlegte Jule ärgerlich. Warum muss sie mit meiner Clique zusammenhängen? Ganz selten ließ Jule sich von Nino oder von Tina und Piet überreden. Dann ging sie mit zu irgendeinem Konzert oder ins Kino. Aber meistens endete das Ganze in einer handfesten Auseinandersetzung mit Simone. Es waren hauptsächlich Sticheleien. Der eine sagte immer genau das Gegenteil von dem, was der andere gerade erzählte, das schaukelte sich so lange hoch, bis Jule dann lakonisch erklärte: Seht ihr, es hat keinen Sinn. Für gute Worte und Überredungsversuche blieb sie taub. Sie zog sich zurück und kam immer seltener mit zu irgendwelchen Events. Stattdessen verbrachte sie viel Zeit alleine. Stan wollte sie auch nicht anrufen. So als Notstopfen war das nicht fair. Außerdem hatte er eine neue Freundin und darüber war Jule eigentlich ganz froh. Sie hatte sowieso oft ein doofes Gefühl gehabt, weil sie nichts für ihn empfand und er sie offensichtlich ganz nett fand. Ihre Mutter wunderte sich, dass Jule immer schon da war, wenn sie nach Hause kam. Sonst trudelte sie meist erst am Nachmittag oder Abend ein. Doch Jule redete sich mit 72
irgendwelchen besonders aufwändigen Hausaufgaben oder hab die Schnauze voll vom Rumhängen heraus. Meistens war sie auf ihrem Zimmer und schwelgte in den Erinnerungen an den Urlaub. Da hatte sie sich so richtig wohl gefühlt. Frei und ungebunden. Da waren Leute, mit denen sie auf einer Wellenlänge schwebte, die dasselbe dachten wie sie. Warum konnte das Leben nicht immer so sein? Einfach und ohne falsche Freunde, die sich bei der ersten Gelegenheit anderen zuwandten? Und ohne Druck in der Schule? Denn jetzt in der zehnten Klasse wurden die Dinge nicht gerade leichter. Ständig wiesen die Lehrer darauf hin, dass sie sich ein bisschen mehr anstrengen sollten, wenn sie die Oberstufe schaffen wollten. Klassenarbeiten, Ermahnungen, Lernen, usw. Jule hatte von allem ganz schön die Nase voll und hätte gerne mal wieder richtig mit der Clique was unternommen, aber das ließen ihr Stolz und ihr Trotz nicht zu. Als die Lehrerin Frau Letsch die Schüler an einem Morgen daran erinnerte, dass nun endlich die lange geplante Abschlussfahrt vor der Türe stand, freute sich Jule im ersten Moment richtig. Stimmte ja. Die Fahrt. Auch wenn die meisten Schüler in die Oberstufe wechselten, so hatten sie doch eine gemeinsame Abschlussfahrt nach Holland ans Ijsselmeer geplant. Eine Woche lang mit einem großen Plattbodenschiff von einem Hafenörtchen zum nächsten. Anschließend noch drei Tage in kleinen Bungalows abspannen. Ein toller Plan, fand Jule, sie selbst hatte sich damals dafür stark gemacht. „Frau Letsch, darf ich denn auch mitfahren?“, hörte sie Simone in dem Moment fragen. „Ich meine, ich war ja im letzten Jahr noch nicht hier und ich wollte mich erkundigen, ob man da noch einen Platz mehr buchen kann?“ Jules Miene verfinsterte sich. Simone! Die hatte sie in ihrer Vorfreude fast vergessen. Und schon hörte sie Frau Letsch sagen, dass das überhaupt kein Problem sei: Sowohl auf dem
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Schiff als auch in den Bungalows waren noch Plätze frei. Na dufte, dachte Jule. Und was sollte sie dann auf dieser Klassenfahrt? Händchen halten mit Simone? Die würde doch die Zeit wieder nutzen, um den anderen ihre tollen Geschichten aufzutischen. Sie warf der Konkurrentin einen eisigen Blick zu. Da saß sie mit schwarzer Lederhose, engem Rollkragenpullover und der obligatorischen Jeansjacke.
In den nächsten Tagen überlegte Jule ernsthaft, ob sie nicht irgendwie um diese Klassenfahrt herumkommen könnte. Sie war hin- und hergerissen, einerseits wollte sie so gerne auf diese Fahrt, andererseits hatte sie keine Lust auf den Ärger mit Simone. Am Wochenende erzählte sie ihrer Mutter davon. Sie waren in der Küche und bereiteten das Abendbrot vor. Jule schilderte das Dilemma und verschwieg auch nicht, was sie von Simone hielt. Doch ihre Mutter riet ihr, trotzdem die Fahrt mitzumachen. „Die Abwechslung wird dir so gut tun“, erklärte sie entschieden. „Du bist sowieso viel zu viel in der Wohnung und zu viel alleine!“ Jule antwortete nicht. Klar würde ihr die Abwechslung gut tun, aber es würde nicht gut tun, die ganze Zeit mit Simone zusammenzuhängen. „Du wirst sehen, am Ende ist diese Simone gar nicht so furchtbar, wie du die ganze Zeit denkst“, sagte ihre Mutter als hätte sie Jules Gedanken erraten. Jule schaute sie entgeistert an. Hatte ihre Mutter nicht zugehört? „Simone ist eine ätzende Angeberkuh“, stieß sie wütend hervor. „Daran ändert auch die schöne Luft in Holland nichts.“ Sie stampfte wütend mit dem Fuß auf dem Boden und lief in ihr Zimmer. Sie war wütend über die Reaktion ihrer Mutter, doch was sie am meisten ärgerte, war, dass sie Recht hatte. Natürlich war es blödsinnig, wegen Simone nicht mitzufahren,
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das wusste sie auch. Trotzdem dauerte es noch ein paar Tage, bis Jule sich entschied mitzufahren. Warum sollte sie auf etwas verzichten, worauf sie sich schon so lange gefreut hatte? Nur weil Simone mitfuhr? Nein, das war wirklich nicht einzusehen. Jule wollte ihren Spaß haben, und damit basta.
Nur wenige Wochen später war es so weit: Sie stiegen in den Bus, ließen die Schule und den ganzen Stress hinter sich und fuhren ab in Richtung Holland. Als sie am Ijsselmeer ankamen, staunten die Schüler nicht schlecht. „Das Schiff ist eine Wucht“, rief Nino verblüfft aus und die anderen stimmten zu. Das war es wirklich. Jule freute sich wie ein Kind unter dem Weihnachtsbaum. So etwas hatte sie sich schon immer mal gewünscht. Eine Fahrt auf einem richtigen Segelschiff. Das hier übertraf ihre Erwartungen sogar noch. Es war ein riesiger Holzkahn, mit großzügigen Kajüten, in denen gleich mehrere Doppelbetten standen. Für die Mädchen gab es zwei Schlafräume, sodass Jule zumindest nachts die Anwesenheit von Simone erspart blieb. Die Küche war ein enorm gemütlicher Raum, in dem zwei lange alte Holztische standen. Schon am ersten Abend versammelte sich die Klasse hier und feierte samt der Mannschaft, die aus einem Skipper und einer Hilfskraft bestand. Bis tief in die Nacht saßen sie zusammen, und es war so nett, dass Jule sogar für einige Augenblicke die Feindschaft mit Simone vergaß. Doch die gute Laune sollte nicht lange halten, denn Jule verstauchte sich den Knöchel! Als sie an einem Morgen über Deck lief, blieb sie an einem dieser Haken hängen, die auf dem Schiffsboden für das Befestigen von Seilen montiert waren. Sie hatte einfach nicht darauf geachtet, obwohl der Skipper immer wieder gesagt hatte: „Augen auf und aufgepasst. Wir sind hier nicht auf einem Luxusdampfer.“ Aber niemand von
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der Klasse war jemals zuvor gesegelt. Die kleinen Stiegen, das Schwanken, die flatternden Segel und die vielen kleinen Geräte an Bord. Das war einfach zu viel Neues. Am Anfang waren sie alle aufgeregt durcheinander gerannt und Tina hatte sich an den niedrigen Decken heftig den Kopf gestoßen. Dem Streber Fabian wurde schlecht und er konnte sich noch gerade über die Reling beugen, bevor er das Frühstück dem Meer übergab. Geschieht ihm recht, dachte Jule, hier kommt er nicht weit mit seinen tollen Noten. Und als wollte sie jemand für die Schadenfreude bestrafen, war sie der nächste Unglückstropf. Das Laufen konnte sie sich für die kommende Zeit abschminken, also auch die täglichen Ausflüge in die kleinen Ortschaften oder den abendlichen Discobesuch. Ein holländische Arzt kam eigens für sie an Bord und empfahl ihr dringend, den Fuß nicht zu belasten. Im Klartext: Sie musste den ganzen Tag auf dem Schiff bleiben. „Das einzig Gute daran ist, dass ich vom Bootsputz befreit bin“, jammerte Jule, als sich die anderen schon zum zweiten Ausflug rüsteten, auf den sie wohl oder übel verzichten musste. „Na ja, wenigstens bist du heute nicht alleine“, tröstete Nino sie geheimnisvoll. „Was soll das denn heißen?“ Jule runzelte argwöhnisch die Stirn. Hatte sich etwa noch jemand verletzt? „Simone geht es wohl total schlecht“, antwortete Nino. „Sie hat sich heute Morgen übergeben, Frau Letsch hat ihr geraten, heute auf dem Schiff zu bleiben und sich auszuruhen.“ „Na toll!“, entfuhr es Jule wütend. „Hoffentlich bleibt die in der Kabine und lässt sich nicht an Bord blicken.“ Bisher war es ihr so gut gelungen, Simone einigermaßen aus dem Weg zu gehen. Sie schliefen in zwei unterschiedlichen Kabinen, beim Abendessen setzte Jule sich immer möglichst weit weg von ihr und bei den Diensten wie Kochen oder Einkaufen sorgte sie immer peinlich genau dafür, dass bloß niemand auf die Idee
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kam, sie und Simone gemeinsam für irgendetwas einzuteilen. Und jetzt musste diese blöde Kuh Magenschmerzen bekommen, ausgerechnet! „Nimm’s nicht so schwer, Jule“, versuchte Nino sie zu beruhigen. „Ich habe sowieso nie verstanden, wieso du so einen Hass auf Simone hast. Du hast ja noch nicht einmal richtig versucht, sie kennen zu lernen.“ „Ich kenne sie gut genug“, erklärte Jule kurz angebunden und humpelte in Richtung Kabine davon. Sie war gerade auf halben Wege, da eilte ihr Frau Letsch aufgeregt entgegen. „Jule, ich habe dich schon gesucht“, rief sie außer Atem. „Ich möchte dich bitten, heute den Küchendienst zu übernehmen und schon mal mit den Vorbereitungen für das Essen zu beginnen, wenn wir weg sind. Der Ausflug heute dauert sicher länger, da wir noch ein Stück mit dem Bus fahren müssen. Deswegen wäre es gut, wenn du mit dem Kochen bereits anfangen könntest.“ Jule machte einen Schmollmund. „Ist aber ganz schön viel, für die ganze Mannschaft alleine zu kochen“, warf sie ein, doch Frau Letsch winkte ab. „Du sollst ja nicht alles alleine machen, nur schon mal Kartoffeln schälen. Setz dich dabei hin, dann belastest du deinen Fuß nicht so. Außerdem ist Simone auch hier, sie wird dir helfen, sobald es ihr besser geht. Sie hat sich den Magen verdorben, aber das wird ja nicht unbedingt den ganzen Tag andauern.“ Jule lächelte verkrampft und wünschte Frau Letsch einen schönen Ausflug. Erst als sie außer Sichtweite war, atmete sie hörbar aus. Ihr blieb aber auch nichts erspart. Kochen mit Simone war nun wirklich nicht gerade ihre Traumvorstellung. Dann schon lieber alleine für 30 Mann Kartoffeln schälen. „Hoffentlich hat Simone so schlimme Magenschmerzen, dass sie sich den ganzen Tag nicht aus der Kabine bewegt“, fluchte Jule leise.
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Ein paar Stunden später hatte sich Jule tatsächlich mit einem Riesenberg Kartoffeln an dem langen alten Holztisch in der Küche niedergelassen und fing an zu schälen. Sie war so vertieft in ihre Arbeit, dass sie gar nicht bemerkte, wie Simone näher kam. „Wenn du Pellkartoffeln machst, geht’s schneller und du musst nicht den ganzen Berg da schälen.“ Jule schaute erschrocken hoch und wollte eine gepfefferte Bemerkung zurückgeben, doch irgendetwas an Simones Stimme hielt sie zurück. Sie war leise und klang fast schüchtern. „Kann ich auch irgendetwas tun?“, fragte sie weiter und setzte sich ebenfalls an den Tisch. Jule zuckte mit den Schultern und bemühte sich, einen undurchdringlichen Gesichtsausdruck zu machen. Was war denn hier los? Wieso tat die denn auf einmal so versöhnlich? „Ich wollte so ein buntes Ratatouille machen“, entgegnete Jule misstrauisch. „Einfach alle möglichen Gemüse zusammen schmoren und ein bisschen Hackfleisch untermischen.“ Sie schwieg und widmete sich wieder den Kartoffeln. Sie ärgerte sich über sich selbst. Wieso antwortete sie der blöden Kuh überhaupt so freundlich? Sie hatten doch noch nie ein nettes Wort miteinander gewechselt. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie Simone. Sie stand auf und holte sich ein Messer. Wortlos fing sie an zu schälen. Jule biss sich auf die Lippen. Was war das bloß für eine Nummer? Woher kam dieser plötzliche Stimmungswechsel? Doch sie sagte nichts. Als Kartoffeln und Gemüse klein geschnitten waren, stand Jule auf und ging zum Herd, Alles war fertig vorbereitet, doch bis die anderen kamen, würde es sicher noch drei Stunden dauern, überlegte sie. Kochen brauchte sie eigentlich erst später. Jule biss sich auf die Lippen. Dann könnte sie ja eigentlich noch mal kurz in ihre Kajüte gehen, und ein bisschen lesen. „Aufsetzen müssen wir das Ganze erst kurz bevor die anderen
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wiederkommen“, sagte sie laut und drehte sich um. Simone stand in einiger Entfernung vor ihr. Sie war leise aufgestanden und schaute ihr jetzt direkt in die Augen. Jule schluckte. Ihr fiel auf, dass sie zum ersten Mal alleine waren, und zum ersten Mal nicht aufeinander losgingen wie Raubtiere. Aber was sollte sie sagen? „Wie geht’s deinem Magen“, fragte sie nach einer Weile, als sie das Schweigen nicht mehr aushielt. Doch am liebsten hätte sie sich die Zunge abgebissen. Was soll das Gesülze, schalt sie sich selbst. Sie konnte doch Simone nicht leiden, das war doch so! Jule verstand sich selber nicht mehr. „Ich habe keine Magenschmerzen“, entgegnete Simone immer noch leise und kam noch näher. Jule fühlte sich unwohl. Sie spürte wie ihr Herz raste, ihre Hände wurden feucht. Was war nur los mit ihr? Sie hatte doch sonst immer einen coolen Spruch auf den Lippen, aber irgendetwas lähmte ihr Zunge. „Aber Frau Letsch…?“, wandte Jule ein und schaute Simone mit großen Augen an. „Frau Letsch glaubt, dass ich Magenschmerzen habe, das ist richtig“, entgegnete Simone und blieb stehen. Jule stand regungslos vor ihr. Sie wollte etwas sagen, doch in ihrem Hals spürte sie einen riesigen Kloß. Simone machte noch einen Schritt auf sie zu. Sie standen jetzt ganz dicht voreinander und schauten sich in die Augen. Jule brachte kein Wort heraus, sie konnte Simones Atem spüren, ihr Herz klopfte schneller, ein leichter Schauer lief über ihren Rücken und ihre Beine zitterten. Simones Kopf näherte sich, Jule schloss die Augen, sie konnte nicht anders, es war wie ein innerer Zwang. Wenige Sekunden später spürte sie Simones warme Lippen auf ihren. Jule stand bewegungslos. Was geschah hier?, fuhr es ihr entsetzt durch den Kopf. Sie küsste eine Frau, ein Mädchen, sie küsste Simone! Der Kuss wurde stärker und Jule konnte, nein sie wollte dem Druck nicht widerstehen. Ganz langsam öffnete sie die Lippen, erwiderte
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Simones Kuss. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt, ihre Gefühle übermannten sie, sie wurde regelrecht geschüttelt von den aufgesparten Leidenschaften. Sie spürte wie Simone ihre Arme um sie schlang. Was mache ich hier?, dachte sie entsetzt, gab sich jedoch schon eine Sekunde später lustvoll den Berührungen Simones hin: Dem sanften Druck ihrer Hände, die sich langsam einen Weg unter ihr T-Shirt bahnten, die vom Rücken langsam nach vorne glitten und ihre Brüste umfassten. Jule hielt den Atem an. Das geht doch nicht, hämmerte es in ihrem Kopf, doch gleichzeitig wollte sie um nichts in der Welt, dass Simone aufhörte sie zu berühren. Sie seufzte unter den fordernden Küssen von Simone und fing an ihre Zärtlichkeiten zu erwidern. Erst ganz sanft und vorsichtig, dann immer ungehemmter. Ihr Kopf war ausgeschaltet, sie war nur noch Herz und Leidenschaft.
„Was um alles in der Welt ist in uns gefahren?“ Jule lag neben Simone in dem engen Etagenbett. Simone malte mit den Fingern Muster auf Jules Rücken. „Was ist das?“, fragte sie statt einer Antwort und malte ein unsichtbares Herz. Jule seufzte und schloss die Augen. Sie konnte immer noch nicht fassen, was hier passiert war. Simone und sie? Sie hatten sich geküsst, gestreichelt, waren zärtlich gewesen. Nach einer Weile zog Simone ihre Hand zurück. „Hör zu, Jule“, sagte sie gut gelaunt. „Wenn Menschen sich gerne haben, dann machen sie so etwas. Erinnerst du dich? Man schaut sich an, man küsst sich, man wird zärtlich…“ „Aber wir sind zwei Mädchen!“, rief Jule und ihre Stimme klang verzweifelt. Sie schwieg und drehte sich auf den Rücken. Ihr Blick richtete sich auf Simone. „Und außerdem mögen wir uns noch nicht einmal!“ Simone musste lachen. „Wir haben so getan als ob, das ist etwas anderes. Du wusstest
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es nicht besser, und ich habe darin die einzige Chance gesehen, dich kennen zu lernen.“ „Hä?“ Jule setzte sich auf und blickte auf Simone herunter. „Das verstehe ich nicht, da musst du mir schon auf die Sprünge helfen.“ „Na, ist doch klar: Wenn man dich kennen lernen will, dann startet man besser die Anti-Nummer, sonst beachtest du einen doch gar nicht. Hängst mit deiner Clique rum und denkst das ist die Welt.“ „Aber…“, wollte Jule protestieren, doch Simone setzte sich blitzschnell auf und verschloss ihr den Mund mit einem Kuss. „Ist doch auch egal. Hauptsache, wir sind jetzt zusammen. Und ich hatte eben so gar nicht das Gefühl, dass du mich nicht magst“, fügte sie leise hinzu und fing an Jules Hals zu küssen. „Das hat sich eher so angefühlt wie: ,Ich habe dich ziemlich gerne’!“ Jule schloss die Augen und fühlte, wie eine Gänsehaut ihren Körper ergriff. Erst als Simone aufhörte, öffnete sie die Augen wieder. Simone lachte sie an. „Okay, du hast noch nie eine Frau geküsst, und bist jetzt verwirrt. Das ist normal. Aber wenn du ehrlich bist, konntest du doch noch nie was mit Jungs anfangen, das habe ich sofort gemerkt, als du mit Stan in der Disco warst. Da war null Erotik zwischen euch, keine Flirtstimmung, gar nichts. Als ich dagegen hinzukam…“ Sie schmunzelte vielsagend. Jule verdrehte gespielt die Augen. „Ach nee, als du dazu kamst, war ich sofort hin und weg?“ „Genau!“, rief Simone triumphierend. Jule lächelte verhalten. „Und deswegen hast du mich auch gleich so unheimlich nett begrüßt“, fragte sie ironisch. „Damals in der Disco und jetzt in der Klasse.“ „Du bist ja so cool, dass dir die Eiswürfel aus der Hose fallen, da kann man ja nicht anders als auch ein Eisbär zu werden“, empörte sich Simone und wurde still. Sie fuhr Jule
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ganz sanft mit dem Finger übers Gesicht. „Dann kann man sich nämlich zusammen tun, weißt du, und sich gegenseitig wärmen.“ „Und heute hast du gedacht, ist so ein guter Tag zum Schmelzen?“ Jule legte sich wieder zurück und zog Simone neben sich. Es passierte ganz automatisch, ohne dass sie darüber nachdachte, was sie da tat. „Heute ist es so über mich gekommen“, gab Simone zurück. „Ich wusste, dass das hier passiert, früher oder später. Wir hätten nicht ewig so weitermachen können. Jeder Streit war doch nur Ausdruck unserer Angst, einander nahe zu kommen. Ich dachte, da bestimme ich den Zeitpunkt der Annäherung doch einfach selbst.“ Jule zog die Augen zusammen. Sie versuchte zu denken, zu verstehen, was Simone sagte, was hier passierte. Doch in ihrem Kopf war nur ein einziges Durcheinander. Simone hatte sie gerne? Also war das hier kein Versehen? Sie hatte es schon lange vor? Aber wieso schien Simone so genau zu wissen, was mit Jules Gefühlen los war. Sie selbst war sich ja über gar nichts richtig im Klaren. Sie wusste nur, dass sie diese Zärtlichkeiten genoss, dass ihr ganzer Körper in eine einzige Achterbahn verwandelt schien, sobald Simone sie berührte oder sie auch nur ansah. Und das tat sie gerade wieder. Jule schloss die Augen. Magensausen, Achterbahn fahren, eine Gänsehaut bekommen, eigentlich waren das genau die Sachen, von denen immer alle sprachen, wenn sie verliebt waren. Aber war sie denn in Simone verliebt? Konnte es sein, dass sie in eine Frau verliebt war? Jule spürte, wie das sanfte Streicheln intensiver und fordernder wurde. Sie seufzte und gab sich einen Ruck. Sie musste aufstehen, solange Simone neben ihr lag, konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. „Los komm, wir müssen in die Küche“, sagte sie und sprang aus dem Bett. „Die anderen können jeden Augenblick
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zurückkommen.“ Eilig streifte sie sich ihr T-Shirt über. Sie spürte Simones Blick auf ihrem Rücken und drehte sich um. „Hörst du schlecht? Wir müssen Essen machen. Was glaubst du, was hier los ist, wenn die uns im Bett sehen.“ „Wenn, dann sehen die höchstens mich im Bett! Und ich bin krank“, erwiderte Simone seelenruhig und hörte nicht auf, Jule zu betrachten. „Außerdem überlege ich, ob es wirklich geschickt ist, so schnell gesund zu werden. Dann müsste ich nämlich morgen mit auf den Ausflug, während du hier mutterseelenallein auf dem Schiff hockst.“ Simone zog sich unschuldig die Decke über die Schultern. Jule schüttelte ungläubig den Kopf und stemmte lächelnd die Arme in die Seite. „Also erstens bin ich nicht immer allein, denn immerhin ist der Skipper auch oft da und zweitens kannst du doch nicht ewig einen auf Magengrippe machen, dann schickt dich die Letsch zum Arzt und die Lüge fliegt auf.“ Sie drehte sich um und ging zur Türe. „Also, ich gehe kochen“, rief sie über die Schulter und verschwand in Richtung Küche. Sie war vollkommen damit beschäftigt, Töpfe hin und her zu rücken und irgendwie dieses Essen für so viele Personen zu zaubern, dass sie erschrocken zusammenfuhr, als die anderen laut polternd hereinkamen. Jule wagte es kaum aufzublicken. Sie hatte das Gefühl, jeder musste ihr sofort ansehen, was passiert war. Doch sie waren alle mit anderen Sachen beschäftigt und riefen durcheinander. „Wann gibt’s denn was zwischen die Kiemen?“, wollten die einen wissen. „Du hast voll was verpasst,“ fanden die anderen. „Hier gibt’s echt ein paar ganz knackige Jungs“, witzelte Tina und erntete ein beifälliges Gelächter von den Mädchen. „Essen ist in zwanzig Minuten fertig, zwei können die Tische decken“, entgegnete Jule, ohne weiter auf die Gespräche einzugehen. Nino kam zu ihr.
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„Na, alles klar?“, raunte er. „Hast du dich gut mit Simone amüsiert?“ Seine Stimme klang ironisch, doch Jule rutschte trotzdem das Herz in die Hose. Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. „Uff, ist das heiß hier“, stöhnte sie entschuldigend und war heilfroh, dass ihre Wangen schon vom Kochen gerötet waren. Wie sollte sie das nur durchstehen, überlegte sie. In ihrem Kopf wirbelten die Bilder durcheinander, Simone in der Schule, Simone im Jugendzentrum, Simone vor ihr, ihr Gesicht, ihre Augen, ihr Mund. Jule erschauerte, wenn sie an Simones zärtliche Berührungen dachte. Doch dann wurde sie sofort von einem eiskalten Schreck gepackt. Was hatten sie nur getan? Wenn es nur darum gegangen wäre, dass man jemanden liebt, den man angeblich die ganze Zeit gehasst hat, das wäre ja noch gegangen. Aber ein Mädchen? Das würde doch niemand verstehen. Hatte sie überhaupt schon mal eine Frau kennen gelernt, die mit einer Frau zusammen war? Männer ja. Das heißt, einen Mann, ein Franzose, den sie im Urlaub kennen gelernt hatte. Er war mit einem anderen Typen zusammen. Aber Frauen? Jule schüttelte unmerklich den Kopf, als Simone hereinkam. Sie warf Jule einen verstohlenen Blick zu und ging auf Frau Letsch zu. „Entschuldigung, ich wollte fragen, ob ich heute Abend im Bett bleiben kann. Ich habe immer noch so Bauchweh, keine Übelkeit, eher Bauchweh.“ Sie hielt sich an der Tischkante fest, um ihre Schwäche zu demonstrieren. Frau Letsch blickte erschrocken hoch. „Du siehst auch vollkommen fertig aus“, sagte sie besorgt und Jule musste unwillkürlich grinsen. Kein Wunder, dachte sie, riss sich aber sofort wieder zusammen und hörte zu, was die Lehrerin zu sagen hatte. „Wenn das morgen früh nicht besser ist, musst du zum Arzt“, entschied Frau Letsch, genauso wie Jule vermutet hatte.
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„Das ist nicht nötig, ich denke, ich weiß jetzt, was es ist“, entgegnete Simone schnell. „Ich habe meine Tage bekommen. Und manchmal ist das so schlimm und so stark, dass mir am ersten Tag ganz übel davon wird. Manchmal bekomme ich sogar richtige Krämpfe.“ Frau Letsch nickte verständnisvoll. „Dann leg dich noch etwas hin. Aber Jule soll dir trotzdem eine Kleinigkeit zu essen bringen. Wenn es nicht der Magen ist, musst du dich wenigstens stärken.“ Simone wunderte sich zwar, dass ausgerechnet Jule mit dem kaputten Fuß ihr was bringen sollte, aber wahrscheinlich war Frau Letsch mit ihren Gedanken ganz woanders und Simone hütete sich, etwas dazu zu sagen. Sie nickte dankbar und ging mit schweren Schritten auf Jule zu. Sie zwinkerte ihr verstohlen zu. „Hast du mitbekommen, was Frau Letsch gesagt hat? Es wäre total nett, wenn du mir was Essbares ans Bett bringst“, flötete sie zuckersüß. Jule musste sich zurückhalten, um nicht laut loszulachen über soviel Unverfrorenheit. Stattdessen murmelte sie ein Ist in Ordnung und bemühte sich, die verwunderten Blicke ihrer Mitschüler zu ignorieren. Sie waren etwas befremdet über die neue Zweisamkeit der ehemaligen Streithähne. Insbesondere Nino wunderte sich. Da hatte er lange Zeit versucht, die beiden einander näher zu bringen und dann waren sie einmal alleine zusammen und schon war aus Hass Freundschaft geworden?
Für Jule und Simone wurde die Klassenfahrt unterdessen zu einem ewigen Versteckspiel. Alles musste heimlich passieren und so aussehen, als wenn die beiden „nur“ Freunde wären. Vor jedem Kuss drehten sie sich nach allen Seiten um und keine Umarmung durfte länger als eine halbe Minute dauern, weil das sonst nicht mehr freundschaftlich ausgesehen hätte. Einmal versteckten sie sich am Bug des Schiffes, hinter einer
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Kiste, in der Segel gelagert waren. Auf einmal hörten sie ein Geräusch hinter sich. Sie rissen sich blitzschnell aus der Umarmung und blickten mit entsetzen Gesichtern hinter sich. Aber es war nur eine Möwe, die einen kleinen Fisch zwischen dem Schnabel hielt und sich wohl so über die Reaktion der beiden erschreckt hatte, dass sie laut kreischend weggeflogen war. Jule und Simone pochte das Herz und gleichzeitig mussten sie herzhaft lachen über ihre Schreckhaftigkeit. Für Jule war diese Zeit ein einziges Wechselbad der Gefühle. Sie verstand nicht, was hier passierte, war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch mit Simone zusammenzusein und der Angst, etwas Verbotenes zu tun. Sie war vollkommen verunsichert und wusste einfach nicht, was sie wollte. Drei Tage lang schaffte es Simone, auf dem Schiff zu bleiben. Drei Tage, an denen sie sich näher kamen, jede Sekunde zusammenhockten und sich kennen lernten. Jule hatte tausend Fragen an Simone, die schon Erfahrungen mit Frauen hatte. Sie wusste seit zwei Jahren, dass sie nicht auf Männer stand und ging ganz natürlich damit um. Sie klärte Jule darüber auf, dass es viele Frauen gab, die mit anderen Frauen zusammen waren. Genau wie Männer mit Männern zusammen waren. Immer mehr Menschen akzeptierten das inzwischen, allerdings nur, weil sich niemand mehr versteckte. „Man muss sich für seine Gefühle nicht schämen“, wiederholte sie immer wieder. Allerdings war Simone klug genug, um zu wissen, dass eine solche Beziehung in der Öffentlichkeit noch immer nicht überall auf Verständnis stieß. Viele Leute waren schockiert und reagierten mit Unverständnis. Deswegen respektierte Simone Jules Wunsch, die ganze Sache noch vor der Klasse geheim zu halten. „Ich bin mir doch auch noch gar nicht über meine Gefühle im Klaren“, meinte Jule leise und schaute Simone mit einem halb verzweifelten Gesichtsausdruck an. Sie lagen auf dem Deck hinter einem Rettungsboot. Hier konnte
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man sie von außen nicht sehen, und auch von Deck aus war der Blick zunächst versperrt. „Ich weiß, dass du noch unsicher bist“, meinte Simone achselzuckend. „Das spüre ich.“ Sie drehte sich auf den Bauch und stütze die Unterarme auf, um Jule besser ansehen zu können. „Aber es macht mir nichts. Du brauchst Zeit, das ist normal!“ Jule lächelte dankbar und kuschelte sich an Simone. Sie hatte sie wirklich gerne, das wusste sie. Nur, wie weit reichte das? Sie genoss ihre Nähe und ihre Zärtlichkeit, sie hatten Spaß miteinander, lachten viel und konnten gut miteinander reden, aber war das Liebe? Konnte es wirklich sein, dass sie eine andere Frau liebte? Immer wieder wurde Jule von Zweifeln gepackt. „Schöne Frau, versuch doch mal etwas weniger nachzudenken“, riet Simone kopfschüttelnd. „Hör doch auf deinen Bauch!“ „Auf meinen Bauch?“ Jule legte die Hand auf ihren Bauch und machte ein fragendes Gesicht. Simone lachte und verdrehte die Augen. „Ja, ich meine, was sagt dir dein Gefühl?“ „Mein Gefühl sagt mir, dass ich dich sehr gerne habe“, antwortete Jule und setzte sich auf. Sie drehte Simone auf den Rücken und nahm ihren Kopf zärtlich in ihre Hände. „Wirklich sehr gerne“, murmelte sie leise und verschloss ihre Lippen mit einem langen zärtlichen Kuss.
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Seit sie wieder von der Abschlussfahrt zurück waren, konnten Jule und Simone sich viel häufiger sehen. Manchmal trafen sie sich nach der Schule auch in sogenannten Lesbencafés. Da saßen Frauen und küssten oder umarmten sich ganz offen. Zunächst kam Jule sich zunächst ziemlich merkwürdig vor, doch allmählich taute sie auf. Diese Frauen gingen ganz natürlich mit ihrer Liebe um und Jule genoss diese Lockerheit zunehmend. Sie blickte sich nicht mehr jedes Mal misstrauisch um, wenn Simone den Arm um sie legte oder ihr einen zärtlichen Kuss gab. Im Gegenteil, Jule ergriff selbst die Initiative und küsste Simone, wenn ihr danach war. Manchmal saß sie stundenlang in dem Café, in dem Simone arbeitete und schaute ihr zu, wie sie Milchkaffees zubereitete, Gläser spülte oder ein Bier zapfte. Das war eine andere Welt als das, was sie bisher kannte. Die Menschen kamen ihr lebendiger vor, offener und natürlicher. Selbst in den ganz normalen Kneipen sah sie manchmal Frauen, die Arm in Arm zu einem Tisch schlenderten. Es war ein schönes Gefühl, sich einfach so benehmen zu können, wie man eben gerade drauf war. Das war etwas anderes als in der Schule. Da versteckten Jule und Simone ihre Gefühle füreinander. Es war schrecklich, fand Jule. Aber die Vorstellung, dass alle wussten, was mit ihnen los war, fand sie noch schrecklicher. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie Simone fast jeden Nachmittag sehen konnte. Wenn sie nicht im Café waren, schlenderten sie einfach durch die Straßen oder trafen sich bei Simone zu Hause. Allerdings fühlte Jule sich nicht so richtig wohl in der riesigen hypermodernen Neubauwohnung. Alles war so 88
übertrieben blank geputzt und das Wohnzimmer sah aus wie ein Ausstellungsraum, man traute sich gar nicht richtig, sich hinzusetzen. Simones Eltern war Jule allerdings noch nie begegnet. Sie waren beide Ärzte und kamen immer spät nach Hause. Am Wochenende hatten sie häufig Verabredungen, sie spielten Tennis oder gingen mit Freunden in die Oper. Simone sagte, dass sie ihre Eltern kaum zu Gesicht bekäme und ganz froh darüber wäre. Jule stellte sich so ein unterkühltes Verhältnis ziemlich merkwürdig vor. Sicher, sie erzählte ihren Eltern auch nicht alles und war in den letzten Jahren immer mehr mit der Clique weggewesen als zu Hause, aber sie hatte doch das Gefühl, dass ihre Eltern sich für das interessierten, was sie so trieb. Obwohl ihre Mutter weniger Zeit als früher hatte, sie war nämlich inzwischen wieder ganze Tage in der Schule und hatte oft bis über beide Ohren zu tun. Aber heute machte Jule das nichts mehr aus. Sie konnte auch gar nicht verstehen, dass sie als Kind so rumgezickt hatte. Im Gegenteil, sie war sogar stolz, dass ihre Mutter einen Beruf hatte und nicht wie andere Mütter zu Hause hing. Dadurch war sie unabhängig und nicht so betont fürsorglich. Jule fand, dass sie immer noch ziemlich gut mit ihr reden konnte. So ein Beruf hält halt jung, erklärte ihre Mutter immer lachend und Jule fand, dass sie Recht hatte. Sie genoss es, dass sie sich mit ihren Eltern so gut verstand. Wenn sie in der Woche oder auch am Wochenende zusammen kochten oder sogar einen Ausflug machten, hatten sie immer viel Spaß. Allerdings hatte Jule immer seltener Zeit, am Wochenende etwas mit den Eltern zu unternehmen, weil sie fast immer mit Simone zusammen war. Auch für ihre alten Freunde aus der Clique blieb wenig Zeit. Zunächst fiel das nicht weiter auf, weil sie sich ja schon vorher ziemlich zurückgezogen hatte. Bei Simone war das etwas anderes. Auch sie hatte logischerweise den Kontakt zu den
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andern eingeschränkt und entschuldigte sich mit dauernden Urlaubsvertretungen im Job. Ab und zu fragte einer aus der Clique bei Jule nach, ob sie mit ins Jugendzentrum käme, doch für Jule war diese Zeit vorbei. Sie fühlte sich da nicht mehr zu Hause. Ihre Welt wurden mehr und mehr die Cafés in Kreuzberg.
„Wissen deine Eltern eigentlich von dir?“, fragte Jule, als sie mal wieder einen ganzen Nachmittag in Simones Nähe im Café verbracht hatte, um ihr bei der Arbeit zuzuschauen. Jetzt hatte sie Feierabend und sie saßen dicht beieinander an einem der Ecktische. Simone schaute sie verständnislos an und Jule musste lachen. „Ich meine, wissen sie, dass du…“ Sie suchte nach Worten, ihr fiel es immer noch schwer, die Dinge so auszusprechen, wie sie waren. „Dass ich auf Frauen stehe?“, half ihr Simone weiter. Jule nickte erleichtert. Ja, das meinte sie. Simones Gesicht verdüsterte sich und sie rührte abwesend mit dem Kaffeelöffel in ihrer Tasse. „Ne“, sagte sie dann leise. „Meine Mutter würde mich umbringen. Für sie sind alle Schwulen und Lesben nicht normal.“ Simone trank vorsichtig einen Schluck von dem heißen Kaffee. Ihr Gesichtsausdruck wurde wütend. „Stell dir das mal vor. Wir leben am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts und meine Mutter findet, es ist nicht normal, wenn eine Frau eine Frau liebt.“ Sie ballte die Faust und Jule bemerkte, dass sie die Zähne so fest zusammenbiss, dass die Wangenknochen hervortraten. Sie strich der Freundin über die kurzen strubbeligen Haare. „Meine Mutter wäre auch nicht begeistert. So ist es eben!“ Jule hatte ihrer Mutter lediglich erzählt, dass sie sich auf der Klassenfahrt tatsächlich mit Simone angefreundet hatte. Mehr wollte sie nicht sagen. Sie glaubte nicht, dass ihre Mutter es
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verstehen würde. Sie schaute zu Simone, die bei dem Gedanken an ihre Eltern immer noch ein ganz unglückliches Gesicht machte. Jule stupste sie in die Seite und lächelte verschmitzt. „Ich wollte doch auch nur wissen, wo wir mal so richtig ungestört sein können!“ Simone schaute sie erstaunt an und dann lachte sie los. Mit einem Mal war ihre gute Laune wieder da. „Ich dachte schon, dich stört es überhaupt nicht. Aber wenn’s weiter nichts ist…“ Sie schwieg geheimnisvoll und lehnte sich schmunzelnd auf der Holzbank zurück. Jule stützte den Kopf auf ihre Hände und betrachtete Simone. Das mochte sie so an ihr, dass sie immer so schnell wieder lachen konnte. Sie hielt sich nie lange an einer schlechten Laune fest oder ließ sich frustrieren. Das war echt gut, fand Jule. Und es machte viele Dinge einfacher. „Was überlegst du? Sieht aus, als würdest du einen tollen Plan schmieden?“, fragte sie nun und rückte etwas näher. Als Simone nicht reagierte, wendete sie härtere Maßnahmen an und fing an die Freundin zu kitzeln. „Hey, ich rede mit dir!“ „Aufhören“, schrie Simone glucksend und alle Köpfe drehten sich zu ihnen herum. Jule grinste verlegen und ließ Simone los. „Also sag schon“, zischte sie kichernd. „Sonst kriegen wir noch ne Anzeige wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses.“ „Also, wenn du es unbedingt wissen willst: Meine Arbeitskollegin ist in Ferien“, erklärte sie und steckte sich genüsslich eine Zigarette an. Jule unterbrach sie ungeduldig. „Ich weiß. Deswegen arbeitest du ja dauernd!“ „Genau“, schmunzelte Simone. „Deswegen arbeite ich so viel. Aber ich habe nicht nur ihre Schicht übernommen, sondern kümmere mich auch um ihre Wohnung!“ Sie zog triumphierend einen Schlüssel aus der Hosentasche. „Du meinst….“ Jule schaute ungläubig auf den Schlüssel. „Aber das geht doch nicht, wie können doch nicht einfach….“
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„Klar können wir! Die gute Rita hat nichts dagegen. Im Gegenteil, sie hat es mir sogar quasi angeboten.“ Sie drückte ihre Zigarette aus und stand auf. Sie wollte zur Theke um zu bezahlen, drehte sich jedoch noch mal um und sagte fast bestimmend: „Ruf deine Eltern an und sag, dass du bei mir schläfst, dann haben wir die ganze Nacht.“ Jule schluckte. Sie sollte ihre Eltern anrufen und ihnen so eine Lüge auftischen? Was war, wenn sie bei Simone zu Hause anriefen? Aber dann fiel ihr ein, dass sie ja gar nicht wussten, wer Simones Eltern waren. Jule überlegte einen Augenblick, doch die Vorstellung, eine ganze Nacht mit Simone zu verbringen war einfach zu abgefahren. Sie würden zusammen einschlafen, wieder aufwachen und gemeinsam frühstücken. Sie lief zum Telefon im hinteren Teil der Kneipe und rief an. Sie brauchte ihre Mutter gar nicht lange zu überreden, sie stimmte gleich zu. Schließlich hätte Jule auch früher nach einer Party schon mal bei einer Freundin übernachtet, sagte sie. „Und außerdem bin ich ehrlich gesagt froh, dass du wieder mehr unter Menschen gehst.“ „Danke!“, rief Jule aufgeregt und hängte erleichtert den Hörer auf. Wenn ihre Mutter wüsste, dachte sie, verwarf jedoch sofort den Gedanken an ihre Eltern und ging mit einem triumphierenden Blick zu Simone an die Theke. „Alles klar!“, erklärte sie stolz. Simone stopfte zufrieden das Wechselgeld in ihr Portemonnaie und zog Jule ungeduldig hinter sich her zur Türe. „Du wirst sehen, die Wohnung ist klasse und wir sind da total ungestört!“ Jule nickte aufgekratzt. Ihr war zwar immer noch ein bisschen mulmig bei dem Gedanken, mit Simone in eine wildfremde Wohnung zu gehen, aber gleichzeitig fand sie das Ganze total aufregend. Wie schnell sich alles verändert, dachte sie, als sie neben Simone über die Straße ging. Vor der Klassenfahrt war ihr Leben noch ein langweiliges Hin- und Herpendeln zwischen der Schule
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und den Träumen von einem besseren Leben in Frankreich gewesen und jetzt war sie mittendrin im spannendsten Liebesabenteuer. In ihren kühnsten Träumen hätte sie sich das nicht vorgestellt. Vor allen Dingen hätte sie niemals daran gedacht, dass sie sich in eine Frau verknallte. Jule grinste übermütig. Lesbisch, dachte sie. Komisches Wort. „Ich bin lesbisch“, murmelte sie leise. Wie sich das anhörte. Doch sie kam nicht dazu, länger darüber nachzudenken, denn neben ihr brach Simone in gellendes Gelächter aus. „Was soll das denn werden? Eine weibliche Beschwörung für das bevorstehende Liebesritual?“ Sie blieb stehen und schüttelte sich vor Lachen. Jule stemmte die Arme in die Hüften und blickte Simone mit einem gespielt strengen Blick an. „Du nimmst mich gar nicht ernst. Ich habe gerade mein, wie heißt das noch, Coming-Out, und du lachst.“ Sie stampfte gespielt wütend mit dem Fuß auf und provozierte damit nur, dass Simone noch mehr anfing zu lachen. Jule fiel in das Gelächter mit ein und es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich beruhigt hatten. Als sie weiter gingen, nahm Jule Simones Hand. Das hatte sie auf der Straße noch nie getan. Aber heute war sie glücklich. Sie war glücklich, dass sie endlich über sich selbst Bescheid wusste. Immer hatte sie sich gefragt, warum sie sich als Einzige nicht in irgendeinen der Jungs verlieben konnte. Sie war sich schon total merkwürdig und verloren vorgekommen, doch jetzt hatte sie ihren Platz gefunden!
Am nächsten Morgen kam Jule gut gelaunt zu Hause an. Sie war ziemlich aufgekratzt nach der gemeinsam verbrachten Nacht mit Simone. Erst hatten sie ein herrliches Abendessen aus Spaghetti gezaubert und dann den ganzen Abend geredet, Musik gehört und geschmust. Von Schlaf war kaum die Rede
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gewesen. Trotzdem verspürte Jule keine Müdigkeit, sondern stürmte voller Energie in die Küche. „Morgen, Mama!“ Sie drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und ging mit großen Schritten zum Kühlschrank, um sich ein Glas Milch herauszuholen. „Was ist denn mit dir los? Hattest du einen schönen Abend?“, fragte ihre Mutter. Sie schien erstaunt über den Sinneswandel von Jule. In der Zeit vor der Klassenfahrt war sie eher still und nachdenklich gewesen und jetzt sprudelte sie über vor Energie. „Ich hatte einen wunderschönen Abend“, entgegnete Jule, stockte jedoch im nächsten Moment. Mist, was sollte sie denn über den Abend erzählen? Und schon fragte ihre Mutter, was sie denn Schönes gemacht hätte. Jule überlegte einen Augenblick. „Ach wir waren in einer Kneipe und haben uns richtig gut unterhalten, es ist allerdings ganz schön spät geworden. Ich habe kaum geschlafen.“ „Na, dafür wirkst du aber ziemlich putzmunter“, stellte ihre Mutter lachend fest. „Oder hast du dich verliebt?“ Jule riss entsetzt die Augen auf und schenkte sich ein weiteres Glas Milch ein. Ahnte ihr Mutter etwas? „Wie kommst du denn darauf? Nein, keine Angst, ich bin nicht verliebt. Ich habe mich einfach nur gut amüsiert.“ Sie kam näher und setzte sich an den Küchentisch. Sie war nicht besonders glücklich mit der Situation. Sie wollte ihre Mutter nicht anlügen, doch in letzter Zeit sah sie oft keine andere Möglichkeit. Sie konnte ja schlecht sagen: Mama, ich bin so gut gelaunt, weil ich bis über beide Ohren in eine Frau verliebt bin. Wir haben die letzte Nacht zusammen verbracht und es war das Tollste, was mir bisher in meinem Leben passiert ist. Sie beobachtete ihr Mutter, die sich einen großen Topf mit Gemüse auf den Tisch gestellt hatte und nun dabei war, alles zu putzen und zu schneiden.
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„Hilfst du mir?“, fragte sie in dem Moment und hielt ihrer Tochter ein Küchenmesser hin. Jule zog eine Schnute, doch sie nahm das Messer und griff sich den Sellerie. Sie hätte so gerne ihr Glück mit jemandem geteilt, aber ihre Angst war größer. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Eltern die Sache mit Simone so einfach hinnehmen würden, auch wenn sie sich sonst sehr modern und aufgeschlossen gaben. „Weißt du, Jule“, begann ihre Mutter nach einer Weile. „Wenn du dich verliebt hast, dann kannst du das ruhig sagen. Ich meine, ich und dein Vater, wir sind nicht dagegen, dass du mit einem Jungen ausgehst. Es ist nur so, dass du in jedem Fall über das Thema Verhütung und Aids nachdenken solltest. Ihr lernt doch in der Schule, wie man sich schützt?“ Jule starrte ihre Mutter entgeistert an. Verhütung? Nee, daran hatte sie nicht gedacht. Wozu auch? Sie musste schmunzeln. Und über das andere Thema würde sie mal mit Simone reden. „Aber du kannst immer alle deine Freunde mit nach Hause bringen. Wir sind froh, sie kennen zu lernen“, fuhr ihre Mutter nach einem kurzen peinlichen Schweigen fort. Jule lächelte verkrampft. Ich habe aber eine Freundin, schrie es in ihr, doch sie lächelte nur abwesend und konzentrierte sich auf das Gemüse. Nein, sie würde nichts sagen. Vorerst nicht. Sie würde ihr kleines Glück mit Simone einfach genießen, leise, still und heimlich. Allerdings gestaltete sich das mit dem ,heimlich’ weit schwieriger als sie gedacht hatten. Als Jule am Montag nach den großen Ferien in die Klasse kam, wurde es mit einem Mal still im Raum und die anderen schauten sie neugierig an. Sie rief ein kurzes Guten Morgen und ging zu ihrem Platz. Gerade wollte sie fragen, was los sei, da kam die Lehrerin herein. Jule verschluckte ihre Frage. Die werden schon sagen, was los ist, dachte sie bei sich. Spätestens in der Pause werde ich erfahren, was es mal wieder zu tuscheln gibt. Dann kramte sie ihre Hefte
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aus der Tasche. Sie schaute sich um. Die Stunde hatte begonnen und Simone war nicht da. Ob sie krank war? Na ja, dann würde sie eben in der Pause mal bei Simone anrufen. Doch als die Schulglocke endlich ertönte, kam sie nicht bis zur Telefonzelle. Nino wartete schon vor der Klasse auf sie und zog sie in eine stille Ecke auf dem Schulhof. „Was ist das mit dir und Simone?“, fragte er geradeaus. Jule schluckte. „Was soll denn sein. Sie wird krank sein.“, sagte sie bewusst unschuldig, obwohl sie genau spürte, dass Nino etwas anderes meinte. Nino verdrehte die Augen und kam mit seinem Kopf näher. „Mir kannst du es doch sagen. Jemand hat euch gesehen. Am Freitagabend. Ihr seid händchenhaltend durch Kreuzberg marschiert. Mal ganz abgesehen davon, dass ihr euch noch vor kurzem voll ätzend gefunden habt, ist das schon echt voll merkwürdig, das mit dem Händchenhalten und so.“ Er blickte ihr fest in die Augen, als könne er darin die Wahrheit lesen. Jule erwiderte seinen Blick. Ihr war eiskalt. Wie sehr hatte sie sich vor diesem Moment gefürchtet, doch jetzt waren ihre Gedanken erstaunlich klar. „Ich bin mit Simone zusammen“, sagte sie langsam. „Ich meine, wir sind nicht nur einfach befreundet, wir sind ein Paar.“ Sie atmete tief durch. Jetzt war es raus und es war noch nicht einmal schwer gewesen. Es war das gleiche Gefühl wie damals, als sie noch ein kleines Mädchen war und von Clarissa geärgert wurde. Irgendwann hatte sie sich einfach nicht mehr ärgern lassen und die verhasste Feindin einfach umgestoßen. Sie wusste noch genau, wie erschrocken und zugleich erleichtert sie war. Jetzt ging es ihr genauso. Sie lächelte den erstaunten Nino an. „Wir haben uns ineinander verliebt, verstehst du das?“ Nino schluckte. Er fühlte sich unwohl in seiner Haut, weil er wohl auch eher damit gerechnet hatte, dass Jule sich in
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Erklärungen verlieren würde. Außerdem passte ein weibliches Paar nicht so ganz in seine etwas machohafte Vorstellung von Liebe. Gleichzeitig gehörte er aber zu der Generation, die sich über solche Sachen nicht mehr aufregte. Im Gegenteil, eigentlich war es sogar cool, überlegte er. Immerhin cooler als immer nur langweilige und stinknormale Leute um sich zu haben. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. „Wenn ihr meint“, sagte er bemüht locker. „Meinen Segen habt ihr.“ Er legte symbolisch eine Hand auf Jules Stirn und fügte in ironischem Tonfall hinzu: „Ich habe sowieso von Anfang an gewusst, dass Simone ne tolle Type ist, du hast dich ja eigentlich quer gestellt.“ Jule musste über Ninos Worte lachen. Sie wusste, dass es ihm nicht ganz so leicht fiel wie er tat, doch immerhin bemühte er sich und das rechnete sie ihm hoch an. Er war eben ein echter Freund und so einen brauchte sie jetzt auch.
Leider war es bei den anderen nicht ganz so einfach. Das Gerücht vom Liebespaar Simone und Jule verbreitete sich noch am selben Tag wie ein Lauffeuer und am Ende der Pause war die gesamte Klasse informiert. Überall wurde getuschelt, wenn Jule vorbeikam. Wo ist denn dein Herzstück, rief ihr sogar jemand nach. Jule drohte mit der Faust. Wie dumm und doof die Leute waren. Sie erkannte ihre eigenen Mitschüler gar nicht mehr wieder. Jetzt erst Recht, schrie es in ihrem Kopf, doch sie wusste, dass sie es vor der Schule leugnen musste. Wenn sich das erst mal bis zu den Lehrern durchgesprochen hätte, dann waren bald auch die Eltern informiert. In der zweiten Pause nahm sich Jule ein Herz und erzählte es der Clique. Sie stieß allerdings bei einigen auf Ablehnung. Tina konnte es absolut nicht verstehen, wie man sich in eine Frau verlieben konnte und prahlte mit ihren unzähligen Freunden.
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Sie spielte sich dabei betont auf und hatte fortan Mühe, Jule zu umarmen oder ihr einen freundschaftlichen Kuss zu geben, so wie früher. Nur mit Ninos Hilfe gelang es Jule, alle davon zu überzeugen, dass sie stillhielten. Die anderen in der Klasse sollten es nämlich nicht wissen, für die sollten Simone und Jule nichts weiter als gute Freunde sein. Es war viel zu gefährlich, dass einer quatschte und damit Lehrer und Eltern von alledem erfuhren. Am Ende der Stunde versammelte Nino die Klasse und gab eine Erklärung ab. Jule musste lachen. Das klang richtig feierlich. Kurz und bündig erklärte er, dass er noch nie so einen Schwachsinn gehört hätte und auch nie wieder hören wollte. Die anderen sollten doch froh sein, dass Simone und Jule sich nicht mehr zoffen würden. „Also haltet einfach die Klappe, Leute. Kapiert?“, kündigte er in drohendem Tonfall an. Das saß, auch wenn Jule etwas komisch dabei war. Eigentlich hätte sie ihre Liebe in die ganze Welt hinausposaunen mögen, aber das war einfach ein schlechter Zeitpunkt. Wenn, dann sollten es ihre Eltern irgendwann zuerst erfahren und nicht ein Haufen fremder Leute, die ihre Liebe eigentlich nichts, aber auch gar nichts anging. „Ihr wisst hoffentlich, dass es nix Mieseres gibt, als Gerüchte in die Welt zu setzen. Und außerdem gehen Mädels viel eher mal Hand in Hand. Das ist voll normal.“ Dann fügte er noch witzelnd hinzu: „Das war das Wort zum Sonntag.“ Nach der Schule eilte Jule direkt zu Simone, die tatsächlich krank war. Sie erzählte ihr von den neusten Neuigkeiten und imitierte die Aufregung in der Klasse. Simone amüsierte sich köstlich und bedauerte, dass sie nicht dabei war und sie war beeindruckt, dass Jule vor Nino so mutig zu ihren Gefühlen gestanden hatte. „Denen zeigen wir es, wir führen sie so dermaßen an der Nase herum, dass sie hinterher nicht mehr wissen, ob sie Männchen oder Weibchen sind“, versicherte sie. Jule runzelte
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die Stirn. Vielleicht hatte Simone Recht, doch manch mal dachte sie ob es nicht besser wäre, einfach die ganze Wahrheit zu sagen. Es war doch nichts Schlimmes dabei und diese Heimlichtuerei ging ihr ganz schön auf die Nerven. „Worüber denkst du nach?“, wollte Simone wissen und gab Jule übermütig einen Kuss. „He, steck mich bloß nicht an“, wehrte sie ab und stand auf, um in die Küche zu gehen. Sie hatte Simone versprochen, ihr etwas zu essen zu machen, und das schützte sie vor weiteren Fragen. Wahrscheinlich konnte Simone sich zwar auch selbst etwas kochen, doch Kranke wollten nun mal verwöhnt sein. Jule machte es gerne, außerdem fand sie es auch echt traurig, dass sich Simones Mutter nicht um ihre kranke Tochter kümmerte. Ingrid Neumann war immer bei Jule geblieben, wenn sie krank war. Als sie mit dem beladenen Tablett zurückkam, saß Simone aufrecht im Bett und erwartete Jule mit einem strahlenden Lächeln. „So, und jetzt will ich wissen, worüber du die ganze Zeit nachdenkst, meine Schöne!“ Jule seufzte. Simone ließ aber auch nicht locker. „Ach, ich denke nur manchmal, ob es nicht besser wäre, wenn man die ganze Wahrheit aufdecken würde.“ Sie schwieg und schaute auf. Simone wirkte erschrocken und Jule versicherte, dass sie natürlich nichts sagen würde. Doch ein wenig verwundert war sie schon über Simones Reaktion, schließlich war sie diejenige, die viel früher offen mit ihrer Liebe zu Frauen umgegangen war. Sie sagte nichts weiter, doch der Gedanke ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie hatte diese Heimlichtuereien so satt. Warum konnte sie nicht zu ihrer Liebe stehen, so wie alle anderen Menschen auch? Sie war so glücklich und überschwänglich, dass nichts Böses daran sein konnte, eine Frau zu lieben. Sie fühlte sich stark mit ihrer Liebe zu Simone und sie würde allen Anfeindungen standhalten.
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Doch dazu sollte sie schneller Gelegenheit bekommen als sie dachte.
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Jule hatte es sich auf dem alten Ledersofa im Wohnzimmer gemütlich gemacht und blätterte in diversen Zeitschriften ihrer Eltern. Als das Telefon klingelte, hob sie nur kurz den Kopf und versank dann wieder in der Illustrierten. Sollte es doch klingeln. Nach einer Weile hörte es auf. Na, also, seufzte sie und legte sich auf dem Sofa zurück. Sie genoss es, einen Abend alleine zu Hause zu sein. Ihre Eltern waren in der Schule zum Elternabend. Herrlich, mal so richtig seine Ruhe zu haben, fand Jule. Es war nämlich ganz schön stressig in letzter Zeit. Die zehnte Klasse war sehr anspruchsvoll geworden. Anscheinend wollten die Lehrer unmissverständlich auf den Ernst der Oberstufe vorbereiten. Jule hatte teilweise Mühe mitzukommen. Die Zeit nach Schulschluss verbrachte sie fast immer mit Simone. Ganz selten war sie mal für sich alleine. Und auch wenn sie keine Sekunde mit Simone missen wollte, so genoss sie diesen Abend doch sehr. Sie schnappte sich die „Brigitte“ und las einen Artikel über die neusten Modeschauen in Rom und Paris. Eigentlich Horror, die ganzen aufgetakelten Hungerlappen, so nannte sie die dürren Models, doch die Bilder waren trotzdem faszinierend. Allerdings wurden Jules weltstädtische Modestudien im nächsten Moment wieder von dem Klingeln des Telefons unterbrochen. Verflixt, wer mochte das sein? Mit Simone hatte sie gerade erst telefoniert und ansonsten erwartete sie keine Anrufe. Wahrscheinlich war es Onkel Peter, der Bruder ihrer Mutter. Der rief öfter abends an. Auf den hatte sie gar keinen Bock. Jule versuchte, sich wieder auf den Artikel zu konzentrieren.
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Doch das Klingeln hörte nicht auf. Entnervt stand sie auf und hob den Hörer ab. „Hier ist Simone“, ertönte es aufgeregt am anderen Ende der Leitung. „Simone? Mensch, mit dir hätte ich nicht gerechnet, deswegen habe ich auch nicht abgehoben. Was…?“ Jule wollte weiter sprechen, wurde jedoch von Simones flehender Stimme unterbrochen. „Jule, es ist die Hölle. Meine Mutter weiß alles. Irgendjemand hat auf dem Elternabend gequatscht, sie hat mich zur Rede gestellt und ich habe alles gesagt. Warum weiter lügen? Sie ist total ausgerastet, will mich von der Schule nehmen und deine Eltern informieren!“ Jule war bei Simones Worten kreidebleich geworden. Erst war es der Schock, doch innerhalb weniger. Sekunden verspürte sie nur noch grenzenlose Wut. „Deine Mutter braucht ihnen gar nichts zu erzählen, das mache ich schon selber!“ Jule umklammerte den Hörer fest in ihrer Hand. „Simone? Bist du noch da?“ „Ich muss Schluss machen“, kam es leise und verängstigt zurück. Dann hörte Jule nur noch ein Klicken in der Leitung. Langsam legte sie den Hörer auf. In ihrem Kopf dröhnte es. Sie stand immer noch wie unter Schock. Wahrscheinlich hatte irgendeine von den dämlichen Hühnern in der Schule ihren Eltern alles brühwarm erzählt. Naja, dann war die Klasse wohl nicht auf Ninos tollen Vortrag hereingefallen. Sei’s drum. Viel schlimmer waren die Reaktionen von Simones Eltern. Sauer sein, okay, meinethalben auch noch enttäuscht, überlegte Jule wütend. Aber die Drohung, Simone von der Schule zu nehmen war ja nun wirklich die Höhe. Jule lief aufgeregt im Wohnzimmer auf und ab. Doch je mehr sie über die ganze Angelegenheit nachdachte, um so wütender wurde sie. Was war das nur alles für ein himmelschreiender Blödsinn? Sie hatten nichts angestellt, hatten nichts geklaut oder heimlich Automaten geknackt. Nach einer Weile ließ sie sich erschöpft
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in das Sofa fallen. Das Einzige, was sie tun konnte, war, auf ihre Eltern zu warten und mit ihnen zu reden. Nur wenig später drehte sich der Schlüssel im Schloss. Ob Simones Eltern noch mit ihnen geredet haben? Wussten sie schon von dem Geständnis? Jule setzte sich aufrecht hin, um ihre Eltern zu empfangen. Es war eigentlich egal, was sie erfahren hatten, wichtig war, dass Jule wusste, was nun zu tun war. Jule begrüßte ihre Eltern so normal wie möglich, doch jeder Blinde konnte sehen, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Beide sahen ziemlich blass aus und drucksten umständlich herum, bis sie mit dem obligatorischen Jule, wir müssen mal mit dir reden herauskamen. Jule hatte sich in den Sessel gekauert, ihr gegenüber auf dem Sofa saßen ihre Eltern. Sie schaute die beiden einen Augenblick schweigend an, dann holte sie tief Luft. Jetzt oder nie, dachte sie. „Nein, Mama, ich muss mit euch reden!“ Sie machte eine Pause und trank einen Schluck Wasser. Dann sprudelte sie los. Sie redete ohne Unterlass, erzählte ihnen von Simone, von ihrem Hass aufeinander und wie sie plötzlich festgestellt hatten, dass sie sich liebten. „Wir sind zusammen, versteht ihr? Und auch wenn ihr uns bestraft oder uns von der Schule nehmt, wird das nichts an der Tatsache ändern, dass wir uns schrecklich gerne haben.“ Sie seufzte. Jetzt war es gesagt. Was ihre Eltern damit machten, war ihre Sache. Aber sie hatte keine Lust, sich weiter in Lügen zu verstricken. Sie beobachtete ihre Eltern. Keiner von beiden sagte ein Wort. Ihr Vater schaute sie an, als würde sie eine Mondfahrt planen und ihre Mutter versuchte die Aufregung hinter einem eingefrorenen Lächeln zu verstecken. „Jule… ich… was soll ich sagen…“, stotterte sie und rang nach Atem. „Wir haben sicher nichts dagegen, wenn Menschen so sind, nur…“ Sie brach ab und suchte nach Worten.
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„Nur nicht deine eigene Tochter“, ergänzte Jule und ihre Stimme klang bitter. Wenigstens von ihrer Mutter hätte sie sich mehr Verständnis erwartet. „Nein, das ist es nicht, ach Jule, versteh doch, du mit einer Frau, ich dachte immer, du wirst irgendwann heiraten und Kinder bekommen.“ Tränen stiegen ihr in die Augen. Der Satz hing in der Luft. Sie blickte Hilfe suchend zu ihrem Mann, doch der war gerade aufgestanden und schenkte sich einen Cognac ein. „Du bist also lesbisch“, sagte er aus dem Hintergrund. „Meine eigene Tochter ist eine Lesbe!“ Er sagte es nachdenklich, wie eine Erkenntnis. Es klang weder böse noch erfreut, sondern einfach erstaunt. Jule biss sich auf die Lippen. Es war sicher nicht leicht, doch wer sollte sie verstehen, wenn nicht ihre eigenen Eltern? „Ich gehe ins Bett“, kündigte sie an, nachdem alles gesagt war. Es hatte keinen Sinn immer weiter zu sprechen. Wahrscheinlich mussten ihre Eltern die Nachricht erst mal schlucken. Sie ging in ihr Zimmer und zog sich aus. Sie wollte einfach nur noch schlafen. Doch als sie im Bett lag, wälzte sie sich unruhig hin und her. Sie musste an Simone denken. Wie es ihr wohl gehen würde? Sie hatte ziemlich fertig geklungen am Telefon. Jule biss sich auf die Lippen. Sie mussten jetzt ganz fest zusammenhalten, dann würden sie alles überstehen, dachte sie zuversichtlich. Und das mit dem Schulwechsel war sicher nur so eine einfallslose Drohung von Simones Mutter. Wenn sie den ersten Schock überwunden hatte, würde sie sicher alles verstehen. Jule kuschelte sich ganz fest in ihre Decke. Sie hatte auf einmal gar keine Angst mehr. Die Lösung lag auf der Hand. Sie würden alle mit der Wahrheit konfrontieren, irgendwann musste man ihre Liebe akzeptieren. Allerdings stellte sich schon am nächsten Morgen heraus, dass Simones Eltern das ganz anders sahen. Sie waren weit
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davon entfernt, die Gefühle ihrer Tochter zu akzeptieren und hatten die ganze Nacht geredet und Pläne für die Zukunft geschmiedet, Pläne, in denen Jule nicht mehr vorkommen sollte! „Sie wollen mich in ein Internat stecken“, erklärte Simone dumpf. Sie sah völlig fertig aus, blass und mit tiefen Rändern unter den Augen. „Bis zum neuen Schuljahr wollen sie was Geeignetes finden. Bis dahin soll ich dir aus dem Weg gehen.“ Sie schaute verlegen auf den Boden. Jule betrachtete sie erschrocken. „Was sich deine Eltern abschminken können! Sie werden es schon noch kapieren, glaub mir!“ Jule legte den Arm um Simone. Es war ihr vollkommen egal, ob die anderen Schüler sie sahen. Ab jetzt würde sie sich nicht mehr verstecken, vor niemandem. Doch Simone erstarrte unter Jules Umarmung. Sie machte sich los und nahm ihre Tasche vom Boden auf. „Das hat doch alles keinen Sinn, Jule“, flüsterte sie und in ihren Augen schimmerten Tränen. Dann drehte sie sich um und ging Richtung Schuleingang davon. Jule griff eilig ihre Tasche und folgte Simone hastig. Was war nur mit ihr los? Sie war ja völlig verschüchtert. Wo war die lustige junge Frau, die immer gegen jeden und alles rebellierte? Die mit den lockeren Sprüchen auf den Lippen? Schweigend betraten sie die Klasse, Jule spürte wie die Augen ihrer Mitschüler sie neugierig musterten. Sie warf den Kopf in den Nacken und ging hocherhobenen Hauptes an ihren Platz. Doch hinter der kühlen, selbstbewussten Fassade schwitzte sie Blut und Wasser. Das war ein regelrechter Spießrutenlauf. Als sie an ihrem Platz saß, kam Nino zu ihr. Überschwänglich und für alle sichtbar, nahm er sie in den Arm und tauschte ein paar belanglose Informationen mit ihr aus. Jule zwinkerte ihm dankbar zu. Er war ein echter Kumpel. Doch die Stimmung in der Klasse war in den folgenden Tagen Jules geringstes Problem. Nachdem
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die anderen merkten, dass sie mit ihren Bemerkungen auf Granit stießen oder noch besser, nur ein glückliches ihr wisst ja wie es ist, wenn man verliebt ist zu hören bekamen, verloren sie bald das Interesse. So außergewöhnlich war es dann wohl doch für niemanden, wenn zwei Mädchen zusammen waren. Viel schwieriger als die blöden Vorurteile der anderen in den Griff zu bekommen, war Simone selbst. Sie war vollkommen niedergeschlagen, lief mit gesenktem Kopf durch die Gegend und ließ niemanden mehr an sich ran. Selbst Jule hatte Probleme mit ihr zu sprechen. Simone wich ihr aus. Nach der Schule wurde sie entweder von ihrer Mutter oder ihrem Vater abgeholt und direkt nach Hause gebracht. Den Job in der Kreuzberger Kneipe hatte sie auch aufgeben müssen. Jule sah sie nur in den Pausen und versuchte mit Engelszungen auf sie einzureden. „Wir müssen etwas unternehmen. Wir müssen gemeinsam zu deinen Eltern gehen und ihnen sagen, dass sie nichts gegen unsere Liebe machen können“, sagte sie, als sie mal wieder in einer der hintersten Ecken des Schulhofs standen, wo man relativ unbemerkt rauchen konnten. Das heißt, eigentlich rauchte Simone, doch bei dem ganzen Stress in den letzten Tagen hatte es sich Jule auch angewöhnt. „Hey, ich bitte dich, du kannst dich doch jetzt nicht einfach so gehen lassen? Du kannst doch nicht deinen Eltern Recht geben und ihnen erlauben, dass sie dich wie ein Kleinkind behandeln!“ Jule rüttelte Simone an den Schultern, als wollte sie ihre Freundin aus einem bösen Traum aufwecken, doch Simone ging demonstrativ einen Schritt zur Seite. „Es hat keinen Sinn, Jule! Ich werde auf dieses Internat gehen und mein Abi dort machen.“ Sie zog heftig an ihrer Zigarette und ließ den Qualm langsam entweichen. „Ich bin auf meine Eltern angewiesen“, sagte sie und atmete tief durch. „Ohne ihr Geld kann ich mir meine Träume von New York, einem
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eigenen Auto oder sogar einem Motorrad abschminken. Außerdem habe ich sie schon einmal enttäuscht, wenn ich sie wieder vor den Kopf stoße, wird meine Mutter das nicht überleben. Du kannst dir nicht vorstellen, was bei uns los ist, wenn ich mich widersetze. Meine Mutter straft mich mit Nichtachtung. Und ich kann dir sagen, das ist alles andere als schön.“ Jule glaubte nicht, was sie da hörte. „Das ist moralische Erpressung“, rief sie empört. „Natürlich überlebt deine Mutter das. Und wenn du sie hundertmal enttäuschst. Kein Mensch stirbt an Enttäuschung.“ Sie kannte die Jammernummer von Simones Mutter. Die hatte es echt drauf, ihre Tochter für jede Migräne, die sie hatte, verantwortlich zu machen. Aber trotzdem war das kein Grund klein beizugeben. Jule wippte nervös von einem Bein auf das andere. „Früher hast du doch auch über das Gequatsche deiner Mutter gelacht, warum nimmst du es auf einmal so ernst?“, wollte sie wissen. Doch Simone lächelte nur traurig. „Nein, Jule, ich habe immer alles sehr ernst genommen, was meine Mutter gesagt hat, ich habe es nur sehr, sehr gut vertuscht. In Wirklichkeit habe ich alles so gemacht, wie sie es wollte: Sie hat gesagt, Such dir einen Job, damit du weißt, was Geld bedeutet – ich hab’s getan, sie wollte, dass ich wiederhole, um meinen Notendurchschnitt aufzubessern, ich hab’s getan. Sie will, dass ich aufs Internat gehe? Ich werde es tun.“ Jule war baff. Sie wollte einfach nicht glauben, was sie da hörte. Das war nicht mehr die Simone, die sie noch vor ein paar Tagen in den Armen gehalten hatte, mit der sie gelacht und jede Menge Blödsinn ausgeheckt hatte. „Aber, wir beide lieben uns doch“, wagte sie einen letzten Versuch, gegen diese allgegenwärtige Mutter anzugehen, doch Simone winkte ab. „Das verstehst du nicht“, erklärte sie resigniert, dann drehte sie sich um und ging in die Klasse. Jule schaute ihr entgeistert hinterher. Nein, das verstand sie
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wirklich nicht. Simone ließ sich von ihren Eltern schikanieren? Sie war bereit, ihre Liebe zu opfern, nur um den Eltern zu genügen?
Als es endlich zum Schulschluss klingelte, machte Jule sich niedergeschlagen auf den Weg nach Hause. Leise öffnete sie die Wohnungstüre und ging in ihr Zimmer. Ihre Mutter war noch nicht da, so konnte sie in Ruhe über alles nach denken. Sie setzte sich an ihren schmalen Schreibtisch und ließ erschöpft den Kopf auf ihre Unterarme sinken. Wie konnte man sich nur so in einem Menschen täuschen? Die ganze Zeit über hatte sie geglaubt, Simone sei stark, unabhängig und selbstbewusst und jetzt musste sie erkennen, dass sie nichts dergleichen war. Im Gegenteil, Simone war feige. Sie verriet ihre Liebe, weil sie Angst hatte, sich gegen ihre Mutter durchzusetzen. Jule griff sich eine CD und legte sie in den Player. Aus den Lautsprechern ertönte „Denis“ von Blondie. Das Lieblingslied von Simone und ihr. Jule schaute aus dem Fenster und erinnerte sich an die vergangen Wochen. Sie spürte, wie ihr die Tränen langsam über das Gesicht liefen. Simone hatte ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt, und nun stand sie vor einem Scherbenhaufen, den sie ganz alleine wegräumen musste. Jule wusste nicht, wie lange sie reglos an dem Schreibtisch gesessen hatte, doch irgendwann klopfte es an der Türe und sie schreckte hoch. Das war sicher ihre Mutter. „Ja bitte?“, rief sie und wischte sich noch einmal über das Gesicht. Man brauchte ja nicht auf den ersten Blick zu sehen, dass sie ge heult hatte. Ihre Mutter kam leise herein. „Kann ich mich setzen?“ Jule drehte sich zu ihr um und wies auf das Bett. Es war mit einer bunten Tagesdecke überzogen und diente Jule auch als Sofa. Ihre Mutter nahm Platz und
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schaute ihre Tochter besorgt an. „Geht es dir nicht gut? Soll ich ein andermal wiederkommen?“ Jule schluckte und schüttelte den Kopf. „Geht schon“, murmelte sie und schnäuzte sich in ihr Taschentuch. „Es ist nur…“ Sie zögerte. Was sollte sie ihrer Mutter sagen? Seit dem Gespräch vor einigen Tagen war die Stimmung zu Hause sehr angespannt. Niemand war sauer oder böse, man spürte einfach nur, dass die Situation für alle Beteiligten sehr schwierig war. „Es ist nur wegen Simone“, sagte Jule schließlich. „Sie wird in ein Internat geschickt!“ Jules Mutter nickte. „Ich weiß“, flüsterte sie und starrte einen Moment auf ihr Hände, die sie unruhig knetete. Dann hob sie den Kopf und schaute Jule gerade in die Augen. „Ich wollte dir sagen, dass es nicht leicht für mich und deinen Vater ist, aber wir werden deine Entscheidung respektieren. Wir dürfen dir keine Vorschriften machen, wir dürfen nicht bestimmen, wen du zu lieben hast. Es ist einfach nur so überraschend für uns.“ Sie schluckte und Jule bemerkte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. „Gib uns einfach ein bisschen Zeit, ja?“, bat sie mit leiser Stimme. „Niemand von uns will dich wegen dieser Sache verlieren!“ Jule lächelte und setzte sich neben ihre Mutter. „Ihr verliert mich nicht! Es ist auch für mich alles nicht leicht. Gerade erst stelle ich fest, dass ich auf Frauen stehe und im nächsten Moment macht sich meine erste Liebe feige aus dem Staub, nur weil sie nicht auf Mamas Kohle verzichten will. Das nenne ich tragisch.“ Sie schaute ihre Mutter an und beide mussten lachen. „Freunde?“, fragte Ingrid Neumann und streckte die Hand aus. „Freunde!“, antwortete Jule und schlug ein.
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Simone hatte vor ihrer Mutter kapituliert und Jule konnte ihr das nicht verzeihen. Du schmeißt dein Leben weg, wenn du immer und immer vor deiner Mutter kuschst, wiederholte sie in endlosen Gesprächen auf dem Pausenhof. Doch Simone zuckte jedes Mal resigniert mit den Schultern. Sie war wie ausgewechselt, fand Jule. Lief nur noch vollkommen apathisch rum und redete kaum noch. „Man könnte meinen, du bist bis oben hin zugekifft“, versuchte sie zu scherzen, als sie an einem Dienstag gerade vom Schulbüdchen kamen. „Keine Drogen!“, antwortete Simone zickig und schlürfte an ihrer Kakaotüte. Jule atmete hörbar aus. „Jetzt reicht’s! Es ist ja genug, wenn du vor deiner Mutter kuschst, aber mich hier auch noch schlecht zu behandeln, das habe ich nicht nötig.“ Jule schmiss wütend ihre angebrochene Milchtüte in einen Papierkorb und zog Simone ein Stück weiter, damit sie vor neugierigen Blicken geschützt waren. „Du gehst nicht nur weg, du lässt dich auch noch einsperren, damit wir uns nicht mehr sehen. Du gehst nicht mehr in Kneipen und jetzt tust du so, als hättest du noch nie einen Joint geraucht? Du hast es mir beigebracht, falls du dich erinnerst.“ Jule schluckte und wandte sich ab. Sie wollte nicht heulen. Aber es stimmte, was sie sagte. Simone hatte sie mal mitrauchen lassen. Und auch wenn Jule nicht so viel davon gemerkt hatte, so war es doch ein schöner Abend gewesen. Ohne sich noch mal zu Simone umzudrehen, ging sie in die Klasse.
In den kommenden Wochen kühlte die Beziehung zwischen Jule und Simone dann auch merklich ab. Sie sahen sich in der Schule, doch mehr als das ein oder andere verkrampfte Gespräch auf dem Pausenhof lief nicht. Jule war enttäuscht und verletzt, doch sie war auch wütend. Wütend auf Simones
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Eltern, die einfach hingingen und ihr Glück zerstörten, aber auch wütend auf Simone, die nicht bereit war, für ihre Liebe zu kämpfen. Jule hatte alles versucht, doch Simone hatte sich vollkommen zurückgezogen. Im Herbst verließ sie die Schule endgültig und damit endete die Beziehung der beiden.
Jule war zu Hause, als Simone anrief, um sich mit kurzen Worten von ihr zu verabschieden. Als sie ihre Stimme hörte, spürte sie einen Stich im Herzen. Trotz ihrer ganzen Wut, trotz der Verletzungen und der Enttäuschung über die Freundin, tat es einfach nur weh, dass sie jetzt tatsächlich fortging. Sie spürte einen Kloß im Hals. Was sollte sie sagen? Eigentlich war alles gesagt. Simone wusste, was Jule dachte und umgekehrt. „Ich wünsche dir viel Glück“, erklärte Jule leise und legte den Hörer auf. Sie atmete tief durch und ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Hatten Simones Eltern es also tatsächlich geschafft, ihrer Tochter noch so kurzfristig einen Platz im Internat zu besorgen. Sie hatten sicher ihre guten Beziehungen spielen lassen, vermutete Jule. Sie setzte sich an den großen Küchentisch und ließ den Kopf auf ihre Unterarme sinken. Es tat weh, Simone gehen zu sehen und gleichzeitig wusste sie, dass es mit ihnen beiden so oder so aus gewesen wäre. Ihre Liebe war mal etwas ganz Besonderes gewesen und Simone hatte diese Liebe verraten, das hätte Jule ihr wahrscheinlich niemals verzeihen können. Sie musste an ihre Grundschulzeit denken. Daran, wie ihre Freundin Lotte gegangen war. Ganz plötzlich, ohne Vorankündigung hatte sie mit den Eltern Berlin verlassen. Jules erste richtige Freundin. Jule spürte, wie ihr die Tränen über das Gesicht liefen und stand auf, um sich ein Taschentuch zu holen. Sie stellte sich ans Fenster und schaute hinaus. Und jetzt geht Simone, sagte sie leise zu sich selbst. Meine erste
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große Liebe. Sie verschränkte die Hände vor der Brust. Irgendwann scheinen sie alle zu gehen, erst Lotte, dann Simone. Vielleicht sollte man aufhören, Menschen wirklich gerne zu haben, dachte sie. Am Ende bleibt man ja doch alleine.
In den Wochen, nachdem Simone weg war, wusste Jule zunächst nichts mit sich anzufangen. Sie qualmte jede Menge Zigaretten und hörte manchmal stundenlang Musik. Aus lauter Langeweile lernte sie aber auch fast jeden Tag für die Schule. Ihre Noten wurden immer besser und die Lehrer staunten nicht schlecht über Jules Aufmerksamkeit und ihr Interesse im Unterricht, Ab und zu schleppte Nino sie am Wochenende mit in die Disco, er war so ziemlich der Einzige, mit dem Jule noch Kontakt hatte. Die Clique gab es sowieso nicht mehr. Sven und Anke gingen nach der 10 ab, um eine Banklehre anzufangen. Auch die anderen sahen sich viel weniger, irgendwie entwickelte einfach jeder von ihnen andere Interessen. Jule mit ihrer Vorliebe für Frauen, Nino mit seinem unstillbaren Durst nach Discotheken und einem in Jules Augen recht hohen Verschleiß von Freundinnen und Tina mit ihrem Piet. Die beiden waren inzwischen fast wie ein richtiges Ehepaar. Sie wohnten sogar zusammen und luden Jule zum Ferienbeginn zum Essen ein, aber richtig wohl fühlte sie sich da nicht. Die beiden lebten auf einem anderen Stern, fand Jule. Der Freizeitrocker Piet machte jetzt einen auf Jurastudent, dachte sie verächtlich. Die Asche dafür bekam er von seinem Alten. Tina machte zwar ihre Schule, doch sie quatschte eigentlich nur noch das nach, was Piet ihr vorkaute. Jule war froh, als sie nach dem Abend wieder gehen konnte.
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Erst nachdem sie in den Ferien zwei Wochen mit ihren Eltern am Meer war, verspürte Jule endlich wieder Lust, alleine auszugehen. Sie hatte genug gelitten und sich verschanzt. Außerdem hatte sie noch fast vier Wochen Sommerferien vor sich und die wollten schließlich genutzt sein, bevor der Stress mit der Oberstufe losging. Außerdem konnte sie nicht ihr halbes Leben lang wegen der Enttäuschung mit Simone Trauer tragen. Und auf Heteropartys, auf die Nino sie mitnahm, würde sie nie jemanden kennen lernen. Also ging sie in die Cafés, die Simone ihr gezeigt hatte. Einige Leute kannte sie vom Sehen und zu ihrem Erstaunen war es gar nicht schwer, mit denen in Kontakt zu kommen. Manche fragten nach Simone und eine Frau freute sich sogar regelrecht, Jule zu sehen. Dich haben wir aber hier schon lange nicht mehr gesehen, sagte sie und Jule lächelte froh. Hatte sie gar nicht so mitbekommen, dass man sie kannte. Sie hatte immer gedacht, alle würden nur mit Simone reden und sie so mehr oder weniger als die neue Freundin von ihr akzeptieren. Aber anscheinend war das ganz anders. Als sie an einem Abend in ihrem Lieblingscafé an der Theke stand, sprach sie eine junge Frau an, die vom Typ her ein bisschen so wirkte wie Simone: Klein, sehr schlank, und ganz kurze strubbelige Haare, nur dass sie nicht schwarz waren, sondern blond. „Ich bin Maxi“, begrüßte sie Jule und bestellte sich ein Bier. „Magst du auch? Ich lade dich ein!“ Jule überlegte. Warum nicht?, dachte sie und stimmte zu. Sie zündete sich eine Zigarette an und beobachtete die junge Frau. Sie war ein bisschen älter als Jule, wirkte aber sehr blass und müde. Sie saß schweigend da und wartete auf das Bier. Erst als sie das Glas in der Hand hatte, drehte sie sich wieder zu Jule um. „Du warst früher manchmal hier, mit Simone, ne? Wo ist sie denn jetzt?“ Jule runzelte verwundert die Stirn. Sie konnte sich gar nicht an Maxi erinnern. In kurzen Sätzen erzählte sie, dass
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Simone in einem Internat wäre und dass sie keinen Kontakt mehr zu ihr hätte. Maxi lachte verächtlich und zog an ihrer selbstgedrehten Zigarette. „Haben ihre Eltern sie doch noch eingesperrt? Das wollten sie ja schon immer!“ „Kennst du sie besser? Ich kann mich gar nicht an dich erinnern!“ Jule trank einen Schluck aus ihrem Glas und versuchte Maxis Gesicht einzuordnen. „Brauchst dich gar nicht so anzustrengen, bis vor ein paar Wochen hatte ich noch lange Haare und sah ganz anders aus. Eher so der weibliche Typ.“ Sie lachte höhnisch. „Aber damit ist jetzt Schluss.!“ Dann schwieg sie und trank schweigend an ihrem Bier. Jule wusste nicht, was sie sagen sollte und schwieg ebenfalls. Nach einer Weile schaute Maxi wieder hoch. In ihren Augen schimmerten Tränen. „Ich war mit ihr zusammen. Aber dann kamst du. So einfach ist das.“ Sie trank das Glas in einem Zug leer und wiederholte die Worte, als spräche sie zu sich selbst. „So einfach ist das. So sind die Geschichten.“ Jule schluckte. Na toll. Simones alte Liebe. Darauf hatte sie jetzt echt Bock. Sie wollte nicht mehr an diese feige Kuh denken und jetzt bekam sie auch noch die geballte Ladung Vorwürfe von Simones Ex. „Hör zu“, sagte sie entschieden. „Simone und ich sind kein Paar mehr. Dass sie wegen mir Schluss gemacht hat, tut mir Leid, aber ich wusste es nicht, und ich kann auch nichts dafür. Wenn sie dich nicht mehr geliebt hat, wird sie ihre Gründe gehabt haben.“ Sie rutschte von dem Hocker, auf dem sie saß und stellte sich neben Maxi. „Und außerdem: Ich will von Simone nichts mehr hören. Weder von ihrer Vergangenheit, noch von ihrer Zukunft.“ Sie warf Maxi einen kurzen Blick zu, der sagen sollte Ich hoffe wir verstehen uns, bezahlte und verließ den Laden. Für heute hatte sie genug, doch sie wusste, dass sie wieder herkommen würde. Die Sache mit Maxi hatte ihr nur gezeigt, dass die Vergangenheit dazu da war, um
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überwunden zu werden. Sie brauchte keine Angst zu haben, hier war ihr Platz, auch wenn Simone nicht mehr dabei war. Und zum ersten Mal seit langem war sie optimistisch. Sie würde neue Freunde finden.
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Dritter Teil
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Endlich Wochenende!, dachte Jule erleichtert und klappte ihre Bücher zu. Sie hatte wirklich genug von dem Roman. „Effi Briest“ von Theodor Fontane. Sie ging inzwischen in die elfte Klasse und musste für die nächste Klausur dieses Buch vorbereiten. Das war aber auch eine herzzerreißende Geschichte: Frau betrügt Ehemann und wird dafür ewig geächtet. Jule betrachtete das Buch nachdenklich. Das war sicher eine schreckliche Zeit, wo man so auf Etikette und den guten Ruf achten musste und eine Frau verachtet wurde, nur weil sie nicht so lebte, wie es die Gesellschaft vorschrieb: Treu und aufopferungsvoll an der Seite eines Mannes, den sie nicht liebte. Jule lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und überlegte. Wenn man’s recht bedachte, gab es so etwas eigentlich heute noch. Wenn sie zum Beispiel an Simone und viele andere dachte, dann wurden sie dafür bestraft, dass sie nicht so lebten, wie es die Eltern wünschten oder wie es angeblich normal und gesellschaftlich angemessen war. Allerdings mit dem Unterschied, dass heute sehr viele Menschen anders lebten und man sich deswegen viel besser gegen solche idiotischen Bestrafungen wehren konnte als früher. Aber eben nur, wenn man selber den Willen dazu hatte. Simone hatte damals nicht kämpfen wollen, dachte Jule und warf einen Blick aus dem Fenster. Es war Mai und draußen gab die sanfte Abendsonne ein wunderschönes Licht. Eine richtig romantische Stimmung, dachte Jule. Doch dann stand sie energisch auf. Keine 117
Träumereien, sagte sie sich und packte einen Stapel Bücher in das überfüllte Regal. Sie hatte zwar keine neue „große Liebe“ gefunden, aber in den Monaten, seit sie sich von Simone getrennt hatte, ging sie regelmäßig in die unterschiedlichsten Cafés und Kneipen. Sie wurde oft von anderen Frauen angesprochen und hatte sogar den ein oder anderen Flirt. Allerdings ergab sich nie mehr daraus. Seit der Enttäuschung mit Simone verschenkte sie ihr Herz nicht mehr so schnell, und außerdem lernte sie nie jemanden kennen, der sie mehr interessierte. Zum Flirten waren die meisten Bekanntschaften gut, aber darüber hinaus? Nein! Die Einzige, die Jule regelmäßig sah, war Simones Exfreundin Maxi. Nachdem sie bei ihrem ersten Treffen die Fronten geklärt hatten, waren sie sich ein paar Mal über den Weg gelaufen und verstanden sich ganz gut. Maxi war Studentin, allerdings nahm sie ihr Studium nicht besonders ernst und beschäftigte sich lieber mit den angenehmen Dingen des Lebens. Sie hatten eine lockere Freundschaft und in Sachen Liebe ging jede ihre eigenen Wege. Aber sie konnten sich nun mal gut unterhalten und unternahmen häufig etwas zusammen. Jule war gerade dabei, das Bett von den Klamotten freizuschaufeln, da hörte sie das Telefon klingeln. Sie ging zu ihrer Zimmertür. Leise horchte sie in den Flur hinein und hörte, wie ihre Mutter eine Freundin am Apparat begrüßte. Erleichtert ging Jule zum Kleiderschrank. Sie dachte schon, es wäre Maxi und irgendwas mit der Party am Abend würde schief gehen. Apropos Party, dachte Jule und schaute auf die Uhr. Es war schon sieben und in einer halben Stunde wollte sie los. Eilig öffnete sie den Kleiderschrank und suchte sich ein paar Klamotten heraus. Was sollte sie anziehen? Den schwarzen Minirock zusammen mit einem Baumwollrolli? Oder die weite Stoffhose? Die kam eigentlich immer ziemlich cool, vor allem, wenn sie als Kontrast ein knappes Träger-Shirt
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anzog. Jule probierte die Sachen an. „So ein Mist“, fluchte sie, als sie sich im Spiegel betrachtete. Irgendwie fühlte sie sich in nichts wohl. Der Rock wirkte ihrer Meinung nach aufgetakelt und sie kannte die Leute ja gar nicht, die am Abend kommen würden. In der weiten Hose sah sie aus wie eine Vogelscheuche, da nutzte auch kein Träger-Shirt. Außerdem war ihre Haut total blass, es war ja erst Mai und das warme Wetter hatte gerade erst angefangen. Sie probierte hin und her und entschied sich schließlich für eine neue Jeans, eine ganz enge mit Knöpfen anstatt Reißverschluss. Dazu die gelben Turnschuhe und eins von diesen schrillen T-Shirts mit Aufdruck. Endlich zufrieden drehte sie sich vor dem Spiegel, in den Klamotten kam doch wenigstens ihre schlanke Figur gut zur Geltung, und die richtigen Stellen wurden betont: Sie steckte sich die dunklen Haare hoch, umrandete die Augen ganz leicht mit schwarzem Kajal und legte ein bisschen Lippenstift auf. Das musste reichen, denn ihr Geschmack in puncto Auftakeln hatte sich in den letzten Jahren nicht geändert. Als sie fertig war, ging sie aus dem Haus. Sie wollte Maxi noch in ihrer kleinen Wohnung abholen. Sie wohnte im Osten der Stadt, am Prenzlauer Berg. Seit der Wiedervereinigung hatten da ein paar gute Kneipen aufgemacht. Und obwohl die Straßen im Gegenteil zum Westen der Stadt ganz schön düster waren, ging in den Läden echt was ab, fand Jule. Da waren Konzerte, Ausstellungen und einfach nur Kneipenbetriebe, in denen sich die Leute trafen. Maxi wohnte eben aus diesen Gründen in der Ecke, da hatte sie es nie weit zu den Events, – und außerdem waren auch die Mieten in der Gegend noch relativ bezahlbar. Wenn ich mir was suchen würde, sollte es hier sein, überlegte Jule, als sie bei Maxi auf die Türklingel drückte. Sie eilte die Treppe hoch. Die Türe war nur angelehnt und Jule ging zielstrebig in die Küche. Maxi war gerade dabei,
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sich die Fingernägel zu lackieren. Auf dem Küchentisch standen diverse Nagellacke und Feilen. Daneben eine halb leere Wodkaflasche und im Aschenbecher glimmte ein Joint. Jule setzte sich. „Willste was trinken?“, fragte Maxi. Jule verneinte, sie würde auf der Party noch genug bekommen. Als Maxi an dem Joint zog, räusperte Jule sich vorsichtig. „Bringt es das Zeug? Ich meine, biste dann echt besser drauf?“ Sie biss sich nervös auf die Lippen. Eigentlich ging sie das ja nichts an, aber sie hatte erst einmal einen Joint geraucht und nichts gespürt. Sie musste bei der Erinnerung grinsen. Ihr war regelrecht schlecht geworden von dem Zeug. „So ein Joint vor der Party ist super, das entspannt echt total“, entgegnete Maxi mit einem breiten Lächeln. Sie schraubte die Nagellackflasche zu und betrachtete Jule neugierig. „Soll ich noch einen bauen?“ „Ne, lass mal“, wehrte Jule ab. Sie hatte Angst, dass ihr wieder schlecht werden würde und sie wollte sich die Party nicht versauen. Aber irgendwann würde sie es noch mal probieren.
Das Fest war schon in vollem Gange als Jule und Maxi ankamen. In den Räumen der riesigen Altbauwohnung herrschte gedämpftes Licht und die Leute standen in kleinen Grüppchen herum, die meisten waren Frauen. Viele kannte Jule aus dem Café, aber es waren auch jede Menge unbekannte Gesichter dabei. In einem Zimmer spielte Musik, „Babes in Toyland“ bemerkte Jule erfreut, eine ziemlich unbekannte Band, die sie total gerne hörte. Sie schaute sich um: Die Möbel waren zur Seite geräumt, aber es tanzte niemand. Sie folgte Maxi in die Küche, wo ein gigantisches Büffet auf gebaut war. Die Gastgeberin kam ihnen entgegen. Eine junge Frau so um
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die 20, mit roten hochtoupierten Haaren und einem breiten lauten Lachen. Jule plauderte eine Weile mit ihr. Sie hieß Ulrike und arbeitete beim Film, irgendwas mit Produktionsassistenz, Jule verstand es nicht genau. Jedenfalls war sie oft wochenlang mit einem Projekt beschäftigt und kam in der Regel erst spät in der Nacht nach Hause. „Nervt das nicht, so viel zu arbeiten?“, wollte Jule wissen. Sie selbst hatte schon genug, wenn sie die, ihrer Meinung nach, unangemessen vielen Hausaufgaben erledigen musste. „Sie braucht das!“, bemerkte in dem Augenblick eine Stimme hinter ihnen. Jule drehte sich um und schaute in zwei strahlende Augen, die sie durchbohrten. Erstaunt hob sie eine Augenbraue und betrachtete die junge Frau: Sie war hübsch mit ihren dunklen, leicht gelockten Haaren, die sie offen über die Schultern fallen ließ. Ihre Gesichtszüge hat ten etwas Weiches und wenn sie lachte, so wie jetzt, dann zog sich ihre Stupsnase zusammen und ihr Gesicht bekam etwas Mädchenhaftes. „Was würde ich nur ohne dich machen?“, meldete sich in dem Augenblick die Gastgeberin Ulrike wieder zu Wort. Ihre Stimme klang sarkastisch, als sie sich wieder an Jule wandte: „Ohne Nadja hier wäre ich verloren. Ich wüsste wirklich nicht, was ich meinen Gästen über mich erzählen sollte.“ Sie schenkte Jule ein spöttisches Lächeln und entschuldigte sich mit einem kurzen Die anderen Gäste warten. Als sie weg war, trat ein betretenes Schweigen ein. Nadja drehte ihr Bierglas in der Hand und schaute Jule unverwandt an. Jule lächelte verlegen und überlegte, was sie jetzt sagen sollte. „Ich bin übrigens Jule“, stellte sie sich nach einer Weile vor. Dann schwieg sie wieder. Normalerweise war sie nicht auf den Mund gefallen, doch jetzt verstummte sie wie ein Fisch und überlegte verzweifelt, was sie sagen könnte. Diese Nadja war anders als die anderen Gäste, weicher, weiblicher und etwas an
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ihr wirkte verletzlich, auch wenn Jule nicht genau sagen konnte, was es war. „Nette Party“, versuchte Nadja nun auch das Gespräch in Gang zu halten. „Kennst du Ulrike schon lange?“ Jule schüttelte den Kopf. „Nein, gar nicht. Hab sie sozusagen gerade erst kennen gelernt. Ich bin mit Maxi hier. Einer Freundin. Ich meine, sie ist eine gute Freundin, nicht mehr.“ Jule biss sich auf die Lippen. Was erzählte sie hier eigentlich für einen Blödsinn? Wen interessierte es, in welcher Beziehung sie zu Maxi stand? Nadja lächelte auch schon so amüsiert. Aber jetzt war es raus und Jule konnte nur zur Offensive übergehen. „Aber du kennst sie wohl schon länger, was?“, fragte sie offensiv. „Sonst wüsstest du ja nicht so genau darüber Bescheid, wie viel Arbeit sie braucht oder nicht braucht.“ Sie lächelte Nadja gespielt unschuldig zu und schickte ein Holst du uns was zu trinken? hinterher. Nadja schmunzelte und nickte mit dem Kopf. „Du weißt jedenfalls, was du willst“, entgegnete sie und drehte sich um. Jule folgte ihr mit den Augen. Sie hatte einen schwingenden leichten Gang, der dazu einlud, ihr nachzuschauen. Sie war schlank und trug eine enge dunkelblaue Jeans. Allerdings wirkte sie mit ihren hochhackigen Schuhen und dem schulterfreien Top weiblicher als Jule in ihren Turnschuhen. „Na, schon Freunde gefunden?“, tönte plötzlich Maxis Stimme hinter ihr. Jule drehte sich um. Maxi grinste sie anzüglich an und hielt ihr ein Bier hin. „Damit du nicht verdursten musst.“ Dann folgte sie Jules Blick und stieß einen kurzen Pfiff aus, als sie Nadja erblickte. „Du hast Geschmack, Süße, das muss man dir lassen.“ Jule verdrehte die Augen. Auf Maxis Kommentare hatte sie gerade gewartet. Sie trank einen Schluck und überlegte, wie sie Maxi am geschicktesten wieder
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los würde, ohne dass sie sich zurückgesetzt fühlte. Denn eine beleidigte Freundin konnte sie im Moment auch nicht gebrauchen, vor allen Dingen, weil Maxi sie immer auf diverse Partys mitnahm. „Ja, die scheint ganz nett“, entgegnete sie gelangweilt. „Aber ist doch besser, ich unterhalte mich auf eigene Faust, anstatt dir den ganzen Abend auf der Pelle zu hängen!“ Maxi wollte etwas sagen, doch in dem Moment ertönte von der Türe her ein lautes Maxi Schätzchen, du hast doch sicher was dabei, was uns ein bisschen aufmöbelt. Jule lächelte der Freundin zu. „Geh schon, dein Typ ist gefragt. Um mich musst du dir keine Sorgen machen.“ Maxi runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. Doch dann entschied sie sich offensichtlich dafür, dass Jule Recht hatte und machte Ulrike ein Zeichen, dass sie gleich kommen würde. Dann schaute sie kurz in die Richtung, in die Nadja verschwunden war und gab Jule blitzschnell einen Kuss auf den Mund und verschwand. Jule wich zurück. Was sollte das denn? Sie küssten sich selten, und wenn auf die Wange. Sie überlegte noch, was Maxi damit bezwecken wollte, da stand Nadja mit einem Bier vor ihr. Dazu also die Show, kombinierte Jule. Die gute Maxi war wohl doch ein bisschen eifersüchtig. Jule musste grinsen. Fragte sich nur auf wen, auf sie oder auf Nadja? „Ich war dir wohl nicht schnell genug mit den Getränken“, witzelte Nadja und blickte mit hochgezogenen Brauen auf das Bierglas in Jules Hand. „Ja, da scheint dir jemand zuvorgekommen zu sein“, entgegnete Jule und strich sich mit der freien Hand die Haare aus dem Gesicht. „Obwohl, wenn ich es mir recht überlege…“ Sie stellte das Glas kurz entschlossen auf dem nächstbesten Tisch ab und nahm Nadja das Bier aus der Hand. „Prost“, sagte sie und blickte Nadja tief in die Augen. Keine von beiden sagte etwas, einen kurzen Moment lang schauten sie sich nur an. Jule
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spürte ein leichtes Kribbeln in ihrem Magen. Ihr Mund wurde trocken und sie suchte verzweifelt nach etwas, das sie sagen konnte. „Du hast noch nicht gesagt, woher du Ulrike kennst. Arbeitest du auch beim Film?“ „Nein, bewahre. Ich studiere Medizin. Aber ich bin noch nicht so weit.“ Sie zögerte einen Augenblick und trank ihr Glas leer. „Und Ulrike kenne ich…“ Sie verstummte und suchte offensichtlich nach Worten. „Ach wir kennen uns einfach schon sehr lange“, sagte sie schließlich. Als hätte sie auf ihren Einsatz gewartet, näherte sich in diesem Augenblick Ulrike. Ihre Augen glänzten und sie lächelte verträumt. Na, da hat Maxi wohl wieder was Gutes getan, dachte Jule amüsiert und beobachtete, wie Ulrike den Arm um Nadja legte. „Schätzchen, wir haben dich vermisst“, sagte sie lächelnd. Dann bemühte sie sich, ein ernstes Gesicht zu machen. „Aber Frau Doktor mag ja keine Drogen, das habe ich vergessen.“ Nadja seufzte und befreite sich aus Ulrikes Umarmung. „So ist es, ich mag das nicht. Und ich mag es noch weniger, wenn ihr eure Partys nicht ohne das Zeug veranstalten könnt. Ist es ohne Kokain so langweilig hier?“ Jule horchte auf. Kokain und kein Haschisch? Davon hatte Maxi ihr gar nichts erzählt? Deswegen waren die auch immer alle so überdreht. Aber in den Streit zwischen Ulrike und Nadja wollte sie sich nicht einmischen. Ulrike sah nämlich ziemlich wütend aus. Jetzt herrschte sie Nadja sogar an, dass sie ihr ja wirklich jede Party versauen wollte. „Das habe ich nicht verdient“, rief sie hysterisch und in ihren Augen schimmerten plötzlich Tränen. Na, die reagiert aber ein bisschen über, dachte Jule. Was Nadja gemacht hatte, war doch nicht so schlimm. Außerdem sah Ulrike in ihrer Hysterie voll lächerlich aus. Einige Leute hatten sich nun um sie herum versammelt und schauten neugierig zu den beiden Streitenden. Jule beobachtete Nadja. Was würde sie jetzt tun?
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„Ich werde gehen, dann versaue ich garantiert keine Party“, kündigte sie schließlich entschlossen an. Sie stellte ihr Bierglas ab und holte ihre Jacke aus einem anderen Zimmer. Bevor sie die Wohnung verließ, kam sie noch mal in die Küche. Sie ging zu Jule und gab ihr einen Kuss auf den Mund. „Wenn es das Schicksal gut mit uns meint, sehen wir uns wieder. Da bin ich sicher!“ Sie zwinkerte ihr fröhlich zu und verließ mit energischen Schritten die Wohnung. Jule schaute ihr verdutzt hinterher. Das nenne ich einen Abgang, dachte sie nicht ohne Bewunderung. Wie Nadja sich gegen Ulrikes Vorwürfe gewehrt hatte, alle Achtung. Jule fand es konsequent, dass sie gegangen war. Trotzdem schade! Das hätte ein netter Flirt werden können. Sie holte sich ein weiteres Bier und ging in den hinteren Raum, in dem die Möbel beiseite gestellt waren. Einige Leute hatten angefangen zu tanzen. Doch sie musste die ganze Zeit an diese Nadja denken. Wenn es das Schicksal will, hämmerte es in ihrem Kopf. Was für ein Schicksal? Wie sollten sie sich denn wieder sehen? Berlin war eine Millionenstadt! Auf einer Party vielleicht? Jule beschloss, in nächster Zeit kein einziges Fest auszulassen. Doch zu ihrem großen Bedauern fand in ihrem Bekanntenkreis derzeit nichts statt. Noch nicht einmal Maxi, die immer irgendeine coole Session wusste, hatte etwas anzubieten. Absolut tote Hose, hatte sie Jule versichert. Blieben nur die Cafés. Doch sooft sie auch nach der Schule dort auftauchte und den Kaffee literweise in sich reinschüttete, von Nadja gab es keine Spur. Schlag sie dir aus dem Kopf, sagte Jule sich immer wieder. Vergiss sie! Mehr als sonst konzentrierte sie sich auf die Schule und half sogar ihrer Mutter im Haus. Doch immer wieder sah sie Nadjas Gesicht vor sich. Ihr Lächeln und ihren tiefen durchdringenden Blick. Diese Begegnung ließ sich nicht so einfach ausradieren und vergessen.
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„Vielleicht sollte ich ein bisschen in die Stadt gehen“, überlegte Jule laut. Es war Samstagmorgen und sie saß mit ihren Eltern in der Küche beim Frühstück. „Tu das“, entgegnete ihr Vater gut gelaunt und schmierte sich ein Brötchen mit Marmelade. Als er fertig war, zwinkerte er seiner Tochter verschwörerisch zu. „Aber auf Mama musst du verzichten, die ist schon mir verpflichtet.“ „Wie könnte ich das vergessen?“ Jule lachte und griff sich auch eines von den Brötchen. Ihre Eltern wollten gleich nach dem Frühstück los nach Hamburg. Ihr Vater hatte zwei Karten für „Cats“ besorgt und wollte seine Frau damit zum Geburtstag überraschen. „Ich weiß zwar immer noch nicht, worum es geht, aber ich bin zu allen Schandtaten bereit“, warf ihre Mutter mit gespieltem Trotz ein. Sie strich die Brotkrumen neben ihrem Teller zusammen und unterbrach ihre Bewegung erst, als ihr Mann liebevoll seine Hand auf ihrem Arm legte. „Lass dich überraschen. Das war abgemacht!“ Dann küssten sich ihre Eltern. Jule biss in ihr Brötchen. Manchmal fand sie es rührend wie die beiden miteinander umgingen. Normal war das nicht, allein in ihrem Bekanntenkreis waren mindestens 50% der Eltern geschieden. Ob sie selbst jemals so eine feste Beziehung haben würde? Eine, wo sie sich so richtig wohl fühlen würde? Nicht mehr diese ewigen Kurztrips mit irgendwelchen Mädchen, die sie nicht wirklich gerne hatte? Sie musste wieder an Nadja denken. Eine Freundschaft mit so jemanden wie Nadja wäre sicher was anderes. Mit abwesendem träumerischen Blick schaute sie auf ihr halb angeknabbertes Brötchen. „Du hast ja noch gar nicht aufgegessen“, unterbrach ihre Mutter die kleinen Tagträumereien. „Willst du noch einen Kaffee?“
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„Nein danke, Mama. Ich habe keinen Hunger!“ Energisch stand sie auf. Sie musste endlich aufhören, an Nadja zu denken. „Ich gehe jetzt in die Stadt. Ich wollte sowieso noch ein neues Sommerkleid haben.“ Sie drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. „Ich wünsche euch ein wunderschönes Wochenende“, sagte sie und verschwand in ihr Zimmer. Sie gab sich besonders viel Mühe beim Anziehen. Wenn einem alles trist erscheint, sollte man sich selbst wenigstens bunt anziehen, sodass man sich gerne im Spiegel betrachtet. Sie zog eine leichte gelbe Sommerhose an. Sie war weit und ein ganz kleines bisschen durchsichtig. Dazu ein bauchfreies hellblaues T-Shirt und ein paar offene Sandalen, die immer praktisch waren, wenn man vorhatte, sich mehrmals am Tag in diverse Umkleidekabinen zu zwängen. Jule betrachtete sich mit einem kritischen Blick. Das Outfit war okay, stellte sie fest. Jetzt noch ein bisschen Lippenstift und die Haare nach oben binden. Fertig! Als sie einen letzten Blick in den Spiegel warf, sah sie in Gedanken wieder das Gesicht von Nadja vor sich. Verdammt, flüsterte sie und schaute beschwörend in den Spiegel. Ich werde jetzt einkaufen gehen und mich amüsieren. Doch bei ihrem Anblick musste sie lachen. Wenn sie so verkniffen losziehen würde, konnte das ja ne spaßige Angelegenheit werden. Das werden wir doch mal sehen, Jule Neumann, oh wir uns so schnell aus der Fassung bringen lassen, sagte sie kämpferisch zu sich selbst und verließ ihr Zimmer. Sie rief ihren Eltern ein kurzes Tschüss zu und stürmte die Treppen runter.
Innerhalb einer Stunde auf dem Kuhdamm erwarb sie tatsächlich zwei T-Shirts und eine Shorts für den Sommer. Zufrieden schwenkte sie die Einkaufstüten in der Hand. Ihre Laune wurde merklich besser. Jetzt würde sie noch in ihrer
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Lieblingsboutique „Susi’s Lädchen“ vorbeischauen, die zwar etwas teurer war, die Kleider dafür aber umso besser. Ausgefallene Schnitte und tolle Farben. Außerdem hatte ihr Vater ihr versprochen, dass sie sich ein neues Sommerkleid auf seine Kosten leisten durfte. Sie betrat den kleinen Laden in einer ruhigen Seitenstraße und sah sich um. Die Verkäuferin half ihr bei der Auswahl und Jule verschwand in der Umkleidekabine. Als Erstes probierte sie ein rotes Minikleid an. Es war aus einem angenehmen Baumwollstoff und ganz einfach geschnitten. Für Borten, Schnörkeleien oder verspielte Ausschnitte hatte Jule nichts übrig. Sie hörte, wie draußen die Türglocke ging. Eine leise Frauenstimme begrüßte die Besitzerin. Jule zögerte, sie mochte es nicht, wenn andere Leute sie beim Anprobieren beobachteten, andererseits wollte sie gerne das Urteil der Verkäuferin hören, und in dieser engen Kabine konnte man sich nun wirklich nicht drehen und wenden. Sie verließ die Kabine und betrachtete sich im Spiegel. „Steht dir wirklich sehr, sehr gut!“, raunte eine Stimme neben ihr. Sie drehte sich um. Das war doch… Jule traute ihren Augen nicht. Vor ihr stand Nadja und lächelte sie amüsiert an. „Siehst du, ich behalte doch meistens Recht: Wenn das Schicksal es will.“
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Jule saß Nadja in einem überfüllten Café gegenüber, das in die Gewölbe unter der S-Bahn eingelassen war. Neben ihr stand die Tasche mit dem roten Kleid. Nadja hatte sie überredet es zu nehmen. Immer wenn du es anhast, denkst du an unser Wiedersehen. Das klang beinahe romantisch, fand Jule. Anschließend hatten sie auf Nadjas Vorschlag hin das Café angesteuert. Es lag nur ein paar Meter von der Boutique entfernt. Sie hatten nicht viel geredet auf dem Weg, nur ab und zu ein verstohlenes Lächeln ausgetauscht. In dem Café war es laut und stickig, die Menschen saßen und standen dichtgedrängt, überall wurde geredet, Handys klingelten und direkt über ihnen dröhnte das Rattern der S-Bahn. Doch Jule und Nadja schienen das alles gar nicht wahrzunehmen. Sie saßen schweigend an dem dunklen Holztisch und tauschten nur hin und wieder einen vielsagenden Blick aus. Nadja hatte ihr dichtes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden und war nur ganz leicht geschminkt. Sie trug ein eng anliegendes blaues Trägerkleid. Der Schnitt war einfach, doch an ihr sah es edel aus, fand Jule. Sie atmete tief durch. Diese Nadja machte sie ganz schön nervös, so viel stand fest. Jule griff nach ihren Zigaretten. Wo hatte sie nur wieder das Feuerzeug? Sie stand auf und suchte in den Hosentaschen. Als sie es gefunden hatte, setzte sie sich und schaute zu Nadja. Die beobachtete sie mit einem bewundernden Blick. Jule schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Wenigstens hatte sie sich ausgerechnet heute ein bisschen Mühe beim Anziehen gegeben! Fahrig steckte sich eine Zigarette an und schaute wieder zu Nadja. Ihre Blicke trafen sich. Jule wurde ganz 129
warm bei diesem Blick. Sie zog heftig an ihrer Zigarette und blies den Qualm in Nadjas Richtung. Nadja fächerte mit einer leichten Handbewegung den Qualm weg. Wie eine Dame, fuhr es Jule durch den Kopf. Nadja sah sie unverwandt an, lächelte mit den Augen. Ihre Blicke gingen Jule durch und durch. Sie war wie elektrisiert. Nadja wirkte sanft, liebevoll und gleichzeitig voller Leidenschaft. Jetzt beugte sie sich zu Jule herüber. „Bist du öfter hier in der Gegend?“, fragte sie und versuchte den Lärm um sie herum zu übertönen. „Ich gehe eher nach Kreuzberg“, entgegnete Jule ebenfalls mit lauter Stimme. Sie schauten sich an und mussten beide lachen. Viel lieber hätten sie sanft und leise miteinander gesprochen, anstatt so zu brüllen. Diese Frau ist der Hammer, stellte Jule für sich fest. Selbstbewusst, elegant, hübsch und erotisch. In ihrer Nähe fühlte Jule dieses aufregende Kribbeln eines neuen unausgesprochenen Abenteuers und hatte gleichzeitig das Gefühl, Nadja schon ewig zu kennen. Wenn sie nur an einem Ort wären, der nicht ganz so laut und überfüllt wäre! In dem Moment, als hätte Nadja Jules Gedanken gelesen, rief sie lachend: „Nicht gerade romantisch für ein erstes Date!“ Jules Herz machte einen Sprung. Für ein erstes Date. Aber genau das war es. Indirekt, nicht geplant, aber mit Herzflattern und vielsagenden Blicken. Wieder schauten sie sich nur an, tranken ab und zu an ihrem Milchkaffee, wischten sich den Milchschaum vom Mund, lächelten, Nadja hob eine Augenbraue, ihr Blick wurde fragend, fordernd. Jule atmete tief durch. Sie winkte die Bedienung heran, um zu bezahlen. Dann stand sie kurz entschlossen auf und ging zu Nadja. „Gehen wir zu dir“, sagte sie, als die Kellnerin wieder fort war. Im gleichen Moment biss sie sich auf die Lippen. Was war nur in sie gefahren? So forsch war sie doch sonst nie. Und dann auch noch in einem Hetero-Café. Sie schaute sich um und
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blickte genau in die Augen eines amüsiert lächelnden Mannes am Nebentisch Er taxierte Nadja und schaute dann Jule an, als wolle er sagen: Gute Wahl. „Ja, gehen wir zu mir!“, antwortete Nadja in dem Moment und erhob sich. Jule riss die Augen auf. Sie musste über ihre eigene Courage lachen. Plötzlich erschien alles so einfach, problemlos. Sie wollte Nadja und Nadja wollte sie. Warum sollte man unnötige Worte verlieren, sich mit Nervosität das erste Rendezvous versauen? Sie fuhren mit der S-Bahn bis zur Friedrichstraße am ehemaligen Tränenpalast. Den nannte man so, weil es die letzte Station vor dem Übergang von Ost- nach Westdeutschland war. Aber Jule und Nadja war nicht nach Heulen zumute. Glücklich gingen sie durch eines der nach der Wende teuer restaurierten Viertel in Berlin, die Hackeschen Höfe. An einem der Häuser blieben sie stehen. Nadja schloss die Tür auf und wies Jule den Weg nach oben. Beim Gehen rutschte ihr Kleid bis kurz unter den Po, ihr Gang war schwungvoll, die Hüften bewegten sich gekonnt hin und her. Jule schluckte. Sie spürte ihren Magen, der Kapriolen schlug. Im vierten Stock blieb Nadja stehen und zog ihren Schlüssel aus der Tasche. Sie schloss auf. Jule ging hinter ihr herein und lehnte sich von innen gegen die Türe, sodass sie zufiel. Nadja machte einen Schritt auf sie zu. Vorsichtig löste sie Jules Haarklammern, ihre Berührung ließ Jule erschauern. „Du bist sehr schön“, flüsterte Nadja und fuhr ihr mit der Hand durch die langen Haare. „Deine Augen blicken so klar und leidenschaftlich und deine Haut wirkt so unendlich weich. Man kann gar nicht anders als sie zu berühren.“ Jule lächelte und schloss die Augen. Nadjas Hände waren sanft, sie glitten an Jules Hals hinunter und berührten ihre Brüste vorsichtig. Jule erwiderte die Zärtlichkeiten. Erst ganz leicht, dann immer
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fordernder. Sie spürte, wie sie sich nach Nadja sehnte. Jule öffnete die Augen ganz leicht und blinzelte Nadja an. „Ich will dich!“, flüsterte sie und fing an, Nadjas Kleid auszuziehen. „Ich wollte dich schon seit unserer ersten Begegnung“, entgegnete Nadja zärtlich und ohne mit ihren Küssen und Berührungen aufzuhören, zog sie Jule hinter sich her ins Schlafzimmer. Dort ließen sie sich aufgewühlt in die Kissen sinken.
„Es war schön!“, murmelte Jule und kuschelte sich neben Nadja in die Decke. Das Bettzeug war aus Seide und ein gedämpftes Licht erfüllte den Raum. „Es war wunderbar!“ Nadja seufzte und streichelte Jules Rücken ganz sanft. Jule schloss die Augen und genoss ihre Berührungen. „Aber eins verstehe ich nicht“, murmelte sie zwischendurch. „Wenn du mich vom ersten Tag an gewollt hast, warum bist du auf der Party weggegangen? Warum bist du nicht dageblieben, oder hast mir wenigstens deine Telefonnummer dagelassen?“ Nadja hielt in ihren Bewegungen inne und setzte sich auf. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. „Ich hatte Angst! Ich wollte dich und ich hatte gleichzeitig Angst, mich wieder zu verlieben. Reicht das als Erklärung?“ Nadja schaute Jule verunsichert an. In ihrem Blick konnte man lesen, dass sie nicht mehr sagen wollte. Jule nickte. Sie musste an Simone denken, und daran, dass sie sich nach der Trennung geschworen hatte, sich nicht mehr zu verlieben. „Ich verstehe es sehr gut“, sagte sie leise, aber mit fester Stimme. Dann legte sie ihren Kopf in Nadjas Schoß. „Glaubst du, es gibt Menschen, die füreinander bestimmt sind?“, fragte sie und drehte sich auf den Rücken, sodass sie Nadja ansehen konnte. „Ja, das glaube ich“, antwortete Nadja voller Überzeugung. „Und ich glaube auch, dass wir uns heute in dieser Boutique
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einfach treffen mussten!“ Jule nickte und überlegte, ob sie sagen sollte, was sie fühlte. Das hatte sie noch nie getan, zumindest nicht so schnell. Aber bei Nadja war das anders. Zu ihr hatte sie Vertrauen. Sie hatte keine Angst, zu viel oder zu wenig zu sagen, das Richtige oder das Falsche zu tun. Sie fühlte sich frei und ungezwungen. „Es ist anders als alles, was ich bisher erlebt habe.“ Nadja nahm sie in den Arm und flüsterte „Geht mir genauso!“ Sie blieben noch eine ganze Weile eng aneinander gekuschelt im Bett liegen, doch irgendwann verspürte Jule einen Bärenhunger. Sie stand auf und zog sich einen Bademantel von Nadja an. „Gibt es hier auch so etwas wie eine Küche?“, fragte sie, während sie den Gürtel festknotete. „Hier kann man sich eigentlich nicht verlaufen“, kam es von Nadja zurück. „Gibt nur noch ein weiteres Zimmer mit offenen Küche!“ Jule verließ neugierig das Schlafzimmer. Offene Küche, na das hörte sich ja vielversprechend an. Als Jule das Wohnzimmer betrat, traute sie ihren Augen nicht. Es war groß und mit riesigen Fenstern, die viel Licht in die Wohnung ließen. Sie ging in die Mitte des Raumes und schaute sich um. Im hinteren Teil stand ein helles Ledersofa, ein hypermoderner Fernseher und eine Stereoanlage, die teurer gewesen sein musste als die von ihren Eltern. Links neben der Türe stand ein runder Esstisch mit vier Stühlen und rechts gab es tatsächlich eine offene Küche. Alles aus Edelstahl mit einer Theke in den Raum hinein. Wie in amerikanischen Filmen, dachte Jule bewundernd. Sie ließ sich auf das Sofa fallen. Das alles hier musste doch ein Vermögen gekostet haben. Was hatte Nadja gesagt? Sie studierte? Seit wann verdienten Studenten soviel Geld? Sie stand auf und durchforstete den Kühlschrank. Ein halbes gebratenes Hühnchen war noch da, ein paar Tomaten und Mozzarella und sogar eine Packung Lachs. Mit
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Meerrettichsoße musste das doch gehen. Jule zauberte alle möglichen Dinge hervor und stellte sie liebevoll auf einem Tablett zusammen. Ganz oben im Kühlschrank hatte sie auch eine Flasche Champagner entdeckt! Übermütig stellte sie die dazu. „Ihr Essen, Madame!“, kündigte sie hoheitsvoll an, als sie mit dem vollen Tablett in der Hand wieder zurück in das Schlafzimmer kam. Nadjas Kopf lugte unter der zerwühlten Bettdecke hervor. „Stellen Sie es doch bitte hier auf das Bett“, forderte sie Jule im gleichen gespielten Tonfall auf. „Ach und: Legen Sie sich doch bitte gleich dazu!“ Nadja schlug die Decke zurück und machte Jule Platz. Gemeinsam fielen sie über die Leckereien her. „Darf ich den Champagner aufmachen?“, bat Jule nach einer Weile. „Ich habe noch nie Champagner getrunken.“ Nadja nickte und setzte sich auf, um die Gläser zu halten. „Jule, du musst nicht fragen, bediene dich einfach. Was hier in der Wohnung ist, darfst du benutzen, klar?“ Jule nickte zustimmend und ließ den Korken knallen. In Windeseile sprudelte das schaumige Getränk aus der Flasche. Nadja hielt lachend die Gläser unter die Öffnung. Doch ein Teil war schon auf dem Bett und Jule verteilt. Kichernd prosteten sie sich zu. „Wieso hast du eigentlich so feine Sachen im Kühlschrank?“, wollte Jule wissen, als sie gerade genüsslich ein Lachsbrötchen verdrückte. „Ich meine, Champagner ist nicht gerade das Standardgetränk von jungen Studentinnen, oder?“ „Den Champagner habe ich zum Geburtstag bekommen. Vor vier Wochen. Ich hatte noch keine Gelegenheit ihn zu trinken.“ Sie nahm lachend einen kräftigen Schluck und gab Jule einen Kuss. „Jedenfalls keine so schöne Gelegenheit.“ Jule nahm ebenfalls ihr Glas und schenkte sich noch einmal nach. „Na, dann wünsche ich Dir nachträglich noch alles Liebe zum Geburtstag“, flüsterte sie Nadja zärtlich ins Ohr. Jule ließ ihren
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Blick durch das spärlich, aber teuer eingerichtete Schlafzimmer gleiten. Eine Schrankkombination aus hellem Holz, ein antiker Spiegel an der Wand, ein Schminktisch und ein enorm großes Bett. Darüber hing ein Gemälde. „Ist das echt?“, erkundigte sich Jule und betrachtete den fein gezeichneten Frauenakt. Ein bisschen anzüglich vielleicht, ungewöhnlich, aber irgendwie mochte Jule das Bild. „Der Maler heißt Egon Schiele. Mein Vater hat es mir zu meinem achtzehnten Geburtstag im letzten Jahr geschenkt.“ Nadja trank einen Schluck Champagner und steckte sich nervös ein Stück Hühnchen in dem Mund. Offensichtlich war ihr das Thema unangenehm. Aber Jule ließ nicht locker. „Kann es sein, dass dein Vater dir auch bei der Wohnungseinrichtung unter die Arme gegriffen hat?“, fragte sie kess. Nadja schaute sie an. Sie schwieg einen Augenblick. „Na gut, du wirst ja sowieso nicht nachgeben: Mein Vater ist Arzt, ziemlich erfolgreich. Ich bin sein einziges Kind und er unterstützt mich, wo er nur kann.“ Sie machte eine Pause und zog ihre Stirn in Falten. „Warum sollte ich seine Hilfe nicht annehmen? Andere wünschen sich so finanzkräftige Eltern. Ich habe sie. Punkt.“ Nadja zog trotzig die Lippen zusammen und schaute Jule herausfordernd an. „Du brauchst dich nicht zu verteidigen“, gab Jule erstaunt zurück. „Ich habe dich nicht angegriffen, nur gefragt!“ Sie trank genüsslich einen Schluck Champagner. Ihre Eltern waren nicht arm, aber sie schwammen auch nicht im Geld. Jule hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht, ob sie ihr ein Studium bezahlen würden, geschweige denn, ob sie überhaupt ein Studium machen wollte. Ihr hing die Schule ja jetzt schon oft genug zum Hals raus. Sie schaute sich um. Aber selbst wenn ihre Eltern sie studieren lassen würden, so eine Hütte wie diese würde da garantiert nicht rausspringen.
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„Haben deine Eltern ein Haus?“, fragte Jule und sie konnte nicht verhindern, dass sie ein bisschen eifersüchtig klang. Als Nadja bejahte, legte Jule sich zurück und schloss die Augen. War schon eine tolle Vorstellung: Ein Haus, ein Garten, womöglich ein Swimmingpool, jede Menge toller Klamotten und wenn man es dann brauchte, eine eigene Wohnung. Jule öffnete die Augen und versuchte die Gedanken zu verdrängen. So ein Quatsch. Sie hatte Eltern, die zu ihr standen, das war immerhin ne Menge mehr als viele andere Menschen hatten. Lachend zog sie Nadja zu sich herunter. „Na, da habe ich ja eine richtig gute Partie gemacht“, witzelte sie und jauchzte laut, als Nadja sie zur Strafe anfing zu kitzeln.
Die nächsten Wochen waren wie ein einziger Traum für Jule! Sie verbrachte fast jede freie Minute mit Nadja. Sobald sie mit der Schule fertig war, fuhr sie in das tolle Viertel, in dem Nadja wohnte. Sie fühlte sich immer noch ein bisschen fremd hier, wenn sie alleine durch die Straßen zog, oder in ein Bistro ging, um auf Nadja zu warten. Wenn sie endlich kam, gingen sie oft stundenlang spazieren oder fuhren mit Nadjas Auto durch Berlin. Manchmal verbrachten sie aber auch ganze Tage im Bett. Allerdings gab es auch Zeiten, wo Nadja das Wochenende am Schreibtisch verbrachte und für ihre Prüfungen an der Uni lernte. Dann machte es sich Jule meist vor dem Fernseher gemütlich und kümmerte sich liebevoll um das Wohlergehen ihrer Freundin. Ihre eigenen schulischen Leistungen ließen allerdings merklich nach, seitdem sie mit Nadja zusammen war. Das Lernen war ja mehr eine Therapiemaßnahme gegen die Einsamkeit gewesen, als dass Jule wirklich Interesse daran gehabt hätte. An einem Samstag sprach ihre Mutter sie darauf an. Jule hatte gerade ihre Tasche gepackt, um das Wochenende wie
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immer bei Nadja zu verbringen. Ingrid Neumann klopfte und bat Jule, zu einer Unterredung ins Wohnzimmer zu kommen. „Ich weiß, dass du dir ungern in deine Schulangelegenheiten reinreden lässt, aber ich weiß auch, dass du noch zwei wichtige Klausuren zum Schuljahres ende vor dir hast.“ Sie machte ein ernstes Gesicht und setzte sich auf das Sofa. „Ich bin wirklich froh, dass du endlich über die Trennung mit Simone hinweg bist und jemand Neues kennen gelernt hast, aber du solltest nicht deswegen dein Abitur verderben, du weißt doch, dass jede Note zählt!“ Jule verdrehte genervt die Augen und ließ sich in den alten Ledersessel plumpsen. „Ach Mama, ich regle das schon!“, versprach sie. „Außerdem schreiben wir nur noch eine einzige Klausur, die schaffe ich jetzt auch noch!“ Sie lehnte sich zurück. Auf eine Auseinandersetzung mit ihrer Mutter hatte sie echt keinen Bock. Also durfte sie möglichst die Suppe nicht hochkochen lassen. „Meine Noten sind außerdem viel besser geworden“, fügte sie eifrig hinzu. „Ich weiß“, entgegnete Ingrid Neumann. „Aber gerade deswegen! Und diese eine Klausur ist, soweit ich weiß, in Deutsch, also einem Hauptfach?“ Sie betrachtete ihre Tochter eingehend. Jule war ein verdammt hübsches Mädchen geworden und Ingrid Neumann hatte immer noch Schwierigkeiten zu verstehen, dass sie sich so gar nicht für Männer interessierte. Aber sie hatte die Entscheidung ihrer Tochter respektiert. Außerdem wurde sie in wenigen Wochen achtzehn, dann würde sie vielleicht sowieso noch mehr nach ihren eigenen Vorstellungen handeln. Besser also, Ingrid Neumann akzeptierte Jules Entscheidungen schon jetzt. Nur mit den schulischen Leistungen, da wollte sie nicht locker lassen. Jule wusste ja noch nicht, wie wichtig ein einigermaßen gutes Abitur sein konnte.
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„Geh jetzt zu deiner Nadja“, sagte sie schließlich. Sie hatte gesagt, was sie sagen wollte. Das musste fürs Erste reichen. „Ich wollte einfach nur, dass du noch mal drüber nachdenkst, okay?“ Jule nickte und verließ das Wohnzimmer mit einem kurzen Ich bin Sonntagabend wieder hier. Ingrid Neumann nickte versonnen und erinnerte sich an die Zeit, als sie Jule zu sich genommen hatten. Und jetzt hatten sie es geschafft. Jule war aufgewachsen wie ein ganz normales Kind, ohne Zweifel an ihren Eltern und ohne dem schrecklichen Gefühl, als Baby von ihrer leiblichen Mutter abgelehnt worden zu sein. Sie hatte alle Höhen und Tiefen mit Jule durchgestanden, ihre Verzweiflung, als sie wieder mehr gearbeitet hatte, Jules erste Freundschaften, die Sorgen im Urlaub, als Jule ihre ersten Schritte in die Unabhängigkeit machte und als sie später ihre Neigung für Frauen erkannte. Immer hatten sie über alles sprechen können. Doch jetzt stand ihr das schwerste Gespräch bevor, dass sie jemals mit Jule führen musste: Wenn sie achtzehn war, wollte sie ihr endlich die Wahrheit über ihre Herkunft erzählen. Das hatten sie und ihr Mann sich vor vielen Jahren geschworen. Sie wollten nicht, dass Jule mit einer Lüge leben musste. Als sie noch ein Kind war, sollte diese Lüge Jule schützen, aber als Erwachsene hatte sie ein Recht auf die Wahrheit. Überdies hatten Ingrid Neumann und ihr Mann lange genug in der Angst gelebt, dass Jule einmal durch Zufall die Wahrheit herausbekommen würde. Das musste sie als einen Vertrauensbruch empfinden, den man nie wieder gutmachen könnte. Besser also, sie erzählten es ihr endlich. Dennoch hatten sie beide Angst, Jule dadurch zu verlieren. „Mama! Ich bin weg“, unterbrach Jule in dem Moment ihre Gedanken. Sie riss die Wohnzimmertüre auf und stürmte auf ihre Mutter zu. „Sag mal, kann ich nicht auch erst am Montag kommen? Ich gehe von Nadja aus in die Schule!“
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„Meinetwegen“, willigte Ingrid Neumann ein. „Aber denk bitte daran, was ich dir gesagt habe!“ Jule versprach es. Sie würde mit Nadja lernen, die musste ja eh oft über den Büchern sitzen. „Bring Nadja doch mal mit“, rief Ingrid Neumann ihrer Tochter hinterher, als sie schon fast durch die Tür war. „Versprochen!“, tönte es zurück, dann war Ingrid Neumann wieder alleine. Nun ja, sie musste noch überlegen, wie sie dieses Gespräch am besten anfangen würde, doch sie hoffte inständig, dass Jule mit achtzehn Jahren gefestigt genug war, um mit der Wahrheit umgehen zu können. Auch Jule machte sich Gedanken über ihren Geburtstag. Sie hatte sich nämlich fest vorgenommen, ein riesiges Fest zu feiern. Sie wollte alle einladen, die ihr in den letzten Jahren wichtig waren und ihre heutigen Freunde. Die Clique samt dem aktuellen Anhang, Stan und die anderen Jungs von den „Simple Men“, die sie durch Tina und Piet hin und wieder gesehen hatte. Und die ganz neuen Freunde wie zum Beispiel Maxi und natürlich Nadja. „Irgendwie schon eine wilde Mischung“, sagte sie zu Nadja, als sie ihr an diesem Nachmittag von ihren Plänen erzählte. Die Sonne schien und sie saßen in einem der vielen Berliner Straßencafés. „Aber ich werde schließlich nur einmal achtzehn. Die müssen halt sehen, ob und wie sie miteinander klar kommen.“ Jule nahm ihren Eiskaffee und schob sich einen Löffel Sahne in den Mund. „Das Doofe ist nur, dass ich die Party mitten in den Sommerferien machen muss, da sind sowieso immer viele in Urlaub“, fuhr sie mit ihren Überlegungen fort. Sie holte ihren Kalender aus der Tasche und rechnete es noch einmal genau nach. „Es stimmt, in der zweiten Woche. Das bedeutet, diejenigen, die in den ersten drei Wochen fahren, fallen weg, diejenigen, die am Schluss der Ferien fahren, die können kommen.“
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„Und die, die gar nicht in Ferien fahren?“, warf Nadja ein und setzte ein unglückliches Gesicht auf. „So wie Studenten, die für Zwischenprüfungen pauken müssen?“ Doch Jule ließ sich nicht ärgern. „Die müssen bei der Vorbereitung und beim Aufräumen helfen“, frotzelte sie. Nadja verdrehte die Augen und gab sich geschlagen. Jule klappte ihren Kalender zu. „Das bedeutet, ich werde die Einladungen bald rausschicken, damit alle sie bekommen, bevor die Schule zu Ende ist.“ „Apropos Schule, weißt du, was mich wundert?“, meinte Nadja. „Du hast doch mit denen aus der Schule kaum noch was zu tun?“ „Stimmt und stimmt nicht! In der Freizeit muss ich mich ja immer um dich kümmern“, erklärte Jule neckend und bekam zur Strafe einen Bierdeckel ins Gesicht geworfen. „Aber in der Schule, im Unterricht und in den Pausen, da quatsche ich schon öfter mit Nino und den anderen. Inzwischen hat Tina ja auch ihre Angst überwunden, dass ich sie verführen und flachlegen könnte!“ Jule prustete bei dem Gedanken los und Nadja fiel in ihr Lachen ein. Als sie sich wieder beruhigt hatten, bezahlten sie und machten sich auf den Heimweg. Nadja legte ihren Arm um Jule. „Bleiben wir heute zu Hause? Ich habe keine Lust auf Kneipe, auf laute Musik und tausend Leute um mich herum. Außerdem müsste ich auch noch zwei Stunden an meine Bücher.“ Sie schaute Jule misstrauisch an und wartete offensichtlich darauf mit dem üblichen Streberin abgekanzelt zu werden. Doch Jule stimmte ohne Widerspruch zu. „Ein gemütlicher Abend zu Hause ist okay. Wir haben doch auch noch die Kassette von ,Pulp Fiction’, du hast den Film immer noch nicht gesehen und der ist echt Kult.“ Nadja war einverstanden. Jule lächelte zufrieden, dann fügte sie kleinlaut hinzu: „Und wenn du unbedingt lernen musst, kann ich ja auch noch mal kurz in meine Texte gucken.“ Sie schwieg einen
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Augenblick. Doch als sie Nadjas verwunderten Blick bemerkte, machte sie sich aus der Umarmung los und blieb stehen. „Was soll ich denn sonst die ganze Zeit machen, wenn du am Schreibtisch hockst?“, fragte sie mit gespielter Empörung. „Und außerdem“, fügte sie kleinlaut hinzu, „schreibe ich nächste Woche eine Klausur über das Stück ,Der kaukasische Kreidekreis’ von Bertolt Brecht. Irgendwas von zwei Müttern, die sich um ein Baby streiten. Da sollen sie beide an dem Baby ziehen und wer es aus dem Kreis zieht, ist angeblich Sieger. Oder so ähnlich!“ Jule seufzte genervt, doch Nadja nickte eifrig. „Klar, den kenne ich. Die echte Mutter erkennen sie hinterher daran, dass sie nicht an dem Baby ziehen will. Aber die Unechte, die hätte gezogen, nur um das Kind zu behalten, egal wie weh sie ihm damit tut! Schrecklich! Du hast zwei Mütter und niemand weiß, wer die echte ist.“ Nadja verzog das Gesicht bei der Vorstellung, doch Jule zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Mich interessiert eigentlich nur die Tatsache, dass ich die Klausur nicht verhauen darf. Die beiden Mütter sind dabei eher Mittel zum Zweck.“ Nadja lachte kopfschüttelnd. „Du bist grausam“, neckte sie Jule. „Das Schicksal des Kindes ist dir also egal.“ Jule verdrehte die Augen und nahm Nadja an der Hand. „Komm schon! Wir kaufen uns noch eine riesige Pizza und dann läuten wir den Heim-Abend ein.“
Die letzten Wochen bis zu den Ferien vergingen wie im Flug. Nachdem die letzte Klausur geschrieben war, gab es nicht mehr so viel Arbeit und eigentlich hockten alle nur noch ihre Zeit ab und warteten auf die Sommerferien. Jule hatte ihre Geburtstags-Einladungen schon verteilt und erstaunlich viele Zusagen bekommen. Kaum jemand schien am Anfang der Ferien unterwegs zu sein. Da würde Jule eine Menge Arbeit
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mit den Vorbereitungen bekommen. Aber sie freute sich höllisch darauf, endlich achtzehn zu werden und das ganze mit Freunden zu begießen.
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„Happy birthday to you, happy birthday to you, happy birthday liebe Jule, happy birthday to you!“, sang Nadja aus vollstem Herzen und schritt mit einer Geburtstagstorte in der Hand feierlich auf Jule zu. Achtzehn Kerzen leuchteten auf dem selbst gebackenen Schokoladenkuchen. Es war Mitternacht und Nadja hatte das Licht im Wohnzimmer heruntergedreht, sodass alles noch feierlicher wirkte. Jule hockte mit leuchtenden Augen auf dem Sofa und beobachtete, wie sie die Torte in der Mitte des Tisches platzierte. Daneben stand schon eine Flasche Champagner bereit. Nadja nahm sie feierlich in die Hand und ließ den Korken knallen. „Ich glaube, es ist dein Lieblingsgetränk“, erklärte sie mit einem leichten Grinsen und füllte die Gläser. Jule musste lachen. „Da trinke ich niemals dieses teure Getränk und jetzt gleich zweimal hintereinander!“ Sie stand auf und nahm Nadja ein Glas aus der Hand. „Danke“, sagte sie gerührt. „Danke für alles!“ Sie prostete Nadja zu und unterstrich das Gesagte mit einem langen Kuss. „Aber du hast doch noch gar nicht das Geschenk aufgemacht“, wehrte Nadja den vorzeitigen Dank ab. „Das ist doch die Hauptsache!“ Doch Jule legte ihr sanft den Finger auf die Lippen. „Die Hauptsache bist du, die Hauptsache ist, dass wir uns gefunden haben!“ Sie legte ihre Arme um Nadja und schau te ihr lange und tief in die Augen. Keine von beiden sagte ein Wort. Aber jede wusste, was die andere dachte. Es war schön, dass sie sich getroffen hatten. Nach einer Weile löste sich Nadja aus Jules Umarmung.
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„Ich habe noch nie jemanden wie dich kennen gelernt“, flüsterte sie. „Du bist einfach alles in einer Person, steckst voller Gegensätze: Manchmal bist du so wild und impulsiv, dass ich gar nicht recht weiß, wie ich mitkommen soll, und ein anderes Mal bist du so unglaublich sanft und zärtlich…“ „Niemand ist immer nur spontan oder nur romantisch“, unterbrach Jule. Sie konnte nicht gut mit solchen Liebesbekenntnissen umgehen. Es war ihr irgendwie unangenehm. Ihr Blick wanderte etwas verlegen auf den Tisch, wo ein kleines und ein großes Päckchen lagen. „Aber wenn ich es mir so recht überlege“, lenkte sie ab und zeigte auf die Päckchen. „Dann ist so ein Geschenk doch nicht zu verachten!“ Sie setzte sich auf das Sofa und zog Nadja neben sich. „Welches soll ich zuerst aufmachen?“ Sie nahm abwechselnd das kleine und das große Päckchen in die Hand. Nadja überlegte einen Augenblick. „Das kleine!“, entschied sie dann. Jule öffnete das liebevoll eingepackte Geschenk langsam, entfernte erst das rote Bändchen und dann das gelbe Geschenkpapier. Zum Vorschein kam ein kleiner handgroßer Stoffbär. „Den kannst du immer und überall hin mitnehmen“, sagte Nadja. „Er soll dir Glück bringen und dich daran erinnern, dass ich in Gedanken immer bei dir bin!“ Jule schaute auf. Das war eine supersüße Idee von Nadja. „Du meinst es ernst, nicht wahr?“, flüsterte sie gerührt. „Ich meine, mit uns, das ist dir ernst?“ Nadja nickte nur und streichelte das Bärchen in Jules Hand. „Ja, mir ist es sehr ernst“, erklärte sie dann aufrichtig und eine Sekunde später lächelte sie verschmitzt. „Und deswegen solltest du jetzt das große Päckchen aufmachen. Jule ließ sich nicht lange bitten und machte sich an das nächste Geschenk.“
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„Der ist ja suuuuuper!“ Jule sprang auf und betrachtete den gelben flauschigen Bademantel in ihrer Hand. Das war doch genau derselbe, den sie vor einer Woche in der Boutique gesehen hatten, in der sie sich damals wieder getroffen hatten und in die sie seitdem immer wieder gerne gingen. Nadja kannte die Besitzerin von gemeinsamen Einkäufen mit ihrer Mutter. Jule streifte den Bademantel kurzerhand über ihre Klamotten, dann drehte und wendete sich in dem neuen Teil. „Und?“, fragte sie erwartungsvoll. „Steht er mir?“ „Er steht dir ganz wunderbar, allerdings habe ich eine kleine Bedingung“, warf Nadja ein und nahm Jule von hinten in den Arm. „Der Bademantel bleibt hier in der Wohnung, damit ich auch etwas von dem Geschenk habe und dich immer darin sehen kann…“ „…obwohl du ja wohl eher Interesse an dem hast, was darunter ist“, entgegnete Jule lachend und vergrub die Hände in den tiefen Taschen des Mantels. Plötzlich spürte sie ein Stück Papier zwischen den Fingern, neugierig zog sie es heraus. Es war ein Briefumschlag. Was war das denn? Noch ein Geburtstagsgruß? Sie schaute Nadja fragend an, doch die zuckte nur amüsiert die Schultern. Jule runzelte die Stirn und öffnete den Umschlag, darin lag ein Schlüssel! „Was ist das für ein Schlüssel, ist das etwa…“ „Ja, es ist der Wohnungsschlüssel“, erklärte Nadja der vollkommen verdutzten Jule. „Ich möchte, dass du einen Schlüssel hast, als Zeichen unserer Freundschaft und meines Vertrauens.“ Jule starrte Nadja fassungslos an. Sie konnte gar es nicht glauben. Sie bekam tatsächlich einen Schlüssel zu ihrer Wohnung? Das hieß, sie konnte sofort nach der Schule kommen, wenn sie wollte und hier auf Nadja warten? Konnte später aus dem Haus gehen und hinter sich abschließen, fast so als würden sie zusammenleben? Sie ging wortlos auf Nadja zu und umarmte sie. „Das ist das schönste Geschenk, was du mir
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machen konntest“, murmelte sie und überschüttete Nadja mit ihren Küssen.
Am nächsten Morgen musste sich Jule beeilen, um schnell nach Hause zu kommen. Sie hatte noch eine Menge für die Party am selben Abend vorzubereiten. Ihre Mutter würde ihr helfen und Nadja wollte nach der Uni dazustoßen. Bei dem Gedanken an Nadja griff Jule noch mal nach dem Haustürschlüssel in ihrer Jackentasche. Sie umschloss ihn fest in ihrer Hand und lächelte zufrieden. Sie war lange nicht so glücklich gewesen. Als sie zu Hause ankam, wartete ein festlich gedeckter Frühstückstisch auf sie. Auf der großen Arbeitsplatte standen schon jede Menge Schüsseln und Kuchenformen, Süßigkeiten und diverse Zutaten für leckere Salate. „Du hast schon eingekauft?“, fragte sie mit einem erstaunten Blick auf die ganzen Lebensmittel. Ihre Mutter bejahte. „Ich wusste ja nicht, ob ihr aus den Federn kommt, und da dachte ich…“ Doch Jule ließ ihre Mutter nicht ausreden. Sie flog ihr förmlich um den Hals. „Danke Mama, du bist die beste Mutter der Welt!“ Ingrid Neumann lächelte verhalten und drückte Jule fest an sich. Sie freute sich über das strahlende Gesicht ihrer Tochter, doch richtig ausgelassen konnte sie an diesem Tag nicht sein. Ständig dachte sie darüber nach, wann und wie sie dieses Gespräch über die Adoption führen könnte. Sie war sich nicht sicher, wie Jule es aufnehmen würde und konnte nur hoffen, dass sie nicht zu geschockt sein würde. Obwohl sie auch von Familien gelesen hatte, wo eine solche Enthüllung ohne weitere Probleme von sich gegangen war, – durch die lange Gewöhnung aneinander und das tiefe Vertrauen zwischen Kind und Adoptiveltern war die Wahrheit nicht ganz so schrecklich
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gewesen. Ingrid Neumann konnte nur hoffen, dass es bei Jule auch so sein würde. Sie seufzte und drückte ihre Tochter fest an sich. „Aber jetzt lass dir erst einmal zum Geburtstag gratulieren, liebe Jule! Ich wünsche mir, dass wir uns unser ganzes Leben lang immer so gut verstehen werden.“ Und dabei schaute sie über Jules Schulter bedeutungsvoll aus dem Fenster in die Weite. „Aber klar Mama, warum sollte das nicht so sein?“, entgegnete Jule lachend und ging zum Frühstückstisch, um sich ein Brötchen zuschmieren. „Wo fangen wir an?“, fragte sie nur wenige Sekunden später noch kauend. Sie trank eilig einen Kaffee und stand dann auf, um sich die Einkäufe genauer zu betrachten. „Am besten, ich mache zuerst die Salate, da muss ich ein paar Sachen abkochen und dann die kalten Platten…“ „…und ich kümmere mich um die Kuchen“, fügte ihre Mutter hinzu und beide lachten. „An die Arbeit“, rief Jule. „An die Arbeit“, wiederholte ihre Mutter. Kurze Zeit später klingelte Nadja. Jule war ein bisschen aufgeregt, weil sie nicht wusste, wie ihre Eltern auf sie reagieren würden, denn sie kannten sich noch nicht. Jule stürmte zur Haustür und empfing ihre Freundin stürmisch. „Komm rein, wir erwarten dich schon sehnlichst.“ Sie nahm Nadja bei der Hand und führte sie in die Küche, wo ihre Mutter gerade eine Kuchenform mit Butter ausstrich. „Darf ich vorstellen, Mama, das ist Nadja.“ Sie lächelte stolz. „Hallo Nadja, schön, Sie mal kennen zu lernen“, begrüßte Ingrid Neumann die Freundin ihrer Tochter und zögerte. „Irgendwie hatte ich mir Sie ganz anders vorgestellt.“ Nadja musste kichern: „Sie meinen, so mit raspelkurzen Haaren und knabenhafter Figur?“ Jules Mutter fiel in ihr Lachen ein und gab ihr die Hand: „Herzlich willkommen im Hause Neumann. Fühlen Sie sich wie zu Hause.“
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„Vielen Dank“, entgegnete Nadja. „Aber das mit dem ,Sie, das lassen sie ruhig mal. Ich bin die Nadja.“ „Antrag angenommen“, erwiderte Frau Neumann amüsiert und wandte sich an Jule. „Papa ist übrigens auf dem Balkon.“ „Siehste, meine Eltern sind wirklich phänomenal. Die haben noch nie rumgezickt bei so was“, flüsterte Jule als sie sich auf den Weg zum Balkon machten. Auch Herr Neumann war von Nadja sichtlich angetan. Er wusste allerdings nicht recht, ob er sie als Mann für ihr Aussehen bewundern durfte oder sie eher wie einen Mann behandeln sollte. Das Gespräch schwankte dann auch zwischen charmantem Geplänkel und kumpelhafter Haltung. Jule amüsierte das und sie fand ihren Vater einfach nur süß. Nur wenig später stellte sie fest, dass er auch noch extrem großzügig war, denn ihre Eltern schenkten ihr zum Geburtstag den Führerschein! Darauf freute Jule sich riesig und sie hatte schon verzweifelt überlegt, wie sie den jemals finanziert bekäme. Das war ja alles fast schon zu perfekt, dachte sie: Nette Eltern, tolle Freundin, Volljährigkeit, den Führerschein in greifbarer Nähe und eine Party mit Freunden.
Um kurz vor acht war Jule mit den Partyvorbereitungen fertig. Sie hatte in letzter Minute gemeinsam mit Nadja die Möbel im Wohnzimmer so gestellt, dass es mehr Platz zum Stehen oder Tanzen gab. Dann hatte sie sich selbst noch schnell umgezogen. Sie trug das rote Minikleid von damals, als sie Nadja in der Boutique wiedergesehen hatte. Dazu trug sie rote Turnschuhe und hatte einen knallroten Lippenstift aufgelegt. Die Haare fielen ihr locker auf die Schultern. Jetzt ließ sie sich erschöpft auf das Sofa sinken. Nadja setzte sich zu ihr, während ihre Mutter in der Küche nach der Pizza schaute. Um Punkt acht klingelte es.
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„Na, die sind ja überpünktlich“, wunderte sich Nadja und ging zum CD-Player, um etwas Musik zur Begrüßung anzumachen. Jule öffnete derweil die Türe. „Herzlichen Glückwunsch, du schöne Frau“, rief Nino überschwänglich und umarmte Jule fest. „Lass dich ansehen! Du wirst mit jedem Jahr schöner, meine Liebe!“ Jule lachte. Nino würde sich nie ändern. Sie mochte ihn besonders dafür, dass er fast immer gut gelaunt war. Jetzt löste er sich von Jule und zog seine Begleiterin in die Wohnung. „Darf ich dir meine Freundin Eliane vorstellen? Ich habe sie vor zwei Wochen kennen gelernt, und ich sage dir, sie ist meine ganz große Liebe.“ Jule begrüßte das Mädchen neben Nino belustigt und dachte insgeheim, dass eigentlich jede Frau bei Nino die große Liebe war! Sie bat die beiden herein und stellte ihnen Nadja vor. Einen Augenblick standen sie etwas ratlos zusammen. Jule wusste nicht recht, wie sie das Gespräch beginnen sollte. Doch Nino rettete sie aus der Situation und überreichte ihr das Geschenk. Neugierig packte Jule ein knallgelbes T-Shirt aus und schon waren sie alle zusammen in ein Gespräch über Klamotten und Trendfarben verwickelt. Wenig später klingelte es erneut an der Tür und innerhalb der nächsten Stunde kamen die Gäste ohne Unterbrechung. Stan war in Begleitung seiner neuen Freundin und Jule freute sich ehrlich über seinen Besuch. Kurz danach trudelten Tina und Piet ein. Sie waren ganz aufgeregt und teilten Jule mit, dass sie auch bald eine Party zu feiern hatte, weil Tina schwanger war und sie im Herbst heiraten wollten. Wie furchtbar, dachte Jule mitleidig. Sie fand es absolut zu früh für beide, aber sie sagte nichts. Sogar Anke und Sven kamen, und das obwohl Jule mit ihnen eigentlich gar nicht mehr in Kontakt stand. Sie hatten sich sehr verändert, waren schon ganz in ihrem Angestellten-Leben aufgegangen. Nadja war ein wenig erstaunt über die beiden, aber Jule freute sich trotzdem, dass sie gekommen waren. „Ich
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wollte einfach alle um mich haben, mit denen ich sozusagen erwachsen geworden bin!“ Nadja lächelte und gab Jule einen Kuss. „Verstehe ich! Sie sind nur so anders als du!“ Jule zuckte die Schultern und lachte. „Egal, Hauptsache heute Abend verstehen sich alle.“ So gegen zehn Uhr war das Fest in vollem Gange und Jule hatte es geschickt geschafft, dass die Gruppen wirklich ganz gemischt standen. Nino und seine Flamme ließen sich von Maxi und deren aktueller Freundin in die Geheimnisse der besten Lesbenkneipen einführen. „Na, das ist ja toootal interessant für den Macho mit der Kurvenmami“, lästerte Nadja vergnügt. Jule konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, forderte Nadja aber streng auf, nicht so hart zu sein. „Hauptsache, sie reden überhaupt miteinander!“ Auch an anderen Ecken waren lustige Zusammensetzungen entstanden. Der ziemlich wild aussehende Schlagzeuger von den „Simple Men“ versuchte ausgerechnet Anke zu verführen, die im biederen Kostümchen erschienen war. Und Tina hatte sich Jules Mutter gekrallt und nervte sie ganz offensichtlich mit tausend Fragen über Schwangerschaft und Mutter sein. Das hatte gerade noch gefehlt, dachte Ingrid Neumann genervt und versuchte vergeblich den Fragen von Tina auszuweichen. Sie log so gut sie konnte und hielt sich mehr an die Fragen nach der Geburt, anstatt sich über die Schwangerschaft zu unterhalten. Irgendwann erlöste sie ausgerechnet Jule, die mit ihr tanzen wollte. „Ich dachte, du hast jetzt genug über Windeln und Babybrei geredet“, lachte sie und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Ingrid Neumann murmelte ein tapferes Danke. Wenn sie dieses verdammte Gespräch doch nur schon hinter sich hätte. Jule merkte von all dem nichts. Im Gegenteil: Als so gegen zwei Uhr die letzten Gäste gegangen waren, bedankte sie sich noch mal bei ihrer Mutter. „Ohne dich hätte ich das nie
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geschafft“, seufzte sie, als sie alle noch im Wohnzimmer beisammen saßen. Auch ihr Vater und Nadja waren da. „Darf Nadja eigentlich hier schlafen“, fragte sie schließlich. „Es ist doch jetzt schon so spät geworden, und ich fände es schön, wenn sie hier bleiben würde.“ Jule warf ihren Eltern einen flehenden Blick zu. Ihr Vater räusperte sich und legte seinen Arm um die Schultern seiner Frau. Man sah ihm an, dass er verlegen war. „Natürlich darf sie“, beeilte sich Ingrid Neumann zu sagen, bevor ihr Mann eine falsche Entscheidung traf. Schließlich ging es jetzt darum, Jule nicht zu verärgern, damit sie das Gespräch am nächsten Tag in aller Ruhe führen konnten. Sie hatte Jule nämlich am Nachmittag gebeten, zum Abendessen zu Hause zu bleiben, um einmal in aller Ruhe miteinander sprechen zu können. Was Schlimmes? hatte Jule wissen wollen, doch Ingrid Neumann hatte sie beruhigt. Einfach nur ein paar sehr persönliche Dinge, die dich und uns betreffen.
Die Aufräumarbeiten dauerten den ganzen nächsten Vormittag. Nadja half noch ein bisschen und ging dann nach Hause. Jule war ziemlich groggy und froh, als sie sich nach dem Mittagessen in ihr Zimmer verkrümeln konnte. Sie lag auf dem Bett, blätterte in Zeitschriften und Büchern, spielte ihre sämtlichen Lieblings-CDs durch und döste vor sich hin. Endlich achtzehn, dachte sie und überlegte, was sich jetzt für sie veränderte. Jeder wartete immer darauf erwachsen zu sein, doch was war anders? Sie wohnte weiterhin bei ihren Eltern, sie würde die Schule zu Ende machen und dann mal weiter sehen. Über ihre Zukunft hatte sie sich eigentlich noch nie Gedanken gemacht. Doch in letzter Zeit löcherte Nadja sie andauernd. Was willste denn mal machen? Was interessiert dich? Du könntest doch studieren? Und so weiter. Hoffentlich 151
fingen ihre Eltern heute nicht auch davon an. Ihre Mutter hatte so feierlich geklungen, als sie sie gebeten hatte, den Abend mit ihnen zu verbringen. Was da wohl wieder los war? „Na, wollt ihr mich darauf vorbereiten, wie ich mich als Erwachsene zu benehmen habe?“, scherzte Jule, als sie am Abend ins Wohnzimmer kam. Ihre Mutter hatte zur Feier des Tages hier gedeckt, mit Kerzen und dem guten weißen Porzellan. Ihr Vater wollte nicht antworten und hob abwehrend die Hände, aber ihre Mutter schaute sie lange an. „So etwas in der Art, ja.“ Sie überlegte einen Augenblick. „Sagen wir mal so: Es hat mit deiner Volljährigkeit zu tun.“ Jule hob fragend die Augenbrauen und setzte sich. „Na, da bin ich aber mal gespannt.“ Sie ließ ihren Blick über den Tisch gleiten, es gab Braten, Kartoffeln und einen bunten Sommersalat. „Du hast ja ein richtiges Festessen gemacht!“ Jule war ehrlich erstaunt und naschte genüsslich mit dem Finger von der Bratensoße. Sie blickte ihre Mutter entschuldigend an, kniff jedoch im selben Moment erschrocken die Augen zusammen. Irgendwas stimmte nicht mit ihrer Mutter. Sie war kalkweiß im Gesicht und ihre Hände zitterten leicht. „Alles in Ordnung, Mama?“, wollte sie wissen, doch ihre Mutter nickte nur. Hoffentlich ist es nichts Schlimmes, dachte Jule, drang aber nicht weiter in sie. Das Essen schmeckte super, fand Jule, doch sie bemerkte, dass ihre Mutter nur lustlos auf ihrem Teller rumstocherte. Jule legte ihr besorgt ihre Hand auf den Arm. „Schmeckt es dir nicht? Ist wirklich alles in Ordnung?“ Ihre Mutter schaute ihr in die Augen und räusperte sich. „Ja, Jule es ist alles in Ordnung. Nur: ich möchte dir etwas sagen, und es fällt mir verdammt schwer, einen Anfang zu finden.“ Jule legte die Gabel neben ihren Teller und trank einen Schluck Rotwein. Was war hier los? So kannte sie ihre Mutter ja gar nicht, sie wirkte ganz ernst und gleichzeitig nervös.
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„Mama, wenn du mir irgendetwas sagen willst, dann tu es doch einfach. Wenn es mir nicht passt, dann streite ich schon mit dir.“ Sie lachte. „Das habe ich doch immer getan!“ Ingrid Neumann seufzte und strich aufgeregt die Serviette auf ihrem Schoß glatt. „Jule, du weißt, dass dein Vater und ich dich mehr lieben als irgendetwas in der Welt, wir haben dir immer alle Wünsche erfüllt, und dich nach bestem Wissen und Gewissen auf deinem Weg begleitet…“ Sie stockte. Jule betrachtete sie verwundert. Sie schenkte sich einen Schluck Wein nach und warf ihrer Mutter einen fragenden Blick zu. „Was wir dir sagen wollen ist nicht leicht für uns, aber da du nun volljährig bist, fühlen wir uns verpflichtet, dich über einige Dinge zu informieren.“ Die Stimme ihrer Mutter klang ernst. Jule beugte sich vor. „Was um alles in der Welt wird das hier? Ich weiß, dass ihr mich liebt, ich liebe euch auch. Aber was ist passiert? Wollt ihr euch scheiden lassen oder was?“ Sie lächelte hilflos, da sie wusste, dass das sicher nicht der Fall war. „Nein Jule, es ist so, dass wir nicht deine leiblichen Eltern sind“, entgegnete ihre Mutter so ruhig wie möglich. „Als du noch ein ganz kleines Baby warst, haben wir dich zu uns genommen.“ Jule ließ die Gabel sinken, sie starrte ihre Mutter entgeistert an. Die Worte hingen wie eine dunkle schwarze Wolke im Raum. Was sagte sie da? Nicht ihre leiblichen Eltern, aber…? „Aber ich schwöre dir: Wir lieben dich wie unser eigenes Kind“, fuhr Ingrid Neumann fort und senkte ihre Stimme. „Vielleicht sogar mehr als man sein eigenes Kind lieben kann.“ Jule saß immer noch regungslos in ihrem Stuhl. Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte. Das stimmte doch nicht, sie hatten sie wie ihr Kind geliebt? Aber sie war doch das Kind. Das hier waren doch ihre Eltern. Tränen schössen ihr in die Augen.
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„Wir haben dich vom ersten Tag an als unser Kind angesehen“, warf ihr Vater nun nervös ein. „Wir wussten einfach, dass du zu uns gehörst.“ Ihre Mutter legte, ihre Hand auf Jules Schulter. „Ich weiß, dass es nicht leicht für dich ist, das zu verstehen, aber wenn du genau hinschaust, siehst du, dass wir all die Jahre deine Eltern waren und immer noch sind. Verstehst du“, sagte sie eindringlich, fast beschwörend: „Wir sind deine Eltern, nur eben nicht deine leiblichen.“ Jule schüttelte den Kopf. Sie konnte nicht mehr denken, ihre Gedanken kreisten wild durcheinander. Nicht das Kind ihrer Eltern? Das bedeutete ja, dass sie sie belogen hatten. All die Jahre hatten sie gelogen. „Warum habt ihr es mir nicht gesagt?“, stieß sie tonlos hervor. „Wieso habt ihr mich belogen?“ „Es war keine leichte Entscheidung“, erklärte ihre Mutter und holte tief Luft. „Doch wir wollten dich schützen! Wir wollten nicht, dass du in Unsicherheit und Zweifel aufwächst, dass deine Entwicklung gestört würde…“ „Aber jetzt kann man meine Entwicklung stören?“, unterbrach Jule aufgelöst und stand auf. Sie lief im Zimmer auf und ab. Sie brauchte Luft, Bewegung. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie konnte immer noch nicht glauben, was sie da hörte. Wie hatten sie ihr nur die Wahrheit verschweigen können? Und angeblich auch noch aus Liebe. „Man belügt keinen Menschen“, sagte sie fassungslos. „Das habt ihr mir beigebracht.“ Sie schaute ihre Eltern vorwurfsvoll an. Ingrid Neumann schüttelte den Kopf. „Du hast Recht, doch das hier ist etwas anderes.“ Sie warf ihrer Tochter einen flehenden Blick zu. „Bitte setz dich doch. Lass uns in Ruhe über alles reden! An unseren Gefühlen für dich ändert sich doch nichts, da wird sich nie etwas ändern.“ „Aber vielleicht ändert es was an meinen Gefühlen“, stieß Jule heftig hervor. Sie war verletzt, kam nicht klar mit dieser
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Neuigkeit. Für sie brach eine ganze heile Welt zusammen, Mutter, Vater, Kind, all das stimmte nicht mehr. Sie setzte sich aufs Sofa uns stützte die Hände in den Kopf. Ihre Mutter nahm neben ihr Platz und legte ihren Arm um sie. Jule zuckte unter ihrer Berührung zusammen und schüttelte den Arm ab. Sie schwiegen. Jule versuchte zu kapieren, was ihre Mutter gesagt hatte. Ihre Mutter? Aber Ingrid Neumann war ja gar nicht ihre Mutter! „Wenn ihr nicht meine Eltern seid, wer ist es dann?“, fragte sie langsam. „Wer ist meine Mutter?“ Ingrid Neumann und ihr Mann wechselten einen kurzen Blick. Sie waren sich immer einig gewesen, Jule nicht mit ihrer richtigen Mutter in Kontakt treten zu lassen, obwohl sie ihren Namen kannten. „Wir wissen es nicht! Wir wollten es auch nie wissen. Du warst unser Kind, verstehst du?“ Jule schaute ihre Mutter ungläubig an. Und wenn das wieder eine Lüge war? Eine von vielen? Wie sollte sie dieser Frau vertrauen? Wie sollte sie ihrem Vater vertrauen? Sie hatten ihr die Chance genommen, ihre wahre Mutter kennen zu lernen. „Ich gehe noch ein bisschen raus“, erklärte Jule plötzlich. Sie musste hier weg, bevor sie explodieren würde. „Wartet nicht auf mich!“ Und ohne auf das Bitten und Flehen ihrer Eltern zu achten, verließ sie die Wohnung. In ihrem Kopf herrschte ein einziges Chaos. Sie wollte einfach nur alleine sein, nachdenken.
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Jule lief stundenlang durch Berlin. Sie hatte kein Ziel, sie wollte einfach nur laufen, sich bewegen, Ordnung bringen in das Gedankenchaos, das in ihrem Kopf herrschte. Doch sie konnte immer nur dasselbe denken: Sie war belogen worden! Ihre Eltern hatten sie all die Jahre belogen, hatten ihr vorgespielt, sie sei ihr Kind. Adoptiert, hämmerte es in ihrem Kopf. Adoptiert! Plötzlich blieb Jule stehen. Warum sagte ihr niemand, wer ihre Mutter war? Wessen Kind war sie? Jule spürte, wie ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Sie fühlte sich so einsam und alleine gelassen. Was sollte sie nur tun? Sie hatte niemanden mehr. Sie war gerade achtzehn Jahre alt geworden und hatte ihre Eltern verloren! Ihr erste Impuls war es, zu Nadja zu gehen. Doch sie war immer so vernünftig, sie würde womöglich stundenlang mit ihr diskutieren, ob es richtig war, einfach wegzulaufen und sie überreden, erst mal wieder nach Hause zu gehen, doch da wollte Jule im Moment nicht hin. Sie glaubte, den Neumanns nie wieder in die Augen sehen zu können. Den Neumanns! Sie nannte sie ganz bewusst so! Eltern wollte sie nicht mehr sagen. Es waren nicht ihre Eltern, Punkt, basta, aus. Warum sollte sie diese Lüge weiter aufrecht erhalten? Warum? Sie blieb wieder stehen. Wenn ihr nur nicht die Füße so verdammt weh tun würden. Wo war sie überhaupt? Sie schaute auf ein Straßenschild. „Knaakstraße“ stand dort. Das war doch am Prenzlauer Berg, in der Nähe von Maxis Wohnung? Maxi! Jule atmete erleichtert aus. Maxi war jetzt genau die Richtige, dachte sie. Die fragte nicht viel, würde ihr höchstens einen Drink anbieten und ihr zuhören, wenn Jule das wollte. Und ein 156
Drink war genau das, was sie jetzt brauchte. Sie beeilte sich, zu Maxis Wohnung zu kommen und sah schon von unten, dass noch Licht brannte. Sie schellte und ging die Treppen nach oben. „Hast du einen Schluck für mich?“ Ohne eine Antwort abzuwarten riss sie den Kühlschrank auf. „Ist Ebbe“, hörte sie Maxi sagen. „Hey man, was ist los?“ Maxi stand auf und drückte die vollkommen aufgelöste Jule auf einen Stuhl. „Du siehst ja furchtbar aus“, stellte sie kopfschüttelnd fest. „Jetzt verrätst du mir erst mal was los ist, und wenn du wirklich abschalten willst, dann habe ich was Besseres…“ Jule nickte aufgelöst und hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Umständlich steckte sie sich eine Zigarette an und erzählte. Die Worte sprudelten nur so aus ihrem Mund. Das Gespräch mit den Eltern, die Lüge, der Schmerz, die eigene Mutter nicht zu kennen. Sie konnte die Tränen nicht mehr aufhalten. Es tat so verdammt weh, nicht zu wissen, wer ihre Mutter war. Nicht die Lüge war das Schlimmste, dachte Jule als sie sich langsam wieder beruhigte, sondern die Tatsache, dass man ihr die Gelegenheit geraubt hatte, ihre wirkliche Mutter kennen zu lernen. Die ganze Verwirrung der letzten Stunden entlud sich in einem wilden Schluchzen. Maxi sagte nicht viel. Sie umarmte Jule nur und versuchte sie zu trösten. „Ich hab was, das wird dich beruhigen“, kündigte Maxi nach einer Weile entschlossen an und packte ein Päckchen mit feinem weißen Pulver auf den Tisch. Jule blickte geistesabwesend auf das Zeug. „Koka?“, fragte sie lahm und schaute hoch. Doch Maxi schüttelte den Kopf. „Besser! Kokain putscht dich auf, macht dich hektisch und du bist überdreht. Du brauchst was zum Beruhigen, du musst auf andere Gedanken kommen, dich entspannen. Das hier hilft.“ Jule runzelte die Stirn. Sie hatte
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nicht viel Erfahrung mit solchen Dingen, aber Maxis Stimme klang verlockend, andere Gedanken, Ruhe, Vergessen. „Du wirst es nicht bereuen“, redete Maxi weiter und stand vom Tisch auf. Jule lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Warum sollte sie nicht probieren, was Maxi da hatte? Sie hatte ja auch irgendwann ihren ersten Joint geraucht, – und heute hatte sie sich wahrlich eine kleine Ablenkung verdient. „Mach es genauso wie ich. Du wirst sehen!“ Maxi erhitzte das Pulver vorsichtig und inhalierte den Qualm mit einem Röhrchen aus Stanniolpapier. Jule wollte fragen, was das für ein Zeug war? Das war doch kein Shit? Doch Maxi legte den Finger auf den Mund und bedeutete Jule zu schweigen. Sie reichte ihr das Röhrchen. Jule inhalierte den Stoff mit aller Kraft und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Es kratzte ein wenig im Hals und sie musste husten. Als der Reiz vorbei war, zog sie noch mal. „Ich merk nichts“, sagte sie zu Maxi nach einer Weile. Sie schloss die Augen und horchte in sich hinein. Was hatte sie erwartet? Einen Riesenkick? Einen Knall? „Es wirkt langsam“, flüsterte Maxi und stand auf. Sie ging ins Wohnzimmer und drehte die Musik an. Jule folgte ihr. Sie legte sich aufs Sofa. Ihre Glieder wurden schwer, sie schloss die Augen und hörte auf die Musik. Ein angenehm warmes Gefühl durchströmte sie. Die Musik ist in mir, dachte sie und lachte. Die Musik kommt nicht aus dem Radio, sie ist in mir. „Was war das für ein Zeug? Ich glaube, ich hatte höllisch gute Träume!“ Jule saß bei Maxi am Frühstückstisch. Sie fühlte sich ziemlich erschlagen, doch die Erinnerung an den Abend war gut. „War wie ne Achterbahn in meinem Kopf. Ich hab die ganze Zeit an meine Mutter denken musste, hab mir vorgestellt, wie sie wohl ist. Auch an die Neumanns habe ich gedacht, aber irgendwie hat das alles nicht so weh getan.“ Jule schnitt sich eine Scheibe Brot ab und belegte sie dick mit Käse.
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„Und Hunger habe ich!“ Schweigend biss sie in das Brot und schaute verträumt aus dem Fenster. Heute Morgen tat es hingegen wieder ziemlich weh, an zu Hause zu denken. Jule kam sich vor, wie ein verletzter Vogel, der aus dem Nest gestoßen wurde und nun nicht wusste, wo er hinfliegen sollte, geschweige denn, wie man sich alleine durch die Welt bewegen sollte. Sie seufzte. Warum konnte es nicht immer so sein wie gestern Abend? Irgendwie hatte sie die Sachen da klarer gesehen. Sie legte ihr Brötchen auf den Teller und trank einen Schluck Kaffee. Sie dachte angestrengt nach, versuchte sich zu erinnern. Was hatte sie gestern überlegt? Sie könnte ihre Mutter suchen? Aber wie? Verdammt, dachte Jule. Irgendwie war sie viel nüchterner gewesen, optimistischer. Und jetzt lag wieder ein schwarzer Schleier auf ihrer Seele. Eine dumpfe Traurigkeit. „Also, was war es?“, wiederholte sie ihre Frage bei dem Gedanken an den gestrigen Abend. „Heroin“, sagte Maxi kurz angebunden und schenkte sich Kaffee nach. Jule ließ vor lauter Schreck das angebissene Brot in ihrer Hand fallen. „Heroin?! Bist du wahnsinnig?“ Jule sprang auf und rüttelte Maxi an den Schultern. „Du spinnst wohl, du kannst mir doch kein Heroin geben. Das ist doch, das…“ Sie brach ab. Ihr fehlten die Worte. Heroin. War Maxi noch ganz dicht? „Hey, bleib cool. Das ist super, das Zeug, und der ganze Mist, den alle erzählen, stimmt doch von hinten bis vorne nicht. Das sind doch alles noch Kinder mit ihren Haschischzigaretten. Heroin ist nur was für große Mädchen“, erklärte Maxi ernst. Dann fing sie an zu lachen. „Mann Jule, mach nicht so ein Gesicht. Meinst du ich gebe dir irgendeinen Mist? Und es hat doch gewirkt. Das Zeug ist nicht gefährlicher als Alkohol oder Hasch!“ Jule wusste, dass Maxi die Dinge gerne verharmloste. Sie hatte schon ganz andere Dinge über Heroin gehört und gesehen. In der Schule hatten sie sogar mal
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eine Reihe über Drogen gemacht und sie hatte die Fotos der Heroinabhängigen noch gut vor Augen. Vollkommen fertig sahen sie aus, ausgemergelt und ausgebrannt, mit einem toten Blick in den Augen. „Aber davon wird man doch abhängig“, warf Jule ein, doch Maxi schüttelte heftig den Kopf. „Das stimmt nicht! Guck mal, ich rauche das Zeug schon ne ganze Weile, und ich kann jederzeit aufhören. Aber ich will gar nicht, verstehst du? Es ist einfach viel zu cool. Wir nennen es ,blowen’, alle tun es, die ein bisschen mehr vom Leben erwarten.“ Jule runzelte die Stirn. Sie glaubte Maxi. Schließlich würde sie wohl kaum Heroin nehmen, wenn sie davon total abhängig werden würde, dachte Jule. Vielleicht wollte sie Maxi auch einfach glauben, weil das Gefühl am Abend so gigantisch gewesen war. Und außerdem, überlegte Jule, wen sollte es schon stören, ob sie Heroin nahm oder nicht? Ingrid Neumann oder ihre Mutter, die noch nicht mal wusste, wer sie war? Ihre Mutter! Jule schob energisch den Stuhl zurück und stand auf. Sie musste sie suchen! Das lag doch auf der Hand. Wenn sie erst ihre Mutter gefunden hätte, dann würde alles wieder gut. Hektisch kramte sie ihre Sachen zusammen. „Ich muss gehen“, sagte sie kurz angebunden zu Maxi und wollte verschwinden. Doch ihre Freundin umklammerte ihr Handgelenk. „Warte!“, sagte sie entschlossen und kramte aus einer Schublade ein Tütchen. „Wenn du dich mal wieder ablenken willst!“ Jule schüttelte den Kopf. „Brauche ich nicht!“ Maxi lächelte vieldeutig. „Nein, du brauchst es nicht, aber vielleicht willst du es mal wieder!“ Sie steckte Jule das Päckchen in die Hosentasche und setzte sich. Jule zuckte mit den Schultern. „Danke!“, rief sie und war im nächsten Moment verschwunden. Sie eilte nach Hause, um ein paar Sachen zu packen. Hier konnte sie unmöglich bleiben. Sie konnte den Neumanns nicht
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mehr in die Augen sehen. Jahrelang hatten sie ihr eine heile Familie vorgegaukelt. Aber das würde Jule keine Sekunde länger ertragen. Sie wollte zu Nadja ziehen, jetzt gleich. Wenn sie nach Hause käme, würde Jule sie vor vollendete Tatsachen stellen. Im Notfall musste sie sagen, dass sie irgendwann wieder zu Ingrid und Klaus Neumann zurückkehren würde, aber im Moment ihre Ruhe bräuchte.
Wenige Stunden später schloss sie die Türe zu Nadjas Appartement auf. Sie verstaute ihre Sachen und ließ sich heißes Wasser in die Badewanne einlaufen. Als sie zurück ins Schlafzimmer kam, zog sie ihre Klamotten aus. Dabei fiel ihr das Päckchen von Maxi aus der Hosentasche. Sie hob es auf und betrachtete es versonnen. So ein bisschen von dem Zeug würde sie ja schon gerne nehmen. Nicht weil sie es brauchte, einfach zum Entspannen und um sich in aller Ruhe einen Schlachtplan auszudenken. Sie seufzte und steckte es wieder in die Tasche. Nadja würde sie verfluchen. Sie hasste alles, was mit Drogen zu tun hatte und wenn sie das rausbekam – Jule ging ins Badezimmer und stellte das Wasser ab. Die Wanne war bis zum Rand voll. Sie schüttete Nadjas gut riechende Badezusätze ins Wasser und verrührte sie mit den Händen so lange bis sich ein dichter weißer Schaum bildete. Und wenn ich doch was nehme? Nadja braucht es ja nicht zu wissen, überlegte Jule und spielte mit dem Schaum in ihren Händen. Dann stand sie kurz entschlossen auf und ging zurück ins Schlafzimmer. Sie holte das Tütchen heraus und erhitzte das Pulver so, wie sie es bei Maxi gelernt hatte. Dann inhalierte sie den Rauch. Wieder kratzte es in ihrem Hals, doch das Gefühl war nicht unangenehm. Ihr wurde warm und sie fühlte sich ganz leicht. Sie beeilte sich, in die Badewanne zu kommen und eilte ins Badezimmer. Ist das schön, seufzte sie wohlig, als sie
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in das Wasser tauchte. Sie schloss die Augen und stellte sich ihre Mutter vor, wie sie in eleganten Klamotten auf sie zukam, sie umarmte und sie dann mit einem nagelneuen Porsche entführte. Es ist ganz einfach, überlegte Jule und strich sich mit den Fingerspitzen über die Haut, ich werde meine Mutter suchen. Sicher vermisst sie mich schon! Morgen fange ich an. Als Nadja kam, lag Jule immer noch in der Badewanne. Sie war eingenickt, und als die Freundin sanft ihre Schulter berührte, schreckte sie hoch. „Was? Wo bin ich? Was ist passiert?“ Ihre Augen waren vom Schrecken geweitet, ihr Körper von einer leichten Gänsehaut überzogen, denn das Wasser war inzwischen fast kalt. „Mir ist so kalt“, murmelte sie unglücklich, doch sie hatte das Gefühl, als könne sie sich nicht rühren. Nadja half ihr hoch. Jule schlotterte, ihre Haut war aufgeweicht. Sie hüllte sich in den kuscheligen Bademantel, den Nadja ihr reichte und setzte sich auf den Rand der Wanne. „Alles in Ordnung?“, wollte Nadja besorgt wissen und strich Jule über die nassen Haare. „Du siehst irgendwie fertig aus. Durcheinander!“ Jule nickte und legte ihren Kopf an Nadjas Schulter. „Gehst du mit mir ins Bett? Ich brauche deine Wärme“, flüsterte sie und schmiegte sich enger an Nadja. „Es ist so viel passiert!“ Nadja nickte stumm und zog Jule hinter sich her ins Schlafzimmer. Sie zog sich aus und nahm sie in den Arm. „Und jetzt erzähl mir alles, ja?“, sagte sie leise und beruhigend, wie zu einem kleinen Kind. Jule spürte wie ihre Augen sich mit Tränen füllten. Sie fror immer noch und in ihrem Kopf drehte sich alles. Wo sollte sie anfangen? Mit den Eltern, den Neumanns, mit ihrer Mutter, der Entscheidung sie zu suchen? Sie seufzte und entschied sich für eine chronologische Erzählung der Ereignisse. Sie fing mit dem Abendessen und den schrecklichen Enthüllungen an. Sie erzählte alles ohne Pause, bis zu der Entscheidung,
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vorübergehend bei Nadja einzuziehen und ihre Mutter zu suchen. Nur den Besuch bei Maxi, den ließ sie wohlweislich aus. Als Jule fertig war, gab Nadja ihr einen Kuss und kündigte an, etwas zu essen zu machen. Sie wollte einen Augenblick alleine sein und darüber nachdenken, was jetzt zu tun war, wie sie Jule am besten helfen konnte. Sie ging in die Küche und belegte Toasts, die sie in kurzerhand in die Mikrowelle schob. Was Jule erzählte, war abenteuerlich. Sicher war es ein Schock, und es war auch zu blöd, dass die Neumanns Jule so angelogen hatten. Eine Lüge tat immer weh und Jules Enttäuschung war offensichtlich riesengroß. Nadja wusch ein paar Salatblätter, während sie überlegte. Sie würde ihr jetzt beistehen müssen und für sie da sein, das war gar keine Frage. Das Einzige, was sie nicht okay fand, war, dass Jule einfach weglief, ohne ihren Eltern was zu sagen. Am besten, sie würde Frau Neumann morgen von der Uni aus anrufen, um ihr mitzuteilen, dass ihre Tochter bei ihr war. Jule brauchte davon ja nichts zu wissen, entschied Nadja. Dann nahm sie die überbackenen Toasts aus der Mikrowelle und legte sie auf ein Tablett. Vorsichtig balancierte sie das Ganze ins Schlafzimmer. Die Toasts dufteten verlockend und in der Hand hielt sie eine Flasche Rotwein. Jule schlug die Decke zurück, um Nadja Platz zu machen. „Ich mache die Flasche auf“, erklärte sie schnell und nahm ihr den Rotwein ab. Davon würde ihr vielleicht endlich warm werden. Warum war sie auch so lange in der Wanne geblieben? Hektisch öffnete sie die Flasche und trank einen großen Schluck. Sie fühlte wie die Wärme des Alkohols sich in ihrem Körper ausbreitete. „Du meinst, du findest deine Mutter nach all den Jahren?“, fragte Nadja nachdem sie eine Weile schweigend gegessen und getrunken hatten. Jule trank ihr Glas leer und schenkte sich
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noch mal nach. Durch den Rotwein wurde ihr langsam wieder warm. „Ich werde sie finden. Sie ist meine Mutter, bestimmt vermisst sie mich auch schon!“ Jule legte sich zurück und schaute verträumt zur Decke. „Ich könnte schwören, dass sie eine wohlhabende und elegante Geschäftsfrau ist. Eine, die ständig unterwegs ist, weißt du, und sie fährt einen Porsche und hat ein schickes Appartement irgendwo hoch oben über der Stadt.“ Jule lächelte bei der Vorstellung. Nadja strich ihr die Haare aus dem Gesicht. „Was glaubst du, warum hat sie dich weggegeben“, fragte sie vorsichtig. Jule setzte sich auf. Ihre Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen und sie starrte Nadja böse an. „Sie musste es tun, was glaubst du. Wahrscheinlich wurde sie von ihren Eltern gezwungen, weil sie noch sehr jung war. Die haben auch immer verhindert, dass sie mich findet. Aber sie vermisst mich schrecklich und wundert sich, dass ihr eigenes Kind niemals nach ihr gesucht hat.“ „Klingt einleuchtend“, murmelte Nadja und griff sich ein weiteres Toastbrot. Sie hatte die Stirn in tiefe Falten gezogen. „Wir machen es so: Du gehst morgen früh zum Einwohnermeldeamt und fragst dort nach. Falls die dir nichts sagen können, musst du deinen ganzen Charme aufbringen, damit sie dir ein paar Tipps geben, wo du suchen sollst. Am Nachmittag treffen wir uns hier und ich helfe dir weiter!“ „Du willst mir helfen?“ Über Jules Gesicht glitt ein Lächeln. Sie beugte sich zu Nadja und nahm sie zärtlich in den Arm. „Du bist die Beste! Und wir machen es genauso wie du es vorgeschlagen hast!“
Am nächsten Morgen stand Jule voller Enthusiasmus auf. Sie zog sich an und machte sich auf den Weg zu dem
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Einwohnermeldeamt in ihrem Viertel. Ein bisschen merkwürdig war ihr schon zu Mute. Was sollte sie denen sagen? Guten Tag, ich bin Jule Neumann und ich suche meine Mutter? Wenn sie doch wenigstens den Nachnamen kenne würde, oder das Krankenhaus, in dem sie geboren wurde. Als sie das graue und kahle Gebäude des Einwohnermeldeamtes betrat, suchte sie mit den Augen eine große Ankündigungstafel ab. „Meldeangelegenheiten, zweiter Stock“, stand da. Dort würde sie es probieren. Mehr als wieder wegschicken konnte man sie schließlich nicht. Sie zog eine Nummer und setzte sich in den Warteraum. Es war sehr voll, die meisten Leute saßen still auf ihren Plätzen und schauten immer wieder zu dem Zähler, der die Nummer anzeigte, die gerade an der Reihe war. Hin und wieder stand jemand auf und verließ den Raum. Die anderen schauten ihm neidisch hinterher. Jule blickte aus dem Fenster. Es würde wohl noch dauern, bis sie an der Reihe war. Sie versuchte, sich ihre Mutter vorzustellen. Sicher war sie groß und schlank, mit dunklen Haaren, genauso wie Jule. Und sie war gewiss oft unterwegs. Jule lächelte. Sie wird sich schon Zeit nehmen, wenn ich auftauche. Wahrscheinlich lädt sie mich erst mal auf eine Reise ein, damit wir uns besser kennen lernen. Nach Australien oder nach Amerika. Ein richtig langer Trip durch die verschiedenen Staaten, nur Mutter und Tochter. Jule schaute zu der Anzeigetafel. Die Nummer 365 blinkte. Das war sie doch. Eilig stand sie auf und ging zu dem angezeigten Platz. „Was kann ich für Sie tun?“, fragte die junge Frau hinter dem Schreibtisch. Sie war höchstens 25 und hatte ein freundliches Gesicht. Hoffentlich war sie auch so nett, wie sie aussah, dachte Jule. „Ja, also, das ist etwas schwierig zu erklären…“ Sie stockte und suchte nach Worten. „Ich bin vor achtzehn Jahren
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adoptiert worden, und ich würde gerne herausfinden, wer meine leibliche Mutter ist. Aber ich weiß nicht, wie ich das machen kann.“ Sie lächelte hilflos und schaute die junge Frau abwartend an. „Wissen Sie denn, ob ihre Mutter hier gemeldet war? Dann können wir nachsehen, ob sie immer noch bei uns gemeldet ist. Dazu benötige ich allerdings einen Taufschein, oder eine Geburtsurkunde!“ Jule schluckte. Sie hatte keine Unterlagen, sie wusste ja noch nicht einmal, wie ihre Mutter hieß. Sie fingerte mit den Händen an ihrer Tasche herum und erklärte der jungen Frau ihre Situation. Doch die Beamtin schüttelte bedauernd den Kopf. „Das tut mir Leid, Frau Neumann, da kann ich Ihnen überhaupt nicht weiterhelfen. Ich brauche eine Bescheinigung!“ Jule ballte die Fäuste und spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stießen. Nicht genug damit, dass sie adoptiert und belogen worden war, jetzt half man ihr noch nicht einmal weiter. „Wenn Sie keine Unterlagen haben, dann versuchen Sie doch wenigstens herauszubekommen, wo Sie geboren wurden. Dann können Sie in dem Viertel suchen“, schlug die junge Frau mitleidig vor. Jule riss entgeistert die Augen auf. „Ich kann doch nicht ein ganzes Viertel nach meiner Mutter absuchen“, entgegnete sie verzweifelt. „Und ich weiß auch nicht, in welchem Krankenhaus ich geboren wurde.“ „Hören Sie, ich kann Ihnen das auch nicht sagen. Es war nur ein gut gemeinter Tipp. Wenn Sie herausfinden, wo sie geboren wurden, können Sie bei Jugendämtern oder beim Pfarrer oder sogar im Krankenhaus selbst anfangen zu suchen!“ Sie machte eine Pause und schaute Jule entschuldigend an. „Mehr kann ich nicht tun!“ Jule stand auf und verabschiedete sich. Als sie herausging, hatte sie das Gefühl, sie hätte Blei in den Beinen, so schwer fiel ihr jeder Schritt. Sie hätte sich am liebsten in die nächste Ecke gesetzt
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und losgeheult. Warum hatten ihre Eltern ihr nicht gesagt, wer ihre leibliche Mutter war? Sie glaubte ihnen nicht, dass sie den Namen nicht wussten. Sie hatten sie schließlich schon einmal belogen, warum sollten sie ihr jetzt die Wahrheit sagen? Sie schaute auf die Uhr. Gerade mal elf. Nadja würde erst um zwei von der Uni kommen. Da könnte sie eigentlich noch bei Maxi vorbei. Nur so zum Reden. Jule betrat die S-Bahn und wartete auf die richtige Linie. Ist schließlich eine Ausnahmesituation, sagte sie sich, als sie in der Bahn saß. So eine Nachricht zu bekommen, wenn man gerade achtzehn ist, und dann noch nicht mal die Chance haben, die eigene Mutter zu suchen! Jule atmete tief durch. Sie hatte ja wohl echt ne Pause und ein bisschen Urlaub fürs Gehirn verdient. Wenn der ganze Stress vorbei war, würde sie sowieso wieder damit aufhören.
Gott sei Dank war Maxi zu Hause. Als Jule in die Küche kam, redete sie nicht lange drum herum und fragte, ob sie ihr was geben könnte. „Hör zu Jule, das Zeug gestern, das war aus Freundschaft und weil du so fertig aussahst. Aber wenn du mehr willst, musst du es bezahlen.“ Maxi zog heftig an ihrer Zigarette und schenkte sich den letzten Rest Tee aus einer bauchigen Kanne in ihre Tasse. Jule setzte sich auf einen der alten Holzstühle. Damit hatte sie nicht gerechnet. Doch Maxi ließ nicht mit sich reden. „Wenn du eine Flasche Wein trinken willst, musst du sie auch bezahlen“, erklärte sie und stellte sich an den Herd, um Teewasser zu kochen. Jule zuckte die Schultern und holte ihr Portemonnaie aus der Tasche. Irgendwo hatte Maxi Recht, das wusste sie. Und außerdem gönnte sie sich ja sonst nichts. Sie kaufte Maxi den Stoff ab und gemeinsam inhalierten sie. Jetzt war das Gefühl schneller da, intensiver als gestern. Was machte es schon,
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wenn die vom Einwohnermeldeamt ihr nicht helfen konnten, dachte sie, aufgeputscht durch die Droge. Sie würde einen anderen Weg finden, sie würde ihre Mutter finden. Komme was wolle! Sie blieb lange bei Maxi, kaufte noch mehr Stoff, wiederholte die Prozedur, kaufte sich was, auf Vorrat. „Für einsame Minuten“, erklärte sie. „Nicht weil ich es brauche, sondern nur, weil im Moment alles so mies ist.“ „Niemand braucht das Zeug. Aber es macht Spaß!“, entgegnete Maxi amüsiert. Als Jule ging, klopfte sie ihr freundschaftlich auf die Schulter. „Das nächste Mal drückst du besser gleich, dann brauchst du weniger Stoff für einen noch viel geileren Trip.“
In der Bahn lehnte Jule erschöpft den Kopf an die Scheibe. Sie fröstelte schon wieder in ihrem dünnen Sommerkleid. Sie musste an ihre Mutter denken, an die Suche nach ihr. Plötzlich erschien ihr wieder alles so schwer und ausweglos. Warum konnte sie sich nicht immer so fühlen wie eben bei Maxi? Da hatte sie doch noch ganz fest daran geglaubt, dass sie ihre Mutter finden würde. Eine halbe Stunde später schloss sie die Tür zu Nadjas Appartement auf. Sie war noch gar nicht richtig in der Wohnung, da stürmte ihr Nadja vollkommen aufgelöst entgegen. „Mensch, wo kommst du denn her?“, rief sie und zog Jule ins Wohnzimmer. „Wir waren um zwei Uhr verabredet, jetzt ist es fünf! Ist irgendwas passiert?“ „Nichts ist passiert“, antwortete Jule lahm. Nadjas aufgeregte Stimme ging ihr auf die Nerven. „Ich war beim Einwohnermeldeamt. Hat nichts gebracht. Danach bin ich rumgelaufen!“
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„Rumgelaufen? Sag mal, spinnst du?“ Nadja ging zum Kühlschrank und holte sich ein Glas Orangensaft. Dann drehte sie sich zu Jule um. „Ich beeile mich nach der Uni“, stieß sie enttäuscht hervor. „Ich will dir helfen und du hast nichts besseres zu tun als rumzulaufen? Wenigstens anrufen hättest du können!“ Sie setzte sich auf einen der hohen Hocker und schwieg. Jule setzte sich ihr gegenüber. Sie schaute Nadja an. Warum musste nur immer alles so kompliziert sein? Reichte es nicht, dass sie heute einen schlechten Tag gehabt hatte? „War nicht so toll“, gab sie zu. „Tut mir Leid. Ich war so verzweifelt.“ Sie legte den Kopf erschöpft auf ihre Arme. Nadja erhob sich und kam zu ihr. Sie legte ihren Arm um Jules Schultern. „Aber wenn du verzweifelt bist, sollst du zu mir kommen!“ Ihre Stimme klang etwas versöhnlicher. Jule legte ihren Kopf an Nadjas Schulter. „Ja“, murmelte sie. „Das nächste Mal komme ich zu dir!“
In den folgenden Wochen suchten sie gemeinsam nach Jules Mutter. Zunächst nahmen sie sich die Umgebung vor, in der Jule mit den Neumanns gewohnt hatte. Sie klapperten tatsächlich Jugendämter, Pfarreien und Krankenhäuser ab, doch nirgendwo konnte man ihnen weiterhelfen. Sie gingen sogar gemeinsam zu den Neumanns, um nach einem Hinweis zu suchen. Aber vergeblich. Jules Adoptiveltern behaupteten weiterhin steif und fest, keinerlei Unterlagen zu besitzen. Nadja glaubte ihnen. Jule nicht. Und mit jeder vergeblichen Suche sank Jules Mut. Um neue Kraft zu schöpfen, ging sie immer öfter zu Maxi. Doch schon bald reichte ihr das „blowen“ nicht mehr. Maxi half ihr dabei, als sie sich ihren ersten Schuss setzte. Das Gefühl überwältigte sie, alles erschien ihr besser, sie hatte Mut und Kraft.
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Von da ab drückte Jule regelmäßig, meistens bei Maxi, doch wenn es schnell gehen sollte oder die Freundin nicht da war, suchte sie sich eine stille Ecke in der Stadt. Sie bekam schnell einen Blick dafür, wo die anderen aus der Szene rumhingen. Ihre Gedanken fingen an, nur noch um die Droge zu kreisen, wann konnte sie wieder was kaufen, wo konnte sie drücken, wie viel blieb ihr noch? Und jedes Mal, wenn die Wirkung des Heroins vorbei war, fühlte sie sich elender als zuvor. Sie wurde fahrig, vergaß immer häufiger Verabredungen. Als die Sommerferien um waren, ging sie nicht in die Schule. Ingrid Neumann rief bei Nadja an. Sie sprach mit Jule, bat sie in die Schule zu gehen, wenigstens ihr Abitur zu machen und sich nicht ihr ganzes Leben zu versauen, nur weil sie sauer auf ihre Eltern wäre. Mein Leben habt ihr versaut, konterte Jule bitter. Wenn du was für mich tun willst, überweise mir mein Taschengeld auf mein Konto. Die Einkäufe bei Maxi rissen schließlich ein ganz schönes Loch in ihre spärliche Finanzsituation. So war sie froh zu hören, dass ihre Mutter weiterhin Geld überweisen würde. Auch Nadja redete auf Jule ein. Sie konnte nicht verstehen, wie man sich so hängen lassen konnte. Wenn du dein Abitur nicht machst, findest du deine Mutter auch nicht schneller, sagte sie immer und immer wieder. Aber Jule blockte ab. Sie ließ niemanden mehr an sich heran. Sie fühlte nichts mehr. Ihre einzige Zuflucht wurde das Heroin. Wenn ich meine Mutter gefunden habe, höre ich auf, redete sie sich ein, doch tatsächlich wurde sie innerhalb weniger Wochen zur Dauerkundin bei Maxi.
Anfangs merkte Nadja nichts. Jule verheimlichte ihre Sucht so gut sie konnte. Sie trug nur noch langärmelige T-Shirts und nachts im Bett behielt sie ihr Nachthemd an. Sie passte
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höllisch auf, dass Nadja ihre Einstiche nicht sehen konnte. Ihre ganze Kraft verwendete sie darauf, dass Nadja nichts merkte. Doch einmal, als Jule noch schlief, küsste Nadja sie aus Spaß wach. Dabei zog sie den Ärmel des Nachthemds hoch. Ihr Blick fiel sofort auf die Einstiche. „Was ist das?“, rief sie erschrocken und zog Jules Arm zu sich heran, um ihn besser betrachten zu können. „Nichts!“, entgegnete Jule und stand eilig auf, um sich einen Bademantel überzuziehen. „Was hast du da gemacht, Jule, das sind Einstiche!“ Nadja war ebenfalls aufgestanden und hielt Jule fest. „Ach, ich war bei der Blutabnahme“, entgegnete Jule. „Bei der Blutabnahme, ja? Und da braucht man gleich mehrere Einstiche“, stieß Nadja heftig hervor. Sie schüttelte Jule. „Mensch, ich studiere Medizin, Jule!“ Jule machte sich los und funkelte Nadja heftig an. „Wenn du so klug bist, dann weißt du ja sicher, dass es Krankenschwestern gibt, die öfter mal daneben stechen“, rief sie, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und ging ins Badezimmer. „Du hast Drogen genommen. Und zwar nicht irgendwas, sondern Heroin“, rief Nadja ihr hinterher. „Deswegen hast du dich auch so verändert in letzter Zeit“, fuhr sie aufgeregt fort. „Jetzt wird mir Einiges klar.“ Bei Nadjas Worten blieb Jule stehen und ging noch einmal zurück ins Zimmer. Ihr Gesicht war rot vor Zorn. „Du und deine blöden Unterstellungen“, brüllte sie. „So eine miese Nummer. Du hast doch gar keine Ahnung, wie das ist, wenn man Probleme hat. Du mit deinem reichen Papi, der dir später sicher auch einen Job besorgt. Du musst ja nicht deine Mutter suchen. Deine Mutter sitzt fett zu Hause und scheffelt das Geld von deinem Alten!“ Jule griff sich ein paar Klamotten und schmiss die Türe hinter sich zu. Sie war wütend. Wütend über Nadjas Verdächtigungen und wütend über sich selbst, dass sie nicht besser aufgepasst hatte. Was erwartete Nadja denn? Dass jeder so ein vorbildliches Leben führte wie sie? Sie
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schloss die Badezimmertüre hinter sich ab. Erschöpft setzte sie sich auf die Badewanne. Warum musste alles nur immer so mies sein? Warum ließ man sie nicht in Ruhe? Sie seufzte und stand auf, um sich anzuziehen. Als sie sich nach einer Weile rausschlich, hörte sie Nadja im Schlafzimmer weinen. Sie blieb kurz stehen. Sollte sie zurückgehen? Doch dann schüttelte sie heftig den Kopf. Nein, sie würde zu Maxi fahren, die verstand ihre Probleme wenigstens.
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Es war spät am Abend, als Jule die Wohnungstür bei Nadja aufschloss. Sie war stundenlang durch die Gegend gelaufen. Ein paar Mal hatte sie vergeblich bei Maxi geschellt, doch die war nicht da. Am Bahnhof wollte ihr niemand auf Pump was geben und ihr Geld hatte sie bei Jule vergessen. Sie war hundemüde, wollte einen Druck, wollte schlafen und vergessen. Der Streit mit Nadja war vergeben. Sie wusste nur, dass ihr Geld dort war und ein Bett! Nadja kam ihr aufgelöst entgegen, als sie die Wohnung betrat. „Lauf nicht einfach weg“, flehte sie mit weinerlicher Stimme. Ihre Augen waren gerötet und sie zitterte vor Aufregung am ganzen Körper. „Wir finden eine Lösung, das verspreche ich dir. Wir finden gemeinsam eine Lösung. Du kommst weg von dem Zeug und ich helfe dir. Noch bist du körperlich nicht so stark abhängig. Mein Ehrenwort als zukünftige Ärztin!“ Jule nickte erschöpft. Sie war viel zu schwach um etwas zu sagen, zu schwach, um sich zu wehren. Wenn sie nur nicht so unendlich müde wäre! „Ich will schlafen“, murmelte sie und ließ sich widerspruchslos von Nadja ins Bett bringen. Sie fiel sofort in einen schweren und tiefen Schlaf und wachte erst am nächsten Mittag wieder auf. Nadja ließ ihr die Badewanne vollaufen und verwöhnte sie mit einem gigantischen Frühstück. Jule fühlte sich tatsächlich etwas besser. „Ich verspreche dir, dass ich aufhöre“, sagte sie in einer Anwandlung von Optimismus. Sie griff in den Brotkorb und schmierte sich ihr zweites Brötchen mit Nutella. „Es war der Stress und der ganze Frust mit meiner Mutter. Ich wollte mich 173
einfach ablenken.“ Sie biss kraftvoll in ihr Brötchen und trank einen Schluck Kaffee. „Ehrlich Nadja, damit ist Schluss!“ Nadja schwieg. Nachdenklich spielte sie mit den Krümeln auf ihrem Teller. Sie studierte Medizin, eigentlich wusste sie, welche schreckliche Wirkung Heroin hatte, aber sie wollte Jule auch glauben. Sie wollte daran glauben, dass sie mit gemeinsamer Kraft einen Weg finden würden. „Was hältst du denn davon, wenn wir zusammen zu deinen Eltern gehen“, schlug sie nach einer Weile vor. Sie lächelte unsicher und redete schnell weiter, bevor Jule irgendetwas sagen konnte. „Eine Menge von deinem Frust kommt wegen dieser blöden Adoptionsgeschichte. Und du hast Recht: Deine Eltern waren nicht fair, als sie dich belogen haben. Aber sie haben auch immer alles für dich getan, und sie würden gerne weiterhin alles für dich tun!“ Sie legte ihre Hand auf Jules Arm und schaute sie flehentlich an. „Sie lieben dich, auch wenn es schwer fällt das zu begreifen!“ Jule schüttelte Nadjas Hand ab und stand auf. Sie spürte, wie langsam die altbekannte Unruhe und Nervosität in ihr hochkroch. Nadja hatte Recht, sie hatte ja selbst schon oft darüber nachgedacht. Sicher, Ingrid Neumann würde nie wieder dieselbe Mutter für sie sein können wie vor diesem verflixten achtzehnten Geburtstag, aber sie wollte auch nicht jede Verbindung abbrechen. Irgendeine seltsame Sehnsucht überkam sie jedes Mal, wenn sie an zu Hause dachte. Und sie wollte Nadja nicht verlieren! Vielleicht hatte sie ja Recht, vielleicht würde alles besser, ja vielleicht würde Ingrid Neumann ihr doch noch helfen, ihre leibliche Mutter zu finden? Plötzlich spürte sie Nadjas Hände auf ihren Schultern. Sie war hinter sie getreten und drehte Jule langsam herum. „Du musst deine Probleme lösen, dann brauchst du das Zeug nicht mehr“, sagte sie und fand selber, dass ihre Weisheit wie aus einem psychologischen Handbuch klang, aber Jule schienen die Worte zu helfen.
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„Okay, aber ich gehe alleine“, willigte Jule schließlich ein. Sie setzte sich wieder hin und kaute lustlos an ihrem Brötchen. Nadja hockte sich neben sie. Eine Weile sagte sie nichts, erst als Jule aufstand, um sich fertig zu machen und nach Hause zu gehen, flüsterte sie leise: „Du wirst sehen. Alles wird gut!“ Jule machte sich auf den Weg. Sie ging langsam in Richtung S-Bahn. Ihr war unwohl bei dem Gedanken an den bevorstehenden Besuch, wenn sie nur einen Schuss hätte, überlegte sie. Nur noch einen letzten, danach würde sie wirklich aufhören. Sie blieb stehen. Warum sollte sie eigentlich nicht bei Maxi vorbeifahren? Ein klitzekleiner Schuss wäre nicht schlimm, dann würde es ihr leichter fallen nach Hause zu gehen.
Eine halbe Stunde später stand sie bei Maxi in der Küche. Doch sie hatte vollkommen vergessen, dass sie der Freundin noch Geld schuldete, für das letzte Mal. „Hör zu Jule, ich gebe dir nur noch heute was“, erklärte Maxi entnervt und legte das Päckchen mit dem Pulver auf den Tisch. „Ich mach das nicht auf Pump. Ich muss das Zeug schließlich auch einkaufen!“ Jule nickte schüchtern. Sie hatte Nadja wegen der Kohle anhauen wollen, es aber in dem ganzen Chaos vergessen. „Ich gehe gleich zu meinen Eltern, ich meine zu den Neumanns. Da besorge ich dir das Geld und bringe es dir noch heute Abend. Ehrlich.“ Sie griff hektisch nach dem Päckchen. „Danach höre ich sowieso auf“, flüsterte sie. Maxi fing an zu lachen. „Das sagen sie alle. Aber ich weiß doch wie viel Spaß es dir macht. Hör auf, wenn du keine Lust mehr hast, nicht weil deine feine Nadja es will!“ Jule runzelte die Stirn. Aber Nadja wollte ihr doch helfen? Sie zuckte die Schultern und verkrümelte sich ins Wohnzimmer.
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Es war Nachmittag, bis sie endlich bei den Neumanns vor der Tür stand. Das Wiedersehen war sehr viel einfacher als Jule gedacht hatte. Niemand machte ihr Vorwürfe. Im Gegenteil: Ihre Adoptiveltern entschuldigten sich sogar für ihr Verhalten, sie hätten ja nicht geahnt, wie sehr Jule sich diese Lüge zu Herzen nehmen würde, sagten sie immer wieder. Jule nickte zu allem, sie stand noch unter dem Einfluss ihres letzten Trips und nahm alle Ereignisse gelassen. Sie half ihrer Mutter den Kaffeetisch decken und freute sich über den frisch gebackenen Schokoladenkuchen. Sie sagte sogar Mama und Papa, und es entging ihr nicht, dass ihre Eltern zu Tränen gerührt waren. Sie konnten ja nicht ahnen, dass sie ihren Plan, ihre wirkliche Mutter zu suchen, keine Sekunde lang aufgab. Jule spürte, dass das Verhältnis zu ihren Eltern anders war als früher, aber sie waren immerhin ihre Adoptiveltern, überlegte sie noch ein wenig benebelt Als sie nach dem Essen auf dem alten Ledersofa im Wohnzimmer saß, fühlte sie sich für einen Moment richtig geborgen. Ihr Vater war es dann, der sie auf ihr Geburtstagsgeschenk ansprach. Jule sollte doch endlich mit dem Fahrunterricht beginnen. Das Geld wollte er ihr überweisen. Ihre Mutter mischte sich ein und erklärte feierlich, dass sie außerdem das Taschengeld erhöhen wollten. Jule bedankte sich artig und jubelte innerlich über das schlechte Gewissen ihrer Eltern. Dann war wenigstens die Sache mit Maxi geritzt. „Kommst du denn jetzt wieder öfter?“, fragte ihre Mutter beim Abschied vorsichtig. Jule zögerte, sagte aber zu. Als sie auf die Straße trat und das Geld in ihrer Tasche fühlte, war sie sogar richtig fröhlich. Hat doch prima geklappt, freute sie sich. Sie hatte mehr Geld, würde ihren Führer schein machen und wieder öfter zu Hause übernachten. Drücken würde sie nur
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noch ganz selten. Sie ging direkt zu Maxi um ihre Schulden zu bezahlen. Und kaufte sich Stoff. Wenn sie schon mal da war, konnte sie sich auch einen Schuss genehmigen, den letzten. Allerdings spritzte sie nicht in die Arme. Nadja würde ausrasten, dachte Jule und lächelte traurig. Sie konnte eben nicht verstehen, dass es auch Leute gab, die das mit den Drogen echt im Griff hat ten. Maxi zeigte ihr ein paar andere Stellen am Körper, wo sie die Nadel ansetzen konnte.
Aber wie Maxi schon prophezeit hatte, es blieb nicht bei dem einen Schuss und in den nächsten Wochen und Monaten begann ein einziges Hin und Her aus Lügen und ständigem Drogenkonsum. Ein einziges Mal ging Jule zur Fahrstunde. Das nächste Mal stand sie nur zitternd vor der Tür. Sie zögerte. Einerseits wollte sie hinein, wollte den Führerschein machen, ein normales Leben leben, andererseits war da der Stoff. Sie machte kehrt und ging zu Maxi. Inzwischen drückte sie jeden Tag. Sie kaufte meist bei Maxi ein. Sie hatte immer Stoff, war ein richtiger Dealer. Die Kunden kamen zu ihr, genauso wie Jule. Manchmal traf sie andere Junkies, doch nie redeten sie ein Wort miteinander. Zum Drücken blieb sie immer seltener bei ihr. Maxi wollte das nicht mehr. Jule zog los und fand immer neue Plätze, an denen sie sich einen Schuss setzen konnte. Am Zoo hing meistens viel zu viel Polizei rum, aber es gab andere Plätze, Parks, abgelegene Hinterhöfe, Baustellen. Am ekelhaftesten waren die öffentlichen Toiletten, aber wenn es nicht anders ging, drückte sie da.
Nadja wurde misstrauisch, weil Jule immer schlechter aussah. Sie hatte Ringe unter den Augen und ein fahles Gesicht. „Du machst genauso weiter wie vorher, Jule. Dir ist bald nicht mehr
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zu helfen“, warf sie ihr immer und immer wieder vor. Jule war genervt von dieser Fürsorge und moralischem Zeigefinger. Sie schrie Nadja an, dass sie sie in Ruhe lassen sollte und schlief nach solchen Streits bei ihren Eltern. Dort hatte sie eine Weile ihre Ruhe. Doch kurz vor Weihnachten sprach ihre Mutter sie auch auf ihr schlechtes Aussehen und ihre Unausgeglichenheit an. Sie waren gerade dabei, in der Küche Plätzchen zu backen und Jule war überhaupt nicht auf eine solche Vermutung von ihrer Mutter vorbereitet. Sie lebte in dem festen Glauben, ihre Eltern würden nichts bemerken. Sie waren doch bis jetzt immer nur froh gewesen, wenn sie da war. „Es fällt mir nicht leicht“, sagte ihre Mutter mit angstvoller Stimme. „Aber ich habe den Verdacht, dass du Drogen nimmst.“ Sie fragte nicht, sie sprach es direkt aus. Seit Wochen trug sie diesen Verdacht mit sich herum. Sie kannte sich aus, sie hatte auf Fortbildungskursen über Gewalt unter Jugendlichen davon gehört und sich mit vielen Kollegen von höheren Schulen über dieses Problem unterhalten. Als Jule anfing, sich immer merkwürdiger zu verhalten, hatte sie sich erkundigt. Und gestern hatte sie dann in der Fahrstunde angerufen, um zu fragen, ob sie eine Rechnung für die abgehaltenen Stunden haben könnte. Doch man sagte ihr, dass Jule nur ein einziges Mal da gewesen war. Ihr Verdacht verhärtete sich, doch genauso wie sie Angst gehabt hatte, Jule wegen der Adoption die Wahrheit zu sagen, so hatte sie jetzt Angst, Jule auf die Drogen anzusprechen. Was sollte sie tun, wenn Jule wieder den Kontakt zu ihr abbrechen würde? Als sie ihren Verdacht geäußert hatte, rastete Jule vollkommen aus. Sie pfefferte den Teig, den sie in der Hand hatte auf das Backblech und schrie ihre Mutter an, sie solle sich um ihren eigenen Dreck kümmern. „Jule, ich kann dir helfen, wir besorgen dir einen Therapieplatz“, erklärte ihre
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Mutter und bemühte sich, ihrer Stimme einen ruhigen Tonfall zu geben. „Aber ich brauche keine Therapie! Was soll ich mit einer Therapie? Mit geht es gut!“ Jule kratzte sich den Teig von den Händen. Sie spürte, wie langsam die Panik in ihr hochkroch. Sie schaute ihre Mutter angstvoll an. Ingrid Neumann schüttelte den Kopf. „Ich will dir doch nur helfen!“, versuchte sie Jule zu beruhigen und legte ihren Arm vorsichtig um sie. „Ich will aber nicht, dass jemand mir hilft“, rief Jule und wurde von einem heftigen Schluchzen ergriffen. „Niemand kann mir helfen!“ Jule weinte lange und heftig. Ihre Mutter versuchte sie so gut wie möglich zu beruhigen. Sie brachte sie sogar in ihr Bett und blieb bei ihr, bis sie eingeschlafen war. Morgen würde sie sich um einen Therapieplatz kümmern, nahm sie sich vor.
Doch Jules Situation wurde nicht besser. Sie rutschte immer tiefer in den Kreislauf von Drogen und Lügen. Ihre Eltern strichen ihr das Taschengeld, damit sie sich keinen Stoff besorgen konnte und setzten alle möglichen Hebel in Bewegung, um einen Therapieplatz zu bekommen. Aber die Ärzte sagten ihnen immer wieder, dass Jule selbst für einen Entzug bereit sein müsste. Und das war sie nicht. Jules Denken kreiste nur noch darum, wie sie sich Drogen beschaffen könnte. Denn ohne das Geld ihrer Eltern war sie aufgeschmissen. Wie sollte sie den Stoff bei Maxi bezahlen? Sie versuchte sich etwas zu pumpen, doch da zog Maxi nicht mehr mit. Wozu hast du denn so eine reiche Freundin, war ihr einziger Kommentar zu der Situation. Aus lauter Verzweiflung fing Jule an, Nadja zu beklauen. Um Geld fragen, ging ja schlecht. Nadja hätte sofort Verdacht geschöpft. Zunächst nahm sie sich immer ein bisschen Bargeld, dann Klamotten,
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die Nadja nicht so oft trug oder Schmuck, der irgendwo ganz hinten in ihrer Schublade vergraben war. Durch Maxi hatte sie Kontakte zu Leuten, die alles zu Geld machen konnten. Manchmal nahm sogar Maxi selbst die Sachen in Zahlung. Irgendwann war Jule so ausgepumpt und fertig, dass sie sogar Nadjas Lieblings-Lederjacke verhökerte. Sie wusste, dass dieser Diebstahl bemerkt werden musste, aber ihr Kopf und ihr Gefühl waren wie zerfressen von den Drogen. Sie war unfähig zu denken, sie hatte nur den nächsten Druck im Kopf, – und die Lederjacke würde Geld bringen.
Als Jule in dieser Nacht nach Hause kam, erwartete Nadja sie in der Küche. Sie sagte kein Wort, saß einfach nur an der Küchentheke, in einem weißen Seidenschlafanzug und mit einem Glas Rotwein in der Hand. Jule kam sich schäbig vor in ihren Jeans und dem viel zu engen T-Shirt. Sie fixte nicht nur, sie sah auch immer mehr aus wie eine Fixerin: Dünn, blass und mit hohlen Augen. Sie senkte den Blick vor Nadja. „Hast du meine Lederjacke genommen?“, fragte Nadja nach einer Weile. Ihre Stimme klang gefährlich ruhig. Sie zitterte und schaute Jule aus schmalen Augenschlitzen an. Jule wollte etwas sagen, wollte alles abstreiten. Sie konnte es ja selber nicht fassen, dass sie ihre eigene Freundin belog und beklaute, doch sie bekam kein Wort heraus. Nadja stand auf und kam auf Jule zu. „Du warst auch an meinem Schmuck“, fuhr sie fort. „Ich habe meine ganze Wohnung auf den Kopf gestellt, um zu sehen, was alles fehlt.“ Sie atmete hörbar aus. Jule stand immer noch regungslos da und blickte zu Boden. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schössen. Nur nicht weinen, dachte sie. Nur nicht losheulen. Sie ballte ihre Fäuste und von einer plötzlichen Wut getrieben, zischte sie: „Du weißt ja
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nicht, wie das ist, wenn man Probleme hat. Du bekommst ja alles hinten reingesteckt. Papis liebstes Kind!“ Sie hatte kaum ausgesprochen, da knallte Nadja ihr eine. Jules Wange brannte von dem Schlag. Sie biss die Zähne zusammen und ging wortlos ins Schlafzimmer. Angezogen ließ sie sich auf das Bett fallen. Sie hatte kein Gefühl mehr, in ihrem Kopf dröhnte es, sie fühlte sich schwer an und fröstelte. Sie starrte an die Decke, versuchte nachzudenken, doch es gelang ihr nicht. Sie hatte kein Gefühl mehr dafür, was hier passierte und dass es ihr Leben war. Nach einer Weile kam Nadja ins Schlafzimmer. Sie setzte sich neben Jule auf das Bett und strich ihr sanft über den Rücken. Sie streichelte sie lange und zog ihr dann langsam das T-Shirt über den Kopf. Vorsichtig öffnete sie ihre Jeans. Sie schliefen miteinander, doch selbst das bekam Jule kaum mit. Erst als sie später in Nadjas Armen lag, löste sich die Verkrampfung zum ersten Mal und sie fing an zu weinen. Unter Tränen bat sie Nadja um Verzeihung, und sie versprach aufzuhören. „Diesmal endgültig, ehrlich!“ „Du hast es schon so oft versprochen, mir und deiner Mutter. Aber du hast immer wieder angefangen.“ Sie drückte Jule fest an sich. „Wir werden das härteste Programm durchziehen, das man machen kann: Du bleibst hier. Du kommst nicht raus, du wirst entziehen, und du wirst es schaffen.“ Sie schaukelte Jule wie ein kleines Kind hin und her. „Ich nehme mir Urlaub. Der körperliche Entzug dauert ein paar Wochen, dann ist das Gröbste überstanden“, erklärte Nadja. Sie hatte sich erkundigt. Und auch wenn sie genau wusste, dass mit dem körperlichen Entzug noch lange nicht jede Gefahr gebannt war, erschien ihr dieser Entzug wie eine rettende Insel. „Gemeinsam schaffen wir es“, sagte sie entschlossen. „Mit der Kraft der Liebe können wir Berge versetzen.“ Jule kuschelte sich in Nadjas Arm. Sie fühlte sich klein und hilflos. Sie würde alles tun,
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solange Nadja für sie da war. Sie würde aufhören mit dem Heroin, von vorne anfangen, wieder ein ganz normales Leben führen.
Der kalte Entzug war sowohl für Jule als auch für Nadja der pure Horror. Jule hatte das Gefühl, noch niemals in ihrem Leben solche körperlichen Schmerzen ertragen zu haben, und Nadja ertrug Tag für Tag Jules Weinen, ihr Erbrechen und ihr Zittern. Jule versuchte ein paar Mal aus der Wohnung zu kommen, um sich Stoff zu besorgen. Aber Nadja schloss die Tür immer ab und aus dem Fenster springen konnte Jule nicht. Es war einfach zu hoch. Als Nadja einmal vom Einkaufen kam, stand Jule schreiend am Fenster: „Lasst mich raus hier, ich werde gefangen gehalten. Die Schlampe hält mich hier fest.“ Doch Nadja wusste, dass sie nicht nachgeben durfte. Sie musste durchhalten, um Jules willen, – auch wenn ihr das alles manchmal selber wie eine Folter vorkam. Es waren Wochen wie in der Hölle. Nadja hatte das Gefühl, den Entzug auch mitzumachen. Sie hatte fünf Kilogramm abgenommen und sah schlecht aus. Jede Minute hatte sie sich um Jule gekümmert, nachts nicht richtig geschlafen, weil sie immer zur Stelle sein wollte, wenn Jule sie brauchte. Erst an Silvester war das Gröbste überstanden. Sie feierten mit Tee und trockenem Weißbrot, mehr vertrug Jule noch nicht. Als sie an einem Januarmorgen zum ersten Mal seit langem wieder aus dem Haus ging, fühlte sie sich noch ziemlich schwach auf den Beinen, aber sie war stolz und glücklich. Sie hatte es geschafft, sie hatte tatsächlich einen Entzug geschafft. „Danke!“, murmelte sie, als sie bei Nadja eingehakt über den Kuhdamm schlenderte. Sie hatte eine dicke Jacke an und eine Mütze tief ins Gesicht gezogen. Nadja sagte nichts, drückte Jule nur fest an sich.
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Ein paar Tage lang war Jule wie ausgewechselt. Sie stand morgens auf, kümmerte sich um die Einkäufe und die Wohnung. Nadja kam oft erst am Abend von der Uni, weil sie eine Menge nacharbeiten musste. Meistens hatte Jule dann schon gekocht. Später redeten sie oder guckten gemeinsam Fernsehen. An einem Nachmittag besuchte Jule sogar ihre Mutter, die gutgläubig ihre Bemühungen um einen Therapieplatz aufgegeben hatte, nachdem Nadja ihr mitgeteilt hatte, dass Jule clean sei. Sie setzten sich in die vertraute Küche und beobachtete ihre Mutter, wie sie den Kuchen aufschnitt und Schlagsahne zubereitete. Sie sah müde aus, ihr Gesicht war von dem Kummer der letzten Wochen gezeichnet. Jule trank ihren Kaffee und wartete, bis ihre Mutter sich zu ihr setzte. „Ich habe euch viele Sorgen gemacht, nicht wahr?“, fragte sie schuldbewusst. Ihre Mutter seufzte und strich Jule übers Gesicht. „Wenn es sich gelohnt hat und es dir jetzt wieder besser geht, dann ist es gut! Wir haben wahrscheinlich viele Fehler gemacht!“ Jule lächelte ihre Mutter an. Sie würde ihr gerne sagen, dass sie keine Fehler gemacht hatte, doch die Wahrheit über ihre Herkunft und das Rätsel um ihre wahre Mutter machten ihr immer noch zu schaffen. „Du hast wirklich keine Unterlagen mehr, mit denen ich mich auf die Suche nach meiner leiblichen Mutter machen könnte?“, wagte sie einen letzten Versuch. Doch ihre Mutter schüttelte den Kopf. Auch wenn es ihr jedes Mal in der Seele weh tat, ihre Tochter zu belügen, so erschien ihr das immer noch besser, als Jule zu sagen, dass ihre Mutter eine Prostituierte sei, die Leiterin eines Callgirl Rings. Jule zuckte die Schultern und versuchte tapfer zu lächeln. Sie konnte es nicht ändern, doch wieder einmal wurde ihr schmerzlich bewusst, wie sehr sie sich immer noch wünschte, ihre leibliche Mutter kennen zu lernen.
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Nach zwei Stunden brach sie wieder auf. Sie fuhr zum Kuhdamm um ein wenig zu bummeln. Allerdings würde es beim Schaufensterbummel bleiben, denn vorsichtshalber gaben weder ihre Eltern noch Nadja ihr viel Geld. Von Nadja bekam sie immer nur das Nötigste zum Einkaufen und ihre Mutter hatte ihr beim Gehen nur 30 Mark zugesteckt, weil Jule sie so sehr darum gebeten hatte. Aber mach keinen Unsinn damit, hatte sie gemahnt. Jule versprach es. Sie wollte wirklich nur ein Geschenk für Nadja kaufen! „Hey Jule“, hörte sie plötzlich hinter sich die Stimme von Maxi. „Ich habe schon gedacht, sie hätten dich eingelocht!“ Jule schluckte und drehte sich langsam um. Maxi sah aus wie immer. Ein bisschen fertig, blass und mit tiefen Rändern unter den Augen. Doch sie sah nicht wirklich aus wie ein Junkie, dachte Jule. Nicht so kaputt. Maxi legte den Arm um ihre Schultern. „Hey, was ist, kommst du mit zu mir? Unser Wiedersehen feiern?“, fragte sie und zwinkerte verschwörerisch. Jule erstarrte unter Maxis Berührung. Sie bekam eine Gänsehaut und blinzelte nervös mit den Augen. Sie hatte Angst vor dem Kontakt, vor Maxi, vor sich selbst. „Ich bin clean“, bemerkte sie mit rauer Stimme. Maxi wippte von einem Bein aufs andere, um sich aufzuwärmen. Bei Jules Worten zog sie spöttisch eine Augenbraue nach oben. „Aber rauchen tust du noch, oder?“ Sie hielt Jule die Packung mit den Zigaretten hin. Jule steckte sich eine an. Sie rauchte hektisch und fingerte mit einer Hand nervös an ihren Mantelknöpfen herum. Eigentlich wusste sie gar nicht mehr, was sie mit Maxi reden konnte. In den letzten Monaten hatten sich ihre Gespräche immer nur um den Stoff gedreht. Sie tauschten ein paar Belanglosigkeiten aus. Maxi fragte nicht, wie Jule es geschafft hatte, von den Drogen weg zu kommen. Im Gegenteil, es war fast so, als würde sie es ignorieren.
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„Wenn du was brauchst, komm vorbei“, sagte sie zum Abschied und verschwand winkend in Richtung Bahnhof. Jule schaute ihr eine ganze Weile hinterher. Sie stand regungslos in der Menschenmenge, unfähig einen Fuß vor den anderen zu setzten. Alles in Ordnung, Junge?, fragte irgendwann eine alte Dame. Jule zuckte zusammen und entschuldigte sich. Eilig ging sie weiter. Sie war schon fast an der S-Bahn-Station, als ihr einfiel, dass sie ja eigentlich wegen des Geschenks für Nadja hierher gekommen war. Sie machte kehrt und ging in die Spielwarenabteilung eines großen Kaufhauses. Nach einer Weile hatte sie gefunden, was sie suchte: Ein kleines Stoffbärchen, so eins wie Nadja es ihr zu ihrem achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Er soll dir Glück bringen und dich daran erinnern, dass ich in Gedanken immer bei dir bin!, hatte sie damals gesagt. Jule lächelte, als sie das Bärchen einpackte. Nun würde sie Nadja daran erinnern, dass sie zusammengehörten und wie Nadja gesagte hatte: Mit der Kraft der Liebe können wir Berge versetzen.
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Ein Bericht der Gerichts-Psychologin Frau Dr. Burger
Am Dienstag, den 18. April 1999 wurde die Drogenabhängige Jule Neumann nach einem Raubüberfall in Berlin Charlottenburg von zwei Beamten der Berliner Polizei verhaftet und in Untersuchungshaft genommen. Frau Jule Neumann nimmt seit ihrem 18. Lebensjahr Heroin. Nach eigenen Angaben versuchte sie mehrmals ohne Erfolg, von den Drogen loszukommen, das letzte Mal durch einen kalten Entzug, den sie mit Hilfe ihrer damaligen Freundin Frau Nadja Feldmann durchführte. Zu dem Zeitpunkt hatte sie bereits die Schule abgebrochen und wurde während der vergeblichen Suche nach ihrer leiblichen Mutter immer wieder in tiefe Depressionen getrieben. Am 21. März des Jahres 1999 besuchte sie ihre Freundin Maxi, eigentlich Frau Maxime von Esterberg. In ihrer Wohnung kaufte sie sich noch am selben Tag wieder Stoff und setzte sich einen Schuss. Wie viele Drogenabhängige in diesem Stadium lebte sie in dem festen Glauben, dass sie ihre Sucht im Griff hätte. Doch sie wurde rückfällig. Schon am nächsten Tag war sie wieder in besagter Wohnung von Frau Maxime von Esterberg und spritzte erneut Heroin. Von nun an drückte sie wieder täglich. Das Geld dafür klaute sie sich nach eigenen Angaben eine Zeit lang am Bahnhof zusammen. Am 31. März 1999 raubte Frau Jule Neumann die Wohnung ihrer damaligen Freundin Frau Nadja Feldmann aus. Laut Aussage der Angeklagten war es vorher zu einem heftigen Streit gekommen. Frau Jule Neumann litt zudem unter heftigen 186
Entzugserscheinungen. Sie klaute die Musikanlage, den Videorecorder, eine Graphik von Egon Schiele und einen Teil des Schmucks in einem Wert von 10.000 Mark. Als sie sich am nächsten Tag bei ihrer Freundin entschuldigen wollte, wurde sie von dieser vor die Türe gesetzt. Frau Nadja Feldmann sagte aus, dass sie zu ihrem eigenen Schutz neue Schlösser in die Wohnung einbauen ließ. Nach der Trennung lebte Frau Jule Neumann auf der Straße oder kam bei Leuten aus der Drogenszene unter. Nach Hause zu ihren Eltern traute sie sich offensichtlich nicht, obwohl sie wusste, dass Herr und Frau Neumann nach ihr suchen ließen. Am 18. April des Jahres 1999 war Frau Jule Neumann in der Innenstadt von Berlin unterwegs. Wie sie erzählte, war sie körperlich vollkommen am Ende und befand sich auf der Suche nach einem Schuss. Als sie an „Susi’s Lädchen“ vorbeikam, sah sie, wie die Besitzerin gerade dabei war, die Kasse zu machen. Die Besitzerin Frau Susanne Lehner wurde zum Tathergang verhört und gab an, Frau Jule Neumann mehrere Male in Begleitung von Frau Nadja Feldmann in ihrem Laden begrüßt zu haben. Als sie an jenem 18. April kurz vor Geschäftsschluss in die Boutique kam, bot sie ihr deswegen an, sich noch einen Augenblick umzugucken, ob wohl sie eigentlich schließen wollte. Danach erinnert sich Frau Susanne Lehner nur noch an einen harten Schlag. Sie verlor für längere Zeit das Bewusstsein. Nachdem Frau Jule Neumann die Besitzerin des Ladens niedergeschlagen hatte, bemächtigte sie sich nach eigenen Angaben des Geldes in der Kasse. Dann lief sie in Richtung Bahnhof Zoo davon, um sich Drogen zu besorgen. Wenige Stunden später wurde sie von der Polizei aufgegriffen und in Untersuchungshaft genommen. Hier ging sie mit einer Schere auf einen Wärter los und verletzte ihn schwer.
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Wie die zusammengetragenen Fakten zeigen, kann man bei Frau Jule Neumann nicht von einer einmaligen suchtbedingten Gewaltbereitschaft ausgehen. Ihr Verhalten ist eine Form von ausgeprägter Beschaffungskriminalität, die sich aus dem Drogenkonsum ergibt. Sie schreckt auch vor aggressiven Handlungen nicht zurück. Frau Jule Neumann ist eine intelligente junge Frau, aber psychisch labil. Persönliche Probleme haben sie in das Drogenmilieu gebracht und dort hat sie sich in erheblichem Maße strafbar gemacht.
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Nachtrag
Jules Eltern wurden über die Taten und die Inhaftierung ihrer Tochter informiert und Ingrid Neumann besuchte ihre Tochter in der U-Haft jeden Tag. Sie setzte sich dafür ein, dass sie die Möglichkeit bekam, einen Entzug durchzuführen. Im Anschluss an diesen zweiten kurzen Entzug wurde Jule Neumann in die Frauenhaftanstalt Reutlitz eingeliefert. Als Jule in den Polizeiwagen stieg, glaubte sie, dass auch das Gefängnis nicht schlimmer sein konnte, als der Drogensumpf, in dem sie das letzte Jahr gelebt hatte. Doch sie sollte sich täuschen! Denn in der Frauenhaftanstalt Reutlitz wurde sie von ihrer Mitgefangenen Mona Suttner wieder angefixt und zur Knasthure gemacht. Sie ahnte damals nicht, dass Mona ihre leibliche Mutter war. Die Frau, nach der sie seit ihrem achtzehnten Geburtstag so verzweifelt suchte.
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