Ellen Bos · Jürgen Dieringer (Hrsg.) Die Genese einer Union der 27
Ellen Bos · Jürgen Dieringer (Hrsg.)
Die Genese e...
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Ellen Bos · Jürgen Dieringer (Hrsg.) Die Genese einer Union der 27
Ellen Bos · Jürgen Dieringer (Hrsg.)
Die Genese einer Union der 27 Die Europäische Union nach der Osterweiterung
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15744-3
Inhaltsverzeichnis Jürgen Dieringer Einführung: Probleme der Integration und Herausforderungen für das neue Europa ............9
I. Grundlagen und theoretische Prämissen Martin Große Hüttmann Vom Elefanten, den blinden Männern und der EU-Osterweiterung: Neue Herausforderungen für die Integrationstheorien .........................................................17 Jürgen Dieringer, Kai-Sebastian Melzer und Micha Wirtz Die Europäische Union nach der Osterweiterung: zur politisch-kulturellen und institutionellen Entwicklung .................................................37 Ulrich Hufeld Der staatliche Souveränitätsvorbehalt in der EU: Polen als Paradigma ...............................55 Attila Ágh Completing EU membership in Central Europe: Lisbon Strategy and the qualitative catching-up process .....................................................83
II. Wirtschaft, Finanzen und Soziales Roland Sturm Wettbewerbspolitik: Die Fortschritte ihrer Europäisierung ...............................................113 Klaus Beckmann Tax competition strategies and Europe’s fiscal constitution ..............................................125 Uwe Puetter Regieren in der Eurozone und die wirtschaftspolitische Koordinierung in der erweiterten Union – die Bedeutung deliberativer Entscheidungsprozesse...................139 Zoltán Pogátsa Cohesion Policy After 2007 ...............................................................................................157 Zoltán Cséfalvay Regionalpolitik am Wendepunkt – Ungarn nach dem EU-Beitritt.....................................169 Johannes Kleis Perspektiven der europäischen Umweltpolitik nach der Osterweiterung ...........................193
Markus M. Müller Daseinsvorsorge und die EU: Anmerkungen zu einem alten Streit und jüngeren Entwicklungen ....................................205 Andrej Stuchlik Sozialpolitik in der erweiterten Europäischen Union.........................................................213 Petra Bendel Die EU-Migrationspolitik: Exportschlager oder Neuorientierung? ...................................227 Michaela Willert Was kann die Offene Methode der Koordinierung im Bereich Alterssicherung leisten? .....................................................................................................243
III. Außenbeziehungen Gisela Müller-Brandeck-Bocquet Die Europäische Außenpolitik: Genese, Entwicklungsstand und Perspektiven.................265 Margareta Mommsen Die Europäisch-Russischen Beziehungen – eine Europäische Perspektive .......................283 Galina Michaleva Die Europäische Union und die russländische Transformation eine russische Perspektive..................................................................................................299 Ellen Bos Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine ..............................317 Margarete Klein Die Beziehungen der EU zum Kaukasus: neue Dynamik ohne Strategie ..........................331 Antje Helmerich Der westliche Balkan vor den Toren der Europäischen Union ..........................................351
VI. Außen- und Europapolitik in neuen Mitgliedstaaen Dieter Bingen Polnische Europapolitik, polnische Nachbarschaftspolitik ................................................381 László J. Kiss Integration, Nation und Modernisierung – Ungarns Außenpolitik am Anfang des 21. Jahrhunderts ....................................................397
VORWORT Manches, was uns heute als Bürokratie erscheint, hat früher auf die Schlachtfelder Europas geführt Joschka Fischer
Die Genese der Union der 27 ist ein langer Prozess. Ein langer Prozess ist es ebenfalls, die ersten Erfahrungen mit der Integration von zwölf vorwiegend mittel- und osteuropäischen Staaten in die Europäische Union in wissenschaftliche brauchbare Form zu gießen. Dies war das Ziel der hier versammelten Forscher, als sie sich in Budapest im Rahmen der Andrássy-Europakonferenz zur Debatte über die Integration der Neuen in die alten Strukturen des Kontinents austauschten. Die Ergebnisse dieses Dialogs unterschiedlicher Disziplinen möchten wir hiermit der Öffentlichkeit vorstellen. Unser Dank geht an alle, die zur Genese dieses Bandes beitrugen. In erster Linie sind das die Autoren, die das Material ihrer Vorträge unter ständigem Drängeln und Nörgeln der Herausgeber in belastbare Texte transformierten. Ein herzliches Dankeschön geht an Melinda Tieger. Sie hielt den Kontakt mit den Autoren und behielt den Überblick über die zahlreichen Files, Karten, Tabellen und Druckfahnen. Martina Schlögel schulden wir Dank für die Erstredaktion der Texte und die Hilfe, die sie den Nicht-Muttersprachlern zuteil werden ließ. Viele fleißige Hände haben geholfen die Konferenz zu organisieren, den Rahmen zu gestalten und den Wissenschaftlern die Arbeit so leicht und angenehm wie möglich zu machen. Alle diejenigen, die hier nicht namentlich erwähnt werden können, sollen versichert sein, dass ihre Hilfe unschätzbar war. Die Integration neuer Mitglieder ist auch heute, drei Jahre nach dem Beitritt der ersten postsozialistischen Staaten bei weitem nicht abgeschlossen. Wir verstehen dies als Anreiz, die in diesem Band angerissene Befassung mit dem Integrationsprozess weiterzuführen. Die Zeit schafft neue Prozesse und Gegenstände, die jüngste und die künftigen Balkanerweiterungen neue Akteure. Spätestens fünf Jahre nach der Osterweiterung wird deshalb eine weitere Bilanz vonnöten sein. Budapest, im Mai 2007
Ellen Bos und Jürgen Dieringer
Einführung: Probleme der Integration und Herausforderungen für das neue Europa Einführung
Jürgen Dieringer
Die Osterweiterung der Europäischen Union (EU) war das dominierende politische Projekt der 1990er Jahre. Die Osterweiterung setzt einen Schlusspunkt hinter den Kalten Krieg; die Institutionalisierung eines Europa der 27 ist gleichzeitig die politische Wiedervereinigung des Kontinents. Damit wird nachvollzogen, was als unumgänglich längst gesellschaftlicher Konsens war: die grundsätzliche Offenheit der Union, festgeschrieben in Art. 49 EUV1 und damit ein gesamteuropäischer, nicht ein exklusiv westeuropäischer Handlungsauftrag an die politischen Akteure. Zugrunde liegt eine Wertegemeinschaft, die sich aus verschiedenen Quellen speist: der Antike mit der griechischen Demokratie und dem römischen Recht, der jüdisch-christlichen Tradition, der Aufklärung, nicht zuletzt der Erfahrung von Diktatur und hieraus resultierend der Betonung von Volksherrschaft, von Menschenrechten, Zivilgesellschaft, Recht- und Sozialstaatlichkeit. Die Osterweiterung des Jahres 2004 war nicht zuletzt Stabilitätsexport mit dem Ziel, eben diese Errungenschaften nach Osten zu transferieren. Es galt, die in den oft friedlichen Umbrüchen des Jahres 1989 erzielten Freiheitsrechte unumkehrbar und damit auch „den Westen“ zu einem sichereren Ort zu machen. Der Westen – so das fait accompli – liefert langfristig Sicherheit und mittelfristig materielle Unterstützung. Die Staaten Mittel- und Osteuropas erweitern der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, bilden einen geostrategischen Puffer nach Osten und Südosten und nicht zuletzt neue Märkte für die Expansion westeuropäischen Kapitals. In einem dergestalten Positivsummenspiel profitieren beide Seiten. Gegen diesen Grundgedanken ist nichts einzuwenden. Naiv ist allerdings die Vorstellung, dass sich die konkrete Umsetzung dieses Masterplanes ohne größere Verwerfungen verwirklichen lasse. Es gilt sich zu vergegenwärtigen: die erweiterte Union ist nicht immer deckungsgleich mit dem Projekt von Rom und Maastricht. Neue Mitglieder importieren neue Präferenz- und Wertordnungen. Die Ignoranz der politischen Elite, dies nicht zu konstatieren, führte direkt zur Feststellung des damaligen Ratspräsidenten Jean-Claude Juncker: „Wir stecken nicht in einer Krise, wir stecken in einer tiefen Krise“. Die Ursachen des Bonmots, das Scheitern der Verfassungsreferenda in Frankreich und den Niederlanden und die Schwierigkeit der Budgetierung, stehen stellvertretend für die Krise der Methodik und der inhaltlichen Bestimmung des Integrationsprozesses. Das Problem ist damit multipel: Einerseits liegen Schwierigkeiten in der psychischen Verfasstheit von Nationen, deren Werte- und Erwartungshaushalte nicht automatisch konform gehen mit denen der Altmitglieder und der europäischen Institutionen. Andererseits bestehen institutionelle Probleme, die sich seit Maastricht auftürmen, deren Lösung immer
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Art 49 EUV: [Beitritt zur Union] Jeder Europäische Staat, der die in Artikel 6 Absatz 1 genannten Grundsätze achtet, kann beantragen, Mitglied der Union zu werden (…).
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Jürgen Dieringer
wieder vertagt wurde und die nun drohen, den institutionellen Rahmen der Union zu sprengen. Das erste Kapitel des vorliegenden Bandes fokussiert das hier angesprochene Doppelproblem. Martin Große Hüttmann aktualisiert die Theoriebildung, indem er die Herausforderung der Erweiterung an die Integrationstheorien thematisiert. Bemängelt wird nicht nur ein fehlendes neues Paradigma, sondern auch die fehlende Durchdringung zentraler Theorien und Ansätze mit der Empirie der Osterweiterung. Ulrich Hufeld befasst sich mit einem der wichtigsten psychologischen Probleme der Erweiterungen und den footprints, die dies im politischen Prozess hinterlässt: staatliche Souveränität. Neumitglieder empfinden das Poolen von Souveränität oft als Einbahnstraße. Dem Souveränitätsverlust – oft im Bereich der low politics – wird nicht der Souveränitätsgewinn in high politics gegenübergestellt. Vielmehr reagieren vor allem national orientierte Akteure und Akteursgruppen angesichts der erst 1990 wieder gewonnenen staatlichen Souveränität mit Urängsten auf ein Fortschreiten des Integrationsprozesses. Dass nur die Verfassungsgerichte – auch und vor allem der neuen Staaten – hier einen austarierten Kompromiss zwischen nationaler Selbstbestimmung und Verfassungspatriotismus auf der einen Seite, und europäischer Verpflichtung auf der anderen Seite finden können, wird am polnischen Beispiel aufgezeigt. Der Beitrag von Dieringer/Melzer/Wirz befasst sich mit den Chancen für eine Weiterentwicklung des institutionellen Designs und beleuchtet den politischen Diskurs seit Mai 2004. Die Kopenhagener Kriterien von 1993 definierten klare Beitrittsbestimmungen für die Staaten Mittel- und Osteuropas. Dass die EU auch bereit sein müsse, die neuen Mitgliedstaaten aufzunehmen, wird im vierten Kriterium benannt. Wirklich Ernst genommen wurde es nie. Der Vertrag von Amsterdam schloss mit zahlreichen „left overs“ ab. Nizza war allenfalls eine „Ausdehnung“ der Regeln auf neue Mitglieder, keine Neujustierung hin zu einem inhaltlich-institutionellen Gesamtkonstrukt. Vergessen wurde, dass der permissive Konsens, der inhaltlicher Gestaltung zugrunde liegen muss, nicht mehr derselbe war wie 1957 oder zu Zeiten des Maastrichter Vertrages. Längst stehen sich „EUPhoriker“ und „EU-Skeptiker“ außerhalb und innerhalb der Institutionen gegenüber. Die Trennlinien verlaufen zwar nicht entlang des ehemaligen Zaunes, der „Ost“ von „West“ trennte. Gleichwohl wurden die Skeptiker gestärkt. Die Angst vor Souveränitätsverlust, mangelnde Sozialisierung in den Institutionen, stetige Regierungswechsel aufgrund instabiler Parteien und Parteiensysteme, eine starke gesellschaftliche Spaltung in Gewinner und Verlierer der Systemtransformation, machen es für politische Akteure in den neuen Mitgliedstaaten schwer, sich europapolitisch zu exponieren. Sie agieren eher defensiv, weil sie Schwierigkeiten haben, neue europäische Projekte im eigenen Land zu implementieren. Der Beitrag von Attila Ágh zum qualitativen Aufholen der Neumitglieder und zur Implementierung des Lissabon-Prozesses schlägt die Brücke von theoretischkonzeptionellen Beiträgen zu den Politikfeldern. Der „Querschnittsprozess“ mit hohen Ansprüchen und bisher geringen Erträgen steht stellvertretend für den „dead-lock“ des Integrationsprozesses. Während Konsens besteht über die Ziele, werden die Mittel und die Einzelschritte im politischen Prozess klein gerieben. Folge: Europa verliert gegenüber anderen Weltregionen an Boden. Der Budapester Politikwissenschaftler Ágh zeigt, dass im vorliegenden Fall nicht die Osterweiterung zum Problem führt, sondern dass die LissabonStrategie ohne verstärktes Engagement aller Staaten zum Scheitern verurteilt ist. Ein sich in großen Schritten vertiefendes Europa, föderale Ideen, Verfassunggebung scheinen gegenwärtig utopistisch. Da aber inhaltlicher Handlungsdruck vor dem Hinter-
Einführung
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grund stets wachsender gesellschaftlicher Dynamik nicht zu leugnen ist, wird die weitere Entwicklung der Union wohl maßgeblich – einem funktionalen Leitbild folgend – aus den Politikfeldern stammen müssen. Im zweiten Kapitel werden der Binnenmarkt und seine Politiken sowie die flankierende Sozialpolitik untersucht. Roland Sturm behandelt mit der Wettbewerbspolitik sozusagen das „Grundgesetz“ des Binnenmarktes. Der Integrationshebel, der die Beitrittsländer aufgrund der Konditionalität zum raschen Umbau der Wirtschaftsverfassung zwang, wurde oft derart ernst genommen, dass so manches Neumitglied eher zur wettbewerbspolitischen Avantgarde zu rechnen ist als Altmitglieder, bei denen sich – wider besseren Wissens – die Industriepolitik neuen Raum verschafft. Der Wirtschaftswissenschaftler Klaus Beckmann ergänzt die wettbewerbspolitische Grundlegung der Wirtschaftspolitik um die Finanzverfassung. Behandelt wird schwerpunktartig die aktuelle Debatte um Steuerwettbewerb, angeheizt durch die Einführung von „flat rates“, etwa in der Slowakei, mittlerweile in vielen Staaten praktiziert. Beckmann wendet sich vor allem gegen das populäre Argument, der Wettbewerb um (möglichst niedrige) „flat rates“ führe zu einem „race to the bottom“. Beckmann spricht vielmehr von der Unausweichlichkeit einer europäischen Steuersetzungskompetenz, die den nationalen Wettbewerb flankiert und abnehmende Steuerungskapazität der staatlichen Institutionen moderiert. Bei der Analyse weiterer Politikfelder stehen die primär regulative Umweltpolitik (Johannes Kleis), die redistributive Kohäsionspolitik (Zoltán Pogátsa) und deren Wirkung auf ein Neumitglied (Zoltán Cséfalvay), die Migrationspolitik (Petra Bendel), Sozialpolitik (Andrej Stuchlík) und allgemein die „Daseinsvorsorge“ (Markus M. Müller) im Zentrum des Interesses. Weitere Beiträge befassen sich mit Regieren in der erweiterten Union und thematisieren etwa deliberative Entscheidungsprozesse (Uwe Puetter) oder die offene Methode der Koordinierung (Michaela Willert), die am Beispiel der Eurozone (Puetter) bzw. der Alterssicherung (Willert) exemplifiziert werden. Das dritte Kapitel nimmt sich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) an. Außen- und Sicherheitspolitik sind gemeinsam mit der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit die sich am dynamischsten europäisierenden Politikfelder. Zahlreiche neue Aufgaben wurden angegangen: Einerseits Maßnahmen militärischen Charakters wie die Übernahme von Friedensmissionen (z.B. Mazedonien, Kongo), andererseits diplomatische Initiativen, ein starkes politisches Engagement im Kaukasus und im Nahostkonflikt. Das Engagement der Europäer in der GASP ist institutionell nicht unproblematisch. Außen- und Sicherheitspolitik sowie Inneres und Justiz kratzen an den Grundfesten des Begriffes staatlicher Souveränität. Die Sachlogik zur Vergemeinschaftung ist enorm, der politische Wille, den Kern der nationalen Staatlichkeit der Internationalisierung „auszusetzen“ nicht immer vorhanden. Dies zeigen Urteile zum und Konflikte um den europäischen Haftbefehl. Als „zweite Säule“ stark intergouvernemental organisiert, geht die Initiative in der GASP nicht nur von der Kommission, sondern auch und vor allem von den Mitgliedstaaten bzw. dem Rat aus. Dies ist eine Chance, weil hier auch solche Staaten die Initiative ergreifen – etwa das Vereinigte Königreich – die ansonsten bezüglich einer Vorreiterrolle oder europäischen Avantgarde abseits stehen. Der intergouvernementale Charakter der GASP ist aber auch eine Gefahr, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass an die Stelle einer europäischen Außenpolitik die der großen Mitgliedstaaten tritt. Die Verhandlungen Berlins, Paris und Londons mit dem Iran über dessen Atomprogramm sind solch ein Beispiel. Kleinere Staaten könnten das Gefühl bekommen, sie werden übergangen.
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Jürgen Dieringer
Eine „Gemeinsame“ Außenpolitik im Sinne der Verschränkung von Kommissionsexpertise und Ratsinitiative, so reibungsvoll sie wegen mangelnder Detailregelungen im institutionellen Gefüge sein mag, kann den Keim bilden für einen institutionellen Kern außenpolitischer Aktivität europäischer Akteure. Eine funktionale Verschmelzung von Rat und Kommission, von der Verfassung im „Doppelhut“ vorgesehen, kann sich so durch die Hintertür ergeben. Es kann durchaus davon ausgegangen werden, dass sich die GASP auch ohne Verfassungsvertrag weiter „europäisieren“ wird. Die institutionelle Form wird später der Funktion folgen. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet beschreibt in einem einführenden Beitrag zur GASP die Genese einer europäischen Außenpolitik. Sie betont trotz intergouvernementaler Schranken und bottlenecks das moderne Souveränitätsverständnis der Teilnehmer, angepasst an den Prozess der Internationalisierung der Politik. So kann zwar nicht über den Sui generis-Zustand der Union, noch weit entfernt vom Bundesstaat, hinausgegangen werden. Man kann aber einer Erwartungshaltung der Bevölkerung entgegenkommen, die (laut Eurobaromenter) – bei allem Euroskeptizismus – gerade in der Außen- und Verteidigungspolitik eine verstärkte Zusammenarbeit der Europäer wünscht und oft sogar dem Gedanken einer „europäischen Supermacht“ positiv gegenübersteht. Galina Mihaleva und Margareta Mommsen befassen sich mit europäisch-russischen Beziehungen – aus russischer und europäischer Sicht. Beide Autoren kritisieren den Stand der demokratischen Entwicklung in Russland und beschreiben die Annäherung der beiden als einen asymmetrischen Prozess, der zu oft nur durch einen Zerrspiegel betrachtet wurde. Befürchtet wird, dass nach anfänglicher Schwerpunktsetzung – Demokratieentwicklung auf der einen, Energieexport auf der anderen Seite – Interessenkongruenz über den Rekurs auf eher „realistisch“ angehauchte Sichtweisen vorherrschen wird und Russland angesichts anderer Gefahrenherde auch als autoritärer – aber stabiler – Partner akzeptiert wird. Da man gleichzeitig auf den Weltmärkten konkurriert, kann das Verhältnis zwischen der EU und Russland prägnant als „hybrid“ (Mommsen) bezeichnet werden. Weitere Nachbarstaaten und -regionen der EU stehen im Zentrum der Beiträge von Ellen Bos (Ukraine), Antje Helmerich (westlicher Balkan) und Margarethe Wiest (Kaukasus). Die Regionen unterscheiden sich in erster Linie durch ihre Chancen auf institutionelle Integration in die europäische Union. Für den Westbalkan ist dies eine mittelfristige Perspektive, für die Ukraine allenfalls eine langfristige, für den Kaukasus wohl eine Utopie. Aber selbst die Balkangruppe ist – wie Helmerich aufzeigt – so heterogen (Kroatien und Mazedonien sind Beitrittskandidaten, die anderen nicht), dass eine kohärente Politik gegenüber der Region, auch wenn man Kroatien außen vor lässt, vor zahlreichen Hindernissen steht. Common sense ist eigentlich nur, dass Beitrittskonditionalität wohl noch auf lange Zeit das einzige Mittel ist, den Demokratisierungsprozess abzusichern und zu vollenden. Ein zu früher Beitritt würde Europa ein wichtiges Instrument versagen, zudem die innere Funktionsfähigkeit der Union beeinträchtigen. Die Probleme in Ukraine liegen in der inneren Zerrissenheit der politischen Elite und der Bevölkerung begründet. Ein außenpolitischer Konsens bezüglich der Westorientierung auf NATO und EU ist nicht zu erkennen. Stattdessen bestehen starke Bande zu Russland. Die Außenpolitik ist deshalb janusköpfig. Im Kaukasus ist der russische Einfluss ebenfalls zu spüren, wie sich am jüngsten georgisch-russischen Konflikt um vermeintliche Spionage zeigt. Die Europäische Union ist hier in erster Linie als Vermittler gefragt, als Bereitsteller diplomatischer Initiativen und diplomatischen Know-hows.
Einführung
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In einem letzten Abschnitt analysieren Dieter Bingen und László J. Kiss die Außenund Europapolitik der zwei Neumitglieder Polen und Ungarn. Kiss weist insbesondere auf die Schwierigkeit Ungarns hin, als policy-maker an der Vergemeinschaftung der Außenpolitik teilzunehmen und zeigt auf die Probleme, die entstehen, wenn als reiner policy-taker der Souveränitätsbegriff zur zentralen Komponente außenpolitischen Selbstverständnisses wird. In eine ähnliche Kerbe schlägt Bingen. Gerade das polnische Beispiel zeigt, dass es einer Sozialisation in den europäischen Strukturen bedarf, damit das Land seinen Platz in der europäischen Staatengemeinschaft einnimmt und die adäquaten Mittel findet, die eigenen Politik in einem Prozess des Gebens und Nehmens nicht nur an vermeintlich „nationalen“ Interessen auszurichten.
I. Grundlagen und theoretische Prämissen
Vom Elefanten, den blinden Männern und der EUOsterweiterung: Neue Herausforderungen für die Integrationstheorien Neue Herausforderungen für die Integrationstheorien
Martin Große Hüttmann
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Einleitung
Die Geschichte von den blinden Männern und dem Elefanten ist in der EU-Forschung weithin bekannt.1 Sie wird gerne kolportiert, weil sie grundlegende Probleme der Integrationsforschung anschaulich beschreibt: „Several blind men approached an elephant and each touched the animal in an effort to discover what the beast looked like. Each blind man, however, touched a different part of the large animal, and each concluded that the elephant had the appearance of the part he had touched. Hence, the blind man who felt the animal’s trunk concluded that an elephant must be tall and slender, while the fellow who touched the beast’s ear concluded that an elephant must be oblong and flat. Others of course reached different conclusions. The total result was that no man arrived at a very accurate description of the elephant. Yet each man had gained enough evidence from his own experience to disbelieve his fellows and to maintain a lively debate about the nature of the beast“ (Puchala 1972: 267).
Diese Geschichte sollte Anfang der 1970er Jahre grundlegende Probleme aufzeigen, die entstehen, wenn nicht klar ist, was unter „Integration“ und „Europäischer Gemeinschaft“ als einer politischen Organisation sui generis zu verstehen ist. Diese ontologischen und epistemologischen Grundprobleme sind Jahrzehnte später, wie der anhaltende „theoretische Pluralismus“ in der EU-Forschung (Jupille 2006; Wessels 2005) zeigt, immer noch nicht geklärt, sie haben sich vielmehr verschärft: Der europäische Elefant ist nach der Osterweiterung noch schwieriger zu erfassen und zu analysieren (Miles 2004: 253). Da eine allgemeine politikwissenschaftliche Theorie der Erweiterung bislang nicht existiert (Schimmelfennig/Sedelmeier 2006: 97), soll im folgenden Beitrag untersucht werden, ob und inwiefern „klassische“ und „moderne“ integrationstheoretische Ansätze dazu beitragen können, von der Stufe des „pre-theorizing“ auf die nächst höhere Ebene der Theoriebildung und zu Theorien mittlerer Reichweite zu gelangen. Ich werde dabei argumentieren, dass die vorhandenen integrationstheoretischen Konzepte durch die Erweiterung eine methodologische Herausforderung erfahren und als Ausgangsbasis für die weitere Theoriebildung dienen können (vgl. Wiener/Diez 2004). Und darüber hinaus behaupte ich, dass durch die Erweiterung die Erklärungskraft und empirische wie theoretische Plausibilität der zentralen Prämissen und Begriffe der Integrationstheorien einen Lackmustest bestehen müssen. Allgemein eingeführte und akzeptierte integrationstheoretische „Meistererzählungen“ (master narratives) müssen sich angesichts der veränderten Bedingungen durch die zurückliegende Osterweiterung bewähren, da diese 1
Vgl. u.a. Bourne/Cini (2006: 9), Kohler-Koch/Conzelmann/Knodt (2004: 26) und Schumann (1996: 15-16).
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Martin Große Hüttmann
eine „Vielzahl von grundsätzlichen wie konkreten Fragen“ (Wessels 2005: 433) aufwirft. Ein solches Programm verspricht auch einen Beitrag zu leisten zu notwendigen Verallgemeinerungen und würde somit eine Vertiefung des Wissens über die europäische Integration insgesamt mit sich bringen (Jachtenfuchs 2002: 650). Dabei erscheint es offensichtlich, dass ein Zusammenhang besteht zwischen dem Stand der Integration zu einem bestimmten Zeitpunkt t, an dem eine neue Erweiterungsrunde ansteht und der am besten geeigneten Theorie zur Beschreibung und Erklärung des jeweiligen Erweiterungsprozesses. Die Erweiterungen um einzelne Staaten in den 1970er Jahren waren anders organisiert als die Aufnahme von zehn Staaten im Mai 2004. Während etwa die Aufnahme Großbritanniens zweimal am Widerstand des französischen Staatspräsidenten de Gaulle scheiterte und stark geprägt war durch intergouvernementale VetoPositionen, war die Erweiterungspolitik der Europäischen Union in den 1990er Jahren im Gegensatz dazu gekennzeichnet durch ein supranationales System der begleitenden Kontrolle bei der Umsetzung von Gemeinschaftsvorgaben („screening“). Bei der Osterweiterung waren es die zuständigen Stellen der Europäischen Kommission unter der Leitung von Günter Verheugen, die in diesem „Monitoring“ aufgrund des angesammelten Expertenwissens die Fäden fest in der Hand hielten (Interview EK-5, März 2006).2 Erweiterung definiere ich auf der Basis von Frank Schimmelfennig und Ulrich Sedelmeier (2002: 503) folgendermaßen: „as a process of gradual and formal horizontal institutionalization of organizational rules and norms“.3 „Institutionalisierung“ verstehen die Autoren dabei als „the process by which the actions and interactions of social actors come to be normatively patterned“ (ebd.). Die horizontale Institutionalisierung zielt im Unterschied zur vertikalen Form („Vertiefung“) darauf ab, die Normen und Werte der Organisation auf neue Mitglieder auszuweiten. Die von Schimmelfennig und Sedelmeier vorgeschlagene, breitere Definition von Erweiterung hat im Vergleich zu anderen, die darunter allein die Aufnahme neuer Mitglieder in die Gemeinschaft verstehen (vgl. Glenn 2003: 211), mehrere Vorteile: Zum einen wird deutlich, dass die Definition von „Erweiterung“ als gradueller Prozess sehr viel mehr umfasst als die förmliche Aufnahme, sondern schon lange vor offiziellen Erweiterungsbeziehungen ansetzt und alle Formen des „purposive alignment with EU rules by non-members“ (Schimmelfennig/Sedelmeier 2006: 98)4 einschließt; und zum anderen kann Erweiterung im Rahmen dieser Perspektive auch eng mit dem gesamten Integrationsprozess verknüpft werden – Erweiterung ist in diesem Sinne ein Teilprozess der europäischen Integration, wie sie in der berühmten Definition von Ernst Haas zum Ausdruck kommt: „Political integration is the process whereby political actors in several distinct national settings are persuaded to shift their loyalties, expectations and political activities toward a new centre, whose institutions possess or demand jurisdiction over the pre-existing national states“ (Haas 1968: 16).
Um meine Behauptung belegen zu können, dass die klassischen und moderneren Ansätze der EU-Forschung geeignet sind, auch die unterschiedlichen Dimensionen der Erweiterung 2
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Die Osterweiterung umfasst die Staaten, die im Mai 2004 in die EU aufgenommen worden sind: Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Tschechische und die Slowakische Republik, Slowenien, Ungarn, Malta und Zypern, sowie Bulgarien und Rumänien, die 2007 beigetreten sind. Hervorhebungen im Original. Hervorhebung im Original.
Neue Herausforderungen für die Integrationstheorien
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zu erfassen und zu erklären, gehe ich folgendermaßen vor: Im folgenden Kapitel werde ich kurz zeigen, dass die klassischen Konzepte der 1960er Jahre – aus nahe liegenden Gründen – das Thema „Erweiterung“ noch weitgehend ausblenden konnten. Im anschließenden Kapitel sollen die zentralen Merkmale der vergangenen Erweiterungsrunden herausgearbeitet werden, ehe dann in Kapitel 4 die Osterweiterung und ihre Vorgeschichte in den Blick genommen wird. Im fünften Kapitel werde ich kursorisch die verschiedenen Erklärungsansätze der jüngsten Erweiterung vergleichend darstellen und dabei deutlich machen, dass sich hier die in der Integrationsforschung bekannte Zweiteilung der Großtheorien Intergouvernementalismus und Supranationalismus (Faber 2005) wieder finden lässt. In einem abschließenden Kapitel sollen die Perspektiven der EU-Forschung angesichts der aktuellen Herausforderungen und neueren Entwicklungen diskutiert werden. 2
Klassische Integrationstheorien: wenig zum Thema Erweiterung
Die Ausdehnung der ursprünglich auf sechs Gründerstaaten beschränkten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) war zunächst eher ein Randthema in den Integrationstheorien.5 Ernst B. Haas, der „Papst“ der neofunktionalistischen Integrationstheorie, handelte das Thema Erweiterung in seiner wegweisenden Studie „The Uniting of Europe“ als einen „geographical spill-over“ (Haas 1968: 317) auf wenigen Seiten ab. Auch andere wichtige Integrationstheoretiker der ersten Stunde wie Karl W. Deutsch oder Philippe C. Schmitter konnten das Thema Erweiterung noch weitgehend ausblenden; Berthold Rittberger und Frank Schimmelfennig sprechen deshalb zu Recht von einem „Stiefkind der Integrationstheorie“ (Rittberger/Schimmelfennig 2005: 68). Damit erscheint – aus heutiger Sicht – dieses Thema als „blinder Fleck“ der klassischen Integrationstheorien. Da freilich diese Theorien bereits in den 1960er Jahren entwickelt worden waren, also lange vor der ersten Erweiterungsrunde, relativiert sich dieser Vorwurf (Miles 2004: 253; Schmitter 1996: 13), macht aber die Schließung der von mehreren Autoren angesprochenen Lücke heute um so dringlicher.6 Begreift man Theorien der internationalen Politik als ein „System beschreibender und erklärender Aussagen über Regelmäßigkeiten, Verhaltensmuster und Wandel des internationalen Systems und seiner Handlungseinheiten, Prozesse und Strukturen“ (Meyers 2004: 451; Holsti 1991: 160), dann wird deutlich, dass sich die Beschäftigung mit den Erweiterungsprozessen noch in einem frühen Stadium des „pre-theorizing“ befindet – von wenigen Ausnahmen abgesehen.7 Ein solches System von Aussagen und Zusammenhängen existiert wenige Jahre nach der im Mai 2004 erfolgten Osterweiterung noch nicht. Um den Nachholbedarf der aktuellen Forschungsagenda abschätzen zu können, sollen im Folgenden – auf der Basis allgemeiner Aufgaben von sozialwissenschaftlichen Theorien – beobachtbare Muster der bisherigen Erweiterungen der Gemeinschaft herausgearbeitet werden, um dann die neuen Herausforderungen, die sich im Umfeld und in der Folge der Osterweiterung ergeben, darstellen zu können.
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Vgl. dazu Giering (1997: 237) und Schimmelfennig/Sedelmeier (2006) mit entsprechenden Nachweisen. Vgl. auch Friis/Murphy (2000); Lippert (2004: 62); Wallace (2000) und Schimmelfennig/Sedelmeier (2002: 501). Vgl. dazu stellvertretend die Monographien von Friis (1997); Schimmelfennig (2003); Sedelmeier (2005) und Vachudova (2005).
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Martin Große Hüttmann
Zu den allgemeinen Aufgaben von Theorien gehören folgende Aspekte (vgl. Bieling/Lerch 2005a: 15-16 und Haftendorn 1975: 10): 1. 2.
3.
4.
Theorien haben eine Selektionsfunktion, das heißt, sie sollen aus dem breiten empirischen Datenmaterial die relevanten Daten und Fakten auswählen; Theorien besitzen eine Ordnungsfunktion, derzufolge sie die empirischen Beobachtungen strukturieren und ordnen sollen, um etwa Faktoren und Variablen gewichten und in ihrer Bedeutung unterscheiden zu können; Theorien haben schließlich vor allem auch eine Erklärungsfunktion, d.h. sie sollen mit Hilfe der beiden erst genannten Funktionen dazu beitragen, Zusammenhänge und Ursachen erkennen und darstellen, also erklären zu können; und Theorien besitzen zudem auch eine operative Funktion, derzufolge das theoretische Wissen in der politischen Praxis angewandt werden kann.8
Gemessen an diesen zentralen Funktionen von Theorien lassen sich auch die Integrationstheorien klar differenzieren. Die klassischen und auch die jüngeren Konzepte zur Analyse der europäischen Integration unterscheiden sich in der Auswahl der erklärenden Variablen, sie ordnen und strukturieren die empirischen Daten und leiten daraus unterschiedliche Erklärungen für die Entstehung und die Folgen von Integration ab.9 So sehen etwa Intergouvernementalisten wie Stanley Hoffmann und Andrew Moravcsik (Hoffmann 1966; Moravcsik 1998) im Mittelpunkt der Integration und als Motoren oder Bremser der europäischen Zusammenarbeit die Mitgliedstaaten und deren politischen und ökonomischen Interessen: „EU integration can best be understood as a series of rational choices made by national leaders. These choices respond to constrains and opportunities stemming from the economic interests of powerful domestic constituents, the relative power of each state in the international system, and the role of institutions in bolstering the credibility of interstate commitments (Moravcsik 1998: 18).
Im Gegensatz dazu stellen die Vertreter institutionalistischer Ansätze und die Protagonisten des „multi-level governance“-Konzeptes gerade diesen „Staatszentrismus“ in Frage (Marks 1993; vgl. den Überblick in Knodt/Große Hüttmann 2005). In dieser Perspektive haben die Staaten in der Europäischen Union – auch in wichtigen Politikbereichen – ihre Autonomie längst verloren; andere Akteure wie die Europäische Kommission oder auch die Regionen haben sich seit Mitte der 1990er Jahre zu eigenständigen politischen Akteuren im EUMehrebenensystem entwickelt und haben dadurch den Alleinvertretungsanspruch der Zentralregierungen relativiert:
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Daneben oder anstelle der „operativen Funktion“ von Theorien wird häufig auch noch die Prognosefunktion von Theorien genannt (vgl. etwa Giering 1997: 13). Aufgrund der prinzipiellen Probleme und Schwächen der Prognosefähigkeit von sozialwissenschaftlichen Theorien – eine Ausnahme bildet hier etwa die Inferenzstatistik – wird diese Funktion in unserem, primär an qualitativen Methoden orientierten Analysen, bewusst ausgeblendet; wenngleich Theorien auch in diesem Sinne häufig in einem prognostischen Sinne Verwendung finden, vor allem als Grundlage für Szenarien oder Situationsanalysen für politische Entscheidungsträger (Wessels 2005: 444). Einen fundierten Überblick über die Integrationstheorien geben Bieling/Lerch (2005); Giering (1997); Rosamond (2000) und Wiener/Diez (2004).
Neue Herausforderungen für die Integrationstheorien
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„(...) we are seeing the emergence of multilevel governance, a system of continuous negotiation among nested governments at several territorial tiers – supranational, national, regional, and local – as the result of a broad process of institutional creation and decision reallocation that has pulled some previously centralized functions of the state up to the supranational level and some down to the local/regional level“ (Marks 1993: 392).
Dieser immer wieder auflebende Streit zwischen intergouvernementalistischen und supranationalen Ansätzen bestimmt die integrationstheoretische Debatte seit den Anfängen der europäischen Integration (Faber 2005). Es kann jedoch als Beleg für die These vom „blinden Fleck“ der Integrationstheorien beim Thema „Erweiterung“ genommen werden, dass in dem hervorragenden Lehrbuch von Ben Rosamond (2000) die Begriffe „enlargement“ oder „accession“ im Index gar nicht eigens verzeichnet sind. Auch im renommierten Lexikon der Politik wird „Erweiterung“ nur im Zusammenhang mit dem Thema „Vertiefung“ diskutiert, aber nicht unabhängig als eigener Themenkomplex behandelt (Seidelmann 1996). Mit Ausnahme von einigen wenigen, breiter angelegten Einzelbeiträgen (z.B. Friis 1997) in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre erfuhr das Thema „Erweiterung“ erst mit dem Beginn des neuen Jahrzehnts und mit der politischen Konkretisierung des Mega-Projekts einen breiteren Niederschlag in der theoretischen Debatte.10 Im folgenden Kapitel sollen nun die zentralen Elemente der Erweiterungsrunden bis in die Mitte der 1990er Jahre erläutert werden, um einerseits die „Pfadabhängigkeit“ (Pierson 2004) der Gemeinschaftspolitik herauszuarbeiten und andererseits die Veränderungen dieser „klassischen Methode“ angesichts der Osterweiterung von 2004 zu verdeutlichen. 3
Herausforderungen und Reaktionen: Die Erweiterungspolitik der Gemeinschaft in der Vergangenheit
Die Erweiterungsrunden bis Mitte der 1990er Jahre folgten einer „klassischen Methode“ (Preston 1995), die durch fünf Prinzipien gekennzeichnet ist: (1) Die Kandidatenstaaten übernehmen den gemeinsamen Besitzstand (acquis communautaire) in vollem Umfang, es gibt keine dauerhaften Ausnahmeregelungen für die neuen Staaten; (2) die Verhandlungen konzentrieren sich auf die praktischen Fragen der Umsetzung auf der Basis von allgemeinen Regeln; (3) Probleme, die sich aufgrund der wachsenden ökonomischen Heterogenität ergeben, werden durch neue, zusätzliche Politikinstrumente gelöst, und nicht durch eine radikale Reform der unzureichenden Instrumente (ein Beispiel hierfür: Einführung des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung EFRE im Zuge des britischen Beitritts); (4) die Europäische Gemeinschaft nimmt die neuen Staaten auf der Grundlage des bestehenden Institutionensystems auf und verschiebt notwendige Strukturanpassungen auf später; und schließlich (5) die Gemeinschaft bevorzugt parallele Verhandlungen mit Gruppen von ‚ähnlichen‘ Staaten (vgl. Preston 1995). Ein Blick in die Geschichte der europäischen Integration und der Erweiterungsrunden zeigt, dass auch nach der EFTA-Erweiterung im Jahr 1995 sich viele Probleme und Lösungen wieder finden lassen und auch hier von einer „Pfadabhängigkeit“ (Pierson 2004) gesprochen werden kann. So war das Thema Erweiterung zum Beispiel auch in der Vergangenheit strittig – die Debatten in den europäischen Öffentlichkeiten um einen Beitritt der
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Vgl. dazu u.a. Lippert (2000; 2004a); Lykke/Murphy (2000); Miles (2004); Schimmelfennig (2003); Schimmelfennig/Sedelmeier (2002, 2006); Wallace (2000); weitere Nachweise bei Faber (2005: 266).
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Türkei zur EU bilden insofern keine Ausnahme (Giannakopoulos/Maras 2005).11 Die Türkei und auch Großbritannien hatten schon in den 1960er Jahren ihre Aufnahme in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft betrieben, sie wurden jedoch abgewiesen. Großbritannien, das aufgrund seiner Orientierung auf das Commonwealth zunächst kein Interesse an der europäischen Integration gezeigt hatte, scheiterte, als es sich unter der Regierung von Harold Macmillan umorientiert hatte, zweimal am Veto Frankreichs. Der französische Staatspräsident de Gaulle verhinderte 1963 und 1967 die Aufnahme des Vereinigten Königreichs in den Kreis der Sechsergemeinschaft. An diesem historischen Beispiel lässt sich auch zeigen, dass sich nicht nur die Interessen, sondern auch die Wahrnehmungen und ‚sozialen Konstruktionen’ der Realität der alten und neuen Mitgliedstaaten deutlich unterscheiden können. Macmillan begründete die britische Kehrtwende vor allem mit ökonomischen Interessen. Die Regierung in London ging Anfang der 1960er Jahre davon aus, dass sich die Gemeinschaft auch in Zukunft primär auf wirtschaftliche Fragen konzentrieren und den klassischen Bereich staatlicher Souveränität – „high politics“ – nicht antasten werde; der britische Regierungschef begründete seine Europapolitik vor dem Unterhaus entsprechend: „Als praktische Auswirkung des Strebens nach der Einheit Kontinentaleuropas entstand die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Ich bitte das Wort ‚Wirtschaft‘ zu beachten. Der Vertrag von Rom handelt nicht von Verteidigung oder Außenpolitik; er bezieht sich auf den Handel und auf einige der sozialen Aspekte menschlichen Zusammenlebens, die mit Handel und Produktion zusammenhängen“ (zitiert nach Brunn 2002: 366).
Dies erinnert an die Akzentuierung der ökonomischen, anstelle einer politischen Integration der EU, wie sie in vielen der neuen EU-Staaten auch Jahre nach der Aufnahme noch vorherrscht.12 Das Zitat macht aber auch deutlich, in welchem Kontext die erste Erweiterung noch diskutiert werden konnte – die Gemeinschaft war zum damaligen Zeitpunkt noch weit entfernt von der in den 1990er Jahren erreichten Integrationsdichte. Der französische Staatspräsident lehnte das Gesuch der britischen Regierung mit einem Argument ab, das aus sozialkonstruktivistischer Perspektive interessant ist und bei der Diskussion um einen Beitritt der Türkei zur EU wieder auftauchen sollte (vgl. Große Hüttmann 2005c): „Die Natur, die Struktur und die Konjunktur, die Großbritannien zu eigen sind, unterscheiden sich zutiefst von denen der kontinentalen Länder“ (zitiert nach Brunn 2002: 154). Erst mit dem Rücktritt de Gaulles wurde die Tür für Großbritannien geöffnet. Auf dem Europäischen Gipfel in Den Haag im Dezember 1969 beschloss die Gemeinschaft nicht nur, die Staaten, die an die Tür klopften, einzulassen. Die Staats- und Regierungschefs verständigten sich zudem auf eine Reihe von Reformschritten, um den, wie es der damalige Bundeskanzler Willy Brandt ausdrückte, „lähmenden Stillstand der europäischen Entwicklung zu überwinden“ (zitiert nach Mittag/Wessels 2004: 13). Der als „Reformgipfel“ in die Geschichte der europäischen Integration eingegangene Europäische Rat von Den Haag hatte in seinen Schlussfolgerungen einen für künftige Erweiterungen wichtigen Passus eingeführt; er erinnert von seiner Stoßrichtung her an die Kopenhagener Kriterien von 1993. Die Gemeinschaft verpflichtete die beitrittswilligen Staaten schon Ende der 1960er Jahre darauf, die bestehenden „Verträge und deren politische Zielsetzung, das seit 11 12
Vgl. zum Folgenden ausführlich Brunn (2002), Große Hüttmann (2005a), Nugent (2004) und Preston (1997). Vgl. etwa das Interview mit dem tschechischen Präsidenten Václav Klaus im „Spiegel“ (Nr. 11/2006), der die europäische Integration auf die „Beseitigung von verschiedenen Barrieren und Grenzen in Europa“ beschränken will.
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Vertragsbeginn eingetretene Folgerecht [also den acquis communautaire; Anm. MGH] und die hinsichtlich des Ausbaus getroffenen Optionen“ zu akzeptieren und aktiv zu unterstützen (zitiert nach Brunn 2002: 181). Auch ein anderes Muster der europäischen Erweiterungspolitik wurde mit dem Gipfel von Den Haag gelegt: Die Europäischen Räte spielen von nun an eine wichtige Rolle als „konstitutionelle Architekten und Leitliniengeber der Weiterentwicklung der Gemeinschaft“ (Mittag/Wessels 2004: 4). Nach der 1973 abgeschlossenen, so genannten „Norderweiterung“ um die Staaten Großbritannien, Dänemark und Irland – Norwegens Beitritt scheiterte am Widerstand seiner Bevölkerung – waren die 1980er Jahre von der „Süderweiterung“ um Griechenland (1981) bzw. Spanien und Portugal (1986) geprägt. Auch hier zeigen sich im Rückblick deutliche Parallelen zur Osterweiterung in den 1990er Jahren. In beiden Fällen ging es der Europäischen Gemeinschaft darum, mit der Aufnahme von ursprünglich autoritären, aber – im Falle von Spanien und Portugal – mehr oder weniger marktwirtschaftlich orientierten Staaten die politischen Reform- und Demokratisierungsprozesse zu unterstützen; die Aufnahme in die Gemeinschaft wurde damals schon als „Vehikel zur Stabilisierung“ (Glenn 2003: 212) der noch jungen Demokratien verstanden. Aus heutiger Sicht ist die Süderweiterung politisch gesehen als Erfolg zu verbuchen, denn in Spanien, Portugal und Griechenland ist die Demokratie längst, auch aufgrund der Einbindung in die europäischen Strukturen, tief verwurzelt (Brunn 2002: 250). Verändert hat sich jedoch bereits mit der Süderweiterung der „Charakter der Gemeinschaft“ (Beichelt 2004: 27). Die Aufnahme der drei Mittelmeeranrainerstaaten erhöhte die sozio-ökonomische Heterogenität innerhalb der Gemeinschaft, sie führte zu einem erheblichen Anpassungsdruck auf das System der Finanztransfers und brachte eine deutliche Ausweitung des EG-Haushalts. Im Vergleich dazu gestaltete sich Mitte der 1990er Jahre die so genannte „EFTAErweiterung“ um die Staaten Finnland, Schweden und Österreich – der Beitritt Norwegens scheiterte ein zweites Mal am Widerstand der Bevölkerung – aufgrund der ökonomischen Stärke dieser Staaten als „überwiegend reibungsfreie Eingliederung“ (Beichelt 2004: 28); und dies, obwohl die EU mit dem Vertrag von Maastricht (1993) und der Wirtschafts- und Währungsunion eine Integrationsdichte erreicht hatte, die weit über den bisherigen Stand hinausging. Auch die internationalen Rahmenbedingungen hatten sich zu Beginn der 1990er Jahre grundlegend gewandelt. Die sicherheitspolitische Neutralität der Staaten hatte angesichts des Endes des Ost-West-Konflikts ihre historische Bedeutung verloren. Ein zentrales Motiv der Beitrittsgesuche Österreichs, Schwedens und Finnlands sowie Norwegens war darüber hinaus, die „Regeln des Spiels“ als Mitglieder des Clubs künftig selber mitbestimmen zu können (Glenn 2003: 214). Denn alle vier EFTA-Staaten waren schon vor ihrem Beitritt zur EU von der europäischen Rechtsetzung unmittelbar betroffen, sie mussten die zahlreichen Richtlinien der Gemeinschaft in nationales Recht umsetzen, um von den Segnungen des Binnenmarktes profitieren zu können. Sie hatten jedoch als „Outsider“ keine Möglichkeit, auf die Rechtsetzung der Gemeinschaft unmittelbar Einfluss zu nehmen und ihre Interessen einzubringen. Das Anwachsen der ursprünglichen Sechsergemeinschaft auf eine Union mit nunmehr 15 Mitgliedern brachte die institutionelle Reform der EU mit Macht auf die Tagesordnung. Eine Gemeinschaft der Größe „XXL“ (Maurer 2000: 35) würde andernfalls, so die allgemeine Überzeugung, schnell die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit erreichen. Diese „Interdependenz von Vertiefung und Erweiterung“ (Wagner 2004: 73) prägte die europapoliti-
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sche Debatte in den folgenden Jahren und stellte die Europäische Union vor eine „doppelte Reifeprüfung“ (Lippert 2000; vgl. auch Große Hüttmann 2006; Jopp/Matl 2004). Mit der in den 1990er Jahren durch das Ende des Kalten Krieges möglich gewordenen „Rückkehr nach Europa“ der ehemaligen „Ostblockstaaten“ stieß die klassische Methode der Erweiterungspolitik jedoch an ihre Grenzen (Preston 1995): Die große Zahl der Beitrittsaspiranten und die ökonomische Schwäche und politische Instabilität der Staaten aus Mittel- und Osteuropa sowie die unterschiedlichen und zum Teil gegenläufigen Interessen der alten Mitgliedstaaten stellten die EU vor völlig neue Herausforderungen; darauf musste Brüssel entsprechend mit einer neuen Politik reagieren. Die neue „Erweiterungspolitik“, die die Europäische Union in den 1990er Jahren schrittweise entwickelte und in einem Prozess des trial and error anpasste, kann am besten als „zusammengesetzte Politik“ (Sedelmeier 2005a: 402) verstanden werden, sie soll im Folgenden analysiert werden. 4
Die Osterweiterungspolitik der EU: Instrumente und Ziele im Überblick
Ein zentrales Element dieser neuen Erweiterungspolitik ist die größere Zahl von politisch relevanten Akteuren und „advocacy coalitions“ (Sabatier 1998), die die Erweiterung vorangetrieben und umgesetzt haben. Nicht nur die europäischen Staats- und Regierungschefs als „konstitutionelle Architekten“ (Mittag/Wessels 2004: 4) geraten in den analytischen Blick, sondern ganz besonders die Europäische Kommission, vor allem der für die Erweiterung zuständige Kommissar Günter Verheugen und seine Generaldirektion; daneben sind auch einzelne Abgeordnete des Europäischen Parlaments, die mit diesen Fragen befassten Beamten aus den Außenministerien verschiedener Mitgliedstaaten zu nennen; zusätzlich die Verhandlungsteams der MOE-Staaten. Vor allem die Rolle der Kommission als „policy broker“ ist hier hervorzuheben (Sedelmeier 2005a: 406). Darüber hinaus spielte der institutionelle Kontext und die sich daraus ergebenden Opportunitätsstrukturen, die den Rahmen für das Handeln der politischen Akteure spannten, eine wichtige Rolle: „Institutions matter – in the sense that they regulate how bargaining is actually carried out in practice“ (Friis 1997: 73). Der Europäische Rat in Kopenhagen im Juni 1993 markierte, nachdem die EU schon im Vorfeld finanzielle Programme wie PHARE aufgelegt hatte, den eigentlichen Startpunkt der Osterweiterung. Auf diesem Gipfel erklärten die europäischen Staats- und Regierungschefs ihre prinzipielle Bereitschaft, die Staaten aus Ostmittel- und Südosteuropa in die EU aufzunehmen. Dieser wichtige Schritt war die Fortführung der schon 1991 mit den Visegrád-Staaten Polen, Tschechoslowakei und Ungarn beschlossenen „Europaabkommen“. In Kopenhagen wurden dann auch die nach dem Gipfelort benannten Kriterien zur Aufnahme in die Gemeinschaft beschlossen: Nur wenn die Beitrittskandidaten nachweisbar eine stabile und demokratische Ordnung besitzen, den Umbau von der Staats- in eine liberale Marktwirtschaft geschafft haben, die Bereitschaft zur Übernahme des „acquis communautaire“ sowie die Unterstützung der im Vertrag von Maastricht festgeschriebenen weitergehenden Ziele bekunden und – nicht zu vergessen – wenn die Europäische Union selbst ihre eigene Aufnahmefähigkeit durch institutionelle Reformen sichergestellt hat, ist eine Erweiterung und die Aufnahme neuer Staaten möglich (Council of the European Communities 1993). Die mit den „Kopenhagener Kriterien“ festgeschriebene Konditionalität, die die EU und die Beitrittskandidaten gleichermaßen bindet, ermöglichte es, auch das Lager der skeptischen EU-Staaten zu überzeugen. Es war zudem der Versuch, die einsetzende „Dy-
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namik politisch kontrollierbar zu halten“ (Kohler-Koch/Conzelmann/Knodt 2004: 306) und den Prozess der Erweiterung auf eine rationale und objektivierbare Basis zu stellen. Ein „Politischer Dialog“ und die auf dem Gipfel in Essen im Dezember 1994 beschlossene „Heranführungsstrategie“ sowie eigens geschaffene ISPA- und SAPARD-Programme13 zur finanziellen und politischen Unterstützung des Transformationsprozesses in den MOEStaaten trugen wesentlich dazu bei, die Kandidatenstaaten und ihre Verwaltungen ‚fit‘ zu machen für die Aufnahme in die Europäische Union (Lippert/Umbach 2004). Spätestens mit dem Auftrag der deutschen Ratspräsidentschaft an die Kommission, bis Ende 1994 ein Weißbuch zur Erweiterung vorzulegen, war auch die zentrale Rolle der Brüsseler Behörde als Sachwalterin festgeschrieben und mit der vom Rat aufgegriffenen „Heranführungsstrategie“ eine Abkehr von der bisherigen Erweiterungsmethode offensichtlich geworden (Preston 1995: 458). Auf der Grundlage der Kommissions-Stellungnahmen beschloss der Europäische Rat in Luxemburg Ende 1997, mit zunächst fünf Staaten Verhandlungen über einen Beitritt aufzunehmen. Im März 1998 begannen die Gespräche mit Estland, Polen, Slowenien, der Tschechischen Republik und Ungarn („Luxemburg-Gruppe“); als sechster Staat kam dann noch Zypern dazu. Die anderen Staaten, die ebenfalls Beitrittsanträge gestellt hatten, mussten sich noch gedulden, da sie entweder politisch, wie die Slowakische Republik unter der Regierung Meciar, oder wirtschaftlich, wie Bulgarien und Rumänien, als nicht reif angesehen wurden und damit die Kopenhagener Kriterien nicht erfüllten. Unter dem Eindruck des im Frühjahr 1999 ausgebrochenen Kosovokrieges und der damit verbundenen neuen sicherheitspolitischen Lage in Europa unternahm die EU jedoch unter dem maßgeblichen Einsatz der Europäischen Kommission als political entrepreneur einen radikalen Kurswechsel. Dies führte zu dem vom deutschen Außenminister Fischer initiierten „Stabilitätspakt für Südosteuropa“ für die Staaten des westlichen Balkan und schließlich dazu, dass im Dezember 1999 auf dem Europäischen Rat in Helsinki beschlossen wurde, mit weiteren sechs, vor kurzem noch als unreif angesehenen Bewerberstaaten (Bulgarien, Lettland, Litauen, Malta, Rumänien und Slowakei) Verhandlungen aufzunehmen sowie auch der Türkei den offiziellen Bewerberstatus einzuräumen. Dieser „Strategiewechsel von Helsinki“ (Wagner 2004: 82) veränderte jedoch nicht nur die zentralen Prämissen der Erweiterungspolitik, sondern stärkte auch die Europäische Kommission als Akteur auf diesem Feld. Dadurch veränderte sich auch die Form der Erweiterungspolitik: Die Kommission verfolgte einen bürokratischen und technischen, also vermeintlich unpolitischen Problemlösungsansatz in den Verhandlungen mit den Kandidatenstaaten: „Aus der großen Frage des Ob und Wozu der Erweiterung wurde im Institutionendreieck der EU eine emsige Beschäftigung mit der Schrittfolge, den Problemdetails und nicht zuletzt dem Beitrittsdatum“ (Lippert 2004a: 27). Diese in Helsinki eingeleitete Strategie des „big bang“ machte die Erweiterung endgültig zum integrationspolitischen Mega-Projekt der EU. Durch diesen Paradigmenwechsel rückte auch die institutionelle Reform der Europäischen Union und die Frage, ob sie denn selbst ‚fit‘ sei für die Aufnahme neuer Staaten, in den Mittelpunkt (Große Hüttmann 2006; Maurer 2000). Der deutsche Außenminister Joschka Fischer brachte im Mai 2000 mit seiner „Föderations-Rede“ diese Debatte um die Finalität und eine Verfassung für die größer werdende EU auf die Tagesordnung; es folgten weitere Vorschläge von europäischen Spit13
SAPARD steht für „Special Accession Programme for Agricultural and Rural Development“ und ISPA für „Instrument for Structural Policies for Pre-Accession“.
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zenpolitikern, der als suboptimal angesehene Vertrag von Nizza (2000) und schließlich der mit einem umfassenden Mandat versehene Verfassungskonvent und die anschließenden Regierungskonferenzen, die diesen europäischen „Ideenwettbewerb“ prägten.14 Neu an dieser Verfassungsdebatte war, dass die künftigen Mitgliedstaaten bei den Verhandlungen im Rahmen der Regierungskonferenz und auch im Verfassungskonvent direkt beteiligt waren – auch dies ein Teil der politischen Heranführungsstrategie der EU und ihre Politik der „Sozialisierung“ der künftigen Mitglieder (Maurer 2004). Im Dezember 2002 war es erneut eine dänische Ratspräsidentschaft, die einen EUGipfel zu leiten hatte, der als Erweiterungsgipfel in die Geschichte eingehen sollte. Neun Jahre nach dem ersten Kopenhagener Gipfel, auf dem die Erweiterung grundsätzlich beschlossen wurde, war es der zweite Rat von Kopenhagen, der mit der Aufnahme von zehn Staaten zum 1. Mai 2004 – das Datum hatte die Kommission mit Blick auf die EuropaWahlen im Juni ins Gespräch gebracht – den historisch einmaligen Erweiterungsprozess mit einem konkreten Zieldatum versehen hatte. Aus der Sicht vieler Beitrittsstaaten war dieses Datum viel zu spät angesetzt, aber nachdem das Europäische Parlament im April 2003 den Beitritten zugestimmt hatte, konnten die Beitrittsverträge schließlich unterzeichnet und in den alten wie den neuen Mitgliedstaaten – mit Ausnahme Zyperns auch im Rahmen von Referenden – ratifiziert werden (vgl. Große Hüttmann 2005a: 29-31 und Szcerbiak/Taggart 2004). 5
Die Osterweiterung der EU und die Perspektiven danach: Erklärungsansätze im Vergleich
Die Erweiterung der EU um zehn neue Staaten ist Anlass und Gelegenheit, die zentralen Prämissen der Integrationstheorien auf den Prüfstand zu stellen. Wenn Erweiterung verstanden wird als eine spezifische Form von „Institutionalisierung“ und „Integration“, können die einschlägigen Theorien und Ansätze zumindest Anhaltspunkte für theoretisch wie empirisch plausible Erklärungen geben. Die drei zentralen Fragenkomplexe in Bezug auf die (Ost-)Erweiterung lauten (vgl. dazu u.a. Schimmelfennig/Sedelmeier 2006): 1. 2. 3. 4. 5. 6.
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Wann und warum kommt es zur Erweiterung der Gemeinschaft um neue Staaten bzw. zu alternativen Methoden der Kooperation und Einbindung? Wann und warum streben europäische Staaten eine Mitgliedschaft in der Gemeinschaft an bzw. lehnen dies ab? Wann und warum unterstützen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft die Aufnahme von neuen Staaten bzw. verwerfen diese? Wie und von welchen Akteuren wird der Erweiterungsprozess auf Seiten der Gemeinschaft einerseits und in den Kandidatenstaaten andererseits vorbereitet und umgesetzt? Was sind die Folgen der Erweiterung für die EU einerseits und die alten Mitgliedstaaten andererseits? Wie verlaufen Europäisierungsprozesse in den neuen Mitgliedstaaten?
Zur Verfassungsdebatte in der EU vgl. u.a. Beckmann/Dieringer/Hufeld (2005); Fischer (2005); Große Hüttmann (2005b, 2006) und Jopp/Matl (2005).
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Im Folgenden soll kursorisch die Erklärungskraft von ausgewählten Theorien und Konzepten diskutiert werden. Grob lassen sich drei Erklärungsperspektiven unterscheiden: rationalistische Erklärungen, etwa im Rahmen des Liberalen Intergouvernementalismus, und konstruktivistische Erklärungsansätze, wie sie etwa von Frank Schimmelfennig verfolgt werden (Schimmelfennig 2003).15 5.1 Erklärung der Ost-Erweiterung: Interessen oder Ideen als Variablen Schon die erste Erweiterung, die Aufnahme Großbritanniens, Irlands und Dänemarks in die EWG, lässt sich nach Moravcsik (1998: 164-220) mit Hilfe der unterschiedlichen ökonomischen und politischen Interessen, die zunächst nicht auf einen Nenner zu bringen waren, erklären: Auf der einen Seite stand das britische Interesse an einer liberalen und international ausgerichteten europäischen Agrarpolitik. Denn die britische Landwirtschaft ist für die Eigenversorgung nicht groß genug und deshalb auf billige Importe aus dem Commonwealth angewiesen. Auf der anderen Seite stand Frankreich mit einem eigenen, sehr großen, exportorientierten und politisch sehr einflussreichen Agrarsektor, weshalb Paris an einer protektionistischen Hochpreispolitik interessiert war. Erst als die Agrarpolitik der Gemeinschaft und die unterschiedlichen Marktordnungen Ende der 1960er Jahre etabliert waren, entfiel aus französischer Sicht, so das Argument Moravcsiks, ein wesentlicher Grund für das Veto (Rittberger/Schimmelfennig 2005: 69). Auch die EFTA-Erweiterung von 1995 wirft Fragen auf; vor allem die Frage, weshalb manche EFTA-Mitglieder wie Großbritannien schon in den 1960er Jahren, manche dagegen erst später (Österreich, Schweden, Norwegen und Finnland) und wiederum andere, wie etwa die Schweiz, keine oder nur zaghafte Versuche unternommen haben, in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Walter Mattli (1999) und andere Autoren operieren mit ökonomischen Erklärungsfaktoren und stellen einen Zusammenhang her zwischen der wirtschaftlichen Abhängigkeit von der Gemeinschaft und der besonderen ökonomischen Struktur der EFTA-Staaten, die einen Beitritt – eine breite innenpolitische Unterstützung immer vorausgesetzt – erst möglich machen. Aus dieser Sicht bildet der Schweizer Sonderweg der bilateralen Verträge, wie Rittberger und Schimmelfennig zu Recht argumentieren, einen besonders interessanten Fall: „Angesichts der kapitalintensiven, exportorientierten Schweizer Industrie bleibt (...) der Schweizer Nichtbeitritt auch aus dieser Perspektive rätselhaft“ (Rittberger/Schimmelfennig 2005: 70).16 Aus der Sicht des Liberalen Intergouvernementalismus erklärt sich die Osterweiterung also aus den nationalen Präferenzen der alten Mitgliedstaaten und der Beitrittsaspiranten und vor allem aus den nationalen Interessen und den Präferenzen gesellschaftlicher, das heißt hier vor allem auch der wirtschaftlichen Akteure (Moravcsik/Vachudova 2003). Die Erweiterung wird unter diesen Prämissen als das Ergebnis von intergouvernementalen Verhandlungen gesehen, an dessen Ende sich die ‚großen‘ und ‚mächtigen‘ Staaten der EU auf einen „Handel“ verständigen. Die Erweiterung ist ein Mittel, die „neuen wirtschaftlichen und sozialen Interdependenzen vom Handel bis hin zur Migration besser zu managen“ (Lippert 2004a: 19). Da den Regierungen der Mitgliedstaaten ein rationales Verhalten unterstellt wird und sie, so die Prämisse Moravcsiks (1998), nur die aus ihrer Sicht günstigen 15
16
Vgl. zum Folgenden Rittberger/Schimmelfennig (2005: 67-80) und die Einzelbeiträge in Wiener/Diez (2004), die die Erklärungskraft der jeweiligen Integrationstheorien anhand der Osterweiterung diskutieren. Zu den besonderen Beziehungen der Schweiz zur EU vgl. Schwok/Bloetzer (2005).
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Ergebnisse akzeptieren, bleibt ungeklärt, weshalb auch diejenigen Mitgliedstaaten der EU, wie etwa Portugal, Spanien oder Griechenland, die ökonomisch und politisch durch die Aufnahme neuer Staaten verlieren, sich dieser Erweiterung nicht offensiver, als dies zu beobachten war, in den Weg gestellt haben (vgl. Lippert 2004a: 19). Da die Beschlüsse im Rat einstimmig gefasst werden mussten, hatte jeder EU-Staat – zumindest theoretisch – eine Veto-Position inne. Ein Vorteil des Liberalen Intergouvernementalismus liegt jedoch sicher in seiner klaren Analyse und Erklärung der Präferenzbildung – das gilt für die alten wie auch besonders für die neuen Mitgliedstaaten (Moravcsik/Vachudova 2003). Der Neo-Funktionalismus, dem von den eigenen Protagonisten bescheinigt wird, dass er keinen Beitrag zur Erklärung der Erweiterung leisten könne (Schmitter 2004), sieht im Prozess der Ausdehnung eine Form des territorialen „spill over“ (Haas 1968: 317). Zwei zentrale Prämissen des Konzeptes könnten jedoch für weitere Analysen fruchtbar gemacht werden: zum einen die Betonung des „unpolitischen“ Erweiterungsansatzes der Kommission und ihre Rolle als „Motor“ der Erweiterung und zum anderen die Institutionalisierung und Verregelung der Erweiterungspolitik, die, zumindest in der Zeit nach 1999, eine „Art Automatismus“ nahe legte (Lippert 2004a: 19; vgl. auch Miles 2004: 255). Eine andere Perspektive nehmen Ansätze ein, die die Erweiterung nicht als das Ergebnis von „grand bargains“ (Moravcsik 1998) verstehen, sondern Ideen und Werten eine zentrale Rolle zuschreiben. Die Osterweiterung wird in dieser konstruktivistischen Perspektive nicht nur als ökonomisches oder strategisches Projekt verstanden, sondern als ein genuin politisches, auf gemeinsame Werte und Normen gegründetes Vorhaben. Durch die ständige Rede von der „Rückkehr nach Europa“ und dem „Gemeinsamen Haus Europa“ haben sich, so die Argumentation von Frank Schimmelfennig (2003; 2006), die alten wie die potentiellen Mitgliedstaaten in eine Form von Selbstverpflichtung gebracht, aus der sie, auch die skeptischen Mitgliedstaaten wie Spanien und Frankreich, nicht mehr entkommen konnten. Damit kann der Wandel von der Assoziations- zur Erweiterungspolitik mit Beitrittsperspektive besser erklärt werden als dies der Liberale Intergouvernementalismus vermag. Denn die nationalen Interessen und Präferenzen haben sich nicht geändert; aber offensichtlich haben das „rhetorische Handeln“ (Schimmelfennig 2003) der Beitrittsbefürworter und der strategische Einsatz von Argumenten ihre Wirkung gezeigt; auf Seiten der alten Mitgliedstaaten gehörten vor allem Deutschland und Österreich zu dieser „advocacy coalition“. Daraus ergab sich eine neue Situation: „Ursprünglich ‚billige‘ rhetorische Selbstverpflichtungen“ haben es „einer kleinen Gruppe interessierter Mitgliedsregierungen zusammen mit den supranationalen Organisationen (vor allem mit der Kommission, in geringerem Maße auch mit dem Parlament)“ ermöglicht, einen „hinreichend moralischen Druck aufzubauen, um eine von der mächtigeren und größeren Gruppe der Regierungen abgelehnte Politik durchzusetzen und abzusichern“ (Rittberger/Schimmelfennig 2005: 77).17 Wägt man die beiden Ansätze und ihre jeweilige Plausibilität für eine Erklärung der Erweiterung als Ganzes gegeneinander ab, dann kann man Friis (1997) und Schimmelfennig (2006) zustimmen, wenn sie die im Intergouvernementalismus unterstellte Vormachtstellung der Mitgliedstaaten durch den institutionellen Kontext des EU-Systems relativiert sehen: „In sum, the analysis of the enlargement process supports the supranationalist assumption of the transformative powers of the European integration and the claim that intergovernmental bar17
Vgl. dazu auch Friis (1998).
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gains are shaped and constrained by previously established EU norms, rules, and practices“ (Schimmelfennig 2006: 222).
Diese Form des „rhetorischen Handelns“ und der strategische Einsatz von moralischen Argumenten (ebd., 76) verhalf zwar den Beitrittsbefürwortern zu ihrem politischen Ziel, es schränkte aber die Handlungsoptionen der beteiligten Akteure in Bezug auf künftige Erweiterungen stark ein. Aufgrund dieser Erfahrungen wählte die EU, nachdem die große Erweiterung im Mai 2004 abgeschlossen war, aber weitere Beitrittsaspiranten wie die Türkei, Kroatien und viele andere vor der Tür standen, mit der „Nachbarschaftspolitik“ einen neuen Ansatz. Dieser Ansatz sollte vor allem die Optionen und Instrumente der Kooperation mit beitrittswilligen Staaten erweitern und nicht zuletzt Alternativen entwickeln zu einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Denn die auf Inklusion angelegte Logik der Osterweiterungspolitik droht an ihre Grenzen zu stoßen. Im Folgenden soll diese neue Politik kurz erläutert werden. Dabei wird sich zum einen zeigen, dass die EU auch hier wieder auf etablierte Formen und Instrumente, wie sie im Rahmen der Osterweiterung und des Barcelona-Prozesses entwickelt worden sind, zurückgegriffen hat. Und zum anderen wird deutlich werden, dass es wieder die Kommission war, die sich hier des „Problems“ der neuen Nachbarn angenommen hat und sie mit ihrem Angebot einer „Problemlösung“ ihre zentrale Rolle in diesem neuen Bereich behaupten bzw. sogar stärken konnte (Kelley 2006). 5.2 Die neue Nachbarschaftspolitik der EU Die ersten Überlegungen zu einer „Nachbarschaftspolitik“ der EU gehen zurück auf einen gemeinsamen Brief, den der damalige Außenkommissar Chris Patten und der Hohe Beauftragte für die Außenbeziehungen der EU, Javier Solana, im August 2002 an die EUAußenminister geschickt hatten. Ziel der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) war es, nach Abschluss der Osterweiterung die erfolgreiche Stabilitätspolitik auch gegenüber den neuen Nachbarn fortzusetzen; es ging darum, wie es der Kommissionspräsident Romano Prodi formulierte, um die größer gewordene EU einen „Ring von Freunden“ zu errichten. Im Fokus standen zunächst vier ‚schwierige‘ Staaten, die nach der Osterweiterung unmittelbar an die EU angrenzen würden: Rußland, Weißrußland, die Ukraine und Moldawien. Da Rußland jedoch auf einen Status als „strategischer Partner“ der EU besteht, eine Kooperation mit dem autoritär regierten Weißrußland für die EU ausgeschlossen war und die EU ihre Nachbarschaftspolitik nicht nur auf zwei Staaten gründen wollte, wurde der Adressatenkreis erweitert um die Mittelmeeranrainerstaaten, die schon durch den Barcelona-Prozess an die EU gebunden sind, im Jahre 2004 schließlich auch um die KaukasusStaaten Armenien, Aserbaidschan und Georgien (vgl. Bacia 2006). Die Kommission hatte durch Mitteilungen und Strategiepapiere diese neue Nachbarschaftspolitik vorbereitet und den Rahmen gesetzt für die Zusammenarbeit der EU mit einer sehr heterogenen Gruppe von Staaten, die zum Teil, wie etwa die Ukraine, sehr starke Ambitionen haben, Mitglied in der Europäischen Union zu werden. Da diese Perspektive aber aus Sicht der Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten und der Kommission, wenn überhaupt, als eine sehr, sehr langfristige Perspektive angesehen wird, versucht die Nachbarschaftspolitik der EU politische und ökonomische Anreize zu geben, die eine Mitgliedschaft im klassischen Sinne überflüssig machen könnten. Das im Mai 2004 von der Kommission vorgelegte Strategiepapier erklärt den Ansatz so: „Die vorgeschlagene Methode besteht darin, zusammen mit den Partnerländern eine Reihe an Prioritäten festzulegen, deren Erfüllung sie näher an die Europäische Union heranrückt“ (Europäische Kommission 2004: 3). Diese „privilegierte Partnerschaft“,
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so die Kommission, basiere auf der „gegenseitigen Verpflichtung auf gemeinsame Werte“ wie Rechtsstaatlichkeit, good governance, Achtung der Menschen- und Minderheitenrechte und auch die Prinzipien der Marktwirtschaft und der nachhaltigen Entwicklung. Die EU versteht sich aber nicht nur als Stabilitätsexporteur, sondern erwartet von den Partnerstaaten auch eine Unterstützung bei der Bekämpfung des Terrorismus und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen (Europäische Kommission 2004: 3). Im Kern basiert die Nachbarschaftspolitik, wie auch die Osterweiterung, auf dem Prinzip der Konditionalität – das heißt, je mehr sich die Partnerstaaten den Werten der EU annähern und diese nachprüfbar in der politischen und wirtschaftlichen Praxis zum Tragen kommen, um so größer sind die Möglichkeiten einer engeren Kooperation, etwa im Bereich des europäischen Binnenmarktes (Europäische Kommission 2004: 9). Die bisher vorliegenden Untersuchungen lassen zweifeln, dass Konditionalität ohne Beitrittsperspektive (Prodi: „alles außer Institutionen“) einen ähnlichen Reformimpetus auslösen kann, wie dies bei der abgeschlossenen Osterweiterung, oder bei Bulgarien, Rumänien, der Türkei oder Kroatien zu beobachten war und ist (vgl. Emerson 2004; Kelley 2006; Raik 2006; Schimmelfennig 2005). Da sich die ENP-Länder in Bezug auf ihre politische und wirtschaftliche Stabilität sehr stark unterscheiden, verfolgt die Kommission einen bilateralen und länderspezifischen Ansatz – sehr viel stärker, als dies bei der Osterweiterung der Fall war. Im Mittelpunkt der Instrumente steht aber auch bei der Nachbarschaftspolitik der politische Dialog und der Versuch, für die Länder maßgeschneiderte Aktions- und Reformpläne aufzustellen, deren Umsetzung von der Kommission regelmäßig überprüft wird. Damit wird klar, dass die Ausgestaltung der Instrumente der Nachbarschaftspolitik einerseits einer „Pfadabhängigkeit“ (Pierson 2004) folgt, derzufolge politische Entscheidungen aus der Vergangenheit auch aktuelle Entschlüsse beeinflussen; andererseits zeigt sich, dass die Kommission durch die Erfahrungen der Osterweiterung gelernt hat und der Instrumentenkasten der Nachbarschaftspolitik das Ergebnis eines Lern- und Anpassungsprozesses darstellt: „Learning is the application of insights about causal relationships from past behaviours to solve new problems (...), whereas adaption is the application of prior causal beliefs to new situations“ (Kelley 2006: 30-31). Die Ähnlichkeiten zwischen dem Ansatz, den die EU im Rahmen der Osterweiterung verfolgt hat, und der aktuellen Nachbarschaftspolitik, erklärt sich auch dadurch, dass es eine hohe personelle Kontinuität in den entsprechenden Stabsstellen der Kommission gibt (Kelley 2006; Interview EK-5, März 2006). Die strategische Anpassung der Kommission an die neuen Herausforderungen ist schließlich auch durch ihr institutionelles Eigeninteresse zu erklären, also durch das, was in der Organisationstheorie als „domain creation and offence“ bekannt ist (Kelley 2006: 32). Vertreter des garbage can-Ansatzes würden sogar so weit gehen zu behaupten, dass die Europäische Kommission mit der erfolgreichen Osterweiterungspolitik eine Lösung zur Hand hatte, für das sie in der politischen und wirtschaftlichen Instabilität der neuen Nachbarn ein passendes „Problem“ gefunden hat. Autoren wie Jeremy Richardson (2006) argumentieren, dass die Europäische Union aufgrund ihrer dynamischen Struktur in besonderer Weise dem Modell von garbage can-Politik, wie es von Cohen, March und Olsen entwickelt worden ist, entspreche: „it (the organisation) can be described better as a loose collection of ideas than as a coherent structure, it discovers preferences through action more than it acts on the basis of preferences“ (Cohen/March/Olsen 1972: 1). Entsprechende Organisationen, zu der die EU zu zählen wäre, definieren die Autoren folglich so: „[as] a collection of choices looking for problems, issues and feelings looking for decision situations in which they might be aired, solutions looking for issues to which they might be the
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answer, and decision-makers looking for work“ (Cohen/March/Olsen 1972: 2). Dieser Ansatz eröffnet sowohl für die Untersuchung der vergangenen Erweiterungen, die in Ermangelung eines master plan auf dem Prinzip des trial and error basierten, als auch der aktuell laufenden Nachbarschaftspolitik ganz andere Perspektiven als rationalistische Erklärungsansätze, die eine klare Präferenzbildung der Akteure voraussetzen und vor allem den Regierungen der alten und der künftigen Mitgliedstaaten die Rolle der „Herren des Verfahrens“ zuschreiben und die Kommission als ausführendes Organ ohne eigene politische Interessen und Ideen verstehen.
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Schlussfolgerungen
Dieser Beitrag hat deutlich gemacht, dass das Thema „Erweiterung“ nicht nur politisch, sondern auch politikwissenschaftlich eine große Herausforderung darstellt. Die EUForschung kann und sollte, so die zentrale These, den Bestand an integrationstheoretischen Ansätzen, der in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt und verfeinert worden ist, nutzen für eine vertiefende und breiter angelegte Beschäftigung mit der Erweiterung, welche als „horizontale Institutionalisierung“ verstanden werden soll (Schimmelfennig/Sedelmeier 2006). Mit der 2004 formal abgeschlossenen Osterweiterung hat die Gemeinschaft bereits die fünfte Erweiterungsrunde organisiert. Damit existiert das bei vergleichenden Analysen im EU-Kontext immer wieder beobachtbare n=1-Problem inzwischen nicht mehr. Eine entsprechende systematische Aufbereitung und Weiterentwicklung der bislang vorliegenden Fallstudien der einzelnen Erweiterungen könnten die Basis liefern für eine „Erweiterungstheorie“ mittlerer Reichweite. Diese Fallstudien sollten einerseits dazu genutzt werden, den Erklärungswert einzelner theoretischer Konzepte vergleichend zu testen (George/Bennett 2004), und andererseits sollten sie darauf angelegt sein, die einzelnen Erweiterungsrunden und ihre Besonderheiten besser zu verstehen und theoretisch plausibel erklären zu können. Angesichts einer nicht nachlassenden Magnetwirkung der Europäischen Union auf andere Staaten ist die Analyse der Interdependenz von Erweiterung und Vertiefung von besonderem Interesse. Die Tatsache, dass sich im Frühjahr 2006 die Stimmen mehrten, alternative Optionen zu einer Vollmitgliedschaft zu eröffnen, zeigt auch die politische Relevanz des Themas.18 Ob und wann die Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union erreicht ist, hängt auch davon ab, zu welchen Ergebnissen entsprechende Untersuchungen über die Folgen der Mitgliedschaft der neuen Staaten einerseits und die Probleme für die Groß-EU andererseits kommen.19 Die keinem master plan folgenden Veränderungen und Anpassungen der Erweiterungspolitik der Gemeinschaft werden dabei auch in Zukunft eine ständige Herausforderung für die künftige EU-Forschung darstellen (Miles 2004: 264). Nicht nur die europäische Integration hat in den letzten Jahrzehnten immer wieder neue Wege gesucht und gefunden, sondern auch die Erweiterung – und auch diese Wege wird „die Theorie mitgehen“ müssen (Giering/Metz 2006: 291).
18 19
Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.03.2006 („Ein neuer Status für EU-Beitrittskandidaten“), S. 6. Vgl. dazu stellvertretend Ágh (2004); Dieringer (2004); Dieringer/Sturm (2005); Hrbek (2005) Kutter/Trappmann (2006); Lang (2006) und Lippert (2004).
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Die Europäische Union nach der Osterweiterung: Zur politisch-kulturellen und institutionellen Entwicklung Die Europäische Union nach der Osterweiterung
Jürgen Dieringer, Kai-Sebastian Melzer und Micha Wirtz
1
Einführung
Die jüngste Erweiterung der Europäischen Union (EU) war die umfangreichste ihrer Geschichte. Da die Integration von Transformationsstaaten aus Mittel- und Osteuropa ein komplexeres Unterfangen war als die Aufnahme gefestigter Demokratien und entwickelter Marktwirtschaften, wie etwa 1995 bei der „EFTA-Erweiterung“, wurden erstmals genaue Kriterien für einen Beitritt ausformuliert. Die sog. „Kopenhagener Kriterien“ erfüllten – nach einer zwischenzeitlichen Teilung in eine „Kopenhagener- und eine Helsinki-Gruppe“ – im Jahre 2004, nach langjährigen Verhandlungen, zehn Staaten. Diese Verhandlungen waren zäh und detailliert. Ein ungarischer Betrachter stellte einst fest, das Land sei „immer fünf Jahre vom Beitritt entfernt“. Es galt, ein moving target zu treffen, das mit der Währungsunion, der Vergemeinschaftung neuer Politikfelder und der Vollendung des Binnenmarktes mit Siebenmeilenstiefeln voranschritt. Als der Beitritt schließlich vollzogen wurde, war die ursprüngliche Euphorie über die „Rückkehr nach Europa“ einer umfassenden Ernüchterung gewichen. Ein deutliches Zeichen in diese Richtung setzte die Wahl zum europäischen Parlament im Juni 2004. Das vom Europaparlament propagierte „Rendezvous mit der Geschichte“ wurde zum „Fernbleiben in der Gegenwart“. Die Regierungsparteien, die die Beitrittsverhandlungen ihres Landes erfolgreich abgeschlossen hatten, wurden abgestraft.1 Die 66% der Letten und Esten, die 78% der Polen, Tschechen und Ungarn, die über 90% der Slowenen, Letten und Slowaken, die sich in Referenden kurze Zeit zuvor noch für einen Beitritt ihrer Länder zur Europäischen Union ausgesprochen hatten, waren nur sehr schwer zu einem Gang an die Wahlurnen zu bewegen. Die Euphorie war Ernüchterung gewichen. Eine der wesentlichen Ursachen für das Auflegen des Verfassungsprojektes (vgl. z.B. Beckmann/Dieringer/Hufeld 2005) war die Befürchtung, das einst für sechs Staaten geschaffene institutionelle System der EG sei trotz aller Modifikationen in den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Nizza für eine EU der 25 nicht geeignet. Zu schwerfällig, undemokratisch, zu supranational/zu intergouvernemental waren zentrale Kritikpunkte. Nizza, der Vertrag, der das institutionelle "Fit" eigentlich erzeugen sollte, war ein Kompromiss auf kleinstem gemeinsamen Nenner, zustande gekommen unter enormem Zeitdruck und mit Konzessionen an verschiedene Akteure. Polen, das dem Vertrag von Nizza nur nach langem Widerstreben zugestimmt hatte, war mit den Lösungen dann doch so zufrieden, dass mit „Nizza oder der Tod“ die Parole für ein Bremsen des Verfassungsprojektes ausgegeben, der Vertrag von Nizza als „historische Leistung“ (vgl. Kleger/Karolewski/Munke 2004: 315) mit Bestandschutz versehen wurde. Es entsteht ein Paradoxon: Diejenigen, die sich ihre Zustimmung durch geldwerte Leistungen haben bezahlen lassen, verteidigen den 1
So etwa in Polen, Tschechien, Slowenien und Ungarn, vgl. ausführlich zu den Wahlen Hrbek 2005.
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Jürgen Dieringer, Kai-Sebastian Melzer und Micha Wirtz
Kompromiss, diejenigen, die Nizza nach dem Vertragsschluss als Lösung der institutionellen Probleme bejubelten, sprachen bald von der Notwendigkeit eines Verfassungsvertrages. Hier werden unterschiedliche Präferenzordnungen sichtbar und verschiedene Handlungsstränge fallen ins Auge:
Die Union war schon immer ein moving target. Neuankömmlinge schaffen es immer schwerer, auf den Zug aufzuspringen, weil sie über Jahre und Jahrzehnte beschäftigt waren, den Integrationsstand politisch und rechtlich mit der Übernahme des acquis communautaire und der hierzu nötigen politischen Willensbildung nachzuvollziehen. Danach haben sie Schwierigkeiten, das Tempo aufzunehmen; der gerade erreichte Integrationsstand wird von Neulingen zunächst eher verteidigt als nach vorne gepusht. Nur sehr langsam entwickeln sich politische Visionen über die Zukunft der Union. Supranationale Lösungen werden zunehmend kritisch betrachtet. Bei neuen Institutionalisierungen werden eher intergouvernementale Lösungen bevorzugt, was sich in der Stärkung des Rates und der Schwächung der Kommission äußert. Die Angst vor Souveränitätsverlust und damit Steuerungskompetenz wird immer größer, je mehr der Kern staatlicher Kompetenz, die Sicherheit nach Innen und nach Außen, von der Integrationsdynamik erfasst wird. Im Bereich der policies scheinen zwei Trends zu herrschen: Auf der einen Seite ein Trend zur Rückverlagerung von Teilen der Wirtschaftspolitik auf den Nationalstaat. Indizien sind hier die Debatte um die Reform der Agrarpolitik, das Wiederaufleben des National champions-Konzeptes als industriepolitischer Griff in die Mottenkiste, sowie das Infragestellen von marktliberalen Projekten, die die Kommission vorantreibt, die aber vom Rat oder vom Parlament gestoppt oder zumindest gestutzt werden. Beispiele sind die Dienstleistungsrichtlinie und die Hafenrichtlinie. In beiden Fällen zeigte sich eine durchaus vorhandene europäische politische Öffentlichkeit – an anderer Stelle oft als nicht existent bezeichnet – die direkt von Wahlen abhängige Parlamentarier und indirekt von Wahlen abhängende Regierungen zu starken Modifikationen an den Texten nötigten. Auf der anderen Seite generiert die Vergemeinschaftung zahlreicher Wirtschaftspolitiken – hier im etwas längeren zeitlichen Kontext gesehen – spill over in den Bereich der Sozialpolitik hinein (vgl. Willert; Stuchlik in diesem Band), oft recht technischer Natur und ganz im Sinne von Haas (1958). Auch im Bereich der Innen-und Justizpolitik wird die Notwendigkeit europäischer Lösungen immer deutlicher – betrachte man nur die Diskussionen um den europäischen Haftbefehl. In manch einem Bereich ist die Kluft zwischen institutioneller Anforderung und politischer Wirklichkeit noch groß. Die Diskussionen um eine europäische Energiepolitik und die Unzulänglichkeit der EU-3-Verhandlungen mit Iran über dessen Atomprogramm sprechen hier eine deutliche Sprache.
Diese Entwicklungen jüngeren Datums, in ihrer Logik allerdings angelegt in der institutionellen Grunddynamik der Union, der Diskurs zwischen neuen und alten Mitgliedern mit konträren Vorstellungen über ein europäisches Zukunftsbild, kreieren zahlreiche politische Reibungspunkte, denen hier nachgegangen werden soll. In einem ersten Abschnitt wird nach den Grundlinien des politischen Diskurses nach der Erweiterung gefragt. Ein weiteres Kapitel befasst sich mit der institutionellen Dynamik basierend auf Nizza mit dem Verfassungsvertrag im Blick.
Die Europäische Union nach der Osterweiterung 2
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Der politische Diskurs
Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten wurde die „Rückkehr nach Europa“ bereits vor dem Beitritt der zehn neuen Mitgliedstaaten erreicht. Der Anteil der Europäischen Union am Außenhandel der Beitrittsländer stieg von unter 20% zu Beginn der Transformation zur Marktwirtschaft auf etwa 47% 1994 und circa 65% im Jahr 2000 (Dauderstädt 2000: 287ff). Auch in den Institutionen der EU sind die Staaten Mittel- und Osteuropas schnell angekommen. Im Rat arbeiten sie konstruktiv mit den Altmitgliedern zusammen. Die Kommissare führen ihre Zuständigkeiten professionell aus, die Abgeordneten des Europaparlaments haben sich mit dem zunächst ungewohnten Umfeld arrangiert. Vorwürfe, die Parlamentarier würden sich bei Abstimmungen eher ihrer osteuropäischen Herkunft als ihrer Fraktionsmitgliedschaft verpflichtet fühlen, halten einer empirischen Analyse nicht stand.2 Befragt man die jeweiligen Bevölkerungen der europäischen Mitgliedstaaten, ob sie mit der EU-Mitgliedschaft ihres Landes zufrieden sind, so äußern sich im September 2005 54% aller EU-Bürger diesbezüglich positiv (Eurobarometer Nr. 63, 2005: 93ff). Dies ist einer der besten Werte seit zehn Jahren. Bei genauer Betrachtung der Umfragedaten fällt jedoch auf, dass die positive Einstellung in den neuen Mitgliedstaaten rückläufig ist. In vielen dieser Länder ist der Anteil der neutralen Beantwortung der Frage mit „weder gut noch schlecht“ relativ hoch (Lettland 43%, Ungarn 43%, Slowenien 41%, Zypern 40%, Estland 39%, Tschechische Republik 39%). Zwei Ereignisse aus der jüngsten Vergangenheit lassen den Grund für die wachsende Resignation in den neuen EU-Staaten aus Mittelosteuropa erahnen: Die negativen Volksabstimmungen über den Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden, sowie der gescheiterte Versuch, auf dem Brüsseler Gipfel einen gemeinsamen Finanzplan für die Jahre 2007 bis 2013 zu verabschieden (vgl. Weidenfeld 2006: 13). Man zweifelt an der Solidarität der Altmitglieder. Ausgerechnet die EU-Staaten aus Mittel- und Osteuropa boten in Brüssel kurz vor Schluss einen Verzicht auf 1,5 Milliarden Euro an Subventionszahlungen an, um doch noch eine Einigung im Finanzstreit zu erreichen. Die symbolträchtige Geste sollte jedoch zunächst erfolglos bleiben, was insbesondere in Polen mit drastischen Worten kommentiert wurde. So stellte Polens EU-Kommissarin Danuta Hübner resigniert fest: „Die ablehnende Haltung der reichen westlichen Staaten, mehr Geld in den Haushalt zu zahlen, wie auch die gescheiterten Referenden waren ein negatives Signal an die Osteuropäer – nämlich, dass sie nicht willkommen sind“ (zitiert nach: Süddeutsche Zeitung, 6.4.2006: 15).
Ihr Landsmann, der ehemalige Ministerpräsident Belka, pflichtete bei: „Die Tatsache, dass wir keinen Haushalt haben, ist nicht beunruhigend. Was beunruhigend ist, ist die Atmosphäre in der EU“.
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Betrachtet wurde der Zeitraum seit Beginn der Legislaturperiode bis Mai 2005. Dabei wurde kein auffälliges Abstimmungsverhalten der neuen Abgeordneten beobachtet. Wie ihre Kollegen aus den alten EUMitgliedstaaten stimmten sie in der Regel mit der Mehrheit ihrer Fraktion. Allerdings ist diese Beobachtung aus nahe liegenden Gründen nur für namentliche Abstimmungen im Plenum gültig.
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Genau dieses Unbehagen scheint seit den gescheiterten Verfassungsreferenden in den Niederlanden und in Frankreich offen zu Tage getreten zu sein. Selbst ein EuropaBefürworter wie Ungarns Premier Ferenc Gyurcsány betonte: „Wenn die Mitgliedstaaten jetzt politische Schlussfolgerungen ziehen, dann müssen sie vor allem verstehen, dass die Werte, die Politikinhalte und das Handeln der Institutionen dem Bürger näher gebracht werden müssen. Die Bürger glauben nicht an ein bürokratisches Europa, sondern an eine lebendige Wertegemeinschaft.“ (Miniszterelnöki Hivatal, 30.5.2005)
Das „Nein“ in den Niederlanden und Frankreich ließ die neuen Unionsmitglieder erstmals aufschrecken. Der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses im ungarischen Parlament, Zsolt Németh, bekannte, er habe die Abstimmungsniederlage mit einem „kalten Schauer“ (Parliamentary Group of Fidesz: 31.5.2005) wahrgenommen. Auch sein Parteifreund, Ungarns konservativer Oppositionsführer Viktor Orbán, sprach von einem „Schock“ (Parliamentary Group of Fidesz: 2.6.2005). Die Reaktionen sind der vorläufige Gipfel einer Entwicklung des Abkühlens des ehemals ungebrochenen Europaoptimismus im Zuge der Systemtransformation (vgl. auch Drexler 2005: 410f). Diese Entwicklung wurde auch von einer Eurobarometer-Umfrage bestätigt, die eine rückläufige Zustimmung bezüglich der Integrationsgeschwindigkeit offenbarte. Gegenwärtig ist der Bevölkerungsanteil, der sich für eine beschleunigte Integration ausspricht, auf das niedrige Niveau von 1997 zurückgefallen (Eurobarometer Nr. 64, 2005: 36). Der erste Jahrestag der Erweiterung war bereits von einer gewissen Ernüchterung geprägt, welche ihren Ursprung einerseits in unerfüllten, weil unrealistischen Erwartungen auf eine rasche Verbesserung der Lebensverhältnisse hatte, andererseits in der Skepsis über die eigentliche Natur der EU. Mit den Erfahrungen, welche die neuen Mitgliedstaaten mit der Union während der vergangenen zwölf Monate gemacht hatten, kamen sie zu ähnlichen Einschätzungen wie der Rest Europas. Der ungarische Ministerpräsident etwa sprach von der „größten Herausforderung für Europa seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge im Jahre 1957“ (zitiert nach: Vetter 2005: 104). Die Ursachen für die Krise aber sahen sie im Westen. Bei jenen Altmitgliedern also, die mit den Kriterien von Kopenhagen den Maßstab für die Unionserweiterung gesetzt hatten. Die in der EU-15 seit jeher bekannten Klagen über Bürgerferne und Demokratiedefizit kommen nun auch aus Ostmitteleuropa. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass dieser Pessimismus nicht nur von EU-Skeptikern wie dem tschechischen Staatspräsidenten Vačlav Klaus, sondern auch von EuropaBefürwortern geteilt wird. Die Stoßrichtung der Kritik ist klar: Die EU muss mehr eine Solidaritätsgemeinschaft und weniger eine Ansammlung nationalstaatlicher Interessenvertreter sein, die lediglich Beschlüsse verkünden, nachdem sie hinter verschlossenen Türen ausgehandelt wurden. Der Journalist Reinhold Vetter macht aber auch diejenigen führenden Politiker in den neuen Mitgliedstaaten für die Lage mitverantwortlich, die heute die EU am lautesten kritisieren. Nach seiner Ansicht taten sie zu wenig dafür, ihren Bürgern das zukünftige Funktionieren der Gemeinschaft zu erklären, sondern beschränkten sich lediglich darauf, zu erläutern, in welchen Punkten der Verfassungsvertrag im nationalstaatlichen Interesse sei (Vetter 2005: 115). Diese Kritik ist durchaus berechtigt. Eingerahmt von der Erfahrung des Souveränitätsverlustes während der Zeit sowjetischer Okkupation – einschlägig war die Breschnew-Doktrin –, transponiert sich die Idee der „Selbstbestimmung“ in die des nationalen Interesses. Vor dem Hintergrund kaum existenter sozialer Sicherungssysteme und der nur langsamen Verbesserung der allgemeinen Lebensumstände in den
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neuen Mitgliedstaaten führt jede Abkehr vom (wie auch immer definierten) „nationalen Interesse“ unweigerlich zum Machtverlust. Neben dem Demokratiedefizit stehen die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Versäumnisse der EU im Mittelpunkt der Kritik: „Europa ist sehr mit sich selbst beschäftigt und deshalb nicht in der Lage, den Millionen Menschen eine überzeugende Antwort auf den Wettbewerbsdruck und die sozialen Herauforderungen in der globalisierten Welt zu geben“ (Prime Minister's Office: 30.5.05). Diese Klage Gyurcsánys wird vom Gros der führenden Politiker, aber auch von der Bevölkerung in Ostmitteleuropa geteilt. So wird beispielsweise der Begriff „Globalisierung“ in den neuen Mitgliedstaaten mit 33% um fünf Prozentpunkte weniger positiv beurteilt als in der EU-15 (Eurobarometer Nr. 63, 2005: 58). In Bezug auf die politische Führung ist erneut auffällig, dass die negative Beurteilung über Parteigrenzen hinweg verläuft. Der ungarische Oppositionsführer Viktor Orbán schloss sich Ministerpräsident Gyurcsány an und formulierte sogleich einige soziale und wirtschaftliche Aufgaben, die umgehend angegangen werden müssten: Eine Kürzung der Übergangsfristen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Stärkung des Euro sowie eine weitere Ausdehnung der Eurozone (Parliamentary Group of Fidesz: 2.6.2005). Sind sich die Spitzenpolitiker in Ostmitteleuropa in ihrer Beurteilung der Krise durch das Nein zum Verfassungsvertrag einig, so fallen die Lösungsvorschläge doch unterschiedlich aus. Sie reichen von Forderungen zur Fortführung des angefangenen Ratifikationsprozesses, über unterschiedliche Kompromisslösungen, bis hin zum Abbrechen der Ratifizierung. Die einzige Übereinstimmung liegt wieder darin, dass sich die Lager nicht an den parteipolitischen Grenzen scheiden. Die Gruppe der Befürworter ist der Ansicht, dass nicht primär der Inhalt des Verfassungsvertrags, sondern andere Probleme für die Abstimmungsniederlagen in Frankreich und den Niederlanden verantwortlich sind (Vetter: 2005, 117f). Aufgrund der Meinungsverschiedenheiten en détail sind auch kaum gemeinsame Initiativen vorstellbar. Einschlägige Kommuniqués verbleiben in einer defensiven, teils sogar phrasenhaften Rhetorik verhaftet. So heißt es beispielsweise in einer Erklärung der Regierungschefs der Visegrád-Gruppe: „Der Prozess der Ratifizierung sollte entsprechend den Bedingungen und zeitlichen Vorstellungen der einzelnen Mitgliedsländer fortgesetzt werden. Der Verfassungsvertrag bleibt der Rahmen für die Entwicklung des europäischen Projekts“ (zitiert nach: www.kprm.gov.pl/402_14092.htm, 10.06.2005). Die Gegner des Verfassungsvertrages führen Argumente ins Feld, die in Richtung eines nationalstaatlichen Identitätsverlusts gehen. Ein Beispiel: Der tschechische Präsident Vačlav Klaus erklärte am Beitrittstag, er sei besorgt um die nationale Identität. Schon vorher stellte er fest, er habe eine Präferenz für eine rein wirtschaftliche Integration (Linden/Pohlmann 2003: 316). Nach Ansicht dieser Gruppe stellt eine sich vertiefende Integration die Gefahr des schleichenden Verlustes bürgerlicher Freiheiten dar. Weiter wird kritisiert, dass die Union falsche Prioritäten setze, wenn sie sich auf verfassungsrechtliche und politische, anstatt auf soziale und wirtschaftliche Probleme konzentriert. Die Ablehnung des Dokuments ist für die Kritiker ein klares Indiz für den derzeitigen Missmut in der europäischen Bevölkerung. Der polnische EP-Vizepräsident Jacek Saryusz-Wolski über den Verfassungsvertrag:
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Jürgen Dieringer, Kai-Sebastian Melzer und Micha Wirtz „Das ist ein schlechtes Dokument, bürokratisch und nicht im Interesse der Bürger. Wenn wir diesen Vertrag den Bürgern zur Abstimmung vorlegen, verstoßen wir gegen die Grundsätze der Demokratie. Und nach dem Nein der Franzosen ist dies ohnehin ein totes Dokument“ (zitiert nach: Gazeta Wyborcza, 30.4.05: 3).
Eine Kompromisslösung wäre, dass Teile des Verfassungsvertrages auch ohne dessen Ratifizierung auf Basis des Vertrages von Nizza von den Regierungen umgesetzt werden könnten. Insbesondere der tschechische Außenminister Cyril Svoboda sprach sich dafür aus, jene Artikel in Kraft zu setzen, die das außenpolitische Profil der Union stärken, also beispielsweise den Europäischen Außenminister oder auch den europäischen Auswärtigen Dienst (Vetter 2005: 110f.). Der neue polnische Staatspräsident Lech Kaczyński stellte aber anlässlich seines Deutschlandbesuches unmissverständlich klar, dass der Außenminister für Europa „zu früh komme“. Allerdings konstatiert Vetter, dass sich die Debatte um das Für und Wider des Verfassungsvertrages allmählich in ein generelles Nachdenken über den zukünftigen Kurs Europas wandelt. An dieser Stelle treten wieder die oben genannten Vorbehalte gegenüber einer „zu engen“ Union, die zu wenig auf die nationalen Gewohnheiten Rücksicht nimmt, zum Vorschein. Die Debatte wird so zur Generaldebatte, die nicht mehr die einzelnen Bestimmungen des Verfassungsvertrages, sondern Fragen zu Natur, Ziel und Inhalt der Integration als solcher aufwirft. Hierzu der polnische Oppositionsführer Jan Maria Rokita in einem Interview mit der ZEIT (Die ZEIT 9.6. 2005: 9): „Sicher ist, dass in Polen die Europäische Union als politisches Projekt gesehen wird, nicht als Weltanschauungsprojekt. Was wir auf keinen Fall wollen, ist Gleichmacherei auf kulturellem oder religiösem Gebiet – besonders weil wir in diesen Fragen konservativer sind. Wir halten aber viel von einer Europäischen Union […] die sich um die Infrastruktur kümmert und Märkte harmonisiert.“
Hier haben wir es also mit dem alten, wirtschaftspolitischen Projekt zu tun, weniger mit der politischen Union. Deshalb steht man im Osten im Zweifel auf der Seite der Erweiterung auf Kosten der Vertiefung. Das Beispiel der Ukraine macht deutlich, wie wichtig die Beitrittsperspektive für das Gros der ostmitteleuropäischen EU-Staaten ist. Speziell Polen erhofft sich durch den Beitritt Kiews ein Gegengewicht zu Russland und damit eine Verbesserung der eigenen Sicherheitslage. Auch unter Hinblick auf die bilateralen Beziehungen der EU zu Staaten wie der Republik Moldau und Georgien sprachen polnische Medien schon von Russland als dem eigentlichen Sieger der Abstimmungsniederlagen in Frankreich und den Niederlanden. Mit der vielfach geäußerten Enttäuschung über die EU-Altmitglieder, die lange Zeit von der Gemeinschaft profitiert hätten und nun, wo es um die Rechte der Neumitglieder gehe, diese ignorieren würden, geht die verbreitete Einschätzung einher, dass sich die bisherigen Machtzentren verschieben werden: „Frankreich muss eine Schwächung seiner Position hinnehmen“ konstatierte etwa der polnische Parlamentspräsident Włodzimierz Cimoszewicz (Vetter 2005: 108). Tschechiens Ministerpräsident Paroubek sieht durch das Verhalten der Alt-Mitglieder einen Bruch in der EU heraufziehen und beschreibt die kompromisslose Haltung der EU-15 als „(…) lächerlich und enttäuschend und für uns neue EUMitglieder absolut unverständlich“. Diese Einschätzungen haben zur Folge, dass sich Ostmitteleuropa stärker dem machtpolitischen Zentrum Europas annähert. Dabei wird von der Seite der Neumitglieder einerseits auf die durch die Volksabstimmung herbeigeführte ver-
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meintliche Selbstschwächung Frankreichs hingewiesen, andererseits wird von einer konservativ geführten deutschen Regierung ein, im Vergleich zur Vorgängerregierung, europapolitischer Stilwechsel erwartet: „Die schwächere Rolle Frankreichs und der absehbare Wandel politischer Werte in Deutschland könnten Manövrierspielraum für eine neue Konfiguration in Europa eröffnen, verbunden mit einer stärkeren Position Polens“ (Vetter 2005: 115). Nach den beiden Negativereignissen, der gescheiterten Ratifizierung des Verfassungsvertrags und der Nichtverabschiedung des Finanzrahmens, initiierte die EU-Kommission den so genannten „Plan D“. „D“ steht dabei für Demokratie, Dialog und Diskussion – in den Augen der Vizepräsidentin Margot Wallström unerlässlich, um dem Negativtrend der EU entgegenzuwirken. Die Bürger sollten stärker in die Gestaltung eines gemeinsamen Europas eingebunden werden und es sollte deutlich werden, welche politischen und wirtschaftlichen Vorstellungen sie für geeignet halten (vgl. COM 2005, 494: 2ff). Parallel befanden auch die Staats- und Regierungschefs, dass es an der Zeit wäre, sich grundlegend über die Zukunft Europas Gedanken zu machen. Die Reflexionsphase, deren erste Ergebnisse im ersten Halbjahr 2006 von der österreichischen Präsidentschaft beurteilt wurden, macht eines deutlich: Die neuen Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa spielen in Europa nicht mehr nur die Rolle des Bittstellers. Der damalige polnische Ministerpräsident Marek Belka machte dies schon am Rande des Brüsseler Gipfels deutlich, als er sagte: „Wir wollten zeigen, dass für Polen Europa nicht mehr nur ein Berg voller Geld ist“. Insbesondere Polen sieht sich gerne in der Rolle des zukünftigen Mitgestalters der Union. Ob sich das Gravitationszentrum der europäischen Politik aber tatsächlich nach Osten verlagert, ist hoch spekulativ. Auf der einen Seite ist eine tragende Säule der Europäischen Union noch immer die wirtschaftliche Bedeutung. Wer über starkes wirtschaftliches Potential verfügt, kann auf europäischer Ebene immer aus der Position der Stärke heraus mitgestalten. Allerdings bedeutet aktives, pro-europäisches Engagement – unabhängig von der wirtschaftlichen Potenz – gleichzeitig, dass man gegenüber den (saturierten) passiven Mitgliedstaaten eine gestalterische Rolle beim „agenda-setting“ einnehmen kann. Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet Estland. Durch einen konsequenten Abbau von Handelsschranken, schneller und effizienter Privatisierung, niedriger Einheitssteuer und einer stabilen Währung ist der „baltische Tiger“ zur wettbewerbsfähigsten Ökonomie in Mitteleuropa geworden. Parallel hierzu herrscht unter den politischen Eliten eine grundsätzlich positive, integrationsfreundliche Einstellung gegenüber der Union vor. Der wirtschaftliche Erfolg des Landes wird eng mit der EU verbunden, weshalb eine handlungsfähige Union im starken Interesse Estlands ist (Kiez/Maurer 2006: 2). Folglich wollte das Land mit der Ratifizierung des Verfassungsvertrages kurz vor Ende der österreichischen Ratspräsidentschaft ein deutliches pro-europäisches Zeichen setzen. Ein Zeichen, das insbesondere als Signal an den engen Kooperationspartner und baldigen Ratspräsidenten Finnland gedeutet werden konnte. Der Diskurs seit der Osterweiterung der EU zeigt, dass eindeutige Handlungsalternativen bisher noch nicht auf dem Tisch liegen. Es gilt wohl zuerst, einen gemeinsamen Nenner zu finden bezüglich der Frage nach der Balance von nationaler Identität und nationalem Interesse auf der einen, und der Reichweite einer politischen Union auf der anderen Seite. Die gegenwärtige strukturelle Schieflage, die insbesondere in den alten EU-Mitgliedstaaten das Verhältnis zwischen politischer Führung und Bürgern prägt, muss überwunden werden. Die die nationalen Führungen prägende Ambivalenz zwischen nationalem Interessenvertre-
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ter und europäischem Ideengeber ist langfristig untragbar: Während die erste Rolle kaum noch widerspruchsfrei oder ohne das Einvernehmen der europäischen Partner ausgefüllt werden kann, ist ein europäischer Führungsanspruch nur durch gegenseitige Annäherungen möglich (Kühnhardt 2005: 4). Obwohl man sich letztlich Anfang April diesen Jahres, insbesondere unter deutscher Führung, auf eine mittelfristige Finanzplanung einigen konnte, zeigt das Beispiel der Verfassungskrise, dass die neuen EU-Mitglieder eine, verglichen mit den alten EU-Mitgliedern, zumindest gleichwertige Position bei der Suche nach strukturellen Auswegen eingenommen haben. Bis die Diskussion in die Definition eines gemeinsamen Integrationsnenners einmündet, gilt für das Fortschreiten der Integration, was der einstmalige EU-Ratspräsident, der Luxemburger Ministerpräsident Jean-Claude Juncker, nach dem gescheiterten Brüsseler Gipfel ernüchternd feststellte: „Europa steckt nicht in einer Krise, es steckt in einer tiefen Krise“ (zitiert nach: www.tagesschau.de, 18.06.2005; vgl. auch Weidenfeld 2006: 23). 3
Mit Nizza leben: Das institutionelle Gerüst einer erweiterten Union
Im Folgenden sollen die Grundzüge struktureller Veränderungen des Institutionengefüges der EU im Post-Maastricht-Prozess anhand der Vertragsänderungen untersucht und beständige Tendenzen aufgezeigt werden. Hierbei beschränkt sich die Analyse nicht auf die abgeschlossenen Vertragsänderungen von Amsterdam und Nizza, sondern berücksichtigt vor allem auch den Entwurf für einen Vertrag für eine Verfassung Europas (VVE), welcher eine maßgebliche Fortentwicklung des mitgliedstaatlichen Konsenses in der Frage der institutionellen Zukunft der EU widerspiegelt. Im Zentrum stehen die Organe „Europäisches Parlament“, „Ministerrat“, „Europäischer Rat“ und „Europäische Kommission“ und ihr interinstitutionelles Verhältnis. 3.1 Das Europäische Parlament Das Europäische Parlament ist in den letzten Jahrzehnten auf seinem Weg von einer „Gemeinsamen Versammlung“ zu einem Organ, das den Erwartungen entspricht, die man an ein nationales Parlament stellt, weit vorangeschritten. Der Grundstein hierzu wurde bereits 1976 gelegt, als die Direktwahlakte beschlossen wurde. Der durch die Direktwahl gewachsenen Legitimation folgte ein kontinuierlicher Kompetenzgewinn, der in der Einheitlichen Europäischen Akte mit der Einführung des Verfahrens der Zusammenarbeit begann. Im Vertrag von Maastricht wurde nicht nur dieses Verfahren auf weitere Bereiche der Rechtssetzung ausgedehnt, sondern – gewissermaßen versuchsweise – das Verfahren der Mitentscheidung (Art. 189b EGV Maastricht) in einigen wenigen Bereichen eingeführt. Außerdem war die Mitwirkung des Parlaments an der Ernennung der Kommission sowie die Ausübung eines parlamentarischen Kontrollrechts durch die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen vorgesehen. Die Mitwirkung bei der Ernennung der Kommission umfasste ein Anhörungsrecht des Parlaments vor der Benennung des Kommissionspräsidenten und ein Zustimmungsvotum des Parlaments zum Kollegium der Kommission (Art. 158 II EGV Maastricht). Bezüglich der 2. und 3. Säule der EU blieben seine Rechte jedoch auf Konsultation und Information beschränkt. War das Europäische Parlament bereits aus dem Maastrichter Vertrag gestärkt hervorgegangen, so wurde diese Stärkung seiner Rolle mittels des Vertrags von Amsterdam fort-
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gesetzt: Das Verfahren der Mitentscheidung wurde vereinfacht, ausgedehnt (Art. 251 EGV Amsterdam) und hierdurch zum grundsätzlichen Modell der EG-Rechtssetzung. Die Vereinfachung des Verfahrens war erforderlich, um die Effizienz des europäischen Rechtssetzungsprozesses zu erhalten. Die Regelung des Art. 189b EGV Maastricht, nach welcher das Parlament dem Druck ausgesetzt werden konnte, als allein blockierende Kraft zu erscheinen, wurde gestrichen. Erfolgte eine Einigung nicht spätestens im Vermittlungsausschuss, war eine Initiative nach Amsterdam nunmehr endgültig gescheitert. Doch nicht nur die Mitwirkungsberechtigung des Parlaments am europäischen Rechtssetzungsverfahren wurde durch den Vertrag von Amsterdam ausgebaut, sondern auch sein Einfluss auf die Ernennung des Kommissionspräsidenten: Sein bloßes Anhörungsrecht wurde durch ein Zustimmungsvotum ersetzt. Seit der Vertragsänderung von Amsterdam lässt sich wohl sagen, dass das Parlament in der Rechtssetzung zu einem dem Ministerrat „weitgehend gleichberechtigten Organ“ – einer Zweiten Kammer – geworden ist. Gleichwohl fallen einige wichtige politische Entscheidungen nach wie vor eher im Rat als im Parlament. Der Vertrag von Nizza hingegen brachte für das Europäische Parlament nicht viel Neues: Zwar wurde der Anwendungsbereich des Mitentscheidungsverfahrens weiter ausgedehnt, doch die vor allem vom Parlament vorgebrachte Idee einer Koppelung der Anwendung des Mitentscheidungsverfahrens an alle Entscheidungen, die mit qualifizierter Mehrheit des Ministerrates getroffen werden können, wurde nicht einmal diskutiert. Das Parlament schien sogleich zu befürchten, die Phase des Ausbaus seiner institutionellen Stellung neige sich bereits dem Ende zu. Seine beiden Vertreter bei der Regierungskonferenz – Elmar Brok und Dimitrios Tsatsos – vertraten die Ansicht, durch diesen Vertrag habe das „demokratische Defizit“ zugenommen (Rousselot-Pailley 2002: 25). Nach dieser Verlangsamung der Entwicklung bezüglich der Stärkung des Parlaments unter dem Vertrag von Nizza deuteten die Bestimmungen des Verfassungsvertrages auf eine erneute Trendwende hin: Das Mitentscheidungsverfahren hätte nicht nur den neuen Titel „ordentliches Gesetzgebungsverfahren“ erhalten und damit den vorherigen Vertragsänderungen Rechnung getragen, sondern den Anwendungsbereich des Verfahrens auch weiter ausgedehnt. Nach dem Verfassungsvertrag hätte so bspw. das Verfahren erstmalig Einzug in einen Teil der Agrarpolitik gehalten (Art. III-231 [2] VVE). Immer noch nicht erreicht wurde das Ziel des Parlaments, in allen Fällen qualifizierter Mehrheitsentscheidung des Ministerrats gleichsam automatisch zur Mitbestimmung im „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ zugelassen zu werden.3 Eine andere Neuerung und wesentliche Stärkung des Parlaments hätte aber vor allem das neue Verfahren zur Einsetzung des Kommissionspräsidenten gebildet: So wäre nicht nur das Zustimmungsvotum des Parlaments zu einer Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Parlament auf Vorschlag des Europäischen Rates transformiert worden, sondern bereits beim Vorschlag wäre die politische Zusammensetzung des Parlaments zu berücksichtigen gewesen (Art. I-27 (1) VVE). Die Legitimationsbindung des Kommissionspräsidenten an das Parlament wäre hierdurch wesentlich gewachsen. Bereits im Vorfeld gäbe diese Vorschrift dem Parlament große politische Spielräume und Einflussmöglichkeiten bezüglich des Vorschlags des Kommissionspräsidenten durch den Europäischen Rat. Auf Dauer könnten die Parteien des Parlaments – vergleichbar mit deutschen Bundestagswahlen 3
So bspw. keine Anwendung des „ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens“ in den Bereichen der Außenpolitik und steuerlichen Vorschriften, bei denen qualifizierte Mehrheitsentscheidungen des Ministerrats nach Maßgabe des Verfassungsvertrages vorgesehen sind.
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– mit Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten zur Wahl antreten. Es dürfte dem Europäischen Rat später zumindest schwerer fallen, einen Mehrheitskandidaten – sofern sich genügend Fraktionen des Parlaments hinter einem solchen vereinten – nicht vorzuschlagen (vgl. Schoo 2004: 71). Bei dem Benennungsverfahren der übrigen Kommissionsmitglieder bliebe es nach Art. I-27 (2) VVE beim „bloßen“ Zustimmungsvotum des Parlaments. Einer Nennung würdig ist ferner die Umformulierung des Grundartikels über das Parlament: Das Parlament hätte sich künftig statt aus „Vertretern der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten“ (Art. 189 EGV) aus „Vertretern der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger“ zusammengesetzt (Art. I-20 (2) S.1 VVE). Der besondere Charakter der EU als Staatenverbund käme aber auch im Parlament weiterhin zum Tragen, wie Art. I-20 (2) S. 3 VVE deutlich macht. Intern bedeutete die Erweiterung für das Parlament eine Zäsur. Es wuchs beträchtlich an und hat nun eine recht bunte Palette politischer Parteien – oft programmatisch sehr heterogen – in die Fraktionen zu integrieren. Der Willensbildungsprozess wird so natürlich erschwert. Die europaskeptischen britischen Tories, in der eigentlich proeuropäischen EVPFraktion mehr Anhängsel denn konstituierende Kraft, erhielten vor allem durch polnische und tschechische Abgeordnete Verstärkung. Die tschechische ODS wurde Wahlsieger (vgl. Rovny 2005). In Polen begann die heute regierende PiS bei den Wahlen zum europäischen Parlament ihren kometenhaften Aufstieg. Auch Anti-Europa-Parteien wie die moderatere polnische Selbstverteidigung (Samoobrona) und die aggressive Liga der polnischen Familien („gestern Moskau, heute Brüssel“) zogen ins Straßburger Parlament ein (vgl. Doktor 2005). Dass wie in Ungarn (vgl. Dieringer 2005) keine grundsätzlich gegen Europa eingestellte Partei MdEP´s entsendet, bleibt die große Ausnahme. Auch die Ausbildung einer Programmatik in den Fraktionen wird schwieriger. So kommt es durchaus vor, dass sozialdemokratische Parteien aus den neuen Mitgliedstaaten eine marktliberale Politik befürworten, hingegen konservative Parteien die Gestaltungsmacht staatlicher Intervention als Generalwaffe gegen die Kräfte der Globalisierung einsetzen wollen. Für Westeuropa ist dies eine „verkehrte Welt“. Das von den „Neuen“ im Wahlkampf immer wieder betonte „nationale Interesse“, dem alle „Brüsseler“ eines Landes verpflichtet seien, wird mit zunehmender Interessendivergenz aufgrund gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Heterogenität noch mehr als zuvor auf die Probe gestellt. Ein Beispiel: Die ungarische (sozialistisch geführte) Regierung setzte sich für die Dienstleistungsrichtlinie (die sog. „Bolkestein-Richtlinie“) ein, die sozialistische Fraktion des EP mit neun ungarischen Abgeordneten stimmte dagegen bzw. für die Veränderungen (Pester Lloyd, 1.3. 2006: 8). 3.2 Der Europäische Rat und der Ministerrat Der Europäische Rat wäre im Verfassungsvertrag erstmals zu einem „Organ der EU“ und damit nachhaltig gestärkt geworden. Auch der Ministerrat wurde in den letzten Jahren ausgebaut, vor allem in der zweiten und dritten Säule. Als Gemeinschaftsorgane nehmen Ministerrat und nach Art. I-5 (2) VVE auch Europäischer Rat ihre Aufgaben und Befugnisse im Rahmen der Verträge wahr, doch die Staaten wirken bei der gemeinschaftsrechtlichen Willensbildung so direkt wie sonst nirgendwo mit. Besonders im Europäischen Rat ist und bleibt die Qualität der EU als Staatenverbund deutlich sichtbar. Klar wird dies bei der Lek-
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türe von Art. I-21 VVE: Als Impulsgeber, Zielsetzungen und Prioritäten festlegendes Organ der EU trifft er seine Entscheidungen im Konsens. Anders sieht dies inzwischen beim Ministerrat aus: War auch bei der Rechtssetzung bei Gründung der Gemeinschaften der Gedanke eines völkerrechtlich geprägten Staatengleichheitsdenkens im Einstimmigkeitserfordernis zum Ausdruck gekommen, so ist doch die Möglichkeit der Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit im tagespolitisch wichtigsten Mitspracheorgan der Staaten inzwischen faktischer Grundsatz geworden. Der programmatische Grundsatz des Art. 205 (1) EGV erteilt dem Staatengleichheitsdenken gar eine noch stärkere Absage, indem er die einfache Mehrheit zur – allerdings recht selten durchgreifenden – Regel erklärt. Von diesem programmatischen Grundsatz sah der VVE in Art. I-23 (1) ab und passte die Sprache des Vertrags der Realität an: Nach seinem Konzept ist die qualifizierte Mehrheitsentscheidung der Grundsatz. Auch der Anwendungsbereich dieses Grundsatzes wurde konsequent weiter ausgebaut. Während die qualifizierte Mehrheitsentscheidung bei jeder Vertragsänderung und auch unter dem Verfassungsvertrag immer mehr Bereiche erfasst, ist die Stimmengewichtung, also die Frage, welchem Staat in ihrem Rahmen welches Gewicht beikommen wird, immer wieder heftig umstritten. Die Argumentationen schwanken zwischen denjenigen, welche die Staatengleichheit stärker gewichten und jenen, die der Bevölkerungszahl ein größeres Gewicht beimessen. Die Diskussion geht also weniger um die Grenzsetzung der Möglichkeiten der EU, sondern mehr um den eigenen Einfluss auf die Nutzung europäischer Kompetenzen. Der gefundene – und im Detail wohl auch in Zukunft immer wieder umstrittene – Kompromiss verlangt doppelte Mehrheiten, was die Entscheidungsfindung in qualifizierter Mehrheit – verglichen mit ihren Anfängen – erschwert. Dies ist jedoch bei einem Europa von 25 und mehr Mitgliedstaaten nur allzu verständlich. Obwohl die qualifizierte Mehrheitsentscheidung heute gegenüber der Einstimmigkeit bei weitem bevorzugt wird, zeichnet sich die Tendenz ab, ihre Anforderungen zu erhöhen. Neben der stärkeren Gewichtung der Bevölkerungszahl zeigt auch eine andere Entwicklung, wie sich die Demokratisierung der EU im Ministerrat durch den Verfassungsvertrag in Form von verstärkter Transparenz hätte niederschlagen können: In seiner Eigenschaft als Gesetzgeber wäre dem Ministerrat durch die Konzeption des Verfassungsvertrages eine Pflicht zur öffentlichen Tagung auferlegt worden, nach Art. I-24 (6) VVE. Dieses Plus für Transparenz und Nachvollziehbarkeit – und damit für das Zustandekommen von Input-Legitimität – kann sich auch negativ auswirken für die herkömmliche Art der Ratsentscheidungsfindung: das Schnüren von Paketlösungen in Bargaining-Prozessen, also das Verquicken von Einzelentscheidungen über Politikfelder und Arenen hinweg, wird durch solch eine Lösung erschwert. Abgemildert wird die nationale Prägung des Gemeinschaftsorgans „Ministerrat“ durch die ihm unterstellten Hilfsorgane. An erster Stelle wären da die „kleinen Ministerräte“ COREPER II und I zu nennen: In diesen werden die Mitgliedstaaten von den Leitern und Stellvertretenden Leitern ihrer Ständigen Vertretungen bei der EU vertreten, welche nicht weniger als die Minister als deren Vertreter im Ministerrat an nationale Interessen gebunden sind; doch durch ihre ständige Präsenz in Brüssel haben sie auch besondere Kenntnis von den nationalen Interessen der anderen Mitgliedstaaten und dem gemeinschaftlichen Interesse im Rahmen der EU. Sie werden sehr stark europäisch sozialisiert. Auch das Generalsekretariat – ein rein gemeinschaftlich geprägtes Hilfsorgan – wirkt durch seine Tätigkeit nicht nur auf die Arbeits- sondern auch auf die Kompromissfähigkeit des Ministerrates ein.
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Die Vertreter der neuen Mitgliedstaaten werden sich hier sehr schnell integrieren, da sie bereits seit Jahren durch den Verhandlungsmarathon in die Verhandlungsregime eingebunden sind. Die Präsidentschaft des Ministerrates wechselt bislang halbjährlich zwischen den Mitgliedstaaten. Vom Konzept der Rotation sieht auch der Verfassungsvertrag grundsätzlich nicht ab (Art. I-25 (7) VVE), doch enthält der Vertrag keine Beschränkung bezüglich des Innehabens des Vorsitzes auf ein halbes Jahr, vielmehr wird eine einjährige Präsidentschaft angestrebt. Eine Ausnahme vom Rotationsprinzip bildet die Ratsformation „Auswärtige Angelegenheiten“, die nach dem Konzept des VVE verselbständigt und deren Vorsitz ständig vom „Außenminister“ ausgeübt worden wäre. Die Bedeutung der Präsidentschaft in den Formationen des Ministerrates hätte freilich mit der Einführung einer Präsidentschaft des Europäischen Rates abgenommen. Die Präsidentschaft im Ministerrat ließe sich nach diesem Konzept wohl tatsächlich eher als „Vorsitz“ bezeichnen. Die seit Maastricht deutlich auftretende Tendenz, das gemeinschaftliche Gerüst der Mitwirkungs- und Mitbestimmungsorgane der Mitgliedstaaten zu stärken – COREPER, Generalsekretariat, Hoher Vertreter der GASP bzw. Außenminister, Präsidentschaft des Europäischen Rates – , lässt sich auf den Wunsch nach besserer Koordination und weniger häufigen Schwerpunktwechseln zurückführen; sie relativiert aber auch die grundsätzlich starke Rückbindung an die Mitgliedstaaten und erhöht potentiell die europäische Prägung nationaler Regierungsarbeit. 3.3 Die Europäische Kommission Während das Europäische Parlament und die beiden Räte unterschiedlich stark gemeinschaftlich geprägt sind, ist die Europäische Kommission Gemeinschaftsorgan durch und durch, primär dem „europäischen Interesse“ verpflichtet. Dass der meist aus dem jeweiligen nationalen politischen Kontext stammende Kommissar die nationalstaatliche Sozialisierung und Netzwerkeinbindung – zu denken sei nur an die politische Partei, der er entstammt – nicht in einer Art „Stunde Null“ ad acta legen kann, ist allerdings klar. Das von den Kommissaren gepflegte „The country I know best“ als Platzhalter für den Heimatstaat ist eine nette Floskel. Der Grad der Unabhängigkeit eines Kommissars steigt mit der Distanz zur nominierenden Regierung, in Zeiten einer Cohabitation, oder der Machtübernahme der Opposition, mit Verfallen der Wiedernominierungsoption, letztlich mit individueller ideologischer Distanzierung. Sowohl die Kommissionspräsidenten als auch die einzelnen Kommissare haben diese Unabhängigkeit unterschiedlich gelebt. Trotz aller Einwände gegenüber der faktischen Unabhängigkeit der Kommissare von nationalen Kräftefeldern konnte die Kommission ihre Rolle als „Motor der Integration“ und „Hüterin der Verträge“ immer wieder in Schüben ausspielen und partiell auch ausbauen. Neben diese beiden Titel gesellt sich immer häufiger die Idee, die Kommission als „Europäische Regierung“ anzusehen oder sie zumindest in diese Richtung weiter zu entwickeln. Und in der Tat lassen sich im institutionellen Wandel der Europäischen Kommission Elemente erkennen, die neben ihr Initiativmonopol in der ersten Säule treten und einer solchen Entwicklung zuträglich wären: Im Vertrag von Amsterdam wurde der Präsident der Kommission in zweifacher Hinsicht gestärkt: (1) Die Modifikation seines Ernennungsverfahrens, das heißt die stärkere Beteiligung des Parlaments, erhöhte seine Legitimation. (2) Seine Handlungsfähigkeit wurde dadurch erweitert, dass ihm die „politische Führung“ der
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Kommission anvertraut und er am Ernennungsverfahren der Kommissare beteiligt wurde, wodurch seine erhöhte Legitimation auf die gesamte Kommission ausstrahlte. Im Vertrag von Nizza erfolgte im Übrigen eine Supranationalisierung des Vorschlagsrechts bezüglich des Amtes des Kommissionspräsidenten: War zuvor der Vorschlag von den Regierungen der Mitgliedstaaten außerhalb eines Gemeinschaftsorgans vorgenommen worden, war nach Art. 214 EGV Nizza künftig der Rat in der Zusammensetzung der Staatsund Regierungschefs mit dieser Aufgabe betraut, und dies auf Basis einer qualifizierten Mehrheitsentscheidung. Diese Stärkung der Kommission als politisches Organ wäre durch den Verfassungsvertrag gefördert worden. Nach dessen Konzept hätte der Einfluss des Europäischen Parlaments nicht mehr nur zur bloßen Zustimmung, sondern zu einer echten Wahl des Präsidenten der Europäischen Kommission geführt; die Ergebnisse der Wahlen des Europäischen Parlaments hätten dann bereits bei der Auswahl des Kandidaten miteinbezogen werden müssen. Der Kommissionspräsident hätte ferner ein Recht zur Entlassung der Kommissare erhalten. Doch auch so war die Wahl der neuen Kommission im Jahre 2004 weit mehr als nur ein „Abnicken“. Die Bestellung war mehr als nur die Summe nationaler Willensäußerungen. Schon die Nominierung des Kommissionspräsidenten war ein Politikum: Der Wunschkandidat der meisten, der Luxemburger Jean-Claude Juncker, stand nicht zur Verfügung. Der Kandidat vieler, der belgische Regierungschef Guy Verhofstadt, galt Europaskeptikern als „zu föderalistisch“ und deshalb als nicht konsensfähig. Zudem stammte er nicht wie der schließlich gewählte José Manuel Barroso dem konservativen Lager, das mit der EVP im EP die größte Fraktion stellt. Aufsehen erregend war bei der Auswahl der Kommissare die Ablehnung der italienischen Personalie „Rocco Buttiglione“, dem „Illiberalität“, ein antiquiertes Frauenbild und zu große Kirchennähe vorgeworfen wurde, durch das EP. Auch die interne Zusammensetzung musste verändert werden, nachdem die Eignung des Ungarn László Kovács (Sozialist) für das Energieressort bezweifelt wurde und dieser als Ausgleich für den rechtskonservativen Buttiglione zumindest das Ressort wechseln musste. Das erstmals europaweit politisierte Nominierungsverfahren wurde zwischendurch sogar ausgesetzt. Wir können angesichts dieser Vorkommnisse durchaus von einer neuen Politisierung der Institution Kommission sprechen. Das EP, ansonsten oft auf der Seite der Kommission gegen den Rat, übte hier Äquidistanz gegenüber Kommission und Rat. Zur institutionellen Rolle der Europäischen Kommission in der 2. und 3. Säule: Trotz gradueller Stärkung bleibt sie doch in diesen Bereichen heute noch zu schwach, um auf ganzer Linie in die Nähe des Konzepts einer Europäischen Regierung gerückt werden zu können. Einer „Regierung“, der die Zuständigkeit – oder besser: die Richtlinienkompetenz – für die Politikfelder Inneres, Justiz, Verteidigung und Äußeres vorenthalten wird, lässt sich tatsächlich kaum in den oben angeführten, aus nationalstaatlichen Kontexten entlehnten Terminus zwängen. Mit der Osterweiterung wuchs die Kommission um zehn Kommissare an. Die Zuständigkeiten mussten neu zugeschnitten werden. Die „Neuen“ wurden entsprechend dem politischen Gewicht der sie entsendenden Staaten bedient. Formal herausgehoben ist die Stellung des Esten Siim Kallas als Vizepräsident für Verwaltung, Audit und Betrugsbekämpfung. Politisch herausgehoben ist die polnische Kommissarin Danuta Hübner, der die Organisation der Regionalpolitik anvertraut wurde und damit die Hoheit über den zweitgröß-
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ten Budgetposten. Dass dabei eine Kommissarin aus einem Land Sachwalterin eines Bereiches wird, von dem „the country she knows best“ vornehmlich profitiert, war überraschend weil durchaus unüblich. Was die interne Strukturierung anbetrifft, so werden sich Modifikationen spätestens mit dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens zur EU im Jahre 2007 oder 2008 ergeben. Einschlägig ist Art. 4 des Protokolls über die Erweiterung der Europäischen Union. Demnach muss in der Folge die Zahl der Mitglieder der Kommission unter der der Mitgliedstaaten liegen. Dem Rat wird aufgetragen, einstimmig ein System der Rotation zu etablieren, das die Gleichberechtigung der Staaten berücksichtigt. Dass diese Regelung in der Beitrittsakte festgezurrt werden konnte, erweist sich heute als Glücksfall. Es herrscht weitgehender Konsens, dass die Kommission bereits heute überdimensioniert ist. Vorschläge über eine Rotation, über ein System von Junior- und Seniorkommissaren, oder die vollständige Übertragung der Auswahlfunktion an den Kommissionspräsidenten, waren nicht konsensfähig. Eine letztendliche Lösung konnte in Nizza nicht gefunden werden, auch weil die neuen Mitglieder auf der Formel „ein Land – ein Kommissar“ bestanden. Nur zu deutlich wurde, dass man den jeweiligen „nationalen Kommissar“ eben doch, entgegen der Intention der Verträge, als Sachwalter der nationalen Interessen betrachtete. Die Regierungen stehen im Rat unter Zugzwang. Die „Rotation“ wird kommen; ein anderes Modell als ein System basierend auf dem bündischen Prinzip nach der Formel D = F = Lux = Est ist kaum denkbar. Zu berücksichtigen ist auch der Ausgleich der Linien „Altmitglied-Neumitglied“ und „groß-klein“, evtl. sogar eine parteipolitische Dimension. 3.4 Das institutionelle Gleichgewicht Wenn man die EU als eine den zwei Polen „Staatengleichheit“ und „Demokratie“ verpflichtete Entwicklung betrachtet, wird deutlich, dass neue EU-spezifische Konzepte der Gewaltenverschränkung (institutionelles Gleichgewicht) notwendig werden. Stand in den Ursprüngen ihrer Entwicklung der Grundsatz der Staatengleichheit im Vordergrund, so hat mit dem Kompetenzgewinn und dem im Alltag der Bürger wirkenden Handeln der EU ihre Demokratieverpflichtung zugenommen. Die formalen und höchst umstrittenen Elemente der Input-Legitimität um sichtbare, Output-Legitimität erzeugende Politikergebnisse zu ergänzen, ist umso mehr erforderlich, als der permissive Konsens, der die Union lange trug, etwas am bröckeln ist. Dem wird durch Entwicklungen der Organe der EU Rechnung getragen; doch deren Wandel stellt auch ein immer neues Verhältnis der Organe zueinander her, welches ausgewogen und effizient zu sein hat. Aus den Vertragsänderungen seit Maastricht und dem Verfassungsvertrag sind bzw. wären alle Organe gestärkt hervorgegangen: Besonders eindrucksvoll ist der Wandel des Europäischen Parlaments. Aber auch die politisch gestärkte Kommission und die Räte, die durch einen weiter entwickelten Unterbau effektiver arbeiten können, dürfen sich als Gewinner der Vertragsänderungen betrachten. Betrachtet man das Verhältnis der Kommission zu den Räten, so erscheint die Position der Kommission dem Ministerrat gegenüber einerseits gestärkt: Durch die stärkere Anbindung an und Abhängigkeit vom Parlament wird ihre Verhandlungsposition verbessert und ihre Abhängigkeit vom Rat relativiert (Huber 2003: 586). Andererseits ist der früher strukturell benachteiligte Ministerrat mit seinem ständigen Wechsel der Regierungsvertreter und – nach Konzeption des Verfassungsvertrages – auch der Europäische Rat durch einen ständigen Überbau auf europäischer Ebene gestärkt. Da-
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mit nehmen Kommunikationsfähigkeit und Koordinationsfähigkeit zwischen Kommission und den Räten zu. Dieses bloße Potential wird im Verfassungsvertrag zu einer Notwendigkeit in der Außenpolitik: Die durch den Außenminister hergestellte Verknüpfung kann nur bei erhöhter Kommunikation, Koordination und Kooperation zwischen der Kommission einerseits, sowie dem Ministerrat und dem Europäischen Rat andererseits funktionieren. Statt die Kommission zu einer Europäischen Regierung zu entwickeln, entsteht vielmehr eine geteilte Europäische Regierungsstruktur, in welcher der Europäische Rat die Richtlinienkompetenz innehat und die Kommission dann innerhalb dieses Rahmens agiert (Grawert 2003: 987). Diese geteilte Regierungsstruktur wird den EU-Spezifika gerecht. Als ungeklärt darf freilich angesehen werden, inwiefern die Schaffung des Amtes eines Präsidenten des Europäischen Rates das Amt des Kommissionspräsidenten schwächt. Institutionell-protokollarisch scheint der Präsident des Europäischen Rates höher zu stehen; im Alltag wird aber der Kommissionspräsident größere Gestaltungsmöglichkeiten haben, schon weil der Europäische Rat sich nicht seiner besonderen Funktion als Organ der Vertretung der Mitgliedstaaten berauben lassen darf. 4
Ausblick: Regieren in der neuen Union
Mit dem Beitritt von zehn Staaten aus Mittel- und Osteuropa und dem Mittelmeer kumulierte die institutionelle Entwicklung in der Ausarbeitung des Verfassungsvertrages. Erweiterung und Vertiefung sollten parallel geschehen. Der Verfassungsvertrag ist vorerst gescheitert, weswegen neue Wege zur Vollendung der Osterweiterung gesucht werden müssen (vgl. u.a. Ágh 2006a; 2006b). Die Erweiterung muss vom Formalen in eine inhaltlichkonstruktive Dimension transponiert werden, gekennzeichnet von Sozialisierung der Politiker und Beamten in europäischen Strukturen (Dieringer 2004: 176). Dies geschieht am einfachsten, einem funktionalen Leitbild folgend wohl auch am besten, durch tagtägliche Interaktion von Akteuren bei der Ausgestaltung der Politikfelder. Durch die Interaktion in unterschiedlichen politischen Arenen werden sich die politisch-administrativen Netzwerke etablieren, die für modernes Regieren so entscheidend sind. Die polity der Union wird aufgrund der formalrechtlichen Erstarrung zumindest auf dem Papier relativ stabil bleiben. Eine politikfeld- und arenaspezifische Fusion von institutionellen Strukturen muss deshalb nicht ausgeschlossen sein, wenn die klassische Hierarchie der Verwaltung von flexibleren Netzwerkstrukturen abgelöst wird. Auch Netzwerke sind nicht bar jeder Hierarchie. Allerdings können sie formale Strukturen und Hierarchien dort ersetzen, wo neue Inhalte formuliert werden und neue Aufgabenfelder einer ersten Strukturierung bedürfen. So könnte es etwa einen europäischen Außenminister durch die Hintertür geben, ohne formalen Doppelhut, aber mit informaler Normsetzungskompetenz, die sich durch Akzeptanz im jeweiligen Netzwerk legitimiert. Der formale institutionelle Nachvollzug einer solchen De factoInstitutionalisierung kann dann unter Nutzung eines sich öffnenden window of opportunity geschehen, wenn die hierfür notwendigen streams temporär kumulieren. Die explosionsartige Vermehrung von Wissen, Globalisierung und zunehmende Interaktion zwischen Individuen, Staaten, Organisationen, NGO´s und anderen kollektiven Akteuren, die Verdichtung von sozialen Beziehungen und die Herausforderungen der globalen Ökonomie werden es der EU nicht erlauben, auf dem gegenwärtigen Integrationsniveau zu verharren. Die Diskussionen in Mittel- und Osteuropa über die Bewahrung des Nationalen, so verständlich sie sein mag angesichts der historischen Entwicklung, der hieraus resultie-
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rende Euroskeptizismus, sind hinsichtlich der Notwendigkeit von Problemlösungen wenig hilfreich. Hinzu kommt ein Euroskeptizismus in Westeuropa, der sich weniger aus der Idee der Bewahrung der nationalen Kultur speist, sondern aus dem Demokratiedefizit der EU. Beides zusammen erschwert natürlich die Fortentwicklung der Integration. Positiv zu bewerten ist allerdings, dass nach und nach der eher gefühlsbetonte permissive Konsens, der die Union bisher trug, von einer eher interessensgeleiteten Unterstützung abgelöst werden könnte. Diese mag entstehen, wenn es – in Ansätzen bereits zu spüren – zu einer „Politisierung der Europapolitik“ kommt und der politische Diskurs Europa entdeckt. Dies könnte gar zu einer Europäisierung der Parteiensysteme führen, zum Entstehen einer bei Wahlen mitentscheidenden neuen Konfliktlinie. Erste Ansätze sind in Mittel- und Osteuropa zu beobachten, wo Euroskeptizismus vs. EUphorie bereits strukturbildend ist (vgl. u.a. Kleger/Karolewski/Munke 2004: 321; Taggart/Szczerbiak 2004: 12). Aus einem „System“ würde zunehmend ein „Konstrukt“, das als Referenzpunkt für immaterielle Werteallokation dient. Literatur Ágh, Attila, 2006a: Eastern Enlargement and the future of the EU27: EU foreign policy in a global world, Budapest. Ágh, Attila/Ferencz, Alexandra (eds.), 2006b: Deepening and Widening in an Enlarged Europe: The Impact of the Eastern Enlargement, Budapest. Beckmann, Klaus/Dieringer, Jürgen/Hufeld, Ulrich (Hrsg.), 2005: Eine Verfassung für Europa, Tübingen, 2. Aufl. Dauderstädt, Michael, 2000: Die wirtschaftliche Integration der Beitrittsländer: zwischen neuer Abhängigkeit und vorweggenommener Mitgliedschaft, in: Lippert, B. (Hrsg.): Osterweiterung der Europäischen Union – die doppelte Reifeprüfung, Bonn, S. 287-308. Die Zeit, 9.6.2005: Europas Neue, Keine Gleichmacherei, S. 9. Dieringer, Jürgen, 2004: Die Europäische Union nach der Osterweiterung aus der Sicht der neuen Mitgliedstaaten, in: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik 53:2, S. 167-177. Dieringer, Jürgen, 2005: The 2004 EP Elections in Hungary. Predominance of Domestic Factors, in: Hrbek, R. (Hrsg.): European Parliament Elections 2004 in the Ten New EU Member States. Towards the Future European Party System, Baden-Baden, S. 91-105. Europäische Kommission, September 2005: Standard Eurobarometer 63. Die Öffentliche Meinung in der Europäischen Union. Europäische Kommission, Dezember 2005: Standard Eurobarometer 64. Die Öffentliche Meinung in der Europäischen Union. Erste Ergebnisse. Europäische Kommission, 2005: The Commission`s contribution to the period of reflection and beyond: Plan-D for Democracy, Dialogue and Debate, COM (2005) 494 final. Doktor, Christoph, 2005: Polish Parties and European Integration, in: Hrbek, R. (Hrsg.): European Parliament Elections 2004 in the Ten New EU Member States. Towards the Future European Party System, Baden-Baden, S. 181-199. Drexler, András, 2006: Ungarn, in: Weidenfeld, W./Wessels, W: (Hrsg.): Jahrbuch der Europäischen Integration 2005, Baden-Baden, S. 409-412. Gazeta Wyborcza; 30.5.2005: Stellungnahme von Jacek Saryusz-Wolski, S. 3. Grawert, Rolf; 2003: Wie soll Europa organisiert werden? – Zur konstitutionellen „Zukunft Europas“ nach dem Vertrag von Nizza –, in: Europarecht 38:6, S. 971-991. Hrbek, Rudolf (ed.); 2005: European Parliament Elections 2004 in the Ten New EU Member States. Towards the Future European Party System, Baden-Baden.
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Der staatliche Souveränitätsvorbehalt in der EU: Polen als Paradigma Der staatliche Souveränitätsvorbehalt in der EU
Ulrich Hufeld
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Polens Souveränität „In der Sorge um unser Vaterland und seine Zukunft, nachdem wir im Jahre 1989 die Möglichkeit wiedergewonnen haben, souverän und demokratisch über unser Schicksal zu bestimmen, beschließen wir, das Polnische Volk – alle Staatsbürger der Republik … uns diese Verfassung zu geben“.
Dieser Text aus der Präambel der polnischen Verfassung vom 2. April 1997 (Bos 2004: 157ff. zur Genese) steht in der modernen und seit den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts klassisch gewordenen Tradition der Verfassunggebung (Hufeld 2005a: 480ff). Staatsangehörigkeit der Bürger und die Souveränität der Bürgerschaft setzt die Präambel voraus. Bürger, die als Staatsbürger ihre verfassunggebende Gewalt ergreifen, vollenden nur mehr das Werk der Staatsgründung. Die Verfassung als Krone der Staatsschöpfung. Im Krönungsakt verwandelt sich die verfassunggebende in verfassungsgebundene Gewalt, Volkssouveränität in Staatssouveränität von Verfassungs wegen: „Die oberste Gewalt in der Republik Polen steht dem Volk zu. Das Volk übt die Gewalt durch seine Vertreter oder unmittelbar aus.“ (Art. 4) – „Die Organe der öffentlichen Gewalt handeln auf der Grundlage und in den Grenzen des Rechtes.“ (Art. 7) – „Die Verfassung ist das oberste Recht der Republik Polen.“ (Art. 8 Abs. 1) Alles nur blanke Theorie? Mitnichten! Wenn Souveränität definiert wird „als freie Entscheidungsmöglichkeit in der Grenzsituation“ (Randelzhofer 2004: 157), dann war die Souveränitätsfrage nie aktueller; denn die Europäische Union – ein Projekt der Entgrenzung – führt ihre Mitgliedstaaten in immer neue Grenzsituationen. Wenn Verfassung definiert wird als gute Balance zwischen Politik und Recht, zwischen Ermächtigung und Entmachtung (Hufeld 2005a: 476, 482ff., 485ff.; Hufeld 2005b: 870), dann war die Verfassungsfrage niemals dringlicher; denn die Europäische Union – ein Projekt der Verrechtlichung – verändert die Balancesysteme der nationalen Verfassungen radikal1 und ringt ihrerseits um ein Gleichgewicht zwischen europäischer Politik und vertragsrechtlicher Entmachtung. In zwei spektakulären Fällen vor die Souveränitätsfrage gestellt, hat der polnische Verfassungsgerichtshof eindrucksvoll geantwortet. Er hat die „freie Entscheidungsmöglichkeit in der Grenzsituation“ ausgelotet und klargestellt, wie Polen zwischen Europapolitik und der Entmachtung durch Europarecht balancieren will. In der politischen und dogmatischen Klarheit der Entscheidungen zur Mitgliedschaft Polens in der EU (u. 2) und zum Europäischen Haftbefehl (u. 3) kommt der polnischen Verfassungsrechtsprechung zum
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Riklin 2006: 420: „Die Gesamtverfassung des modernen Staates erschöpft sich nicht mehr in der Staatsverfassung.“
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Europaverfassungsrecht2 paradigmatische Bedeutung zu für den staatlichen Souveränitätsvorbehalt in der EU (u. 4.).
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Polens Beitrittsurteil
Vom Beitritt selbst, von Polens Mitgliedschaft in der Europäischen Union und allen damit verknüpften Souveränitätseinbußen handelt das Urteil des polnischen Verfassungsgerichtshofs vom 11. Mai 20053. Die Grundlage für Polens Teilhabe am Prozess der Integration findet das Gericht ausschließlich in der polnischen Verfassung4. Europas Verfassung erweist sich als Derivativverfassung. Das Gericht rekonstruiert deren Rückbindung an das nationale Zustimmungsgesetz und seinen Rechtsanwendungsbefehl mit der gleichen Konsequenz wie das deutsche Bundesverfassungsgericht5. Den polnischen Souveränitätsvorbehalt entfaltet das Urteil in drei Dimensionen:
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Der Quantitätsvorbehalt: „Die Verfassung ermächtigt in Art. 90 Abs. 1 zur Übertragung der Kompetenzen der Staatsorgane lediglich ‚in einigen Angelegenheiten‘. Daraus ergibt sich das Verbot, sämtliche Kompetenzen eines Verfassungsorgans bzw. die Kompetenzen, die den Kern seiner Zuständigkeit bilden, oder alle staatlichen Kompetenzen in einem bestimmten Bereich zu verlagern.“ (Ziff. 7) Der Kontrollvorbehalt: „Die Mitgliedstaaten behalten das Recht zu beurteilen, ob die Rechtsetzungsorgane der Gemeinschaften (der Union) beim Erlass der jeweiligen Rechtsvorschriften in den Grenzen der ihnen erteilten Befugnisse handelten und ob sie dabei die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit beachteten. Vorschriften, die über diese Grenzen hinausgehen, haben keinen Vorrang vor denen des innerstaatlichen Rechts.“ (Ziff. 15) Der Hierarchie- und Entscheidungsvorbehalt: „Das Konzept und das Modell des Europarechts schufen eine neue Situation, in der in jedem Mitgliedstaat zwei autonome Rechtssysteme nebeneinander gelten. … Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass es zu Kollisionen zwischen dem Gemeinschaftsrecht und der Verfassung kommen kann. … Eine Kollision dieser Art kann keinesfalls durch die Annahme des Vorrangs der Regelungen des Gemeinschaftsrechts gegenüber denen der Verfassung beseitigt werden. … In einer solchen Situation müsste vielmehr das Volk als Souverän, oder das zur Vertretung des Volkes von Verfassungs wegen befugte Organ der staatlichen Gewalt, die Entscheidung treffen, ob die Verfassung geändert wird, entsprechende Änderungen in den gemeinschaftlichen Regelungen angestrebt werden oder – im äußersten Fall – Polen aus der Europäischen Union austritt.“ (Ziff. 12 f.)
Hier ist das Europaverfassungsrecht im weiteren Sinne gemeint: sowohl das vertragliche (das Primärrecht der EU und der EG; Sekundärrecht, soweit es das nationale Verfassungsrecht ändert) als auch das staatliche (Integrationsklauseln, das Recht der europainduzierten Verfassungsänderung). K 18/04. Hier und im Folgenden zitiert nach der inoffiziellen deutschen Zusammenfassung – zugänglich über http://www.trybunal.gov.pl/eng/summaries/documents/K_18_04_DE.pdf – von Dr. Bolesław Banaszkiewicz, Leiter der Abteilung für Rechtsprechung und Studien im Büro des Verfassungsgerichtshofes, Warschau. Abdruck unten, Anhang I. Ziff. 2 des Urteils (Fn. 3). BVerfGE 89, 155 (187f., 190) – Maastricht; Hillgruber 2004: 976ff.
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2.1 Der Quantitätsvorbehalt Mit Rückhalt in Art. 90 Abs. 1 der Verfassung – Entäußerung von Hoheitsrechten lediglich „in einigen“ Angelegenheiten – kann der polnische Verfassungsgerichtshof dem Quantitätsvorbehalt schärfere Konturen geben als es dem Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil möglich war; die polnische Fasson prägt zugleich einen Kompetenzkern- und Sachbereichsvorbehalt aus. In der Auslegung des Art. 90 Abs. 1 gelangt der Gerichtshof zu einer apodiktischen Sentenz, indessen das Maastricht-Urteil seinen Quantitätsvorbehalt in den allgemeinen Legitimationszusammenhang stellen und aus dem Demokratieprinzip ableiten musste6. Der polnische Quantitätsvorbehalt erweist sich als prototypische Selbstermächtigungsformel einer selbstbewussten Verfassungsjustiz. Offenheit, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit in der Handhabung machen ihr Geheimnis aus. Der Sachbereichsvorbehalt etwa – Verbot der Kompetenzverlagerung für „alle staatlichen Kompetenzen in einem bestimmten Bereich“ – will keinen subsumtionsfertigen Maßstab anbieten. Die Formel gibt keinen Aufschluss darüber, ob etwa der „Bereich“ Subventionspolitik ein „bestimmter“ ist und mit den Art. 87–89 EG-Vertrag so vollständig („alle“) „verlagert“, dass sich die polnische Verfassung der Entstaatlichung, Europäisierung und Verrechtlichung der Subventionspolitik widersetzt. Ähnlich steht es um den Kernbereichsvorbehalt. Wann ein Verfassungsorgan im „Kern seiner Zuständigkeit“ betroffen ist, entscheidet der polnische Verfassungsgerichtshof in concreto, autoritativ und mit der richterlichen Kraft des letzten Wortes. Der Quantitätsvorbehalt erfüllt eine weitere Funktion; er ist die wohl einzige Sicherheitsvorkehrung zum Schutz gegen die „umstürzende Evolution“7; das ist seine wichtigste Funktion: Er soll verhindern, dass Quantität in Qualität umschlägt; dass die Aneinanderreihung einzelner, für sich genommen unproblematischer Kompetenzverluste auf dem Weg der „Einzelermächtigungen“ in die „immer engere Union der Völker Europas“ (Art. 1 Abs. 2 EU-Vertrag) in summa die Entstaatlichung Polens bewirkt: „Insbesondere darf man auf Grund der verfassungsrechtlichen Regelungen keine Kompetenzen von substantiellem Gewicht übertragen, infolge deren Preisgabe die Republik Polen nicht mehr als ein souveräner und demokratischer Staat fungieren könnte.“8 Die Botschaft entspricht der des Maastricht-Urteils des Bundesverfassungsgerichts: „Aus alledem folgt, dass dem Deutschen Bundestag Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben müssen“ (BVerfGE 89, 155 [186]).
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BVerfGE 89, 155 (184–186): „Ein Übergewicht von Aufgaben und Befugnissen in der Verantwortung des europäischen Staatenverbundes würde die Demokratie auf staatlicher Ebene nachhaltig schwächen …“. Hufeld 1997: 129–132; Lerche 1993: 144 hat darauf hingewiesen, dass sich „ein einmaliger Kraftakt zur Erzeugung europäischer Gesamtstaatlichkeit“ kaum mehr im Gefüge des Grundgesetzes vorstellen lasse, „wohl aber die – so überhaupt – wahrscheinlichere schrittweise (in zeitlicher wie materienmäßiger Hinsicht) Ausbildung von Schwebeverhältnissen bis hin zur möglicherweise einmal konstatierbaren Erlangung eines (para-)staatlichen Gesamtzustandes“. Strukturell vergleichbar die „schleichende Gesamtänderung“ in Österreich; dazu Gamper 2005: 199ff. Ziff. 8 des Urteils (Fn. 3).
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2.2 Der Kontrollvorbehalt Auch der Kontrollvorbehalt, den der polnische Verfassungsgerichtshof für „die Mitgliedstaaten“, für Polen, letztlich für sich selbst reklamiert (o. vor 2.1), rekurriert auf eine in Deutschland wohlbekannte Grundentscheidung. Der Anspruch der nationalen Verfassungsgerichte, die Kompetenzausübung der Unions- und Gemeinschaftsorgane unter Kontrolle zu halten und Kompetenzanmaßungen abzuwehren – Tatbestand: ausbrechender Rechtsakt; Rechtsfolge: Unverbindlichkeit –, steht und fällt mit dem Status der nationalen Zustimmungsgesetze. Das deutsche Bundesverfassungsgericht und der polnische Verfassungsgerichtshof schreiben den nationalen Integrationsgesetzen die Bedeutung einer Basisverfassung zu. Demgemäß verbleibt dem vertraglichen Europaverfassungsrecht der Status der Derivativverfassung (und obliegt dem Europäischen Gerichtshof die Entscheidungshoheit über Kompetenzgrenzen wiederum nur nach Maßgabe der Basisverfassung): „Geltung und Anwendung von Europarecht in Deutschland hängen von dem Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes ab. Deutschland wahrt damit die Qualität eines souveränen Staates aus eigenem Recht und den Status der souveränen Gleichheit mit anderen Staaten“9. Eben diese Souveränität beansprucht auch Polen. Indem die Verfassungsgerichte die so konstruierte Staatssouveränität den Letztinterpreten der Zustimmungsgesetze anvertrauen, sich selbst also10, liegt es an ihnen, das Konfliktpotential im Verhältnis zum Europäischen Gerichtshof zu bedenken und den Kontrollvorbehalt angemessen zu handhaben. Die Tendenz mag europaweit dahin gehen, den verfassungsrichterlichen Kontrollvorbehalt der Staaten als Notrecht mit Ausnahmecharakter11 zu konzipieren. Dieser Konsens wird aber nur halten, solange die europäischen Sekundärrechtsakte – mögen sie, je nach Interpretation der Zustimmungsgesetze, „ausbrechen“ oder nicht – mit den nationalen Verfassungen vereinbar sind. Das ist die Hauptbotschaft aus Warschau! In Deutschland ist diese Problemdimension bislang nicht diskutiert worden. Dass ein Sekundärrechtsakt einerseits mit dem Primärrecht und dem Zustimmungsgesetz vereinbar ist (also nicht „ausbricht“), andererseits aber unvereinbar mit der nationalen Verfassung, kommt für Deutschland nicht in Betracht: das Integrationsgesetz ist selbst verfassungsänderndes Gesetz und ermöglicht Verfassungsänderungen (Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG), so dass ein verfassungskonformes Zustimmungsgesetz von vornherein das europäische Primärrecht, künftiges Sekundärrecht und das nationale Verfassungsrecht aufeinander abstimmt (näher dazu u. 4.3). Anders in Polen. Dort interessiert nicht nur, ob der europäische Sekundärrechtsakt Rückhalt findet im konsentierten Primärrecht (Kontrollvorbehalt); in Polen interessiert auch, ob die Rechtsakte, die das europäische Vertragssystem hervorbringt, vor Art. 8 Abs. 1 der Verfassung bestehen: dem Vorranganspruch der polnischen Verfassung („das oberste Recht der Republik Polen“). Daraus erwächst der – für die polnische Europapolitik und das polnische Souveränitätsverständnis höchst bedeutsame – Hierarchie- und Entscheidungsvorbehalt.
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BVerfGE 89, 155 (190). Vgl. aber demgegenüber die Rechtsprechung des französischen Verfassungsrates, u. im Text bei Fn. 26f. BVerfGE 89, 155 (188): „Dementsprechend prüft das Bundesverfassungsgericht, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen.“ Vgl. dazu Walter 2005: 79ff.; Masing 2006: 265 („Eventualvorbehalt“).
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2.3 Der Hierarchie- und Entscheidungsvorbehalt Der polnische Souveränitätsvorbehalt in seiner dritten Dimension (o. vor 2.1 Punkt) hat es in sich. Er ist dogmatisch anspruchsvoll und politisch konfliktträchtig. Der Gerichtshof hat ihn aktualisiert mit seiner Entscheidung zum Europäischen Haftbefehl (u. 3). Der verfassungsrechtliche Ausgangspunkt findet sich an prominenter Stelle im polnischen Beitrittsurteils: „Der Beitritt Polens zur Europäischen Union stellt den Vorrang der Verfassung innerhalb der gesamten Rechtsordnung im Hoheitsgebiet der Republik Polen nicht in Frage.“ Wenn Polen diesen Satz zum Grundprinzip seines staatlichen Europaverfassungsrechts erhebt und lediglich sein einfaches Gesetzesrecht dem Vorrang des Europarechts unterwirft12, kommt es nicht umhin, im Kollisionsfall entweder auf die Anpassung des Europarechts an die polnische Verfassung zu drängen oder die Verfassung dem Europarecht anzupassen. Eben darauf besteht der Hierarchie- und Entscheidungsvorbehalt. Er nimmt in erster Linie den Integrationsgesetzgeber in die Pflicht. Der Gerichtshof hat klargestellt, dass die Verfassung nicht dazu ermächtige, „einer internationalen Organisation oder einem internationalen Organ die Kompetenz anzuvertrauen, Rechtsvorschriften zu erlassen oder Entscheidungen zu treffen, die mit der Verfassung … im Widerspruch stünden“13. Der polnische Gesetzgeber verfügt somit nicht über das Instrument, das Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG dem deutschen Integrationsgesetzgeber zur Verfügung stellt; dieser kann kraft seiner Integrationsgewalt Verfassungsänderungen inhärent mitbeschließen, aber auch ermöglichen, d.h. europäisches Primärrecht in Geltung setzen, das Sekundärrecht mit verfassungsändernder Wirkung freisetzt. Dem polnischen Gesetzgeber bleibt in Zukunft, wenn sich die Kollision in den Vertragsverhandlungen nicht hat vermeiden lassen und die Ratifikation ansteht, nur der direkte Weg: vorherige oder parallele Anpassung der Verfassung (Entscheidungsvorbehalt) zum Schutz ihrer Integrität (Hierarchievorbehalt) und im Zeichen der Integrationsfähigkeit Polens. Die Kompetenz zur Änderung der Verfassung (Art. 235) ist nicht Teil der Integrationsgewalt (Art. 90). Besteht Ungewissheit, kann der Präsident die Verfassungsmäßigkeit eines völkerrechtlichen Vertrages noch vor seiner Ratifikation verfassungsgerichtlich klären lassen (Art. 133 Abs. 2). Wie aber steht es um Polens Integrationsfähigkeit, wenn der Gesetzgeber die Kollision nicht a priori auflöst, sondern a posteriori – nach der Ratifikation – mit einer verfassungswidrigen Vertragsbestimmung und/oder einem verfassungswidrigen Sekundärrechtsakt konfrontiert wird? Das ist die Situation der politischen Zuspitzung, ein juristisches und politisches Dilemma, durch das sich Polen bis Oktober 200614 in Sachen Europäischer Haftbefehl hindurchmanövrieren muss.
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Art. 91 Abs. 3 der polnischen Verfassung: „Das von einer internationalen Organisation hervorgebrachte Recht wird unmittelbar angewandt und hat im Fall der Unvereinbarkeit mit dem Gesetz den Vorrang, wenn es sich so aus einem von der Republik Polen ratifizierten Vertrag, durch den eine internationale Organisation gebildet wird, ergibt.“ Ziff. 8 des Urteils (Fn. 3). Der Gerichtshof hat im April 2005 das Außerkrafttreten der verfassungswidrigen Vorschriften der polnischen Strafprozessordnung zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl um 18 Monate aufgeschoben: Urteil v. 27.4.2005, P 1/05. Im Folgenden zitiert nach der inoffiziellen deutschen Zusammenfassung (Abdruck unter Anhang II) – zugänglich über http://www.trybunal.gov.pl/eng/summaries/documents/P_1_05_DE.pdf – von Dr. Bolesław Banaszkiewicz, Leiter der Abteilung für Rechtsprechung und Studien im Büro des Verfassungsgerichtshofes, Warschau.
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Ulrich Hufeld Auslieferungsschutz in Polen unter Europäisierungsdruck
Die Sache ist brisant. Sie betrifft die Uridee der Staatlichkeit – die Relation zwischen Schutz und Gehorsam. Der Staat erwartet von seiten des Bürgers Gehorsam und schuldet seinerseits Schutz, insbesondere vor Auslieferung des Bürgers an eine fremde Staatsgewalt. Keine Verfassung formuliert das Bekenntnis zu Gehorsamspflicht und Schutzversprechen klarer als die polnische: „Jedermann hat die Pflicht, das Recht der Republik Polen zu beachten.“ (Art. 83) – „Die Republik Polen … gewährleistet … die Sicherheit der Staatsbürger“ (Art. 5). Seit dem Beitritt zur Europäischen Union steht die polnische Schutzverheißung unter Europäisierungsdruck. Zwar garantiert Polen von Verfassungs wegen, nach wie vor dem Beitritt unverändert, ohne jede Einschränkung (Art. 55 Abs. 1): „Die Auslieferung eines polnischen Staatsbürgers ist verboten.“ Andererseits jedoch verpflichtet die Verfassung auf Völkerrechtsfreundlichkeit (Art. 9), auf Unionstreue – auf Folgsamkeit gegenüber dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl15. Dessen primärrechtliche Grundlage (Art. 31 EU-Vertrag) hat Polen im Zuge des Beitritts ratifiziert. Der Rahmenbeschluss drängt auf „ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden“, das den herkömmlichen zwischenstaatlichen Auslieferungsschutz aufhebt im europäischen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“. Zum Übergabesystem gehört, dass die Staaten innerhalb der Union auch eigene Staatsbürger ausliefern bzw. nunmehr „übergeben“. Das „Vertrauen der Bürger in den gesicherten Aufenthalt auf dem Gebiet des Staates, zu dem sie eine verfassungsrechtlich gewährleistete Verbindung in Form der Staatsangehörigkeit haben“16 verwandelt sich, wenn das Projekt gelingt, in ein europäisches Vertrauen in Anknüpfung an die Unionsbürgerschaft. Darauf war Polen am Tag des Beitritts nicht vorbereitet und steht seither in einem offenen Normenkonflikt. Das ist der Kollisionsfall nach Ratifikation. Die Normenhierarchie steht unter Verfassungsschutz (Art. 8 Abs. 1). Also bleibt, wenn und weil eine einstimmige (Art. 34 Abs. 2 EU-Vertrag) Änderung des Rahmenbeschlusses nicht in Sicht ist, nur die politische Entscheidung zwischen nachhinkender Verfassungsänderung und Austritt aus der Europäischen Union. So jedenfalls hat der Verfassungsgerichtshof den polnischen Souveränitätsvorbehalt in seiner Ausprägung als Hierarchie- und Entscheidungsvorbehalt (o. vor 2.1, 3. Punkt) konzipiert. Nachhinkende Verfassungsänderung heißt aber: Über die Anpassung des Art. 55 Abs. 1 wird nicht in einem großen Ratifikationspaket entschieden, nicht im Kontext einer Vertragsreform, sondern in der prekären Wahl zwischen Befreiungsschlag und doppeltem Rechtsbruch (Verletzung der unionsrechtlichen Pflicht, Rahmenbeschlüsse umzusetzen, und Verletzung der Verfassungspflicht, völkerrechtliche Verträge zu erfüllen). Das ist die Konsequenz der polnischen Systementscheidung gegen die synchrone und für die separative Integrationsgesetzgebung (vgl. o. 2.3). Sie läuft Gefahr, die rechtzeitige Anpassung zu versäumen. Dafür steht beispielhaft der Widerstand der polnischen Verfassung (Art. 55
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RbEuHb 2002/584/JI v. 13.6.2002, ABlEG Nr. L 190 S. 1. Dagegen den Kontrollvorbehalt (o. im Text 2.2) zu aktivieren, hat Polen so wenig Anlass wie jeder andere EU-Staat: Der RbEuHb hält sich im Rahmen der Ermächtigung (Art. 31 Abs. 1 lit. a, b EU). Zitat aus dem Haftbefehl-Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts v. 18.7.2005, NJW 2005, 2289 (2290); dazu ausführlich Hufeld 2005b: 865ff.
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Abs. 1) gegen den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl. In Polen „ist der Umstand, dass ein innerstaatliches Gesetz zum Zwecke der Umsetzung des sekundären Unionsrechts erlassen wurde, an sich noch keine Gewähr dafür, dass es materiell mit den Normen der Verfassung vereinbar ist.“17 Für diese Vereinbarkeit zu sorgen, obliegt dem Gesetzgeber im Verfahren des Art. 235 Abs. 4: „Das Gesetz über die Verfassungsänderung wird vom Sejm mit einer Mehrheit von mindestens zwei Dritteln der Stimmen in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der gesetzlichen Abgeordnetenzahl beschlossen. Der Senat beschließt es mit absoluter Mehrheit der Stimmen in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der gesetzlichen Senatorenzahl.“ Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl erheischt eine Änderung des Art. 55 Abs. 1, der zum Kapitel II, zum Grundrechtsteil der polnischen Verfassung gehört. Damit ist die Änderung ein Fall des Art. 235 Abs. 6, der für ein Fünftel der Abgeordneten das Recht (nicht die Pflicht) vorsieht, das verabschiedete Änderungsgesetz einer Volksabstimmung zuzuführen; das Volk entscheidet dann mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen. So resultiert aus der separativen Integrationsgesetzgebung eine aus dem europäischen Kontext herausgehobene „Anpassungspolitik“, eine auf Einzelfragen kaprizierte und je nach Gegenstand hochpolitische Entscheidungssituation. Das absolute Auslieferungsverbot des Art. 55 Abs. 1 gerät gleichsam singularisiert in die politische Debatte. Eine negative Bewertung des polnischen Hierarchie- und Entscheidungsvorbehalts wird auf die Zusatzbelastung der polnischen Integrationspolitik verweisen, auch darauf, dass eine europarechtlich gebotene Verfassungsänderung nach politischen Gesichtspunkten, womöglich missbräuchlich terminiert werden kann. Eine positive Bewertung wird den Souveränitätsvorbehalt gerade umgekehrt ob seiner politischen Tragweite würdigen. In separierten Entscheidungen, über die Integrationsgesetzgebung einerseits, über die Anpassung der Verfassung andrerseits, gibt sich Polen Rechenschaft in aller Transparenz: über seinen Beitrag zum Prozess der europäischen Integration und, darauf bezogen, aber politisch und rechtlich unterscheidbar, über seine Verfassungsidentität. 4
Polen und andere: Der Souveränitätsvorbehalt im Vergleich
Den staatlichen Souveränitätsvorbehalt in der EU macht nicht Polen allein geltend. Keiner der „Herren der Verträge“ (BVerfGE 89, 155 (190)) zieht jenes Vor-Recht zurück, von dem jede Änderung der Gründungsverträge (Art. 48 EUV) und jeder Beitritt (Art. 49 EUV) abhängt, letztlich die Geltung des Europarechts und die Existenz der Europäischen Union: die einzelstaatliche Zustimmung in je eigener Verfassungshoheit (Kirchhof 2003: 898ff). Freilich gestattet die eigene Verfassungshoheit auch, den Souveränitätsvorbehalt eigenständig auszuprägen, mehr oder weniger weit zurückzunehmen; das deutsche Bundesverfassungsgericht formuliert: „Selbst die weitreichende supranationale europäische Inte-gration, die sich für den aus der Gemeinschaftsquelle herrührenden innerstaatlich unmittelbar wirkenden Normanwendungsbefehl öffnet, steht unter einem, allerdings weit zurückgenommenen Souveränitätsvorbehalt“ (BVerfGE 111, 307 (319) – Görgülü). Die vergleichende Darstellung beschränkt sich im Folgenden auf Spanien, Frankreich und Deutschland18. 17 18
Ziff. 7 Haftbefehl-Urteil (o. Fn. 14). Zu weiteren Ländern mit zahlreichen Nachw. Grabenwarter 2003: 284ff.
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4.1 Spanien: supremacía und primacía Die Entscheidung des spanischen Verfassungsgerichts vom 13. Dezember 200419 kann als Zwillingsschwester des polnischen Beitritts-Urteils gelten. Wohl handelt es sich um zweieiige Zwillinge, geboren aus zwei verschiedenen Verfassungssystemen; und doch sind sie des gleichen Geistes Kinder und sehen sich frappierend ähnlich. Auch im spanischen Urteil waltet der Geist der nationalen Souveränität. Mit Rücksicht darauf, dass jede „Übertragung der Kompetenzausübung an die Europäische Union … den souveränen Befugnissen des Staates unausweichliche Grenzen auferlegt“, zieht das Gericht materielle Grenzen der Integrationsgesetzgebung. „Diese materiellen Grenzen, die nicht ausdrücklich in die Verfassungsbestimmung aufgenommen sind, sich aber konkludent aus der Verfassung und dem wesentlichen Sinn eben dieser Bestimmung ergeben, finden ihren Ausdruck in der Achtung der in unserer Verfassung verankerten Souveränität des Staates, unseren grundlegenden Verfassungsstrukturen sowie dem System der Grundwerte und -prinzipien, in welchem die Grundrechte eine entsprechend wesentliche Bedeutung erlangen“ (EuR 2005, 343). Der Kontrollvorbehalt (vgl. o. 2. vor 2.1) taucht in einem obiter dictum auf20. Im Zentrum des Urteils steht die Entfaltung des Hierarchie- und Entscheidungsvorbehalts. Wie in Polen, so steht auch in Spanien das Bekenntnis zur Hierarchie – und zur eigenen Verfassung an ihrer Spitze – im engen Zusammenhang mit der Systementscheidung für die separative Integrationsgesetzgebung. Art. 95 Abs. 1 der spanischen Verfassung stellt klar: „Der Abschluss eines internationalen Vertrages, der verfassungswidrige Bestimmungen enthält, bedarf der vorherigen Änderung der Verfassung.“ Diese Vorschrift, die dem Grundprinzip des polnischen Europaverfassungsrechts21 entspricht, widersetzt sich einer synchronen Integrationsgesetzgebung, die Ratifikation und Verfassungsänderung in eins fallen lässt. Vor allem aber lädt sie ein zur Hierarchisierung. Die Integrität der Verfassung bleibt allemal unangetastet, wenn der Gesetzgeber jede Kollision mit Europarecht durch Verfassungsänderung ausräumt. So kann der europarechtliche Vorranganspruch gefahrlos beschränkt werden auf das Verhältnis zwischen Europarecht und dem nationalen Recht unterhalb der Verfassung. In den Worten des spanischen Verfassungsgerichts: Art. 93 – der spanische EuropaArtikel – sei zweifellos der „Tragpfeiler“ der Integration, indessen „kein Mittel zur Revision“; Revision vor Integration; erst wenn die qualifizierte Mehrheit sich findet und die Verfassungsänderung nach den allgemeinen Regeln (Art. 166 ff.) zustande kommt, dann erst „erfolgt der souveräne Vorgang einer Übertragung der Ausübung von Kompetenzen aus der 19
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Erklärung DTC 1/2004 zur Vereinbarkeit des Vertrages über eine Verfassung für Europa mit der spanischen Verfassung; deutsche Übersetzung: EuR 2005, 339 (mit einer Anmerkung von Anne C. Becker, ebda S. 353ff.). „Für den kaum denkbaren Fall, dass das Recht der Europäischen Union in seiner weiteren Entwicklung nicht mehr mit der spanischen Verfassung in Einklang zu bringen wäre, ohne dass die hypothetischen Überschreitungen des europäischen Rechts hinsichtlich der eigenen europäischen Verfassung über die dort vorgesehenen herkömmlichen Rechtsbehelfe behoben würden, könnten die Wahrung der Souveränität des spanischen Volkes und der Vorherrschaft (supremacía), mit der sich die Verfassung versehen hat, in letzter Instanz von diesem Gerichtshof verlangen, die Probleme, die in einem solchen Fall aufgeworfen würden und die aus der aktuellen Perspektive als inexistent angesehen werden, über die einschlägigen verfassungsrechtlichen Verfahren anzugehen.“ (EuR 2005, 347) Siehe oben im Text bei Fn. 12f.
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Verfassung.“22 Daraus ergibt sich ohne weiteres die Unterscheidung zwischen Vorrang (primacía) des Europarechts und Vorherrschaft (supremacía) der spanischen Verfassung. Jener sei nicht als hierarchische Überordnung zu verstehen; denn höchste Norm sei die spanische Verfassung (EuR 2005, 343, 345): „Hinter der Vorherrschaft (supremacía) steht der hierarchisch höherrangige Charakter einer Norm, weswegen sie Geltungsgrund der ihr nachgeordneten Normen ist, mit der Folge der Ungültigkeit der niedrigeren Normen, wenn sie gegen das in der höherrangigen Norm zwingend Angeordnete verstoßen“ (EuR 2005, 346). Der europarechtliche Vorrang (primacía) wird zur Chiffre für ein „Regime der Anwendbarkeit“: Union und Gemeinschaft werden „von Verfassungs wegen ermächtigt“, dem Unions- oder Gemeinschaftsrecht in der Konkurrenz mit spanischem Unterverfassungsrecht „Anwendungspräferenz“ zu verleihen. Die Gefahren der separativen Integrationsgesetzgebung, die in Polen offenbar geworden sind, kann allerdings auch Spanien nicht vermeiden. Findet Ratifikation ohne Revision statt, droht „eine eventuelle Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Vertragsbestimmung“, die womöglich „Störungen … für die Außenpolitik und die internationalen Beziehungen des Staates mit sich bringen würde.“23 Art. 95 der spanischen Verfassung bemüht sich nach Kräften, das Dilemma (vgl. o. 3) zu verhindern, erhebt die vorherige Verfassungsänderung zum strikten Imperativ (Abs. 2) und gestattet sowohl der Regierung als auch den beiden Kammern, das Verfassungsgericht zu einer „Erklärung“ über einen „Widerspruch“ zwischen Vertrag und Verfassung aufzufordern24. Wenn aber der Widerspruch erst nach Ratifikation zu Tage tritt, hilft auch in Spanien nur die nachhinkende Verfassungsänderung; andernfalls geraten supremacía und primacía außer Balance. Wie das polnische Beispiel lehrt (o. 3), ist die nachhinkende Verfassungsänderung nicht unwahrscheinlich. Die Wahrscheinlichkeit wächst mit der Unbestimmtheit der primärrechtlichen Ermächtigungsgrundlage. Geht eine relativ unbestimmte, nach den Maßstäben des nationalen Verfassungsrechts gerade noch hinnehmbare25 Ermächtigung in den Vertrag ein, so mag daraus – unvorhergesehen oder unvorhersehbar – ein verfassungswidriger Sekundärrechtsakt hervorgehen. Dieser erweist sich im polnischen und im spanischen System nicht als „ausbrechender“ (o. 2.2), wohl aber als „einbrechender“ Rechtsakt: Er steht im Einklang mit dem Integrationsgesetz, nicht jedoch mit der Verfassung. Anpassung tut not. 4.2 Frankreich: Souveränitätsvorbehalt als Politikvorbehalt Exakt für diese Situation hat sich auch Frankreich das letzte Wort vorbehalten. Der Verfassungsrat hat den französischen Hierarchievorbehalt in einer vielbeachteten Entscheidung 22
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Zitate: EuR 2005, 342. Anders freilich, wenn der zur Ratifikation anstehende Vertrag mit der Verfassung vereinbar ist. Dann ist kein Verfahren der Verfassungsänderung vorzuschalten, sondern der Weg frei für die Integrationsgesetzgebung (Art. 93 der spanischen Verfassung). So lag es im hiesigen Verfahren (Fn. 19): Der Verfassungsvertrag konnte ohne Verfassungsänderung ratifiziert werden. EuR 2005, 340 (dort Zitat aus der früheren Verfassungsgerichtsentscheidung DTC 1/1992). In diesem Verfahren erging auf Anfrage der Regierung das hier besprochene Urteil DTC 1/2004. „Mit dieser gerichtlichen Vorabkontrolle stellt die Verfassung ihre Vorherrschaft (supremacía) gegenüber den völkerrechtlichen Normen … sicher“; „Der Widerspruch wird also aufgelöst, indem er von vornherein vermieden wird“ (EuR 2005, 340f.). Vgl. zur Bestimmtheit des „Integrationsprogramms“ BVerfGE 89, 155 (187f.).
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vom 10. Juni 2004 dahin gefasst, dass gemeinschaftsrechtliche Richtlinien „kraft eines verfassungsrechtlichen Gebots in das interne Recht übertragen werden, was nur bei einer ausdrücklich verfassungswidrigen Bestimmung verhindert werden kann“26. Frankreich schneidet seinen Souveränitätsvorbehalt hier nicht auf den „ausbrechenden“, sondern auf den „einbrechenden“ Rechtsakt zu: Die Republik akzeptiert, dass „allein dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zukommt … darüber zu entscheiden, ob eine gemeinschaftsrechtliche Richtlinie die in den Verträgen festgelegte Kompetenzverteilung und die in Art. 6 des Vertrages über die Europäische Union geschützten Grundrechte achtet“ (EuGRZ 2005, 49 [50]). Somit wird über „ausbrechende“ Rechtsakte in Luxemburg befunden – dann aber in Paris über „einbrechende“. Übersetzt in die Dreiteilung des staatlichen Souveränitätsvorbehalts (o. 2 vor 2.1): Paris interessiert sich nicht für den Kontroll-, sondern allein für den Hierarchie- und Entscheidungsvorbehalt. Der Verfassungsrat zeigt sich entschlossen, den Vorrang der französischen Verfassung gegen jene „ausdrücklich verfassungswidrige Bestimmung“ gemeinschaftsrechtlicher Provenienz zu verteidigen.27 Freilich, bevor sich der Verfassungsrat auf diese Rolle zurückzieht, auf ein Wächteramt am Ende aller Rechtserzeugungsprozeduren, schützt er präventiv – vor Ratifikation – die „unabdingbaren Voraussetzungen für die Ausübung der nationalen Souveränität“. Anders als die Formulierung vermuten lässt, steckt darin aber kein französischer Quantitätsvorbehalt zur Verhinderung der umstürzenden Evolution (vgl. o. 2.1). Vielmehr handelt es sich wieder um den Hierarchie-, vor allem aber um den französischen demokratischen Entscheidungsvorbehalt, der Dispositionen über die nationale Souveränität (Art. 3 Abs. 1 der franz. Verf.) dem Volk und dem Parlament anvertraut. Die Formel erfüllt nicht den Zweck, von Verfassungs wegen eine Zone der Unverfügbarkeit auszuweisen. Der Verfassungsrat geht nicht darauf aus, materielle Grenzen der Integration abzustecken. Der Souveränitätsverzicht ist in Frankreich viel weniger eine verfassungsrechtliche als eine verfassungspolitische Frage – und für den Verfassungsrat kein Thema der Entmachtung und Entpolitisierung, sondern der Ermächtigung und (Re-)Politisierung. Und nicht zuletzt spielt der Präsident eine herausgehobene Rolle in der französischen Integrationspolitik. Anhand der „unabdingbaren Voraussetzungen für die Ausübung der nationalen Souveränität“ stellt der Verfassungsrat die Weichen: „Wenn der vom Präsidenten der Republik, vom Premierminister, vom Präsidenten einer der beiden Kammern oder von sechzig Abgeordneten oder sechzig Senatoren angerufene Verfassungsrat erklärt hat, dass eine internationale Verpflichtung eine verfassungswidrige Klausel enthält, so kann die Ermächtigung zu deren Ratifizierung oder Zustimmung erst nach Verfassungsänderung erfolgen“. Die Norm (Art. 54) weist dem Verfassungsrat die gleiche Lotsenfunktion zu, die auch die Verfassungsgerichte Polens und Spaniens im Rekurs auf den Vorrang bzw. die Vorherrschaft der Verfassung ausfüllen. Art. 54 der französischen, Art. 133 Abs. 2 der polnischen und Art. 95 Abs. 2 der spanischen Verfassung liegen auf einer Linie: Präventive Normenkontrollverfahren im Zeichen der internationalen Vorsicht und normhierarchischen Vorsorge. Der französische Verfassungsrat gibt die Ratifikation frei – oder stellt die Kollision zwischen Vertrag und Verfassung fest.28 Das präventive verfassungsgerichtliche Verfahren endet mit der Rückverweisung an die Politik. 26 27 28
Conseil constitutionnel, Entscheidung Nr. 2004-496 DC v. 10. 6. 2004, EuGRZ 2005, 49 (50). Näher dazu Walter 2005: 80f. mit zahlreichen Nachweisen. Walter 2005: 78 zu den Prüfungsmaßstäben (Vertrag verstößt unmittelbar gegen eine Verfassungsnorm oder einen Verfassungsgrundsatz; Vertrag berührt die „unabdingbaren Voraussetzungen für die Ausübung der nationalen Souveränität“).
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In Kollisionsfällen allerdings findet die integrationspolitische Willensbildung im Verfahren der Verfassungsänderung29 statt, sei es, dass die Kollision verfassungsgerichtlich festgestellt (Art. 54) oder außergerichtlich antizipiert wird, sei es, dass der europäische Rechtsakt in die französische Verfassung „einbricht“: die Einbeziehung Frankreichs in den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl berührte gewiss die „unabdingbaren Voraussetzungen für die Ausübung der nationalen Souveränität“. Darum musste Frankreich seine Integrationsbereitschaft und Integrationsfähigkeit politisch herstellen und auf Verfassungshöhe dokumentieren (Art. 88-2 Abs. 3): „Das Gesetz legt die Regeln über den europäischen Haftbefehl in Anwendung der Rechtsakte fest, die auf Grundlagen des Vertrages über die Europäische Union ergangen sind.“ Souveränitätsvorbehalt als Politikvorbehalt. Frankreichs Verfassung trennt zwischen „einfacher“ Integrationspolitik, die ohne Verfassungsänderung und ohne Volksentscheid auskommt, und „qualifizierter“ Integrationspolitik. Diese findet unter anderen Vorzeichen statt, gelingt nur im Verfahren der Verfassungsänderung oder hängt von der Zustimmung des Volkes ab. Wenn nicht der Verfassungsrat (Art. 54) den einen oder den anderen Weg weist, dann der Präsident, indem er einen Volksentscheid ansetzt30. Das „Non“ der Franzosen am 29. Mai 2005 zum Europäischen Verfassungsvertrag hat wieder bewusst gemacht, dass nicht nur jede Volksabstimmung ein Politikum ist, sondern ebenso die Bestimmungsmacht des Präsidenten über die unmittelbare Teilhabe des Volkes an der Integrationspolitik. Deshalb hat die Verfassungsänderung vom 28. Februar 2005, beschlossen im Kongress31, keine geringe Bedeutung. Sie hat die Macht des Präsidenten in der Beitrittspolitik gestutzt. Die Beitrittsrunde mit Rumänien und Bulgarien mag in Frankreich noch parlamentarisch zu bewältigen sein32, danach jedoch gilt der neue Art. 88-5: „Jeder Gesetzentwurf, der zur Ratifizierung eines Vertrages über den Beitritt eines Staates zur Europäischen Union und zu den Europäischen Gemeinschaften ermächtigt, wird vom Präsidenten der Republik einem Volksentscheid unterbreitet“ . 4.3 Deutschland: Prästabilierte Harmonie Das Bundesverfassungsgericht hat es vergleichsweise schwer. Den deutschen Richtern ist verwehrt, im scharfen Gegensatz zu den Kollegen in Polen, Spanien und Frankreich, zwischen Verfassung und Integrationsgesetz, zwischen dem Vorrang der nationalen Verfassung und der nationalen Integrationspolitik zu vermitteln. Woran liegt das? Die Antwort 29
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Art. 89 Abs. 2–3: „Der Änderungsentwurf oder -vorschlag muss von beiden Kammern in übereinstimmender Fassung beschlossen werden. Die Verfassungsänderung wird endgültig, wenn sie durch einen Volksentscheid angenommen wird. Der Änderungsentwurf wird jedoch nicht zum Volksentscheid gebracht, wenn der Präsident der Republik beschließt, ihn dem als Kongress einberufenen Parlament vorzulegen. In diesem Fall gilt der Entwurf nur dann als angenommen, wenn sich eine Mehrheit von drei Fünfteln der abgegebenen Stimmen für ihn ausspricht.“ Art. 11 Abs. 1: „Der Präsident der Republik kann auf Vorschlag der Regierung … jeden Gesetzentwurf zum Volksentscheid bringen, der … auf die Ermächtigung zur Ratifizierung eines Vertrages abzielt, der, ohne gegen die Verfassung zu verstoßen, Auswirkungen auf das Funktionieren der Institutionen hätte.“ Zu dessen Zuständigkeit o. Fn. 29. Die Verfassungsänderungen vom 28. Februar 2005 im Überblick: EuGRZ 2005, 183. Art. 4 des Änderungsgesetzes v. 28. 2. 2005 (o. Fn. 31): „Artikel 88-5 … [ist] nicht auf Beitritte anwendbar, die auf eine Regierungskonferenz folgen, deren Einberufung vom Europäischen Rat vor dem 1. Juli 2004 beschlossen wurde“.
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findet sich in Art. 23 Abs. 1 GG, im dort verankerten Synchronisationsprinzip der deutschen Integrationspolitik. Das Gesetz, mit dem der Bund Hoheitsrechte überträgt (Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und 3 GG) ist zugleich Verfassungsgesetz; nicht separiert, wirkt das Integrationsgesetz uno actu als Rechtsanwendungsbefehl und verfassungsänderndes Anpassungsgesetz33. Solange der Gesetzgeber die Struktursicherungsklausel (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG) beachtet und in den Grenzen der verfassungsrechtlichen Identitätsgarantie (Art. 79 Abs. 3 GG) verbleibt, verändert sich das Verfassungsrecht nach Maßgabe des Integrationsgesetzes. So synchronisiert der Integrationsgesetzgeber europäisches Recht und Grundgesetz, kommt der Kollision entweder zuvor, indem er sie von vornherein vermeidet, oder löst vorsorglich Kollisionen auf, indem er den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts freigibt. In der prästabilierten Harmonie fungiert das Bundesverfassungsgericht nicht als Lotse, der Kollisionen zwischen Integrationsgesetz und Verfassung an die Politik zurückgibt. Indem sein Prüfungsmaßstab – das Grundgesetz – synchron angepasst wird, operiert das Gericht in der Prüfung des Integrationsgesetzes allein an der roten Linie des Art. 79 Abs. 3 GG: prüft nur mehr, ob der zur weiteren Europäisierung entschlossene Gesetzgeber die materiellen Grenzen der Verfassungsänderung beachtet34. In die prästabilierte Harmonie kann auch – wiederum anders als in Polen, Spanien und Frankreich – kein europäischer Sekundärrechtsakt „einbrechen“. Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG synchronisiert vollständig, trifft Vorsorge sowohl für den Fall, dass durch das Integrationsgesetz selbst „dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird“, als auch für den Fall, dass „solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden“. Als in diesem Sinne „ermöglichte Änderung“ kann der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl in das Grundgesetz nicht „einbrechen“. Verließe er seine Ermächtigungsgrundlage in Art. 31 EU-Vertrag, so figurierte er als „ausbrechender“ Rechtsakt. Mit dem Wachstum des europäischen Sekundärrechts nimmt die Bedeutung der europäischen Grundrechte zu. Diese legitimieren und domestizieren das Sekundärrecht und das sekundärrechtsgebundene nationale Recht. Das ist – auf Grundlage des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG – „ermöglichte“ sekundärrechtliche Grundrechtskonstitutionalisierung, die einen Geltungszuwachs auf seiten der Unionsgrundrechte und Anwendungsverluste auf seiten der nationalen Grundrechte nach sich zieht. Substantielle Änderungen erwachsen daraus in der Regel nicht; der europäische Grundrechtsstandard entspricht „im wesentlichen“ (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG) dem deutschen. Die sekundärrechtliche Grundrechtskonstitutionalisierung bewirkt aber eine Neuverteilung der Interpretationshoheit über die Grundrechte, Arbeitsteilung zwischen den vorlageberechtigten (Art. 234 EG-Vertrag) nationalen Gerichten,
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Auch in Österreich ist das Integrationsgesetz ein verfassungsänderndes Anpassungsgesetz (außerhalb der „Stammurkunde“, des Bundes-Verfassungsgesetzes von 1920). Indessen fehlen materielle Grenzen der Verfassungsänderung. In Österreich erhebt sich allein die Frage, ob das Integrationsgesetz im Verfahren der Gesamtänderung mit Volksabstimmung (Art. 44 Abs. 3 B-VG) zustande kommt – so das EU-Beitritts-BVG von 1994 – oder im Wege der „baugesetzkonformen“ Verfassungsänderung ohne Volksabstimmung (Art. 44 Abs. 1 und 2 B-VG nach Maßgabe des Zustimmungs-B-VG) – so die Zustimmungsgesetze zu den Verträgen von Amsterdam und Nizza sowie zum Erweiterungsvertrag von Athen. Dazu eingehend Schäffer 2005: 347ff. Die Synchronisation im Verhältnis zwischen Sekundärrecht und Verfassung wird über den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts hergestellt: repräsentativ dazu österreichischer Verfassungsgerichtshof v. 28. 11. 2003 – KR 1/00, EuGRZ 2004, S. 499 (502); vgl. auch Schäffer 2005: 370f. Als weiterer Prüfungsmaßstab kommt die Struktursicherungsklausel (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG) in Betracht, soweit sie strengere Anforderungen stellt als Art. 79 Abs. 3 GG; vgl. dazu Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 23 Rdnr. 55.
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dem EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten35. Die Neuverteilung der Interpretationshoheit und der Wechsel der grundrechtlichen Maßstäbe, die eher zu Feinjustierungen als zu Änderungen führen, aber auch die evidente, substantielle Änderung, wie sie der Europäische Haftbefehl bringt36, gründet im Integrationsgesetz des Art. 23 Abs. 1 GG; der synchronisierende Anwendungsvorrang der gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsstandards wird qua Verfassungsänderung freigesetzt. Das Synchronisationsprinzip verweist das Bundesverfassungsgericht in der Handhabung des deutschen Souveränitätsvorbehalts auf dessen erste und zweite Dimension (vgl. o. 2 vor 2.1). Gestützt auf Art. 79 Abs. 3 GG, hat das Bundesverfassungsgericht den Quantitätsvorbehalt ebenso kraftvoll entfaltet wie den Kontrollvorbehalt, jenen gegen die umstürzende Evolution in Stellung gebracht (o. 2.1), diesen gegen den „ausbrechenden“ Rechtsakt (o. 2.2), beide zusammen gegen ein europäisches Projekt der Entstaatlichung. So eindrucksvoll das gelingt, besonders im Maastricht-Urteil37, so ist doch nicht zu verkennen, dass den deutschen Souveränitätsvorbehalt ein technisch-forensischer, eher unpolitischer Zug auszeichnet. Der polnisch-spanisch-französische Souveränitätsvorbehalt erscheint demgegenüber in seinem Akzent auf dem Hierarchie- und Entscheidungsvorbehalt als offenes, hochpolitisches Gegenmodell. Andrerseits fallen, bei allen Unterschieden, doch auch Gemeinsamkeiten auf. Einigkeit besteht im Ziel, die nationalen Verfassungen vor einem schlichten Vorrang-NachrangPrinzip zu schützen. Gleichviel ob die Staaten Integrationsgesetzgebung und Verfassungsgesetzgebung synchronisieren oder separieren: allemal besteht ein Konnex, zumindest ein politischer, allemal setzt sich das Bekenntnis zur nationalen Verfassung durch – und sei es in der Selbstverpflichtung, die nationale Verfassung dem Stand der europäischen Integration anzupassen. Soweit irgend möglich, wollen die Mitgliedstaaten Kollisionen a priori vermeiden; gelingt ihnen das, erledigt sich die Aufgabe, Kollisionen aufzulösen. Durchweg gehen die Anpassungsstrategien, so sehr sie sich unterscheiden, auf ein letztlich doch erstaunlich einheitliches Souveränitätsverständnis zurück. Der Souveränitätsvorbehalt macht sich geltend im Bemühen der Staaten um Verfassungsintegrität. Zum Bemühen um Verfassungsintegrität gehört wesentlich der Schutz der Verfassungsurkunde. Die Urkunde stiftet Verfassungsidentität. Deutschland hat sein vorbildliches Prinzip der Verfassungsurkundlichkeit – die kodifikatorische Geschlossenheit der Verfassungsurkunde – im europarechtlichen Kontext weitgehend preisgegeben38. Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG verweist für den Fall der integrationspolitisch veranlassten Verfassungsänderung auf die Identitätsgarantie (Art. 79 Abs. 3 GG) und das Gebot der qualifizierten Mehrheiten 35
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Richtungweisend: EuGH v. 20. 5. 2003 – C-465/00 u.a., EuGRZ 2003, 232; EuGH v. 6. 11. 2003 – C-101/01, EuR 2004, 291; EuGH v. 14. 10. 2004 – C-36/02, EuGRZ 2004, 639; EuGH v. 16. 6. 2005 – C-105/03, EuZW 2005, 433. Vgl. Art. 16 Abs. 2 GG, der freilich materiellrechtlich keine konstitutive Bedeutung hat. Unabhängig von Evidenz und Tiefe der Änderung synchronisiert das Integrationsgesetz die Europarechtslage und die Verfassungsrechtslage. Dagegen wird im System der separativen Integrationsgesetzgebung die evidente, substantielle Änderung der Grundrechtslage dem Verfassungsgesetzgeber vorbehalten (o. im Text sub 3); die Feinjustierungen der Grundrechtsstandards jedoch, die aus der Neuverteilung der Interpretationshoheit resultieren, dürften auch im System der separativen Integrationsgesetzgebung bereits mit dem Integrationsgesetz konsentiert sein. BVerfGE 89, 155. S. insb. die Nachw. und Zitate o. im Text bei und in Fn. 7–10. Vgl. auch Hufeld 2005a: 486. In Österreich wird die „allerorten beklagte Zersplitterung unserer Verfassung“ (Wiederin 2004: 176) von Europarechts wegen „zusätzlich schwerwiegend verschärft“ (Schäffer 2005: 354).
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(Art. 79 Abs. 2 GG), nicht aber auf das Gebot der Textänderung (Art. 79 Abs. 1 GG): Integrationsgesetzgebung als Verfassungsänderung ohne Textänderung. So wird das Grundgesetz – gegen den Gedanken der aussagekräftigen Urkundlichkeit – buchstäblich unzuverlässig, kontextabhängig (Dreier 1999: 676ff.; Wiederin 2004: 175ff.; Hufeld 2005b: 866). Steht hier eine spezifische Schwäche des Synchronisationsprinzips in Rede? Vorderhand nötigt eher das System mit separativer Integrationsgesetzgebung und Anpassungsbedarf gegenüber europäischen, gegenläufigen und „einbrechenden“ Rechtsakten zu aufmerksamer, materieller und formeller Verfassungsänderung. Das Urteil des polnischen Verfassungsgerichtshofs in Sachen Europäischer Haftbefehl (o. 3) zielt offenbar auf explizite Anpassung und punktgenaue Dokumentation: Art. 55 Abs. 1 der polnischen Verfassung wird künftig in neuer Textgestalt dem Europäisierungsdruck Tribut zollen – oder aber, in unveränderter Textfassung, politischen und rechtlichen Widerstand gegen den Europäischen Haftbefehl beurkunden. Indessen lehrt das französische Beispiel, dass die verfassungsurkundliche Explikation der Anpassung auch im „aufmerksamen Änderungssystem“ auf Grenzen stößt: Die Offenheit der französischen Rechtsordnung für den Europäischen Haftbefehl wird noch individuell dokumentiert (Art. 88-2 Abs. 3); dagegen hat der Gesetzgeber die Kollisionen zwischen der französischen Verfassung und dem europäischen Verfassungsvertrag39 pauschal aufgelöst, sich auf eine Generalermächtigung im ersten „Europa-Artikel“ beschränkt: Die Republik „kann an der Europäischen Union nach Maßgabe des am 29. Oktober 2004 unterzeichneten Vertrages über eine Verfassung für Europa mitwirken“ (Art. 88-1 Abs. 2). Das Prinzip des urkundlich einsehbaren Staatsgrundgesetzes – Verfassung als Urkunde – erodiert. Der zitierte Art. 88-1 Abs. 2 beurkundet nur mehr, dass der Leser dem französischen Verfassungstext nicht mehr ohne weiteres, nicht mehr ohne Einbeziehung der „Verfassung über der Verfassung“ (Hofmann 2003: 384) trauen kann. Die Flucht in die Generalermächtigung (Frankreich) und der Verzicht auf das strikte Inkorporationsgebot (Deutschland) haben auch zu tun mit der Schwierigkeit, im Zuge der Integrationsgesetzgebung Kollisionen zwischen Vertrag und Verfassung festzustellen und in Anpassungstexten punktgenau aufzulösen. Soweit dies aber möglich ist, Feststellbarkeit der Kollision und Formulierbarkeit der Anpassung vorausgesetzt, steht der deutsche Gesetzgeber in der Pflicht, die Aussagekraft der Verfassungsurkunde zu bewahren (Hufeld 1997: 136ff., 240). Art. 23 des deutschen Grundgesetzes ermächtigt den Gesetzgeber, das Europarecht mit Vorrang auszustatten, seinen Anwendungsprimat vor dem Recht der Bundesrepublik Deutschland anzuordnen (Hillgruber 2004: 977). Die prästabilierte Harmonie im Verhältnis zwischen Grundgesetz und Europarecht zeichnet sich dadurch aus, dass die Kollision und die Anwendung der Kollisionsregel vermieden wird – durch Verfassungsänderung. Dem anpassungsfähigen und angepassten Grundgesetz bleibt erspart, in den Nachrang verwiesen zu werden. Dem Integrationsgesetzgeber bleibt erspart, nach Kollisionen zu suchen; ein verfassungsmäßiges (Art. 23 Abs. 1 und Art. 79 Abs. 3 GG!) Integrationsgesetz passt das Grundgesetz gleichsam automatisch an. Der Vergleich mit Polen (o. 3) offenbart: Der deutsche Integrationsgesetzgeber macht der Bürgerschaft bewusst, dass und in welchem Umfang Deutschland europäisches Verfassungsrecht hinzugewinnt, verzeichnet aber nicht zuverlässig genug die Verluste auf Seiten des deutschen Verfassungsrechts. Das ist der
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Conseil constitutionnel, Entscheidung Nr. 2004-505 DC v. 19. 11. 2004, EuGRZ 2005, 45 (47ff.).
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Preis der prästabilierten Harmonie durch geräuschlose – verfassungsurkundlich nicht oder nur teilweise (Hufeld 2005b: 866) verlautbarte – Synchronisation. 5
Europas Souveränität
Die Europäische Union nimmt keine Rücksicht auf die Schutz- und Anpassungsbedürfnisse in der nationalen Verfassungsgesetzgebung. Der Vorranganspruch des europäischen Rechts gilt unbedingt. Seit Costa/ENEL postuliert der Europäische Gerichtshof, „dass dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können“40. Die Europäische Union lebt in der Geltungseinheit ihrer Rechtsordnung. Die Union verteidigt sich selbst, wenn sie darauf pocht, „dass es den Staaten unmöglich ist, … nachträgliche einseitige Maßnahmen ins Feld zu führen“41. Diese Unmöglichkeit, das an die Mitgliedstaaten adressierte Verbot, den Souveränitätsverzicht einseitig zu revozieren, begründet die zusammengesetzte Souveränität der Europäischen Union. Das Konsensprinzip der Art. 48 und 49 EU-Vertrag stabilisiert den europarechtlichen status quo. Unter diesen Vorzeichen muss man den eingangs zitierten Schlüsselsatz im polnischen Beitrittsurteil lesen, jenen Satz, der für den Konfliktfall der Unvereinbarkeit des polnischen Verfassungsrechts mit dem Europarecht drei Entscheidungsvarianten anbietet, jedoch strikt vermeidet, die einheitliche Geltung des Europarechts in Frage zu stellen: Im Konflikt der Rechtssysteme habe „das Volk als Souverän, oder das zur Vertretung des Volkes von Verfassungs wegen befugte Organ der staatlichen Gewalt, die Entscheidung [zu] treffen, ob die Verfassung geändert wird, entsprechende Änderungen in den gemeinschaftlichen Regelungen angestrebt werden oder – im äußersten Fall – Polen aus der Europäischen Union austritt“42. Die Staaten der Europäischen Union akzeptieren, dass sie ihre Mitgliedschaft aufgeben müssen, bevor sie die Geltungseinheit des Europarechts aufbrechen. Das lässt auf politische Klugheit hoffen, darauf, dass die beiden Souveränitätsansprüche – in der „Schwebelage, die typisch ist für ein föderales Gebilde“ (Masing 2006: 265) – nebeneinander bestehen können43: der europäische Vorrang und der staatliche Vorbehalt. Literatur Bos, Ellen, 2004: Verfassungsgebung und Systemwechsel. Die Institutionalisierung von Demokratie im postsozialistischen Osteuropa, Wiesbaden. Dreier, Horst, 1999: Kontexte des Grundgesetzes, in: Deutsches Verwaltungsblatt, S. 667–679. Gamper, Anna, 2005: Verfassungsrevision und „Bewahrung“ der Verfassung, in: Zeitschrift für öffentliches Recht, S. 187–215. Grabenwarter, Christoph, 2003: Staatliches Unionsverfassungsrecht, in: von Bogdandy, A. (Hrsg.): Europäisches Verfassungsrecht, Berlin, Heidelberg, S. 283–337.
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EuGH, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Urt. v. 15.7.1964, Slg. 1964, S. 1141, Tz. 12 (dort ohne Hervorhebung). Vgl. Masing 2006: 264. EuGH, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Urt. v. 15.7.1964, Slg. 1964, S. 1141, Tz. 9 (dort ohne Hervorhebung). Vgl. zur Möglichkeit des Austritts auch BVerfGE 89, 155 (190). Dazu auch Kirchhof 2005: 364f.
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Hillgruber, Christian, 2004: Der Nationalstaat in der überstaatlichen Verflechtung, in: Isensee, J./Kirchhof, P. (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, Heidelberg, 3. Aufl., S. 929–992. Hofmann, Hasso, 2003: Die Entwicklung des Grundgesetzes von 1949 bis 1990, in: Isensee, J./Kirchhof, P. (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, Heidelberg, 3. Aufl., S. 355–421. Hufeld, Ulrich, 1997: Die Verfassungsdurchbrechung. Rechtsproblem der Deutschen Einheit und der europäischen Einigung. Ein Beitrag zur Dogmatik der Verfassungsänderung, Berlin. Hufeld, Ulrich, 2005a: Europäische Verfassunggebung zwischen Völker- und Europarecht, in: Beckmann, K./Dieringer, J./Hufeld, U. (Hrsg.): Eine Verfassung für Europa, Tübingen, 2. Aufl., S. 473–492. Hufeld, Ulrich, 2005b: Der Europäische Haftbefehl vor dem Bundesverfassungsgericht, in: Juristische Schulung, S. 865–871. Kirchhof, Paul, 2003: Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, in: von Bogdandy, A. (Hrsg.): Europäisches Verfassungsrecht, Berlin, Heidelberg, S. 893–929. Kirchhof, Paul, 2005: Europa auf dem Weg zu einer Verfassung? In: Beckmann, K./Dieringer, J./Hufeld, U. (Hrsg.): Eine Verfassung für Europa, Tübingen, 2. Aufl., S. 359–382. Lerche, Peter, 1993: Europäische Staatlichkeit und die Identität des Grundgesetzes, in: Bender, B. u.a. (Hrsg.): Festschrift für Konrad Redeker zum 70. Geburtstag, München, S. 131–147. Masing, Johannes, 2006: Vorrang des Europarechts bei umsetzungsgebundenen Rechtsakten, in: Neue Juristische Wochenschrift, S. 264–268. Randelzhofer, Albrecht, 2004: Staatsgewalt und Souveränität, in: Isensee, J./Kirchhof, P. (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, Heidelberg, 3. Aufl., S. 143–162. Riklin, Alois, 2006: Machtteilung. Geschichte der Mischverfassung, Darmstadt. Schäffer, Heinz, 2005: Österreich und die Europäische Union – Erfahrungen und Leistungen des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, in: Zeitschrift für öffentliches Recht, S. 345–388. Walter, Christian, 2005: Der französische Verfassungsrat und das Recht der Europäischen Union, in: Europäische Grundrechte Zeitschrift, S. 77–85. Wiederin, Ewald, 2004: Über Inkorporationsgebote und andere Strategien zur Sicherung der Einheit der Verfassung, in: Zeitschrift für öffentliches Recht, S. 175–212.
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Anhang I Urteil des polnischen Verfassungsgerichtshofs vom 11. Mai 2005, K 18/04∗
POLENS MITGLIEDSCHAFT IN DER EUROPÄISCHEN UNION – DER BEITRITTSVERTRAG – HAUPTTHESEN DER URTEILSGRÜNDE 1.
2.
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Der Beitritt Polens zur Europäischen Union stellt den Vorrang der Verfassung innerhalb der gesamten Rechtsordnung im Hoheitsgebiet der Republik Polen nicht in Frage. Die vorrangigen Normen der Verfassung, die Ausdruck souveränen Willens des Volkes sind, würden nicht ihre Bindungskraft verlieren oder ihren Inhalt dadurch ändern, dass ein auf dem Weg der Rechtsauslegung unüberwindbarer Widerspruch mit bestimmten Regelungen des Gemeinschaftsrechts entsteht. Käme es zu solch einem Widerspruch, hätte der souveräne polnische Verfassungsgeber selbständig über eine Lösung, etwa über eine entsprechende Verfassungsänderung, zu befinden. Der Prozess der europäischen Integration, in dessen Rahmen einige Kompetenzen des Staates an die Gemeinschafts- bzw. Unionsorgane übertragen werden, findet Begründung in der Verfassung der Republik Polen. Der Beitritt Polens zur Europäischen Union ist verfassungsrechtlich geregelt; seine Gültigkeit und Wirksamkeit hängt davon ab, ob die verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Verfahren, und damit auch das Verfahren zur Verlagerung der Kompetenzen, eingehalten sind. Die Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes für die Prüfung der Vereinbarkeit völkerrechtlicher Verträge mit der Verfassung (Art. 188 Nr. 1 Verf.) hängt nicht davon ab, auf welchem Weg die Zustimmung zur Ratifizierung des betreffenden Vertrages erteilt wurde; sie gilt sowohl für Verträge, die auf Grund eines Zustimmungsgesetzes ratifiziert wurden, als auch für jene, deren Ratifizierung eine Volksabstimmung (Art. 90 Abs. 3 Verf.) vorausging. Im Rahmen der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Beitrittsvertrages als eines ratifizierten völkerrechtlichen Vertrages einschließlich der Akte über die Bedingungen des Beitritts, ist auch eine Prüfung der die Gemeinschaften und die Europäische Union konstituierenden oder modifizierenden Verträge zulässig, aber nur soweit diese untrennbar mit der Anwendung des Beitrittsvertrages zusammenhängen. Die Zustimmungsgesetze zur Ratifizierung völkerrechtlicher Verträge werden unter Einhaltung der entsprechenden Verfahren durch den Sejm und den Senat verabschiedet. Die in diesen Verfahren an den Gesetzgeber gestellten Anforderungen sind im Falle von völkerrechtlichen Verträgen, die eine Übertragung von Kompetenzen der Organe der polnischen öffentlichen Gewalt an eine internationale Organisation oder ein internationales Organ (Art. 90 Abs. 1 Verf.) betreffen, viel strenger als im Falle der Ratifizierung nach Art. 89 Verf. Der Sejm und der Senat handeln insoweit als Organe, die
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gemäß dem in Art. 4 Abs. 2 Verf. verankertem Prinzip das souveräne Volk vertreten. Der Wille des Volkes als Souverän kommt noch intensiver und direkter zum Tragen, wenn die Zustimmung zur Ratifizierung eines staatliche Kompetenzen übertragenden völkerrechtlichen Vertrages nicht durch Gesetz (Art. 89 Abs. 1 i.V.m. Art. 90 Abs. Verf.), sondern im Wege einer landesweiten Volksabstimmung (Art. 90 Abs. 3 Verf.) erfolgt. 6. Die Behauptung, die Gemeinschaften und die Europäische Union seien „supranationale Organisationen“ – eine Kategorie, die durch die Verfassung nicht vorgesehen sei, in deren Vorschriften lediglich von „internationalen Organisationen“ die Rede ist –, ist nicht ausreichend begründet. Der Beitrittsvertrag wurde zwischen den bisherigen Mitgliedstaaten der Gemeinschaften und der Europäischen Union sowie den Beitrittsländern, darunter Polen, geschlossen. Er weist die Eigenschaften eines völkerrechtlichen Vertrages im Sinne des Art. 90 Abs. 1 Verf. auf. Die Mitgliedstaaten bleiben souveräne Rechtssubjekte – Parteien der Gründungsverträge der Gemeinschaften und der Europäischen Union. Sie ratifizieren die abgeschlossenen Verträge selbständig und nach Maßgabe ihrer eigenen Verfassungen und behalten auch das Recht, die Verträge im Verfahren und unter den Voraussetzungen zu kündigen, die im Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 geregelt sind. Der Begriff einer „supranationalen Organisation“ ist weder dem Beitrittsvertrag noch den Begleitakten noch den die Gemeinschaften und die Europäische Union konstituierenden Verträgen noch den Vorschriften des sekundären Gemeinschaftsrechts bekannt. 7. Die Verfassung ermächtigt in Art. 90 Abs. 1 zur Übertragung der Kompetenzen der Staatsorgane lediglich „in einigen Angelegenheiten“. Daraus ergibt sich das Verbot, sämtliche Kompetenzen eines Verfassungsorgans bzw. die Kompetenzen, die den Kern seiner Zuständigkeit bilden, oder alle staatlichen Kompetenzen in einem bestimmten Bereich zu verlagern. 8. Weder Art. 90 Abs. 1 noch Art. 91 Abs. 3 Verf. ermächtigen dazu, einer internationalen Organisation oder einem internationalen Organs die Kompetenz anzuvertrauen, Rechtsvorschriften zu erlassen oder Entscheidungen zu treffen, die mit der Verfassung als dem „obersten Recht der Republik Polen“ (Art. 8 Abs. 1 Verf.) im Widerspruch stünden. Insbesondere darf man auf Grund der verfassungsrechtlichen Regelungen keine Kompetenzen von substantiellem Gewicht übertragen, infolge deren Preisgabe die Republik Polen nicht mehr als ein souveräner und demokratischer Staat fungieren könnte. 9. Vom Blickpunkt des der polnischen Verfassung zugrunde liegenden Wertesystems muss bei der Würdigung der Verfassungsmäßigkeit der Kompetenzübertragung auch die Tatsache berücksichtigt werden, dass der Verfassungsgeber, der in der Präambel der Verfassung die Bedeutung der wiedergewonnenen Unabhängigkeit und der Möglichkeit betont, über das eigene Schicksal souverän und demokratisch zu bestimmen, gleichzeitig die Notwendigkeit erklärt, „mit allen Ländern für das Wohl der Menschheitsfamilie zusammenzuarbeiten“, „die Pflicht zur Solidarität mit anderen Menschen“ sowie universelle Werte wie Wahrheit und Gerechtigkeit zu beachten. Diese Pflicht bezieht sich nicht nur auf die innerstaatlichen, sondern auch auf die außenpolitischen Beziehungen. 10. Die Norm des Art. 8 Abs. 1, dergemäß die Verfassung „das oberste Recht der Republik Polen ist“, wird durch das Gebot begleitet, das rechtskonform geschaffene und für die
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Republik Polen verbindliche Völkerrecht zu befolgen und diesem gegenüber freundlich zu handeln (Art. 9 Verf.). Die Verfassung geht also davon aus, dass auf dem Territorium der Republik Polen neben den vom innerstaatlichen Gesetzgeber erlassenen Regelungen auch solche gelten, die außerhalb des Systems der innerstaatlichen Rechtsetzungsorgane geschaffen werden. Auf Grund ihrer übergeordneten Stellung im Rechtsystem der Republik Polen (Art. 8 Abs. 1 Verf.) genießt die Verfassung Geltungs- und Anwendungsvorrang auf dem Territorium der Republik. Der in Art. 91 Abs. 2 Verf. verankerte Anwendungsvorrang der auf Grund eines Zustimmungsgesetzes oder einer landesweiten Volksabstimmung ratifizierten völkerrechtlichen Verträge vor einfachen Gesetzen bedeutet nicht deren Vorrang vor der Verfassung. Das Konzept und das Modell des Europarechts schufen eine neue Situation, in der in jedem Mitgliedstaat zwei autonome Rechtssysteme nebeneinander gelten. Ihr wechselseitiges Verhältnis kann nicht vollkommen mit Hilfe der herkömmlichen Begriffe des Monismus und des Dualismus charakterisiert werden, die zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen innerstaatlichem Recht und Völkerrecht gebraucht werden. Auch wenn die beiden Rechtssysteme (das innerstaatliche und das gemeinschaftliche) relativ autonom sind, stehen sie in einem Wechselwirkungsverhältnis zueinander. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass es zu Kollisionen zwischen dem Gemeinschaftsrecht und der Verfassung kommen kann. Eine solche Kollision läge vor, wenn es zu einem nicht überwindbaren Widerspruch zwischen einer Verfassungsnorm und einer Norm des Gemeinschaftsrechts kommen würde – dem Widerspruch, dem man nicht durch Auslegung abhelfen kann, welche die verhältnismäßige Autonomie des europäischen und des innerstaatlichen Rechts berücksichtigt. Eine Kollision dieser Art kann keinesfalls durch die Annahme des Vorrangs der Regelungen des Gemeinschaftsrechts gegenüber denen der Verfassung beseitigt werden. Sie kann auch nicht dadurch gelöst werden, dass die geltende Verfassungsnorm ipso iure außer Kraft tritt oder nur noch für Bereiche gilt, die von der ihr zuwiderlaufenden Gemeinschaftsregelung nicht erfasst sind. In einer solchen Situation müsste vielmehr das Volk als Souverän, oder das zur Vertretung des Volkes von Verfassungs wegen befugte Organ der staatlichen Gewalt, die Entscheidung treffen, ob die Verfassung geändert wird, entsprechende Änderungen in den gemeinschaftlichen Regelungen angestrebt werden oder – im äußersten Fall – Polen aus der Europäischen Union austritt. Das in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes entwickelte Prinzip der „integrationsfreundlichen” Auslegung des innerstaatlichen Rechts hat seine Grenzen. Es darf keineswegs zu Ergebnissen führen, die im Widerspruch zum eindeutigen Wortlaut der Verfassungsvorschriften stehen würden oder mit dem Mindestmaß an den durch die Verfassung zu verwirklichenden Garantien unvereinbar wären. Insbesondere darf der Wesensgehalt der verfassungsmäßig verbürgten Rechte und Freiheiten des Einzelnen durch Gemeinschaftsregelungen nicht angetastet werden. Entsprechend den Gründungsverträgen handeln die Gemeinschaften und die Europäische Union auf der Grundlage und im Rahmen der ihnen durch die Mitgliedstaaten anvertrauten Kompetenzen. Deswegen dürfen die Gemeinschaften und ihre Organe nur in dem durch die Vertragsnormen geregelten Umfang tätig werden. Die Mitgliedstaaten behalten das Recht zu beurteilen, ob die Rechtsetzungsorgane der Gemeinschaften (der
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Ulrich Hufeld Union) beim Erlass der jeweiligen Rechtsvorschriften in den Grenzen der ihnen erteilten Befugnisse handelten und ob sie dabei die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit beachteten. Vorschriften, die über diese Grenzen hinausgehen, haben keinen Vorrang vor denen des innerstaatlichen Rechts. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) ist der wichtigste, aber nicht der einzige Verwahrer der Befugnisse im Bereich der Anwendung der Verträge im Rechtsystem der Gemeinschaften und der Europäischen Union. Die vom EuGH vorgenommene Auslegung des Gemeinschaftsrechts darf den Rahmen der den Gemeinschaften durch die Mitgliedstaaten übertragenen Funktionen und Hoheitsrechte nicht sprengen und muss mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar sein, welches die Handlungen der Gemeinschaftsinstitutionen bestimmt. Die Auslegung soll sich darüber hinaus auf die gegenseitige Loyalität zwischen Gemeinschaft und Union einerseits und den Mitgliedstaaten andererseits stützen. Daraus ergibt sich die Verpflichtung des EuGH, gegenüber den innerstaatlichen Rechtsordnungen freundlich zu entscheiden, während die Mitgliedstaaten sich um den höchsten Standard der Einhaltung des Gemeinschaftsrechts bemühen müssen. Die Bindung der polnischen Richter an die Verfassungsnormen (Art. 178 Abs. 1 und Art. 195 Abs. 1 Verf.) schließt die Pflicht mit ein, das für die Republik Polen verbindliche Gemeinschaftsrecht anzuwenden. Diese Pflicht ergibt sich aus der mit der Verfassung vereinbaren und auf deren Grundlage erfolgten Ratifizierung der mit den Mitgliedstaaten der Gemeinschaften und der Europäischen Union abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge, die Bestandteil des für Polen verbindlichen Völkerrechts sind (Art. 9 Verf.). Darin ist auch die Befugnis des EuGH festgelegt, das Gemeinschaftsrecht verbindlich auszulegen, insbesondere im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens auf Vorlagen von Gerichten der Mitgliedstaaten hin (Art. 234 EGV). Die Vorabentscheidungsvorlage eines polnischen Gerichts oder Gerichtshofes an das zuständige Gemeinschaftsorgan betreffend die Gültigkeit oder den Inhalt des Gemeinschaftsrechts, das gemäß den ratifizierten völkerrechtlichen Verträgen anzuwenden ist, steht auch nicht im Widerspruch zum Art. 174 Verf., nach dem „die Gerichte und die Gerichtshöfe ihre Urteile im Namen der Republik Polen“ aussprechen. Durch die Anwendung des Art. 234 EGV werden die Kompetenzen des Verfassungsgerichtshofes nach Art. 188 Verf. weder gefährdet noch eingeschränkt. Sollte sich der Verfassungsgerichtshof entscheiden, dem EuGH als zuständiges Organ der Gemeinschaft eine Vorabentscheidungsfrage betreffend die Gültigkeit oder den Inhalt des Gemeinschaftsrechts vorzulegen, würde er das in Ausübung seiner in Art. 188 Verf. bestimmten Rechtsprechungskompetenzen tun, und zwar ausschließlich dann, wenn er gemäß der Verfassung bei der Urteilsfindung das Gemeinschaftsrecht anzuwenden hätte. Es fällt nicht in den Kognitionsbereich des Verfassungsgerichtshofes (Art. 188 Verf.), einzelne Entscheidungen des EuGH oder dessen „ständige Rechtssprechungslinie“ am Maßstab der polnischen Verfassung direkt zu prüfen. Das in Art. 2 Verf. verankerte Rechtsstaatprinzip bezieht sich auf Staaten, aber nicht unbedingt auf internationale Organisationen. Dies gilt insbesondere für den Grundsatz der Trennung und des Gleichgewichts zwischen gesetzgebender, vollziehender und rechtsprechender Gewalt (Art. 10 Verf.) als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips. Deswegen kann der Verfassungsgerichtshof diese Grundsätze nicht als einen angemesse-
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nen Prüfungsmaßstab im Hinblick auf das Organisationsrecht der Gemeinschaften und der Europäischen Union, darunter auch auf die Zusammensetzung und die Gesetzgebungskompetenzen des EU-Rates, gelten lassen. Die in der polnischen Verfassung festgesetzten formellen Anforderungen an die Rechtsetzung gelten nicht für die Normensetzung auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts. Der Wirkungsbereich der gesetzgebenden Gewalt der Republik Polen ist auf das Territorium des polnischen Staates beschränkt. Deswegen kann Art. 308 EGV nicht auf seine Vereinbarkeit mit Art. 95 Abs. 1 Verf. geprüft werden, wonach die gesetzgebende Gewalt in der Republik vom Sejm und dem Senat ausgeübt wird. Die Einschränkungen der verfassungsrechtlichen Freiheiten und Rechte, deren Voraussetzungen in Art. 31 Abs. 3 Verf. geregelt sind (insbesondere Vorbehalt des Gesetzes und Verhältnismäßigkeitsprinzip), sind an den polnischen Gesetzgeber adressiert. Die sich daraus ergebenden Erfordernisse können nicht auf die Setzung sekundären Gemeinschaftsrechts (Art. 249 EGV) erstreckt werden. Damit ist allerdings nicht die Möglichkeit ausgeschlossen, die gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften, insbesondere die EG-Verordnungen, soweit sie auf dem Territorium Polens anzuwenden sind, auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 31 Abs. 1 Verf. hin zu prüfen. Die in Art. 83 Verf. statuierte Pflicht, das Recht der Republik Polen zu beachten, betrifft auch die Bestimmungen der ratifizierten völkerrechtlichen Verträge und der gemeinschaftlichen Verordnungen (vgl. Art. 87 Abs. 1 und Art. 91 Verf.). Der polnische Verfassungsgeber darf das Wahlverfahren zu den Organen der Staatsgewalt und der territorialen Selbstverwaltung in der Republik Polen souverän regeln. Hingegen ist es nicht Sache der polnischen Verfassung, über die Wahlen zu den Organen der Gemeinschaften und der Europäischen Union zu bestimmen; dies ist eine Materie der die Gemeinschaften und die Europäische Union konstituierenden völkerrechtlichen Verträge (vgl. Art. 190 EGV). Diese Rechtslage steht einer einfachgesetzlichen Regelung des Wahlverfahrens zum Europäischen Parlament auf polnischem Territorium durch den polnischen Gesetzgeber nicht entgegen. Die entsprechende Regelung muss dem sich aus der Unionsbürgerschaft ergebenden Vertragsgebot Rechnung tragen, dass aktives und passives Wahlrecht zum Europäischen Parlament allen europäischen Bürgern auf den Territorien aller Mitgliedstaaten zustehen soll, nicht nur den Bürgern desjenigen Staates, auf dessen Territorium die Abstimmung stattfindet. Der polnische Gesetzgeber soll dabei auch den Verfassungsauftrag im Auge haben, den europäischen Integrationsprozess und die zwischenstaatliche Zusammenarbeit zu fördern. Dadurch, dass die Unionsbürger, die keine polnischen Staatsangehörigen sind, aber ihren Wohnsitz in Polen haben, das aktive und das passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen genießen (Art. 19 Abs. 1 EGV), wird nicht die Republik als gemeinsames Gut aller polnischen Staatsbürger (Art. 1 Verf.) noch die nationale Unabhängigkeit Polens gefährdet. Eine im System der territorialen Selbstverwaltung funktionierende Körperschaft nimmt lediglich an der Ausübung der öffentlichen Gewalt auf lokaler Ebene teil; sie darf weder Entscheidungen treffen noch Initiativen ergreifen, die den Staat als Ganzes betreffen (vgl. Art. 16 Verf.). Das Genießen des aktiven und des passiven kommunalen Wahlrechts durch Ausländer, die Unionsbürger sind, steht auch nicht in Widerspruch mit Art. 62 Abs. 1 Verf., der den polnischen Staatsbürgern u.a. das Recht gewährt, Vertreter in die Organe der territorialen Selbstverwaltung zu wählen. Es gibt keinen Grund, dieses Bürgerrecht im Sin-
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Ulrich Hufeld ne einer Exklusivität aufzufassen, die den einfachen Gesetzgeber daran hinderte, es auch Bürgern anderer Staaten einzuräumen. Das Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit, der Rasse, des Geschlechts und anderer persönlicher Eigenschaften ist eines der Grundprinzipien sowohl des Völkerrechts als auch des innerstaatlichen Rechts. Polen ist verpflichtet, dieses Verbot auf Grund seiner Zugehörigkeit zur UNO und zum Europarat, insbesondere durch Ratifizierung der europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, zu beachten. Das Diskriminierungsverbot ist Ausfluss des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes (Art. 32 Abs. 1 Verf.) und kommt in Art. 32 Abs. 2 Verf. zum Ausdruck. In Bezug auf das Kriterium des Geschlechts findet das Prinzip der Gleichbehandlung (und das ihm immanente Diskriminierungsverbot) direkt in Art. 33 Verf. seinen Niederschlag. Aus diesen Gründen stellen die in Art. 12 und 13 EGV verankerten Diskriminierungsverbote normativ nichts Neues für die polnische Rechtsordnung dar. Die Ehe, die als Verbindung zwischen Frau und Mann aufzufassen ist, erhielt im nationalen Recht der Republik Polen kraft Art. 18 Verf. einen besonderen Verfassungsstatus. Eine Änderung dieses Status wäre nur bei Einhaltung des in Art. 235 Verf. bestimmten Verfassungsänderungsverfahrens möglich; sie kann keinesfalls durch Ratifizierung eines völkerrechtlichen Vertrages erfolgen. Das in Art. 13 EGV formulierte Verbot der Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung bezieht sich auf natürliche Personen (eventuell auch deren Organisationen), nicht jedoch auf das Institut der Ehe. Die Anwendungsbereiche des Art. 191 EGV (die Rolle der politischen Parteien in der EU) und des Art. 13 Verf. (Verbot von Parteien, die in dieser Vorschrift genannte Eigenschaften aufweisen) schließen sich grundsätzlich aus. Die erstgenannte Vorschrift ist in den Mitgliedstaaten der Union nicht direkt anwendbar. So kann es zu keiner Kollision dieser beiden Regelungen kommen. Die in Art. 33 EGV bestimmten Ziele der Gemeinsamen Agrarpolitik – vor allem die Steigerung der Produktivität der Landwirtschaft durch Förderung des technischen Fortschritts, Rationalisierung der landwirtschaftlichen Erzeugung und den bestmöglichen Einsatz der Produktionsfaktoren, insbesondere der Arbeitskräfte – stehen in keinem Widerspruch zu Art. 23 Verf., der den Familienbetrieb zur Grundlage der Agrarverfassung in Polen erklärt. Die Gestaltung der Agrarverfassung ist Sache des innerstaatlichen Gesetzgebers, dem Art. 33 EGV nichts direkt aufzwingt oder verbietet. Im Gegenteil: Unter den Faktoren, die bei der Verwirklichung der Gemeinsamen Agrarpolitik berücksichtigt werden sollen, wird in Art. 33 Abs. 2 EGV auf die Eigenart der landwirtschaftlichen Tätigkeit hingewiesen, die sich aus dem sozialen Aufbau der Landwirtschaft in den einzelnen Mitgliedstaaten ergibt. Die Vorschrift des Art. 105 EGV ist nicht unmittelbar anwendbar, deswegen kann von einer direkten Kollision dieser Regelung mit Art. 227 Abs. 1 Verf. nicht die Rede sein, auch wenn dieser die Polnische Nationalbank zur Zentralbank Polens macht, ihr das ausschließliche Notenprivileg und die Kompetenz zur Bestimmung und Durchführung der Geldpolitik zuspricht sowie die Verantwortlichkeit für den Wert des polnischen Geldes auferlegt. Trotzdem ist es zweckmäßig oder sogar notwendig, das Verhältnis zwischen den gemeinschaftlichen Regelungen zum Europäischen System der Zen-
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tralbanken, der Europäischen Zentralbank und der Geldpolitik der Gemeinschaft (Art. 8 und 105 EGV) gegenüber der polnischen Verfassung vor der zu erwartenden Einführung der gemeinsamen Währung auf dem Territorium Polens zu überprüfen. Dies könnte eine Entscheidung im Wege der Verfassungsänderung erfordern. Unbegründet ist die Befürchtung, vor deren Hintergrund die Rüge der Verletzung des Art. 21 Abs.1 Verf. erhoben wurde, dass die aus Art. 6 Abs. 2 EUV i.V.m. Art. 17 der Charta der Grundrechte der EU abgeleiteten Eigentumsrechtsgarantien des Unionsrechts zur Anfechtung der Vermögensrechte der polnischen Bürger in den polnischen West- und Nordgebieten [ehemals deutsche Ostgebiete] benutzt werden könnten. Die Europäische Gemeinschaft greift nicht direkt in die Eigentumsordnungen der Mitgliedstaaten ein, was eindeutig durch Art. 295 EGV bestätigt wurde. Das Gemeinschaftsrecht darf die Freiheit eines jeden Mitgliedstaates, die Eigentumsordnung auf dem eigenen Territorium zu gestalten, nicht einschränken, solange das Diskriminierungsverbot und das Verhältnismäßigkeitsprinzip bei der Ausübung der bestehenden Eigentumsrechte und bei der Verfügung über diese nicht verletzt sind. Die gemeinschaftlichen Regelungen können keinesfalls die Eigentumsverhältnisse ändern, die in Folge des 2. Weltkrieges entstanden sind, und das sowohl aus Rücksicht auf den Grundsatz lex retro non agit als auch deswegen, weil sich die Mitgliedstaaten nicht darauf geeinigt haben, eine Zuständigkeit der Gemeinschaft oder der Union in diesen Angelegenheiten zu statuieren. Die oben (These 34) zusammengefasste Beurteilung wird nicht dadurch geschwächt, dass Art. 116 des deutschen Grundgesetzes die Staatsangehörigkeit der Personen regelt, die aus den östlich der Oder-Neiße-Grenze gelegenen, nach dem 2. Weltkrieg polnischen West- und Nordgebieten stammen, und dass einige dieser Personen Erwartungen bezüglich des in diesen Gebieten befindlichen Vermögens äußern. Die grundsätzliche Achtung der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten im Sinne des Art. 6 Abs. 2 EGV erfordert keineswegs, dass solche Erwartungen befriedigt werden. Abgesehen davon, dass es willkürlich ist, auf Art. 116 GG solche Erwartungen zu stützen, kann der Vertragsbegriff der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen nicht auf die Verfassung nur eines Mitgliedstaates der EU reduziert werden. Bereits aus dem Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 EUV geht hervor, dass es sich um Grundsätze handelt, die vielen Verfassungssystemen gemeinsam sind. Unabhängig von der substantiellen Würdigung der Rechtslage, die in den Thesen 34 und 35 zusammengefasst wurde, ist der Verfassungsgerichtshof nicht dafür zuständig, die Verfassungsmäßigkeit des Art. 17 der Charta der Grundrechte der EU zu prüfen. In der Form, in der sie in Nizza angenommen wurde, gleicht die Charta eher einer Erklärung als einem Rechtsakt; ihre Bestimmungen sind rechtlich nicht verbindlich. Der Rahmenbeschluss des EU-Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (2002/584/JI) kann wegen seiner allgemeinen Formulierung und des lediglich richtlinienartigen Charakters seiner Bestimmungen einer Prüfung auf Vereinbarkeit mit der kategorischen Regelung des Art. 55 Abs. 1 Verf. nicht unterzogen werden. Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des diesen Beschluss in die innerstaatliche Rechtsordnung umsetzenden Art. 607t § 1 der polnischen Strafprozessordnung fand hingegen in dem mit dem Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 27. April 2005 abgeschlossenen Verfahren (Az. P 1/05) statt.
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Ulrich Hufeld Anhang II Urteil des polnischen Verfassungsgerichtshofs vom 27. April 2005, P 1/05∗
ANWENDUNG DES EUROPÄISCHEN HAFTBEFEHLS GEGEN POLNISCHE BÜRGER
HAUPTTHESEN DER URTEILSGRÜNDE 1.
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Die Verfassungsbegriffe sind gegenüber den Rechtsvorschriften niedrigeren Ranges autonom. Die den einfachen Gesetzen zugrunde liegende Bedeutung der Rechtsbegriffe kann für die Auslegung der Verfassungsvorschriften nicht ausschlaggebend sein; sonst würden die Verfassungsgarantien jeglichen Sinn verlieren. Vielmehr sind es die Verfassungsnormen, die die Art und die Methode der Auslegung von Gesetzesvorschriften aufzwingen. Ausgangspunkt für die Auslegung der Verfassungsnormen muss das historisch entwickelte und in der Rechtslehre bestimmte Verständnis der verfassungsrechtlichen Begriffe sein. Der Begriff „Auslieferung” war herkömmlich in der polnischen Gesetzessprache durch den Begriff „Übergabe“ ersetzbar. Dies war in der StPO vom 19. April 1969 und später in der StPO vom 6. Juni 1997 (bis zum Zeitpunkt ihrer Novellierung vom 18. März 2004) der Fall. Deswegen ist anzunehmen, dass der Verfassungsgeber in der geltenden Verfassung der Republik Polen vom 2. April 1997 die „Auslieferung“ mit der „Übergabe“ gleichsetzte und als das Rechtsinstitut verstand, das in der Übergabe einer von einem fremden Staat verfolgten Person besteht, damit gegen sie ein Strafverfahren durchgeführt oder die ausgesprochene Strafe vollstreckt werden kann. Der Verfassungsgeber, der in der Verfassung von 1997 den Begriff der „Auslieferung” verwendete und dem Verbot der Auslieferung polnischer Bürger Verfassungsrang verlieh, konnte – auch wenn er die künftige Mitgliedschaft Polens in der EU im Auge hatte – die Regelungen zum Europäischen Haftbefehl nicht berücksichtigen. Denn erst der Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen Union vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedsstaaten (2002/585/JI) machte die Übergabe der eigenen Bürger auf Grund des EHB zu einer Pflicht der EU-Mitgliedstaaten. Wesentliche Unterschiede zwischen der „Übergabe” auf Grund des EHB und der „Auslieferung“ im Sinne der 2004 novellierten Strafprozessordnung können nicht darüber entscheiden, dass die erstere keine Auslieferung im autonomen verfassungsrechtlichen, in Art. 55 Abs. 1 Verf. verankertem Sinne ist. Die Verfassung regelt nicht jene Elemente, die den Unterschied zwischen den beiden Rechtsinstituten innerhalb der StPO ausmachen. Die Übergabe auf Grund des EHB könnte nur dann als ein anderes Institut als die Auslieferung im Sinne des Art. 55 Abs. 1 Verf. betrachtet werden, wenn
Inoffizielle, urheberrechtlich geschützte Zusammenfassung.
Der staatliche Souveränitätsvorbehalt in der EU
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sich die beiden in ihrem Wesen unterschieden. Da aber der Kern der Auslieferung darin besteht, einem fremden Staat eine verfolgte oder verurteilte Person zu übergeben, damit gegen sie ein Strafverfahren geführt oder die ausgesprochene Strafe vollstreckt werden kann, muss die Übergabe einer mit dem EHB verfolgten Person, damit gegen sie auf dem Territorium eines anderen EU-Mitgliedstaates ein Strafverfahren geführt oder die ausgesprochene Freiheitsstrafe (oder der eine freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung) vollstreckt werden kann, als eine Art der Auslieferung im Sinne Art. 55 Abs. 1 Verf. verstanden werden. Das im o.g. Artikel der Verfassung formulierte Auslieferungsverbot bringt das Recht des polnischen Staatsangehörigen auf strafrechtliches Verfahren vor dem polnischen Gericht zum Ausdruck. Die Übergabe an einen anderen EU-Mitgliedsstaat auf Grund des EHB würde die Wahrnehmung dieses Rechts völlig unmöglich machen und damit dessen Wesen verletzten, was im Lichte des Art. 31 Abs. 3 Verf. unzulässig ist. Demnach muss festgehalten werden, dass das im Art. 55 Abs. 1 Verf. formulierte Auslieferungsverbot absolut ist und das sich daraus ergebende subjektive Bürgerrecht keinen Einschränkungen unterliegen darf. Mit dem Beitritt Polens zur EU wurden die Bürger der Republik Polen gleichzeitig Unionsbürger. Rechtspolitisch stellt dieser Umstand ein Argument für die Ausschaltung, und zwar durch eine entsprechende Änderung des Art. 55 Abs. 1 Verf., des Verbotes der Auslieferung polnischer Bürger an EU-Mitgliedsstaaten dar, rechtsdogmatisch reicht er aber nicht aus, um eine solche Ausschaltung im Wege der dynamischen Auslegung dieser Vorschrift in deren vorliegenden Fassung festzustellen. Entscheidend ist dabei, dass die Verfassung mit der polnischen Staatsangehörigkeit einen bestimmten Katalog von Rechten und Pflichten des Einzelnen verbindet (einen Katalog, der unabhängig ist von den Rechten und Pflichten, die „jedermann“ genießt, der unter der Hoheitsgewalt der Republik Polen steht). Die polnische Staatsangehörigkeit muss folgerichtig ein wichtiges Kriterium für die Bestimmung der rechtlichen Stellung des Einzelnen sein, und zwar sowohl in Bezug auf die Pflichten des Staates gegenüber dem Bürger (erst recht, wenn diese Pflichten so kategorisch formuliert wurden wie in Art. 55 Abs. 1 Verf.) als auch in Bezug auf die damit zusammenhängenden Pflichten des Bürgers gegenüber dem Staat (vgl. Art. 82 und 85 Verf.). Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass das Übergabeverfahren auf Grund des EHB nicht so sehr eine Folge der Einführung des Instituts der „Unionsbürgerschaft“, sondern vielmehr eine Reaktion auf das der Entstehung dieses Instituts vorausgehende Freizügigkeitsrecht innerhalb der EU ist. Die Strafprozessordnung beinhaltet zwar keine Rechtsnorm, die expresis verbis besagt, dass die Übergabe einer auf Grund des EHB verfolgten Person auch polnische Bürger betrifft. Dies ist aber Art. 607t § 1 i.V.m. Art. 607p StPO zu entnehmen, der unter den Voraussetzungen einer obligatorischen Ablehnung der Vollstreckung des EHB die polnische Staatsangehörigkeit nicht nennt. Die Pflicht zur Umsetzung des sekundären EU-Rechts, darunter der im Rahmen der dritten Säule erlassenen Rahmenbeschlüsse (vgl. Art. 32 EUV nach den Änderungen durch den Vertrag von Amsterdam), ist zwar in Art. 9 der Verf. begründet, doch ist der Umstand, dass ein innerstaatliches Gesetz zum Zwecke der Umsetzung des sekundären Unionsrechtes erlassen wurde, an sich noch keine Gewähr dafür, dass es materiell mit den Normen der Verfassung vereinbar ist.
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Ulrich Hufeld
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Die Pflicht der unionsfreundlichen (dem EU-Recht gerechten) Auslegung des innerstaatlichen Rechts hat ihre Grenzen. Insbesondere, wie es aus der Rechtssprechung des Gerichtshofs der EuGH hervorgeht, dürfen die Rechtsakte des sekundären Unionsrechts selbständig (also ohne entsprechende Änderungen in der innerstaatlichen Gesetzgebung) die Lage des Einzelnen nicht verschlechtern, erst gar nicht im Bereich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit. Es besteht kein Zweifel, dass die Übergabe einer auf Grund des EHB verfolgten Person zum Zwecke der Durchführung eines Strafverfahrens gegen sie im Hinblick auf eine Tat, die nach dem polnischen Recht nicht strafbar ist, die Lage des Verdächtigen verschlechtern muss. Hauptfunktion des Verfassungsgerichtshofes in der polnischen Staatsordnung ist die Prüfung der Vereinbarkeit der Rechtsvorschriften mit der Verfassung. Von dieser Verpflichtung wird der Gerichtshof auch dann nicht entbunden, wenn die Rüge der Verfassungswidrigkeit sich auf eine Regelung des polnischen Gesetzes bezieht, die zur Umsetzung des EU-Rechts erlassen wurde. Im Lichte des Art. 9 Verf. und auf Grund der Pflichten Polens, die sich aus seiner Mitgliedschaft in der Europäischen Union ergeben, ist eine Änderung des geltenden Rechts notwendig, die eine völlige, aber gleichzeitig verfassungskonforme Umsetzung des Rahmenbeschlusses vom 13. Juni 2002 ermöglicht. Mit Blick auf die Erfüllung dieser Aufgabe kann eine Novellierung des Art. 55 Abs. 1 Verf. nicht ausgeschlossen werden, durch die eine Ausnahme vom Verbot der Auslieferung polnischer Bürger statuiert wird, soweit es sich um eine Übergabe auf Grund des EHB handelt. Die in Art. 190 Abs. 3 verankerte Kompetenz des Verfassungsgerichthofes, das Außerkrafttreten der mit einer höheren Rechtsnorm unvereinbaren Regelung aufzuschieben, beschränkt sich nicht auf Fälle der abstrakten Normenkontrolle, sondern kann auch in Fällen der Normenkontrolle auf Grund einer Gerichtsvorlage oder einer Verfassungsbeschwerde Anwendung finden. In Art. 190 Verf. ist dem Verfassungsgerichtshof ein großer Entscheidungsspielraum für die Aufschiebung des Inkrafttretens seines Urteils überlassen, und zwar sowohl hinsichtlich der Entscheidung darüber als solcher als auch (innerhalb der durch diese Vorschrift gezogenen Grenzen) hinsichtlich der Dauer einer Aufschiebung. Dieser Spielraum lässt allerdings keine Willkür zu. Da durch die Aufschiebung zeitweise eine Vorschrift aufrechterhalten wird, die mit einer ranghöheren Norm unvereinbar ist, darf die Aufschiebung immer nur als eine – vom Verfassungsgeber zugelassene – Ausnahme von dem Grundsatz der hierarchischen Integrität des Rechtssystems und dem Prinzip des Vorrangs der Verfassung angewendet werden. Eine Entscheidung über die Anwendung einer solchen Aufschiebung muss immer unter sorgfältiger Abwägung der Werte, die durch die weitere Geltung der verfassungswidrigen Vorschrift verletzt werden, und jener Werte, die für die Aufschiebung sprechen, getroffen werden. Die Regelung des Art. 31 Abs. 3 Verf., die die Einschränkungen der verfassungsmäßigen Freiheiten und Rechte betrifft, gilt nicht unmittelbar für die in Art. 190 Abs. 3 Verf. festgelegte Aufschiebungsbefugnis des Verfassungsgerichtshofes. Es ist daher zulässig, dass der Gerichtshof die Möglichkeit, das Inkrafttreten seines Urteils aufzuschieben, auch zum Schutz anderer als der im Art. 31 Abs. 3 Verf. genannten Werte (Sicherheit und öffentliche Ordnung, Schutz der Umwelt, der Gesundheit und der öffentlichen Moral oder der Freiheiten und Rechte anderer Personen) in Anspruch nimmt, und zwar auch dann – falls es unvermeidlich ist – wenn dies vorübergehend
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das Aufrechterhalten der die Verfassungsfreiheiten und -rechte einschränkenden Vorschriften nach sich zieht. Ein Urteil des Verfassungsgerichtshofes, das das Außerkrafttreten der verfassungswidrigen Norm aufschiebt, hebt diese zwar nicht mit sofortiger Wirkung auf, doch es erlegt dem Gesetzgeber die Pflicht auf, die durch den Verfassungsgerichtshof aufgezeigten Mängel der Regelung rasch, möglichst noch vor Ablauf der im Urteil bezeichneten Frist, zu beseitigen. Das Außerkrafttreten der Vorschrift nach Ablauf dieser Frist kann daher als eine Art Sanktion für den Fall der Nichterfüllung der besagten Pflicht aufgefasst werden. Angesichts der Kompliziertheit des Gesetzgebungsverfahrens und der (auch in zeitlicher Hinsicht) hohen Anforderungen daran sowie der Tatsache, dass die Pflicht Polens, den Rahmenbeschluss vom 13. Juni 2002 ab dem Zeitpunkt des Beitritts, d.h. dem 1. Mai 2004 umzusetzen, besteht, beschloss der Gerichtshof (im Teil II des Tenors) das Außerkrafttreten der verfassungswidrigen Regelung um 18 Monate, also um die maximale in Art. 190 Abs. 3 Verf. vorgesehene Frist, aufzuschieben. Sobald es infolge dieses Urteils zu einer Verfassungsänderung kommt, wird es für die Anpassung des innerstaatlichen Rechts an die Anforderungen der Europäischen Union auch erforderlich sein, dass der einfache Gesetzgeber die Regelung über den EHB wieder einführt, die angesichts der gegenwärtigen Verfassungslage durch das vorliegende Urteil verworfen wird. Das Rechtsinstitut des EHB ist von wesentlicher Bedeutung für das korrekte Funktionieren der Justiz und vor allem – als eine Form der gemeinsamen Bekämpfung der Kriminalität durch die Mitgliedstaaten – für die Stärkung der Sicherheit. Deswegen soll die Sicherung seiner Anwendbarkeit die höchste Priorität für den polnischen Gesetzgeber sein. Die Nichtvornahme notwendiger gesetzgeberischer Maßnahmen innerhalb der im Teil II des vorliegenden Urteils bezeichneten Frist stellte nicht nur eine Verletzung der Verfassungspflicht Polens dar, das verbindliche Völkerrecht zu befolgen, sondern könnte auch ernsthafte Folgen im Rahmen des EU-Rechtssystems haben. Die Verfassung sieht keine Ausnahmen von der in Art. 190 Abs. 1 verankerten allgemeinen Verbindlichkeit der Urteile des Verfassungsgerichtshofes. Das Urteil des Verfassungsgerichthofes ist insbesondere für alle Gerichte bindend. Die Aufschiebung des Außerkrafttretens des Art. 607t § 1 StPO bewirkt, dass diese Vorschrift innerhalb von 18 Monaten nach der Verkündung des vorliegenden Urteils von den Gerichten angewendet werden soll, wenn sie nicht früher vom Gesetzgeber geändert oder aufgehoben wird. Solange diese Vorschrift in Kraft ist, dürfen die polnischen Gerichte ihre Anwendung unter Hinweis auf ihre Unvereinbarkeit mit Art. 55 Abs. 1 Verf. nicht verweigern. Da der Verfassungsgerichtshof in seiner Entscheidung an die Rechtsfrage des vorlegenden Gerichts gebunden ist (Art. 66 VerfGHG), die wiederum durch die Materie der vom vorlegenden Gericht zu erkennenden Rechtssache bestimmt ist (Art. 193 Verf.), konnte die im juristischen Schrifttum diskutierte Frage nach der Vereinbarkeit der Regelungen, die die Übergabe der einer gewaltlosen politischen Straftat verdächtigten Person auf Grund des EHB zulassen, mit Art. 55 Abs. 2 Verf. kein Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sein.
Completing EU membership in Central Europe: Lisbon Strategy and the qualitative catching-up process Completing EU membership in Central Europe
Attila Ágh
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Introduction ‘The enlargement of the European Union will not only challenge our notions as to what ‘Europe is’ but will fundamentally alter the nature of politics on the Old Continent’ (Hayward and Menon, 2004)
The Third Progress Report on Cohesion (17 May 2005) underlines the “coherence between cohesion policy and the Lisbon strategy”, although it admits that “the degree of congruity appears to be significantly higher in relatively more prosperous regions while it is lower in the less developed regions.” (p. 7,9). The logical conclusion would be to elaborate a special Lisbon assistance programme for the less developed regions and countries. Instead the Third Report states that cohesion policy “is” an instrument for the Lisbon strategy, since they have “overlapping objectives”. The same paradox comes back in the Community Strategic Guidelines, 2007-2013 by saying on one side that there is “synergy” – the most frequently used term in this document – between cohesion and Lisbon. However, the Guidelines end up with the following question to be discussed by the public at large: “To what extent should cohesion policy support the growth and jobs agenda and the Lisbon process?”, which means that the answer is open, since the next question is: “What new elements might be included in order to address this agenda?” My answer to these questions is very simple: cohesion policy as it is now supports mostly the pre-Lisbon agenda and the quantitative catching-up process. The EU needs a special programme to assist the new member states and their regions to support the Lisbon agenda and the qualitative catching-up process. This article discusses both the present situation and the future developments in the new member states, first as from democratic transition to europeanization, then the accession crisis and post-accession reforms, and completing EU membership, by concluding with Lisbon strategy and policy integration as a programme for the qualitative catching-up process. On 30 August 2005 the prime ministers of the Visegrad four (V4)1 met in Budapest and issued a declaration about the support for the Lisbon strategy and decided for the further Visegrád lobbying in the EU budgeting matters. The President of the European Commission, José Durao Barroso took part in the meeting and in general he shared the view of the V4 prime ministers.2 1 2
Poland, Czech Republic, Slovakia and Hungary. The V4 prime ministers met on 8 December 2004 in Warsaw “to evaluate the current stage of discussions on the New Financial Perspectives of the European Union” before the European Council Summit on 16-17 December 2004. Having an overwhelming common interest in the EU transfers, they “stressed that solidarity
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Facing the new tasks in the post-accession period, the main theoretical as well as practical problem for the new member states is to find the proper conceptual frame for analyzing their successes and failures in the EU. Moreover, in explaining and evaluating progress the periodisation of Europeanization is also very important, since one has to know the last turning point behind and the next one ahead in order to be able to give guidance for action. This article tries to prove that although democratisation theory in general has been very helpful so far, the reference to the periods of democratic transition and democratic consolidation has still provided less and less concrete explanatory power, and thus a new conceptual framework is needed. It has become common wisdom that transitology and consolidology have failed to offer a proper explanation for the progress in East Central Europe in the 2000s, though they have been kept for want of something better. At the same time after the start of accession negotiations, Europeanization, as a key term and new conceptual frame has come to the fore both at the general and middle levels of analysis, and it has gained more and more adequate explanatory powers. Europeanization as an overwhelming theory and practical analytical tool offers a synthesis of politics-policy approaches as well. It has also been able to offer a base for periodisation in the new member states like the sequence of accession, post-accession and take-off (catching-up) periods.3 Political science up to 1989 was split between political science proper dealing with democratic states and „sovietology” dealing with the Communist states. When the profound changes came, the sovietologists were not prepared for the radical transformation called systemic change. While the crisis became deeper, they still repeated the slogan „more of the same”, and finally they were taken by surprise with the collapse of the Soviet empire (see Wilhelm 2003). After the collapse, however, the most brilliant minds of Western political science, which had turned into transitologists, had run to the ECE and suggested their overgeneralised models that claimed to explain the specificity of radical changes. However, when the ECE fad declined, they disappeared quickly and ran after the new fashions. In the early Nineties, first economic experts flooded the area and offered a variety of advice. The beginning of democratic transition in the ECE was marked from the Western side by ‘safari research’ that resulted in a superficial analysis still considering all post-communist states as one block. I have called this the ‘Prague-Vladivostok hypothesis’, meaning that this huge region was basically homogeneous. In this respect there was no difference between political science and economics, both applied the same over-simplified models for the ‘postcommunist’ countries. Some analysts, in turn, continued the age-old ‘individual’ approach of country analysis according to which all countries were considered to be basically differ-
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should be the guiding principle for distribution of cohesion funds in the enlarged Union”. First of all, the prime ministers have emphasised “the importance of ensuring that the new financial instruments help bridging the development gap of the economies of all Member States by providing fair access to various programmes in the area of Research & Development and education aimed at reducing the technological gap and improving competitiveness”. Actually, these common interests are so important that the V4 countries are getting closer and closer in their Lisbon policies. This article discusses the general framework of our research project under the same title (see OTKA T/F 046919). The article has been based on the conclusions of my latest book (Ágh, 2005) adding the experiences of the first year of membership in the new East Central European (ECE) member states. An earlier, abbreviated version of this paper as a conference paper has been published in Roberto Di Quirico (ed.) Europeanisation and Democratisation volume. Here I analyze the Lisbon Strategy only from the prospects of the qualitative catching up process of the ECE states.
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ent. The over-simplification in comparative politics – the ‘Prague-Vladivostok hypothesis’ – has also played a special political role in pressuring the new democracies to accept the socalled “Washington Consensus” in their economic policies. Thus, in the Nineties these two extremist – over-generalising or country-centric – methodological approaches dominated international political science. In both types of analysis the EU appeared only as an external factor, just the ‘context’ or ‘environment’ for ECE countries.4 Consequently, systemic change in Eastern and Central Europe has mostly been analyzed through the direct application of the theoretical models taken from Latin America and Southern Europe, with the usual periodisation of pre-transition crisis, transition and consolidation. It was accompanied with a fierce debate between the theory-building transitologists and the regional specialists or area studies community whether one should put emphasis on the abstract models or on the overdriven country-specific idiosyncrasies. Parallel to this debate, the question emerged about the decisive factor in the development of these countries: external pressure demanding political and economic liberalisation or the ‘old legacies’ as national specificities (see Crawford and Lijphart 1997). Thus, in the Nineties the debate was on the importance of the general liberalisation drive across the globe versus national traditions. But this debate neglected the special case of Europeanization to a great extent. The most obvious weakness of all these approaches was that they concentrated almost exclusively on the sensational economic and political developments, and forgot about the ‘boring’ but much more painful social transition almost completely. Altogether, the transitology ‘industry’ enjoyed great popularity and produced many unfinished projects and half-elaborated concepts, since the authors disappeared very soon from the research field, running after the next projects or the new fads elsewhere. They have left behind some oversweeping generalisations for the ‘post-communist’ states as a glorious failure of transitology in comparative politics.5 Beyond the changing fashions in the political science „factories”, institutional tutors like the IMF have provided only „one-size-fits-all” models that have usually fit nobody. The global approach to democratisation – and to „liberalisation”, as a frame of reference – has turned out to be a trap for any serious comparative politics. Democratisation has lost its explanatory power and theoretical value because of its over-driven and over-generalised version in global terms, and even more so in its „special” post-communist terms. As David Lowell notes, „post communism itself can be a misleading entity, for it encompasses a number of different countries in a variety of stages of economic development, with diverse 4
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László Csaba has described the economic side as ‘a strange situation, characterised by an overall lack of preparedness as well as misperceptions, applying to professional analysts and public alike”, in which there was an ‘underestimation of the time needed for evolution and internalisation of newly introduced institutions”, adding that ‘The SLIP agenda – stabilisation, liberalisation and privatisation – followed by institutionbuilding has become the common features of any economy successfully moving from plan to market.”, (Csaba 2004: 332, 333, 336). In his recent book (Csaba 2005) he has pointed out that the term of postcommunist is meaningless for analysis, since there are three groups, the ECE, Balkan and CIS states. The transitology literature culminated in the late Nineties and was transformed into a much weaker consolidology literature, but most Western authors involved in this theoretical exercise did not continue their activities on the democratisation of Central and Eastern Europe at all in the early 2000s. The German ‘Transformationsforschung” or ‘Transitionstudien” may be a notable exception from the conventional Western research, since the German experts, unlike the Anglo-Saxon mainstream, ‘had nowhere to go”. They cannot avoid dealing with the transition in East Germany and therefore they have produced country-specific and/or regionspecific analyses (see e.g. Wiesenthal 2001) and comprehensive concepts like the five-volume series on systemic change (Systemwechsel, Opladen, 1996-2000) edited by Wolfgang Merkel.
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histories and cultures” (Lowell 2001: 27). All theoretical exercises that have used a common conceptual framework of this kind for the Czech Republic and Mongolia, or for Poland and Albania, are doomed to failure because their „post-communist” character does not offer something valuable any longer to compare between these countries. The same applies to the standard analyses combining international relations and domestic approaches as „thecountry-and-its-environment” type of comparative endeavour. The global and/or postcommunist comparative effort is, again, doomed to failure in ECE, since the „environment” or international factor approach as the simplest promotion of democracy analysis has produced nothing in common with the actual, very specific Europeanization process in the new member states. The main difference between the „global” and continental approaches obviously is that unlike in all other „international” cases, when even an intensive promotion of democracy leaves the assisted country an outsider forever, the Europeanization process, in turn, does not contain an „external” effect but a very assertive „internal” impact. The aim of the latter has been the „absorption” of that given country, i.e. turning it from outsider to insider. It unleashes a convergence or homogenisation effect – although limited – through the „conditionalities” with an emerging common responsibility for a shared future. In the case of Europeanization the frame of reference is the entire EU25 system with the test of effective membership within. There is no doubt that the dual challenge as Europeanization and globalisation have appeared for the member states, new and old alike, in which globalisation can affect them mostly through the EU system as a whole.6 Thus, the turning point for the analyses of the ECE countries came in the early 2000’s, after the extension of the Europeanization concept to the accession states in the late Nineties. It has led to the emergence of a middle-level theory between the two extreme approaches that have been too general or too particular, global or nation-centric. Accordingly, in the ECE countries there has been a renewal of the former, abstract-ideological „Returnto-Europe” type public discourse „on a higher level”, i.e. based this time on the particular facts of the Europeanization process. This new public discourse is still somewhat vague and not yet well elaborated, but relies more on policy versus plain politics, and on the practical requirements of Europeanization versus the abstract terms, illusory dreams and pure ideological constructs of democratisation. This discourse represents the humble success of Europeanization in the ECE discussions, including this time the analysis of social and territorial actors as well. Nowadays the American political scientists as global travellers and ambitious comparativists have much less interest in the ECE developments than they had some years ago. Instead, the EU policy experts and the political elites of the older EU member states have recently watched more carefully the behaviour of the new member states. The crux of the matter is that ‘the new members have not yet created the conditions for longterm sustainable growth (…) (although) the catch-up potential of the new members is sizable’ (Csaba 2004: 344). Consequently, the future of the EU25 depends to a great extent also on the catching-up process of the new member states. This new situation necessitates, 6
There was a representative conference with the leading experts of democratisation theory on 10-11 December 2004 in Wissenschaftszentum Berlin, organised by Wolfgang Merkel. I have relied on the conference papers very much in my short summary. In addition I have to mention here that democratic consolidation theory, as it was pointed out at the conference, was closely connected with the democratisation cum accession of the Mediterranean states, starting with Spain. The participants of the conference have also made some efforts for a global democratisation approach as it can be seen from their preparatory publications (Dimitrova/Pridham 2004; Morlino 2004; Merkel 2004; and Schneider/Schmitter 2004), but their focus has been on Europeanisation cum democratisation.
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however, the priority of social consolidation with a perspective of the qualitative catchingup in the spirit of the Lisbon strategy. Thus, in the ECE efforts at Europeanization a clear distinction has to be made between the present, post-accession period and the future takeoff period that is in the focus of this article.7 3
Effective membership and institutional reform waves
The most tantalising problem for the new member states after having reached the formal membership is how to develop it into an effective membership (see e.g. Nicolaides 2003). This transition from EU-compatibility to EU-conformity brings about the completion of the democratic institution-building in order to produce a system of efficient institutions. Again, according to international political science ‘democracy’ was the key word in describing the initial process of systemic change, and rightly so. During the initial period of systemic change it was unavoidable, since quick and abrupt changes dominated and were reflected in terms of high level abstraction as democracy and systemic change. Now the ECE countries have to proceed from systemic change to an efficient new system. After the completion of political and economic transition, the major obstacle to the effective membership is the still missing social systemic change or social consolidation. Therefore, one has to describe the necessary changes through middle-level abstractions indicating the slow and evolutionary changes after the “great transformation”. This contrast generates a need for the term of “modernisation” in its broadest meaning of enhancing the performance of a political system. It is an evolutionary change through continuous adaptation and innovation within the given polity, whereas systemic change means transforming that polity fundamentally. Simply said, democratisation embraces the political dimension, whereas modernisation is the policy dimension of systemic change. Modernisation is much more practice-oriented, “earth-bound” and closely connected to concrete social sciences, unlike the theories of democratisation which have been conceived and perceived in the spirit of an ideological discourse. Currently, administrative-institutional modernisation is especially high on the political agenda and in the mid-2000s one can see already the comeback of the modernisation approach in ECE. The macro-level institution-building is over but the meso- and micro-level democratic institutionalisation has not yet been completed. Therefore, in the 2000’s there is an increasing need to deal with the all-embracing modernisation process. Historically, there have been two reform waves. The first major institutional wave of reform in the early Nineties was the constitutional reform, which radically changed the political system as a whole. It regulated the macro-political system in great detail but left the meso- and micro-politics mostly unregulated. The second reform wave began later, in the mid-Nineties, but it has not yet finished. It has become a controversial, protracted process with many delays and setbacks because it has produced an asymmetrical democracy with a well established macropolitical system on one hand and with a low density and weak meso- and micro-political system on the other that has reinforced the traditional centralised character of the Central 7
This is the current discussion to which I have contributed with my latest papers (see Ágh, 2004a, 2004b and 2004c). The last chapter of my 2005 book, ‘The Eastern Enlargement and the Future of the EU25: A Voice from Central Europe on Cohesion Policy” deals with this issue in great detail by describing four scenarios for the future EU25. The notable exceptions dealing with the analysis of social actors and social consolidation are e.g. the books of Cox and Mason, 1999 and Cook et al, 1999.
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European political systems. Economic crisis management with fiscal recentralisation has also impacted on centralising state in the same direction. So despite the decentralising rhetoric and some actual steps taken for decentralisation, the second reform wave has not been successful so far in breaking the quasi exclusive power of the centralising state. The constitutional arrangements have stipulated the legal autonomy of the meso-system with social and territorial actors, and that of the micro-system with organised civil society. But these two sub-national levels in their actual relationships to macro-politics have kept the strong financial and political dependence on the central state. Above all, the structural adjustment to the EU necessitates the “modernisation” or performance approach, since effective membership of the ECE countries now needs a well working democracy which is able to implement the “key policies” or the policy universe of the EU efficiently. This transition to modernisation approach has also been facilitated by the results of the democratisation process itself but the change would not be automatic. Only a new effort can complete the second wave of institutional reforms. The legitimacy of the democratic regimes in the West is based on two pillars: the democratic procedures of the given polity on one side and the efficiency or high performance of democratic rule on the other. The latter presupposes a constant political modernisation and innovation process, or creating a high social capacity beyond the state capacity. At macro-level the ECE countries have been “democratised” to a great extent so far, but – because of their missing or weak meso- and micro-structures, and low efficiency – they have hardly been “modernised”. Therefore in the first year of the EU membership there is a “performance crisis”, since the “partial regimes” of the new democratic institutions have worked at a very low efficiency. There is a contrast between the (rather well advanced) “procedural” democratisation and the (still sluggish) performance-oriented modernisation. Modernisation has been lagging far behind the Western models in ECE and it has appeared in a different way at the various levels of the ECE polities. In fact, this is the main reason for the low competitiveness of the new member states within the EU.8 In modern societies meso-politics has a tremendous role in conflict resolution and crisis management and it facilitates, in co-operation with micro-politics, the workings of the very complex social systems, which are already unmanageable for the state or central government in itself (see Knill and Lehmkuhl 2002). Thus, there is no further democratisation without “interest rationalisation” and institutionalisation of interest groups, having a selfregulating role in their own fields. This common statement about governance versus government can be extended to all sorts of interest representations, not only to the functional, but also to the territorial “self-governments”, given the contrast between the limited “regulatory capacities” of states under the conditions of increasing social complexity. The real question for the ECE states and societies is not that whether they need this interest rationalisation and administrative modernisation, but how it can be arranged. Therefore, one has to look at the functions of organised interests from the angle of their “governing” or “administering” roles and capacities. Without involving the social and territorial actors into the 8
There have been some international institutions publishing competitiveness lists yearly. For example the World Economic Forum (WEF) and the Lausanne-based Institute for Management Development (IMD) prepare and publish year-by-year indices and rankings of competitiveness among the countries. The IMD Foundation in Switzerland published its current world list of competitiveness in May 2005. From among the new member states Estonia is the highest ranking (26), followed by the Czech Republic and Hungary (36-37), right ahead of Spain (38), but even Slovakia is well ahead of Greece (40-50).
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decision-making process, the whole political system remains in danger of a permanent state overload with issues, of being insufficiently informed and of lacking the adequate support of social groups. Interest groups perform the functions of social integration that neither state nor market could serve. They organise membership and provide an aggregation of their interests, and this interest-creating role rationalises the interaction between state and society. This rationalisation increases the efficiency of modern societies tremendously and the structured pattern of interest representation protects state or government from the fluctuating and overwhelming demands of the society. In fact, “democracy is a social condition before it is a political system”, and therefore the “rationalisation of social conflicts” is the core of democracy in its efficient workings (Baudoin 1995: 60–61). The monopolistic effort of macro-politics and its actors – mainly the parties – which I have described several times in the initial period of systemic change in terms of “politics running amok”, is the point of departure for the analysis of political and socio-economic systemic change. No doubt, initially, the political systemic change was the most important and in its basic aspects – such as constitutional changes, setting elections, the emergence of new parties and parliaments could be done quickly and demonstratively. The phenomenon of politics running amok was based on this temporary priority of political changes over socio-economic ones, but it produced the degeneration of politics in this period (which I have characterised as over-parliamentarisation and over-factionalisation) and generated the efforts of politics to keep its monopoly for the long run. Although politics as a sub-system of society is meant for the regulation and co-ordination of all the other sub-systems in society, macro-politics has still neglected the socio-economic and territorial actors to a great extent and concentrated upon itself. “Degenerated” and “selfish” politics is a characteristic phenomenon in all ECE countries, which has been reflected in the disillusionment of populations and the turning away from politics after the very short initial period of euphoria and enthusiasm. Politics has really performed its role far below expectations, although it has to be taken into account that the task has been too difficult and the expectations were too high. Launching the modernisation process presupposes the clearing of both institutional and cultural deficit, that is, the completion of democratic institutionalisation and the professionalisation of the elite, namely the political top-elite as well as the policy sub-elites (organised usually around the ministries), and beyond, in meso- and micro-politics. The professionalisation of the new, extended elite and the rationalisation of interests should go hand-in-hand. But the political and policy lines (political or administrative institutions and decisions) have to be clearly separated. A shift of emphasis is needed step by step from the big, ideologico-political considerations to the particular, professional issues of policymaking processes. This shift of emphasis would mean the introduction of the service function of politics in the social and economic systemic change, a real “triple transition” (democratisation, “marketisation” and social transformation, in addition to nation-building as reorganising the society in a national framework). The pressure for structural adjustment in the European integration process necessitates the entire triple transition to be carried out through fully, i.e. including social consolidation, since the high social capacity is also a precondition of the successful Europeanisation process, and vice versa. Nation-building, therefore, is not just a political process – organising the national polity with its institutions –, but also a social and economic process where three questions will be decided: (1) who are the citizens of the given country, (2) what kinds of social rights are they entitled to, and (3) how they get articulated into the social structure, within their social stratum and social
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identity. The triple transition, however, has different time horizons for political, economic and social systemic change that creates recurring tension between them during the long process of systemic change.9 This short summary of the performance crisis in an asymmetrical democracy has indicated that the lack of proper modernisation has become a very serious problem in EU integration. Moreover, I have tried to indicate that the social preconditions for democracy, beyond the formal-procedural meaning of the term, are at the same time those of efficient democracy. The emerging new strata and their new actors are about to create a multi-actor democracy where all the “partial regimes” are to be made ready for a well working democracy. It is true that the rapidity and profundity with which the transformation is accomplished varies a great deal and diverse roads of development can be identified even in ECE, hence dissimilarities are also clear among them. Yet, the common features of the social and political systemic changes have dominated in the development of these countries. The diagnosis of the childhood disease in Europeanization and democratisation of ECE countries to be the belated emergence of the meso-systems has displayed these common features in them. However, it leads us to a cautious optimism and to a prognosis that the other childhood disease of weak, asymmetrical democracy can be gradually and finally cured, although the entry conditions have produced new tensions generating an accession crisis. 4
Accession crisis and post-accession reforms
In 2004-2005 all ECE governments were shaken by their respective EU entries; most of them failed and fell. The Bulgarian and Romanian governments have shown an even greater political crisis in 2005. Accession crisis has shown that the new member states are still very vulnerable to EU pressure for structural accommodation, first of all in the matters of budgeting for the introduction of the Euro. “Pressure for co-operation” has also continued, since the new member states have to be included into the routine mechanism of all institutions. The collapse of the ECE central governments around entry-time has indicated that the “monster waves” coming from the EU have hit first the governments and macropolitics in general. But the central governments have only been the first “targets” to be hit, indeed. These tidal waves have reached meso-politics as well, since right in the first year of membership their absorption capacity has been put under very serious test. Finally, the demands and pressures have concerned more and more the everyday life of all citizens in the new member states, i.e. provoked quick transformations in micro-politics as well. Analyzing these levels of the institutional system, one also faces new theoretical problems to elaborate as well as new practical opportunities and difficulties to be discussed in their complicated inter-relationships.10 9
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As a price paid for economic crisis management, the social capacity of the ECE countries declined drastically in the early Nineties, when millions became unemployed for long periods of time and were excluded from the labour market. In Hungary between 1994 and 1998 only 46 per cent of the population was economically active, which increased to 57 per cent in 2005, compared to the EU average of 64 per cent. It meant for Hungary that in the early Nineties about two million people “disappeared” from the economy, and instead of 6 million people, less than 4 million had to produce the GNI for ten million inhabitants. The situation is the same in the EU8 everywhere. Therefore it is very important for the ECE countries to get closer to the target of 70 per cent employment, not only qualitatively, but first of all and simply quantitatively. It is enough as a reminder that first the Polish, then the Czech and the Hungarian governments were reshuffled after entry, but there were also deep changes in Slovenia and in the Baltic states as well. By the way, this ac-
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As to macro-politics, due to EU accession there has been a growing interest in the study of state capacity in ECE that has been connected with the increasing significance of policy sciences and also with the need to analyzing state performance and setting its criteria. The classification of the various aspects of state capacity in general can be useful in political science but this conventional approach considers its connection with and its foundation in, social capacity only as secondary. Hence, the relationship between state and social capacity remains undiscovered, although it has become the most important issue for both the developed and developing states, but primarily for the new member states. The broader view on state capacity that takes into account its relationship with social capacity, however, adds a relevant dimension to the necessary analysis of the administrative and political capacity of the central state. In the EU it is crucial, indeed, whether the state acts in a legitimate way or its actions just increase the democratic deficit. Moreover, the distinction between “political” and “implementational” aspects within administrative capacity may also be worth considering, given that the implementation gap in ECE has been so often criticised by EU authorities. No doubt a thorough study of the ECE central governments and state administrations could benefit from such a system of criteria, since the “state sector” has to take part in the decision-making process of all EU institutions and to transfer all information coming from the EU to state administration, including all of its levels. Thus, state capacity has also to be tested across the whole spectrum of state administration, with two special cases of the judicial system and data collection/administration.11 The problems of state capacity lead to a more general question of strong and weak, or “big” and “small” states. In ECE there has been a tradition of centralised and “big” states that claimed to be “strong”. Therefore in systemic change a myth of the “small” or “lean” state has emerged, suggested by such “institutional tutors” like the IMF and the OECD, mistaking small for efficient. In fact, both approaches are fatally flawed in my view, since the “big” state does not become efficient simply by reducing its size, meaning the size of its competences as well as the size of the administrative staff. First, no doubt that the former authoritarian state had to be deprived of many of its earlier competences but at the same time even the Europeanization of the new democratic member states demands the increase of their competences in some other fields, given – among others – the policy integration in the Lisbon strategy. Second, it is true that there are redundancies even at present in the administrative staff but, again, the new functions presuppose new, additional and more professional personnel. Thus, not only the “big and strong” approach has become outdated, but also the “small and cheap” approach has been misleading from the very beginning of
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cession-induced tidal wave reached the Bulgarian and Romanian governments in summer 2005. I have recently written a new paper on the ECE parties and governments “The general crisis of the ECE parties: External and internal Europeanisation of the ECE party systems”, paper presented at the conference on Globalising party-based Democracy, University of Warwick, 7-8 July 2005. In a recent publication Sally Cummings and Ole Noergaard have set four sets of criteria for evaluating state capacity, namely ideational, political, technical and implementational. By ideational capacity they mean the legitimacy of state and its embeddedness in state and social institutions; by political capacity the ability to make coherent decisions and mobilise the resources from all state institutions for this decision; by technical (or administrative) capacity the intellectual and organisational resources of the state; and finally, by implementational capacity to carry out decisions (from political output to social outcome) (Cummings/Noergaard 2004: 687–689). Given the high complexity of social life, the collection, registration and administration of data about all social sectors has become one of the biggest problems of the new member states. For instance, for launching the SAPARD programme the EU authorities needed a precise land registration that created a huge difficulty for the Land Registration Offices of the new member states.
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systemic change. The ECE states are not “big” compared to the nation-states of other members as far as the size of the personnel is concerned (both civil servants and public employees) but there are serious problems with their cultural/human capacity. Consequently, the need for change cannot be formulated in quantitative, only in qualitative terms. The same applies to the new functions of the state. The state has to include all the items of the Lisbon Agenda. Above all, the most important task of the state in the new member countries is to build a large social capacity in order to create an optimal relationship between state and social capacity.12 All in all, an effective state is needed to promote effective membership. The most acute problem in the early membership period is the competitiveness in the EU that goes through the entire post-accession period. The main task of the new member states is twofold: first, to demand fair conditions in the EU to be able to compete and cooperate with the older members; second, to represent their national interests properly in the EU decisionmaking bodies. Both are learning processes. On one side, effective membership is needed to cope with the issues of regulating tax competition by avoiding social and environmental dumping as unfair competition but using all competitive advantages of the countries concerned for fair competition. On the other side, it is even more difficult to learn how to represent the national interest energetically within the EU, while being open to any cooperation with the other member states and respecting the common interests of the EU25. This dilemma may be conceptualised with a distinction between national and strategic interests. National interest is the direct interest as represented directly in the EU negotiations. Strategic interest, in turn, is emerging from the negotiations as their consequence. Strategic interest takes the behaviour and interests of the other member state-actors into account as a result of compromises. Confrontation with the mainstream trend in the EU decision process as well as deep conflicts with the other countries has to be avoided, indeed, yet the national interest has to be represented consistently, through finding partners in the coalition-making process. The partnership principle gets a new meaning here as recruiting partners in the EU decision-making process for this coalition-building. The effort for sustainable competitiveness has to be understood also in the international or EU context. All short-term moves have to take into account that they should not risk diminishing competitiveness for the long run in a compact and coherent system of political and socio-economic conditions, so an effective state protects the country even against the virtual negative effects of mistaken EU demands.13 Meso-politics has been in the focus of the evaluations of the first years of membership.14 Although the central governments have the initiative in preparing and deciding for the National Development Plan, it is meso-politics carrying the main burden for structural accommodation within the EU and for its success through enhancing social capacity. The first years of membership has testified that the absorption capacity of the ECE countries has 12
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According to Employment in Europe 2003 (Eurostat) the total public employment in the EU15 was 24.4 per cent and in Hungary 21.3 per cent. As the Political State Secretary of the Finance Ministry in Hungary, Tamás Katona has declared a more drastic cut in the budget deficit because of the convergence criteria could risk cutting some productive investments needed for the long-run competitiveness of Hungary (Népszabadság, 13 January 2005). Similar complaints have been formulated by many leaders in ECE and currently by many analysts, see Frenkel and Nickel (2005), and Corelli (2005). See e.g. the country studies in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung 2005: Jahrbuch des Föderalismus 2005, Baden-Baden.
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been developed enough and their sub-national, regional actors have also performed rather well. Actually, there was some panicking that the ECE countries could have become a net payer in the first year, but the end results were slightly positive financially. In addition, the mobilisation of meso-politics for the new EU workings has evoked two features of regionalisation in a marked way: first, the extension of regional partnership structures, and second, the significance of micro-politics or organised civil society as a solid foundation below meso-politics. The extension of regional partnership structures, the regional governance with the socio-economic and territorial actors may be curing the infantile disease as the traditional weakness of the intermediary structures for both the territorial and social actors. The local-regional branches of both business associations and trade unions have also found common interests in the promotion of regional development. They have organised policy communities and networks, and even more often issue networks for the common management of matters that have emerged transitorily between/among policy communities, e.g. writing applications for funds. Membership has also accelerated the building up of new structures along the lines of horizontal and vertical Europeanization, within the ECE countries and abroad. Most ECE states have still difficulties to organise elected, self-governing NUTS 2 regions, but governments have encouraged the association of counties (NUTS 3) as they did with the settlements (NUTS 5) in producing NUTS 4 level districts or small regions.15 The Regional Development Councils are but weaker forms of the elected regional governments, since the counties send their elected representatives to these bodies. Specifically, all counties have their elected assemblies and these assemblies can also form some kind of regional assembly that can enhance both legitimacy and efficiency of the NUTS 2 regions. Although there is still a long way ahead to remove the regional deficit as a particular case of institutional deficit and to create the “framing integration” at the regional level, some basic changes can already be seen.16 The reorganisation of the relationship between macro- and meso-politics as decentralisation and regionalisation is one of the central tasks of the post-accession period. Therefore, in this respect as well, one has to make a distinction between the post-accession period in which we find ourselves and the take-off period which lies ahead of us. Thus, the postaccession period is absolutely decisive regarding the accomplishment of institutional reforms, since the accession period created only the minimal, formal conditions for membership. Hence, the post-accession period is completing this process within the EU by executing a complex institutional reform. It is also a “catching-up period” institutionally as the “domestication” of imported institutions. Now, one can see more the new problems of the post-accession period then before, including those of the start for the next period. The basic criteria for reaching the take-off period are the following: (1) acceleration of economic growth for the catching-up process, (2) completing the institutional reform necessary also for the optimal absorption of EU transfers, (3) developing sustainable competitiveness in the EU and (4) reaching the level of effective membership through elaborating a national 15 16
Ágh 2005; Dieringer 2005. On the recent developments in the Hungarian regionalisation process see the studies of Kaiser, Mocsári, Pálvölgyi and Rózsás in Ágh 2004a. The latest volume edited by our team focuses already on the postaccession process and my introduction deals with the distinction between the post-accession and the take-off periods in detail (see Ágh. 2004b). In 2004, i.e. during eight months of membership, Hungary managed to prepare and fix applications for 37 per cent of the total amount for the period of 2004–2006. Assuredly, the evaluation of the Hungarian absorption capacity has become the topic of the sharpest political debates between government and opposition, and the same applies to the other new member states.
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strategy with proper interest representation and the capacity to make initiatives. One does not yet know clearly the interrelationship among these criteria, although undoubtedly only their complex emergence will bring the next turning point. Since the mid-Nineties the level of economic growth in ECE – with some fluctuations – has always been above the EU average (see the data in Csaba 2005: 68). Of course, it is difficult to determine what the sufficient level of economic growth is, which may indicate a new period in catching up. Most probably, sustainable growth around 4–6 per cent is the answer. Although the creation of proper social capacity with the completion of the institutionalisation process in mesoand micro-politics has not yet accomplished, there are already some clear signs of achievement.17 5
Completing membership and the qualitative catching-up process
Full membership in the EU has been a long process with many stages and has not yet been completed by the new member states. There are still two big tasks ahead of them, joining: the Schengen acquis and the Euro-zone. But the most difficult task for them is to join the Lisbon strategy, since it presupposes intensive policy integration between economic, social and environmental policies. Therefore the Lisbon strategy needs a “qualitative” catching-up process, an “effective” membership after the formal membership and “policy” integration after “institutional” integration of the new member states. Thus EU entry has several meanings, since it has been a step-by-step process after the Copenhagen Agreement in December 2002. The new member states first sent observers to the EU bodies, then actively participated in the Rome IGC procedures, and finally full legal entry came on 1 May 2004 (I have analyzed this process from the side of the acceding states in great detail, see Ágh, 2003 and 2004a). The current accession processes of Bulgaria and Romania have demonstrated that the next member states have an even more complicated entry process with many stages and veto points. After the first year of the eastwardly expanded Union, in spring 2005, it became clear that the working order of its institutions could be maintained with the additional members. Thus, the EU25 has been “manageable”, and further formal institutional accommodation processes can also be foreseen with relative ease. In this narrow meaning the cleavage between the old and the new member states will disappear rather soon, indeed. Moreover, in a somewhat wider meaning, the new member states will implement community policies more and more effectively in the coming years, maybe in some cases even better than some other, older member states. But this is not the full story. On the one side, it is true that the new member states have begun but not yet completed even the institutional adjustment process. 17
Tax competition seems to be the bone of contention between the old and new members and in this respect the Western leaders have often pronounced populist statements aimed at their domestic audience. The Economist notes that if the new members go further in cutting their taxes to stimulate growth, then there will be even more tension, since “France and Germany were already complaining loudly last year that excessively low taxes in Central Europe were sucking investment and jobs out of Western Europe.” (‘Reaping the European Union harvest”, 6 January 2005). There has been a long discussion on the tax competition but without proper references. Now here are the figures for the ECE states in 2005. In the following I give the data about the main types of taxes – company tax, VAT, personal income tax, social security contribution and tax on profit and interest – in that order for Poland - 19-(3-7-22)-(19-40)-(19.8-18.7)-(20-19) -, Czech Republic 26-(5-19)(15-32)-(32-12.5)-(15-15), for Slovakia – 19-19-19-(35.2-13.4)-(19-19), and for Hungary – 16-(5-15-25)-(1838)-(33.5-12.5)-(--).
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Therefore, among other deficiencies, they may not yet be ready institutionally to absorb the EU transfers optimally. On the other hand, the EU transfers before the full entry of the EU818 were much below the level of the Mediterranean extension. This disadvantageous position has continued in 2004-2006: the Mediterranean states in this period receive € 231 per capita annually, the ECE states only € 115 (see Economist Corporate Network 2003: 9), which can maintain the distance between the EU8 and the EU15 for some time to come. Indeed, the EU perspectives in the coming years will be determined by some correction processes by removing the former double standards between insiders and outsiders in order to create coherence and partnership in the EU25. The post-accession period means also accepting the new member states as real partners in the decision-making process with equal and fair treatment of all members in cohesion policy, which has not yet been the case (see this demand in great detail already in the Kok Report, 2003).19 For a further analysis of the catching-up efforts one has to start from the periodisation of the historical, long-term process of Europeanization. Namely, Europeanization in ECE has proceeded in the following periods: (1) association – 1991-1995, (2) pre-accession 1995-1998, (3) accession - 1998-2004, (4) post-accession – 2004-2010 and (5) take-off period – 2010-2015. In this periodisation one can define the post-accession period as the one in which the institutions will become completely reformed and made fully operational within the EU due to its functional pressure. It means that accession will be followed by a new adjustment phase within the EU, joining Schengen acquis and Euro-zone, and entering completely Lisbon strategy. Afterwards, in the take-off period, the EU8 may start an accelerated catching-up process in 2010 or later – it is an open question, when. Ireland entered in 1973, and began to catch up after the mid-eighties, from 1987 onwards. But the Central Europeans do not have 14 years to lose under the conditions of global competition in the early 21st century. The preparation for the Lisbon strategy means two parallel processes at the same time. The first one is the “integration of the populations into the integration process” as inviting people back after a long period of social and political exclusion to the society-wide integration process and mobilising them for effective membership. Second, it means the creation of the necessary social capacity for an innovative, knowledge-based society. This would enable the ECE countries within some years to begin the take-off period that will be the real catching-up process for the EU10 to the level of the present EU15. Entering the post-accession period, however, the agenda of Europeanization in ECE has changed beyond recognition. New problems have emerged which need a new conceptual framework, since the EU has raised new demands of the new members, who have also encountered basic domestic problems that have recently returned with a vengeance. First of all, at the time of full membership the EU-conform social consolidation as the social construct for democracy is still largely missing.20 18 19
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The new member states from Central Europe. During the accession negotiations the European Commission could exercise pressure on the candidate countries, so they had to accept some rules more than the incumbents, e.g. in the field of regionalisation. But the classical case of the double standard is the minority issue where the EU pressure was great, although many former member states have no similar minority policy. On the topic “efficiency or democracy”, and “better democratic governance” see Pridham 2005: 130, 142, etc. In all ECE states the recovery of living standards had experienced a significant delay after the reaching of the 1989 level in macro-economic figures. For instance, despite all difficulties Hungary made a rather substantial social or welfare systemic change between 2002 and 2004. Compared to 1989, in 2001 the GDP was at 108.2 per cent, the real wages at 102.2 per cent and the pensions at 82.0 per cent, by 2004 the GDP was at 124.1, the
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As commonsensical as it is, the country as a whole enters the Union and not just the governments, but the ECE governments almost completely monopolised the relationship up to May 2004 and created an “accession democratic deficit”. Heather Grabbe also notes: “Until the final phase of the accession negotiations, discussion of European integration was confined to a small political elite. Only the negotiating team, the EU liaison departments and some ministries were involved in European matters at a detailed level. Much of the political class still knew very little about the EU’s policies and how it was organised, while the public had a fairly hazy notion of what EU membership involved.” (Grabbe 2004: 69).
Thus, the present situation has been aggravated by the accession democratic deficit that has emerged because of the government quasi-monopoly in the accession negotiations leading to the exclusion of the territorial and social actors from this process. For compliance with the Lisbon strategy it has been even more important that the civil societies of ECE with all emerging actors were excluded from the accession process that had taken place above their heads. I try to capture that with the term of “accession democratic deficit”. It is not a question of simply to blaming the ECE governments for the exclusion of social and territorial actors from the accession process. This exclusion was necessitated to a great extent by the actual weakness of social and territorial actors, and by the concentration of the very few EU experts in the government offices. Initially, the social actors were not well informed or prepared enough for assisting the negotiations since they were fragmented and constantly in conflict with each other. But this situation unleashed a vicious circle because, as a result of socio-political exclusion, they became even more uninformed and they were unable for real participation when accession came. So the fact remains that the accession negotiations were conducted by only the ECE governments, what is more, with an absolutely unnecessary secrecy and exclusiveness, providing only some poor ex post information even for their parliaments. This exclusion or neglect has resulted in the alienation of the population from the Europeanization process, or at least in a perception mistaking it for “elite affairs”. It raises tremendous difficulties when the population has to be “called back” to the integration process, when the social capacity becomes crucial for effective membership. The monopoly of the central government in EU affairs has caused, indeed, an accession democratic deficit, which has been different from the usual structural democratic deficit within the EU (Ágh 2004b).21 This special but long-lasting democratic deficit is now a major obstacle to effective membership. The exclusion of the social and territorial actors from the accession negotiations was the political side of the missing or insufficient social capacity. Its policy side has been the lack of sufficient knowledge, skill and information about the EU. In fact, the political side as missing participation and the policy side as the missing knowledge have reinforced each other. Therefore, as I will argue new and again, the post-accession period could be more difficult than the often-criticised accession period. The sooner we realise these new
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real wages at 115 and the pensions at 101.9 per cent respectively (data taken from the Hungarian Central Statistical Office). It is very interesting that there was a drastic decline in the support for membership in the ECE countries in 1997 as an effect of Euro-fatigue. In 1998, with the start of the accession negotiations, the support began to increase. It is equally interesting that in the referendum year 2003, the percentage of support in the public opinion surveys was significantly lower than the actual support at the EU referendum. The solution is that the turnout was rather low, so as a result of the accession democratic deficit the greater part of the population in most ECE countries did not take part in the referendum (see e.g. Dauderstaedt 2004: 9).
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problems, the better, since we can turn then towards the task of general social mobilisation. Finally, the negotiating elites have forgotten about a very important precondition of a successful, effective membership, namely about the elaboration of a national strategy within the EU. As I discussed above, the new member states went through an accession crisis in 2004-2005 under the double pressure of the requirements and the domestic demands for a better living. Even the “shock” of introducing the Euro in ECE has been discussed in the EU literature (Frenkel and Nickel 2005). The Union has not been prepared for accession properly, since it has been under-financed and over-worked. The new members have been forced into the “bed of Procrustes” of the given period in the present seven-year budgeting cycle and faced to the urgent need to join the Euro-zone as well. When they entered, it was totally accidental for them how many years were still left until the next seven-year cycle as well as how much was the “rest” of money available for this “cheap enlargement” (Michaele Schreyer, the former budgeting commissioner). In addition, it has also been neglected that the new members are to meet the convergence criteria under these poor years that can delay their economic growth and the development of their public services.22 Heather Grabbe has summarised these problems under the heading of accession costs. Her argument makes it clear that the accession crisis could have been predicted and prevented in the EU: “The accession negotiations have left a bitter taste in Central Europe because the financial deal was not generous to the new member states. (…) Their financial ministers are likely to need more transfers from Brussels because several of them will face considerable problems with public finances in the first years of EU membership. (…) The new members’ finance ministries will have to find more money to co-finance infrastructure projects, in order to qualify for EU budgetary transfers. (…) At the same time, the new members will be trying to qualify for monetary union, so they have to trim their budget deficits down to 3 per cent of GDP. (…) However, several candidates whose budget deficits are already rising, most notably the Czech Republic, Hungary and Poland, could face a fiscal crunch, that will make their governments unpopular.” (Grabbe, 2004: 65, 68).
It is not by chance that on 9 June 2005, the Hungarian MEP Csaba İry suggested in the European Parliament that social inclusion should be taken into account more than before when planning for the Lisbon strategy. His Report on social inclusion in the new Member States (Report submitted on 29.4.2005 – FINAL, A6-0125/2005) was favourably received in the Committee on Employment and Social Affairs.23 22
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Introducing the euro as soon as possible is in the genuine interest of the new members. At the same time meeting the criteria imposes new social restrictions on them by a drastic reduction of budget deficit. The Hungarian government submitted its convergence programme to the EU in late May 2004, scheduling the restriction of deficit below three per cent in 2008, and joining the euro-zone in 2010 as most ECE countries. The Visegrád Four (V4) countries – Poland, the Czech Republic, Slovakia and Hungary – received a warning from the Commission on 11 May 2004, because their deficit was above three per cent. The Ecofin Council made its suggestion for them on 5 July 2004, as how to reach the convergence criteria. Due to the political crisis in 2006, the Hungarian programme was modified to a great extent. The deficit reached 10.1 percent at its peak. On the budgeting negotiations in Copenhagen in December 2002 leading to the “cheap enlargement” see Ludlow, 2004: 242–244 in great detail. I have followed the budgeting negotiations closely in the Luxembourg presidency and I am afraid that a second edition of the cheap enlargement may come with a neglect of the Lisbon targets for the new member states. Let me remind here that the European Commission on 22 April 2004 appointed a special committee with 13 members under the leadership of Wim Kok to investigate the
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At the same time the Lisbon strategy has also emerged for the new members as a positive “forced-course development” and great historical opportunity. However, compared to their relative backwardness it appears also in many ways as a premature demand. No doubt, the Lisbon strategy, with its synergies in a developed society, could lead to a win-win situation or positive sum game after a successful post-accession period. But the new member states have no time to waste and they have to engage in it right now with all the ambiguities of their present situation. The preparations for the Lisbon strategy may and should start immediately in the new member states by concentrating all efforts not only on the quantitative catching-up in the terms of the per capita percentages of the GDP average but first of all on the qualitative catching-up process in the seven-year plans for 2007-2013 in the terms of policy integration. However, the EU also has to realise that on one side the new member states are still coping to a great extent with a pre-Lisbon agenda of economic difficulties, institutional reforms and restoring public sector with its basic services in health care, education and social policy after a long period of neglect and low performance. On the other side they need special assistance for joining Lisbon. I will return to that. Through these difficulties in joining the Lisbon strategy in the mid-2000s the deep social problems have reappeared in a new light, since the Lisbon-conform social capacity from below is largely missing. In the post-accession period their social capacity to cope with the Lisbon-type of policy integration has to face not a virtual but a real test within the EU. The social challenge has re-emerged not only from its negative side as “the trap of materialist needs” but also from its positive one as the Lisbon requirement for high social capacity. The halfreconstructed public sector has now been targeted for its Lisbon functions. For instance, a high level of education is not only a ‘social’ demand any longer in its abstract terms as a “welfare” issue or moralistic normative, but first of all it is a simple and pragmatic Lisbon demand for educated manpower in the spirit of knowledge-based society, or, in general, for EU-conform public services in all fields. So far there has been a lack of communication and understanding in this respect between the EU15 and the EU8 on the social situation of the new members. The EU15 has not been sensitive enough to understand the special character of Social Challenge for the ECE states in view of Lisbon strategy on the one side, but they have presupposed a rather great Lisbon-type social capacity in the EU8 countries as “normal” on the other. They have not been ready to realise that these demands – social investment and Lisbon criteria – are but two sides of the same coin. As the title of the abovementioned “İry Report” says: “Social inclusion policies have a key role to play for the success of the Lisbon strategy”.24 Again, the difficulties of the EU adjustment now, in the post-accession period are greater than ever before when the focus has been shifting from the formal and minimal EU requirements to the practical as well as theoretical preparations for the Lisbon strategy. It produces a necessity of a “horizontal” coordination and integration of economic, social and environmental policies under the term of “sustainable development” to be discussed later.
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problems of the Lisbon Strategy. They submitted their Report to the Commission in early November recommending the Nordic model, which presupposes large investments into human resources and public services and can be the optimal model for the new member states as well. The European Commission on 12 May 2004 adopted a White Paper on high quality public services, realising that setting the legal framework for financing of public services was necessary for the normal functioning of the economy in general and for attaining the Lisbon Targets in particular. In this respect, the ECE states have been lagging far behind and the membership can be a push factor to restore the normal public services and then to develop them into “high quality public services”.
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The principle of subsidiarity, decentralisation or multilevel governance demands a profound public administration reform as “vertical” coordination and integration as well. These requirements as a new social challenge represent tremendous difficulty for the ECE countries after having met the political challenge and the economic challenge that can be summarised in employment challenge in both quantitative and qualitative dimensions, indicating in both ways that “full employment is the best social policy” (see e.g. Eatwell et al 2000). Altogether, the turning point is twofold, but the common requirements of the EU competitiveness and the need for a domestic social consolidation point to the same direction. On the other side, we have still the neo-liberal practice as the drastic – and not yet full – enforcement of the rules of private economy. This practice has appeared in the marginalisation of public sector with those public services that have been still functionally necessary for competitiveness. In addition, the preparation for membership in financial terms – as the introduction of the Euro – also damages the conditions for responding to the new EU social challenge in the Lisbon strategy. This contradiction has been by and large unavoidable, since responding to the EU social challenge in ECE has run against the EU social challenge. However, the EU itself has not realised this contradiction that the emerging assistance structures for the next seven-year budgeting are not Lisbon-friendly. In the relatively well functioning Western societies with high standards of living, the austerity measures do not ruin the normal social capacity and do not preclude their further development either. But in a “truncated” ECE society in flux, where the major part of population are losers of the transformation crisis and “paying the accession costs”, and where the basic functions of public services do not yet work properly, the financial restrictions do a great damage to the emerging social capacity, including education and R&D. The major issue is whether this contradiction can be overcome after the formal entry in the post-accession period. If not, then the ECE developments will be pushed to a blind alley or to the “Greek way”.25 6
Lisbon strategy and policy integration
Since the Eastern enlargement has taken place at the time when the EU has been already in a period of high complexity, the new member states have to be integrated to that complex system called Lisbon strategy. Accordingly, the new problems of the post-accession period now have also to be elaborated from the side of policy – or “horizontal” – integration. For the latecomers it is of crucial importance to make a distinction between the more spontaneous, “organic" responses of the former member states and the more state-orientated, “inorganic” responses of the new member states to the Lisbon challenge. Although the most developed member states also consider the Lisbon agenda as a turning point in their efforts to reach a higher competitiveness, it also presupposes a much bigger, “inorganic” turn for the least developed old and even more for the new member states. At the same time, the Lisbon strategy is a model case for a particular mixture of direct and indirect Europeaniza25
There has been an extensive literature not only about the European Social Model but also about social capacity in the EU, including the elaboration of indicators and targets for social inclusion. Atkinson et al. write (2004: 47): “In December 2001, the Laeken European Council adopted a set of commonly agreed and defined indicators for social inclusion. These should play a central role in monitoring the performance of member states in making progress towards the key EU objectives in this area set by the Nice European Council in 2000, and represent a major step forward in the development of EU social policy.” Obviously, this task is even more important for the new member states.
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tion pressures and the most outstanding case for a benchmarking exercise in the assessment of convergence in Europeanization (open method of co-ordination, OMC).26 Basically, this response of the new member states to Lisbon is the backbone of their newly elaborated national strategy in the EU as a precondition for effective membership or raising the alternative standards of “thick” or “thin” Europeanization (Vink 2003).27 During the UK Presidency, the EU itself was uncertain about the future of the Lisbon process. First of all, whether it is coherent enough as a harmonisation of economic, social and environmental policies. Second, whether it is “cohesive” enough with cohesion policy in general. Third, whether it can be completed by 2010. I will discuss these three issues in the new member states. First, one has to have a brief overview of the Lisbon strategy at its present stage in the EU25, considering that adjustment has been complicated for the new member states by the fact that the Union itself is still uncertain about the future of the Lisbon process. The protracted recession has caused doubts in the viability of the strategy and at least two important changes can be observed. First, instead of regions, the crisis-ridden member states once again consider the countries as basic units of competitiveness. Second, instead of the complex view of competitiveness, they have reduced its understanding to a narrower meaning, closer to economic competitiveness for the “growth and job” strategy in a more-or-less neo-liberal way. These tensions came to the surface in 2003. In a series of Reports during the Irish Presidency the crisis of the strategy became evident. At the same time as the Commission’s Report to the Spring European Council, published on 20 February 2004, the emphasis is on the reforms of the strategy for the enlarged Europe by putting it on the “right track”. The Kok Report in November 2004 “reinvented” and the Spring European Council in March 2005 “relaunched” the Lisbon strategy. It is not clear at all, however, what will be the future of the Lisbon agenda because of the crisis of the ratification process of the Constitutional Treaty.28 It is true that the EU has always developed through major crises but the double effects of the ratification and budgeting crises seem to overburden the member states’ capacity to deal with the future of the strategy. Simply said, in all these cases there is the same contradiction between the short and long term perspectives. This contradiction is even more obvious in the ECE case and the EU cannot go in both ways, by restricting assistance to the new member states and still hoping that the enlarged Europe will be on the right track for the Lisbon strategy.29 There have been many serious efforts to revive and reinvent the strategy as some important Reports (Rasmussen and Kok Reports) have indicated. To summarise the “ProLisbon” views and concepts, it is best to turn to the book “Economic Reform in Europe: Priorities for the Next Five Years”, edited by Roger Liddle and Maria Rodrigues, since this book deals especially with the new member states. In his introduction, Liddle accepts that “Lisbon fatigue” poses a huge political problem for the new Commission. The central question is how much the economic reform should be its first priority, since some have suggested that the strategy has to focus on limited actions, that it has to be a “repackaged” Single Market project and one has to “forget the rest” (Liddle 2004: 16). He has turned 26 27
28 29
See the chapter of Uwe Puetter in this volume. Policy integration gives the essence of the Strategy but the same applies to the EU’s foreign policy that I analyze in a long paper, „On the problems of ratification of the Constitutional Treaty”, mentioned already several times. In this volume see Dieringer et.al., but also Skach 2005. On the Constitutional Treaty see Beckmann/Dieringer/Hufeld 2005. The assessment of the Strategy is a complicated issue I have mentioned here only very briefly from the point of view of the new member states.
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against this narrowing down of the Lisbon agenda, and left the positive answer to Rodrigues who already played a leading role in the elaboration of the Lisbon strategy in 2000 (see Rodrigues 2002). Her closing chapter in 2004 is, in fact, her contribution to the MidTerm Review of Lisbon led by Wim Kok. In her mid-term review, she draws attention to the fact that the strategy has been based on a series of actions that constitutes the Lisbon agenda. Getting closer to the end of the first phase after five years, at the time of writing, she sees the problems of insufficient implementation in the missing transfers of the agenda from the EU level to the national level. Therefore, she suggests that the second phase of the strategy has to focus on this national transfer, “putting the focus on the implementation at national level, including the new member states. The new focus will require a stronger interface between the European and the national levels of governance.” This means that the strategy has to turn from a dominantly Union-level process to also a national-level process with a strict socio-political national agenda. She clearly identifies the problems and remedies in the case of the new member states but she does not mention that the EU25 does not yet move in this direction with its cohesion policy: “For the new member states, as well as for many of the less developed among the EU-15, what is at stake is whether the Lisbon strategy can become a leverage for a catching-up process able to combine growth, employment and social cohesion. This means basically that their competitive advantages should become more based on new competitive factors than on lower living standards. In more general terms, the question at stake is whether the implementation of the Lisbon strategy will lead to more convergences or more divergences within the European Union.” (Rodrigues 2004: 128).
It would be difficult to give a better formulation of the alternative futures of the EU27. She unambiguously turns against the suggestion that would give a permanent peripheral status to new members as “low cost – low wage” countries. This suggestion is a reminder to that of David Ricardo, describing the best of all worlds in which Portugal produces wines, whereas England produces textiles. Indeed, the change of the competitiveness patterns in the new member states may be decisive for the fate of the EU27 as a whole. If they succeed in changing their competitiveness profile from offering a low-cost area for investments to a knowledge-based competitiveness, then there would be a real convergence in the EU27. If not, that would create permanent tension between centre and periphery, which would preserve many tensions among the Lisbon targets and the periphery may include some less developed former members such as Portugal and Greece as well.30 In his book Alan Mayhew analyses the relationship between enlargement and the Lisbon Agenda. Justifiably he sees the basic problem of the new member states in their transitory stage that I have called post-accession period, in the ambiguity of their position: “The reality is that the new member states are condemned to support many of the Lisbon measures if they are to realise their principal economic policy objectives. Nevertheless, measured against the key Lisbon Agenda objectives today, the new member states as a group score rather badly in comparison to the old EU countries. This is particularly the case for research and development spending, for innovation, labour participation rates, labour productivity, the privatisa30
There are 73 Lisbon directives, of which by 1 January 2004 only 58.2% had been applied in the EU15 member states as an average, with a range between 35.0% (Greece) and 85.0% (Denmark) (see Transposition of “Lisbon” Directive, State of play 01/01/2004). This low percentage shows that the EU15 member states have not taken the application of the Lisbon directives seriously in their national policies.
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Attila Ágh tion of remaining state enterprises, liberalisation in some key sectors and sustainability of development.” (Mayhew 2004: 57).
Indeed, the new member states are not yet ready for this way of activating their knowledge power and enhancing their competitiveness by investing in research and education, since they are still fighting with some pre-Lisbon targets of restoring public services in a period of fiscal restriction. Therefore, they would be against applying the Community method instead of one based on open co-ordination, since it would turn all the Lisbon measures into mandatory actions. In their fiscal situation, aimed at reaching the convergence criteria, they could not finance these ambitious goals.31 The conclusion is that the new member states could not launch a full start in the Lisbon strategy right now, since the trade-offs between the policy fields are still too big and the synergies do not yet work completely among them. Although Mayhew does not mention this, it is still clear, as I will argue later, that the EU15 has not made any effort to assist the new member states in the Lisbon-sensitive policy fields, e.g. in research and development. Finally, he identifies the problems of transitory stage and the current partial opposition of the new member states to the strategy, first of all in its compulsory and concentrated form: “The core elements of the Lisbon economic reform agenda are likely to attract support of the new member states. However, at their current stage of development those parts of the Lisbon Programme which are not crucial to economic growth and employment objectives may be considered counterproductive. This fact makes it unlikely that all the new member states would support a move away from the open method of coordination towards the Community method of 32 decision-making in the Lisbon Process.’ (Mayhew 2004: 67).
The ECE took the Lisbon issues seriously already at the Barcelona Summit in March 2002. As full members they are obliged to join in the Lisbon strategy with full force, but the question remains in what form and to what extent. The contradiction is obvious and the EU cannot go in both ways, by restricting assistance to the new member states for the next budgeting period and still hoping that the enlarged Europe will be on the right track for the Lisbon strategy. This revives the convergence debate regarding the degree of special national accommodation processes to the Union. The economic and social changes have been triggering spill-over in the new member states that may lead towards full participation in the strategy but its completion presupposes the start of the take-off period with full – and not only with the formal – integration of the new member states. As the easiest approach to the ongoing budgeting debate, three groups can be identified in cohesion policy: the EU15 group net payers, the EU15 group beneficiaries and the EU10 (EU12) new members. Already this simplistic approach suggests that the present budget outlines are not encouraging for intensive assistance to responding to the Lisbon strategy in ECE. There are however three issues that show deeper, structural contradictions of the EU budgetary system and 31
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Roger Liddle has been very dissatisfied with the activity of the Council in this field: ‘The results of Spring Councils have been disappointing. ECOFIN has shown less ability to take member states to task on their economic reform failings than on conformity to fiscal criteria. The Competitiveness Council is still bears the mark of being a merger of various Councils.” (Liddle 2004: 20). The 2005 Notre Europe Report confirms the statement of the November 2004 Kok Report and admits that the open method of coordination (OMC) ‘has not proved satisfactory’ and blames it for the failure of the Lisbon project (Jouen 2005: 10-11).
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contradict to the main policy statement of the Hübner Report (May 2005) that ‘Structural Funds and the Lisbon strategy [are] Overlapping Objectives’. First, before concluding the negotiations with the EU10 in Copenhagen in December 2002, there was the SchröderChirac-Pact on freezing the agricultural subsidies until 2013 that has indeed frozen the perverse structure of the EU budgeting by financing the past and not the future, since this budgetary approach precludes financing the Lisbon goals. Second, the new budgeting plan suggested in the Third Cohesion Report in February 2004 (kept in its structure until now) has also given preference to the past and to the quantitative catching-up process instead of assisting the new member states in reaching the strategy criteria. Third, the present deadlock in the budgeting negotiations has indicated a clear tendency to cut back the support for the new, innovative, Lisbon-friendly developments and preserve the support for the ‘old economy’. In addition, as I have discussed several times, the over-strict application of the convergence criteria has also damaged the strategy in the new member states. Although the Cohesion Fund was originally designed for the then least developed member states to catch up with the Maastricht criteria, nothing similar can be noticed currently for the EU10.33 Developing the above arguments more in detail, one has to note first that the Lisbon strategy opens up a new role for the ECE states, which is rather unexpected and especially difficult for them. Nonetheless it offers a splendid long-term perspective. What can be considered to a great extent as spontaneous actions and processes in the EU15, organically emerging from their ongoing social processes, have to be replaced by conscious state and social actions in the new members, since for them these processes are ‘inorganic’, i.e. not emerging of necessity from their current social processes. This contrast is well known also among the EU15 member states. As Helen Wallace terms it, the British approach to Europeanization is organic and evolutionary, and the German one is ‘designer’ and normative. It means that the British are inclined to go ahead slowly and experimentally but the German approach presupposes more marked and carefully designed changes in Europeanization (Wallace 2003: 7-9). Lagging behind in all aspects of Europeanization, this contrast is bigger for the new member states. They are faced with ‘designed’ Europeanization as a normative for them. The quantitative differences between the old and the new members turn out to be qualitative differences in this respect. The Lisbon criteria from the level of employment to the standards of environment protection have been part of development strategy of the former members, for them the strategy brings about ‘only’ the harmonisation of various policies. The same criteria are relatively new for the ECE states and they try to meet them each separately, being still rather far from their harmonisation. Just to the contrary, they often create conflict among them as, e.g. establishing factories not completely up to environment protection standards just to provide employment. Despite the rulings of the Gothenburg Presidency Conclusions, the ECE countries continue to live in permanent conflict with the ‘triangle’ of sustainable development consisting of economic policy, social policy and environmental policy. Consequently, intensive EU assistance is needed as a multiplier factor for a conscious, concentrated and coordinated state action in ECE to implement the strategy.34 33
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László Csaba in his recent book has analyzed these problems in depths, what I call ‘agriculture against Lisbon’ and ‘convergence criteria against Lisbon” and has argued that the Cohesion Fund originally had a role of the catching up instrument for the Maastricht criteria (Csaba 2005: 167, 193, 206). One can add to these budgeting problems the special case of the overseas territories as mainly former French colonies. I have discussed the Lisbon Strategy here from the view of policy integration. I treat it elsewhere from that of the EU capacity-building as institutional reform.
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Second, the Lisbon strategy is the model or classical case of direct and indirect Europeanization pressures combined. Namely, Europeanization policies can be differentiated with respect to two methods (and three degrees) of Europeanization: ‘hard’ European law – that is, directives and regulations – are obligatory and can be enforced, while ‘soft’ European methods are based on recommendations, guidelines and communications. These methods can be used to attain different degrees of Europeanization: harmonisation of policies, convergence of outcomes while allowing for different strategies – for example, with obligatory minimum standards or the less committed ‘management by objectives’ of the open method of coordination – and, finally, strengthening, activating and informing rational reform debates, for example, with ‘best practices’ and peer review without binding objectives. The strong and direct impact is not always preferable, since the open method of coordination is more flexible and allows for variations among member states’ policies. Moreover, they argue, from a social constructivist perspective, that fostering policy learning and policy transfer seem also to be a valuable and effective instrument. This argument is particularly applicable to the strategy that has mostly been based on the open method of coordination or management by objectives. The neo-liberal approach favours the OMC to the extent that they emphasize – going against, as usual, the main idea of Lisbon about the harmonisation of policies – that the European social model may be the result of spontaneous market forces: “The forces of the market and systems competition bring about economic and social convergence in Europe, and there is no need for social policies at the EU level” (Sinn and Ochel 2003: 869). The Europeanization pressure in this case is more direct for the new members than for the old ones. Undoubtedly, there is still a large margin between the direct and the indirect pressures even for the new members. Heather Grabbe notes: “Hence the applicants are committed to converging with a maximalist version of the EU policies. In areas like social policy, where there is a resistance to greater integration from some Member States, the Commission has tended to define a ‘maximalist’ version of the acquis communautaire for CEE. (…) That gives the European Union a licence to involve itself in domestic policy making to a degree unprecedented in the current member states. (…) The democracy and market economy conditions have led the European Union (in the form of the Commission and Council) to influence many policy areas beyond the reach of Community competence in the 35 member states.’ (Grabbe 2003: 307-308).
Third, the structural conflicts in the next seven-year budget process concerning assistance to the Lisbon strategy discussed above raise the problem for the new member states how to react to the missing qualitative support. The painful ECE adjustment to the strategy presupposes both an EU strategy for full integration and a national strategy in the new member states. The new member states were obliged to make ready their National Development Plans for 2004-2006, as well as to provide a new Plan for 2007-2013 by late 2005. The strategy demands a series of choices based on social preferences and a special national 35
Anne Mette Kjaer offers a softer explanation of the OMC being ‘about the consensus-forming among member states, involving a common assessment of the economic situation, agreement of the appropriate policy response, acceptance of peer pressure and, where necessary, adjustment of policies being pursued. (…) The targets are not legally binding, but they are a result of policy learning and policy transfer between member states.’ (Kjaer 2004: 112-113). See also the special issue of Journal of European Public Policy (Vol. 11, No. 2, 2004) on the OMC.
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strategy as a result. This choice may be exemplified in the terms of the Third Cohesion Report (February 2004), which is the first EU25 master plan for a long-term strategy. But instead of full integration it has created a division and tension, first in the budget subheading-1b between the ‘convergence’ fund for catching-up in the ‘old economy’ for the new member states and the ‘competitiveness’ fund as a new type of development in the knowledge-based economy for the old member states; second between the budget items 1a and 1b in general. Actually, the 1a-related funds are not really available for the actors in the new member states, since they are not yet able or ready to face open competition with the much more developed actors of the older member states. This dual disadvantage may maintain the present centre-periphery relationship between the former and the new member states as Polish analysts argue (Grosse and Olbrycht 2004). Also, in the new member states ‘convergence’ means catching-up with the average EU level for the large masses, and ‘competitiveness’ means running ahead with a small elite that can reach the EU level earlier when leaving behind the country as a whole. Some states – such as Estonia, followed by Slovakia – have developed a running-ahead strategy on a small elite base, not bothering with the losers and the increasing digital divide, while some other states – such as Hungary and the Czech Republic – have prepared a more balanced social programme between the ‘pioneers’ and the ‘laggards’. The first, Estonian-type national strategy may be more successful in the short run but it creates so many new problems that can lead to serious social conflicts and to the failure of the entire project. The second strategy right now may not be so attractive for the business world but it is more cautious and may be more productive even in the mid-term.36 Consequently, the task for the new member states is to reach not simply sustainable economic growth, but a socially sustainable growth, or better to say, sustainable competitiveness. It demands stopping divestment from human resources and public services, and in this way creating space for synergies between economic development, social cohesion and environment protection. This goal means creating a special type of European style competitiveness, based on the European competitive advantage in education, research and cultural diversity that allows the optimal absorption of the EU transfers. Usually the Irish and the Greek cases have been mentioned as best and worst case scenarios for catching up (see for instance Dauderstaedt 2004: 12). However, in order to discuss the choice for the new member states between the two models of competitiveness, one has to finally have a closer look at the political problems of their transitory, post-accession situation.37 7
Conclusion: Tasks for the take-off period
The post-accession period and then the take-off period have to create high capacity small states in ECE. The domestic criteria for the latter are rather evident: (1) the acceleration of 36
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One should not forget about the famine riots in Eastern Slovakia in March 2004 that followed a decrease of corporate tax to invite investments, which resulted in a drastic cut of social policy benefits. The analysts are rather sceptical about the reforms needed for the Strategy in the decisive big member states: ‘The new member states have tended to perform better, but it is natural given that they are still in a catch-up process. (…) The example of smaller euro member states shows that better performance is possible. However, the rejection in early 2005 of the draft directive on liberalising trade in services by countries such as France and Germany suggest that some countries are resisting this lesson. (…) They are looking for excuses to continue a policy that emphasises short-term expediency at the expense of longer-run gains.” (Gros 2005: 9,1516)
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economic growth for the catching-up process, (2) completing institutional reforms, (3) developing sustainable competitiveness in the EU and (4) reaching the level of effective membership by elaborating a national strategy with proper interest representation and capacity to make initiatives in the Union. No doubt that only their complex emergence will bring about a new turning point. The take-off period depends very much more on the complex called ‘Future of the EU25’ on the other side. It has three dimensions: (1) overcoming the asymmetries resulting from accession negotiations, including the privileges of founding members, (2) domination of the long term historical vision over short-termism, (3) promotion of ever increasing Union versus narrow national interests. The crisis of the Lisbon strategy indicates that a new effort is needed to attain these goals. The main issue is that the net payers are in a deep economic crisis and they are fed up with their contribution to cohesion policy. For ECE, in turn, the main question is completing integration in all fields instead of reducing it to a participation in some kind of pre-Lisbon economic policy. The EU25 seems to be manageable in politico-technical terms but its development-integrationabsorption potential by putting the new members to the course of the strategy is questionable. However, unlike the United States’ style to promote democracy, so far the EU extension has always been connected with the full support and final integration of its new partners, and this is what the new members are looking for. The strategy offers a long-term historical opportunity for the new member states answering both the external as well as internal challenge at the same time. I have tried to substantiate the main line of the EU foreign policy as the classical case of the ‘transformative linkage politics’ based also on my evaluation of the first year of membership of the EU10.38 Effective membership and the increasing social expectations represent this dual challenge, since the basic social message from the new member states is that the ECE societies have reached the period of the revolution of high expectations. Obviously, entry has raised expectations in public opinion through a permanent comparison of their own situation with the EU15 standard of living. Beyond that, however, it is also very important that the period of social patience has come to an end in domestic development and after a long decade of deprivation the population has demanded at least a minimum level of decent living conditions and public services. All these problems may be summarised in the term of social consolidation or ‘social construct of democracy’ on the side of domestic development and in the term “social challenge” on the EU side. Both are high on the agenda in the ECE countries. These high expectations have been both a problem that generates social tensions and an opportunity to create social capacity to implement the Lisbon agenda. Yet, there is no doubt again that the strategy is the ‘new future’ also for the EU8. The European Commission in its Communication on The Social Dimension of Globalisation on 18 May 2004, close to the date of the EU10 entry, newly and repeatedly formulated the principle of policy coherence as a close connection between economic and social policies.39 38
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The Economist suggests (29 April 2004) that Poland will reach the average per capita EU level in 60 years. In my opinion, it is the common interest of the EU25 to shorten that. ‘There has long been a strong social dimension to the economic integration of Europe. (…) with increasing integration, it has extended to encompass a broader range of objectives, including full employment and higher quality jobs, the quality of education and training systems, adequate and sustainable social protection, the promotion of social dialogue and the fight against discrimination and social exclusion.’ It means that ‘the EU’s economic and social model and the Lisbon Strategy which translates it into practice’ has direct consequences for the new members as well. As the above Communication summarises: ‘Practical experience of the relevance of the European economic and social model for countries in the process of economic transition has been seen recently in the context of the Union’s latest enlargement. The ongoing transformation (…) is testa-
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Scott summarises: “Enlargement will set the Lisbon process a severe series of tests (…) The difficulties facing the accession states are two-fold: first, prioritising the Lisbon strategy will require that scarce financial resources are deflected from other, possibly more beneficial, uses, and second, that the measures needed to achieve certain goals on the Lisbon agenda will conflict with other objectives of domestic economic policy.” (Scott 2004: 95–96).
These difficulties have been described at length in this paper, but the main problem is that the EU has not realised that the increase of human investment and public services is not a luxury for the new member states, a simple issue of standard of living, but the crucial issue for the Lisbon strategy and the qualitative catching-up for the new member states. For the EU25 it is a crucial issue as a choice between being reduced to a common market, or being developed into an integrated Europe. Finally, one has to conclude that the EU political system as a whole has changed with the Eastern enlargement and not only the new member states but also the elites and populations of the older member states have to face the new reality.40 The French and Dutch referenda on the Constitutional Treaty have demonstrated that these EU citizens have voted about both ‘what Europe is’ and ‘what is should look like’. They have expressed their opinion that they see – at least for a long period – the ‘final’ borders of the EU with the emergence of the EU25 (maybe EU28 after a while) and they would like to arrange the common social and political issues within this Europe. 41 References Ágh, Attila, 2003: Anticipatory and Adaptive Europeanization in Hungary, Budapest Ágh, Attila (ed.), 2004: Europeanization and Regionalisation: Hungary’s Accession, Budapest Ágh, Attila (ed.), 2004b: Post-Accession in East Central Europe: The Emergence of the EU25, Budapest Ágh, Attila, 2005: Institutional Design and Regional Capacity Building in the Post-Accession Period, Budapest Atkinson, Tony, 2004: Social Inclusion and the European Union, in Weiler, J.H.H. et al (eds.) Avery, Graham, 2004: The enlargement negotiations, in Cameron, F. (ed.). Bailey, David/de Propris, Lisa, 2004: EU Pre-Accession Aid and Capacity-Building in the Candidate Countries, in: Journal of Common Market Studies 42:1, March 2004.
40 41
ment to the contribution which the European model can make to deal with the social impact on workers and their families. The Commission has in particular emphasised the need to strengthen the capacity of public authorities, social partners and civil society to better anticipate the consequences of economic changes, to invest in education and in skills of the workforce and to provide sustainable social protection systems to cushion the shock for individuals.’ (pp. 6-7). This was a clear message for the new member states. See the contribution of Dieringer/Melzer/Wirtz in this volume. The problem is as the title of the Gillingham book (2003) suggests: Superstate or New Market Economy? The edited volume of Weiler et al. (2004) deals also with the perspectives of the EU25. The 2005 Notre Europe Report has emphasised that the EU is much more than a simple free trade zone and it has turned against the British and other suggestions about the ‘renationalisation’ of the regional or cohesion policy. At the same time, it has underlined that in the Constitutional Treaty ‘the main innovation concerns the restoration of territorial cohesion as an EU objective, under the same heading as economic and social cohesion’ (Jouen 2005: 5). Altogether, as Anand Menon notes in his conclusion that the ‘enlargement of the European Union will not only challenge our notions as to what ‘Europe is’ but will fundamentally alter the nature of politics on the Old Continent’ (see Hayward and Menon 2004: 432).
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II. Wirtschaft, Finanzen und Soziales
Wettbewerbspolitik: Die Fortschritte ihrer Europäisierung Roland Sturm
1
Einleitung
Reformbewegungen in der Wettbewerbspolitik waren direkt nach der Osterweiterung der EU nicht zu erwarten. Die Wettbewerbspolitik definiert die Spielregeln der Wirtschaftsintegration, die der Ausgangspunkt und einer der wichtigsten Gründe für die stetige Ausweitung der europäischen Integration war und ist. Auf dem europäischen Binnenmarkt wird wirtschaftlicher Wettbewerb, wenn er durch eine Politik der Liberalisierung der Märkte und des Rückzugs des Staates zustande gekommen ist, als Garant des wirtschaftlichen Erfolges der Europäischen Union angesehen, insbesondere wenn es gelingt, durch wissenschaftliche Innovationen Europa eine Führungsrolle in neuen Technologien zu sichern. Im Hinblick auf Anpassungszwänge schien die Wettbewerbspolitik ein Integrationshebel zu sein, der in erster Linie die Beitrittsländer und vor allem diejenigen Beitrittsländer, die mit dem Erbe des Sozialismus belastet waren, zu einem raschen und zum Teil schmerzhaften Umbau ihrer Wirtschaftsverfassung zwingen würde (vgl. Sturm et al. 2001). Drei Jahre nach der Osterweiterung ist es zu früh für weit reichende Urteile. Es scheint sich aber Überraschendes abzuzeichnen. Die mitteleuropäischen Länder scheinen eher als eine Reihe der Alt-EU-Länder geneigt, die Herausforderungen des um die Beitrittsländer erweiterten Binnenmarktes ernst zu nehmen. Aus Frankreich und Deutschland kommen Bestrebungen, durch Industriepolitik nationale bzw. europäische Champions zu stärken und die Arbeitnehmerfreizügigkeit wegen der sogenannten Billiglohnkonkurrenz aus Mitteleuropa einzuschränken. Die Steuerpolitik der Slowakei führt zu Vorschlägen des Abbaus der Steuerkonkurrenz innerhalb der EU in den Alt-EU-Ländern, und die Verlagerungsentscheidungen von Betrieben innerhalb des Binnenmarktes in die Beitrittsländer wird als Bedrohung westeuropäischer Arbeitsplätze interpretiert. Wie ernst ist also die Betonung des Vorrangs von Wettbewerb auf europäischer Ebene gemeint, und wann gelten tatsächlich die vier Freiheiten des gemeinsamen Binnenmarktes? 2
Die Durchsetzung von Wettbewerbsregeln
Neben der Frage nach dem generellen Verhältnis von Staat und Markt in der erweiterten Europäischen Union kann nach der Rolle und Funktion wettbewerbsschützender Eingriffe auf europäischer Ebene gefragt werden, also nach der Wettbewerbspolitik aus Kommissionssicht und deren Verhältnis zu den wettbewerbspolitischen Vorstellungen der Mitgliedstaaten. Ich klammere hier die ex ante-Politik der Wettbewerbsicherung durch Regulierung vor allem der Netzindustrien aus (vgl. hierzu Sturm et al. 2000 und Dieringer 2001). Die zu betrachtenden Grundlagen der Wettbewerbspolitik sind also:
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Roland Sturm die Kartellkontrolle (nach Artikel 81 EGV und der Kartellverordnung von 2003); die Missbrauchsaufsicht (nach Artikel 82 EGV); die Fusionskontrolle (nach der Fusionskontrollverordnung 1989); die Liberalisierung der Übernahme von Unternehmen nach der Übernahmerichtlinie von 2003); die Beihilfekontrolle.
Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die Bereiche Kartellkontrolle, Fusionskontrolle und die Erleichterung „feindlicher“ Übernahmen von Unternehmen, weil sich hier jüngst wichtige Veränderungen der EU-Politik vollzogen. Die Kontrolle der Einhaltung der Wettbewerbsregeln obliegt der Kommission, die somit die Europäische Kartellbehörde ist. Im Unterschied zum zweistufigen Aufbau des Wettbewerbsschutzes in Deutschland gibt es auf europäischer Ebene nur eine Entscheidungsinstanz. In Deutschland wendet das Bundeskartellamt das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen mit der Möglichkeit der richterlichen Überprüfung an. Mit der Ministererlaubnis (Ausnahmegenehmigung des Wirtschaftsministers) gibt es aber zusätzlich eine gelegentlich genutzte zweite Entscheidungsstufe, auf welcher der Wettbewerbsschutz durch eine politische Entscheidung der Wahrung des öffentlichen Interesses nachgeordnet werden kann. Die Europäische Kommission entscheidet auf der Grundlage der Vorarbeiten der Generaldirektion Wettbewerb. In der Kommissionsentscheidung mischen sich nationale Interessenpolitik, zum Beispiel hinsichtlich der Zukunft von in bestimmten Ländern beheimateten Unternehmen, mit Überlegungen zu den wettbewerbspolitischen Folgen von Kommissionsentscheidungen sowohl in Bezug auf die Wettbewerbssituation auf dem europäischen Binnenmarkt, als auch in Bezug auf die sich möglicherweise abzeichnende Notwendigkeit, den Wettbewerb auf dem europäischen Binnenmarkt bei der Kommissionsentscheidung zu vernachlässigen, um schlagkräftige europäische Unternehmensstrategien auf dem Weltmarkt nicht zu behindern. Die Suche nach europäischen industriellen „Champions“ kann ökonomische Bedenken, die das Verschwinden von Wettbewerb auf dem europäischen Binnenmarkt hervorruft, in den Hintergrund treten lassen. Die Kommissionsentscheidung kann also „politisiert“ werden, auch wenn bisher die Glaubwürdigkeit und Standhaftigkeit der Wettbewerbskommissare ein relativ verlässliches Gegengewicht zu solchen Bestrebungen geboten haben. Seit den Verhandlungen zum Vertrag von Amsterdam ist die Einrichtung eines Europäischen Kartellamtes kein Gegenstand mehr, für den sich die Staats- und Regierungschefs begeistern können. Es sollte aber erlaubt sein, die Frage zu stellen, ob eine größer gewordene Kommission heute noch der richtige Ort ist, hochkomplexe und mit nationalen Interessen aufgeladene Wettbewerbsfragen im Sinne einer gemeinsamen Binnenmarktphilosophie zu entscheiden. Besteht nicht die Gefahr, dass die Wettbewerbshüter in der Kommission angesichts arbeitsmarktpolitischer und industriepolitischer Argumente in die Defensive geraten, wenn Europa sich im Wettbewerb mit Asien und Nordamerika messen muss? Eine entscheidende Rolle für die Fortentwicklung der Wettbewerbspolitik spielen die europäischen Gerichte, der Europäische Gerichtshof (EuGH) und das Gericht Erster Instanz. Neben der Ausübung ihrer Aufgabe, die Einhaltung des Wettbewerbsrechts zu überwachen, haben beide die Ausgestaltung der Wettbewerbspolitik der Kommission maßgeblich beeinflusst. In der Vergangenheit hat vor allem der EuGH die Kommission in ihren Entscheidungen meist bestätigt und ihr somit den Rücken gestärkt. Das Selbstbewusstsein
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der innerhalb der Kommission zuständigen GD Wettbewerb baute nicht zuletzt auf den Urteilen des EuGH auf (Cini/McGowan 1998: 56). Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass die europäischen Gerichte grundsätzlich im Sinne der Kommission entscheiden. Gerade die neuere Rechtsprechung belegt dies. Die Kommissionsarbeit erfuhr auch deutliche Kritik durch die Justiz. Erstmals im Jahr 2002 musste die Kommission drei Niederlagen vor dem Gericht erster Instanz hinnehmen. Die Richter prangerten in allen drei Fällen an, dass die Kommission sich bei ihrer Entscheidung zu einseitig auf den Wettbewerb in einem einzelnen Mitgliedstaat konzentriert und den Binnenmarkt vernachlässigt habe, wobei das Urteil des Gerichts Erster Instanz im Fall der Fusion der französischen Konzerne Legrand und Schneider besonders scharf ausfiel. Die Richter warfen der Kommission Schlamperei bei der Überprüfung des Marktes vor (Kartellamt 2003: 114). Dies hatte erhebliche Konsequenzen für die bisher allgemein respektierte Rolle des Wettbewerbskommissars und führte zu einer Umorganisation der Generaldirektion Wettbewerb. Die Merger Task Force wurde aufgelöst und die für Fusionskontrollen zuständigen Beamten auf die anderen Abteilungen verteilt. Die Fusionskontrolle ist nun analog zur Arbeitsweise des deutschen Kartellamts nicht mehr ein separater Aufgabenbereich, sondern integriert in die nach Industriezweigen organisierte Wettbewerbskontrolle. Offiziell wurde diese Reorganisation vor allem mit Effizienzargumenten im Hinblick auf die Osterweiterung begründet. 2.1 Kartellkontrolle Zu Monopolen oder Kartellen führende Absprachen und Vereinbarungen von Unternehmen sind in der EU wettbewerbsrechtlich untersagt. Dies ist in den Artikeln 81 und 82 des EGVertrages geregelt, wobei es allerdings eine Reihe von Ausnahmen gibt, die in Artikel 81 Absatz 3 festgelegt sind. Hierzu gehören Absprachen, die der Förderung des technischen Fortschritts dienen oder zur Verbesserung der Erzeugung und Verteilung von Waren beitragen, ohne dass dadurch der Wettbewerb unterlaufen wird. Grundlage für die Durchführung von Artikel 81 und 82 EG-Vertrag war bisher im Wesentlichen die Verordnung Nr. 17 aus dem Jahr 1962. Nach dieser Verordnung sind Kartellbildungen bei der Kommission anzumelden, die über eine Freistellung vom grundsätzlichen Kartellverbot entscheidet (Administrativerlaubnis). Neben der Entscheidung über angemeldete Kartelle kann die Kommission auf Beschwerden von Mitbewerbern reagieren und/oder auf eigene Initiative tätig werden, also Verfahren gegen nicht angemeldete Kartelle einleiten. Die Zahl der auf Initiative der Kommission eingeleiteten Verfahren übersteigt seit 1986 die der Verfahren gegen angemeldete Kartelle (Beeker 2001: 34). Die Kartellverordnung von 1962 wurde durch die Verordnung Nr. 1/2003, die ab dem 1. Mai 2004 Gültigkeit hat, ersetzt. Die neue Kartellverordnung war aus einer Reihe von Gründen erforderlich geworden. Die Kommission ist arbeitsmäßig deutlich überlastet. Die Beschwerdefälle, d. h. Beschwerden durch Konkurrenten oder Verbraucher nehmen seit Mitte der neunziger Jahre zu. Ihre Anzahl übersteigt seit dem Jahr 2000 die der angemeldeten Kartelle. Immer wieder wurde auch die Rechtsunsicherheit beklagt, die durch die Interpretationsmöglichkeiten des Artikels 81 EG hervorgerufen werde. Die Vergrößerung der Gemeinschaft und die Zunahme der Streitfälle im Wettbewerbsrecht haben dazu geführt, dass die Kommission ihrer Kontrollfunktion mit Hilfe der Verordnung 17/62 nicht mehr ausreichend nachkommen konnte. Die Einführung von Wettbewerbsbehörden in den Mitgliedstaaten trug dazu bei, dass die Wettbewerbskontrolle dezentralisiert werden konnte.
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Roland Sturm
Unterschiedliche Forderungen und wettbewerbspolitische Vorstellungen der Mitgliedstaaten haben die Verabschiedung eines Kommissionsvorschlags jedoch jahrelang hinausgezögert. Die gefundene Neuregelung ist nicht unproblematisch (Ehlermann/Atanasiu 2004; Rittner 2004). Kartelle müssen nun bei der Kommission nicht mehr angemeldet und dann von dieser erlaubt werden. Die Kartellkontrolle wird vom bisherigen Anmelde- und Erlaubnissystem in ein Legalausnahmesystem überführt. Kartellverfahren sollen demnach nicht mehr automatisch, sondern nur noch auf Beschwerden von Konkurrenzunternehmen eingeleitet werden. Damit entfallen die präventive Wirkung der Kartellverfahren sowie ein gutes Stück der Markttransparenz. Auf nationale Kartellämter kommen neue Aufgaben zu. Da das Legalausnahmensystem dezentral organisiert ist, sind sie aufgefordert, nun – unter der Letztkontrolle der Kommission, die jederzeit Verfahren an sich ziehen kann – europäisches Recht anzuwenden. Die nationalen Kartellbehörden haben Bedenken gegen diese ihnen willkürlich scheinende Gestaltungsmacht der Kommission. Den weiterreichenden Einwänden der nationalen Behörden, dass die Neuregelung der Kartellverordnung in Europa zu Problemen der einheitlichen Rechtsanwendung führen könne, begegnet die Kommission mit der Idee eines Netzwerks der nationalen Wettbewerbsbehörden (Nicolaides 2002). Die nationalen Kartellbehörden sollen sich nicht nur hinsichtlich der Behandlung von Fällen absprechen, um Doppelarbeit und Kompetenzstreitigkeiten bei grenzüberschreitenden Fusionsfällen zu vermeiden. Sie sollen auch eine Art gesamteuropäischer Wettbewerbskultur entwickeln, die zu einer gleichgerichteten Interpretation wettbewerbsrelevanter Tatbestände führt. Ob dies – und vor allem so rasch – funktionieren kann, bleibt fraglich, zumal die EU 2004 um zehn Staaten mit sehr geringer wettbewerbspolitischer Erfahrung erweitert wurde. Die Kommission nimmt an, dass sich eine gemeinsame, gesamteuropäische Wettbewerbskultur in der Entscheidungspraxis herausbildet. Ebenso gut könnte aber weniger optimistisch angenommen werden, dass die gemeinsame europäische Wettbewerbskultur bereits eine unabdingbare Voraussetzung für dezentrale Entscheidungen in der europäischen Wettbewerbspolitik ist. Die wirtschaftspolitische Brisanz des neuen Kartellrechts ist offensichtlich, sowohl für den Bürger als Verbraucher, der bei einer weiteren Vermachtung der Märkte überhöhte Preise und schlechtere Geschäftsbedingungen erwarten kann, als auch für den Bürger als Unternehmer, für den im Unklaren bleibt, wie die eventuellen wettbewerbspolitischen Hürden seiner Wirtschaftstätigkeit aussehen, bzw. ob er sich in jedem EU-Mitgliedstaat mit den gleichen wettbewerbspolitischen Anforderungen konfrontiert sieht. Wettbewerbspolitik ist zumindest in letzterem Sinne beispielsweise auch automatisch Mittelstandspolitik im EUBinnenmarkt. Rechtliche Sicherheit und die Gleichheit der Wettbewerbsbedingungen sind für Unternehmen mindestens ebenso wichtig wie staatliche Transferzahlungen.
2.2 Fusionskontrolle Die Fusionskontrolle wurde erst relativ spät auf EG-Ebene geregelt. Die Forderung der Kommission, explizit mit diesem Aufgabenbereich betraut zu werden, blieb jahrzehntelang unerfüllt, bis schließlich die Fusionskontrollverordnung (FKVO) im Jahr 1989 vom Rat verabschiedet wurde. Die Verabschiedung einer Fusionskontrollverordnung erwies sich auf Grund der stark divergierenden wettbewerbs- und industriepolitischen Vorstellungen der Mitgliedstaaten als ausgesprochen schwierig. Während Frankreich traditionell die Meinung
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vertritt, dass große Unternehmen mit einem hohen Marktanteil auf dem heimischen Markt wettbewerbsfähiger sind als kleinere Unternehmen, Paris daher nichts gegen Großunternehmen auf dem europäischen Markt einzuwenden hat, setzten sich vor allem Großbritannien und die Bundesrepublik für eine Fusionskontrollverordnung auf europäischer Ebene ein, da sie die Ansicht vertraten, dass Wettbewerbsfähigkeit am besten durch eine Wettbewerbsituation auf dem heimischen Markt trainiert werde. Darüber hinaus waren die institutionellen Anpassungskosten für Großbritannien und die Bundesrepublik deutlich geringer, da in diesen Mitgliedstaaten bereits funktionierende Wettbewerbsbehörden bestanden (vgl. Scherpenberg 1996: 365). Bei der Fusionskontrolle geht es darum zu verhindern, dass durch die Fusion von zwei oder mehreren Unternehmen ein Unternehmen mit einer marktbeherrschenden Stellung entsteht, das den Wettbewerb auf bestimmten Märkten beeinträchtigen würde. Die Fusionskontrollverordnung definiert die Kriterien, nach welchen Zusammenschlüsse beurteilt werden. Dies sind in erster Linie die Aufrechterhaltung des Wettbewerbs, die Marktstellung und wirtschaftliche Stärke der beteiligten Unternehmen und die Bedingungen, die sich für Lieferanten und Kunden beziehungsweise für die Verbraucher ergeben. Mittels der Fusionskontrollverordnung steht der Kommission eine Reihe von Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung. Sie kann Zusammenschlüsse genehmigen, untersagen, teilweise untersagen oder mit Auflagen oder Bedingungen genehmigen. Zur Ausübung ihrer Kontrollfunktion kann die Kommission alle erforderlichen Auskünfte bei Unternehmen, Regierungen und Behörden von Mitgliedstaaten einholen. Die Befragten sind hierbei auskunftspflichtig. Erhält die Kommission keine Auskunft, erlässt sie eine förmliche Entscheidung, die Sanktionsandrohungen enthalten kann. Gegen diese Entscheidung kann der Befragte eine Klage beim EuGH einreichen. Die Kommission kann die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten ersuchen, Nachprüfungen zu unternehmen oder diese selbst durchführen. Bei der Sanktionierung hat die Kommission einen beträchtlichen Spielraum. Für die fahrlässige oder vorsätzliche Unterlassung von Anmeldungen, falsche Angaben, Fristverletzungen, unvollständige Unterlagen kann sie Bußgelder zwischen 1.000 und 50.000 Euro auferlegen. Das Zuwiderhandeln gegen ihre Entscheidungen oder den Vollzug von abgelehnten Zusammenschlüssen kann die Kommission mit einem Bußgeld bis zur Höhe von 10 Prozent des Gesamtumsatzes der beteiligten Unternehmen ahnden. Darüber hinaus kann die Kommission Zwangsgelder von maximal 25.000 Euro pro Tag festlegen, um angeforderte Informationen oder die Möglichkeit der Nachprüfung in den Unternehmen zu erhalten. Werden Auflagen nicht erfüllt oder von der Kommission geforderte Maßnahmen nicht durchgeführt, kann die Kommission auch hier Zwangsgelder festsetzen. Diese können bis zu 100.000 Euro pro Verzugstag betragen. Zusammenschlüsse, die nur den Markt eines einzelnen Mitgliedstaates betreffen, werden in der Regel durch die Wettbewerbsbehörden des betroffenen Mitgliedstaates kontrolliert. Die europäische Fusionskontrolle greift nicht ein, wenn die am Zusammenschluss beteiligten Unternehmen jeweils mehr als zwei Drittel ihres gemeinschaftsweiten Gesamtumsatzes in ein und demselben Mitgliedstaat erzielen. Die Kommission ist für Fusionen zuständig, die erhebliches wirtschaftliches Gewicht für den Binnenmarkt insgesamt haben. Die Fusionskontrollverordnung nennt absolute Zahlen als Eingreifschwellen. Der weltweite Gesamtumsatz der am Zusammenschluss beteiligten Unternehmen muss mindestens 5 Milliarden Euro betragen. Zwei der an der geplanten
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Fusion beteiligten Unternehmen müssen einen gemeinschaftsweiten Gesamtumsatz von jeweils mehr als 250 Millionen Euro aufweisen. Bleibt eine Inflationsanpassung der Eingreifschwellen aus, so sinken diese de facto, d.h. die Kommission wird allein durch die Preisentwicklung für immer mehr Unternehmenszusammenschlüsse zuständig. So beläuft sich der Schwellenwert von 5 Milliarden Euro in Preisen von 1990 heute faktisch auf lediglich etwa 3,8 Milliarden Euro. Einerseits vergrößert die faktische Absenkung der Eingreifschwellen den Einfluss der Kommission auf Kosten der nationalen Wettbewerbsämter und andererseits wächst ihre Arbeitsbelastung. Einflussnahme und Funktionsfähigkeit geraten auf der Ebene der Kommission in Widerspruch. In der jüngsten Debatte um eine Revision der Fusionskontrollverordnung hatte die Kommission zunächst versucht, ihre Zuständigkeiten durch Reduktion der Schwellenwerte für die Unternehmensgrößen zu erweitern, die in ihren Zuständigkeitsbereich fallen sollen. In ihrem Grünbuch vom Dezember 2001 gab sie dieses Vorhaben wieder auf, nicht zuletzt wegen des Widerstandes der Mitgliedstaaten. Die Haltung des deutschen Kartellamtes angesichts des drohenden Kompetenzverlustes war eindeutig ablehnend. Die Bundesregierung konnte hier allerdings kein prinzipielles Problem erkennen. Dieses prinzipielle Problem ist das wettbewerbspolitische Dilemma Europas, dass zum einen der europäische Binnenmarkt eine europäische Wettbewerbsbehörde erfordert, dass er dieser aber auch, solange sie identisch mit der Kommission ist, was die Zahl der zu behandelnden Fälle betrifft, schon bei besonders drängenden Entscheidungen zu Unternehmenszusammenschlüssen überfordert. Die nationalen Kartellämter weisen nicht zu Unrecht darauf hin, dass das in der EU anerkannte Subsidiaritätsprinzip ihnen einen Freiraum autonomen Entscheidens sichern sollte. Dies ist zum einen eine prinzipielle Frage, zum anderen kann die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips selbst bei der bloßen dezentralen Anwendung europäischen Rechts zu Effizienzverbesserungen durch eine „ortsnahe“ und „ortskundige“ Wettbewerbsaufsicht führen. Die am 1. Mai 2004 in Kraft getretene Fusionsverordnung modifiziert die Eingriffsmöglichkeiten der Kommission, weil diese nun auch Effizienzgewinne aus Fusionen berücksichtigen soll (Monopolkommission 2004: 124ff.). Effizienzvorteile können zur Freistellung einer Fusion führen, wenn sie die wettbewerbsschädlichen Folgen einer Fusion, insbesondere für die Verbraucher, ausgleichen. Hinzu kommt, dass die Kommission nun nach der Einschränkung des Wettbewerbs fragt bevor sie Fälle prüft, nicht mehr – wie das deutsche Kartellamt dies wollte – nach der marktbeherrschenden Stellung der Unternehmen. Die Reform der Fusionskontrollverordnung hat die Hilfsfunktion des deutschen Kartellamtes für die Kommission noch deutlicher gemacht. Selbstverständlich wird das deutsche Kartellamt bei Kommissionsentscheidungen, die seine Jurisdiktion betreffen, in beratender Funktion herangezogen. Nicht immer geschieht dies in angemessener Form. Im Falle der Fusion Alcatel/AEG (1991) gab die Kommission dem Kartellamt gerade einmal 48 Stunden Zeit, um die Akten zur Kenntnis zu nehmen und eine Stellungnahme zu schreiben (Interview mit dem damaligen Präsidenten des Bundeskartellamtes, Dieter Wolf, Frankfurter Rundschau, 12.9.1993: 9). Aber auch im Regelfall sind nur drei Tage vorgesehen: „Unter derartigen Umständen können die Mitgliedstaaten keine qualifizierte Stellungnahme abgeben“ (Kartellamt 2001: 73).
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Der Einfluss der nationalen Kartellbehörden in den beratenden Ausschüssen der GD Wettbewerb ist gering. Da das Votum nationaler Kartellbehörden vor der Beschlussfassung der Kommission der Geheimhaltungspflicht unterliegt, können nationale Kartellämter keinen öffentlichen Druck erzeugen, mit dem sie die Kommissionsentscheidungen indirekt beeinflussen könnten. Das deutsche Kartellamt fordert daher seit langem, mehr Transparenz durch die Veröffentlichung der Stellungnahmen nationaler Wettbewerbsbehörden vor Entscheidungen der Kommission herbeizuführen. Die Fusionskontrollverordnung vor der Reform 2004 sah in ihrem Artikel 9 aber schon vor, dass ein EU-Mitgliedstaat, wenn überwiegend nationale Unternehmen betroffen sind, auch bei formaler Zuständigkeit der Kommission diese bitten kann, den betroffenen Fall an die nationalen Wettbewerbsbehörden zurückzuverweisen. Diese Regelung, die auf Betreiben der Bundesregierung 1989 den Weg in die Verordnung fand, wird auch als „German Clause“ bezeichnet. Die Kommission kann, muss aber nicht, den Wünschen eines Mitgliedstaates entsprechen. Sie tat dies in der Vergangenheit in der Regel dann, wenn es sich um Fälle mit lokal oder regional begrenzter Reichweite handelte, wenn es auf die besonderen Erfahrungen der nationalen Kartellämter auf den betroffenen Märkten ankam oder wenn nationale Parallelverfahren vorzufinden waren, die gleichzeitig stattfanden oder kurz vorher abgeschlossen wurden. In jüngster Zeit hat die Kommission erstmals auch Fälle an nationale Kartellbehörden abgegeben, denen national abgegrenzte Märkte zugrunde lagen (Monopolkommission 2004: 355). Für das deutsche Kartellamt ist der „German Clause“ nicht automatisch eine Möglichkeit, sein Terrain zu behaupten (Sturm 1996: 211ff.). Antragsteller bei Rückverweisungen ist die Bundesregierung, die entsprechenden Bitten des Kartellamtes nicht folgen muss. Wenn die Bundesregierung weiß, dass das Kartellamt eine Rückverweisung eines Fusionsfalles anstrebt, um diesen zu verhindern, sie aber gleichzeitig davon ausgehen kann, dass die Kommission diesen Fusionsfall erlauben möchte, kann sie durch ein Ignorieren der Wünsche des Kartellamts nach Rückverweisung die Fusion gegen den Willen des Kartellamtes durchsetzen, ohne auf das Instrument der Ministererlaubnis zurückgreifen zu müssen. Damit kann sie dank der EU neuerdings den politisch eleganten Weg der „Ministererlaubnis durch die Hintertür“ wählen. Ein spektakulärer Fall dieser Art war die Fusion Kali Salz AG, Kassel, und Mitteldeutsche Kali AG, Sondershausen – eindeutig eine überwiegend den deutschen Markt berührende Großfusion, für die aufgrund der Eingreifkriterien Brüssel zuständig wurde. In Ostdeutschland führte diese von der Treuhand-Anstalt mit der Zustimmung des Finanzministers geplante Abwicklung des ostdeutschen Kali-Bergbaus zu Protesten und Hungerstreiks der Kumpel unter Tage. Das Kartellamt kritisierte das Entstehen eines Monopolanbieters auf dem deutschen Markt. Das Finanzministerium wollte sich von den Kosten des ostdeutschen Kalibergbaus befreien. Nicht überraschend ignorierte die Bundesregierung deshalb die dringenden auch in der Öffentlichkeit vorgebrachten Forderungen des Kartellamts nach Rückverweisung. Brüssel setzte für die Bundesregierung durch, was weder die Betroffenen noch das deutsche Kartellamt für richtig hielten. Mit der Reform der Fusionskontrollverordnung 2004 wurden die Möglichkeiten für Unternehmen, sich die „günstigste Wettbewerbsbehörde“ zu wählen (die europäische oder die nationale) präzisiert. Unternehmen können beantragen, dass ein Zusammenschlussvorhaben nicht von den eigentlich zuständigen Mitgliedstaaten, sondern von der Kommission geprüft wird, falls es in die Jurisdiktion von mindestens drei Mitgliedstaaten fällt. Dieser
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Antrag bedarf aber der Zustimmung der Mitgliedstaaten und er scheitert, wenn einer Einspruch erhebt. 2.3 Feindliche Übernahmen In der Logik des Binnenmarktes liegt es, Marktprozesse nicht durch staatliche Schranken zu behindern. Bis heute gibt es eine Reihe nationaler Bestimmungen, die für bestimmte Industriezweige oder bestimmte Unternehmen Anteile in Staatsbesitz vorsehen. Dies dient nicht zuletzt dem Zweck, dem Staat eine Sperrminorität der Aktienanteile zu sichern, oder unliebsame Unternehmensentscheidungen, aber auch die Übernahme von Firmen durch ihre Konkurrenten zu verhindern. Ein Beispiel für eine solche strategische staatliche Beteiligung ist der Anteil des Landes Niedersachsens an der Volkswagen AG. Aber auch ohne staatliche Beteiligung sind Firmenübernahmen für EU-Mitgliedstaaten nicht automatisch unproblematisch. In Deutschland gibt es beispielsweise keine Tradition von Firmenübernahmen, die gegen den Willen der Firmenleitung mit Hilfe des Erwerbs von Aktienmehrheiten durch einen Mitbewerber erfolgen. Eine spektakuläre „feindliche Übernahme“ dieser Art erfolgte im Jahre 2000, als der britische Mobilfunkanbieter Vodafone Mannesmann aufkaufte. Im Vorfeld der Fusion kam es zu heftigem Widerstand bei Mannesmann und sogar zu Verstimmungen zwischen der deutschen und der britischen Regierung. Indirekt handelt es sich hier ebenfalls um ein Problem der Wettbewerbspolitik, wenn auch im Detail nicht um ein Problem des Wettbewerbs-, sondern des Unternehmensrechts. Die Behinderung des freien Kaufs und Verkaufs von Aktien widerspricht der Freizügigkeit des Kapitals auf dem europäischen Binnenmarkt und damit einer seiner vier Grundfreiheiten. Die Kommission sieht es deshalb als ihre Aufgabe, das Übernahmerecht durch gesamteuropäische Regelungen zu liberalisieren. Die im Dezember 2003 verabschiedete Übernahmerichtlinie sieht vor, dass börsennotierte Unternehmen künftig selbst entscheiden können, ob sie sich an nationales Recht oder an die Vorgaben der EU halten möchten. Die entsprechende EU-Richtlinie erkannte das aktionärsfreundliche Prinzip „keine Verteidigungsmaßnahme ohne Hauptversammlungsbeschluss“ an und will den Mitgliedstaaten die Möglichkeit geben, Stimmrechtsbeschränkungen und Mehrfachstimmrechte bei Hauptversammlungen für unwirksam zu erklären. Demgegenüber steht das deutsche „Modell“, das „Vorratsermächtigungen“ der Aktionäre für Vorstand und Aufsichtsrat gegen konkrete Übernahmeversuche erlaubt, sowie Sperrminoritäten (siehe etwa den Fall Volkswagen) kennt und es Vorstand und Aufsichtsrat anheim stellt, alleine über Abwehrmaßnahmen bei feindlichen Übernahmen zu beschließen. Auf den ersten Blick impliziert das mit der Übernahmerichtlinie verabschiedete Optionsmodell das Errichten einer Europäisierungsschranke, denn es erlaubt in Deutschland ansässigen Firmen, an bestimmten formalen Hürden zur Abwehr feindlicher Firmenübernahmen festzuhalten. Ob sich die Europäisierung dieses Aspekts der Wettbewerbspolitik so vermeiden lässt, muss aber dahin gestellt bleiben. Die Kommission erwartet, dass Unternehmen mit hohen Übernahmehürden durch die Märkte, d. h. konkret eine entsprechend ungünstige Börsennotierung, bestraft werden, weshalb sich nach ihrer Meinung längerfristig die europäische Lösung durchsetzen wird. Hinzu kommt im deutschen Fall, dass der Streit der Kommission mit der Bundesregierung wegen des VW-Gesetzes von 1960 noch nicht beigelegt ist. Das VW-Gesetz behindert
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nach Auffassung der Kommission, die sich drei Jahre intensiv mit diesem beschäftigt hat, den freien Kapitalverkehr und damit eine der vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes. Es sieht vor, dass kein Aktionär mehr als 20 Prozent der Stimmrechte auf der Hauptversammlung der Volkswagen AG erhält, auch wenn er einen größeren Aktienanteil besitzt. Das Land Niedersachsen besetzt zwei Aufsichtsratssitze. Das staatliche Entsenderecht für Aufsichtsräte zusammen mit den Stimmrechtsbeschränkungen für Aktionäre schreckt nach Auffassung der Kommission Investoren ab (Financial Times, 13. 7. 2004: 3) 3
Fazit
In allen Bereichen der Wettbewerbspolitik dominiert, wie dargestellt und wie auch zu erwarten, die europäische Regelsetzung. Ordnungspolitische Weichenstellungen sind nur noch sehr begrenzt im nationalen Rahmen möglich. Die nationalen Kartellbehörden wachsen in der EU immer mehr in die Rolle von „Ausführungsorganen“ europäischen Rechts hinein. Die Siebte Novelle des deutschen Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sieht deshalb vor, neben dem Bundeskartellamt auch die Landeskartellbehörden, die dies bisher nicht durften, zu ermächtigen, europäisches Wettbewerbsrecht anzuwenden. Ein Ausschluss der Landeskartellbehörden von der Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechts ist nicht mehr möglich, weil diese bei der Anwendung des deutschen Wettbewerbsrechts künftig maßgeblich das europäische zugrunde legen müssen. Dies verursacht in Deutschland zusätzlichen innerstaatlichen Koordinierungsbedarf. Der Geschäftsverkehr der Landeskartellbehörden mit der EU-Kommission muss über das Bundeskartellamt erfolgen, wegen der ausschließlichen Zuständigkeit des Bundes zur Außenvertretung Deutschlands in diesem Politikfeld. Außerdem entspricht dieses Vorgehen den praktischen Erfordernissen des Netzwerkes der Wettbewerbsbehörden in der EU. Mit dem Bundeskartellamt hat dieses in Deutschland seinen zentralen Ansprechpartner (Entwurf 2004: 39). Das Bundeskartellamt war lange ein Pionier der Wettbewerbskontrolle in der EU. Es verstand sich immer als in hohem Maße unabhängige Behörde, die selbstbewusst eine wichtige wirtschaftspolitische Rolle wahrnahm. Heute überlagert das europäische Wettbewerbsrecht überall das nationale – aus der Sicht des Binnenmarktprojektes eine Selbstverständlichkeit. Nationalen Kartellämtern bleiben nur noch die Fälle unterhalb der Eingreifschwellen der Kommission, die das europäische Recht definiert. Problematisch ist hier, wie bereits erwähnt, dass beispielsweise hinsichtlich des Umsatzes von Unternehmen mit absoluten Zahlen operiert wird, was zur Folge hat, dass schon bei inflationsbedingter nominaler Erhöhung von Umsatzzahlen, immer mehr Fälle in die europäische Kompetenz geraten. Hinzu kommt, dass die wettbewerbsrechtlich interessanten Fälle mit rein nationalem Bezug angesichts der Internationalisierung der Märkte ständig abnehmen. Auf europäischer Ebene lassen sich deutlich zwei neue Tendenzen erkennen, die heute – drei Jahre nach der Osterweiterung – zunehmend Wirkung entfalten. Zum einen ist die wirkungsvollere Einbeziehung der nationalen Kartellbehörden in die Umsetzung europäischen Wettbewerbsrechts verbunden mit einer stärkeren Flexibilität der Praxis der Wettbewerbskontrolle. Zum zweiten setzt die EU heute stärker auf solche Kriterien für den Wettbewerb auf dem Binnenmarkt, die an ökonomischen Wirkungen ausgerichtet sind. Die entsprechenden Festlegungen erfolgten in etwa zeitgleich mit der Osterweiterung und bil-
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den so die neue Grundlage für das für die Beitrittsländer verbindliche Wettbewerbsverständnis. So werden Fusionen seit 2004 auch darauf hin überprüft, ob sie wirksamen Wettbewerb im gemeinsamen Markt erheblich behindern. Formulierungen wie diese deuten an, dass mehr Flexibilität bei Entscheidungen im Sinne einer „Ökonomisierung“ des Kartellrechts von der Kommission gewünscht wird. Nicht zufällig beschäftigt die GD Wettbewerb neuerdings einen „Chief Economist“. Das Bundeskartellamt hat darauf hingewiesen, dass seriöse ökonomische Analysen der Konsequenzen von Kommissionsentscheidungen Zeit brauchen, die in der Regel in Verfahren der Wettbewerbskontrolle nicht vorhanden ist (Kartellamt 2005: IX). Dennoch wird sich der Trend hin zur „Ökonomisierung“ des europäischen und damit auch über kurz oder lang des nationalen Kartellrechts nach amerikanischem Vorbild kaum aufhalten lassen. Literatur Beeker, Detlef, 2001: Aktuelle Herausforderungen der Wettbewerbspolitik, Köln. Cecchini, Paolo, 1988: Europa `92. Der Vorteil des Binnenmarktes, Baden-Baden. Cini, Michelle/McGowan, Lee, 1998: Competition Policy in the European Union, Houndsmills et al. Dieringer, Jürgen, 2001: Staatlichkeit im Wandel? Die Regulierung der Sektoren Verkehr, Telekommunikation und Energie im ungarischen Transformationsprozeß, Opladen. Ehlermann, Claus Dieter/Atanasiu, Isabela (Hrsg.), 2004: European Competition Law Annual 2002: Constructing the EU Network of Competition Authorities, Oxford/ Portland (Or.). Entwurf, 2004, eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, Bundestagsdrucksache 15/3640 vom 12.08.2004. Kartellamt, 2001: Bericht des Bundeskartellamts, Bundestagsdrucksache 14/6300 vom 22.06.2001. Kartellamt, 2003: Bericht des Bundeskartellamts, Bundestagsdrucksache 15/1226 vom 27.06.2003. Kartellamt, 2005: Bericht des Bundeskartellamts, Bundestagsdrucksache 15/5790 vom 22.06.2005. Mische, Harald, 2002: Nicht-wettbewerbliche Faktoren der europäischen Fusionskontrolle, BadenBaden. Monopolkommission, 2002: Vierzehntes Hauptgutachten der Monopolkommission 2000/2001, Bundestagsdrucksache 14/9903 vom 28.08.2002. Monopolkommission, 2004: Fünfzehntes Hauptgutachten der Monopolkommission 2002/2003, Bundestagsdrucksache 15/3610 vom 14.7.2004. Nicolaides, Phedon, 2002: Reform of EC Competition Policy: A Significant but Risky Project, in: EIPASCOPE, 2, S. 16-21. Niemeyer, Hans-Jörg, 1991: Die Europäische Fusionskontrollverordnung, Heidelberg. Peterson, John, 1995: Decision-Making in the European Union: Towards a Framework for Analysis, in: Journal of European Public Policy, 2 (1), S. 69-93. Rittner, Fritz, 2004: Das neue europäische Kartellrecht: Bürokratische Netze statt Herrschaft des Gesetzes?, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 1, S. 38-43. Scherpenberg, Jens van, 1996: Ordnungspolitische Konflikte im Binnenmarkt, in: Jachtenfuchs, Markus/ Kohler-Koch, Beate (Hrsg.): Europäische Integration, Opladen, S. 345-372. Schmidt, Ingo, 2001: Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, Stuttgart, 7. Aufl. Sturm, Roland, 1996: The German Cartel Office in a Hostile Environment, in: Doern, George Bruce/ Wilks, Stephen (Hrsg.): Comparative Competition Policy: National Institutions in a Global Market, Oxford, S. 185-224. Sturm, Roland/Dautermann, Gabriele/Dieringer, Jürgen/Müller, Markus M./Voláková, Jana, 2000: Regulierung und Deregulierung im wirtschaftlichen Transformationsprozeß, Opladen.
Wettbewerbspolitik: Die Fortschritte ihrer Europäisierung
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Tax competition strategies and Europe’s fiscal constitution Klaus Beckmann
4
A popular belief
That competition between governments leads to a “race to the bottom”, harming everyone, is quite a popular idea nowadays. People holding this view include prominent economists (Sinn 2003),1 and are quick to demand tax harmonisation or European regulation as a counter-measure. The OECD has started to use “naming and shaming” techniques to combat “unfair” tax practices under the aegis of its Global Forum initiative (OECD 2006). Particular criticism – apart from the so called “offshore centres”, countries specialising in providing tax avoidance opportunities for financial capital – is levelled at the new EU member states, who are suspected to lower their taxes on mobile factors below acceptable thresholds in order to attract foreign direct investment. Just recently, the winner of the Czech parliamentary election, Mirek Topolanek, announced plans for a 15 % flat tax on personal income. And there does exist some evidence that tax rates on mobile factors have come down over the last decades, while there has been no similar reduction of taxes on immobile factors, notably on labour. The most simple way to look at this is to compare a panel of statutory tax rates, as we do in table 1 below.2 Table 1: statutory corporate income tax rates in Europe, 1980-2001 BE DK DE ES FR IE UK FI PL HU
1
2
1980 48 37 62-44 33 50 45 52 50
1985 45 50 62-44 33 50 50-10 40 50
1990 43 40 50-36 35 37-42 43-10 35 40
1994 40,17 34 45-30 35 33 40-10 33 25 40 36
1997 41,17 34 45-30 35 37-42 36-10 31 28
1998 40,17 34 45-30 35-30 37-42 32-10 31 28
1999 39 32 40 35 33,3 10 30 29 34 18
2001 39 30 25 35 33,3 10 30 29 27 18
One must, of course, concede that Hans-Werner Sinn’s position is more differentiated than the popular perspective, and that there exists theoretical reasoning as well as empirical evidence supporting his view – issues to be dealt with in the present paper. Data culled from the OECD web site at http://www.oecd.org/ . For an extended discussion and a review of effective tax rates, see Haufler (2006: 3–10).
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Klaus Beckmann
While a downward trend seems to be discernible in table 1, this kind of evidence is far from conclusive. What we would need to look at in the first place are effective tax rates – for example, the data might just show a set of base broadening cum tax rate strategies that basically leave firms’ tax burden unchanged on average. Furthermore, we would need to look at what decision-makers are targeted and at how taxes are integrated. When funds are taken out of incorporated firms in the form of distributed earnings or dividends, the tax man typically catches up and effectively charges the personal income tax rate. Much of the discussion seems to apply to large multinational corporations which do not distribute profits to shareholders and whose increasing market valuation is not subject to taxation. But let us accept the surmised general downward trend in effective tax rates as a fact characterising developments in taxation for the past two decades or so. Does this mean that there is a good reason to curtail competition between EU member states and regions across the board? There are several reasons why one might be sceptical about the immediacy of this conclusion:3 1.
2.
3.
4.
3 4
Competition between regions might be useful as a true systems competition in the face of the fundamental knowledge problem, leading to experimentation and the discovery of better tax rules. Effective tax rates may have been too high to begin with, as politicians do not pursue the well-being of their constituency but rather their own – the core Leviathan hypothesis – or as the political process leads to “too much” redistribution or to “too much” rent-seeking, respectively.4 Against this background, the European Union might be viewed as a cartel formed by the European classe politique better to exploit their citizens (or to cut back on competition) or to further their own interest in a political system that inexorably tends towards excessive state activity. While tax competition might lead to an efficient provision of public inputs, it is often lamented that this goes hand in hand with an unjust distribution of the tax burden as proceeds from the tax on the mobile factor – which is essentially a user charge – may not suffice to cover the cost of providing the optimal amount of the public input. But all of the benefits of providing infrastructure will also accrue to the owners of the immobile factor; in fact, their rents is what governments in this sort of model maximise. Generally speaking, the “race to the bottom” result becomes more suspect if we add competition in public services to the picture, and one needs to be aware of the incidence of benefits as well, which is likely to fall disproportionally on the immobile factor. Tax competition theory is, in fact, nothing more than a straightforward application of the theory of Bertrand oligopoly in differentiated products. While we do know from this theory that horizontal competition leads to lower prices, ceteris paribus, we also know that vertical competition – in the sense of a disintegration of the production chain – tends to engender higher prices. The introduction of genuine power to tax at the European level – while member states do not relinquish their power to tax the same bases – might therefore lead to a countervailing upwards trend in tax rates. See Fuest, Huber and Mintz (2005) for an up-to-date review of tax competition theory. This second part is what one might term the “enlightened” Leviathan hypothesis as it does not rely on a model that juxtaposes the rulers’ and the citizens’ interest, but rather relies on the familiar PD structures or moral hazard to obtain much the same result. In the words of the poet: “We have met the enemy, and they are us.”
Tax competition strategies and Europe’s fiscal constitution 5.
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Almost all of tax competition theory presupposes simultaneous moves on the part of the agents. At the same time, it generally assumes reaction curves to be upward sloping, which implies strategic complementarity and therefore means that sequential moves would benefit every player. Although the question of which commitment technologies may be available still remains, this does not bode well for received theory – and sequential moves would be associated with higher tax rates, too.
In the present paper, I eschew dealing with the first three arguments, focussing instead on the latter two within in the standard framework of tax competition. Section 2 briefly reviews the international, or interregional, spill-over effects from taxation under the origin principle, and links them to the fourth argument in the list above. The paper continues with a discussion of tax competition strategy (section 3): after a brief review of the gametheoretic role of commitment, a two-stage tax competition model is introduced, and it is shown that some form of commitment will be a feature of equilibrium in all cases except the uninteresting ones where the cost of commitment is prohibitive for all countries. We then go on to discuss possible commitment technologies. Finally, section 4 concludes with some lessons to be drawn for the development of the European Union’s fiscal constitution. 5
Spill-overs of taxation and tax competition
As the typical tax competition model relies on a straightforward application of standard price theory, it cannot come as a surprise that a fair number of insights carry over from there. One such insight concerns the comparison between the effects of vertical and horizontal competition. If one country raises taxes, part of its tax base flees the country for the rest of the world, which will increase tax revenues of other countries – a positive externality. As with all good things that the perpetrator does not fully internalise, too little is done, and the effective tax rate remains inefficiently low. In vertical tax competition, on the other hand, a tax increase has both a tax share and a tax base externality. The former is always negative: A country raising its tax rate obtains a larger piece of the overall pie and reduces the share of the other echelons of government. The latter externality, however, will be positive if the federation is on the efficient part of the Laffer curve, and negative if it is not. While we cannot determine the net effect a priori, there is some reason to believe that there is a tendency for pure vertical tax competition amongst Leviathan governments to end up on the inefficient part of the Laffer curve, as figure 1 illustrates. Suppose that overall tax revenues are a function of the sum of federal and state (or European and national) tax rates T = T1 + T2 and that each government's share of the booty is equal to t1 / (ti + tj). In that case, it is clear that no point on the efficient part of the Laffer curve – except the revenue maximum itself – can be a simultaneous move Nash equilibrium. For starting at such a solution (say, point A in figure 1), each of the players can make itself better of by unilaterally increasing its tax rate from ti to such that a point on the inefficient part is reached (point B in figure 1) where the overall revenue is the same as before. As a consequence of this move, however, the government in question will have a higher share of those revenues, and so the original solution could not have been a Nash equilibrium. In the literature, it is also either the addition of horizontal competition – with its
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Klaus Beckmann
downward effect on tax rates – or another technicality that ensures a solution on the efficient part of the frontier (Wrede 1997). Fig. 1:
simple vertical tax competition among Leviathan governenents
In the final analysis, these externalities are the essential element of tax competition theory, and they drive all its results. Their sign and size will depend on several things such as governments’ objective functions and tax base elasticities, and their interplay will determine whether – and which – tax rates are “too high”, “too low” or just about right. Schemes for solving tax competition problems within a system of fiscal federalism (see, for instance, Büttner, Hauptmeier, and Schwager 2005) typically rely on central government charges and subsidies to internalise fiscal externalities generated on the lower levels of the federation.5 In any event, a “race to the bottom” in the sense of zero or very low tax rates appears unlikely to materialise. 6
Strategies in tax competition and the sequence of moves
One common property of tax competition models is that tax rates are, in a large number of cases, strategic complements. Certainly, most scholars are aware that countries' reaction functions slope upwards in standard models of horizontal tax competition. There is also some respectable empirical evidence confirming this positive slope (Devereux, Lockwood and Redoano 2002). Furthermore, most economists are certainly aware that if agents' choices are strategic complements throughout, choosing sequentially is better for every agent than the simultaneous move Nash equilibrium. 5
The potential role of the central government as generator of such externalities is often neglected, though.
Tax competition strategies and Europe’s fiscal constitution
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However, precious little has been made of this general knowledge. For it would seem to imply that not only is there an incentive for countries to seize the initiative, but doing so would work to the other governments' advantage, too. One might still rationalise simultaneous moves by recourse to the argument that players do not fully internalise all the benefits of seizing the initiative, but this is not done; instead most of the tax competition literature seems to settle on simultaneous moves by default. There are a few papers that consider Stackelberg-type equilibria. In Baldwin and Krugman (2004), capital tax competition stops short of the bottom of the race because policy makers move sequentially (see also Gordon 1992). Konrad and Schjelderup (1999) demonstrate that leadership by some countries in a tax harmonisation agenda may benefit all countries – i.e., both within and outside the harmonising coalition – if tax rates are strategic complements. However, in all those papers the order of moves is treated as exogenous. In price theory, on the other hand, of which the standard model of tax competition is an application, we do find models with endogenous sequencing. For instance, Amir and Stepanova (2004) compare three types of Bertrand duo-poly games – with simultaneous moves or either player leading – in a rather broad setting and find, as we do in the present piece,6 that players whose prices are strategic complements tend to co-ordinate on an equilibrium with sequential moves. 6.1 The value of commitment revisited Let us continue our discussion by re-visiting the game theory framework of tax competition theory, and the links between this framework and the reasons for rules – in particular, the reason for commitment. As this is standard fare out of textbooks on advanced microeconomics,7 our discussion can be brief. Figure 2 shows the determination of the simultaneous move Nash equilibrium in a standard two-country tax competition model. A country's reaction function is the locus of all best responses to the other country's choice of tax rate; we obtain it by fixing tax rates for the second country (the dashed vertical and horizontal lines, respectively, in figure 2) and finding the point where the uppermost (rightmost) attainable iso-revenue curve just touches, finally combining all those points to get the reaction function. In models with locally benevolent dictators, a representative citizen's indifference contour replaces the isorevenue contour. In a (simultaneous move) Nash equilibrium, both countries play best responses, such that the equilibrium occurs where the two reaction functions intersect. Note that this implies some inefficiency, as the slopes of the indifference curves in this point are by construction perpendicular to each other. All of this is standard price theory, except for two things: first, in the typical oligopoly models, iso-profit curves will slope towards the axes (and higher levels of utility will be associated with a move towards the origin); and reaction curves are upward-sloping.
6 7
See also Beckmann (2005), on which parts of the present article are based. See, for example, Wolfstetter (1999: 65 –105).
130 Fig. 2:
Klaus Beckmann Nash and Stackelberg solutions
It is the latter difference that turns out to be crucial. To illustrate it, figure 2 depicts the Stackelberg or sequential move solution in a tax competition model with upward-sloping reaction functions. The country moving first (the “Stackelberg leader”) can anticipate the foreign reaction to its policy, effectively picking its most preferred solution on the other country's reaction function. As shown in the illustration, this will be the point where one of the leader's indifference curves just touches the follower's reaction function, and it will – except in the case of perfectly inelastic responses – diverge from the simultaneous move equilibrium. It is well known8 that if both reaction functions slope upwards, the Stackelberg solution is better for both parties than the simultaneous move solution (“strategic complementarity” of instruments, illustrated by the fact that the Stackelberg point is inside the Pareto lens relative to the Nash point in figure 1). While there is always an incentive to move first, viz. to commit to a rule of action in such a game, with strategic complementarity this commitment benefits both players. It is often helpful to characterise strategic situations by way of simple ordinal 2 x 2 games, of which there are altogether 74 distinct variants (Rapoport and Guyer 1966). The following two normal forms reflect the so-called commitment situation, in which it is advantageous for at least one of the players to commit unilaterally to a specific action (indicated by an arrow, ↓). The action committed to would not be chosen in the simultaneous move Nash equilibrium (the grey cell). For this reason, there is an intrinsic temptation to 8
An abstract treatment of strategic complementarity is Gal-Or (1985).
Tax competition strategies and Europe’s fiscal constitution
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renege on the commitment, should the committed player be allowed to choose again.9 Wellknown examples for this kind of strategic situation include the taxation of wealth and wealth transfers as well as monetary policy (see Beckmann 1998). Normal form 1: commitment game without strategic complementarity Column player
Row player
↓ left
right
up
2,3
3,4
down
1,1
4,2
Normal form 2: commitment game without strategic complementarity Column player
Row player
↓ left
right
up
4,3
1,4
down
2,1
3,2
The main difference between the two normal forms is that in the second one, we have strategic complementarity, and commitment by the column player (to “left”) benefits both agents. Note, however, that it may still be to the detriment of a third, inactive party – such as consumers or taxpayers – that is not modelled in the game. Not all dilemma situations are undesirable from a welfare point of view (Pies 2000). 6.2 Game forms of tax competition games Let us now apply the general argument reviewed in the preceding sub-section to the case at hand. In order to do so, we need to answer two questions: first, do countries’ reaction functions in fact slope upwards, and second, how does this affect the way we can expect tax competition games to be played out? Our answer to the first question would depend on an analysis of the first-order conditions for optimal choice in various tax competition models, the total differentials of which can be solved for the respective reaction functions. In a companion paper (Beckmann 2005), I carry out this analysis for a broad range of configurations and find that while the sign of the reaction is by no means a foregone conclusion, there are several sub-cases where the situation depicted in figure 1 does in fact apply. Furthermore, there may be asymmetries – for example, if one country is a net capital exporter while the other is an importer of capital – which give rise to the situation illustrated in figure 3 below, where one country’s reaction function slopes upwards, while the other’s has negative slope.
9
This is the essence of the time consistency problem.
132
Klaus Beckmann
Inspection of figure 3 reveals that sequential moves (i.e., commitment) can still benefit both players, however, it now matters who goes first. The crucial premiss is that the Stackelberg follower have an upward sloping reaction function. The leader’s reaction function does not matter – but if the follower reacts to a tax increase by decreasing his own tax rate, he will lose out relative to the simultaneous move Nash equilibrium. Fig. 3:
Asymmetric situation with a single upward-sloping reaction function
In continuing our analysis, let us confine our attention to the interesting cases where paretosuperior commitment is possible, that is, to the kind of situation depicted in figures 1 and 2. There exists, then, at least one country that could make itself better off by working to change the rules of the game and committing to its tax rate in advance. This detracts from the plausibility of the simultaneous move Nash equilibrium that is normally employed in the tax competition literature. We now proceed to analyse this situation a bit more formally, with the aim of providing a distinctio completa. of the possible strategic situations in the two-country case. Consider a two-stage game, the second stage of which consists of the two-country interaction modelled above (the tax competition game proper). At the first stage, however, both countries simultaneously decide whether to commit to a tax rate (strategy label C) or not (strategy label D). Choosing C, country i incurs a fixed cost ωi of commitment. If a single country chooses C, it becomes the Stackelberg leader; otherwise, the simultaneous move Nash solution will obtain at at the second stage. Let us denote the payoff of country j with commitment by country i as πj(Si). The general normal form for this meta-game is given below:
Tax competition strategies and Europe’s fiscal constitution
133
Normal form 3: the tax competition meta game country 2
C country 1
D
C D
For readers well versed in the economics of rent seeking, this formulation may appear a bit odd. The reason is our modelling of the top left strategy combination: if both countries commit, we just revert to the simultaneous move Nash equilibrium (with reduced payoffs due to the ωs). Alternatively, one might treat commitment as random, the probability of success for country i depending on the ratio ωi / ∑ω.10 Assuming this version of the model as well as risk neutrality, we would obtain the following normal form: Normal form 4: tax competition meta game, rent-seeking version country 2
C country 1
D
C D
However, adopting normal form 4 instead of normal form 3 as a basis for analysing the possible outcomes of our two-stage game does not affect the results materially (Beckmann 2005), and I will therefore deal with the first variant exclusively. As general constraints on the payoffs, we can impose the following for the case with two upward-sloping reaction functions,
whereas, if only country $i$'s reaction function slope upwards, the following will hold for country j:
10
The basics of rent seeking can be found in any decent textbook on public choice, an obvious reference being Mueller (2003: 333–358). Some normative ramifications are discussed in Rowley (1988).
134
Klaus Beckmann
These two inequalities still leave a plethora of possible combinations. Table 2 below shows all possible configurations for normal form 3.11 Without loss of generality, we take it that country i’s reaction function always slopes upwards, whereas country j may have either an upwards sloping or a downwards sloping reaction function. Furthermore, the net benefit of being committed may be non-positive – πi(Si) - ωi - πi(N) ≤ 0 – or positive for either country. Table 2: All possible configurations arising from the tax competition meta game Country j upwards sloping
downwards sloping
Country i
Commitment by Nash is dominant & Nash is dominant & Coordination j is dominant & efficient efficient game with comefficient mitment by j
Commitment by i is dominant & efficient
Chicken if symNo equilibr. or i metric; cocommits (poss. ordination game ineff.) otherw.
Coordination game with commitment or j commits
The main result that stands out is that only in two cases can simultaneous moves emerge as a feature of the second-stage tax competition game. Furthermore, these two cases are the boring ones where commitment costs are so high that neither country can enjoy a positive net benefit of commitment. If this condition does not hold, the equilibrium will involve some attempt at commitment, although a fair number of different strategic situations can occur and the resulting equilibrium need not be efficient. Furthermore, an equilibrium in pure strategies may fail to exist. If tax rates are strategic complements from the vantage point of both countries and commitment pays for just one country, we obtain a very simple solution in dominant strategies in which the country with the greater net benefit of commitment moves first, and the solution is efficient (disregarding possible external effects on third persons outside the game). A second set of “hopefuls” comprises all configurations in which one country has a downward-sloping reaction function and would enjoy a net benefit of commitment. In these cases, we find a co-ordination game in which commitment by j – the party whose being a follower would make him worse off than in the simultaneous moves Nash equilibrium – emerging as the Stackelberg leader. The two most interesting situations emerge when (a) commitment is attractive for both parties and when (b) one country stands to lose by committing to its own tax rate, but will lose even more in the Stackelberg follower position. Configuration (a) will lead to the stan11
The necessary computations are explained at some length in Beckmann (2005).
Tax competition strategies and Europe’s fiscal constitution
135
dard “Chicken”-type game, while configuration (b) either does not lead to an equilibrium (in pure strategies) or to an inefficient one as shown below: Normal form 5: meta-game with an inefficient equilibrium Country j
Country i
↓ left
right
up
1,1
3,2
down
4,3
2,4
It is quite interesting to observe that this normal form is in itself a commitment game, giving rise to yet another incentive to move first on an imaginary “meta-meta-stage” in the game. This kind of potential regress – which often involves a change of game form from stage to stage – exists a recurring commitment problem in this variant of our model, which one might be tempted to relegate, Buchanan-fashion, to a yet higher level of rule-making. The obvious problem with this approach lies in the question of whether this call on “level k + 1” will lead to an infinite regress. In normative matters it clearly will – the so-called “Münchhausen trilemma” –, whereas the answer depends on the assumptions regarding commitment technologies that one is prepared to make in a positive analysis. To this question we now turn. 6.3 Commitment technologies It is one thing to show that a Stackelberg solution would make both players better off, but quite another thing to demonstrate that at least one player would be capable of credible commitment to one of her feasible strategies. After all, if no commitment technology were available, we would have ω → ∞ and would obtain the “uninteresting” simultaneous move equilibria (greyed out in table 2). The difficulties of this second step are clearly explained in Schelling (1960: 28): [These examples] clearly depend on not only incurring a commitment but on communicating persuasively to the other party. It is by no means easy to establish the commitment, nor is it entirely clear to either of the parties concerned just how strong the commitment is. Similar activity may be available to the parties on both sides. The possibility of commitment … is by no means equally available.
While I am frankly unable to provide a full theory of how credibility may be achieved in a tax competition setting and of how the commitment cost ω is determined, it is possible to explore a few possibilities: 1.
Local fiscal constitutions not only shape tax policy for the interior, they also have an indirect effect on a country’s predictability and credibility in tax competition games. The more policy is restricted by long-term written rules or principles, the stricter enforcement of these rules, and the more relevant social capital – in the sense of unwritten rules, conventions and norms – exists, the more credible a country’s tax policy will
136
2.
3.
7
Klaus Beckmann be. The presence of checks and balances – for example, an active constitutional court – may also help. On the other hand, constitutional rules can preclude government from choosing the optimal tax competition strategy. This does not appear unlikely as fiscal constitutions typically do not focus on tax competition issues and may be based on rival considerations. As far as vertical tax competition is concerned, it may seem natural to assign Stackelberg leadership to the upper echelon of government. However, politicians at the federal level will, ceteris paribus, face a more heterogeneous constituency then their local colleagues, and may therefore find it harder to assume a political stance that would be too costly to renege upon later. As similar argument applies to horizontal tax competition. Here, it is smaller countries that may enjoy a comparative advantage in commitment because of a more homogenous electorate. On the other hand, countries’ political systems, the schedule of elections, and the competition between political parties may all play a role. Conclusion: lessons for the developing European fiscal constitution
From the preceding sub-section, it is clear that further work, both empirical and interdisciplinary, has to be done to develop a clear picture of the actual role of commitment in tax competition. The theoretical analysis in the present paper has shown that there are good reasons for doubting the usual theoretical account based on simultaneous move Nash equilibria, and that a richer strategic set-up ought to be considered. We have also looked at two out of five reasons to check very hard on the popular “race to the bottom” argument. A further question remains: what can be gleaned from the present discussion for the development of a European fiscal constitution? Of course, there does not exist much of such a constitution yet, but the present European law and its ancillary rules do in fact contain a few elements – for example, the much-vaunted balanced budget rule –, and recent developments also concerned the introduction of rules that are relevant to tax competition. For instance, there is the ECOFIN Council’s “code of conduct for business taxation” (European Communities 1999) and the recent Commission initiative to replace national tax bases (separate taxation of businesses in the member states) with a union-wide tax base, apportioning tax revenues amongst members according to some indicator such as revenues or payroll (European Commission 2001). In both cases, the idea is to restrict horizontal tax competition between member states. It has been observed before (Riedel and Runkel 2005) that such a move may be dangerous because it might exacerbate tax competition between member states and third countries outside the Union. There is also some concern that reducing internal tax competition in one dimension might actually increase competition in another, leading to additional distortions (see the survey in Haufler 2006). From the perspective of the present paper, there is a third aspect: Union regulation like the ones cited above might increase the ability of members credibly to commit to their tax policies, in effect providing a commitment technology and lowering members’ cost of commitment ω. These policies should therefore be seen as a two-pronged move, regulating competition between members on the one hand and changing their strategic position vis-à-vis non-members on the other. An interesting avenue for further research would be to explore under which conditions these two are at crosspurposes, giving rise to a strategic trade-off for the EU.
Tax competition strategies and Europe’s fiscal constitution
137
The “regulation” of competition between member states again may be subdivided into two areas. One of those concerns reducing inefficiencies arising from horizontal tax competition in the sense of price competition – attenuating the “race to the bottom”. This task basically involves internalising the fiscal spill-overs that arise from the mobility of tax bases, and it has in fact been shown that an appropriate system of transfers and charges can be set up to achieve just this (Büttner, Hauptmeier and Schwager 2006). The other concerns providing a framework for competition between member states and regions that is in some respects analogous to the market order as a framework for competition between firms. Both beneficial competition of the Tiebout variety and true systems competition as a discovery procedure would require such a framework in much the same sense that competition on markets presupposes order lest it should go awry (in fact, the argument by analogy in Hayek’s (1991) theory of social evolution would be incomplete without such a framework). One problem is that the first perspective rests on European policy as intervention, while the second is based on the European (fiscal) constitution as an institution. It is in no way guaranteed that these two are compatible with each other, and it has often been argued that an intervention-based approach is in fact detrimental to the necessary set of rules (the “constitution”) that must be in place for achieving an “optimal” solution.12 Also, the power to tax at the European level is left out of this picture: As the integration of Europe progresses, it is extremely unlikely that we will be able to continue without according the European level some competence of levying a tax of their own. It is, on the other hand, equally unlikely that member states will completely renounce from taxing the broad base needed for financing the Union themselves, giving rise to a problem of vertical tax competition. I have argued that this, in itself, is likely to exert an attenuating influence on the “race to the bottom”. However, it also follows from our discussion that any account of tax competition in Europe that does not contain the EU as a player is seriously incomplete. References Amir, Rabah and Anna Stepanova, 2004: Second mover advantage and price leadership in Bertrand duopoly, CORE Discussion Paper 37. Baldwin, Richard/Krugman, Paul, 2004: Agglomeration, integration and tax harmonization, in: European Economic Review 48, S. 1–23. Beckmann, Klaus B., 1998: Analytische Grundlagen einer Finanzverfassung, Frankfurt: Peter Lang. Beckmann, Klaus B., 2002: Freiheit und Ökonomie, in: Laufhütte, H/Lüdeke, R. (Hrsg.): Werte, Wohlfahrt und das Gute Leben. Philosophen und Ökonomen im Ethik-Diskurs, Berlin: Duncker & Humblot, S. 111–141. Beckmann, Klaus B., 2005: Tax competition and strategic complementarity, Andrássy Working Paper XV. Büttner, Thiess/Hauptmeier, Sebastian/Schwager, Robert, 2006: Efficient revenue sharing and upper level governments, ZEW Discussion Paper No. 06-013, Mannheim. Devereux, Michael P./Lockwood, Bob/Redoano, Michaela, 2002: Do countries compete over corporate tax rates? CSGR (Warwick University) Discussion Paper 90/02.
12
I provide an extended discussion of these arguments – and also on the meaning of “optimal” – in Beckmann (1998). A further development of some of these ideas can be found in Beckmann (2002).
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Klaus Beckmann
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Regieren in der Eurozone und die wirtschaftspolitische Koordinierung in der erweiterten Union – die Bedeutung deliberativer Entscheidungsprozesse Uwe Puetter
1
Einleitung
Im Gegensatz zur supranational organisierten Währungspolitik sind die Entscheidungsstrukturen im Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) für das Feld der gemeinsamen Wirtschaftspolitik im Wesentlichen intergouvernemental verfasst. Ein begrenztes, nicht immer eindeutiges Regelwerk und so genannte weiche Koordinierungsverfahren, die auf Empfehlungen und Selbstverpflichtungen, also rechtlich nicht verbindlichen Maßnahmen beruhen, sind für dieses Politikfeld charakteristisch. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es nachzuweisen, dass der spezielle Charakter solcher Entscheidungsprozesse die Erhaltung und Weiterentwicklung eines institutionellen Rahmens erforderlich macht, der die deliberativen Elemente der Entscheidungsfindung stärkt und ein entsprechendes Akteursverhalten fördert. Dabei soll gezeigt werden, dass das gemeinsame wirtschaftspolitische Handeln in der WWU auf einem System des deliberativen Intergouvernementalismus basiert. Durch einen umfassenden informellen, aber gleichwohl routinisierten Dialog können die Akteure die Koordination ihrer sich aus der Teilnahme an einer einheitlichen Währung ergebenden gemeinsamen Interessen nachhaltig verbessern. Angesichts einer Situation, in der ein weiterer Transfer nationaler Entscheidungskompetenzen auf die europäische Ebene nicht realisierbar erscheint, ist ein solcher Prozess unabdingbar, um die nötige Entwicklung und Implementierung gemeinsamer Leitlinien und Ziele zu erreichen. Die Erweiterung der Europäischen Union (EU) und mit ihr die angestrebte Ausdehnung der Eurozone erfordern die Weiterentwicklung der gegenwärtigen Koordinierungspraxis. Dabei stehen die deutlich gewachsene Anzahl der am Entscheidungsprozess beteiligten Akteure und die Besonderheiten der neuen Mitgliedsstaaten im Zentrum des Interesses. Vor diesem Hintergrund sollen die institutionellen Veränderungen analysiert werden, die im Vorfeld der Osterweiterung vor allem im Rahmen des EU-Verfassungskonvents und der folgenden Regierungskonferenz erörtert und beschlossen wurden. Es soll gezeigt werden, dass die zentralen Akteure im Bereich der WWU in der Lage waren, die so wichtigen deliberativen Elemente des Prozesses der wirtschaftspolitischen Koordinierung zu erhalten. Dies wurde im Wesentlichen durch relativ geringfügige Änderungen des existierenden institutionellen Rahmens erreicht. Empirisch stützt sich der Beitrag auf Experteninterviews mit hochrangigen Entscheidungsträgern in diesem Politikfeld. Der Beitrag gliedert sich in drei Abschnitte. Im ersten Schritt werden die besonderen Merkmale von wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozessen innerhalb der WWU skizziert. Es wird gezeigt, welche Konsequenzen die Bevorzugung intergouvernementaler Entscheidungsstrukturen und die Ablehnung der Erweiterung supranationaler Entscheidungskompetenz für das Regieren in der Eurozone haben. Deliberative Elemente und Lernprozesse werden als charakteristische Merkmale aufgezeigt. Im zweiten Abschnitt werden die
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Uwe Puetter
vier für die intergouvernementale Koordinierung entscheidenden Gremien vorgestellt: der Rat der Wirtschafts- und Finanzminister (ECOFIN), die so genannte Eurogruppe, der Wirtschafts- und Finanzausschuss (WFA) und der Wirtschaftspolitische Ausschuss (WPA). Der dritte Abschnitt schließlich skizziert die zentralen institutionellen Fragen, die sich in Bezug auf das Funktionieren dieser Institutionen in einer erweiterten EU stellen. Es wird gezeigt, wie die zentralen Entscheidungen zur Zukunft der wirtschaftspolitischen Koordinierung in einem erweiterten Europa getroffen werden und worin sie sich niederschlagen. Der Beitrag schließt mit einer Einschätzung der vorgenommen Veränderungen und weist auf bisher unberücksichtigte Herausforderungen des Erweiterungsprozesses hin. 2
Der intergouvernementale Rahmen wirtschaftspolitischen Handelns in der WWU
Um die institutionelle Dynamik wirtschaftspolitischer Koordinierung innerhalb der WWU zu verstehen ist es wichtig, die Aufmerksamkeit auf eine generelle Tendenz in der Entwicklung des institutionellen Gefüges der EU zu richten. Die so genannte „Gemeinschaftsmethode“ wird zunehmend durch intergouvernemental ausgerichtete Koordinierungsmechanismen ergänzt. Letztere sollten aber nicht unbedingt mit einem Mangel an Integrationswillen gleichgesetzt werden. Wie im Folgenden gezeigt wird, impliziert diese Entwicklung neue Herausforderungen für die Arbeit der Gemeinschaftsinstitutionen. Dies gilt insbesondere für den Ministerrat. Unter Verweis auf die zentralen Aspekte wirtschaftspolitischer Koordinierung in der WWU beleuchtet dieser Abschnitt die Besonderheiten der Entscheidungsmechanismen und des institutionellen Gefüges. Die Herausforderungen des Erweiterungsprozesses werden dabei weniger als eine Frage der Veränderung von Kräfteverhältnissen im Ministerrat und daraus resultierender etwaiger Modifizierungen formeller Entscheidungsprozesse begriffen, sondern vielmehr als eine Frage der Abhängigkeit des dezentral angelegten Entscheidungsrahmens von deliberativen Prozessen, die die Formierung und Implementierung der gemeinsamen Politik begleiten. Die Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht markierte den Beginn einer neuen Entwicklung. Mehr und mehr richtete sich der Integrationsprozess auf Politikfelder, die als Kernbereiche nationaler Souveränität angesehen wurden. Neben der Währungs- und Wirtschaftspolitik beinhaltete dieser Prozess auch die Außen- und Sicherheitspolitik sowie Felder der Innen- und Rechtspolitik. Im Bereich der Wirtschaftspolitik gingen die Integrationsbemühungen zudem über die Haushaltspolitik und die Außenvertretung der gemeinsamen Währung hinaus. Arbeitsmarktpolitik, die Frage von Strukturreformen und Sozialpolitik im weiteren Sinne wurden Bestandteile einer europäischen Agenda, die ihren vorläufigen Höhepunkt in der Formulierung der so genannten Lissabon-Strategie fand (siehe European Council 2000; Agh im vorliegenden Band). Diese Entwicklung ist durch ein Paradox gekennzeichnet. Die Integrationsprozesse innerhalb der oben genannten Politikfelder gründeten nur in sehr begrenztem Umfang auf den klassischen Integrationsmodellen – der Integration durch Recht und der Schaffung supranationaler Kompetenzen und/oder Institutionen. Lediglich die Festlegung auf eine einheitliche europäische Währungspolitik und die Schaffung einer unabhängigen Europäischen Zentralbank (EZB) knüpften eindeutig an bekannte Formen der Integration an. Die zuvor genannten Bereiche jedoch folgten einem neuen Muster: die Mitgliedsstaaten identifizieren neue Bereiche, in denen sie ein prinzipielles Interesse an gemeinsamem Handeln sehen. Um dieses Ziel zu erreichen, verpflichten sie sich zur Koordinierung ihrer nationalen Politiken
Regieren in der Eurozone
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im Ministerrat. Damit vermeiden sie eine Schaffung supranationaler Kompetenzen ohne jedoch auf das erklärte Ziel einer verstärkten Integration zu verzichten. In diesem Modell behalten die Mitgliedsstaaten formell ihre Souveränität über das jeweilige Politikfeld. Dieser geänderte Rahmen gemeinsamer Entscheidungsprozesse stellt neue Anforderungen an die zentrale Instanz des intergouvernementalen Koordinierungsprozesses – den Ministerrat. Im Hinblick auf die traditionelle Gemeinschaftsmethode ist die Hauptfunktion des Rats die Vertretung der Interessen der Mitgliedsstaaten (siehe Sherrington 2000: 164). Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Rat oft als Schauplatz eines permanenten Verteilungskonflikts wahrgenommen wird. Diese Tendenz wird weiter dadurch verstärkt, dass die Verantwortlichkeit für die Initiierung und Weiterentwicklung von Gemeinschaftspolitiken im Rahmen der Gemeinschaftsmethode der Kommission zufällt. Diese Art der Arbeitsteilung findet jedoch in vielen der neuen Felder des Integrationsprozesses immer weniger Anwendung. Folglich muss sich der Ministerrat neuen Aufgaben anpassen, die von seiner bisherigen Rolle als gesetzgebende Instanz in wesentlichen Punkten abweichen. Die verstärkte Hinwendung zu intergouvernementalen Formen der Entscheidungsfindung und die Einführung so genannter „weicher“ Koordinierungsmechanismen, wie zum Beispiel der offenen Methode der Koordinierung, bedeuten, dass der Ministerrat selbst verstärkt für die Initiierung und Entwicklung von Politik verantwortlich ist. Diese Entwicklung verlangt den Akteuren in vielen Bereichen eine Neuorientierung ab. Besonders deutlich wird dies in Bezug auf die Rolle von Lernprozessen als integraler Bestandteile der neuen Koordinierungsformen. Eines der wichtigsten gemeinsamen Merkmale der neuen Koordinierungsinstrumente ist die Verwendung von gemeinsam definierten, aber im rechtlichen Sinne nicht bindenden Politikzielen oder Leitlinien. Selbst dort, wo die Umsetzung gemeinsamer Regeln und Leitlinien durch Sanktionen geschützt werden sollen, ist ihre Implementierung uneindeutig geregelt. Einzelnen Akteuren wird daher ein hohes Maß an politischem Entscheidungsspielraum gewährt. Die Koordinierung der Haushaltspolitiken innerhalb der WWU ist das beste Beispiel für diesen Ansatz. Intergouvernementale Entscheidungsprozesse in diesen Politikfeldern müssen demnach in hohem Maße konsensorientiert sein, um nicht im Nachhinein unterlaufen zu werden. Nur dort wo sich die zentralen Akteure eindeutig selbst auf gemeinsam definierte Ziele und Leitlinien verpflichten, kann mit der Implementierung dieser Vorgaben auf nationaler Ebene gerechnet werden. Davon hängt auch die Wirkung von Instrumenten wie peer pressure, benchmarking oder die Bloßstellung von Ländern, die gemeinsame Vereinbarungen brechen, ab. Wie kommt es dazu, dass Akteure sich selbst unter Bedingungen, unter denen sie nicht durch eine höhere Autorität zur Implementierung übergeordneter Regeln und Normen gezwungen werden, zu deren Umsetzung verpflichten? Diese Frage steht auch im Zentrum einer Reihe von Policy-Ansätzen, die sich mit intergouvernementalen Verhandlungen im EU-Kontext und in anderen internationalen Foren beschäftigen (siehe zum Beispiel Majone 1993; Müller 2004). Deliberativen Prozessen wird dabei eine entscheidende Rolle bei der Generierung von Selbstverpflichtung auf der Seite einzelner am Prozess beteiligter Akteure zugesprochen. Mit Blick auf die gestiegene Bedeutung intergouvernemental ausgerichteter Koordinierungsprozesse in der EU kann daher davon gesprochen werden, dass die Grundlage erfolgreichen Regierens in den betroffenen Politikfeldern die Entstehung eines Systems des deliberativen Intergouvernementalismus ist. Diese Art des Regierens bedeutet eine besondere Herausforderung für den Ministerrat als der zentralen politischen Instanz der jeweiligen Koordinierungsprozesse. Nur wenn es dem Rat gelingt, sich von dem Bild
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Uwe Puetter
einer auf Verteilungskonflikte fixierten Länderkammer zu lösen, wird er in der Lage sein, innerhalb der neu abgesteckten Bereiche einer verstärkten europäischen Zusammenarbeit effektiv zu regieren. Diese neue Rolle des Ministerrats schlägt sich auch in der theoretischen Perspektive nieder, die im Folgenden eingenommen wird. Während rationalistisch orientierte Ansätze den Rat im Wesentlichen als Forum der strategischen Interaktion begreifen, in dem die Mitgliedsstaaten ihr relatives politisches Gewicht in Kontrolle über die Gemeinschaftspolitik umzusetzen suchen (siehe zum Beispiel Campanella 2000 und Hosli 1996), impliziert die Analyse alternativer Arbeitsmethoden in den neuen Feldern des Integrationsprozesses einen verstärkten Fokus auf die Entwicklung von Prozessen deliberativer Interaktion. Solch eine Orientierung ist umso wichtiger, als ein Richtungswechsel des Integrationsprozesses in naher Zukunft unwahrscheinlich erscheint. Wie die Außen- und Sicherheitspolitik ist auch die Wirtschaftspolitik ein Bereich, der auf absehbare Zeit keine über das bisherige Niveau hinausgehenden föderalen Züge annehmen wird. Ein genauerer Blick auf die zentralen Merkmale des institutionellen Rahmens der wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit innerhalb der WWU zeigt, welche Bedeutung deliberative Elemente gemeinsamer Entscheidungsprozesse für das Zustandekommen freiwilliger Selbstverpflichtung auf gemeinsame Politikziele haben. Dem Vertrag von Maastricht zufolge ist die Wirtschaftpolitik innerhalb der WWU dezentral aufgebaut. Die Mitgliedsstaaten sind uneingeschränkt für ihre Implementierung zuständig. Die Festlegung von Zielvorgaben und Leitlinien folgt dem Prinzip der Subsidiarität. Weiterhin bestimmen die Mitgliedstaaten die Ausrichtung der nationalen Wirtschaftspolitik. Die Entscheidungsfindung auf nationaler Ebene muss jedoch mit einem Katalog gemeinsamer Regeln in Einklang stehen. Dies bedeutet vor allem, dass der EG-Vertrag den Mitgliedstaaten auferlegt, „übermäßige öffentliche Defizite“ (Artikel 104.1, EG-Vertrag) zu vermeiden. Der ECOFIN-Rat überwacht die Implementierung dieser Regel. Darüber hinaus sind die Mitgliedsstaaten verpflichtet, ihre Wirtschaftspolitiken als eine „Angelegenheit von gemeinsamem Interesse“ (Artikel 99.1, EG-Vertrag) zu behandeln. Die so genannten „Grundzüge der Wirtschaftspolitik“ stellen das zentrale Koordinierungsinstrument dar. Bestehend aus einem Katalog gemeinsam vereinbarter Zielvorgaben und Leitlinien werden sie auf der Grundlage einer Kommissionsempfehlung und nach Beratung im Europäischen Rat vom ECOFIN-Rat formell beschlossen. Sie haben den juristischen Status einer Empfehlung an die Mitgliedsstaaten und sind im Gegensatz zur Defizitklausel rechtlich nicht bindend. Der Vertrag sieht jedoch ein Verfahren zur multilateralen Überwachung der Implementierung der Grundzüge vor. Darüber hinaus hat der Ministerrat das Recht auf Basis des Verfahrens der multilateralen Überwachung Durchführungsbestimmungen zu erlassen. Dies geschah im Zusammenhang mit der Einführung des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP). Der oben skizzierte Koordinierungsrahmen gibt den Mitgliedsstaaten folglich erheblichen Ermessensspielraum bei der Umsetzung gemeinsamer Regeln und Leitlinien. Dabei kommt der Kommission im Wesentlichen die Rolle eines Überwachungsorgans zu. Sie verfügt zudem über für dieses Politikfeld entscheidende administrative Ressourcen, wie etwa die Fähigkeit, gesamtwirtschaftliche Prognosen zu erstellen. Im Gegensatz zu anderen Politikfeldern besitzt die Kommission gegenüber den Mitgliedsstaaten jedoch keinerlei bedeutende Kontrollinstrumente. Selbst ihr traditionelles Initiativrecht ist im Bereich der wirtschaftspolitischen Koordinierung stark eingeschränkt. In den meisten Bereichen sieht
Regieren in der Eurozone
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der Vertrag nur das Instrument nicht bindender Empfehlungen an den Ministerrat vor. Dies steht im Gegensatz zum förmlichen Vorschlagsrecht, wie es für andere Politikfelder charakteristisch ist. Letzteres bedeutet, dass der Rat die Vorschläge der Kommission nur auf der Grundlage einstimmiger Entscheidungen ändern kann (siehe Artikel 249-251 EG-Vertrag). Aufgrund der Tatsache, dass der gesamte Prozess auf der Existenz eines breiten und stabilen Konsenses im Rat beruht, bleibt demzufolge selbst die Implementierung der einzigen rechtlich verbindlichen Regeln, wie die Defizitklausel und die im SWP definierten Durchführungsbestimmungen, problematisch. Bereits kleine Allianzen von (größeren) Mitgliedsstaaten vermögen en Implementierungsprozess relativ leicht zu beeinträchtigen. Die Implementierung der Grundzüge der Wirtschaftspolitik basiert sogar vollständig auf der Selbstverpflichtung einzelner Mitgliedsstaaten. Paradoxerweise bedeutet die Wahl dieser „weichen“ Formen der Koordinierung nicht, dass die Mitgliedsstaaten keinerlei Interesse an einer verstärkten Zusammenarbeit haben. So markierte die Annahme der Lissabon-Strategie im Jahr 2000 das Ende einer Serie europäischer Gipfeltreffen, die, jenseits des Bereichs der im Vertrag erwähnten Haushaltspolitik, die Entwicklung einer verstärkten Zusammenarbeit in nahezu allen relevanten Bereichen der Wirtschaftspolitik vorsah. Es blieb zudem nicht bei der bloßen Definition neuer Bereiche der Zusammenarbeit. Mit der Methode der offenen Koordinierung wurde darüber hinaus ein einheitlicher Rahmen für die Überwachung und Bewertung nationaler Politik geschaffen, der auf gemeinsamen Lernprozessen und dem Aufbau von peer pressure basiert (siehe European Council 2000). Der dezentral angelegte institutionelle Rahmen der wirtschaftspolitischen Koordinierung folgt der unter den Architekten der WWU verbreiteten Einschätzung, dass die Schaffung einer europäischen Währungsunion nicht notwendigerweise starke supranationale Institutionen im Bereich der Wirtschaftspolitik voraussetzt (Korkman 2001). Darüber hinaus trägt diese Einschätzung der politischen Tatsache Rechnung, dass die Mitgliedsstaaten im Allgemeinen wenig Spielraum für die Verlagerung formeller Kompetenzen auf die supranationale Ebene sehen. Mit anderen Worten, eine Erweiterung supranationaler Kompetenzen in diesem Politikfeld bleibt unwahrscheinlich, solange die EU nicht stärker föderal ausgerichtet ist (Brouhns 1999). Unter diesen Bedingungen sind gemeinsame Politikziele nur lebensfähig, sofern sie Resultat eines kollektiven, alle Akteure umfassenden Prozesses sind. 3
Die zentralen Institutionen des Koordinierungsprozesses und die Praxis deliberativer Entscheidungsprozesse
Mit dem Eintritt in die dritte und letzte Stufe der WWU Ende der 1990er Jahre haben sich neue Strukturen des Regierens ergeben, die den im ersten Abschnitt skizzierten Besonderheiten des dezentralen Koordinierungsrahmens Rechnung tragen. Dies gilt insbesondere für die Zusammenarbeit auf der Ebene der Finanzminister. Erstmals innerhalb seiner Geschichte wurden die etablierten Strukturen des Ministerrats durch eine neue Arbeitsmethode ergänzt. Die Finanzminister der Euro-Zone treffen sich zusätzlich zu den regulären Ratssitzungen regelmäßig zu Beratungen im kleinen Kreis. Jedes Land ist nur durch seinen Minister und einen Berater vertreten. Darüber hinaus spielt die Anbindung dieser Beratungen auf Ministerebene an die Arbeit zweier Fachausschüsse eine entscheidende Rolle.
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Den Vertragsbestimmungen zufolge ist der ECOFIN-Rat das höchste Entscheidungsgremium innerhalb des wirtschaftspolitischen Pfeilers der WWU. Alle formellen Entscheidungen im Bereich der wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit werden hier getroffen. Dies gilt sowohl für Entscheidungen, die ausschließlich die Länder der Euro-Zone betreffen, als auch für Entscheidungen, die sich auf die gesamte Union beziehen. Dabei stellen die Durchsetzung der Defizitklausel und die Verabschiedung und Implementierung der Grundzüge der Wirtschaftspolitik die wichtigsten Aufgaben des Rats dar. Der Rat hat das Recht, die Einhaltung der rechtlich nicht bindenden Grundzüge durch an einzelne Mitgliedsstaaten gerichtete öffentliche Empfehlungen voranzutreiben (Artikel 99.4, EGV). Mit dem SWP hat der Rat ein Regelwerk erlassen, das die einzelnen Aspekte der multilateralen Überwachung nationaler Politiken und die Anwendung von Verwarnungs- und Sanktionsmechanismen in Bezug auf die Implementierung der Grundzüge und der Defizitklausel regelt. So müssen die Mitgliedstaaten beispielsweise alljährlich Stabilitätsprogramme vorlegen, in denen sie die nationale Umsetzung der gemeinsamen Ziele und Leitlinien darlegen. Der ECOFIN-Rat spielt darüber hinaus eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung der Lissabon-Strategie. Er berichtet dem Europäischen Rat in regelmäßigen Abständen und bereitet die jährlichen Frühjahrstreffen der Staats- und Regierungschefs zum Thema wirtschaftliche Reformen vor. Der ECOFIN-Rat verabschiedet darüber hinaus formelle Berichte zu den Themen Wirtschaftsreformen und wirtschaftspolitische Koordinierung, die durch die beiden für den Bereich der WWU zuständigen Fachausschüsse vorbereitet werden (siehe unten). Trotz dieser im Vertrag vorgesehenen zentralen Stellung des ECOFIN-Rats wurde Ende der 1990er Jahre deutlich, dass eine Stärkung des vorgesehenen Koordinierungsrahmens mit der tatsächlichen Einführung der gemeinsamen Währung unausweichlich war. Die im Vertrag definierten Institutionen und Mechanismen mussten, so die Einschätzung der damaligen Akteure, weiterentwickelt werden, um für die Herausforderungen eines gemeinsamen Währungsraumes gerüstet zu sein. Diese Position wurde erwartungsgemäß insbesondere von den zukünftigen Mitgliedstaaten der Euro-Zone vertreten. Generell herrschte zu diesem Zeitpunkt die Einschätzung vor, dass der ECOFIN-Rat in seiner im Vertrag vorgesehenen Form für die engere Koordinierung der Wirtschaftspolitiken in der Euro-Zone schlecht gerüstet war. Es galt vor allem, eine neue Arbeitsmethode zu finden, die einen stetigen und engen Dialog der zentralen Entscheidungsträger in der Euro-Zone ermöglichen würde. Der Europäische Rat von Luxemburg bereitete im Dezember 1997 den Weg für die Bildung einer informellen Gruppe, die die Finanzminister der Euro-Zone sowie die Vertreter der Kommission und der EZB umfassen sollte. Seitdem existiert die so genannte Eurogruppe als informelles Forum neben den offiziellen Strukturen des Rats. Formell wurde das institutionelle Gefüge der WWU durch diesen Schritt nicht geändert. Substantiell bedeutet dies jedoch die Ergänzung der traditionellen Arbeitsmethoden des Rats um ein weiteres Format. Die Eurogruppe hat ihr eigenes Profil als kleinste Ministerrunde in Brüssel entwickelt. Die Sitzungen folgen der Vorgabe einer begrenzten Anzahl von Teilnehmern. Im Unterschied zu regulären Ratssitzungen wird jedes Land nur durch zwei Mitglieder vertreten. Weitere Beamte oder Diplomaten, die normalen Ratssitzungen beiwohnen, sind von der Teilnahme ausgeschlossen. Durch die reduzierte Mitgliederzahl werden Diskussionen möglich, in denen sich die einzelnen Teilnehmer mit Argumenten und Gegenargumenten aufeinander beziehen können. Diese Praxis steht im Kontrast zu offiziellen Ratssitzungen, in
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denen die Minister oft vorbereitete Sprechzettel verlesen. Das Format der EurogruppenSitzungen reagiert damit auf eine zentrale Schwäche der Treffen des Ministerrats, wie der ehemalige französische Finanzminister Dominique Strauss-Kahn angemerkt hat: “There was a clear need to create something more informal than Ecofin where there are as many as 100 people between ministers and officials. With the Euro-11 there are only 22 members: each minister and one adviser. This means we can have a real exchange of views.” (Interview mit der Financial Times, 12. Februar 1999)
Ein weiterer die offene Diskussion begünstigender Faktor ist die strikte Vertraulichkeit der Debatten. Einzelne Mitglieder der Eurogruppe können daher offen Kritik üben und mögliche Politikoptionen in die Debatte einbringen. Insbesondere die Diskussionen über die nationale Haushaltspolitik und der in der Eurogruppe geführte Dialog mit der EZB wären in einer offeneren Umgebung so nicht möglich. Im Gegensatz zum Rat regiert die Eurogruppe informell. Die Gruppe kann die Ausrichtung nationaler Politiken nur durch informelle Vereinbarungen unter ihren Mitgliedern beeinflussen. Indem die Gruppe zum Beispiel eine gemeinsame Position der Eurozone erarbeitet, kann sie wichtige formelle Entscheidungen im ECOFIN-Rat vorwegnehmen. Dies geschieht regelmäßig im Zusammenhang mit Entscheidungen, die im Rahmen des SWP zu treffen sind. Auf ähnliche Weise kann die Eurogruppe Entscheidungen auf nationaler Ebene koordinieren. Dies setzt allerdings voraus, dass die jeweiligen Minister auf nationaler Ebene die Autorität besitzen, in der Eurogruppe getroffene Vereinbarungen auch innerhalb des eigenen Landes durchzusetzen. Die Ergebnisse des informellen Dialogs können aber auch andere Formen annehmen. So führen die Diskussionen in der Eurogruppe auch dazu, dass sich einzelne Minister in ihrer Haltung bestärkt fühlen, die sie zum Beispiel innerhalb nationaler Kabinette oder Parlamente zu verteidigen suchen. Der ECOFIN-Rat wird durch die Arbeit der Eurogruppe nicht überflüssig. Die Gruppe hat im Gegenteil die Einführung neuer Elemente im Bereich der wirtschaftspolitischen Koordinierung vorangetrieben, die ansonsten im Rahmen des Ministerrats nur schwer vorstellbar wären. Dies drückt sich insbesondere in der multilateralen Überwachung der nationalen Wirtschaftspolitik aus (siehe Puetter 2006). So evaluiert die Eurogruppe regelmäßig die Haushaltslage der Mitgliedsländer der Euro-Zone und diskutiert angemessene Reaktionen nationaler Regierungen. Es hat sich gezeigt, dass diese Form des routinisierten informellen Dialogs einen wichtigen Zusatz zum formell vorgesehenen Koordinierungsrahmen darstellt. Darüber hinaus haben die Beratungen innerhalb der Eurogruppe zur Entstehung und Fortentwicklung eines Grundkonsenses geführt, der Grundlage und Referenzpunkt einzelner Debatten über aktuelle Entwicklungen und Entscheidungen ist. Dies betrifft vor allem die Interpretation zentraler Zielvorgaben, wie etwa die Anwendung der Defizitklausel und die praktische Anwendung der im Vertrag und im SWP vorgesehenen Verfahrensregeln. Wie ein Teilnehmer von Eurogruppen-Sitzungen in Bezug auf das Ziel der Haushaltskonsolidierung bemerkt: “The Eurogroup has been a quantum leap with regard to the achievement of a common understanding of the fundamentals behind EMU. There is now an incredible convergence of views. As the example of xxx [nationality deleted; UP] shows our views have changed. When we started deliberations in the Eurogroup our position could be described as sceptical – if not hostile – as regards consolidation. These paradigm changes would have never been achieved within the context of ECOFIN which is a
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horse trading forum without proper discussions.” (Anonymisiertes Interview mit einem Mitglied der Eurogruppe)
Die wirtschaftspolitische Zusammenarbeit innerhalb der WWU ist zu einem hohen Grad auf Expertenwissen angewiesen. Zwei Fachausschüsse fungieren als Schnittstellen zwischen den verschiedenen nationalen Ministerien, der Kommission und der EZB. Dem WFA und dem WPA gehören hochrangige Beamte und Experten aus den Mitgliedstaaten, der Kommission und der EZB an. Die Ausschüsse bereiten die Arbeit des ECOFIN-Rats und der Eurogruppe vor, stellen Hintergrundinformationen zur Verfügung und bereiten Entscheidungsvorlagen vor. Beide Ausschüsse spielen eine zentrale Rolle in der Umsetzung der für die wirtschaftspolitische Zusammenarbeit charakteristischen weichen Koordinierungsmechanismen. Aufgabe des WFA ist es, die Kommission und den Rat in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen zu unterstützen. Das Mandat des Ausschusses (siehe Artikel 114.2, EGVertrag) umfasst unter anderem die ständige Überwachung der wirtschaftlichen und finanziellen Lage in den Mitgliedsstaaten. Die Kommission und der Rat können den WFA jederzeit auffordern, Stellungnahmen zu bestimmten Sachverhalten vorzubereiten oder die Arbeit der beiden Gemeinschaftsinstitutionen anderweitig zu unterstützen. Der WFA kann zudem auch aus eigener Initiative heraus Stellungnahmen an die beiden Institutionen richten. Neben den Vertretern der Finanzministerien entsenden die Mitgliedsstaaten auch die stellvertretenden Zentralbankpräsidenten in den WFA (zur Änderung dieser Praxis siehe den nächsten Abschnitt). Die Arbeit des WFA bezieht sich im Wesentlichen auf aktuelle oder unmittelbar anstehende Entscheidungsprozesse. Die WFA-Mitglieder aus den nationalen Ministerien sind hohe Beamte, die in ihren Hauptstädten für Fragen der WWU zuständig sind und ihre jeweiligen Minister beraten. Einige haben den Rang eines Vize-Ministers oder Staatssekretärs. In der Regel sind die ranghöchsten nationalen WFA-Mitglieder auch Mitglieder der nationalen Delegationen für die Sitzungen des ECOFIN-Rats und der Eurogruppe. Die Debatten innerhalb des WFA dienen der Vorbereitung von Ministertreffen und sind zugleich ein Test für die stärker politisch orientierten Beratungen der Finanzminister. Dabei folgenden die Diskussionen einem problemlösenden Ansatz. Obwohl der WFA ein wichtiges Forum für die Artikulation nationaler Positionen ist, sind den Statuten des WFA zufolge alle Ausschussmitglieder in ihrem Handeln dem Gemeinschaftsinteresse verpflichtet (Official Journal of the European Union 2003, L 158/59). Während der Ausschusssitzungen wird versucht, so viele technische Probleme wie möglich zu lösen und einen Katalog eher politischer Fragen für die Diskussionen auf Ministerebene vorzubereiten. Durch diesen Ansatz trägt der Ausschuss auch dazu bei, dass die Debatte unter den Ministern stärker auf deliberative Aspekte hin ausgerichtet ist. Dieser Ansatz tritt am deutlichsten an der Vorbereitung von Eurogruppen-Sitzungen durch den WFA hervor. Im Gegensatz zur Tagesordnung von ECOFIN-Ratssitzungen, deren Vorbereitung dem Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedsstaaten obliegt, werden die Sitzungen der Eurogruppe ausschließlich durch den WFA und seine zuständige Arbeitsgruppe betreut. Dadurch schlagen sich die Resultate der Arbeit des Fachausschusses deutlich in den Diskussionen der Minister nieder. Dabei erlaubt das spezielle Format der Eurogruppe auch in umgekehrter Richtung eine bessere Rückkopplung an die Ausschussarbeit. Wie ein Teilnehmer von WFA- und Eurogruppen-Sitzungen deutlich macht:
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“For the EFC it is much more stimulating to present our analysis in such an informal forum [the Eurogroup; UP] because people react more frankly and more directly to what you say. If you do it in ECOFIN you never know what the ministers think about it. You rarely get any direct reactions to what you say. In the Eurogroup it is different.” (Anonymisiertes Interview mit einem Mitglied des WFA und der Eurogruppe)
Die Bedeutung der Arbeit des WFA und der von ihm verfolgten Arbeitsmethode lässt sich besonders gut in Bezug auf seine zentrale Rolle bei der Implementierung der Grundzüge der Wirtschaftspolitik zeigen. Die Diskussionen innerhalb des WFA sind ein wesentlicher Bestandteil des allgemeinen Verfahrens der multilateralen Überwachung. Auf der Grundlage von durch die Kommission bereitgestelltem statistischen Material und gesamtwirtschaftlicher Prognosen diskutiert der Ausschuss in regelmäßigen Abständen die wirtschaftliche Situation und die Haushaltslage der Mitgliedstaaten. Diese Debatten stellen eine wichtige Quelle von peer pressure dar und schlagen sich auch in speziellen vom Ausschuss verabschiedeten Berichten nieder. Zudem berichtet der WFA-Präsident regelmäßig dem ECOFIN-Rat und der Eurogruppe über den Ausgang der Beratungen des Ausschusses in Bezug auf einzelne Tagesordnungspunkte. Die Arbeit des WPA hingegen orientiert sich nicht so deutlich an der aktuellen Tagesordnung des Rats oder der Eurogruppe. Der Schwerpunkt liegt hingegen auf einem stärker reflexiven Ansatz und der Analyse grundlegender wirtschaftspolitischer Herausforderungen. Die WPA-Mitglieder sind daher in der Regel ausgewiesene Experten in ihren jeweiligen Bereichen. In seiner Arbeit berücksichtigt der Ausschuss auch die Auswirkungen wirtschaftspolitischer Entscheidungen auf arbeitsmarkt- und umweltpolitische Fragen. Wie der WFA arbeitet der WPA mit einem auf Problemlösung ausgerichteten Ansatz. Teilnehmern zufolge sind die Diskussionen im WPA weniger politisch als die Debatten im WFA und lassen mehr Raum für technische Überlegungen. Der WPA spielt eine wichtige Rolle beim Entwurf neuer Grundzüge der Wirtschaftspolitik. Insbesondere die Diskussion spezieller Aspekte der auf einzelne Länder bezogenen Kapitel stellt einen wichtigen Schritt hin zum Aufbau eines funktionierenden Systems von peer pressure dar. Ein wichtiger Bestandteil der Arbeit des WPA ist die Diskussion von Strukturenreformen. Im Zusammenhang mit der Lissabon-Strategie spielt der Ausschuss eine zentrale Rolle bei der Durchführung der darin vorgesehenen multilateralen Überwachungsmechanismen. Die Arbeitsmethode des Ausschusses korrespondiert dabei am deutlichsten mit den Merkmalen der Methode der offenen Koordinierung. So untersucht der WPA beispielsweise Kernfragen aktueller Reformprozesse, wie den demographischen Wandel oder die Rolle aktiver Arbeitsmarktpolitik (siehe Economic Policy Committee 2002, 2001). Die hierzu vom Ausschuss erstellten Berichte sind das Ergebnis eines kollektiven Prozesses der Formulierung von Politikoptionen und Leitlinien. Dieser Prozess gründet auch auf gemeinsamem Lernen, das auf der vergleichenden Analyse verschiedener nationaler Ansätze basiert. Anstatt europaweit einheitliche Lösungen zu suchen, konzentrieren sich die Diskussionen auf länder- und kontextspezifische Empfehlungen. Am Ende dieses deliberativen Prozesses stehen entweder individuelle Lernprozesse auf Seiten einzelner Akteure oder gemeinsam definierte Leitlinien und Zielvorgaben. Letztere sind wichtige Referenzpunkte im Rahmen der multilateralen Überwachung. Der WPA veröffentlicht die Ergebnisse seiner Beratung in speziellen Berichten. Zudem berichtet der WPAPräsident regelmäßig dem ECOFIN-Rat.
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Dieser Überblick über den institutionellen Rahmen der wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit innerhalb der WWU hat gezeigt, inwieweit die Arbeitsmethoden der jeweiligen Institutionen an die Besonderheiten des dezentral angelegten Systems kollektiver Entscheidungsfindung angepasst sind. Die Bedeutung weicher Koordinierungsmechanismen und die Notwendigkeit eines breiten Konsenses in Bezug auf die wirkungsvolle Anwendung der wenigen vorgesehenen Sanktionsmechanismen drücken sich insbesondere in den Arbeitsmethoden der Eurogruppe und der Fachausschüsse aus. Wie das Beispiel der Eurogruppe zeigt, impliziert die auf der Ebene der Fachminister seit Maastricht gewachsene Bedeutung enger intergouvernementaler Koordinierungszusammenhänge die Entwicklung neuer Arbeitsmethoden, die von der bisherigen Arbeitsweise des Rats abweichen. Diese Form des Regierens kann am besten als deliberativer Intergouvernementalismus charakterisiert werden, da die erfolgreiche Formulierung und Implementierung gemeinsamer Ziele und Leitlinien von Lernprozessen und der Entwicklung eines informellen Grundkonsenses abhängig ist. Der Fortbestand und die Stärkung dieser Mechanismen im Rahmen einer erweiterten EU, die einen deutlichen Anstieg der Akteurszahl bedeutet, werden daher als wichtigste Herausforderung für die Stabilität des oben skizzierten institutionellen Rahmens gesehen. Diese Analyse steht im Gegensatz zu Ansätzen, die die intergouvernementale Zusammenarbeit innerhalb der WWU im Wesentlichen als Resultat strategisch ausgehandelter Kompromisse begreifen (siehe Campanella 2000 und Hosli 1996). Aus dieser Perspektive impliziert die substantielle Erweiterung der Union vor allem eine radikale Veränderung der Kräfteverhältnisse im Ministerrat. Entsprechend müssten sich neue Forschungsvorhaben vor allem auf die Anpassung formeller Entscheidungsprozesse richten. Dies könnte eine Änderung der Stimmengewichtung im Ministerrat oder die Formalisierung der Eurogruppe im Sinne eines separaten ECOFIN-Rats der Eurozone bedeuten. Etablierte Strukturen und vorherrschende Kräfteverhältnisse innerhalb der Eurozone würden so wenigstens mittelfristig von den Auswirkungen des Erweiterungsprozesses isoliert. Die obige Analyse des bestehenden institutionellen Rahmens der wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit hat jedoch gezeigt, dass in diesem Bereich formelle Entscheidungsprozesse nur eine untergeordnete Rolle spielen beziehungsweise nur im Zusammenhang mit weichen Formen der Koordinierung verstanden werden können. Darin weicht die wirtschaftspolitische Zusammenarbeit von Bereichen ab, die durch die Gemeinschaftsmethode regiert werden. Die These, dass die wirtschaftspolitische Zusammenarbeit im Rahmen der WWU von deliberativ ausgerichteten Entscheidungsprozessen abhängig ist, impliziert keinesfalls die Annahme, dass sich solche Prozesse quasi von selbst entfalten. Es wäre zudem irreführend, bestehende Institutionen im Lichte der Idee einer europäischen Wirtschaftsregierung mit starken supranationalen Befugnissen zu betrachten. Es kommt hingegen darauf an, auf institutioneller Seite die für deliberative Prozesse konstitutiven Rahmenbedingungen zu schaffen und diese im neuen Umfeld einer erweiterten Union aufrechtzuerhalten. Ansätze zu sozialen Lernprozessen innerhalb von interinstitutionellen Beziehungen und internationalen Policy-Netzwerken (für einen Überblick siehe Kissling-Näf/Knoepfel 1998), sowie Ansätze zur Rolle argumentativen Handelns im Rahmen internationaler Verhandlungen (Müller 2004) bieten wichtige Einsichten in die Entwicklung deliberativer Elemente von Entscheidungsprozessen. Diese Literatur kann als Grundlage für die Formulierung von Hypothesen zur Bedeutung einzelner Aspekte der von der Eurogruppe und den Fachausschüssen angewandten Arbeitsmethoden dienen. In der vorliegenden Forschung herrscht große Übereinstimmung, dass eine begrenzte Teilnehmerzahl, die Vertraulichkeit
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der Sitzungen sowie der Fokus auf substantielle und technische Fragen deliberative Prozesse befördern und zu konsensorientiertem Verhalten führen. Weitere entscheidende Faktoren sind die gleichberechtigte Teilnahme am Dialog, der Bezug der Diskussionen auf als gemeinsame Probleme definierte Sachverhalte, die Flexibilität der Tagesordnung sowie die Existenz gemeinsamer Grundüberzeugungen und eine Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens. Bisher wurde das Ausschusswesen der EU im Wesentlichen aus einer Perspektive des „deliberativen Supranationalismus“ (Joerges 2002) analysiert. Das heißt, dass deliberative Elemente des Entscheidungsprozesses als wichtige Legitimationsgrundlagen von Gemeinschaftsrecht angesehen werden und somit formelle Entscheidungen flankieren, um ihre reibungslose Implementierung sicherzustellen. Die Betrachtung der Arbeit des WFA und WPA konnte hingegen zeigen, wie diese beiden Ausschüsse die Entwicklung deliberativer Interaktionsformen und kollektiver Lernprozesse begünstigen und damit weiche, nicht formell verbindliche Koordinierungsprozesse stabilisieren und effektiver gestalten. Darüber hinaus zeigt die enge Zusammenarbeit zwischen dem WFA und der Eurogruppe eine weitere Alternative zur gegenwärtigen Praxis der Vorbereitung von Ratssitzungen auf, da die Verbindung von Expertendiskussionen und politischen Erörterungen auf Ministerebene gestärkt wird. Bisher schienen deliberative Entscheidungsprozesse im Wesentlichen auf die Sphäre von Expertengremien beschränkt zu sein. Diesen Zirkeln fehlt es in der Regel jedoch an der nötigen politischen Autorität, die Implementierung erarbeiteter Politikalternativen auch durchzusetzen. Insofern ist eine stärkere Verbindung von Experten- und Ministerebene von großer Bedeutung. Mit der Erweiterung der Union werden bestimmte Grundvoraussetzungen dieser Arbeitsmethoden in Frage gestellt. Eines der größten Probleme ist dabei die deutlich gewachsene Zahl der Akteure im Entscheidungsprozess. Es ist zu erwarten, dass dies den Charakter der Diskussionen verändern wird. Dies betrifft insbesondere die beschränkte Möglichkeit zur Interaktion und den gleichberechtigten Zugang zum Dialog. Zudem hat die obige Analyse gezeigt, dass ein unter den beteiligten Akteuren vorherrschender Grundkonsens, der sich erst im Zeitverlauf herausbildet, für das Funktionieren von peer pressure entscheidend ist. Die Hauptfrage ist hier, ob die Einbindung einer Vielzahl neuer Akteure zu ein und demselben Zeitpunkt diesen Konsens als Arbeitsgrundlage in Frage stellt. Schließlich setzt die Arbeit in den oben analysierten Gremien bestimmte administrative Ressourcen in den beteiligten nationalen Ministerien voraus. Der folgende Abschnitt untersucht diese Fragen im Rahmen des Konvents und der Regierungskonferenz. 4
Die WWU und der Erweiterungsprozess: die Arbeit von Konvent und Regierungskonferenz
Die Einberufung des EU-Verfassungskonvents setzte einen Diskussionsprozess über den institutionellen Rahmen der wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit in einer erweiterten Union in Gang. Dabei wurden im Wesentlichen zwei Fragen diskutiert: ist die dezentrale Verfasstheit des wirtschaftspolitischen Pfeilers der WWU weiterhin angemessen und werden seine Institutionen und Arbeitsmethoden in einer Union mit 25 und später 27 Mitgliedern funktionieren? Wie werden die Staaten der Euro-Zone darauf reagieren, dass sie in der ersten Phase unmittelbar nach der Erweiterung zahlenmäßig in der Minderheit sind?
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Die Auftaktsitzung des Verfassungskonvents am 28. Februar 2002 in Brüssel stieß einen weiterreichenden Diskussionsprozess an, der nicht auf die Sitzungen des Konvents beschränkt blieb. Er bezog die Kommission, die Finanzminister innerhalb der Eurogruppe und des ECOFIN-Rats, den WFA und eine eigens eingerichtete Konventsarbeitsgruppe zum Thema Ordnungspolitik mit ein. Im Folgenden wird diese Diskussion kurz nachgezeichnet und aufgezeigt, wie sich die Ergebnisse in den vom Konvent und der Regierungskonferenz verabschiedeten Entwürfen des Verfassungsvertrags, sowie einer vom ECOFINRat beschlossenen Abänderung der Statuten des WFA und WPA niederschlugen. Innerhalb der Kommission fand bereits sehr früh ein interner Meinungsbildungsprozess statt. Schon im März 2002 hatten alle Mitglieder der Kommission ihre Ansichten über einen künftigen Verfassungsvertrag dargelegt. Dieser vertrauliche Meinungsaustausch betraf auch Fragen der wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit innerhalb der WWU. Innerhalb der Generaldirektion für Wirtschaft und Finanzen wurde zudem ein detaillierter Bericht über die möglichen Auswirkungen des Erweiterungsprozesses auf das Funktionieren der WWU-Institutionen erstellt. Diese Vorbereitungen versetzten den damaligen Kommissar für Wirtschaft und Finanzen Pedro Solbes in die Lage, durch einen eigenen Vorstoß die folgende Debatte in Gang zu setzen. Er nutzte eine Rede vor dem Brüsseler Wirtschaftsforum Anfang Mai 2002, um seine Vorstellungen über einen künftigen Verfassungsrahmen zu erläutern. Kommissar Solbes unterstrich dabei, dass ein dezentraler, auf gegenseitiger Überzeugungsarbeit und peer pressure beruhender institutioneller Rahmen nach wie vor die angemessene Grundlage für die wirtschaftspolitische Zusammenarbeit innerhalb der WWU konstituiere. Die institutionellen Änderungen sollten so gering wie möglich sein und sich ausschließlich auf die Folgen des Erweiterungsprozesses konzentrieren. Solbes nannte vier Schwerpunktthemen, welche in der Tat die nachfolgende Diskussion bestimmten. Die Frage der Stärkung der Rolle der Kommission im Hinblick auf die Implementierung der Defizitklausel und die Grundzüge der Wirtschaftspolitik stand dabei an erster Stelle. Solbes forderte, die Kommission müsse das Recht erhalten, an Stelle bloßer Empfehlungen Vorschläge auszusprechen, um auf diese Weise mehr Druck auf einzelne Mitgliedsstaaten ausüben zu können. An zweiter Stelle stand für Solbes die Frage der Eurogruppe. Seiner Ansicht nach habe die Gruppe durch ihre „informal and confidential nature has contributed to an improvement of the coordination through frank and open discussions. However, the question whether the current institutional set up remains appropriate for an EMU where a significant number of countries will not be members of the euro area for a period of time remains open. We should think about possibilities of different Council formats to respond to two objectives: to preserve the Community nature of the economic policy coordination and to respond to the different requirements of euro area/non euro area members. The need to have informal very restricted policy discussions should also be considered.” (Solbes 2002)
Solbes warf drittens die Frage nach der Legitimität des existierenden institutionellen Rahmens auf, der dem Europäischen Parlament keinerlei Entscheidungsbefugnisse einräumt. Schließlich forderte der Kommissar, die Außenvertretung der WWU in den internationalen Finanz- und Wirtschaftsinstitutionen zu verbessern. Diese vier Punkte wurden auch in einer offiziellen Kommissionsmitteilung dokumentiert, die dem Konvent Ende Mai 2002 übermittelt wurde (European Convention 2002a: 10).
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Solbes Konferenzrede löste unmittelbar eine Diskussion zwischen den EUFinanzministern aus, die Reformvorstößen in diesem Bereich bereits anlässlich vorangegangener Regierungskonferenz kritisch gegenübergestanden hatten. Noch im selben Monat beauftragten die Minister den WFA mit der Ausarbeitung eines Hintergrundpapiers. Auf dem Treffen der Eurogruppe im Juni 2002 kam es zu einer ersten Orientierungsdebatte. Es wurde der Vorbehalt geäußert, dass die von Solbes vorgeschlagene Einführung eines eigenen Fachrats für die Euro-Zone mit formeller Entscheidungskompetenz kontraproduktiv sein könnte. Es wurde befürchtet, dass ein solches Gremium negative Auswirkung auf die informellen Diskussionen innerhalb der Eurogruppe haben und die Einheit des Ministerrats gefährden könnte. Die Respektierung des Rats als zentralem Entscheidungsgremium aller Mitgliedstaaten wurde als Grundlage einer funktionierenden Zusammenarbeit mit den Nicht-Euro-Staaten angesehen. Wie schon anlässlich der letzten beiden Regierungskonferenzen entschieden sich die Minister im Hinblick auf mögliche institutionelle Anpassungen in ihren Diskussionen sehr schnell für einen konservativen Ansatz. Sie unterstrichen die Notwendigkeit eines dezentral ausgerichteten institutionellen Rahmens und äußerten sich skeptisch zu der geforderten Stärkung der Wächterrolle der Kommission. Die Diskussion zwischen den Ministern wurde auf der Grundlage von WFA-Vorlagen im Rahmen der so genannten ECOFIN-Luncheons fortgesetzt. Sehr schnell zeichnete sich ein breiter Konsens in der Frage der Erhaltung des informellen Charakters der Eurogruppe ab. Dabei versuchten die Finanzminister die Frage erweiterter exklusiver Entscheidungskompetenzen für die Eurozone von der Frage des künftigen Status der Eurogruppe zu entkoppeln. Anstelle eines separaten Fachrats für die Eurozone bevorzugten die Minister eine ausgeweitete Anwendung der Regel, derzufolge die übrigen EU-Mitgliedsstaaten bei bestimmten Sachverhalten, die ausschließlich die Eurozone selbst betreffen, im Rat kein Stimmrecht haben. Diese Lösung erlaubte die Bewahrung des informellen Charakters der Treffen der Eurogruppe und verhinderte eine Aufspaltung des Ministerrats. Hingegen sahen die Minister Spielraum bei der Verbesserung der Arbeitsmethode der Eurogruppe. Sie begrüßten vor allem die generellen Überlegungen im Konvent, das System der halbjährlich wechselnden EU-Präsidentschaft zu ändern und forderten einen auf zwei Jahre gewählten Präsidenten für das informelle Gremium. Schließlich warfen die Minister und Mitglieder des WFA und WPA die Frage nach einer Reduktion der Mitgliederzahl in den beiden Ausschüssen auf. Anfang Juni 2002 kam die Konventsarbeitsgruppe „Ordnungspolitik“ zu ihrer ersten Sitzung zusammen. Im Verlauf der folgenden Treffen wurde deutlich, dass der konservative Ansatz in Bezug auf institutionelle Veränderungen im wirtschaftspolitischen Pfeiler der WWU von einer Mehrheit der Arbeitsgruppenmitglieder geteilt wurde. Die Debatten folgten den von Solbes aufgeworfenen Themen. Mehrere Mitglieder der Arbeitsgruppe verlangten eine Formalisierung der Eurogruppe im Sinne des Solbes-Vorschlags. Zudem sprach sich eine klare Mehrheit für eine stärkere Rolle der Kommission im Rahmen von Defizitverfahren aus. Es wurde empfohlen, der Kommission das Recht einzuräumen, an Defizitsünder so genannte Frühwarnungen direkt zu übermitteln. Gegenwärtig kann eine solche Verwarnung nur durch den Rat beschlossen werden. Weiterhin gab es auch Verbindungen zwischen den voneinander unabhängig geführten Diskussionen der Finanzminister einerseits und der Konventsarbeitsgruppe „Ordnungspolitik“ andererseits. Der Präsident des WFA Jonny Åkerholm warb anlässlich einer Anhörung durch die Arbeitsgruppe für die Position der Finanzminister. Im Gegenzug wurde der Vor-
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sitzende der Konventsarbeitsgruppe Klaus Hänsch zu einem informellen Treffen des ECOFIN-Rats eingeladen und berichtete dort über die Beratungen innerhalb seines Gremiums. Der Abschlussbericht der Arbeitsgruppe anerkannte bereits die Notwendigkeit einer Erhaltung der Eurogruppe als Forum für informelle Diskussionen (European Convention 2002b: 7) – wie von den Finanzministern bevorzugt. Der Konvent unterzeichnete seinen Entwurf des Verfassungsvertrags am 13. Juni 2003. Der Entwurf übernimmt im Wesentlichen die Bestimmungen zur WWU wie sie mit dem Vertrag von Maastricht eingeführt wurden. Dennoch kam es zu einer Reihe kleinerer Korrekturen. So sieht der Entwurf das oben erwähnte Recht der Kommission vor, Defizitsünder direkt zu verwarnen. Ebenso stärkt er die Rolle der Kommission bei der Umsetzung von Defizitverfahren. So kann sie in einer direkten Stellungnahme an den betroffenen Mitgliedstaat die Existenz eines übermäßigen Defizits feststellen. Der Konventsentwurf sieht auch den Erhalt des informellen Status der Eurogruppe vor. Diese wird jedoch nun auch im Vertrag erwähnt und würde damit nicht länger außerhalb des offiziellen Gemeinschaftsrahmens existieren – wie dies zurzeit der Fall ist. Dazu ist ein an den Vertrag angefügtes Protokoll vorgesehen, das die Eurogruppe als informelles Forum der Länder der Eurozone, der Kommission und der EZB definiert. Das Protokoll regelt zudem die Vorbereitungen der Treffen und sieht einen auf zwei Jahre gewählten Präsidenten vor. Damit schreibt das Protokoll im Wesentlichen die gegenwärtige Praxis informeller Treffen fest. Die Idee einer Formalisierung der Gruppe im Sinne eines offiziellen Entscheidungsgremiums wurde damit fallen gelassen. Zudem formalisiert der Vertragsentwurf eine andere, ebenfalls bereits bestehende Praxis. In Bezug auf die Verabschiedung der die Eurozone betreffenden Kapitel der Grundzüge der Wirtschaftspolitik im Ministerrat haben ausschließlich die Staaten der Eurozone ein Stimmrecht. Des Weiteren klärt der Entwurf die Frage der Außenvertretung der gemeinsamen Währung, die lange Zeit zwischen Rat und Kommission umstritten war. Fortan soll ausschließlich der Rat auf Vorschlag der Kommission entscheiden. Die Regierungskonferenz übernahm diese Änderungsvorschläge mit einer Ausnahme: Die vom Konvent vorgesehenen erweiterten Kompetenzen der Kommission im Rahmen der Implementierung der Defizitklausel wurden abgeschwächt. Die Kommission erhält nun nicht, wie zunächst vom Konvent vorgesehen, ein formelles Vorschlagsrecht in Bezug auf die Verabschiedung von Korrekturempfehlungen für Defizitsünder. Ungeachtet der Regierungskonferenz und der darauf folgenden Schwierigkeiten bei der Ratifizierung des Verfassungsvertrags traten die ersten Maßnahmen, welche die Institutionen der WWU auf die Erweiterung vorbereiten sollten, bereits eine Woche nach der Unterzeichnung des Vertragsentwurfes durch den Konvent in Kraft. Der ECOFIN-Rat hatte im Rahmen seiner eigenen Gesetzgebungskompetenzen neue Statuten für den WFA und den WPA erlassen. Dabei wies der Rat bei seinen Entscheidungen explizit auf die Notwendigkeit hin, die Arbeitsmethoden der beiden Fachausschüsse an die Bedingungen einer erweiterten Union anzupassen: “(5) The Economic and Financial Committee should continue to work effectively after the enlargement. (6) It is important to preserve the elements which have contributed to the Committee’s efficiency. (7) This will require an adjustment of the Committee’s working methods.” (Official Journal of the European Union 2003, L 158/58)
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Die bis dahin geltenden Regeln für die Zusammensetzung nationaler Delegationen wurden geändert und die Zahl der Repräsentanten um je die Hälfte reduziert. Im Falle des WFA nehmen die Vize-Präsidenten der nationalen Zentralbanken nicht länger an regulären Ausschusssitzungen teil. Für den WPA wurde die Größe der nationalen Delegationen von vier Vertretern je Mitgliedstaat auf zwei gesenkt. Damit wird der mit der Erweiterung verbundene Anstieg der Mitgliederzahl mehr als kompensiert. Im Juli 2003 nahmen dann erstmals Vertreter der Beitrittsländer als Beobachter an den Sitzungen der beiden Ausschüsse teil. 5
Schlussfolgerungen
Der Verfassungskonvent und die folgende Regierungskonferenz haben keine Veranlassung gesehen, den dezentral angelegten institutionellen Rahmen der wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit vor dem Hintergrund der Erweiterung der Union grundlegend zu ändern. Zu einem System, das die Souveränität der einzelnen Mitgliedsstaaten in diesem Politikfeld formell bestehen lässt, wird nach wie vor keine Alternative gesehen. Dieser Sachverhalt wird vor allem daran deutlich, dass die Versuche, die Rolle der Kommission zu stärken, nicht zum Erfolg führten. Obwohl die vorgeschlagenen Maßnahmen nur relativ geringfügige Veränderungen bedeutet hätten, verteidigten die Mitgliedsstaaten argwöhnisch ihre bestehenden Kompetenzen. Damit bleiben die zentralen Koordinierungsmechanismen durch intergouvernementale Strukturen bestimmt. So wurde etwa der Kommission ein Vorschlagsrecht bei der Erstellung neuer Grundzüge der Wirtschaftspolitik mit dem Argument verwehrt, dass diese Grundzüge den Mitgliedsstaaten „gehören“ müssten, um wirkungsvoll sein zu können. Nur dann, wenn die Grundsätze durch einen auf allen Ebenen kollektiven Entscheidungsprozess beschlossen würden, böte sich die Möglichkeit einer erfolgreichen Implementierung. Die Präferenz für eindeutig intergouvernementale Entscheidungsstrukturen erklärt auch die unverändert schwache Stellung des EP in diesem Bereich. Die Diskussion um eine Ausweitung der Alleinentscheidungskompetenzen der Eurozone zeigte erneut, wie wichtig die Wahrung der Einheit der Gemeinschaftsinstitutionen ist. Anlässlich früherer Regierungskonferenzen scheiterten solche Bemühungen insbesondere am Widerstand der Nicht-Euro-Länder Großbritannien und Schweden. Die relativ geringfügige Ausdehnung der Themenfelder, in denen die Stimmrechte der Nicht-Euro-Länder bei Abstimmungen im Rat eingefroren werden, zeigt allerdings, dass es im gegenwärtigen dezentralen System nur wenige formelle Entscheidungskompetenzen gibt, die sich gegebenenfalls auf die Eurozone übertragen ließen. Folglich finden sich die wichtigsten Auswirkungen der erfolgten Anpassungen außerhalb des Bereichs der formellen Entscheidungsfindung. Es sind die Rahmenbedingungen der informellen und deliberativen Elemente des Koordinierungsprozesses, die in der unmittelbaren Phase nach der erfolgten Erweiterung entscheidend sind. Die Erwähnung der Eurogruppe im Verfassungsvertrag und die Erstellung eines separaten Protokolls, das die Arbeit des informellen Gremiums reguliert, sind daher äußerst wichtig. Über diese Formalisierung informeller Praxis tritt die Eurogruppe aus der rechtlichen Grauzone heraus, in der sie als ein Gremium außerhalb der Gemeinschaftsinstitutionen bisher existierte. Gleichzeitig sichert dieser Schritt den Fortbestand eines engen und stetigen informellen Dialogs zwischen den Hauptakteuren innerhalb der Eurozone und stärkt so das im Wesentlichen auf nationaler Selbstverpflichtung basierende dezentrale Entscheidungssystem. Das Protokoll formalisiert auch die entscheidende Verbindung zwischen der Arbeit des WFA und der
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Eurogruppe. Ein weiterer Schritt sollte nun darin bestehen, die Transparenz der Arbeit der Eurogruppe durch weitere Maßnahmen zu erhöhen. So wäre es sinnvoll, wenn der nun auf zwei Jahre gewählte Präsident der Gruppe auch nationalen Parlamenten regelmäßig über die Arbeit des Gremiums berichtet. Bisher war dies nicht möglich, da eine solche Praxis der Gruppe einen offiziellen Status eingeräumt hätte, den sie aufgrund der rechtlichen Implikationen nicht haben durfte. Ebenso ist die Abänderung der Statuten des WFA und WPA entscheidend. Beide Fachausschüsse spielen eine Schlüsselrolle für das Funktionieren der für die wirtschaftspolitische Zusammenarbeit charakteristischen weichen Koordinierungsformen. Innerhalb des WPA wird sogar bereits über eine weitere Reduktion der Mitgliederzahl nachgedacht, um den Diskussionsprozess auch angesichts der stark gewachsenen Zahl der Mitgliedsstaaten nicht zu gefährden. Dem Ausschuss kommt eine zentrale Rolle bei der Diskussion von Strukturreformen in einer erweiterten Union zu. Nichtsdestotrotz fehlt die Perspektive für ein der Eurogruppe ähnliches Forum für einen engen und stetigen informellen Dialog auf Ministerebene, das alle 25 Mitgliedsstaaten einbezieht. Der ECOFIN-Rat ist durch die Erweiterung vollends unfähig geworden, als Diskussionsforum zu fungieren. Dies stellt insbesondere mit Blick auf die Umsetzung der Lissabon-Strategie und die Integration der neuen Mitgliedsstaaten in die Eurozone ein Problem dar. Dabei ist insbesondere die Gefahr, dass sich einzelne neue Mitglieder vom Ziel eines Beitritts zur Eurozone mittelfristig wieder abwenden, lange Zeit völlig unterschätzt worden. Literatur Brouhns, Grégoire, 1999: La coordination des politiques dans l’UEM et le role de l’Euro 11, Ministère des Finances Belgique, Service d’Etudes et de Documentation 59: 2. Campanella, Miriam L., 2000: The battle between ECOFIN-11 and the European Central Bank: A strategic interaction perspective, in: Cowles, Maria Green/Smith, Michael (Hrsg.): The state of the European Union – risks, reform, resistance, and revival, Oxford, S. 110-126. Economic Policy Committee, 2003: Key structural challenges in the acceding countries: The integration of the acceding countries into the Community’s economic policy co-ordination processes, Report by the EPC working group on enlargement as adopted by the ECOFIN Council on 15 July 2003, Brussels, http://europa.eu.int/comm/economy_finance/publications/occasional_papers/2003/ocp4en.pdf. Economic Policy Committee, 2002: Draft Joint Report from the Commission and the Council: Report requested by the Stockholm European Council, Increasing labour-force participation and promoting active ageing (Report prepared by the Commission and the Council, examined by the Employment Committee, the Economic Policy Committee, and the Social Protection Committee), Brussels, http://europa.eu.int/comm/economy_finance/epc/documents/envir02_en.pdf. Economic Policy Committee, 2001: Report on budgetary challenges posed by ageing populations: the impact on public spending on pensions, health and long-term care for the elderly and possible indicators of the long-term sustainability of public finances, Brussels, http://europa.eu.int/comm/economy_finance/publications/pdfinfo_en.htm. European Convention, 2002a: Communication from the Commission to the Convention, 22 May 2002: A project for the European Union, CONV 229/02, Brussels, 3 September 2002, http://european-convention.eu.int. European Convention, 2002b: Final report of Working Group VI on Economic Governance, CONV 357/02, Brussels, 21 October 2002, http://european-convention.eu.int.
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Introduction
The cohesion policy of the European Union might be understood as a form of redistribution, based on the recognition of the fact that the neoliberal project of the single market is not equally beneficial for all, as it was believed to be the case initially. It came about as a result of gradual realisation that there are social groups (e.g. the unemployed, those employed in agriculture or shipbuilding, the elderly, the young, women and ethnic minorities) as well as geographical areas (poorer countries and regions which at a certain point in time started to enter the EC) which found it difficult to compete in the context of the European single market. As a result, the structural funds, the cohesion fund and the community initiatives were developed to address these target groups. Sadly, it is widely believed in the general public, especially in the new member states, that the resources available within cohesion policy are vast, and that they enable member states to catch up with the community average almost ‘automatically’. Not surprisingly, this is not the case. Looking at the actual numbers we find that some 0,43% of the total GDP of the EU15 was spent on cohesion policy in the 2000-2006 financial perspective. This has decreased to 0,38% in the 2005 December Council compromise on the 2007-2013 financial perspective, for 25 member states, now 27. Thus solidarity is decreasing in a Europe that is enlarging. In terms of actual effect on the economies of the EU, it makes sense to contrast the figure for cohesion policy with state aid figures. The results are surprising. In fact member states admittedly spent some 1,5% of their GDP1 on state aid in the years around 2000. It is important to add that this is a figure they admit to, and given the strict restrictions on state aid in the framework of the EU’s competition policy, the actual figure, taking into account hidden aid, might be even higher. Also, the European average indicates that some member states are spending even higher amounts (most likely the Northern European, while others clearly less). In this light the resources of cohesion policy are far less likely to influence the functioning of the Single Market as state aid. 2
The origins of cohesion policy
Looking back historically, we find that after the signing of the Treaty of Rome it was not considered necessary to develop a common regional policy. In its preamble the Treaty speaks about decreasing territorial disparities and the backwardness of disadvantaged areas, not stating whether this should take place through national or Community policies, or a combination of the two. The spatial structure of the founding states of the EC was relatively homogenous. It only became clear gradually that economic integration might further dete1
EC Third Report on Economic and Social Cohesion: A new partnership for cohesion. Convergence, competitiveness, cooperation (European Commission; Brussels, 2004)
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riorate the situation of peripheral and less developed regions, and that there is a need to create common programmes on Community level to strengthen social and economic cohesion. A Regional Policy Directorate General was formed after 1967, which proposed the creation of a European Regional Development Fund in 1969. Member states of the EC were divided. Most in favour was Italy, the main beneficiary of previous regional-type subsidies from the Community. France wanted to reserve regional policy as a task of the European Investment Bank, and preferred the Commission to have nothing to do with it. Germany wanted a limited form of regional policy, mostly in the area of agricultural subsidies, while the Belgian government was convinced that a common regional policy would act against similar national initiatives. Regional policy received more attention in the 1970s as a result of two events: the first enlargement which brought in Ireland, whose economy was hugely disadvantaged compared to the rest of the Community, and the focus on industrial and competition policy, which highlighted the differences between boom and backward regions of the Community. The budget of the European Regional Development Fund, finally created in 1975, was divided according to national quotas. The size of the budget was limited, national quotas were inflexible, additionality was not strictly defined, and national governments often saw these resources as returns from their contributions to the Community. In a 1977 report on regional policy the Commission proposed reforms. As a result, after the 1979 reform of regional policy, 5% of the budget outside the national quotas was distributed amongst regions that were negatively affected by Community policies. Throughout the eighties we can observe a great deal of tension between member states and the Commission. The latter clearly saw regional policy as a way of decreasing the power of national governments, which was recognised and resented by these governments. Another tension exists between economic integration and territorial equality. Structural policies might be thought of as compensation for the economic liberalisation of the EC. The measures designed to build a single internal market and later an economic and monetary union are the market and competition oriented by nature. Such strong economic competition in an ever-increasing market clearly benefits those actors (quite a few of which are territorial), who are in a more advantageous position, and might badly hit those who are in peripheral or disadvantaged positions. Liberalisation therefore needs to be accompanied by measures that create the preconditions for economic and social development in these peripheral areas as well. Reforms of the Structural Funds took place in 1988 and 1993 (Bachtler/Mitchie 1994). The first wave was provoked by the accessions of Greece, Spain and Portugal, once again poorer member states like Ireland. It basically included a shift away from projects based on support to programming, an increase in the size of the budgets, and greater coordination between the different funds. It brought in the main principles that characterise the structural funds today: partnership, programming, concentration, and additionality. The 1993 reform came about as a result of the measures outlined in the Single European Act, which outlined the creation of a single internal market by 1992. It further increased the share of structural policies in the EU budget, and brought in the so-called Cohesion Fund in order to enable the four poorer member states of the Union to take part in monetary union by the second half of the decade. This second reform also brought in the principle of solidarity.
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The preamble of the EC Treaty expresses the intention to unite national economies of the member states and to promote their harmonious development. In order to do so the economic differences between the regions of these member states have to be reduced. The EU’s structural and regional policies aim at achieving these goals by strengthening the economic power and thus integrating disadvantaged regions in the internal market. They also try to reintegrate problematic groups into the labour market and to prevent their social exclusion. A further goal is to ensure the income of agricultural enterprises, preventing the depopulation of already thinly populated areas by facilitating structural change in the agricultural sector. In the 2000-2006 period the instruments of cohesion policy included four structural funds and the Cohesion Fund. The most important regulations related to the use of the structural funds are laid out in 1260/1999/EC of 21 June 1999, on the general legal framework of the Structural Funds, as well as 1685/2000/EC of 28 July 2000, on the implementation of 1260/1999/EC. The European Social Fund (ESF) was established in 1960, and has since become a powerful instrument of labour market policy. The EU currently has no social policy as such, only a so-called ‘social dimension’ that focuses mostly on active rather than passive social policy measures. The activities of the ESF focus on vocational training and employment assistance. It finances and promotes measures intended to facilitate access to the labour market, promote equal opportunities, develop job qualifications, and create new employment. It finances employment subsidies, vocational training, as well as research and development. ESF supports activities functioning within the framework of the European Employment Strategy and the National Employment Action Plans. Regulations related to the European Social Fund are laid down in European Commission and Council Regulation 1784/1999/EC of 21 July 1999. The ESF is definitely of great relevance to the new member states, many of whom suffer from high levels of unemployment, low participation rates, and large agricultural populations which are likely to increase the number of the unemployed. Employment is therefore an area where the interests of the older and the new member states coincide. Agricultural aspects of cohesion policy are dealt with in the framework of the European Agricultural Guidance and Guarantee Fund, divided into two sections, the Guarantee Section and the Guidance Section. The Guarantee Section finances payments within the framework of the EU’s Common Agricultural Policy (CAP). The Guidance Section of the European Agriculture Guidance and Guarantee Fund (EAGGF) (1962) supports the adjustment of agricultural structures and rural development measures. It promotes and finances agricultural development measures, environmental protection measures in agriculture, preventive measures against natural catastrophes in extremely peripheral areas, as well as measures for village renovation and the safeguarding of the countryside. Regulations related to the EAGGF are laid down in Regulation 1257/1999 of the European Commission and Council. Agriculture is an area which has been widely believed to be a priority in the new member states. In reality, the picture is more heterogeneous. Certain CEE states (primarily Poland and Romania) share an interest with some older members to sustain the level of agricultural spending, while others (such as the Czech Republic, Slovenia or Hungary) would be just as happy to spend CAP funds on more productive uses such as competitiveness. In fact, opinion is shifting even in Poland, and CAP is seen less and less as a way of
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pacifying farmers, and more as a hindrance that conserves the dominantly agricultural character of the Polish countryside. The European Regional Development Fund (ERDF – 1975) has the role of contributing to the diminishing of regional disparities within the European Union. It finances and promotes productive investments, infrastructure measures for development or restructuring, local development initiatives and the activities of small and medium sized enterprises (SMEs), Trans-European Networks (TENs), research and development (R&D), as well as measures in the healthcare and educational sectors of strongly disadvantaged areas. Regulations related to the European Regional Development Fund are laid down in Regulation 1783/1999/EC of 21 July 1999. The Financial Instrument for Fisheries Guidance (FIFG, 1993) was created to facilitate the structural adjustment of the fisheries sector. Measures related to FIFG are laid down in Regulation 1263/1999 of the European Commission and Council. In the 2000-2006 financial perspectives there have been three objective areas for support from the Structural Funds. They were2:
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Objective 1 (General Regulation: Recital no. 22, Articles 3 and 6): Support for the “development and structural adjustment of less developed regions” whose GDP per capita is below 75 % of the Union average. (Also former Objective 6 areas with an extremely low population density in Finland and Sweden, as well as remote regions.) These regions might benefit from ERDF, ESF, EAGFF Orientation Section and FIFG. With the exception of a few capital cities (namely Ljubljana, Prague and Bratislava), all NUTSII regions in the Central European and Baltic new member states were eligible for funding under Objective 1 between 2004 and 2006. After 2007, further regions will have exceeded the 75% limit, most notably the Central Hungarian region, which includes Budapest. Objective 2 (General Regulation: Recital no. 15, Articles 4 and 6): Supports the “economic and social conversion of areas facing structural difficulties” and restructuring needs of those who do not benefit from objective 1. These include areas with industrial decline, which have an unemployment rate above the Community average, a higher proportion of jobs in the industrial sector than the Community average, as well as a decline in industrial employment. Fragile rural areas are also entitled if they have a low population density or a large proportion of the workforce employed in agriculture, together with a high rate of unemployment or a depopulation trend. Also urban areas that fulfil one of the following five criteria: high long-term unemployment rate, a high level of poverty, environmental problems, high crime and delinquency rates, or a low level of education. Finally, also areas dependent on fisheries coupled with a decline in employment in this sector. The two structural funds involved in objective 2 are the ESF and the ERDF. Objective 3 (General Regulation: Recital no. 8, Articles 5 and 13): Development of human resources – supports the “adapting and modernising policies and systems of education, training and employment”. It promotes active labour market policies to reduce unemployment, improves access to the labour market, with a special emphasis on people threatened by social exclusion. It helps to enhance employment opportunities
Commission of the European Communities 1999.
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through education and lifelong learning, promotes the identification of social and economic changes in advance, as well as equal opportunities for men and women. Member states have also been entitled to take part in four Community initiatives (General Regulations: Articles 20 and 21). These are special financial instruments of the structural funds policy which the Commission proposes that the member states adopt in order to support measures that will help resolve socio-economic inadequacies at the Community level. They are meant to tackle priority areas in accordance with the priorities of the structural funds for the relevant period. Local Management Authorities responsible for Community initiatives design Operational Programmes for each Community Initiative. The four Community initiatives include:
Interreg III (http://inforegio.cec.eu.int) is the largest Community initiative that redistributes € 4.875 bn. It supports cross-border (Strand A) and trans-national (Strand B) co-operation to stimulate regional economic-development and encourages balanced regional planning. Strand C supports projects amongst regional partners who do not have a common border but have similar socio-economic features and want to share experiences with each other. This third strand shares 6 % of the total Interreg budget (€ 292.5 m). Interreg has been a very useful instrument in Central Europe. Due to the historical separation of the continent, the reinforcement of interregional co-operation along the easternmost border of the EU15 was greatly facilitated by the lively INTERREG-Phare CBC co-operation that emerged in these border areas. It is not clear to many, however, that during the decades of communism former Eastern Bloc countries were separated from one another by borders that were almost as solid as the ones along the Iron Curtain. It therefore became obvious in the late nineties that Interreg has proved itself to be a key instrument for facilitating interregional co-operation along the borders of the new member states themselves. The amount of resources spent to eliminate “hard borders” in Europe has been significant. Urban 2 (http://inforegio.cec.eu.int) supports innovative strategies for socio-economic development in urban areas, as well as the effective distribution of successful methods and schemes. As many urban areas in the former socialist countries face dire environmental, social, infrastructural and financial problems, Urban could theoretically be important in this part of the EU. However, the size, scope and the structure of Urban prevents it form being an instrument of key importance. Problems of metropolitan areas are left largely unaddressed by EU cohesion policy. Leader + (http://www.rural-europe.aeidl.be) supports the capacities of local actors in rural areas. € 2.02 bn is used to strengthen the exchange of experience and interregional co-operation of rural areas. Support is targeted at innovative pilot projects implemented by local action groups. Except for small projects, investments into infrastructure cannot be supported by LEADER. Leader could be a useful instrument in Central Europe, but the problems of the agricultural sector in the new member states far exceed its resources and scope. Equal (http://europa.eu.int/comm/dg05/empl&esf/news/lmdiscrim_en) is an initiative on trans-national co-operation to combat discrimination and inequality preventing access to employment on the ground of gender, disability, sexual orientation, religion or lack of qualification. This Community initiative is designed to unite private and public partners in the fight against discrimination. It is financed to an extent of € 2.847 bn
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through the European Social Fund. According to a large number of studies carried out in Central Europe and the Baltic, discrimination against various groups (most prominently the Roma, women and the disabled) is widespread in these countries. Equal is therefore an initiative of key importance for these new member states. In addition to the structural funds and the related community initiative, a very important additional fund as been in existence since Maastricht. The Cohesion Fund was created in 1992 to assist the poorer member states of the Union, Greece, Portugal, Spain and Ireland, by providing subsidies for environmental and transport projects (specifically transEuropean networks). Examples of environmental projects are water supply, wastewater management and the treatment of soil pollution. Examples of transport projects are public roads, maritime ports, and airports. Large projects above 10 million Euros enjoy priority, and there is 80-85% co-financing by the EU, based on a project rather than a programme basis. Projects are to be submitted to the European Commission itself. The Fund was originally set up to help these countries to prepare for the Economic and Monetary Union (EMU). It offers financial assistance on two conditions:
The member state’s GDP per capita must be below 90% of the EU average. The member state must introduce and follow a ‘convergence programme’ to attain the EMU criteria.
In fact the creation of the Cohesion Fund is intimately related to Maastricht and the project of the common currency. The scientific background of the monetary union (Mundell’ optimum currency area model) suggests that there must be significant financial transfers inside the area in order to prevent asymmetric shocks. On the practical side, the poorer member states (who later even came to be known as “cohesion countries”) demanded significant financial transfers during the negotiations on the monetary union if they were to meet their obligations towards the acquis in the field of environment, and if they were to eliminate their infrastructural belatedness in comparison to core states. Investment in both of these domains would have implied spending enormous resources, which would not have made it possible for these countries to meet the Maastricht criterion on budget deficit. Hence the Cohesion Fund was created. The difference between the Structural Funds and the Cohesion Fund in the case of the latter one is that the essential unit is the member state rather than the region. In the late nineties3 the share of the cohesion fund in total expenditure on structural policies in cohesion states amounted to around 18%. Regulations 1264/1999/EC and 1265/1999/EC of the European Council and Commission are modifications of European Council Regulation 1164/1999/EC on the establishment of the cohesion fund. The new member states are all eligible for resources from the Cohesion Fund. However, the new member states currently receive significantly less than the older cohesion states. In the minds of most observers the link between the Cohesion Fund and monetary union no longer exists, even though the new member states are in the process of monetary convergence much the same way as Greece, Spain, Ireland and Portugal were in the nineties.
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European Commission 2001: XXXVI.
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There is also a significant relationship between the Cohesion Fund and absorption. Since the Cohesion Fund finances large projects, especially in the domain of infrastructural development, it has been argued by many that the absorption capacity of the new member states depends to a large extent on how the Cohesion Fund is regulated, and what size of resources are made available under its auspices. With a certain degree of exaggeration it could be argued that the new member states could reach any degree of absorption, for example, if enough financing is made accessible for the construction of highways or the modernisation of railway lines. 3
The direction of development between 2007 and 2013
The European Commission adopted its proposal4 for the future of Cohesion Policy in July of 2004, after having outlined its broad guidelines in the Third Report on Social and Economic Cohesion (European Commission 2004). The debates about the community’s financial perspectives for the 2007-2013 period was essentially based on this proposal from the Commission, although the December 2005 compromise reached by the British presidency in the Council does not entirely correspond to this proposal. At the time of writing the new financial perspective is still under intense discussion in the European Parliament. Since the new regulations for the structural and cohesion funds are dependent on the acceptance of the financial perspectives, these have also been finalised. This seems rather paradoxical, given the fact that member states and regions have already began negotiating the final versions of their regional and national development plans with the Commission. Several important changes have been discussed with regards to cohesion policy. First of all, the Commission has proposed an increase in the total size of the entire community budget, putting forward the sensible suggestion that an enlarged and still growing Europe needs a larger budget. The proposal was heavily debated by the net contributors, who claimed that a rationalisation of the budget would free up the necessary resources without an increase in the overall size. Six net contributors published a joint letter to the Commission, stating that they would be unwilling to finance an unreformed budget. Most intensely debated was the proportion and structure of the Common Agricultural Policy (CAP) within the budget. As it as been well understood for decades now, it makes little sense to spend almost half of the EU’s common resources on an economic sector which amounts to less than 5% of the EU’s total economic activity. It has been clear for a long time Europe is to take seriously its pledge to become more competitive and to increase employment, as it professed in its Lisbon goals, it would have to spend far more on education, employability, R&D, infrastructure and enterpreneurialship, and far less on agriculture. Unfortunately this shift, which as belated as it was already, has been further postponed, well into the future. The cohesion policy of the EU has not been able to adapt itself to the challenges which had been well mapped out. Mostly due to resistance from the part of France, successive presidencies have been unable to reach a real reform of this policy. France, whose GDP/capita is significantly higher than the EU average, has an almost zero position vis-á-vis the EU. This is mostly due to the fact that the country is a key beneficiary 4
Communication from the Commission to the Council and the European Parliament: Building our Common Future, Policy Changes and Budgetary Means of the Enlarged Union 2007-2013 (Brussels, 2004.02.10) COM (2004).
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of CAP, due true the traditional, extensive French agricultural sector. It would have been impossible for the French political elite to let go of these subsidies for two reasons. Firstly, lost subsidies in agriculture would have to be substituted for from domestic resources. Secondly, letting go of CAP returns from the EU budget would have worsened France’s net position significantly, making the country a significant net contributor. At a time when France is already finding it difficult to comply with the fiscal criteria of the Stability and Growth Pact, a real reform of CAP would have put Paris into a very difficult position. Therefore, during the negotiations of the financial perspectives they held on to the infamous Chirac-Schröder pact on the CAP, and tried to deter attention by shifting the focus of the debate to the British rebate. This latter anomaly of the EU budget is also an old, unresolved issue, but far smaller in size than the CAP. In addition, it is clearly linked to the reform of the CAP itself, since the reason it was introduced was precisely to mitigate the unfair treatment of Britain within the CAP system. It must be stressed at this point that contrary to widespread opinion, it would have been in the interest of most new member states to endorse the British position more vehemently, and not the French one. Most member states in Central and Eastern Europe (with the exception of Poland and Romania) do not have a large agricultural sector. In addition, one element of the latent compromise underpinning the accession of these states is that they are not equal partners within CAP. Support for farmers in these countries will only be gradually phased in from 30% in 2004 to 100% in 2013 only, which incidentally is also the time horizon for the Chirac-Schröder Pact. (Hopefully support from CAP will dramatically decrease for all after this date.) Thus the Central Europeans are not the immense beneficiaries of CAP that they are generally believed to be. The outcome of years of debate was that British Prime Minister Tony Blair was unable to push through with the reform of the Common Agricultural Policy. One element of the compromise reached was that agriculture was withdrawn from the heading of “cohesion policy”, to be treated as a separate entry. This is a very positive development that greatly boosts transparency and the pressure to reform the CAP. However, the issue of agriculture still remains the main obstacle to the reform of the EU’s budget, and thus to a more efficient use of cohesion policy resources. Increased community investment in Lisbon related growth furthering projects will not take place until well into the future (at least 2013). As one eurosceptic British MEP is rumoured to have observed, the EU remains a “turnip based rather than a knowledge based society”. Thus in the next financial perspective cohesion policy would be left with three instruments, ESF, ERDF and a strengthened Cohesion Fund. The three funds would be used to finance three priorities, which would replace the three objectives of the current period:
A convergence priority would finance all the regions eligible under the 75% rule, the regions hit by the statistical effects of the latest enlargement, as well as the countries eligible under the 90% rule of the Cohesion Fund. 78.54% of the cohesion policy budget would be used to finance this priority, through the ESF, the ERDF and the Cohesion Fund. A regional competitiveness and employment priority, funded through the ESF and the ERDF would make use of 17.22% of the cohesion budget. European territorial co-operation would receive 3.94% of the funds.
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The Community initiatives would be dissolved into the National Development Plans (now called National Strategic Reference Frameworks in the Commission’s terminology) of the member states. This seems a sensible move in terms of decreasing administrative complexity on the one hand, but it results in the loss of elevated transparency for important issues (such as minorities or urban regeneration). Absorption capacity is a crucial issue, yet very few researchers have attempted to address it5. A proposal for the regulation of the ESF, ERDF and the Cohesion Fund has also been made available by the Commission6. A positive development in this proposal is that it leaves more space for priority setting at the national level by easing up the regulations of these funds. In contrast to the current period, there is less of a taxative listing in these proposals as in the current regulations for the structural funds. If this more relaxed approach is carried forward into the practice of DG Regio, it leaves more room for planning and absorption in the new member states themselves. As long as this guarantees more sovereignty for member states within the framework of cohesion policy, it should be welcomed. However, if member states are allowed to lobby in forms of support that have nothing to do with growth related investment and facilitating cohesion in Europe, this could be a worrying sign for the future of cohesion policy. One such example is support for the reconstruction of housing, which was lobbied into the financial perspective by several new member states. Such support, although admittedly important, has nothing to do with eliminating bottlenecks and enabling the faster growth of less affluent countries. It is simply a depreciation cost which should be financed from domestic resources, i.e. the additional financial resources arising from faster growth enabled through other forms of support. If similar forms of support are allowed to appear in the National Development Plans of the new member states, net contributors will be even more tempted to question the efficiency of cohesion policy, which is already greatly exposed to criticism. A further negative development is that while the current regulations place a seminormative reference to the administration of community support in regions as opposed to the national level, the new proposal seems to imply a shift towards the national level in the thinking of the Commission. This runs contrary to the professed principle of subsidiarity, as well as to the emerging process of multi-level governance in the majority of member states. It is less and less justified to refer to certain segments of cohesion policy as ‘regional policy’ when regions hardly exist in Central Europe (Dieringer 2005), and only have a very limited say in the forms of support that will be administered by them. 4
The need for a strong and coherent cohesion policy
In spite of the less than optimistic picture, an efficient cohesion policy would be of great need in Europe. Regional inequalities are a characteristic feature of Europe’s economic geography. Comparing the European Union of fifteen with the United States, for example, reveals that while close to one fifth of the EU’s population live within Objective 1 areas (that is, in areas where the GDP per capita is less than 75% of EU average), applying the same criteria to the US would yield the surprising result that only two states (Mississippi 5 6
Exceptions include Pogátsa 2004. Proposal for a Council Regulation laying down general provisions on the ERDF, ESF, and the Cohesion Fund COM(2004) 492.
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and West Virginia) would qualify, representing less than 2% of the total population (Martin 2003: 19). The geographical disparities in Europe only increase as the central and Eastern European countries enter one by one. All of them are poorer than the EU average, ranging from Slovenia at roughly 80% of the community average to the Baltic states at around 45%. The entrants of 2007, Bulgaria and Romania, are at around 30% of the current community average, and Turkey, which is also negotiating entry, is at around 20%, with 75 million inhabitants. Average unemployment rates are also very wide in the EU, ranging to 20% in some member states but are practically non-existent in the United States. There are enormous differences in activity rates as well. Thus if we accept the original neoliberal logic behind the Single Market, we must accept the lessons learned from it as well. If it was true in the seventies and the eighties that less developed member states, regions and social groups need to be supported financially in order to enable them to compete, it must be even truer today. Several waves of enlargement have increased the differences between different parts of the Union. If the professed ideal of social economic cohesion is to be taken seriously, the functioning, role and size of cohesion policy must be revisited. The most worrying aspect of cohesion policy is that we are unable to assess its effectiveness. On an academic level it is difficult, almost impossible to separate its effects from other influences such as normal business cycles or energy or trade shocks. On a bureaucratic level there is a grave lack of data and retrospective analysis, both from the part of the European Commission and the academic community. Monitoring on the part of the Commission and collection of data on the part of Eurostat are less than satisfactory. In fact in the last eleven years the European Court of Auditors has refused to sign the Commission’s report on the use of community resources. The Commission has published three Reports on Social and Economic Cohesion, but these barely scratch the surface and leave more questions open than the ones they answer. When the success of regional policy is questioned, the DG Regio admits that regional disparities on a NUTS2 (regional) level have not decreased. They point to the lack of a counterfactual, and suggest that we have no information what would have happened without a European cohesion policy. Regional disparities would probably have increased. Also, the Commission points to the success of entire member states, some of whom have produced admirable catch up rates. This latter, however, raises some doubts. 5
Cohesion policy and administrative capacity in the member states
One key problem of cohesion policy today is state capacity. As we have already described, even though cohesion policy is financed from community resources, it is a decentralised policy, based on the ideal of subsidiarity. This means that most of the responsibility for planning and administering cohesion type resources rests with the member states and (on paper) regions. This is due to the historical evolution of cohesion policy within and EU of 9 to 12. However, the brief experience of the central and Eastern European states in the EU suggests that this setup is less than satisfactory. Firstly, regions have gradually been squeezed out of the administration of resources. Even though a large part of cohesion policy consists of regional policy, and regional differences are as great within the EU as ever, a not so latent compromise between the new member states and the Commission around 2001
Cohesion Policy After 2007
167
basically bypassed the ideal of solidarity and regions as important administrative units in the management of community resources. In most older member states only certain poorer parts of the country were supported, the logical consequence of which was a strong role of NUTS 2 regions. In the new member states almost all regions (with the exception of the most affluent capitals) are eligible for support, and thus it seemed reasonable for the Commission to support a centralised management of resources in these states at a central level. The logic of “simplicity equals efficiency” was applied. It does not take much to see why this logic is faulty. Not only does this approach ignore the existence of worrying regional differences in CEE, but it also strengthens the worst centralising tendencies in these postcommunist states. Thus it also acts against the completion of democratisation and the establishment of multi-level governance. In addition, experiences in planning and management in some new member states also put into question the efficiency of the central state apparatus. In the current setup the Commission does not play a very strong controlling role over member states in the domain of cohesion policy. The Member Stataes present their National Development Plans, which the Commission has the right to accept or reject and renegotiate. In reality much of the planning is already curtailed by the regulations of the structural and cohesion funds. Although they try, mostly without success, to squeeze in special forms of support, in reality Member States do little more in terms of programming than creating a plan which taps forms of support previously offered to them in the regulations. It is not surprising, therefore, that the National Development Plans of the CEEs are extremely similar. There is simply not enough room for real priority setting. Planners at the central government level must keep within a preset framework, and without the possibility of real targeting they opt for the sensible option of trying to diversify risks by spreading support across all the different forms of support that the regulations allow. Thus it is an inbuilt feature of the system that the Commission does not back characteristic NDPs. Member states would naturally still have the option of designing broader NDPs, which include development targets from purely national as well as co-financed community resources, but this rarely ever happens. The states capacities of the New Member States are simply not able to perform such a complicated exercise. The result is a National Development Plan which is without a clear focus, a message for the social and economic partners, and which does not fit in organically into the development policies of the New Member States. 6
Cohesion policy and the Single Market
It is important to make it clear that taking part in the Single Market has a much more profound effect on the economic performance, growth and catch-up of member states. In its publications, the Commission widely propagates Ireland as being the greatest success story of cohesion policy. The country was at around 60% of the community average when it entered in 1973, and has since managed to become the most affluent member state save for Luxembourg, at 121%. The Irish managed to produce growth rates of 9% consistently. Although this success is often portrayed as a result of EU support, a more closer look will reveal that this economic wonder has more to do with a large influx of FDI into Ireland (mainly from the US) in order to take advantage of the country’s preferential access to the EC’s Single Market. On the other hand the Commission is rather discreet about the experience of Greece in the EC in its first twenty years of membership, when support from common policies was no
168
Zoltán Pogátsa
where near sufficient to counterbalance the loss of markets suffered by Greek economic sectors within the framework of the Single Internal Market. It is therefore crucially important to warn that in spite of the debates on cohesion policy and the Euro, the Single Market still remains the centrepiece of European economic integration. This is likely to remain the case at least until 2013, when the next chance comes to reform the cohesion policy. References Bachtler, John/Michie, Rona, 1994: Strengthening Economic and Social Cohesion? The revision of the Structural Funds, in: Regional Studies 28:8, S. 789-96. Commission of the European Communities, 1999: Structural Actions 2000-2006 – Commentary and Regulations, Luxembourg. Dieringer, Jürgen, 2005: Demokratisierung, Ökonomisierung und Europäisierung: Dezentralisierungsprozesse in Ostmitteleuropa, in: Südosteuropa 53:4, S. 438-499. European Commission, 2001: Second Report on Economic and Social Cohesion, Volume One, Brussels. European Commission, 2004: Third Report on Economic and Social Cohesion: A new partnership for cohesion. Convergence, competitiveness, cooperation, Brussels. Martin, Phillippe, 2003: Public Policies and Economic Geography, in: Funck, Bernard/ Pizzati, Lodovico (eds.): European Integration, Regional Policy, and Growth, Washington D.C.: The World Bank. Pogátsa, Zoltán, 2004: Europe Now. Hungary´s Preparedness for the EU´s Structural and Cohesion Funds, Szombathely
Regionalpolitik am Wendepunkt – Ungarn nach dem EUBeitritt Zoltán Cséfalvay
EU-Autokennzeichen, Mülltrennung und offene Grenzen sind Veränderungen, die nach dem Beitritt zur Europäischen Union durch jeden Bürger Ungarns wahrgenommen werden können. Betrachtet man die vom ungarischen Standpunkt aus als Durststrecke wahrgenommene Zeitspanne des Beitrittsprozesses, besteht jetzt Grund zum aufatmen. Die ersten Schritte sind getan. Betrachtet man aber die Euphorie zum Zeitpunkt des Beitritts, sind die Ergebnisse eher als bescheiden einzustufen. Wenn wir die wirtschaftlichen Erwartungen betrachten, wird das Bild sogar noch düsterer. Vom Gesichtspunkt eines Landes im Aufholprozess wie Ungarn ist schließlich nur ein Kriterium an den EU-Beitritt zu stellen: Inwieweit kann der Beitritt zum Aufholprozess des Landes beitragen? Wird dadurch der Aufholprozess beschleunigt, der Weg zum Aufholen abgekürzt? 1
Politisch-ökonomische Beitrittseffekte – eine Bilanz
Unter dem Aspekt des Aufholprozesses gesehen, lässt sich festhalten, dass in Ungarn ein Jahr nach dem Beitritt keine der früheren Erwartungen erfüllt wurden. Basierend auf der Studie von Fritz Breuss sind dabei vier wesentliche politisch-ökonomische Beitrittseffekte zu unterscheiden, wie:1
1
Binnenmarkteffekte, d. h. jene unmittelbaren ökonomischen Wachstumseffekte, die daraus resultieren, dass die ungarischen Untenehmen nun ohne Einschränkungen auf einem Markt von mehr als 470 Millionen Menschen tätig werden können. Da die Produktionskosten pro Stück mit der Größe des Produktionsvolumens, also mit der Größe des Absatzmarktes sinken, kann eine Erweiterung des Marktes auch zu einer Erhöhung der Produktivität führen. Förderungseffekte, d.h. jene unmittelbaren ökonomischen Wachstumseffekte, die daraus resultieren, dass Ungarn aus den Strukturfonds und aus dem Kohäsionsfonds zusätzliche Finanzmittel für die notwendigen Investitionen zum Aufholen erwerben kann. Die vorliegende Differenzierung von Beitrittseffekten basiert auf der Studie von Fritz Breuss (2001), der vier Effekte unterschiedet, nämlich: Feihandelseffekte, Binnenmarkteffekte, Effekte der Faktorenmobilität und Kosten der Erweiterung. Da wir in unserer Untersuchung nicht nur die unmittelbaren ökonomischen, sondern auch die breiteren politisch-ökonomischen Auswirkungen in eine Bilanz stellen möchten, haben wir den ursprünglichen Katalog der Beitrittseffekte von Breuss in einigen Punkten modifiziert. So wurden die Effekte des Freihandels, des Binnenmarktes und der Faktorenmobilität in eine Gruppe, die der Binnenmarkteffekte ,zusammengefasst, da sie letzen Endes auf den freien Fluss von Produktionsfaktoren zurückzuführen sind. Die Effekte der Kosten der Erweiterung wurden als Förderungseffekte beibehalten. Weiterhin haben wir den Katalog der Beitrittseffekte von Breuss um zwei neue Effekte ergänzt: die Regelungseffekte und die wirtschaftspolitischen Effekte.
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Zoltán Cséfalvay Regelungseffekte, d.h. jene breiteren Wachstumseffekte, die daraus resultieren, dass in Ungarn nach dem Beitritt das gleiche ökonomisch-juristische Umfeld vorzufinden ist, wie in den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Da dadurch die ausländischen Investoren in Ungarn mit einem niedrigen Landesrisiko rechnen können, wird dies gemäß den theoretischen Erwartungen in einer Zunahme der ausländischen Direktinvestitionen honoriert. Wirtschaftspolitische Effekte, d. h. jene breiteren Wachstumseffekte, die daraus resultieren, dass die ungarische Wirtschaftspolitik in die Wirtschaftspolitik der Europäischen Union eingebettet wird. Dies könnte – mindestens theoretisch – die Zahl der falschen wirtschaftspolitischen Entscheidungen deutlich reduzieren.
1.1 Binnenmarkteffekte Im Gegensatz zu den Erwartungen waren in Ungarn im ersten Jahr nach dem Beitritt kaum positive Binnenmarkteffekte zu beobachten. Die Ursache dafür liegt vor allem darin, dass die alten Mitgliedstaaten der Europäischen Union den uneingeschränkten Fluss von Produktionsfaktoren (Kapital, Arbeitskraft, Waren, Dienstleistungen, Informationen) erheblich behindert haben. Einige Behinderungen, wie die Einschränkung bei der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, waren bereits als eine Vorbedingung zum Beitritt gestellt. Es wurden allerdings auch noch nach der Osterweiterung neue Hindernisse für den freien Fluss der Produktionsfaktoren aufgebaut, wie dies im Fiasko der Bolkestein-Direktive abzulesen ist, welche eine Liberalisierung der Freizügigkeit von Unternehmen im Bereich Dienstleistungen als Ziel ausgab. Diese und andere Behinderungen haben deutlich gezeigt, dass die alten Mitgliedstaaten die Osterweiterung nach wie vor als ein Nullsummenspiel betrachten. Der eine kann nur soviel gewinnen wie der andere verliert. Zu Recht weist Ingo Pies (1998) darauf hin, dass im letzten Jahrzehnt ein historischer Wandel in den Perspektiven von Ungleichheiten auf der Welt stattfand. Während vor zwei Jahrzehnten die Entwicklungsländer als Verlierer der Weltmarktintegration betrachtet wurden, werden heute durch die Vertiefung der internationalen ökonomischen Integration immer mehr die entwickelten Länder als Verlierer angesehen. So wird beispielsweise die Verlagerung von Produktionsstätten vom Westen in den Osten Europas als ein Export der Arbeitsplätze thematisiert. So werden die östlichen Arbeitnehmer als diejenigen dargestellt, die dem Westen Europas die Arbeit wegnehmen. Dies ist aber wohl ein Missverstehen der Regeln internationaler ökonomischer Integration. Durch die Verlagerung der Produktionsstätten und durch osteuropäische Arbeitsmigranten wird im Westen Europas die Arbeit nicht weniger, sie wird nur anders verteilt. Organisationstheoretisch ist diese Annahme leicht zu begründen: durch eine Verlagerung der Produktionsstätten nach Osten werden neue Arbeitsplätze auch im Westen entstehen, allerdings nicht im unmittelbaren Produktionsbereich, sondern in den Bereichen von Kontrolle, Management, Logistik oder Forschung, also sogar in Bereichen mit höherem Mehrwert. Wenn ein deutsches Unternehmen eine Fabrik in Ungarn erstellt, die mit Produktionsteilen aus Deutschland beliefert wird, sollten für diese Belieferung sowohl in der Produktion als auch in der Logistik der Bestandeile neue Arbeitsplätze entstehen. In ähnlicher Weise werden durch die Freizügigkeit der östlichen Arbeitnehmer die demographisch und strukturell bedingten Nischen meistens mit niedrigerem Mehrwert auf dem Arbeitsmarkt im Westen Europas beseitigt, während für die westlichen Arbeitnehmer neue Arbeitsplätze mit
Regionalpolitik am Wendepunkt – Ungarn nach dem EU-Beitritt
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höherem Mehrwert entstehen. Beispielsweise wäre das Gesundheitswesen in Österreich ohne eine Anstellung von Pflegekräften aus dem Osten Europas seit langer Zeit nicht mehr vorstellbar und funktionsfähig. So sichern die Pflegekräfte in diesem Bereich auch die Arbeitsplätze der österreichischen Ärzte, also Arbeitsplätze mit höherem Mehrwert. Wie diese Beispiele zeigen, wird die Arbeit in den alten Mitgliedstaaten durch diese Mobilitätsvorgänge – wie bereits erwähnt – nicht unbedingt weniger, aber sicherlich anders verteilt. Eine andere Verteilung wiederum verlangt Strukturanpassungen auch von Seiten der Länder im Westen Europas. Die Diskussion um die neuen Planungsperioden in der Europäischen Union, oder die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, hat vermutlich nur ein einziges Ziel: dem Westen Europas die nötigen Strukturanpassungen zu ersparen. 1.2 Förderungseffekte In ähnlicher Weise waren in Ungarn zu Beginn der Mitgliedschaft die positiven Förderungseffekte kaum spürbar. Die Ursache liegt vor allem darin, dass die Verteilung dieser Förderungen in einem höchst bürokratischen – und deswegen sehr kostspieligen – System erfolgt, wobei auch die Förderungsziele von Seiten der Europäischen Union nicht immer mit den Ansprüchen der Aufholländer in Übereinstimmung stehen. Die Europäische Union ist nämlich im Bereich der Kohäsionspolitik – mit dem Begriff von Heinz-Jürgen Axt (2000) – eher als eine Transfer-Union anzusehen: jedes Land zahlt in die gemeinsame Kasse der Europäischen Union erhebliche Summen ein, und jedes Land möchte davon im Rahmen der Kohäsionspolitik soviel wie möglich zurückerhalten. Der berühmte Spruch von Margaret Thatcher, – “I want my money back“, gilt – wenn auch ursprünglich auf die Agrarpolitik bezogen – nach wie vor als Grundprinzip in der Praxis der Kohäsionspolitik. Die Kohäsionspolitik hat eigentlich drei Ziele: Reduzierung der Entwicklungsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten, zwischen den Region in der Europäischen Union und zwischen den Regionen in den einzelnen Ländern. In einer Transfer-Union kann aber die Kohäsionspolitik nur bezüglich des ersten Ziels, also im Abbau von Entwicklungsgefällen zwischen den Ländern, einige Erfolge aufweisen. Auch in diesen Fällen, wie beispielsweise in der irischen Erfolgsgeschichte, ist die unmittelbare Rolle der Förderungen von Seiten der Europäischen Union aber als eher bescheiden einzustufen.2 Für ein Land wie Ungarn, das im Aufholen begriffen ist und in dem das BIP per capita im Vergleich zum Durchschnitt der Europäischen Union nur bei ca. 60 Prozent liegt, ist es hingegen lebensnotwendig, dass das Land mehr Förderungen aus den europäischen Förderungsmitteln erhält, als es in die gemeinsame Kasse in Brüssel einzahlt. Dagegen wurde Ungarn im ersten Jahr seiner EU-Mitgliedschaft auf einer Cash-flow-Basis eindeutig zum Nettozahler. Laut der Statistik des Nationalen Entwicklungsamtes (Nemzeti Fejlesztési Hivatal) hat Ungarn 2004 107 Milliarden Forint in die EU-Kasse nach Brüssel übergewiesen (NFH). Bis Ende Februar 2005 wurden aber für die Bewerber, also für Unternehmen, Gemeinden und NGOs nur 8 Milliarden Forint Förderungen ausgezahlt. Auf Cash-flowBasis haben also die ungarischen Steuerzahler gegenüber der Europäischen Union zu Beginn der Mitgliedschaft einen eindeutig negativen Saldo aufgewiesen. Die Botschaft von 2
Während die Wirtschaft in der Epoche des irischen Wirtschaftswunders, zwischen 1987 und 1999, eine jährliche Wachstumsrate von 8 bis 11 Prozent aufwies, war anhand diverser ökonomischen Berechnungen jährlich nur 0,5-1,0 Prozent zusätzliches Wachstum auf die unmittelbaren Förderungen aus dem Strukturfonds und dem Kohäsionsfond zurückzuführen (FitzGerald 1998; Krugman 1997; Sharry/White 2000).
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Zoltán Cséfalvay
Michael Barnier, dem früheren EU-Kommissar für Regionalpolitik, lautete: „Sie werden viel Geld bekommen, nun bereiten sie sich gründlich vor, es vernünftig einzusetzen“.3 Natürlich ändert sich diese Situation im Laufe der Zeit. So wurden Ende Februar 2005 bereits Förderungen in der Höhe von 140 Milliarden Forint durch Projektverträge abgedeckt. In ähnlicher Weise hat Ungarn auf Haushaltsbasis, zieht man auch die Überweisungen für die ausgelaufenen Heranführungsinstrumente (PHARE, ISPA, SAPARD) sowie die Vorschüsse für Förderungen aus den Strukturfonds in Betracht, einen positiven Saldo gegenüber der Europäischen Union. Mittelfristig sieht also die Situation viel besser aus, was aber die Tatsache nicht verändert: Ungarn wurde im ersten Jahr seiner EU-Mitgliedschaft auf Cash-flow-Basis zum Nettozahler der Europäischen Union. 1.3 Regelungseffekte Die Auswirkungen der Regelungseffekte sind wiederum als sehr bescheiden einzustufen. Diese Effekte sind ex ovo relativ gering, da sie nur im Falle der Investitionen von ausländischen KMU´s eine Rolle spielen. Die Großinvestoren konnten auch vor dem Betritt auf diesen Standortvorteil verzichten. Darüber hinaus waren im letzten Jahr die Auswirkungen der allgemeinen Verschlechterung Ungarns internationaler Wettbewerbsposition deutlich größer, als die Auswirkung der durch Regelungseffekte entstandenen Standortvorteile.4 Die Betrachtung der Osterweiterung als ein Nullsummenspiel durch die alten Mitgliedsstaaten ist aber auch in diesem Bereich deutlich zu beobachten. So wird die Förderung der heimischen Unternehmen in den Ländern Ostmitteleuropas – sei es durch das eigene Staatsbudget oder durch die Strukturfonds finanziert – oft als unfairer Wettbewerb und Wettbewerbsverzerrung betrachtet. Auch Bestrebungen nach Einführung von Mindeststeuersätzen in den Ländern Ostmitteleuropas, oder die Reduzierung des Budgets für die Strukturfonds weisen deutlich in diese Richtung.
1.4 Wirtschaftspolitische Effekte Letztlich sind die wirtschaftspolitischen Effekte nur unter großem Vorbehalt zur Kenntnis zu nehmen, da selbst die Europäische Union im ersten Jahr nach dem Beitritt der zehn Neuen eine Vielzahl von wirtschaftspolitischen Fehlern begangen hat. Die größte Fehlentscheidung war dabei die Aufweichung des ökonomischen Stabilitätspaktes. Laut dieser Entscheidung müssen Länder, die mit strukturellen Problemen konfrontiert sind, die Maastricht-Kriterien nicht einhalten. Das bedeutet, dass das Defizit des Staatshaushaltes über drei Prozent und die Staatsverschuldung über 60 Prozent des BIP liegen dürfen. So kann Ungarn das Defizit des Staatshaushaltes durch die Einzahlungen in die privaten Rentenkassen reduzieren. Es ist aber offensichtlich, dass die Probleme des makroökonomischen Gleichge-
3
4
”Sok pénzt kapnak, csak gyızzék elkölteni!” Interview mit Michel Barnier, Népszabadság, 9. November 2001. Ungarn erlitt im Jahre 2004 einen Einbruch bezüglich seiner internationalen Wettbewerbsfähigkeit. So ist das Land im Jahre 2004 im Vergleich zum Vorjahr laut World Competitiveness Yearbook (IMD) von Platz 33 auf Platz 39, von Growth Competitiveness Index (WEFORUM) von Platz 34 auf Platz 42 zurückgefallen (IMD 2004; World Economic Forum 2004).
Regionalpolitik am Wendepunkt – Ungarn nach dem EU-Beitritt
173
wichtes nach wie vor sehr ernst sind.5 Damit wurde Ungarn durch die Europäische Union aufgezeigt, dass man sich statt einer Konsolidierung des Staatshaushaltes und der Einführung von Reformen in Bereichen der großen wohlfahrtsstaatlichen Umverteilungssysteme auch mittels politischer Umwege im politischen Prozess bewegen kann. 2
Kollision von nationalen und supranationalen Interessen
In einer Bilanz lässt sich festhalten, dass Ungarn im ersten Jahr nach seinem Beitritt zur Europäischen Union die politisch-ökonomischen Beitrittseffekte nicht ausschöpfen konnte. Tabelle 1: Erwartete und reale Auswirkungen der politisch-ökonomischen Beitrittseffekte in Ungarn ein Jahr nachdem EU-Beitritt Beitrittseffekte
Erwartungen
Realitäten
Binnenmarkteffekte
Wachstum durch freien Fluss der Produktionsfaktoren
Förderungseffekte
Zusätzliche Finanzmittel für die notwendigen Investitionen zum Aufholen Zunahme der ausländischen Direktinvestitionen Reduzierung der Zahl falscher Entscheidungen
Hindernisse für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und Unternehmen im Dienstleistungssektor (vgl. Fiasko der Bolkestein-Direktive) In der Transfer-Union wurde Ungarn auf Cash-flow-Basis zum Nettozahler Bestrebungen zur Steuerharmonisierung Aufweichung des ökonomischen Stabilitätspaktes
Regelungseffekte Wirtschaftspolitische Effekte
Im Jahre 2004 kollidierten in der EU nationale und supranationale Interessen in einer Weise, die für Ungarn die Auswirkungen dieser Effekte erheblich verminderten. Die alten Mitgliedsstaaten konnten ihre eigenen nationalen Interessen immer stark gegenüber den supranationalen Interessen der internationalen ökonomischen Integration durchsetzen und damit zugleich die Wachstumseffekte dieser Integration für die neuen Mitgliedstaaten verhindern. Andererseits waren aber die neuen Mitgliedsstaaten, unter anderem Ungarn, unfähig, diejenigen eigenen nationalen Interessen zu vertreten (vor allem die Interessen bezüglich des ökonomischen Aufholens), die mit den supranationalen Interessen der internationalen ökonomischen Integration in Übereinstimmung standen. Deswegen sind die Auswirkungen des EU-Beitritts Ungarns bis jetzt eher symbolisch: EU-Autokennzeichen, Mülltrennung und offene Grenzen
5
Laut Daten von EUROSTAT für das Jahr 2004 betrugen in Ungarn das Defizit des Staatshaushaltes 5,4 Prozent des BIP, die Staatsverschuldung 60,7 Prozent des BIP. Im Jahre 2006 verschärfte sich das Haushaltsdefizit auf 10,1 Prozent des BIP.
174 3
Zoltán Cséfalvay Zielkonflikte der Regionalpolitik
3.1 Das Trilemma der Regionalpolitik Um die erwarteten politisch-ökonomischen Beitrittseffekte auszuschöpfen, sollte in Ungarn – neben einer starken Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit – eine plausible Antwort auf die seit langem ungelösten Zielkonflikte der Regionalpolitik gegeben werden. Die Regionalpolitik ist in Ungarn, wie in vielen Ländern Europas, mit drei großen Herausforderungen konfrontiert:
sie soll den Bürgern – als politischen Akteuren – auf lokaler Ebene die Möglichkeit zur demokratischen Partizipation gewährleisten; sie soll den Bürgern – als Konsumenten – die öffentlichen Dienstleistungen wirtschaftlich effizient anbieten; und sie soll den Bürgern – als Staatsbürgern – überall im Land möglichst gleichwertige Lebensbedingungen sichern, d.h. sie soll auch zur Milderung jener regionalen Ungleichheiten beitragen, die durch Marktkräfte und ungleiche Entwicklung entstehen.
Diese Herausforderungen führen aber dazu, eine spezielle Entscheidung treffen zu müssen, die wir als das Trilemma der Regionalpolitik bezeichnen können:6
Die Herausforderung, demokratische Partizipation der Bürger in lokalen Angelegenheiten zu gewährleisten, verlangt starke und autonome Gemeinden. Die Herausforderung, wirtschaftlich effiziente öffentliche Dienstleistungen bereitzustellen, erfordert starke regionale Selbstverwaltungen. Ökonomische Effektivität in der Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen ist grundsätzlich eine Frage von Mengenvorteilen (economy of scale). Hier gilt die Regel: in je größeren Mengen die öffentlichen Dienstleistungen (z.B. im Sozial- und Gesundheitswesen) angeboten werden, desto geringer werden die Kosten pro Kopf für die Herstellung dieser Dienstleistungen. Deswegen führt das Prinzip der Mengenvorteile zu einer Regionalisierung öffentlicher Dienstleistungen in regionalen Einheiten und ihren Zentren, die über eine hohe Einwohnerzahl verfügen. Die Herausforderung zur Abmilderung regionaler Disparitäten verlangt starke staatliche Engriffe, da nur der Staat über jene Mittel verfügt, die eine Korrektur der durch Marktkräfte verursachten Ungleichheiten ermöglichen.
Das Wesen des Trilemmas liegt darin, dass diese drei Elemente – starke Gemeinden, starke Regionen und starker Staat – nicht gleichzeitig nebeneinander bestehen können. Wir können nicht alle drei Elemente in ein funktionstüchtiges System einbauen. Deshalb müssen 6
In der Epoche der Globalisierung stehen die Entscheidungsträger immer öfter vor speziellen Wahlmöglichkeiten: sie können von drei Systemelementen nur zwei auswählen, während sie auf das dritte Element verzichten sollen, da die drei Elemente zur gleichen Zeit miteinander inkompatibel sind. So reden Maurcie Obstfeld und Alan Taylor (Obstfeld/Taylor 1998) über ein Trilemma der monetären Politik, da nach ihrer Meinung die drei Systemelemente - fixe Wechselkurse, freie Kapitalmobilität und monetäre Unabhängigkeit der Nationalstaaten - inkompatibel sind. Auf ein Element muss verzichtet werden. In ähnlicher Weise weist Dani Rodrik (2002) auf ein politisches Trilemma der globalen Ökonomie hin, da er die global integrierte Wirtschaft, den Nationalstaat und die Demokratie zur gleichen Zeit als miteinander inkompatibel ansieht, weswegen auf eines der drei Systemelemente verzichtet werden soll.
Regionalpolitik am Wendepunkt – Ungarn nach dem EU-Beitritt
175
Präferenzen für zwei Bereiche definiert werden, der dritte Bereich wird verlieren.
Falls wir im Interesse der lokalen demokratischen Beteiligung der Bürger starke, juristisch und finanziell autonome Gemeinden bevorzugen, sollten wir entweder auf starke Regionen, oder auf starke staatliche Umverteilung verzichten. Falls wir im Interesse einer effektiven Herstellung der öffentlichen Dienstleistungen die Regionen favorisieren, sollten wir entweder die Autonomie der Gemeinden, oder die staatliche Umverteilung aufgeben. Falls wir im Interesse einer Abmilderung regionaler Ungleichheiten die staatliche Umverteilung stärken wollen, sollten wir entweder die Autonomie der Gemeinden, oder die starken Regionen aufgeben.
Abbildung 1:
Das Trilemma der Regionalpolitik
starke staatliche Neuverteilung
effiziente öffentliche Dienstleistungen
starke territoriale Selbstverwaltungen (Regionen)
Abmilderung regionaler Ungleichheiten
lokale Demokratie
starke lokale Selbstverwaltungen (Gemeinden)
3.2 Regionalpolitische Optionen Je nachdem welches dieser drei Ziele in den Mittelpunkt der Regionalpolitik gestellt wird – Stärkung lokaler Demokratie, Steigerung der ökonomischen Effizienz öffentlicher Dienstleistungen, Abmilderung räumlicher Ungleichheiten – lassen sich drei funktionsfähige Optionen abgrenzen:
die Koalition von starkem Staat und starken Gemeinden, oder die Koalition von starkem Staat und starken Regionen, oder die Koalition von starken Gemeinden und starken Regionen.
176
Zoltán Cséfalvay
Alle diese Optionen sind funktionsfähig, was aber nicht bedeutet, dass sie alle – ausgehend von verschiedenen politischen Wertepräferenzen – als wünschenswert betrachtet werden sollten. Alle drei Optionen geben eine Antwort auf oben genannten Herausforderungen, aber eben nicht auf alle Herausforderungen. Deswegen ist die Entscheidung zwischen diesen Optionen weniger eine wissenschaftliche, als vielmehr eine politische. 3.3 Modell für die Abmilderung regionaler Ungleichheiten Die Kombination von starker staatlicher Umverteilung und starken Gemeinden, bei gleichzeitig schwachen Regionen, ist das Modell für die Abmilderung regionaler Ungleichheiten. Durch die Wahl dieses Modells zeigt sich das Bestreben des Staates, durch zentrale Redistribution finanzieller Ressourcen jene regionalen Disparitäten abzumildern, die im Siedlungssystem durch die Marktkräfte entstehen. So macht er die Förderung von weniger entwickelten Regionen zum übergeordneten Ziel der Regionalpolitik. Der Preis hierfür ist jedoch eine Abwertung der Rolle lokaler und besonders regionaler Selbstverwaltungen, sowie ihrer finanziellen Autonomie. In Europa sind vor allem die Transformationsländer, unter anderem auch Ungarn, durch dieses Modell gekennzeichnet. Der Wandel von Planwirtschaft zu Marktwirtschaft, von Diktatur zu Demokratie, führte in den meisten mittelund osteuropäischen Ländern – infolge des Zustandekommens von Marktverhältnissen – zu starken regionalen Unterschieden. Deswegen haben die Transformationsländer die Politik der staatlichen Umverteilung fast unabhängig von der Farbe der Regierungen stark bevorzugt. 3.4 Modelle für ökonomisch effiziente Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen Die Kombination von starker staatlicher Umverteilung und starken Regionen, aber schwachen Gemeinden, ist das Modell für eine ökonomisch effiziente Herstellung öffentlicher Dienstleistungen. Dabei lassen sich in Europa zwei miteinander konkurrierende Modelle unterscheiden (vgl. Abbildung 2). Das Modell der Länder Nordeuropas erzielt die optimale Marktgröße der öffentlichen Dienstleistungen durch Eingemeindungen, d.h. durch den Zusammenschluss einer Vielzahl früher autonomer Kleingemeinden zu einigen wenigen Gemeinden mit einer höheren Einwohnerzahl. Der Preis für Effizienz ist die starke Reduzierung der Zahl autonomer Gemeinden. So wurde beispielsweise in Schweden durch die Verwaltungsreformen die Zahl der autonomen lokalen Selbstverwaltungen auf ein Zehntel gesenkt. Selbständige Gemeinden mit weniger als 5.000 Einwohnern sind aus dem Siedlungssystem praktisch verschwunden.7 Diverse europäische Modelle für die ökonomisch effiziente Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen im Siedlungssystem
7
In Schweden wurde die Zahl der autonomen lokalen Selbstverwaltungen zwischen 1950 und 1980 im Rahmen mehrerer Verwaltungsreformwellen radikal von 2498 auf fast ein Zehntel, auf 286 reduziert. Dabei wurde mittels stufenweise durchgeführter Eingemeindungen - unter dem Namen ”kommun” - eine neue Verwaltungseinheit ins Leben gerufen. Heute verfügen diese neuen Selbstverwaltungen - fast ohne Ausnahmen - über mehr als 5.000 Einwohner; und sie bieten breite, ökonomisch effiziente öffentliche Dienstleistungen auf sehr hohem Niveau an (Jones 2003).
Regionalpolitik am Wendepunkt – Ungarn nach dem EU-Beitritt
Ungarn
NordEuropa
he lt ic n n fe nge f e ö istu t en stle i z fi n ef Die
?
SüdEuropa
niedrig
stark
schwach
Eingemeindungen
schwach territoriale Selbstverwaltung
Diverse europäische Modelle für die ökonomisch effiziente Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen im Siedlungssystem
Regionalisierung
lokale Selbstverwaltung
stark
Abbildung 2:
177
hoch
durchschnitliche Einwohnerzahl der Gemeinden
Im Gegensatz zu diesem Modell haben die Gemeinden im Süden Europas während der Verwaltungsreformen ihre Autonomie zwar beibehalten, ihre Aufgaben im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen wurden jedoch den regionalen Selbstverwaltungen übertragen. Beispielsweise weist Portugal mehr als 4.000 Gemeinden auf. Ihre Aufgaben sind aber sehr beschränkt. Die Mehrheit der öffentlichen Dienstleistungen wird durch die weniger als 300 regionalen Selbstverwaltungen durchgeführt.8 Der Preis für die Effizienz der öffentlichen Dienstleistungen liegt also in einer starken Reduzierung der Autonomie von lokalen Selbstverwaltungen durch die regionale Rationalisierung. Trotz einiger Unterschiede stehen in den meisten europäischen Ländern diese Modelle im Mittelpunkt der Verwaltungsreformen. So wird auch in Ungarn bei allen Reformdiskus8
In Portugal wurde durch die Verwaltungsreformen die Autonomie der 4.000 Gemeinden zwar beibehalten, es wurden aber zur gleichen Zeit ihre Aufgaben in den Bereichen Verwaltung und öffentliche Dienstleistung den regionalen Selbstverwaltungen, den 275 municípium, übertragen. Heutzutage sind Funktionen und Finanzmittel der portugiesischen Gemeinden so beschränkt, dass sie ohne die finanziellen und technischen Unterstützungen der Regionen praktisch keine öffentlichen Aufgaben durchführen können (Dezsı 1994).
178
Zoltán Cséfalvay
sionen immer das Argument angeführt, dass die Zahl der autonomen Gemeinden – heute existieren in Ungarn mehr als 3000 lokale Selbstverwaltungen – für ein kleines Land einfach zu hoch sei, deswegen auch die in diesen Gemeinden durchgeführten öffentlichen Dienstleistungen zu kostspielig seien.9 3.5 Modell für die demokratische Selbstverwaltung Die Kombination von starken regionalen und starken lokalen Selbstverwaltungen, aber schwacher staatlicher Ressourcenallokation, ist das Modell für demokratische Selbstverwaltung. In diesem Modell sind sowohl die Teilnahme der Bürger an der lokalen und regionalen Politik, als auch – mittels Verhandlungsmechanismen zwischen Regionen und Gemeinden – die ökonomische Effizienz der öffentlichen Dienstleistungen gesichert. Der Preis dafür ist aber darin zu sehen, dass der Staat nicht mehr fähig ist, die regionalen Ungleichgewichte zu korrigieren. Mit einigen Modifikationen sind die wichtigsten Züge dieses Modells in Ländern mit starken historischen Traditionen der territorialen Selbständigkeit (wie in Deutschland, Österreich und Italien) zu beobachten. 3.6 Jedes Modell hat seinen Preis Wie diese kurze Darstellung regionalpolitischer Optionen zeigt, gibt es kein allgemeingültiges Modell und damit keine Zauberformel zur Lösung des Trilemmas der Regionalpolitik. Jedes Modell kann für eine der Herausforderungen eine funktionsfähige Lösung anbieten. Es muss aber auch in jedem Modell ein Preis bezahlt werden (vgl. Tabelle 2). Die Lösung des Trilemmas läuft also immer auf eine politische Frage hinaus: Worauf – und warum – sollen wir im Zielkonflikt der Regionalpolitik verzichten? Tabelle 2: Optionen im Zielkonflikt der Regionalpolitik Regionalpolitische Optionen
Regionalpolitische Zielsetzung Staat + Region
9
Staat + Gemeinde
Gemeinde + Region
Effiziente Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen
++
-
+
Milderung regionaler Disparitäten
+
++
-
Stärkung der lokalen Demokratie
-
+
++
Beispielsweise ist diese Argumentation in den Reformentwürfen des früheren Finanzministers, Lajos Bokros (der in Ungarn in Mitte der 90er Jahren ein makroökonomisches Stabilisierungsprogramm mit starken liberalen Zügen durchgeführt hat) sehr deutlich zu verfolgen (Bokros 2004).
Regionalpolitik am Wendepunkt – Ungarn nach dem EU-Beitritt 4
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Ungarische Regionalpolitik am Wendepunkt – Schritte zur regionalen Dezentralisierung
4.1 Luxus der Armen In Ungarn wurde in Bezug auf die möglichen Optionen im Trilemma der Regionalpolitik das schlechteste und zugleich teuerste Modell verwirklicht. Dieses Modell basiert auf den folgenden drei Elementen: starke staatliche Neuverteilung, schwache Regionen, und juristisch starke, finanziell aber schwache, vom Staat stark abhängige Gemeinden. Das grundlegende Problem liegt darin, dass in diesem Modell keines der oben genannten Ziele, also weder die lokale Demokratie noch die ökonomisch effiziente Bereitstellung der öffentlichen Dienstleistungen, noch die Reduzierung der regionalen Disparitäten verwirklicht werden können. Die ungarischen Gemeinden sind in Wirklichkeit nicht autonom, da ihnen dazu die finanzielle Unabhängigkeit weitgehend fehlt. Die Eigeneinnahmen betragen im Schnitt weniger als ein Drittel der Gesamteinnahmen der ungarischen Gemeinden. Das Gros der finanziellen Mittel ist vom jeweiligen Staatsbudget abhängig. Die Herstellung der öffentlichen Dienstleistungen ist nicht effizient, weil in Ungarn die regionalen Selbstverwaltungen, welche über eine relativ hohe Einwohnerzahl verfügen und damit die Anforderungen für Mengenvorteile erfüllen können, eine nur sehr geringe Rolle spielen. Letztlich sind auch die Bestrebungen für die Milderung regionaler Disparitäten erfolglos, da das Siedlungssystem durch die staatliche Umverteilung keine zusätzlichen Finanzmittel erhält. Infolge der staatlichen Umverteilung der Ressourcen innerhalb des Siedlungssystems erhalten die ärmeren Gemeinden nie genügend Finanzmittel um aufholen zu können. Es wird aber auch die Entwicklung der reicheren Gemeinden weitgehend verhindert, da der Staat ihnen Ressourcen entzieht. In dieser Situation verhält sich der Staat kontraproduktiv. Er möchte die Gemeinden zu einer Rationalisierung, d.h. zu einer Regionalisierung der Dienstleistungen mittels ständiger Reduzierung zentraler Finanzmittel für die öffentlichen Dienstleistungen zwingen. Die Gemeinden haben aber nicht nur externe Finanzmittel vom Staat, sondern sie verfügen auch über eigene Einnahmen. Deswegen kann ein erheblicher Teil der Gemeinden diesen Regionalisierungszwang durch das Einsetzen ihrer Eigenressourcen vermeiden. Die Konsequenz ist eine Spirale nach unten (vgl. Abbildung 3): infolge der ungenügenden staatlichen Finanzierung für öffentlichen Dienstleistungen setzen die Gemeinden ihre Eigeneinnahmen für die Bereitstellung dieser Dienstleistungen ein, damit verbleiben vor Ort immer weniger Ressourcen für Standortpolitik und Infrastrukturentwicklung. Wegen der Verschlechterung der lokalen Standortbedingungen ziehen die Investoren weg, was zu einer Reduzierung der Eigeneinnahmen und dadurch auch zu einer Verschlechterung der öffentlichen Dienstleistungen führt. Insgesamt weist das gegenwärtige Modell der ungarischen Regionalpolitik eine Vielzahl von Krisensymptomen auf. Gründe hierfür sind der starke staatlichen Entzug von Ressourcen, die Neuverteilung der Eigenressourcen der Gemeinden und das Fehlen regionaler Selbstverwaltungen. Die Symptome sind teuere, aber ökonomisch ineffiziente öffentliche Dienstleistungen, ständige Reduzierung der Entwicklungsressourcen der Gemeinden, fortlaufender Verfall der Institutionen zur öffentlichen Dienstleistungen und fortlaufende Verschlechterung der Qualität der öffentlichen Dienstleistungen. Welche Reformschritte sind also vonnöten?
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Zoltán Cséfalvay
Abbildung 3:
Konsequenzen der ungenügenden staatlichen Finanzierung öffentlicher Dienstleistungen für die Gemeinden in Ungarn
Ungenügende staatliche Finanzierung öffentlicher Dienstleistungen
Substitution durch Erhöhung der Eigeneinnahmen oder Reduzierung von Entwicklungsausgaben
Verlust an Anziehungskraft
Weitere Abnahme eigener Einnahmen
Wegzug externer Investoren Wegzug weiterer Investoren
Abnahme eigener Einnahmen
5
Schwächere Standortpolitik
Konsequenzen der ungenügenden staatlichen Finanzierung öffentlicher Dienstleistungen für die Gemeinden in Ungarn.
5.1 Erster Schritt – Die Sanktionswirkungen des Marktes sollen wiederhergestellt werden In Anbetracht des Zielkonfliktes der Regionalpolitik sowie der Krise des gegenwärtigen regionalpolitischen Modells, stellt in Ungarn jenes Modell einen Ausweg dar, in dem die staatliche Umverteilung stark reduziert, dagegen die Rolle der regionalen Selbstverwaltungen stark aufgewertet wird, die Gemeinden eine finanzielle Selbständigkeit erhalten. Als erster Schritt zu diesem Modell sollten in Ungarn in der Regionalpolitik, besonders in der Finanzierung des Siedlungssystems, die Sanktionswirkungen des Marktes deutlich verstärkt werden. Heute ist infolge der starken staatlichen Umverteilung die finanzielle Lage einer Gemeinde von ihren Leistungen im Bereich der lokalen Standortpolitik weitgehend abgekoppelt. Größere Leistungen in lokaler Standortpolitik, wie etwa die Erschließung neuer Flächen für Investoren mittels Infrastrukturentwicklung, werden nicht durch eine Zunahme lokaler Einnahmen belohnt, da der Staat den Gemeinden diese zusätzlichen Mittel wieder entzieht. In ähnlicher Weise haben heute Gemeinden mit falscher oder mangelnder lokaler Standortpolitik keine Einschnitte in der Finanzierung zu erleiden, da der Staat mit diversen Umverteilungsmechanismen immer zur Hilfe steht. Deswegen liegt der Kernpunkt jeglicher Reform der ungarischen Regionalpolitik in einer Wiederherstellung der Strahlkraft der Marktkräfte, also in einer kausalen Verknüpfung von eigener Standortpolitik und der Entwicklung der Eigeneinnahmen.
Regionalpolitik am Wendepunkt – Ungarn nach dem EU-Beitritt
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5.2 Zweiter Schritt – Zunahme der finanziellen Eigenressourcen der Gemeinden Aus dieser Überlegung folgt der zweite Schritt der Reform der Regionalpolitik: staatliche Eingriffe in finanzielle Ressourcen der Gemeinden sollen radikal reduziert werden und als Konsequenz den Gemeinden ihre Eigeneinnahmen in vollem Umfang zukommen. Vor allem sollte mindestens die Hälfte der Einnahmen aus der Einkommensteuer, im Gegensatz zu gegenwärtig zehn Prozent, vor Ort, also bei den lokalen Selbstverwaltungen verbleiben. Ebenso soll die lokale Gewerbesteuer beibehaltet werden, die zurzeit die Mehrheit der Eigeneinnahmen der Gemeinden bilden. Dies bedeutet bezüglich ihrer Besteuerungsgrundlage eine Harmonisierung mit den EU-Vorschriften, nach welchen die Gewerbesteuer nicht nach dem Umsatz, sondern den Gewinnen der Unternehmen festgesetzt werden sollten. Parallel dazu sollte das gegenwärtige System der Steuerpotentialberechnung abgeschafft werden. Hier legt der Staat willkürlich das Steuerpotential der Gemeinden fest. Aufgrund dieser Berechnung entzieht er der Gemeinde Steuereinnahmen, wenn sie das zentral festgelegte Quantum überschreiten. 5.3 Dritter Schritt – Stärkung der regionalen Selbstverwaltungen Der dritte Schritt einer möglichen Reform der ungarischen Regionalpolitik umfasst die Dezentralisierung einer Vielzahl von gegenwärtig staatlich zentralisierten Aufgaben auf die Ebene der regionalen Selbstverwaltungen, in den Bereichen Raumentwicklung, Verwaltung und öffentliche Dienstleistungen. Heute gibt es in Ungarn zwischen dem Staat und den Gemeinden drei territoriale Ebenen, die sieben (statistischen) Planungsregionen (NUTS-2), die 19 Komitate und die 150 Kleinregionen (vgl. auch Dieringer 2000; Dieringer/Pogátsa 2005). Die Aufgaben und deren Finanzierung in den Bereichen Raumentwicklung, Verwaltung und öffentlichen Dienstleistungen sind zwischen den Ebenen nicht klar getrennt. Es ist natürlich eine Frage des politischen Konsenses, welche dieser drei territorialen Ebenen in der ungarischen Regionalpolitik zur entscheidenden Ebene wird. Als Grundregel lässt sich jedoch festhalten, dass die Regionalpolitik nur eine dieser drei Ebenen in den Mittelpunkt stellen darf und möglicherweise alle Aufgaben in den Bereichen Raumentwicklung, Verwaltung und öffentlichen Dienstleistungen auf dieser Ebene konzentrieren sollte. Eine weitere wichtige Grundregel ist darin zu sehen, dass die Verteilung von finanziellen Ressourcen nur in jener regionalen Ebene dezentralisiert werden darf, die über demokratisch legitimierte regionale Selbstverwaltungen mit eigener Verantwortung und eigenen Einnahmen verfügt. 5.4 Vierter Schritt – Verbindliche Verträge in der Finanzierung öffentlicher Dienstleistungen Als vierter Schritt zu einer Reform der ungarischen Regionalpolitik soll in der Finanzierung der öffentlichen Dienstleistungen ein System von verbindlichen Verträgen zwischen gleichrangigen Partnern etabliert werden. Nimmt man den demokratischen Rechtsstaat als Grundlage, bedeutet die Finanzierung der öffentlichen Dienstleistungen einen Vertrag zwischen dem Staat und den Selbstverwaltungen. Der Staat – als Auftraggeber – finanziert die öffentlichen Dienstleistungen, während die Gemeinden als Dienstleister diese öffentlichen Dienstleistungen durchführen. Auf der einen Seite garantiert dabei der Staat, die Kosten
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dieser Dienstleistungen abzudecken, auf der anderen Seite garantieren die lokalen und/oder regionalen Selbstverwaltungen, dass sie diese Dienstleistungen auf einem vom Staat kontrollierbaren Niveau abwickeln. Im gegenwärtigen System funktionieren aber diese einfachen Regeln nicht, da der Staat nur einen Teil der Kosten öffentlicher Dienstleistungen abdeckt. Die mehr als 3.000 Gemeinden sind einzeln zu schwach, um den Staat zu einer kostendeckenden Finanzierung öffentlicher Dienstleistungen zu zwingen. Diese Rolle könnten nur die regionalen Selbstverwaltungen übernehmen, da sie im Vergleich zu den Gemeinden nicht nur über eine höhere Einwohnerzahl, sondern auch über eine größere politische Macht verfügen. Deswegen sollte in Ungarn die Finanzierung der öffentlichen Dienstleistungen künftig in Verträgen zwischen dem Staat und den regionalen Selbstverwaltungen, sowie in Verträgen zwischen den regionalen Selbstverwaltungen und den Gemeinden abgewickelt werden. 5.5 Regionale Dezentralisierung und neue Machtverteilung Diese Reformschritte würden zu einer neuen Machtverteilung zwischen dem Staat, den regionalen Selbstverwaltungen und den Gemeinden führen. Dies ist auch der Grund dafür, warum in den letzten fünfzehn Jahren die verschiedenen Regierungen die Reformen für eine Dezentralisierung in den Bereichen Raumentwicklung, Verwaltung und öffentlicher Dienstleistungen immer nur halbherzig durchgeführt haben. Die ungarischen Regierungen haben nämlich – fast unabhängig von ihrer politischen Couleur – immer Angst gehabt, dass sie durch die Dezentralisierung auch ihre potentiellen politischen Gegenkräfte stärken könnten. 6
Mögliche räumliche Schwerpunkte der ungarischen Regionalpolitik
6.1 Die Persistenz der regionalen Ungleichheiten Neben einer Regionalpolitik, die auf starke Gemeinden und starke Regionen baut, sollten nicht nur die Finanzierung des Siedlungssystems, sondern auch die räumlichen Schwerpunkte neu formuliert werden. In Ungarn fördert das gegenwärtige Modell die Abmilderung der regionalen Ungleichheiten durch eine massive Neuverteilung der Ressourcen. Dies ist ein übergeordnetes Ziel der Regionalpolitik. Bevorzugt werden dabei vor allem die schwach entwickelten peripheren Regionen, die aber in den letzten zehn Jahren ihre Positionen im ungarischen Siedlungssystem – trotz zusätzlicher finanzieller Förderung – nicht verbessern konnten. So lässt sich in Ungarn im Zeitraum zwischen 1994 und 2002 aufgrund der Analyse der Entwicklungspositionen von Kleinregionen ein eindeutiges Fortdauern der regionalen Disparitäten beobachten (vgl. Karte 1):10 10
Zur Untersuchung der Entwicklungspositionen der ungarischen Kleinregionen wurden 16 Indikatoren in fünf Bereichen in die Analyse einbezogen, wie etwa die demographische Lage (Einwohnerdichte, Wanderungssaldo pro Tausend Einwohner, Anteil der Einwohner älter als 60 Jahre), die Unternehmen (Zahl der Gesellschaften pro Tausend Einwohner, Zahl der selbständigen Unternehmen pro Tausend Einwohner, erwirtschafteter Mehrwert pro Beschäftigtem in den Unternehmen, Gästenächte pro Tausend Einwohner im Fremdenverkehr), die Einkommensverhältnisse (steuerpflichtiges Einkommen pro Einwohner, Anteil der neu gebauten Wohnungen im Wohnungsbestand, Zahl der PKW pro Tausend Einwohner), die Beschäftigung (Arbeitslosenquote, Anteil der Langzeitarbeitslosen zu den Arbeitslosen), sowie die Infrastruktur (Telefonnetzanschlüsse pro Tausend Einwohner, Anteil der an die Kanalisation angeschlossenen Wohnungen im Wohnungsbestand, An-
Regionalpolitik am Wendepunkt – Ungarn nach dem EU-Beitritt Karte 1:
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Wandel der Entwicklungspositionen der Kleinregionen in Ungarn zwischen 1994 und 2002
Quelle: Eigene Berechnung aufgrund der Daten des Ungarischen zentralen Amtes für Statistik (Entwurf: László Csordás)
Die meisten Kleinregionen im Nordwesten Transdanubiens konnten ihre günstigen Entwicklungspositionen bewahren, obwohl einige Kleinregionen im Grenzgebiet der Komitate Fejér, Gyır-Moson-Sopron und Veszprém weiterhin als mäßig entwickelt einzustufen sind. Rückblickend lässt sich also feststellen, dass diejenigen Kleinregionen im Nordwesten Transdanubiens, die bereits in den frühen 90er Jahren zum Zielgebiet der ausländischen Direktinvestitionen wurden, ihre gute Positionen sogar verbessert haben. Diese positive Entwicklung wurde allerdings nicht in die Peripherie dieser Großregion ausgedehnt. Das breite Einzugsgebiet von Budapest wurde zum eindeutigen Gewinner der Entwicklung der letzten Jahre. Die Ursache für diese positive Entwicklung liegt vor allem darin, dass diese Kleinregionen sowohl von der Verlagerung der Produktionsstätten aus Budapest, als auch von der Ansiedlung neuer Investoren profitierten – wegen der mangelnden und deswegen teueren Industrieflächen in der ungarischen Hauptstadt. In ähnlicher Weise wurde aber zwischen den Jahren 1994 und 2002 auch die periphere Situation der schwach entwickelten Kleinregionen stabilisiert. Kleinregionen im nordteil der an die Gasversorgung angeschlossenen Wohnungen im Wohnungsbestand, Zahl der Einzelhandelsgeschäfte pro Tausend Einwohner). Aufgrund dieser 16 Indikatoren wurde ein komplexer Entwicklungsindikator (KEI) gebildet, mit Hilfe dessen die Positionen der 150 Kleinregionen Ungarns zum Zeitpunkt 1994 und 2002 berechnet wurden.
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Zoltán Cséfalvay östlichen Drittel Ungarns – also Kleinregionen nordöstlich der Linie PétervásáraTiszafüred-Berettyóújfalu – befinden sich fortwährend am untersten Ende der Entwicklungsskala der ungarischen Kleinregionen. In Anbetracht der Tatsache, dass diese Großregion nach wie vor als bevorzugtes Zielgebiet der ungarischen Regionalpolitik gilt, lässt sich diese zeitliche Persistenz eher als Misserfolg der staatlichen Umverteilungspolitik einstufen. Zum Verlierer der letzten Jahre wurden dagegen die Kleinregionen im Süden der ungarischen Tiefebene und im Süden Transdanubiens. Diese Kleinregionen konnten ihre früher gute oder zumindest mittelmäßige Position nicht bewahren. Alleine die Großstädte wie Pécs und Szeged sind nach wie vor durch starke Entwicklungsdynamik gekennzeichnet. Damit besteht die Gefahr, dass in Ungarn, neben der schwach entwickelten Großregion im Nordost-Ungarn, im Süden des Landes eine neue, fast zusammenhängende Zone unterentwickelter Kleinregionen entsteht.
Karte 2:
Regionale Disparitäten in Ungarn anhand des KEI, auf der Ebene der Kleinregionen (2002)
Quelle: Eigene Berechnung aufgrund der Daten des Ungarischen zentralen Amtes für Statistik (Entwurf: László Csordás)
Regionalpolitik am Wendepunkt – Ungarn nach dem EU-Beitritt
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Aufgrund dieser starken zeitlichen Persistenz der regionalen Disparitäten lässt sich in Ungarn eine markante Dreiteilung des Landes beobachten (vgl. Karte 2). Die Kleinregionen nördlich der Linie Budapest-Plattensee, sowie jene im breit gefassten Verdichtungsraum von Budapest gehören zu den entwickelten Gebieten Ungarns. Die Kleinregionen im südlichen Teilen Transdanubiens und der ungarischen Tiefebene sind größtenteils als mäßig entwickelt einzustufen. Die schwach entwickelten peripheren Kleinregionen konzentrieren sich hingegen im nordöstlichen Teil Ungarns. 6.2 Globale Vernetzung der ungarischen Kleinregionen Diese regionalen Disparitäten stehen in einem sehr engen Zusammenhang mit der globalen Vernetzung der Kleinregionen. In der globalen Wirtschaft unserer Zeit wird nämlich der Wettbewerb immer weniger durch die einzelnen Unternehmen oder die Nationalwirtschaften, hingegen immer stärker durch die global integrierten Produktionsketten gestaltet. Obwohl in der Fachliteratur eine Vielzahl von Bezeichnungen für diesen Ketten vorzufinden sind – wie die “value chain“ von Michael Porter (1990), die “global commodity chain“ von Gary Gereffi (Gereffi/Korzeniewicz 1994), oder das “global production network“ von Peter Dicken (1998) – so lassen sie sich doch vereinfacht als Netzwerke von miteinander in Arbeitsteilung stehenden Unternehmen und Unternehmensteilen definieren. Als charakteristische Merkmale für solche Netzwerke ist zu vermerken, dass sie für die Herstellung eines Produktes oder einer Produktgruppe spezialisiert sind, die die ganze Spannweite des Produktionsprozesses von der Planung über die Fertigung bis zur Vermarktung umspannen, und bei jedem Element der Netzwerke zum Wert des Produktes ein Neuwert beigegeben wird. Für ein Land wie Ungarn, mit einer kleinen und offenen Wirtschaft, ist es eine lebensnotwenige Frage, inwieweit sich ihre Regionen und Standorte bzw. die Unternehmen in diesen Regionen und Standorten den globalen Produktionsketten anschließen können. So haben beispielsweise György Enyedi (2004) und Imre Lengyel (2003) bereits in mehreren Studien auf den starken Zusammenhang zwischen Wettbewerbsfähigkeit und globaler Vernetzung der einzelnen ungarischen Regionen hingewiesen. Dabei bietet sich die Unternehmensgrößestruktur der Regionen als ein nützliches Instrument zu Erfassung der globalen Vernetzung der Regionen an, da in Ungarn zwischen der Größe der Unternehmen und der geographischen Reichweite des Marktes der einzelnen Unternehmen eine signifikante Verknüpfung besteht.11 Aufgrund dieses Zusammenhangs wurde in dieser Studie ein komplexer Index für die Erfassung der globalen Vernetzung ungarischer Regionen erarbeitet, wobei drei Typen von Kleinregionen abzugrenzen sind:12 11
12
Laut dem Ungarischen Institut für Wirtschaftsanalyse (Magyar Gazdaságelemzı Intézet) ist der Absatzmarkt für die Mikrounternehmen (weniger als 10 Beschäftigte) fast ausschließlich der eigene Standort. Dagegen setzen die Kleinunternehmen (Beschäftigtenzahl zwischen 10 und 49) bereits 45 Prozent ihrer Produkte außerhalb des eigenen Standortes, meistens in anderen Regionen Ungarns ab. Weiterhin ist im Bereich der mittelgroßen Unternehmen (Beschäftigtenzahl zwischen 50 und 249) zu beobachten, dass sie weniger als ein Drittel ihrer Produkte am eigenen Standort absetzen und sogar 18 Prozent ihrer Produkte ins Ausland exportieren. Für die Erfassung der globalen Vernetzung von Kleinregionen wurden Indikatoren wie Eigeneinahmen der lokalen Selbstverwaltungen, die Zahl der Unternehmen mit einer Beschäftigtenzahl höher als 250, die Zahl der Aktiengesellschaften, die Zahl der Großunternehmen (Beschäftigtenzahl größer als 250) je 100 mittelgroßen Unternehmen (Beschäftigtenzahl zwischen 50 und 249), Zahl der Großunternehmen (Beschäftigtenzahl größer als 250) je 100 Kleinunternehmen (Beschäftigtenzahl zwischen 10 und 49) in eine Analyse einbezogen. Aufgrund dieser Indikatoren wurde ein komplexer Index für die globale Vernetzung (KIGV) der 150 un-
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Zoltán Cséfalvay Kleinregionen in globalen Netzwerken, Kleinregionen in heimischen Netzwerken, Kleinregionen außerhalb von Netzwerken.
Die Regionalstruktur der globalen Vernetzung von ungarischen Kleinregionen weist auf eine inselartige Modernisierung des Landes, sowie auf die starke Rolle der geographischen Erreichbarkeit der Regionen hin (vgl. Karte 3).
Als Spiegelbild der inselartigen Modernisierung Ungarns sind die Kleinregionen mit starker globaler Vernetzung relativ verstreut. So finden wir global vernetzte Inseln auch in den wenig entwickelten Großregionen, etwa die Kleinregionen Pécs, Szeged, Szolnok, Kecskemét, Debrecen und Miskolc, also die größeren Städte des Landes. Darüber hinaus sind aber auch zwei markante, global integrierte Entwicklungsachsen zu beobachten: der Korridor Budapest-Mosonmagyaróvár und der Korridor BudapestPlattensee. Diese zwei global integrierten Achsen verschmelzen im breiten Verdichtungsraum von Budapest immer stärker. Auch die in heimischen Netzwerken integrierten Kleinregionen bilden bereits einige Zonen, etwa zwischen der Achse Budapest-Mosonmagyaróvár und der Achse Budapest-Plattensee, sowie zwischen der Achse entlang der Donau südlich von Budapest und den östlichen Bereichen des Verdichtungsraums Budapest. Zurzeit haben diese Kleinregionen die besten Chancen auf eine künftige Integration in die globalen Netzwerke. Weiterhin sind Zonen von Kleinregionen mit einer Vernetzung zu heimischen Netzwerken auch in Regionen östlich der Donaulinie zu beobachten, etwa die Achse Debrecen-Nyíregyháza, sowie die Entwicklungsachse im Süden, im Komitat Békés. Diese Zonen sind aber überwiegend von Kleinregionen außerhalb der Netzwerke umgeben, so sind ihre Chancen auf eine künftige globale Vernetzung eher als bescheiden einzustufen. Dagegen verläuft die Zone der Kleinregionen außerhalb der Netzwerke entlang der Staatsgrenze im Norden, im Osten und zum Teil auch im Süden Ungarns, wobei eine starke Konzentration dieser Regionen im Nordosten Ungarns zu beobachten ist. Die Integration dieser Kleinregionen, die im Schnitt 150 bis 200 Kilometer entfernt von Budapest liegen, wird vor allem durch eine schlechte Infrastruktur erschwert. Deswegen stellt in diesem konkreten Fall der Ausbau von Autobahnverbindungen ein weitaus besseres Mittel zum Aufholen dar, als die einfache Umverteilung der Ressourcen.
garischen Kleinregionen berechnet.
Regionalpolitik am Wendepunkt – Ungarn nach dem EU-Beitritt Karte 3:
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Regionale Disparitäten in Ungarn anhand des KEI, auf der Ebene der Kleingebiete (2002)
Quelle: Eigene Berechnung aufgrund der Daten des Ungarischen zentralen Amtes für Statistik (Entwurf: László Csordás)
6.3 Entwicklungsgrad und globale Vernetzung der Kleinregionen in Ungarn Obwohl der Zusammenhang zwischen der globalen Vernetzung und dem allgemeinen Entwicklungsgrad der Kleinregionen theoretisch auf der Hand liegt, lassen sich in Ungarn auch markante Abweichungen von dieser Regel beobachten (vgl. Abbildung 4):
Die Gruppe der entwickelten Regionen besteht zahlenmäßig zu gleichen Teilen aus Regionen mit globaler und Regionen mit heimischer Vernetzung In ähnlicher Weise ist die Gruppe der mäßig entwickelten Regionen aufgeteilt. Die eine Hälfte lässt sich als in die heimischen Netzwerke integrierte Regionen einstufen. Die andere Hälfte der Regionen ist hier nicht vertreten. Die Gruppe der mäßig entwickelten Regionen ist sehr instabil, von den 47 Kleinregionen verfügen nur sechs Regionen über globale Vernetzungen. Es ist fraglich, wann und wie die Kleinregionen außerhalb von Netzwerken wenigstens in die heimischen Netzwerke integriert werden können.
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Zoltán Cséfalvay
Abbildung 4:
Gliederung der Kleinregionen aufgrund ihrer allgemeinen Entwicklung und ihrer Vernetzung (Zahl der Kleinregionen)
Kleinregionen in GLOBALEN NETZWERKEN (30)
ENTWICKELTE Klein regionen (54)
MÄßIG ENTWICKELTE Kleinregionen (47)
SCHWACH ENTWICKELTE Kleinregionen (49)
Quelle:
24
6
Kleinregionen in HEIMISCHEN NETZWERKEN (58)
26
22
10
Kleinregionen AUßERHALB von NETZWERKEN (62)
4
19
39
Eigene Berechnung und eigener Entwurf aufgrund der Daten des Ungarischen zentralen Amtes für Statistik (Entwurf: László Csordás)
Fast drei Viertel der schwach entwickelten Regionen sind Regionen ohne Vernetzungen. Ihre Unterentwicklung ist sowohl Ursache als auch Konsequenz für diese Lage. Deswegen sollte in diesen Regionen die verstärkte Vernetzung zu einem übergeordneten Ziel der Regionalpolitik werden.
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Bezüglich des Entwicklungspotenzials sind zwei Gruppe von Kleinregionen besonders interessant: die eine Gruppe bilden die entwickelten Regionen, die aber nur in heimische Netzwerken integriert sind (26 Kleinregionen); die zweite Gruppe besteht aus den mäßig entwickelten Kleinregionen, die außerhalb von Netzwerken liegen (19 Kleinregionen). Die künftige Entwicklung dieser Regionen setzt eine stärkere globale oder heimische Vernetzung voraus.
Räumlich gesehen sind in Ungarn anhand der Entwicklung und der globalen Vernetzung der Kleinregionen markante Zonen zu beobachten (vgl. Karte 4).
Die geographische Lage der entwickelten und global vernetzten Regionen spiegelt die inselartige Modernisierung wider. Deswegen finden wir sie entlang der Achse Budapest-Mosonmagyaróvár und der Achse Budapest-Plattensee, sowie im Verdichtungsraum von Budapest.
Karte 4: Regionale Disparitäten in Ungarn anhand KEI und KIGV), auf Ebene der Kleinregionen (2002)
Quelle: Eigene Berechnung aufgrund der Daten des Ungarischen zentralen Amtes für Statistik (Entwurf: László Csordás)
Die mäßig entwickelten und in den heimischen Netzwerken integrierten Regionen liegen zwischen der Achse Budapest-Mosonmagyaróvár und der Achse BudapestPlattensee, sowie im Süden Transdanubiens und im Süden der Tiefebene. Erstere war bis jetzt trotz ihrer günstigen Lage zur Westgrenze von ausländischen Direktinvestiti-
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Zoltán Cséfalvay onen ausgeschlossen. Hier könnte eine gezielte Förderung der Clusterbildung die gegenwärtige Situation der Kleinregionen deutlich verbessern. Demgegenüber haben die Regionen im Süden Ungarns wegen ihrer schlechten verkehrstechnischen Anbindung geringere Chancen zum Aufholen. Die schwach entwickelten und außerhalb der Netzwerke liegenden Regionen umfassen die östlichen Grenzgebiete und das nordöstliche Drittel Ungarns. Sie bilden von Pétervására im Norden, über Csenger im Osten, bis Makó im Süden eine fast zusammenhängende Zone. Eine weitere zusammenhängende Zone ist im Süden Transdanubiens, in den Grenzgebieten der Komitate Baranya, Tolna, und Somogy zu finden. In diesen Regionen ist ein Aufholprozess – wie geographische Lage nur zu deutlich zeigt – lediglich durch die Verbesserung der verkehrstechnischen Erreichbarkeit zu erzielen.
Unter dem Gesichtspunkt der Regionalpolitik lassen sich anhand der Analyse der Kleinregionen im Hinblick auf ihrer Entwicklung und Vernetzung zwei Zielgebiete mit guten Aufholchancen bestimmen: das eine Zielgebiet stellen die entwickelten und in den heimischen Netzwerken integrierten Kleinregionen dar, welche sich geographisch im breit gefassten Verdichtungsraum von Budapest konzentrieren. Durch eine gezielte Förderungspolitik ist die globale Integration dieser Kleinregionen in relativ kurzer Zeit zu erreichen. Die mäßig entwickelten, aber außerhalb von Netzwerken liegenden Regionen befinden sich größtenteils im Süden der ungarischen Tiefebene. Auch dort könnte eine gezielte Förderungspolitik den Aufholprozess stark beschleunigen. Beide Regionen verfügen über gute Voraussetzungen zum Aufholen, wozu sie jedoch externe Hilfe benötigen. Als Fazit dieser Analyse lässt sich festhalten: Die Regionalpolitik in Ungarn sollte sich in Zukunft weniger auf die extrem schwach entwickelten Regionen konzentrieren, sondern ihre Aufmerksamkeit vielmehr auf die Regionen mit besseren Chancen zum Aufholen und zu einer globalen Vernetzung fokussieren. Literatur Axt, Heinz-Jürgen, 2000: Solidarität und Wettbewerb – die Reform der EU-Strukturpolitik. Strategien für Europa, Gütersloh. Bokros, Lajos, 2004: Verseny és szolidaritás, in: Élet és Irodalom, Budapest. Breuss, Fritz, 2001: Makroökonomische Auswirkungen der EU-Erweiterung auf alte und neue Mitglieder. WIFO Monatsberichte 11, Wien, S. 655-666, http://www.wifo.ac.at/Fritz.Breuss/mb_2001_11_05_osterweiterung_makroeffekte.pdf Dezsı, Márta, 1994: A területi önkormányzatok jogállása és választási rendszere, in: Agg, Zoltán/Pálné Kovács, Ilona (szerk.): A rendszerváltás és a megyék, Comitatus, Veszprém, S. 55-57. Dicken, Peter, 1998: Global Shift. Transforming the World Economy, Third Edition, London. Dieringer, Jürgen, 2000: Ungarn – Vom „demokratischen Zentralismus“ zur dezentralisierten Demokratie? In: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung: Jahrbuch des Föderalismus 2000, Baden-Baden, S. 370-383. Dieringer, Jürgen/Pogátsa, Zoltán, 2005: Ungarn: Das Gelegenheitsfenster schließt sich, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung (Hrsg.): Jahrbuch des Föderalismus 2005, BadenBaden, S. 489-498. Enyedi, György, 2004: Regionális folyamatok a posztszocialista Magyarországon, in: Magyar Tudomány, szeptember. FitzGerald, Garret, 1998: Twenty-five Years of EU-Membership: Retrospect and prospect, paper delivered at the 21st Anniversary Dublin Economics Workshop, Kenmare, October.
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Perspektiven der europäischen Umweltpolitik nach der Osterweiterung Johannes Kleis
1
Einführung
Nach dem Sturz der kommunistischen Regime in den mittel- und osteuropäischen Ländern (MOEL) standen die neuen, demokratischen Regierungen vor schwerwiegenden Aufgaben. Eine wirtschaftlich desolate Lage, problematische soziale Bedingungen und ein gesellschaftlicher Modernisierungsrückstand; die Thematik der Umwelt musste unter solchen Umständen zwangsläufig an zweiter oder dritter Stelle rangieren. Die gewünschte Aufnahme in die Europäische Union verlangte aber eine intensive Beschäftigung mit der Umwelt und den darauf bezogenen Politiken. Der „acquis communautaire” musste von den beitrittswilligen Staaten vollständig übernommen werden – eine Herausforderung gerade im Bereich des Umweltschutzes: „Im Umweltbereich mussten die relativ armen MOEL mehr als 250 Richtlinien und Verordnungen zur Umweltpolitik im allgemeinen und zu den Bereichen Luftverschmutzung, Gewässerschutz, Abfallentsorgung, Umgang mit Wasser und Müll, Naturschutz und Biodiversität, Industrie- und Chemikaliensicherheit, Biotechnologie und Lärmbelästigung umsetzen” (Andonova 2004: 397). Die großen Anstrengungen der acht MOE-Länder führen zu starken Veränderungen für die Strukturen und Mechanismen der Gemeinschaft. Mit der Erweiterungsrunde wurden Staaten aufgenommen, deren Bruttosozialprodukt in allen Fällen niedriger ist als das der ärmsten Länder der EU-15. Neue Koalitionen der ärmeren Staaten können dazu beitragen, dass die Diskussionen und Verhandlungen über die finanziellen Mittel zäher verlaufen werden. Die zugenommene Heterogenität kann bewirken, dass die Entscheidungsfindung in den Organen der EU erschwert wird (Kreile 2004: 650). Schwierige wirtschaftliche Rahmenbedingungen und ein härter gewordenen Konkurrenzkampf haben Befürchtungen geweckt, die neuen Mitgliedstaaten werden sich als umweltpolitische Bremsklötze erweisen. Durch die Osterweiterung ergeben sich aber auch Chancen für die europäische (und globale) Umweltpolitik: Das Gewicht der Europäischen Union in internationalen Umweltverhandlungen nimmt zu, die Ausweitung der strengen europäischen Umweltstandards auf 10 weitere Staaten wird sich langfristig positiv auf die Umwelt auswirken. Auf der Ebene der politischen Öffentlichkeit in den zehn neuen Mitgliedstaaten erhofft man sich eine verstärkte Hinwendung und Diskussion zum Thema Umweltschutz. Risiken und Chancen halten sich die Waage. Welche dieser beiden Erwartungen sich als richtig erweisen wird, soll im Nachfolgenden untersucht werden. Zunächst soll ein Rückblick auf vergangene Erweiterungsrunden Einsicht in die zu erwartenden Schwierigkeiten bieten. In einem zweiten Teil steht die aktuelle Situation der Umwelt im Vordergrund: Was wurde in den Staaten der EU-15 erreicht und was erwartet uns im Hinblick auf die neuen Mitglieder? Die Merkmale der europäischen Umweltpolitik, die abgeschlossenen Beitrittsverhandlungen und die Konsequenzen der Erweiterung werden in einem dritten Teil erläutert. Die Herausforderungen der Zukunft werden uns im vierten Teil beschäftigen.
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Johannes Kleis
Abschließend wird am Konzept der Politikintegration beispielhaft erläutert, auf welche Weise die Erweiterung um zehn neuen Mitgliedstaaten Einfluss auf einen zentralen Bereich der europäischen Umweltpolitik gehabt hat. 2
Erfahrungen und Rückschlüsse aus vergangenen Erweiterungsrunden
Neben der Beschreibung der generellen Herausforderungen der bisher größten Erweiterungsrunde auf das „policy making“ der EG/EU stehen vor allem die Auswirkungen der Aufnahme zehn neuer Mitgliedstaaten auf die europäische Umweltpolitik im Mittelpunkt wissenschaftlicher Untersuchungen. Diese Tatsache lässt sich dadurch erklären, dass die neuen Mitgliedstaaten oft nicht zu den umweltpolitischen Vorreitern gezählt werden. Deswegen hat man negative Auswirkungen auf die Umweltpolitik der Europäischen Union befürchtet. Ob diese Einschätzung stichhaltig ist, wird uns im Nachfolgenden eingehender beschäftigen. An dieser Stelle werden wir näher auf die Frage eingehen, welche Rückschlüsse man aus den früheren Beitritten im Hinblick auf die 2004er Erweiterungsrunde ableiten kann. Denn auch bei vorigen Erweiterungen wurde die Befürchtung geäußert, dass diese ungünstige Auswirkungen auf die Umweltpolitik haben würden. Und doch hat die Aufnahme von Staaten wie Spanien, Griechenland oder Portugal keine negativen Konsequenzen für die europäische Umweltpolitik gehabt. Gründe für eine gegenteilige Annahme ließen sich unschwer finden: Die Integration von Regionen unterschiedlichster Entwicklungsstärke ist nämlich immer eine der wichtigsten Herausforderungen hinsichtlich einer schlagkräftigen europäischen Umweltpolitik gewesen (Schreurs 2004: 32). Die Erfahrung der vorausgegangenen Beitritte zeigt uns aber, dass auch nach der Erweiterung um zehn Staaten, deren Entwicklungsniveau unter dem durchschnittlichen Niveau der alten Mitgliedstaaten liegt, keine Verschlechterung der Umweltstandards befürchtet werden muss. Mehrere Gründe stützen diese Vermutung. An erster Stelle gilt die Beobachtung, dass die EU in den neuen Mitgliedstaaten stets auf eine Verbesserung und Intensivierung der Umweltregulierung einwirken konnte. Durch die Mitgliedschaft in einem Staatenverbund mit umweltpolitischen Vorreitern wie Schweden, den Niederlanden und Deutschland wurden die Staaten mit weniger ausgeprägtem Umweltbewusstsein zur Annahme stringenter Bestimmungen gezwungen (Schreurs 2004: 28). Als weiterer Grund für eine positive Erwartung der umweltpolitischen Konsequenzen der Erweiterung werden die institutionellen Veränderungen der EU angeführt. Diese würden eine Thematisierung bürgernaher Probleme wie die Umweltproblematik erleichtern und dadurch eine Beschäftigung mit diesen Problemen erzwingen (Schreurs 2004: 29). Zu diesem Aspekt gesellt sich eine spezifisch osteuropäische Perspektive. Dort haben GrassrootOrganisationen die Chancen der Erweiterung erkannt. Diese liegen in der Tatsache, dass den Bewegungen weitere Entfaltungsmöglichkeiten geboten werden, dadurch dass nun auch die europäische Ebene für die Artikulierung der jeweiligen Anliegen genutzt werden kann. So lassen sich nationale Regierungen dadurch zu umweltpolitischem Engagement zwingen, dass mit dem Druckmittel der europäischen Institutionen und Öffentlichkeit gespielt wird.1 Der dritte Grund ergibt sich aus der Tatsache, dass gerade die Aufnahme von 1
Diese Funktion ergibt sich vor allem seit die Harmonisierung abgeschlossen und die praktische Umsetzung von Richtlinien in den Vordergrund gerückt ist, die Umweltgruppen bei der Einhaltung der Vorschriften als
Perspektiven der europäischen Umweltpolitik nach der Osterweiterung
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Staaten, in denen der Umweltschutz nicht zu den Prioritäten zählt, zu einem Umdenken in der Anwendung der umweltpolitischen Instrumentarien geführt hat. Ergebnis dieser Überlegungen ist die graduelle Anwendung neuer umweltpolitischer Instrumente2. Man erhofft sich von diesen Instrumenten eine flexiblere und Kosten sparendere Umsetzung der EUVorschriften. Gerade die neuen Mitgliedstaaten könnten von dieser Entwicklung profitieren, da ihnen für eine Eins-zu-eins-Umsetzung kostenintensiver Regulierungen die finanziellen Mittel gefehlt hätten (Schreurs 2004: 30). Zuletzt gibt es Gründe für die Annahme, dass eine Erweiterung sich darüber hinaus positiv auf die internationale umweltpolitische Präsenz der EU auswirken wird (Schreurs 2004: 31). Auch wenn die Herausforderungen an die Integrationsfähigkeit der EU durch die Erweiterung mit zehn Staaten mit erheblichen sozialen und wirtschaftlichen Problemen erheblich steigen werden, lässt sich aus den oben genannten Erfahrungen aus früheren Erweiterungsrunden ableiten, dass sich auch die EU-Osterweiterung letztendlich positiv auf die Umweltbedingungen wird auswirken können. 3
Die Situation der Umwelt: Zwischen Hoffnung und Resignation
Am Vorabend der Erweiterung der EU mit zehn neuen Mitgliedstaaten konnten die alten Mitgliedstaaten einerseits mit einer gewissen Befriedigung auf das Erreichte zurückblicken, aber war man sich andererseits auch bewusst, dass noch vieles unerledigt war und neue Herausforderungen um Aufmerksamkeit warben. Seit dreißig Jahren existiert eine europäische Umweltgesetzgebung. Auch wenn diese kein Selbstzweck sein darf, ist sie „das Hauptwerkzeug, um die Berücksichtigung von Umweltbelangen in allen relevanten Politikbereichen zu erreichen“ (Roth-Behrendt/Nowak 2004: 305). Betrachtet man das Erreichte, muss die Bewertung zumindest ambivalent ausfallen. Die Europäische Umweltagentur hat bei ihrer Beurteilung des Zustands der Umwelt in der EU bei weniger als einem Drittel der untersuchten Indikatoren eine Verbesserung festgestellt. 3 Die Indikatoren mit unveränderter oder verschlechterter Tendenz halten dem die Waage. Weil die Bewertung statistischer Daten immer eine Frage der jeweiligen Sichtweise ist, müssen die Ergebnisse der europäischen Umweltpolitik wohl an anderer Stelle gesucht werden. Eine positive Errungenschaft ist das europäische Umweltrecht nämlich vor allem aus dem Grund, dass im Rechtsraum der EU Umweltfragen nicht mehr originär nationalstaatliche Angelegenheiten sind, sondern gemeinsam – und deswegen vielleicht auch in gemeinsamen Interesse – nach Lösungsansätzen gesucht werden muss. Die Entwicklung der Umweltpolitik und der Umweltbedingungen in der EU-27 wird in hohem Maße davon abhängig sein, welche Folgen der Beitritt haben wird. Trotz zum Teil politisch motivierter Bedenken, die Erweiterung würde eine Verschlechterung für den Umweltschutz bedeuten (so wurde zum Beispiel des Atomkraftwerk Temelin in der Tschechischen Republik als Umweltgefahr dargestellt), wird der Schutz der Umwelt in den alten Mitgliedstaaten nicht durch den Beitritt an sich gefährdet, sondern viel eher durch mögliche
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Kontrollorgane auftreten können. Im Zusammenhang mit dem Beitritt befürchteten die Umweltaktivisten zunächst die „ökologischen Nebeneffekte der Integration wie wachsendes Konsumdenken und Zunahme von Verpackungen” (Andonova 2004: 401). Zu diesen New Environmental Policy Instruments werden „market based instruments“ (z.B. Subventionen, Emissionszertifikate, Steuern und „deposit refund schemes“), Ökolabel und freiwillige Übereinkünfte gezählt. Angaben aus dem Jahr 2002.
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Veränderungen der europäischen Umweltpolitik. Diese Konsequenzen sind zum Teil noch nicht absehbar. Aber auch hinsichtlich der Lage der Umwelt an sich gab es im Hinblick auf die Beitrittskandidaten viel unnötige Aufgeregtheit. Wenn man beim Thema Umwelt über die Lage in den baldigen EU-Mitgliedern sprach, geschah dies sehr oft mit einer gewissen Besorgtheit in Anbetracht der vielfältigen Problemsituationen. Dieses Bild war und ist aber nur zum Teil korrekt: „Despite popular Western generalizations about East European ecocide arising from widespread and widely reported environmental problems, the nature and extent of environmental degradation was actually highly uneven across CEE countries” (Pavlínek/Pickles 2004: 241).
Zum einem wurde man nämlich in den mittel- und osteuropäischen Staaten mit ökologischen Katastrophen auf Grund einer extensiven industriellen Nutzung konfrontiert. Wasserund Luftverschmutzung sowie Bodenverunreinigung erreichten in manchen Gebieten unerträgliche Ausmaße. Zum anderen gibt es im Gegensatz zu den alten Mitgliedstaaten aber auch unberührte Gebiete, in denen die ökologische Qualität ungemein positiv beschrieben werden kann (Pavlínek/Pickles 2004: 241). In sofern hatten der Sturz der kommunistischen Regime und die darauf folgenden Änderungen sowie die Vorbereitungen auf und der tatsächlich erfolgte Beitritt zur EU sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf die Umweltsituation in den MOE-Staaten. Durch den plötzlichen industriellen Kollaps und den Rückgang der Produktivität sank der Ausstoß giftiger Emissionen dramatisch. Zusammen mit neu eingeführten und strenger kontrollierten Richtlinien verbesserte dies die ökologische Situation erheblich. Neue Probleme ergeben sich durch eine Zunahme des Konsums und eine dadurch verursachte Zunahme des Straßenverkehrs oder einer Verschärfung der Abfallproblematik (Pavlínek/Pickles 2004: 244). Nach dem Beitritt zur Europäischen Union ist nicht mit großen Veränderungen zu rechnen. Schon erwähnt wurden die Abfallproblematik und die Zunahme des Verkehrs; eine unkontrollierte Stadtentwicklung lässt sich als weitere Folge aufzählen. Wegen widersprüchlicher Anforderungen hinsichtlich der Umsetzung eines einheitlichen Marktes ergeben sich außerdem Schwierigkeiten für die konsequente Durchführung umweltpolitischer Richtlinien. Um günstige Bedingungen für ausländische Investoren herzustellen und auf diese Weise den europäischen Vorschriften zu entsprechen, kann es passieren, dass Regierungen in den MOE-Staaten lässiger mit Umweltregulierungen umgehen. „The imperatives of lowering the cost of investments and production and of building environmentally sound policies do not always coincide” (Pavlínek/Pickles 2004: 255). 4
Merkmale und Charakteristika der Europäischen Umweltpolitik
Die europäische Umweltpolitik wurde seit Anfang der neunziger Jahren durch folgende Charakteristika besonders geprägt: das „leader-laggard Prinzip“, den Begriff der Nachhaltigkeit und der Einfluss der Deregulierungstendenzen (von Homeyer 2001: 1-2; Collier 1996: 12). Ein weiteres überaus relevantes Merkmal ist die so genannte „implementation gap“. Letztendlich charakterisiert auch die seit dem 5. Aktionsplan für die Umwelt (1992 – 1999) zum ersten Mal thematisierte Einbeziehung der Umweltbelange in andere Politikbereiche die europäische Umweltpolitik. Das “leader-laggard Prinzip” „implies that environmental pacesetters among the Member States and regulatory competition propel EU environmental policy forward“ (von
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Homeyer 2001: 1). Die Gründe der Staaten, sich für eine europäische Umweltpolitik einzusetzen, sind demnach abhängig von ökologischen, wirtschaftlichen, administrativen und politischen Belangen. Nachhaltigkeit hat sich seit dem 5. Umweltaktionsplan als umweltpolitisches Schlagwort durchgesetzt und wird auch in Zukunft beim Thema Umweltschutz eine bedeutende Rolle spielen. Eine verbesserte Vereinbarkeit von Umweltschutz und Wirtschaftlichkeit zählt zu den allgemeingültigen Postulaten der umweltpolitischen Diskussionen. Die Forderungen nach einem vorsichtigerem staatlichen Eingreifen oder Deregulierung hat sich auch in der Umweltpolitik breit gemacht: Der Ruf nach neuen Instrumentarien und die Abkehr von konsequent durchregulierten Bestimmungen wird sich weiter durchsetzen (Collier 1996: 14-16). Diese Charakteristik der europäischen Umweltpolitik kann sich vor allem für die neuen Mitgliedstaaten als positiv erweisen, da sie deren Aufholbedarf hinsichtlich der Verwaltungen und Kontrollbehörden Rechnung trägt. Das Problem der „implementation gap“ weist darauf hin, dass europäische Verordnungen und Richtlinien durch die Mitgliedstaaten nur mangelhaft umgesetzt werden. Gerade im Bereich Umwelt wird jedes Jahr aufgezeigt, dass viele Mitgliedstaaten den europäischen Vorschriften nur ungenügend Folge leisten4 (Europäische Kommission 2002). Dieses Problem wird sich für die neuen Mitgliedstaaten in besonderem Maße ergeben, da viele europäischen Vorschriften mit einem großen Finanzaufwand verbunden sind.5 Umweltintegration bedeutet, dass der Umweltschutz bei der Durchführung aller Gemeinschaftspolitiken miteinbezogen werden muss.6 Die im Mai 2004 erfolgte Erweiterung wird hinsichtlich dieser Charakteristiken einige Änderungen ergeben. Bereits hingewiesen wurde auf die voraussichtliche Verschärfung der „implementation gap-Problematik“ und den zu erwartenden positiven Vorteilen der Deregulierung. Die „leader-laggard Dynamik“ wird sich wahrscheinlich verlangsamen. Zum einen gibt es politische und wirtschaftliche Gründe für ein vorsichtigeres Vorgehen der neuen Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Umweltpolitik. Auf Grund des wirtschaftlichen Rückstandes gegenüber den alten Mitgliedstaaten ist zu erwarten, dass die finanziellen und wirtschaftlichen Kosten bestimmter Umweltschutzregelungen weitere Fortschritte in diesem Bereich möglicherweise verzögern werden. Aber auch die politischen Prioritäten lassen den Schluss zu, dass wegen der immer noch erheblichen Anstrengungen der Transformation die Umweltpolitik in absehbarer Zeit nicht oben auf der Tagesordnung rangieren wird (von Homeyer 2001: 19). Zum anderen werden Einigungen auf europäischer Ebene im Bereich Umwelt durch die zugenommene Zahl und Diversität der Mitgliedstaaten voraussichtlich erschwert werden (von Homeyer/Carius/Bär 2000: 21).
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Ein Drittel der durch die Kommission im Jahr 2002 eröffneten Vertragsverletzungsverfahren kamen aus dem Bereich des Umweltsektors. In 65 Fällen hat die Kommission den Europäischen Gerichtshof angerufen und 137 Stellungnahmen auf Grundlage von Art. 226 EGV abgegeben. 555 weitere Beschwerden über vermeintlich unzulängliche Implementierung wurden an die Kommission herangetragen (Europäische Kommission 2002: 8). Und auf Grund der existierenden bürokratischen Unzulänglichkeiten sind weitere Schwierigkeiten hinsichtlich der Umsetzung der europäischen Gesetzgebung zu erwarten. Verpflichtung auf Grund von Artikel 6 EGV.
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Johannes Kleis Die Beitrittsverhandlungen: Zählbare Erfolge und bedauerliche Versäumnisse
Nach Schätzungen der Europäischen Kommission gehörten die Umweltvorschriften mit zu den teuersten Teilen des „acquis“. Die Beitrittsländer mussten Investitionen im Wert von 120 Mrd. Euro tätigen (Andonova 2004: 398). Und obwohl die Beitrittsländer die Mittel für die Umsetzung der Rechtsvorschriften grundsätzlich selbst aufbringen mussten, hat die Europäische Union den Kandidatenländern mit finanzieller Hilfe unter die Arme greifen müssen. Im Rahmen des PHARE-Programms (Poland/Hungary Aid for the Reconstruction of the Economy) wurden für den Zeitraum 2000 bis 2006 jährlich 1,56 Mrd. Euro zur Verfügung gestellt. Das Ziel dieses Programms war die Vorbereitung der Kandidatenländer auf den Beitritt und konzentrierte sich auf die zwei Hauptbereiche Investitionenaufbau (Entwicklung der Strukturen, Strategien, Humanressourcen und Managementfähigkeiten) und beitrittsorientierte Investitionen (kofinanzierte Investitionen in den Ausbau der ordnungspolitischen Infrastruktur sowie von Maßnahmen zur Wahrung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts)7 (Roth-Behrend/Nowak 2004: 319). Das 1992 ins Leben gerufene LIFE-Programm (das Hauptfinanzierungsinstrument für die europäische Umweltpolitik) wurde bereits in der Vorbereitungsphase auf den Beitritt durch einige der Kandidatenländer in Anspruch genommen. Zypern und Malta konnten außerdem Ansprüche im Rahmen des „LIFE-Third Countries Programme“ geltend machen. Die Unterstützung im Bereich der Umwelt nach dem Beitritt wird sich laut Angaben der Europäischen Kommission verdreifachen. „Until the end of the current budgetary period in 2006, the new Member States will receive some €8 billion, which is more than 10% of the total investment requirements.”8 Die EU-Unterstützung durch den Struktur- und Kohäsionsfonds wird 21.7 Mrd. Euro betragen – 3 Mrd. Euro der insgesamt für den Kohäsionsfonds reservierten 6 Mrd. werden für Umweltprojekte angewandt werden. „The new Member States will also have the opportunity to complete gaps in institution-building in the environment field after accession, especially with twinning and exchange programmes. The so-called ‘Transition Facility’ (€420 million 2004-2006) provides such support to the new Member States.”9 Die Vorgaben und Hilfen der Europäischen Kommission haben sich aber nicht nur positiv auf die Umweltbedingungen und die Umsetzung des gemeinschaftlichen Besitzstandes ausgewirkt. Das bereits thematisierte Implementationsdefizit, besonders im Bereich der Umweltgesetzgebung, wird sich aller Voraussicht nach – gerade auch auf Grund bestimmter, in den Beitrittsverhandlungen getroffener Vereinbarungen – auf die neuen Mitgliedstaaten ausweiten. Zwar wurden den zehn Beitrittskandidaten Übergangsfristen zugesagt und es bestehen finanzielle Hilfen, um die oftmals umfangreichen Verordnungen umzusetzen, jedoch muss befürchtet werden, dass die Bemühungen der EU, die Kandidatenländer zu jedem Preis zum Stichtag 1. Mai beitrittsbereit zu machen, langfristig auch gegenteilige Folgen haben könnten. So werden administrative Strukturen geschaffen, deren nachweislicher Nutzen bisher – nach drei Jahren Mitgliedschaft – nicht erbracht werden konnte. Mit 7
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Die beiden anderen Finanzierungsinstrumente waren ISPA und SAPARD. ISPA (Instrument for Structural Policies for Pre-Accession) stellte für den Zeitraum 2000 – 2006 jährlich 1,04 Mrd. Euro für Kosten bei der Angleichung der Rechtsvorschriften im Umwelt- und Verkehrsbereich zur Verfügung. SAPARD (Special Accession Programme for Agriculture and Rural Development half bei der Vorbereitung auf die Teilnahme an der Gemeinsamen Agrarpolitik und den Gemeinsamen Markt – bis 2006 mit jährlich 520 Mio. Euro (RothBehrendt/Nowak 2004: 320). Memo/04/86 der Europäischen Kommission vom 19.04.2004 – Questions and Answers on enlargment and environment. Ebenda.
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anderen Worten werden die formalen Bedingungen erfüllt, damit der Weg zum Beitritt offen steht. Die tatsächliche Umsetzung des „acquis“ verschiebt sich allerdings auf ungewisse Zeit (von Homeyer 2001: 25). Dieses Problem könnte durch die Erlaubnis längerer Übergangszeiten reduziert werden. Damit würde sich der Anreiz für Scheinlösungen verringern. Übergangszeiten hat es in diesen Beitrittsverhandlungen aber kaum gegeben.10 Nur wenige der beantragten Übergangszeiten wurden tatsächlich in die Beitrittsurkunden aufgenommen. „These agreements confirmed the EU’s pledge to cut down on the transition periods requested, to provide for the firm indication of the EU’s determination to force new members to adopt strict environmental protection standards before being allowed in, and to limit any transitional periods given to investment-heavy directions without direct influence in the internal market“ (Sciberras 2002: 15).
Ein weiterer Grund für die zögerliche Haltung der EU, weitergehende Übergangsfristen zu erlauben, ist die Befürchtung, dass einige der wirtschaftlich schwächeren, alten Mitgliedstaaten im Gegenzug auch ihre Bemühungen zur korrekten Umsetzung der EUUmweltbestimmungen zurückfahren könnten (von Homeyer 2001: 27). Die Diskussion um Für und Wider langer Übergangsfristen rührt aber nur an einem Aspekt der Beitrittsverhandlungen. Die Umsetzung des „acquis“ hat in manchen Fällen nämlich dazu geführt, dass bereits existierende Standards verwässert oder abgeschwächt wurden. „On several occasions politicians who were sceptical about environmental regulation used the process to water down existing environmental legislation to bring it into line with less demanding minimum standards required by the acquis“ (Pavlínek/Pickles 2004: 258). 6
Die Europäische Umweltpolitik nach der Erweiterung
Der Beitritt eines Staates oder mehrerer Staaten zur Europäischen Union führt zu der Frage, wie sich die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen im neuen Mitgliedsstaat verändern werden. Es interessiert aber auch die umgekehrte Fragestellung, nämlich wie sich die europäische Politik durch die Zunahme der Mitglieder auf 27 verändern wird. Diese Frage ist deswegen wichtig, weil einerseits die Zahl der Mitgliedstaaten den Schluss nahe legt, dass die europäischen Strukturen einer bedeutenden Belastung ausgesetzt sein werden, und weil andererseits die Skepsis hinsichtlich der Umweltschutzstandards in den neuen Mitgliedstaaten beachtlich ist. Dementsprechend gehen die meisten Untersuchungen auch davon aus, dass sich der Beitritt eher negativ auf die europäische Umweltpolitik auswirken wird. Diese Annahme wird uns im nächsten Teil beschäftigen. An erster Stelle wollen wir die Frage klären, welche Kapazitäten die neuen Mitgliedstaaten haben, um die europäischen Umweltpolitik mitzugestalten. Es ist selbstverständlich, dass die begrenzten Kapazitäten der hauptsächlich kleinen Staaten nicht dafür ausreichen, in allen Politikbereichen gleichermaßen Einfluss auszuüben. Im Allgemeinen wird erwartet, 10
Übergangszeiten hat es vor allem für solche Regulierungen gegeben, „die mit hohen Kosten für nationale Akteure aus Industrie und Verwaltung verbunden sind“ (Andonova 2004: 409). Als solche müssen Wasserund Abfallwirtschaft betrachtet werden. Zwanzig der 49 zugestandenen Übergangszeiten sind jedoch bereits ausgelaufen oder werden in diesem Jahr auslaufen.
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dass die neuen Mitgliedstaaten ihre Kräfte werden bündeln und sich dementsprechend auf bestimmte Politikbereiche werden konzentrieren müssen (Jehlicka/Tickle 2004: 82). Ob die Umweltpolitik zu diesen Prioritäten zählen wird, lässt sich noch nicht absehen. Direkt vor, während und nach der Zeit der politischen Wende 1989/90 hat der Umweltschutz in den MOE-Staaten zunehmend einen bedeutenden Platz eingenommen. Die Umweltproblematik wurde den Machthabern und dem kommunistischen Gesellschaftsmodell angerechnet, sodass die Thematisierung des Umweltschutzes auch eine Thematisierung der verfehlten politischen Leistungen bedeutete, sich dementsprechend in der Forderung nach demokratischeren Verhältnissen niederschlug. Viele progressive Umweltschutzbedingungen in den MOE-Ländern nach der Wende waren auf diesen Umstand zurückzuführen (Jehlicka/Tickle 2004: 83; von Homeyer 2001: 19). Seit Anfang der 1990er Jahre nimmt das Interesse an Umweltthemen graduell ab; grüne Parteien verschwinden aus der Politik und die grüne Zivilgesellschaft ist in starkem Maße abhängig von ausländischer Hilfe (Jehlicka/Tickle 2004: 84). An zweiter Stelle gibt es inhaltliche Gründe, die für die Annahme sprechen, dass die neuen Mitgliedstaaten eher einen bremsenden Einfluss auf die EU-Umweltpolitik haben werden. Einmal in der EU angekommen, erlöst von dem Druck des Erweiterungsprozesses, werden andere Themen den Umweltschutz wohl eher in den Hintergrund drängen: „Limited administrative capacities, lack of domestic political incentives […], and the preoccupation with the economic and social implications of transition and EU accession” werden zu einer Verschiebung der politischen Prioritäten führen (von Homeyer 2004: 67).
Einen politischen Schulterschluss mit südeuropäischen Ländern, um umweltpolitische Themen zu blockieren, wird von Jechlicka und Tickle aber ausgeschlossen (Jechlicka/Tickle 2004: 91). Demzufolge sollte man vielleicht eher von Passivität sprechen als von einer Blockadehaltung oder einem negativen Einfluss der neuen Mitgliedstaaten. In anderen Bereichen wird die europäische Umweltpolitik auf große Unterstützung hoffen können. So wird die Harmonisierung von umweltbezogenen Produktstandards eine Priorität für die neuen Mitgliedstaaten darstellen. Um mit den stark regulierten Mitgliedstaaten mithalten zu können, liegt es im Interesse der Unternehmen in den neuen Mitgliedstaaten, weitergehende EURegelungen zu akzeptieren, um den Marktzugang zu sichern11 (von Homeyer 2004: 66). Auch in der Nachhaltigkeitsdebatte verspricht man sich einiges durch den Beitritt. Da sich diese Staaten noch ausnahmslos in einer wirtschaftlichen Umbruchphase befinden und an den alten Mitgliedstaaten anschauliche Beispiele erleben, welche Folgen nicht nachhaltiges Wirtschaften haben kann, besteht die Hoffnung, dass Nachhaltigkeit in den MOE-Ländern auf ein größeres Echo stoßen wird. Für diese Staaten würde es wirtschaftlich und ökologisch sinnvoll sein, für den Erhalt der bedeutenden ökologischen Vorteile (große Gebiete mit intakter Biodiversität, traditionelles Landwirtschaften und hohe Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel) besondere Anstrengungen zu unternehmen. Da sich das Nachhaltigkeitsregime generell noch in der Entwicklungsphase befindet und noch keine verfestigten Strukturen aufweist, ist es auch von den MOEL noch beeinflussbar, was zu seiner Popularität si-
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Diese Annahme gilt zumindest für exportorientierte und multinationale Unternehmen. „Unternehmen und Wirtschaftszweige dagegen, die mit der Konkurrenz durch Importe zu kämpfen haben oder den nationalen Markt beliefern, erwarten wenig Vorteile und in manchen Fällen sogar Verluste durch die wachsende Konkurrenz und die Harmonisierung der Regeln“ (Andonova 2004: 400).
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cherlich beitragen wird. Auch berücksichtigt der Begriff der Nachhaltigkeit Themen wie soziale Entwicklung und wirtschaftlichen Fortschritt, weswegen es gerade für die neuen Mitgliedstaaten interessant sein dürfte, sich aktiv mit diesem Thema zu beschäftigen (von Homeyer 2004: 63, 68-69). 7
Herausforderungen für die Zukunft
In seiner Rede vor dem Europäischen Parlament über die Fortschritte der europäischen Umweltpolitik 2005 und die Herausforderungen des Jahres 2006 bezeichnete Stavros Dimas, Kommissar für Umwelt, die Unterstützung der neuen Mitgliedstaaten bei der Umsetzung ihrer in den Verhandlungen übernommenen Verpflichtungen als eine der großen Aufgaben für das kommende Jahr.12 Bereits im Bericht über die Umweltpolitik 2004 hat die Europäische Kommission auf die Auswirkungen der EU-Erweiterung für die künftige Politik hingewiesen und die vollständige Umsetzung des EU-Umweltrechts angemahnt. (Europäische Kommission 2005: 2, 9). In einer Umfrage des European Environmental Bureau unter Umwelt-NGO’s aus den neuen Mitgliedstaaten wird diese Feststellung untermauert, mit der Erkenntnis, dass die unzureichende administrative und finanzielle Ausstattung die ökologischen und rechtlichen Veränderungen bremsen wird.13 Im umweltpolitischen acquis sind wenig explizite Bestimmungen über einen Institutionenaufbau zu finden. Wie die Einhaltung der Regeln und Standards institutionell abgesichert wird, ist den Mitgliedstaaten in der Regel selbst überlassen. Die Anforderungen an die (zu errichtenden) Institutionen spiegeln sich an den Aufgaben, mit denen sie befasst sein werden: Planung, Kontrolle, Lizenzvergabe, Inspektion, Durchführung und Qualitätskontrolle (Ecotec Research 2001: 4). Die großen Anstrengungen der neuen Mitgliedstaaten, sich institutionell optimal auf den Beitritt vorzubereiten, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Strukturen bis jetzt hauptsächlich formal bestehen, aber in der Praxis noch erhebliche Defizite aufweisen. Die spezifische Situation in den neuen Mitgliedstaaten wird die „alltäglichen“ Herausforderungen der europäischen Umweltpolitik weiter verschärfen. Diese Herausforderungen orientieren sich an den Prioritätsbereichen des 6. Umweltaktionsprogramms: Klimaänderung, biologische Vielfalt und Ökosysteme, Umwelt und Gesundheit und Ressourcennutzung. Außerdem hat die Erneuerung der Strategie von Lissabon für Wachstum und Beschäftigung ein weiteres Mal auf die Rolle des Umweltschutzes für die Bereiche Wachstum, Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit hingewiesen. In den nächsten Jahren soll vor allem die Förderung der Öko-Innovation dazu führen, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Die Verbesserung der Rechtsvorschriften, neue Maßnahmen und die Verbesserung der Effizienz sollen ebenfalls zu den Prioritätsgebieten des kommenden Jahres gehören. Die Vereinfachung der gesetzlichen Vorschriften soll zu einer kostengünstigeren Erreichung der gesetzten Ziele führen.
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SPEECH/06/117, Stavros, Mitglied der Europäischen Kommission vor dem Europäischen Parlament am 22. Februar 2006. EEB-Umfrage „The environmental results of the accession process. Observation from environmental organisations in the new member states” unter Mitgliedsorganisationen in neun der zehn neuen Mitgliedstaaten (April 2004).
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Johannes Kleis Beispiel: Environmental Political Integration
Die oben genannten Herausforderungen weisen auf Defizite hin, die auch durch eine umfangreiche Umweltgesetzgebung nicht abgebaut werden konnten. Ein Lösungsansatz, die Bedrohungen der Umwelt in den Griff zu bekommen, ist die so genannte „umweltpolitische Integration“ (EPI, Environmental Political Integration). Im Folgenden werden die Implikationen der Erweiterung für dieses Konzept besprochen. In den späten 1980er Jahren wurde – angeregt durch globale Umweltprobleme – vermehrt die Frage nach der Vereinbarkeit von wirtschaftlichem Fortschritt und dem Schutz der Umwelt diskutiert. Der Begriff der Nachhaltigkeit prägt seit diesem Zeitpunkt die umweltpolitische Debatte. In der EU wurde diese Diskussion im 5. Umweltaktionsplan aufgegriffen.14 Zum einen reagiert die Kommission mit der Anerkennung der Notwendigkeit, die Thematik des Umweltschutzes auch in den Sektoren anzusprechen, die für Verschmutzung verantwortlich sind.15 Zum anderen interpretiert sie die Bestimmungen des Subsidiaritätsprinzips auf solche Weise, das eine Einbeziehung aller staatlichen und gesellschaftlichen Akteure in der europäischen Entscheidungsfindung gewährleistet werden soll (von Homeyer 2001: 14). Der von der EU gewählte Ansatz der Politikintegration, mit dem Ziel, die Anforderungen der Nachhaltigkeit umzusetzen, ist argumentativ nachvollziehbar. „First, there is a broad agreement that it facilitates more rational policy-making, in that negative environmental consequences of a sector policy decision can be considered at an earlier stage and more easily prevented or mitigated. Likewise, positive environmental consequences could more easily be maximized. Second, many also agree on the normative case for giving a higher priority to environmental issues in relation to traditional sector and economic objectives” (Persson 2004: 1).
In der Europäischen Union wird EPI auf drei Ebenen praktiziert. „Societal integration“ geschieht im Hinblick auf die Einbeziehung aller relevanten gesellschaftlicher Akteure bei der Gestaltung und Umsetzung einer bestimmten „policy“. „Administrative integration“ steht im Zusammenhang mit dem „implementation deficit“ und der Anwendung flexibler Regulierungsmethoden und der Praxis der Kommission, vermehrt auf Rahmenabkommen zu setzen, in denen unterschiedliche Regulierungsmethoden zur Geltung kommen und eine flexible Umsetzung ermöglicht wird. Die „political integration“ bezieht sich auf eine Reform der institutionellen Entscheidungsmechanismen (von Homeyer 2001: 16). Diese Forderung wurde 1998 auf dem Europäischen Rat von Cardiff konkretisiert. Die verschiedenen Räte sollten eigene Strategien zur Umsetzung der EPI in ihrem jeweiligen Sektor machen. 16 “Key drivers behind this initiative were the general acknowledgement that the segmented and hierarchical EU institutions produced incoherent policies […]” (Persson 2004: 5).
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Der 5. Aktionsplan für die Umwelt wurde 1993 veröffentlicht und umfasst den Zeitraum bis zum Jahr 2000. „Under the headings of sustainability and shared responsibility, the aim of the programme ist to achieve a better integration of environmental concerns into other policy areas, and to have a greater involvement of all economic and social partners” (Collier 1996: 5). Seit dem Vertrag von Maastricht ist Nachhaltigkeit eines der Ziele der EU (Art. 2 EUV). Art. 6 EGV fordert, dass die Erfordernisse des Umweltschutzes bei der Festlegung und Durchführung der Tätigkeiten der Gemeinschaft einbezogen werden sollen. Die Umsetzung dieses Beschlusses sollte durch regelmäßige Kontrollen und Evaluierungen geschehen, die sich an feststehenden Fristen und Indikatoren orientieren.
Perspektiven der europäischen Umweltpolitik nach der Osterweiterung
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Die bürokratische Tradition in den neuen Mitgliedstaaten und eine mangelhafte organisatorische und administrative Ausstattung lassen zunächst auf eine unzureichende Umsetzung des Konzepts der Umweltintegration schließen. Aber im Vorfeld der Erweiterung wurden die Chancen für die Anwendung dieses Konzepts nicht einmal so schlecht eingeschätzt. Erstens gibt es in den neuen Mitgliedstaaten eine lange Tradition strategischer Planung – eine Notwendigkeit administrativer umweltpolitischer Integration. Zweitens erweitert der Transitions- und Erweiterungsprozess die Möglichkeiten einer umfassenden institutionellen Reform zum Beispiel auf dem Gebiet der interministeriellen Zusammenarbeit. Drittens hat die Erweiterung eine bessere Koordinierung zwischen nationalen Behörden erzwungen. Viertens schließlich, kommt der Kommission während des Erweiterungsprozesses eine wichtige Rolle zu, so dass sie entscheidenden Einfluss auf die Umsetzung des Prinzips der Umweltintegration nehmen kann. Von Homeyer sieht an dieser Stelle das größte Versäumnis auf Seiten der Kommission. Die bereits erwähnte Rigidität in Bezug auf die Übergangszeiten habe gezeigt, dass es der Kommission eher um die formale Umsetzung des Besitzstandes gegangen ist, aber die administrativen Reformen – notwendig für eine effektive Implementierung – keinen bedeutenden Platz in den Überlegungen der Kommission eingenommen hätten (von Homeyer 2001: 30). 9
Schlussfolgerungen
Bereits bei früheren Erweiterungen gab es große Befürchtungen, die europäische Umweltpolitik könne Schaden erleiden. Die Aufnahme von Staaten mit einem Entwicklungsrückstand wurde als eine Gefahr für den europäischen Umweltschutz dargestellt. Die Festigkeit der europäischen Institutionen und Strukturen hat sich in dieser Hinsicht aber als sehr strapazierfähig erwiesen. Der gemeinschaftliche Besitzstand der EU im Bereich des Umweltschutzes ist umfangreich und weist auf rege Aktivitäten der europäischen Ebene hin. Auch Staaten der EU-15 standen (und stehen) diesem Eifer skeptisch gegenüber. Ein Beleg hierfür ist zum Beispiel das große Implementierungsdefizit oder die Tatsache, dass vom Subsidiaritätsprinzip zuerst im Bereich der Umwelt die Rede war.17 Dass die europäischen Verordnungen und Richtlinien, mit zum Teil erheblichen finanziellen Verpflichtungen, auch die neuen Mitgliedstaaten vor große Herausforderungen stellen werden, darf nicht verwundern. Die Herführung der einstmaligen Beitrittskandidaten durch die Kommission mit finanziellen Mittel oder praktischer Unterstützung im administrativen und organisatorischen Bereich war den MOEL eine große Hilfe. Die Fokussierung auf die bloße Umsetzung des acquis hat sich hingegen als Fehler erwiesen. Die Behauptung, den MOE-Ländern wäre Umweltpolitik fremd gewesen, ist ebenso falsch wie die Befürchtung, mit der Erweiterung zehn notorische Umweltsünder aufgenommen zu haben. Dennoch werden die umweltpolitischen Aufgaben die neuen Mitgliedstaaten herausfordern. Eine positive Koppelung von Umweltnormen und Märkten, die zielgerichtete Unterstützung des gesellschaftlichen Drucks, die Stärkung der nationalen Institutionen und die Anpassung von Unterstützungsprogrammen an nationale Bedingungen sind Strategien, um die Anpassung der MOEL an die europäischen Umweltschutzstandards zu garantieren (Andonova 2004: 410 – 411). Der Standortvorteil neuer Umwelttechnologien lässt sich nur durch teure Investitionen in Schutzmaßnahmen erreichen. Die neuen Mit17
Art. 130r der Einheitlichen Europäischen Akte
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gliedstaaten müssen überzeugt werden, dass trotz der hohen Kosten für die Umsetzung der bestehenden Gesetzgebung weitere Anstrengungen mittelfristig vorteilhafter sein werden, als das Einnehmen einer abwartenden Haltung. Literatur Andonova, Liliana, 2004: Die Osterweiterung der Umweltstandards, in: Osteuropa 54:5, S. 397-412. Carmin, J./Vandeveer, S.D., 2004: Enlarging EU Environments: Central and Eastern Europe from Transition to Accession, in: Environmental Politics 13:1, S. 3-24. Collier, Ute, 1996: Deregulation, Subsidiarity and Sustainability: New Challenges for EU Environmental Policy, Badia Fiesolana: EUI Working Papers. Ecotech Research and Consulting, 2001: Administrative Capacity for Implementation and Enforcement of EU Environmental Policy in the 13 Candidate Countries, Brussels: DG Environment. European Environment Agency, 2005: Environmental policy integration in Europe. Administrative culture and practices, Kopenhagen. Jehlicka, Petr/Tickle, Andrew, 2004: Environmental Implications of Eastern Enlargement: The End of Progressive EU Environmental Policy? In: Environmental Politics 13:1, S. 77-95. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 2002: Fourth annual survey on the implementation and enforcement of Community environmental law, Brussels: European Commission. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 2005: Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament. Bericht über die Umweltpolitik, Brüssel: Europäische Kommission. Krämer, Ludwig, 2004. Stand und Entwicklung des europäischen Umweltrechts, in Geistlinger, M. (Hrsg.) Umweltrecht in Mittel- und Osteuropa im internationalen und europäischen Kontext, Berlin. Kreile, Michael: 2004: Die Osterweiterung der Europäischen Union, in: Weidenfeld, W. (Hrsg.): Europa-Handbuch, Gütersloh. Pavlínek, Petr/Pickles, John, 2004: Environmental Pasts / Environmental Futures in Post-Socialist Europe, in: Environmental Politics 13:1, S. 237-265. Persson, Åsa, 2004: Environmental Policy Integration: An Introduction, Stockholm. Roth-Behrendt, Dagmar/Nowak, Annika, 2004: Die Umweltpolitik der EU, in: Weidenfeld, W. (Hrsg.): Europa-Handbuch, Gütersloh. Schreurs, Miranda, 2004: Environmental Protection in an Expanding European Community: Lessons from Past Accessions, in: Environmental Politics 13:1, S. 27-51. Sciberras, Anne Marie, 2002: Challenges for the Accession Countries in the EU’s Environmental Field, Eipascope 3, S. 15-18. Von Homeyer, Ingmar, 2001: EU Environmental Policy on the Eve of Enlargement, Badia Fiesolana: EUI Working Papers. Von Homeyer, Ingmar, 2004: Differential Effects of Enlargement on EU Environmental Governance, in: Environmental Politics 13:1, S. 52-76.
Daseinsvorsorge und die EU: Anmerkungen zu einem alten Streit und jüngeren Entwicklungen Markus M. Müller
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Einleitung
Wie sonst nur Subsidiarität, Beihilfe, Wettbewerb oder Währungsunion, löst das von Ernst Forsthoff im Jahre 1938 geprägte Konzept der Daseinsvorsorge in Deutschland geradezu pathologische Reaktionen in EU-Debatten aus. Auch wenn der Begriff seiner juristischen Funktion weitgehend beraubt ist, und ihm nur eine beschreibende Qualität zur Abgrenzung gegenüber staatlicher Eingriffsverwaltung einerseits und rein fiskalischem Handeln andererseits zukommt, so liegt sein politischer Charme doch gerade eben in dieser schillernden Biegsamkeit eines vermeintlich klaren, in Wahrheit aber völlig offenen Konzeptes begründet. Nimmt man als Ausgangspunkt Forsthoffs eigene Definition, so wird mit Daseinsvorsorge die staatliche Aufgabe zur Bereitstellung der für ein „sinnvolles menschliches Dasein notwendigen Güter und Leistungen“ bezeichnet. Würde man das normativ in dieser apodiktischen Lesart stehen lassen, hätten wir freilich eine Maximaldefinition, die den Staat, sofern er Daseinsvorsorge betreiben will, zu einem die Wirtschaft vollständig umfassenden Leviathan aufbläht. Liest man die Definition hingegen unter dem funktionalen Blickwinkel der staatlichen Verantwortung dafür, dass Versorgungsbereiche in einer bestimmten, für die gesamte Gesellschaft zufrieden stellenden Form erbracht werden, verliert sich der Totalitäts-Anspruch. Und sehr schnell gelangt man zu den zeitgenössischen Debatten um den „aktivierenden Staat“ bzw. den „Gewährleistungsstaat“. Etwas exakter als solche politisch-symbolischen Begriffe trifft freilich der im angelsächsischen Raum entstandene Terminus des „regulatorischen Staates“ die Sache. Dahinter verbirgt sich die Grundeinsicht, dass die staatliche Verantwortung für das Funktionieren von Sonderbereichen in Wirtschaft und Gesellschaft es nicht notwendig mit sich bringt, diese Bereiche auch in staatlicher Eigenregie zu führen. Nüchtern betrachtet haben Staaten spätestens seit dem 19. Jahrhundert „reguliert“, und zwar auch und gerade in der Daseinsvorsorge. Staatliche Eigentümerschaft war schon immer nur eines unter vielen Modellen. Das Gesagte gilt natürlich nicht nur für Deutschland. Es gilt für andere Staaten Europas sowie Nordamerikas ebenso. Die EU, folgt man Majone (Majone 1995), hat „Regulierung“ ihrerseits als Ausdruck von Staatlichkeit entdeckt. In einer Zeit, so schrieb er vor etwa 10 Jahren, in der der keynesianische Wohlfahrtsstaat nicht weiter auszubauen ist, wäre es unrealistisch zu erwarten, dass sich nun auf EU-Ebene ein paralleler Wohlfahrtsstaat entwickeln könne. Er sah vielmehr den europäischen regulatorischen Staat entstehen. Und nimmt man die Entwicklung wichtiger Bereiche der Daseinsvorsorge, etwa Energieversorgung oder Telekommunikation, so scheint ihm die Geschichte recht zu geben. Ich möchte im Folgenden drei Aspekte des Themas Daseinsvorsorge und EU beleuchten. Erstens, eine Verortung der Daseinsvorsorge im europäischen und mitgliedstaatlichen
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Kontext lässt vermuten, dass der Konflikt hier nicht durch Bereichsabgrenzungen, sondern durch Bestimmung des öffentlichen Interesses zu entschärfen ist. Zweitens, es gibt in Brüssel keinen „blue print“ für einen neues „Wettbewerbsparadigma“ in allen Wirtschaftsbereichen, auch nicht in der Daseinsvorsorge. Dazu muss man gar nicht das Beispiel der Gemeinsamen Agrarpolitik bemühen, die ja ein prototypischer Fall hochgradig reglementierter und marktferner Politikgestaltung ist. Und drittens, das Beispiel der Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland 2005 zeigt, dass ein ambitioniertes, stark liberalisierendes Regime (wie in Deutschland seit 1998), durch europäische Regulierung wieder stärker unter staatliche Aufsicht „zurück geholt“ werden kann. Mithin wird damit deutlich, dass die Vermutung, die EU-Kommission unterliege einer „Liberalisierungseuphorie“ so zu kurz greift. 2
Daseinsvorsorge zwischen EU und Mitgliedstaat
Das Spannungsverhältnis zwischen EU-Kommission und manchen Mitgliedstaaten, insbesondere Deutschlands und der deutschen Länder, ist im Hinblick auf den Topos Daseinsvorsorge offensichtlich. Will man diesen Konflikt besser verstehen, ist ein Blick auf die zentrale Bedeutung des Binnenmarktprojektes für die Kommission ebenso aufschlussreich, wie die Relevanz der Stärkung des Standortes EU als Politikziel der EU-Institutionen im Allgemeinen bzw. der Kommission im Besonderen. Man versteht die Rolle der EU-Kommission nicht, blendet man diesen Doppelauftrag und damit zusammenhängend das funktionale Selbstverständnis aus. Oft wird der Kommission ein einseitig liberalisierend-wettbewerblicher Ansatz vorgeworfen, der die sonstigen Gemeinwohlbelange eher ausgrenze. Die Erzeugung von Wettbewerb und mehr Markt in allen Mitgliedstaaten genieße Vorrang. Dabei würde einer Reihe wichtiger nichtökonomischer bzw. nicht-wettbewerblicher Zielsetzungen, wie der allgemeinen Versorgung zu fairen Preisen o.ä., zu wenig Aufmerksamkeit seitens der Kommission geschenkt. Tatsächlich ist die Mission der Kommission eine andere, und die besondere Rolle wettbewerbsorientierter Regulierung ist insofern Mittel zum Zweck. Im Vordergrund stehen, zumindest in wirtschaftspolitischer Hinsicht, zum einen das Binnenmarktprojekt und zum anderen die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes EU. Damit sind andere Politikziele, etwa im Bereich der Agrarpolitik oder der Sozialpolitik (von Außen- und Sicherheitspolitik bzw. Innenpolitik ganz abgesehen) freilich nicht ausgeschlossen. Dennoch bestimmen diese beiden Hauptziele das wirtschaftspolitische Handeln der Kommission auf der Sachebene. Der Binnenmarkt ist, wie allgemein bekannt, keineswegs ein Programm, das sich im Abbau von tarifären Hemmnissen erschöpft hat. Den EU-Binnenmarkt zu vollenden, heißt die Voraussetzungen für einen europaweiten gemeinsamen Markt zu schaffen. Damit wird der Marktzutritt, in allen seinen Facetten, zu einer zentralen Variable für die Arbeit der Kommission in der allgemeinen Wirtschaftspolitik. Die Legitimität des Ansatzes speist sich weiterhin auch aus der Ambition, den Standort EU international konkurrenzfähig zu machen. Schon die Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte, mit der eine Phase neuer Dynamik für den europäischen Integrationsprozess eingeläutet wurde, muss man vor diesem Hintergrund sehen. Und wenn die Kommission in Ihrer Mitteilung an EP und Rat über die Verwirklichung des Strom- und Erdgasbinnenmarktes 2004 gleich zu Beginn die höhere Zunahme der Arbeitsproduktivität in den Bereichen Erdgas-, Elektrizitäts- und Was-
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serversorgung in der EU (der 15) im Vergleich zu den USA hervorhebt, dann spiegelt sich darin die Kontinuität dieses Topos wider (s.a. EU-Kommission DG TREN 2005). Die relativ starke Betonung der Wettbewerbspolitik hat insofern ein Doppelgesicht: Marktzugang für den innereuropäischen Wirtschaftsverkehr zu erleichtern und damit das Zusammenwachsen nationaler Märkte zu ermöglichen und die Wirtschaft Europas stärker und effizienter zu machen für den Wettbewerb mit anderen Weltregionen. Die deutsche Begrifflichkeit der Daseinsvorsorge steht zu beiden Dimensionen in einem problematischen Verhältnis. Auch wenn, wie Püttner (2002: 34-36) ausführt, die Daseinsvorsorge traditionell als Rechtsbegriff keineswegs substanzielle Bedeutung in Schrifttum oder Rechtssprechung erlangte, sondern vielmehr deklaratorisch-beschreibenden Charakter hatte, ohne Rechtsfolgen und ohne eigene rechtliche Dogmatik, so fand er in den 1990er Jahren Eingang in europarechtliche und vor allem (deutsche) landesrechtliche Vorschriften, etwa in einige Gemeindeordnungen. Im EG-Vertrag selbst, also vor allem in den hier besonders einschlägigen Artikeln 86 und 16, wird allerdings eher von „Diensten bzw. Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ gesprochen. Lediglich in zwei Mitteilungen der Kommission von 1996 und 2000 taucht die Daseinsvorsorge selbst auf. Art. 86 stellt zunächst unmissverständlich klar, dass auch öffentliche Unternehmen der Wettbewerbsordnung des EG-Vertrages unterliegen, also insbesondere den Vorschriften zum Kartellverbot (Art. 81), dem Verbot missbräuchlicher Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 82) sowie dem Verbot staatlicher Beihilfen (Art. 87). Eine Qualifizierung dieses Grundsatzes folgt aus zwei Bestimmungen hinsichtlich der rechtlichen oder tatsächlichen Erfüllbarkeit von übertragenen Aufgaben (an öffentliche Unternehmen) sowie dem Ausmaß der durch die Aufgabenübertragung verursachten Beeinträchtigung des Handelsverkehrs. Solange an der Sinnhaftigkeit von de jure oder de facto bestehenden Monopolen öffentlicher oder öffentlich beliehener Unternehmen in den ehemaligen „wettbewerblichen Ausnahmebereichen“ der Versorgung mit Energie, Wasser, Telekommunikation und Post etc. europaweit politisch kein Zweifel bestand, war das in den genannten Normen angelegte Spannungsverhältnis zwischen Wettbewerbsorientierung und Schutzklausel eher unproblematisch. Nettesheim (2002: 41) bringt den Umschwung und den plötzlichen Rechtfertigungsdruck für öffentliche Unternehmen mit dem erwähnten Binnenmarktziel der 1980er Jahre in Verbindung. Voraussetzung dafür aber war, so ist an dieser Stelle zu ergänzen, dass Bereiche wie Telekommunikation oder Energieversorgung seit dieser Zeit auch politisch im Hinblick auf ihre Eigenschaft als „natürliche Monopole“ in Frage gestellt wurden. Während in der akademischen Debatte der Deutsche Helmut Gröner (1975) bereits Mitte der 1970er Jahre zwischen Netz und Betrieb in der Versorgungswirtschaft unterschied und damit den wettbewerblichen von dem nicht-wettbewerblichen Bereich trennte, begannen die USA und später auch Großbritannien in den 1980er Jahren, zunächst im Telekommunikationsbereich Wettbewerb einzuführen. Ende der 1990er Jahre, als die wettbewerbsorientierte Liberalisierungswelle bereits vollständig über Europa hinweg rollte, und insbesondere Energie, Transport und Telekommunikation voll erfasste, bemühten sich vor allem Deutschland und Frankreich um eine Stärkung der Schutzklauselwirkung. Mit dem Amsterdamer Vertrag kam der neue Artikel 16 in den EG-Vertrag, der dem Anschein nach „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ wieder unter eine besondere Obhut der nationalen Regierungen stellt. Sie sollen dafür Sorge tragen, „dass die
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Grundsätze und Bedingungen für das Funktionieren dieser Dienste so gestaltet sind, dass sie ihren Aufgaben nachkommen können“. Die Vorschrift gibt allerdings weder eine Freistellung von Art. 86, 81 und 82 her, noch wird hier ein Gegenprinzip geschaffen, das gleichwertig den marktkonformen Maßnahmen zur Sicherstellung der besonderen Funktionen dieser Dienste gegenüber steht (Nettesheim 2002). Im Gegenteil, wie Raza, Wedl und Angelo (2004: 20) in ihrer Analyse feststellen, beruft sich die Kommission bei Vorschlägen für Rechtsakte zur Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen neuerdings auch explizit auf Art.16. Die Autoren sprechen in diesem Zusammenhang von einer „affirmativen Wendung“ der Vorschrift. Auch der Art. III-166 des Verassungsentwurfs entlässt die betroffenen Bereiche keineswegs aus der Beachtlichkeit der Wettbewerbsregeln – und übrigens die Kommission nicht aus der Pflicht, darüber zu wachen! Das Europarecht bleibt im Hinblick auf die Daseinsvorsorge ambivalent. Und das kann auch gar nicht anders sein. Hierin spiegelt sich ein Kompetenzkonflikt zwischen Kommission und Mitgliedstaaten wider. Seine Auflösung wäre aber, ungeachtet der „realpolitischen“ Dimension, auch schon auf sachlicher Ebene kaum unter Beibehaltung des Konzeptes der Daseinsvorsorge zu bewerkstelligen. Denn selbst die Bereiche der Daseinsvorsorge sind umstritten, je nach politischer Auffassung. Die einen halten sich an traditionelle Auffassungen davon, wo „natürliche Monopole“ existieren. Die anderen zielen eher auf die Bedeutsamkeit bestimmter Produkte und Dienstleistungen für das Leben der Bürger. So zählen manche denn auch die Kreditversorgung oder den Wohnungsbau dazu (s.a. Kommission 1996). Letztlich bringen alle Versuche einer dauerhaften Abgrenzung daseinsvorsorgender Bereiche keinen Fortschritt. Erstens, weil sich unser Verständnis von „natürlichen Monopolen“ gewandelt hat und abhängig von technischen Neuerungen oder Substitutionsangeboten wohl auch weiter wandeln wird. Und zweitens, weil die Bedeutsamkeit von Produkten und Dienstleistungen voller Kontingenz und nicht zuletzt auch logischen Brüchen ist. Sicher ist die Versorgung der Bevölkerung mit Brot und Lebensmitteln erheblich grundlegender als die Kreditversorgung oder der Rundfunk. Dennoch kommt niemand auf den Gedanken, daraus einen öffentlichen Auftrag für das Backgewerbe abzuleiten. Quer zur Branchenbeobachtung ist deshalb eher, ganz dem Ansatz des regulatorischen Staates entsprechend, nach dem jeweiligen öffentlichen Interesse zu fragen. Und dieses liegt in der Tat für bestimmte Versorgungsbereiche, und gerade angesichts ihrer Funktionsfähigkeit unter „reinen“ Marktbedingungen, in gesellschaftlich-volkswirtschaftlichen Zielen begründet, wie zum Beispiel der gleichmäßigen „Versorgungssicherheit“, einem hohem bzw. stabilem „Qualitätsniveau“ oder günstigen bzw. regional gleichen „Preisen“. Ein solchermaßen zu definierendes öffentliches Interesse ist keineswegs unumgänglich mit Verstaatlichung eines Sektors, mit der Gewährung von Privilegien oder mit der Zuweisung von Beihilfen verbunden. Die Mittel zur Erreichung sind vielfältig (Müller 2003). Vor diesem Hintergrund erscheint es vernünftig, im Sinne einer langfristigen Lösung – im Hinblick vor allem auf die Beziehungen zwischen EU-Kommission und Mitgliedstaaten – auf das Konzept der Daseinsvorsorge zu verzichten. Wichtig ist die Bestimmung des öffentlichen Interesses. Dabei können und sollten die Mitgliedstaaten durchaus weite Spielräume erhalten. Lediglich der Grundansatz muss (und kann auch) marktkonform sein, so dass die marktkorrigierenden Wirkungen den Marktzutritt selbst (und damit den Aufbau eines staatenübergreifenden Marktes) nicht verhindern.
Daseinsvorsorge und die EU 3
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Sektorale Unterschiede
Das führt uns unmittelbar zum nächsten Aspekt dieses Themas, nämlich der unterschiedlichen Ausprägung wettbewerblicher Elemente in den regulatorischen Regimen einzelner Bereiche der Daseinsvorsorge. Diese Unterschiede regulatorischer Dichte und Inhalte in einzelnen Sektoren sind vordergründig auf verschiedene historische Verläufe zurück zu führen. So begann etwa die Liberalisierung des Telekommunikationssektors mit der Öffnung des Marktes für Endgeräte Ende der 1980er Jahre bzw. der hierzu einschlägigen Rechtsprechung des EuGH (Rs. C202/88, Frankreich/Kommission, Slg. 1991, S. I-1223). Entsprechend verlief auch in den Mitgliedstaaten die Liberalisierung nach Produktgruppen bzw. Dienstleistungsarten (Endgeräte, Mobilfunk, netzgebundene Telefonie). Anders dagegen etwa die Liberalisierung des Stromsektors. Hier verläuft der Liberalisierungspfad entsprechend der Größe der Abnehmer, d.h. der jeweils gehandelten Strommengen. Mit zwei Richtlinien von 1996 und 2003 wird der Strommarkt bis spätestens 2007 für alle Kunden in Europa liberalisiert sein. Im Rundfunk hingegen hat sich praktisch nichts getan. Vor allem die behilferechtliche Problematik der Rundfunkgebühren (für öffentlichrechtliche Rundfunkanstalten) ist auf Eis gelegt. Hier wird der Kulturbezug des Rundfunks in den Vordergrund gerückt, um eine marktfreundlichere Öffnung bzw. wettbewerbsneutralere Ausgestaltung zu verhindern. Das Fehlen eines „blue prints“ wettbewerbsorientierter Regime für alle Sektoren (der Daseinsvorsorge) auf EU-Ebene muss uns nicht verwundern. Im Gegenteil: angesichts der unterschiedlichen Strukturen der jeweiligen Industrien bzw. der unterschiedlichen Dynamiken ihrer Entwicklung kann man kaum etwas anderes erwarten. So war für die Telekommunikation die technische Entwicklung der letzten Jahrzehnte, insbesondere der neu aufkommende Mobilfunk, das bestimmende Element. Sie hat bisherige Rechtfertigungsgründe für das Vorliegen eines natürlichen Monopols zumindest zum Teil hinfällig gemacht. Die Neuausrichtung der Telekommunikation seit den 1990er Jahren kann man sicher zu den gelungenen Fällen auch europäischer Regulierungstätigkeit zählen. Anders ist die Situation etwa im Bereich des schienengebundenen Verkehrs. Hier ist aufgrund der enormen Substitutionskonkurrenz durch die Straße nur mit begrenztem Innovationspotenzial zu rechnen (Oettle 2000: 67). Entsprechende Projekte, wie der Transrapid, schwanken zwischen subventionierter Exporttechnologie und glatter Fehlinvestition. De jure haben zwar die großen („alten“) Flächenstaaten der EU Schienennetz und Betrieb mittlerweile getrennt. Von einem umfänglich funktionierenden Wettbewerb kann allerdings kaum die Rede sein. Und wie das Beispiel Großbritannien zeigt, ist eine echte Privatisierung des Netzes mit erheblichen Gefahren verbunden. Ein drittes Beispiel ist die Energieversorgung, hier insbesondere der Strombereich. Er ist weder einer ausgeprägten Substitutionskonkurrenz ausgesetzt, noch bringen technische Neuerungen fundamental neue Marktchancen. Großbritannien hatte bereits Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre mit der Entflechtung, Liberalisierung und Privatisierung seiner Elektrizitätswirtschaft begonnen. Das war aufgrund der Ausgangslage, nämlich der Existenz eines staatlichen, landesweiten Monopols auch relativ gut umzusetzen. Anders hingegen in Deutschland: hier gab und gibt es ein Nebeneinander von öffentlichen, halb-öffentlichen und privaten Unternehmen, die auf unterschiedlichen Stufen der Energieversorgung aktiv sind. Eine Trennung nach Netz und Produktion bzw. Verteilung ist da schon erheblich schwieriger. In Frankreich, um ein drittes einschlägiges Beispiel zu
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nennen, gab und gibt es mit der „Electricité de France“ (EdF) einen Staatsmonopolisten. Obgleich auf den ersten Blick damit die „britische Lösung“ (Trennung der Bereiche und Verkauf an unterschiedliche private Eigentümer) auf der Hand liegt, so steht die französische „service public“-Doktrin einer solcher Lösung bisher entgegen. In der politischen Realität führten diese drei Grundmodelle auch zur europarechtlichen Sanktionierung dreier unterschiedlicher Liberalisierungswege: Trennung von Netz, Produktion, Verteilung; Verhandelter Netzzugang für Dritte; Alleinabnehmer-Modell. Mit einer neuerlichen Richtlinie 54/2003 hat nun die EU-Kommission versucht, die Liberalisierung doch noch nach einem weitgehend konsolidierten, europaweit gültigen Modell durchzusetzen. In ihren jährlichen Berichten zur Lage des Marktes stellt sie fest, dass das Liberalisierungsziel bei weitem noch nicht erreicht ist. Deutschland zählt dabei, trotz seiner de jure weitgehenden Liberalisierung im Energiewirtschaftsgesetz 1998, keineswegs zu den Spitzenreitern. Es stellt sich die Frage, weshalb? 4
Reform des Energiewirtschaftsrechts in Deutschland
Nach der Richtlinie 1996 wurde das Energiewirtschaftsgesetz 1998 völlig neu gefasst. In einem erstaunlichen Reformakt wurde rechtlich ein vollständig liberalisierter Energiemarkt geschaffen. Der Umfang des Energiewirtschaftsgesetzes schrumpfte auf gut zwei Dutzend Paragrafen. Von heute auf morgen konnte jeder Kunde von jedem Anbieter Strom kaufen. Die vormaligen Versorgungsgebiete wurden – zumindest im Hinblick auf ihren Monopolcharakter – aufgehoben. Eine solche umfassende Liberalisierung schafft allerdings nicht per se schon einen funktionierenden Markt. Das Hauptproblem war die unveränderte Marktstruktur. Netz, Produktion und Verteilung waren in Deutschland nicht getrennt. Deshalb hatten Netzbetreiber bzw. Verteiler nur bedingt Interesse an hohem Wettbewerb um ihre Netzkapazitäten. Die marktoptimistische Hoffnung der Gesetzesmacher 1998 war, dass über den so genannten „verhandelten Netzzugang“ ein funktionierendes Marktgeschehen in Gang gesetzt wird. Die Marktteilnehmer sollten sich selbst über die Bedingungen des Netzzugangs einigen. Das Ganze wurde lediglich der Missbrauchsaufsicht der Kartellbehörden unterworfen. Eine pro-aktive Regulierung, die Konditionen festsetzt, Auflagen macht, Verzerrungen des Marktes aufgreift und korrigiert, fand nicht statt. Schnell wurden mit den so genannten „Verbändevereinbarungen“ Standardbedingungen des Netzzugangs festgelegt. Der Gesetzgeber hat sie in der Folge als „gute fachliche Praxis“ anerkannt und damit den Kartellbehörden die Hände gebunden. Diese „Standardbedingungen“ sehen aber Konditionen des Netzzugangs vor, die gerade für Marktneulinge de facto als Marktbarriere wirken. Jedenfalls zeigt die Wechselrate der Tarifkunden, dass – im Unterschied zu Großbritannien und manchen nordischen Ländern – in Deutschland kein Wettbewerb in Gang gekommen ist. Die Bundesrepublik hatte mit der vollständigen Liberalisierung den zweiten Schritt vor dem ersten getan. Sie hätte zunächst entweder den Markt neu strukturieren müssen – was angesichts der komplexen Eigentumsverhältnisse unmöglich war. Oder sie hätte einen starken Regulierer installieren müssen, der, ähnlich der Regulierung im Telekommunikationsbereich, mit einem wettbewerbsfreundlichen Ansatz den Netzzugang für Konkurrenten erleichtert und für effiziente Preisgestaltung sorgt. Lange war Deutschland – neben Malta – der einzige EU-Mitgliedstaat, der keine Regulierungsbehörde für den Energiebereich hatte.
Daseinsvorsorge und die EU
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Dies änderte sich mit dem neuen Energiewirtschaftsgesetz 2005. Die Bonner Regulierungsbehörde wacht nunmehr auch über den Netzzugang im Energiesektor. Diese „Bundesnetzagentur“ legt selbst wesentliche Elemente des Regulierungsansatzes fest. Zu den Kernvorgaben der genannten EU-Richtlinie gehört auch die Entflechtung der verschiedenen Sparten im Stromsektor, also die Trennung von Produktion, Netz und Verteilung. Diese Entflechtung kann freilich auf unterschiedliche Weise geschehen. Die schärfste Form ist die Separierung des Eigentums. Unterhalb dieser Form liegen die rechtliche Trennung, die buchhalterische Trennung, die Trennung des Managements sowie das Einziehen so genannter „chinesischer Mauern“ in internen Informationssystemen. Die Richtlinie sieht je nach Größenverhältnissen unterschiedliche Entflechtungsmaßnahmen vor, eine Eigentumstrennung wird allerdings nicht vorgeschrieben. Auch die Versorgungssicherheit findet Widerhall in der Richtlinie. Das Rezept der EU-Kommission für diesen Aspekt der Gemeinwohlverpflichtung, nämlich die Bereitstellung einer angemessenen Leistung zu einem erschwinglichen Preis für alle und überall, ist das so genannte „Universaldienst“-Prinzip. Dabei stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, von einer allgemeinen Abgabepflicht aller Marktteilnehmer zur Subventionierung unrentabler Netzteile bis hin zur Zwangsverpflichtung eines Anbieters als Universaldienstanbieter. Das Universaldienstprinzip fand schon Eingang in das deutsche Telekommunikationsregime und wird auch nun im Energiewirtschaftsgesetz umgesetzt. Im Rahmen des nun laufenden Vermittlungsverfahrens zwischen Bundestag und Bundesrat wurde eine Reihe von Punkten strittig gestellt. Darunter einige Details des Regulierungsansatzes, der Umfang der Berichtspflichten und der Stromkennzeichnungspflicht, die Finanzierung der Regulierungskosten sowie die Beteiligung der Länder. Als wesentliches ist die Beteiligung der Länder an der Regulierung – durch Landesregulierungsbehörden – zu nennen. Diese institutionelle „Aufspaltung“ der Regulierungskompetenz folgt dem Modell der Kartellaufsichten. Aus unserer Perspektive ist die laufende Novellierung deshalb ein interessanter Fall, weil ohne die neuerliche Richtlinie der EU 2003 aller Voraussicht nach eine so umfassende Stärkung der Rolle des Staates in der Energiewirtschaft nicht gekommen wäre – trotz der offensichtlichen Mängel des alten Regimes. Wir holen nun in Deutschland den versäumten ersten Schritt der Marktöffnung nach, nämlich Rahmenbedingungen für einen funktionstüchtigen Wettbewerb zu schaffen. Dazu braucht es den Staat als regulatorischen Staat – zumindest für gewisse Zeit. So könnte es doch noch zu der scheinbar paradoxen Entwicklung kommen, dass die europäische Herausforderung für die Daseinsvorsorge, die durch das Bemühen um ein Zusammenwachsen der einzelstaatlichen Märkte mittels wettbewerbsorientierter Liberalisierung gekennzeichnet ist, in einem neuen stärkeren Staat – nämlich als regulatorischer Staat – mündet. Wie erfolgreich der neue Ansatz sein wird, bleibt allerdings abzuwarten. Die Regulierungsbehörden konfrontieren Machtspiele, die in der Vergangenheit schon ihre auch politische Potenz gezeigt haben. Gegen ihre Interessen als Regulierungsbehörden zu agieren, dürfte insofern noch schwieriger sein als etwa im Falle des Telekommunikationsmarktes. Denn dort gab es mit der Deutschen Telekom AG nur einen, wenn auch sehr großen, „Gegenspieler“. Sollten die Instrumente des neuen Energiewirtschaftsgesetzes 2005, bzw. die Praxis ihrer Anwendung durch die nationalen Regulierungsbehörden nicht zu einer spürbaren Belebung des Wettbewerbs – zumindest im Strommarkt – führen, ist in absehbarer Zeit mit einer neuerlichen Diskussion um eine europäische Regulierungsbehörde zu rechnen.
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Literatur EU-Kommission, 1996: Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa. Mitteilung der Kommission, Brüssel, 11.9.1996. KOM (96) 443 endg. EU-Kommission, 2000: Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa. Mitteilung der Kommission, Brüssel, 20.9.2000. KOM (2000) 580 endg. EU-Kommission. Directorate general for Energy and Transport (DG TREN), 2005: Towards a competitive and regulated European electricity and gas market, Memo, Brüssel. Gröner, Helmut, 1975: Die Ordnung der deutschen Elektrizitätswirtschaft, Baden-Baden. Majone, Giandomenico (ed.), 1995: Regulating Europe, London Müller, Markus M., 2003: The new regulatory state in Germany, Birmingham. Nettesheim, Martin, 2002: Mitgliedstaatliche Daseinsvorsorge im Spannungsverhältnis zwischen Wettbewerbskonformität und Gemeinwohlverantwortung, in: Hrbek, Rudolf/Nettesheim, Martin (Hrsg.): Europäische Union und mitgliedstaatliche Daseinsvorsorge, Baden-Baden, S. 39-64. Oettle, Karl, 2000: Lücken, Widersprüche und andere logische Mängel in dem richtungsweisenden EU-Kommissionsdokument „Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa“, in: Cox, Helmut (Hrsg.): Daseinsvorsorge und öffentliche Dienstleistungen in der Europäischen Union. Zum Widerstreit zwischen freiem Wettbewerb und Allgemeininteresse, Baden-Baden, S. 57-72. Püttner, Günter, 2002: Das grundlegende Konzept der Daseinsvorsorge. Kommunale Daseinsvorsorge – Begriff, Geschichte, Inhalte, in: Hrbek, Rudolf/Nettesheim, Martin (Hrsg.): Europäische Union und mitgliedstaatliche Daseinsvorsorge, Baden-Baden, S. 32-38. Raza, Werner/Wedl, Valentin/Angelo, Silvia, 2004: Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen. Eine konzeptuelle, begriffliche und rechtliche Einführung ins Thema. Reihe Zur Zukunft öffentlicher Dienstleistungen Nr. 1, Wien: Arbeiterkammer.
Sozialpolitik in der erweiterten Europäischen Union Andrej Stuchlík
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Einleitung
Am 12. Mai 2005 stimmte der Deutsche Bundestag mit einer überwältigen Mehrheit von 569 zu 23 Stimmen1 für die Annahme des Entwurfs eines Vertrags über eine Verfassung für Europa (VVE). Doch der Ratifikationsprozess dieser so genannten Europäischen Verfassung2 in der EU-253 brachte die europäische Integration bald danach ins Straucheln, und gegenwärtig ist umstritten wie lange die selbstverordnete „pause for reflection“ (vgl. Blair 2005) andauern wird. Die abschlägigen Referenden in Frankreich und den Niederlanden im Jahr 2005, kritische Stimmen aus Großbritannien sowie Euroskeptiker aus Polen und Tschechien rühren einmal mehr an der Frage der Finalität4 der Union, allerdings mit einem anderen Schwerpunkt als bislang: Der Verlauf der Osterweiterung und der Entstehungsrahmen des Konvents rückten Kompetenzkataloge und veränderte Abstimmungsmodi in den Vordergrund, doch anscheinend kommt einem in der Integrationspolitik bislang vernachlässigten Politikfeld größere Bedeutung zu, der Sozialpolitik. Zwar hat sich ein einheitlicher Binnenmarkt etabliert, doch die Vorstellungen über seine sozialpolitische Leistungsfähigkeit innerhalb der Gemeinschaft gehen weit auseinander. Wie erwartet und erhofft hat der einheitliche Währungsraum den Wettbewerbsdruck innerhalb der Staaten der Eurozone und untereinander erhöht, dabei aber auch den Eindruck verstärkt, den Nationalökonomien entschwinde das Nationale. Zudem steht das viel beschworene Europäische Sozialstaatsmodell im Verdacht, wirtschaftlich leistungsschwächer als seine Konkurrenten zu sein. Das Problem der häufig kritisierten intransparenten Gewaltenverschränkung der EU kann der europäische Verfassungsvertrag teilweise beheben, nicht aber den schwelenden Disput zwischen einem dirigistisch-französisch geprägten Staatsverständnis einerseits und stärkerem Vertrauen in Marktprozesse auf der anderen Seite (Alesina/Perotti 2004). Die durch die Osterweiterung verursachte Zunahme an ökonomischer Heterogenität facht den Disput weiter an. Darin bekommt die Sozialpolitik zunehmend die Funktion eines Korrektivs zum Binnenmarkt aufgebürdet. Gleichwohl fallen die Erwartungen an den Binnenmarkt selbst höchst unterschiedlich aus: Einerseits die Einhegung schädlicher Globalisierungsprozesse5, andererseits das Rüstzeug zu mehr Wettbewerbsfähigkeit und damit 1
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Bei zwei Enthaltungen. Der Bundesrat folgte dem positiven Votum am 27. Mai mit 66 zu 3 Stimmen. Die rotrote Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern hatte sich der Stimme enthalten. Prominente Kritiker hinsichtlich der Zuschreibung dieses Begriffs für die vorgenommene Vertragsrevision sind die Verfassungsrechtler Grimm und Kirchhof (Grimm 2003, 2004, Kirchhof 2005). Einen abweichenden und normativen Ansatz verfolgt Müller (2005). Bislang haben 15 Mitgliedstaaten den Verfassungsvertrag ratifiziert. Für Joschka Fischer hingegen ist die Finalitätsdebatte seit dem Konventsentwurf beendet (2004). Bezeichnend für die politische Verknüpfung europäischer Integration mit nationalstaatlich orientierter Umverteilungspolitik ist die Aussage des französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac im Nachgang des ge-
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effektiver Teilhabe an eben jener Globalisierung. Zu diesem ökonomischen Antagonismus kommt hinzu, dass sich, oft unterhalb medialer Wahrnehmungsschwelle, eine Europäisierung der Sozialpolitik bereits vollzieht (Eichenhofer 2005a: 1ff.). Für die neuen Mitglieder der Europäischen Union bedeutet dies den fortdauernden Anpassungsdruck über die Annahme des acquis communautaire hinaus, aber zugleich einen auch sozialpolitischen Aufhol- und Konvergenzprozess. Nach zweijähriger Mitgliedschaft stellt sich die Frage nach den tatsächlichen Beitrittsauswirkungen auf die mittel- und osteuropäischen Staaten (MOE) im Bereich der Sozialpolitik. Daher verfolgt dieser Beitrag drei Ziele: Zunächst geht es um einen Überblick über die sozialpolitische Dimension der europäischen Einigung und die diesbezüglichen Kompetenzen der Union. Im zweiten Schritt steht der Wandel der mittel- und osteuropäischen Wohlfahrtsregime und zuletzt die Änderungen des Verfassungsvertrags im Fokus. 2
Grundlagen und Eckpunkte der Sozialpolitik der Europäischen Union
Zumeist ist mit Blick auf die EU nur von der Wirtschaftsgemeinschaft die Rede und nur selten von der „Sozialgemeinschaft“, die sie aber ebenfalls darstellt (Däubler 2004: 273). Kennzeichnend ist bereits der zielbestimmende Artikel 2 des Vertrags, in dem ein „hohes Beschäftigungsniveau“ und „ein hohes Maß an sozialem Schutz“ zum Ziel der Gemeinschaft erhoben werden.6 Dabei sind Schlüsselbegriffe wie „Europäisches Sozialmodell“ (vgl. Petring/Kellermann 2005; Witte 2004), „Sozialpolitische Agenda“ und „beschäftigungspolitische Aktionspläne“ schnell zur Hand, ohne dass immer deutlich wird, welche Politikmaßnahmen sich dahinter verbergen, und über welche legislativen Kompetenzen die Europäische Union im Segment der Sozialpolitik tatsächlich verfügt, geschweige denn verfügen sollte. Die breite Diskussion um das so genannte „eine“ Europäische Sozialmodell kann hier nicht nachgezeichnet werden, aber zwei Positionen stehen sich gegenüber: Die Befürworter des Modells als einem normativen Bezugspunkt innerhalb der Union sehen in sozialen Sicherungssystemen und sozialem Ausgleich gleichberechtigte Voraussetzungen einer prosperierenden Volkswirtschaft (O'Connor 2005: 349f.). Gegner verweisen hingegen auf die semantische Nähe des Begriffs zum „Wohlfahrtsstaat“, dessen Ausprägungen in der Union notwendigerweise der Zahl der Mitglieder entsprechen müssten. Von einem einzigen Modell könne dann per definitionem nicht gesprochen werden und der Rekurs auf RahmenAbkommen wie die Europäische Sozialcharta sei ausreichend.7
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scheiterten Referendums, wonach bei starkem Wirtschaftswachstum das Ergebnis ganz anders ausgefallen wäre. Der Verfassungsvertrag geht darüber hinaus: „Die Union strebt die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums an, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt (...). (Art. 3.3 VVE). Europäische Sozialcharta, 18.10.1961, Turin. Zur Rivalität dieser Wohlfahrtskonzeptionen siehe Busemeyer, et al. 2006. Ein wichtiger Anstoß zur Debatte lieferte das Weißbuch „European Social Policy – A Way Forward for the Union“ (European Commission 1994).
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2.1 Die Entwicklung einer Europäischen Sozialpolitik Europäische Sozialpolitik lässt sich in fünf Tätigkeitsbereiche unterteilen: 1.) der ESF Europäische Sozialfonds seit 1957 (als einer der vier Strukturfonds); 2.) koordinierter Sozialer Dialog, der auf eine Initiative von Jacques Delors des Jahres 1984 zurückging; 3.) der Dialog mit der Zivilgesellschaft; 4.) die sich fortentwickelnde Gesetzgebung und 5.) die Offene Methode der Koordinierung seit 2000. Im Folgenden geht es in erster Linie um die beiden letztgenannten Bereiche: Tatsächlich sind die formalen Kompetenzen der EU im Bereich der Sozialpolitik nur sehr schwach ausgeformt, denn trotz zahlreicher Richtlinien und der Rechtssprechung des EuGH „werden mindestens 95 Prozent aller Fragen des Arbeits- und Sozialrechts weiter auf rein nationaler Grundlage entschieden“ (Däubler 2004: 280). Gleichwohl verdient Beachtung, dass die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Bereich des koordinierenden Sozialrechts mannigfaltige Wirkung über genuin gemeinschaftlich geregeltes Recht hinaus erlangt hat (vgl. Eichenhofer 2005c).8 „Die Koordination der sozialen Sicherheit ist bis heute der mit Abstand weitest fortgeschrittene Teil der EU-Sozialpolitik“ (Eichenhofer 2005a: 2). Zugleich haben die Gemeinschaften insbesondere seit den 70er-Jahren eine bemerkenswerte Aktivität entwickelt: wenn auch die tatsächlich getroffenen Maßnahmen hinter dem ersten anspruchsvollen sozialpolitischen Aktionsprogramm des Jahres 1974 zurückblieben, verdienen Beachtung etwa die Lohngleichheitsrichtlinie von 1975 oder die Richtlinie über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit des Jahres 1978 (Däubler 2004: 274). Die Entwicklung lässt sich in verschiedene Phasen unterteilen: 2.1.1 Die Einheitliche Europäische Akte Nach einer Zurücknahme dieser Aktivitäten Ende der 1970er Jahre (unter anderem bedingt durch den Regierungswechsel in Großbritannien und dem Beginn der Thatcher-Ära), brachte die Einheitliche Europäische Akte im Nachgang der Süderweiterung neue Impulse: durch die neuen Art. 118a und 118b (EWGV) konnten einerseits im Bereich etwa des Arbeitsschutzes Mehrheitsentscheidungen durchgeführt werden, und die Kommission erhielt das Mandat, „den sozialen Dialog zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern zu fördern“ (Däubler 2004: 275). Die Einsetzung dieses Sozialen Dialogs wurde „verstanden als das Zusammenwirken der Sozialpartner auf Gemeinschaftsebene – als neues und eigenständiges Element der gemeinschaftsrechtlichen Normsetzung (Eichenhofer 2005b: 731)“. Das in dieser Zeitspanne vorangebrachte Binnenmarktprojekt ließ immer wieder die Forderung nach einem „sozialen Fundament“ desselben aufkommen und die im Verfassungsvertrag enthaltenen sozialen Grundrechte (Art. 87-94, VVE) wurden bereits damals diskutiert. Gemessen daran, blieb der Erfolg mager. Die in Art. 118a (EWGV) enthaltene Berechtigung, die ‚Arbeitsumwelt’ zu gestalten, beschränkte die Gemeinschaft allerdings auf den Erlass von Mindestvorschriften (ebd.). Nennenswert ist dabei etwa die Rahmen8
Als Beispiel mag etwa das Rangverhältnis von bilateralen Abkommen zwischen Mitgliedstaaten und dem koordinierenden Sozialrecht dienen. Bei der Berechnung von Leistungen der sozialen Sicherheit ist seit 2002 die „kumulative Anwendung von Zusammenrechnungsvorschriften aus Gemeinschafts- und Abkommensrecht geboten (ibid.: 561, Fn 54, Hervorhebung nicht im Original).
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richtlinie zum Arbeitsschutz von 1989, deren Bestimmungen teilweise über nationales Recht hinausgingen (Däubler 2004: 275). Als Quintessenz jener Bestrebungen verfestigte sich die Überzeugung: „Der ‚Binnenmarkt’ als Wirtschaftsraum ohne Binnengrenzen, in welchem die Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts entfaltet sein sollten, konnte ohne eine flankierende gemeinschaftliche Sozialordnung weder gedacht noch gelebt werden.“ (Eichenhofer 2005b: 728)
2.1.2 Von Maastricht bis zum Vertrag von Nizza Die wichtigste Neuerung dieser Phase ist das dem Unionsvertrag angehängte SozialAbkommen, welches von Großbritannien nicht angenommen wurde. Es ermöglichte der Union, Gesetzgebung „auf fast allen Gebieten des Arbeits- und Sozialrechtes“ zu initiieren (Däubler 2004: 276). Dazu zählt etwa im Rahmen des Schutzes der Arbeitnehmerfreizügigkeit auch die „Entsenderichtlinie“ des Jahres 1996 und die damit verknüpfbare Übertragung arbeitsrechtlicher Mindeststandards über den nationalen Rechtsrahmen hinaus. Zwei Jahre darauf leitete der EuGH in seiner Rechtsprechung aus den Binnenmarktfreiheiten des individuell Sozialversicherten den Anspruch auch auf „sozialrechtlich geschuldete Sachgüter und Dienste anderer Mitgliedstaaten“ (Eichenhofer 2005c: 562)9 ab. Die Vertragsrevision von Amsterdam überführte besagtes Sozialprotokoll förmlich in den Vertrag. Die damit verbundene Aufnahme Großbritanniens hing nicht zuletzt mit dem erfolgten Regierungswechsel zu einer Labour-Regierung zusammen.10 Eine gemeinsame Beschäftigungspolitik und die Sicherung sozialer Grundrechte wurden nun zu einem zentralen Anliegen der EU und standen gleichberechtigt neben ökonomischen Zielen (O’Connor 2005: 348). Ein eigens eingerichteter Beschäftigungsausschuss sollte die Kooperation und den Informationsaustausch der Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet fördern. Explizite Aufnahme fand das Thema „Beschäftigung“ in den Art. 125-130 (EGV), allerdings mit der Einschränkung, nur koordinierend verwendet werden zu dürfen (Däubler 2004: 278). Exemplarisch für diese Form der Koordinierung ist der so genannte Luxemburg-Prozess als Bestandteil der wirtschaftspolitischen Koordinierung (Art. 99, Satz 2, EGV). Mitgliedstaaten berichten in jährlichen „Nationalen Aktionsplänen“ gegenüber der Kommission, wie sie Arbeitsmarktreformen umsetzen und welche Ziele sie dabei verfolgen. Diese Berichte münden in die „beschäftigungspolitischen Leitlinien“, die ihrerseits Bestandteil der „EBS - Europäischen Beschäftigungsstrategie“ der Union werden.11 Im März 2005 wurde nach einem Streamlining-Verfahren die EBS gemeinsam mit den Grundzügen der Wirtschaftspolitik (BEPG)12 zu „Integrierten Leitlinien für Wachstum und Beschäftigung 2005-2008“ verschmolzen (vgl. Rat der Europäischen Union 2005b: Anhang II). Jene daraus resultierenden Empfehlungen sind allerdings nicht verbindlich.13
9
10
11 12 13
Entscheidungen „Kohll“ (EuGH, 28.04.1998 – Rs. C-158/96) und „Decker“ (EuGH, 05.03.1998 – Rs. C120/95). Die konservative Regierung wurde bei den Unterhauswahlen am 1. Mai 1997 nach 18 Jahren abgelöst. Die Unterzeichnung des Vertrags von Amsterdam erfolgte am 16./17. Juni desselben Jahres. Zur ökonomischen Kritik siehe auch Alesina/Perotti (2004: 13f.). BEPG – Broad Economic Policy Guidelines. Zur Funktion informeller wirtschaftspolitischer Koordinierung in der Eurozone siehe Pütter, dieser Band.
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Die Gestaltungskraft der Gemeinschaft wuchs bei ihrem Bemühen, Diskriminierungstatbestände zu verhindern: So verbot etwa die Richtlinie über befristete Arbeitsverhältnisse von 1999 fortan die unterschiedliche Behandlung von befristet und unbefristet angestellten Arbeitnehmern. Der Vertrag von Nizza brachte kaum Neuerungen, aber im Vorfeld die Unterzeichnung der „Grundrechte-Charta“14, die als Teil II Eingang in den Verfassungsvertrag fand und erstmals auch „soziale Grundrechte“ wie etwa das Streikrecht verankert (Art. II88, VVE). 2.2 Aufgaben europäischer Sozialpolitik Bis dato sind die sozialpolitischen Bestimmungen der EU im weitesten Sinne Schutzmechanismen zur Vermeidung von Normkollisionen, und „substanzielle Standards sind die Ausnahme“ (Däubler 2004: 282). Das europäische Arbeits- und Sozialrecht zielt in erster Linie auf Gleichheit und Koordinierung. Nach wie vor ist das Kernelement die Flankierung des Binnenmarktes und damit der Freizügigkeit seiner Arbeitnehmer. Daraus folgt, die Koordinierungsleistung und Regulation stehen im Vordergrund. Am bekanntesten ist in diesem Zusammenhang die so genannte „Wanderarbeitnehmer-Verordnung“15, die zum Kernbestand des Europäischen koordinierenden Sozialrechts zählt, denn sie hilft, „(...) Mehrfachsicherungen und Sicherungslücken bei einer des Schutzes durch Sozialrecht bedürfender Person zu überwinden“ (Eichenhofer 2005a: 3). Gleichwohl bleibt wenig überraschend festzuhalten, dass die „soziale Dimension“ der EU anspruchsloser als die der Nationalstaaten ist. Während etwa das deutsche Grundgesetz wirtschaftspolitisch weitgehend neutral bleibt, ist auf europäischer Ebene der freie Markt die Regel (Art. 98, Satz 2, EGV) und klassische sozialpolitische Ziele wie Umverteilungsmaßnahmen stehen im Verdacht, nach Art. 30 Eingriffe in die Warenverkehrsfreiheit darzustellen (Däubler 2004: 283f). Tatsächlich lässt sich die europäische Integration zwischen Römischen Verträgen und Maastricht als ein Prozess der „Entkoppelung von ökonomischer Integration und Aspekten sozialer Sicherung“ begreifen (Scharpf 2002: 646). Indes hält das Binnenmarktprojekt (mitsamt seiner Vollendung, der gemeinsamen Währung) trotz der geringen formalen Regelungsdichte und trotz des Einstimmigkeitserfordernisses für sozialpolitisches Handeln auf Seiten der Nationalstaaten zwei Wirkungen bereit: Einerseits die Ex-ante Begrenzung gesetzgeberischer Autonomie und zweitens notwendig gewordene Reaktionsleistungen auf Europäisierungsprozesse in der Sozialpolitik.
2.3 Grenzen europäischer Sozialpolitik Nun könnte man sich fragen, warum sich nicht analog zum Gemeinsamen Markt ein vielfach beschworenes Europäisches Sozialmodell in den Verträgen selbst etablieren konnte, warum es zu keiner offenkundigen und substanziellen Harmonisierung gekommen ist? 14 15
07.12.2000 (ABl. EG Nr. C 3641/1). VO (EWG) 1408/71. Die modernisierte Fassung VO (EG) 883/2004 ist zwar seit dem 30.04.2004 in Kraft, kommt aber aufgrund der fehlenden Durchführungsverordnung bislang nicht zur Anwendung.
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Oder wie Fritz Scharpf es in Anlehnung an ein Gedicht von Robert Frost ausgedrückt hat: „The Road not Taken“ (Scharpf 2002: 645ff). Seine plausible Antwort darauf ist die Vielfalt der nationalstaatlichen Regelungen, anders gefasst, die Konkurrenz unterschiedlicher Wohlfahrtskonzeptionen in Europa. Sozialpolitik, und damit die Art und Weise wie wohlfahrtsstaatliche Politik organisiert wird, unterscheidet sich innerhalb der Union beträchtlich: zwischen skandinavischen Konzepten eines sehr umfassenden Staatseingriffes und etwa einem angelsächsischen, auf Privatautonomie gegründeten Verständnis sind Normunterschiede und damit Finanzierungsquellen wichtiger als unterschiedliche Finanzierungsgrößen. Die zwei Kernbegriffe dabei sind Mindestsicherung einerseits, gegenüber Lebensstandardsicherung andererseits. Jeder substanzielle Harmonisierungsversuch müsste also unweigerlich erheblichen Protest der jeweiligen Gegenseite hervorrufen (Scharpf 2002: 651; vgl. Busemeyer et.al.). Und jede Erweiterung des politischen Gebildes EU erhöht zwangsläufig das Zustimmungserfordernis an jedwede Politikdelegation. Der Vergleich der öffentlichen Nettosozialausgaben verdeutlicht die unterschiedliche Gewichtung staatlicher und privater Mittel. Entscheidend ist dabei nicht die absolute Höhe der gesamten Aufwendungen für Soziales, sondern ihre Zusammensetzung. Addiert man die öffentlichen mit den privaten Ausgaben, rücken etwa die Vereinigten Staaten mit 24,5 (16,9) Prozent nah an Österreich mit 24,8 (23,5) Prozent heran (Adema/Ladaique 2005: 32) (siehe Abb. 1). Hinzu kommt ein ordnungspolitisches Problem, welches sich an der Debatte um konkurrierende (Unternehmens-)Steuersätze in Europa nachvollziehen lässt: Jede Form der Harmonisierung ist insoweit rechtfertigungsbedürftig, als sie im Verdacht steht, Wettbewerb zu beschränken. Gemeint ist hier der horizontale Systemwettbewerb verschiedener Jurisdiktionen.16 Seit dem Frühjahrsgipfel von Lissabon im Jahre 2000 versucht die Europäische Union, diesem Dilemma mit einem neuen Steuerungselement zu begegnen, der OMK („Offene Methode der Koordinierung“), einem variablen Vergleichsverfahren für nationalstaatliche Politik. Sie soll Mitgliedstaaten dabei unterstützen, ihre Beschäftigungs- und Sozialschutzsysteme zu modernisieren (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2005: 4)17, indem sie „modale Ziele formuliert“ (Eichenhofer 2005a: 11). Konkret angewendet wird das Steuerungselement auf drei sozialpolitische Aktionsziele der Gemeinschaft: soziale Eingliederung, Renten und Gesundheit (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2005: 10). Die OMK ergänzt damit die Lissabon-Strategie in deren drei Dimensionen: Wirtschaft, Soziales und Umwelt (Rat der Europäischen Union 2005a: 2). Dabei sind drei Aspekte kennzeichnend: erstens findet damit keine formale Kompetenzverlagerung auf die europäische Ebene statt. Die OMK bündelt nationale Berichtspflichten gegenüber der Kommission unter der Federführung des Rates für Beschäftigung. Zweitens rückt damit die Konvergenz sozialpolitischer Institutionen in der EU gegenüber ihrer Koordinierung in den Hintergrund. Drittens schließlich, und dies mag kleinlich wirken, aber syntax matters: Die OMK wird mitunter irrtümlich als MOK („Methode der Offenen Koordinierung“) bezeichnet. Im letzteren Fall gäbe es genau eine Methode, offen zu koordinieren, wohingegen der Originaltext gerade dem Wettbewerbsproblem Rechnung trägt und nicht die Koordinierung, sondern das Verfahren selbst offen lässt. 16 17
Vgl. Beckmann, dieser Band. Vgl. ausführlich Willert, dieser Band.
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Abbildung 1:
Öffentliche Nettosozialausgaben in ausgewählten OECD-Staaten
30
29,2 28
28,4
25,6 25
24,124,1 23,1 21,7
23,5
22,2
20,420,4 20,720,8 19,4 19,6
20 17,7
18,1
18,618,6
16,9
15 13,6
10 6,9 7,1
F
S
D
DK
I
B
A
UK
N
FIN
IS
CZ
NL
OECD-23
AUS
CDN
J
ES
SK
NZ
IRL
USA
MEX
Korea
5
Quelle: Adema/Ladaique 2005: 32; Prozent des BIP zu Faktorkosten, Referenzjahr 2001 (neuere Zahlen nicht verfügbar). Aus der Not der wohlfahrtsstaatlichen Heterogenität der EU scheinen die Mitgliedstaaten eine Tugend gemacht und durch die Schaffung der nicht vertraglich verankerten OMK ein mitgliedstaatliches Einfallstor für sozialpolitische Aktivitäten der EU per se geschaffen zu haben. 3
Der Wandel des Wohlfahrtsstaats in den neuen Mitgliedstaaten
3.1 Transformation der Sozialpolitik Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Wirtschaftsordnung und dem damit verbundenen Staatspaternalismus in der Bereitstellung sozialer Dienstleistungen lässt sich die Entwicklung der MOE-Staaten in drei grobe Zeitspannen einordnen (vgl. Barr 2002; Manning 2004): 1.) Aufbau eines neuen Wirtschaftssystems 2.) Teilweise umfangreiche Privatisierungen, zumeist unter großem Einfluss internationaler Finanzinstitutionen und 3.) die gegenwärtige Phase der wirtschaftlichen Erholung und „realen Konvergenz“ zu den saturierten Volkswirtschaften der Union. Letztere Phase soll hier im Mittelpunkt stehen.
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Im postkommunistischen Wohlfahrtsstaat spielt die so genannte „communist legacy“, also ein im weitesten Sinne institutionelles Erbe eine große Rolle (vgl. Götting 1998); Versucht man die Sozialpolitik in die typologische Dreiteilung von Esping-Andersen (EspingAndersen 1990, 1996) einzuordnen, steht man vor einem Problem: einerseits findet sich in Teilen ein hoher Dekommodifizierungs-Effekt und Staatseingriff, der dem sozialdemokratisch-skandinavischen Typus ähnelt und zugleich vollzogen und vollziehen sich Reformen, die auf ein liberales, stärker angelsächsisches Wohlfahrtsverständnis hindeuten (vor allem umfassende Reformen der Alterssicherungssysteme in Polen, Ungarn und den baltischen Staaten). Die Dekommodifizierung bezeichnet dabei das Ausmaß staatlicher Schutzmechanismen des Individuums vor Marktprozessen, anders ausgedrückt, den Grad der stattfindenden „Entmarktlichung“ innerhalb einer Gesellschaftsordnung. In den mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten scheint an die ehemalige Monopolstellung des Staates vielfach die des Marktes getreten zu sein. Schließlich brachte die Transformation insbesondere für Frauen eine Rückstufung auf konservative Rollenbilder und ehedem institutionalisierte Geschlechtergerechtigkeit wurde zurückgefahren (Manning 2004: 215). Einen erstaunlichen Befund liefert der Blick auf die Ungleichheit der Einkommensverteilung in der erweiterten Europäischen Union (siehe Abb. 2). Abbildung 2:
Ungleichheit der Einkommensverteilung, EU-25 (2001)
7
6,5 6,1
6
5,4 5,5 5,5
5,7
4,8 4,9 4,9
5
4,4 4,5 4,5
4 3
3,2
3,6 3,4 3,4 3,4 3,5 3,5
3,8 3,8
4
4
F
B EU- PL IRL 15
3
2
1
0 DK SI
S
HU CZ FIN A
D NL
L
I
UK LT SK E
LV EL EE PT
Quelle: Eurostat NewCronos 2004 (Verhältnis des Gesamteinkommens des obersten Quintils zum untersten; Gemessenes Äquivalenzeinkommen); Wert für Slowenien 2000; Slowakei 2003. Während Polen und die baltischen Neumitglieder eine hohe Einkommensungleichheit aufweisen, sind die Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn nahe den skandinavischen
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Wohlfahrtsstaaten Dänemark, Schweden und Finnland. Die osteuropäischen „Tigerstaaten“ sind zumindest in dieser Hinsicht alles andere als eine homogene Gruppe. Gemessen an der Sozialschutzquote, also den Ausgaben für soziale Sicherheit liegen alle neuen Mitgliedstaaten (außer Polen) signifikant unter dem EU-15-Durchschnitt von 16,1 Prozent des BIP.18 Man kann festhalten, die neuen Mitgliedstaaten befinden sich hinsichtlich der Leistungsfähigkeit ihrer Sozialpolitik noch in der Transformationsphase und fügen der EU einen weiteren Wohlfahrtsstaats-Typus (vgl. McMenamin 2004) hinzu. Zwar steigt die Differenz innerhalb der Neumitglieder, aber diese Variationen bewegen sich zumeist im Rahmen der bisherigen Abweichungen in der EU-15 (Manning 2004: 230). 3.2 Wie wirkt der EU-Beitritt auf die Neumitglieder? Bisherige Erweiterungsrunden der Europäischen Gemeinschaft waren stets auch eine Triebkraft für sozialpolitische Maßnahmen der EU, um die gestiegene Heterogenität innerhalb der Union „abzufedern“. Wohlgemerkt, nicht supranationale Kompetenzverlagerung, sondern Umverteilungs-Maßnahmen wie etwa die Einrichtung der Kohäsionsfonds im Zuge der Süderweiterung (vgl. Guillén/Palier 2004: 207). Für den Zeitraum 2000-2007 werden die geschätzten Kosten der Osterweiterung auf 107 Milliarden Euro geschätzt, wovon nur 15 Milliarden die neuen Mitgliedstaaten übernehmen: Damit vollzieht sich ein Nettotransfer von 92 Mrd. Euro auf Kosten der Staaten der EU-15 (Manning 2004). Unklar ist allerdings, wie sich der Beitritt auf die Sozialpolitik der MOE-Staaten auswirkt (Guillén/Palier 2004: 203): Die bisherige Forschung ist sich unschlüssig, ob die beobachtbaren Entwicklungen in den neuen Mitgliedstaaten eher Europäisierungs- oder Globalisierungsprozessen geschuldet sind. Einschränkend lässt sich zumindest feststellen, dass obwohl gerade in der Rentenpolitik signifikant abweichende Reformen zu verzeichnen sind, sich ein Konvergenzprozess hin zur alten EU-15 zu entwickeln scheint: Gemessen an den „social outcomes“ wie etwa Arbeitslosenquote, Sterblichkeitsraten (insbesondere Kindersterblichkeit), teilweise sogar Kriminalitätsraten nähern sich die Neumitglieder denen der EU-15 zunehmend an, bzw. haben diese bereits eingeholt (Manning 2004: 223ff.). Den tatsächlichen Einfluss durch den Unionsbeitritt zu beschreiben bleibt indes schwierig: Der ungarischen Soziologin Zsuzsa Férge zufolge führten die sozialpolitischen Aktivitäten der EU immerhin dazu, dass so genannte „weiche“ Themen wie soziale Exklusion und Armut auf die politische Agenda genommen wurden (Ferge/Juhász 2004). Tatsächlich aber habe sich paradoxerweise eine umgekehrte Entwicklung gegenüber der Süderweiterung eingestellt: Spanien und Portugal wurde demnach durch den Beitritt auch ein bis dato nicht gekanntes Ausmaß an sozialer Sicherung zuteil, welches gemessen an der Einkommenssituation in Mittel- und Osteuropa längst praktiziert wurde (Ferge/Juhász 2004: 249). Zu dem Zeitpunkt, da sich die Union vornehmlich mittels der Offenen Methode der Koordinierung verstärkt der Sozialpolitik zuwendet, vollziehen sich in Osteuropa teilweise Reformen, die auf eine Residualisierung des Wohlfahrtsstaates im Sinne des liberalen Typus von Esping-Andersen hinauslaufen.19 18 19
Quelle: Eurostat NewCronos (SK: 12%; CZ: 12,1%; HU: 12,9%; PL: 17,1%). In diesem Sinne erscheint auch der Ost-West Gegensatz beim Thema Dienstleistungsrichtlinie verständlicher:
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3.3 Reziproke Europäisierung: Der Einfluss der MOE auf die Union? Interessant scheint aber ebenso die umgekehrte Blickrichtung: die sozialpolitische Veränderung der EU durch die Osterweiterung und durch die Einbeziehung mittel- und osteuropäischer Wohlfahrtsstaatlichkeit. Die gestiegene Heterogenität in der Union ist offenkundig. „Das was man nicht sieht“, wie Frédéric Bastiat es formulieren würde, ist das bereits erwähnte Nebeneinander von liberalen Reformen und Umverteilungstraditionen, insbesondere in den Visegrád-Staaten.20 Angesichts der europaweiten Dringlichkeit zur Haushaltssanierung aufgrund demographischer Finanzierungslasten lassen sich etwa Reformimpulse für die Rentenpolitik der EU-15 erwarten. Beim Versuch, ihre Übergangskosten zu senken, waren Ungarn und Polen erfolgreich und erreichten, dass diese im Rahmen des Defizitverfahrens (Art. 104, EGV) fünf Jahre lang „abgeschrieben“ werden können (Rat der Europäischen Union 2005a). Folglich nimmt nicht allein die Vielfalt an Wohlfahrtsregimen zu, sondern ebenfalls die Art und Weise der dazugehörigen Reformbestrebungen und Reformverfahren. 4
Sozialpolitik und der Europäische Verfassungsvertrag
Wenn auch die Sozialpolitik auf europäischer Ebene wie beschrieben vertraglich wenig verankert ist, so bieten sich der Europäischen Kommission dennoch zahlreiche Instrumente sozialpolitischer Einflussnahme, insbesondere auf der Ebene des Agenda-Setting (Eichenhofer 2005a: 30): neben dem Sozialen Dialog, der Europäischen Beschäftigungsstrategie, dem Europäischen Sozialfonds als Finanzierungsbestandteil der Strukturpolitik und der Lissabon-Strategie (OMK) sind dies sozialpolitische Aktionspläne und nicht zuletzt die Sozialpolitische Agenda. Am 9. Februar 2005 veröffentlichte die Europäische Kommission ihre aktuelle sozialpolitische Agenda für die Jahre 2006-2010, und damit eine Sammlung sozialpolitischer Zielvorstellungen und Möglichkeiten zum Anstoß künftiger legislativer Tätigkeiten der EU. Das Europäische Sozialmodell wird hier sehr anspruchsvoll gefasst und beinhaltet neben sozialer Eingliederung etwa das Streben nach Vollbeschäftigung in der Union. Letztgenanntem Ziel will die Kommission mithilfe der Halbzeitüberprüfung der LissabonStrategie, zwei Grünbüchern („Entwicklung des Arbeitsrechts“ und „Demographische Entwicklung“) sowie den neuen „Integrierten Leitlinien“ (siehe 2.1.2) näher kommen. Ab Herbst 2006 soll dann das gesamte wirtschaftspolitische Berichtswesen einer Änderung unterzogen werden. Die oben beschriebene schleichende Europäisierung nationalstaatlicher Sozialpolitik (Eichenhofer 2005a: 1ff.) findet schließlich im Verfassungsvertrag ihre formale Entsprechung: Die Einbeziehung der Grundrechtecharta als Teil II des Textes manifestiert nun auch verbindliche soziale Grundrechte (vgl. 2.1.1), anders als etwa das deutsche Grundgesetz (Eichenhofer 2005a: 9).
20
während die EU-15 Staaten im Europäischen Parlament eine Verwässerung des Herkunftslandprinzips durchsetzten (16.02.2006), monierten die mittel- und osteuropäischen Staaten, hierdurch ihre Wettbewerbsfähigkeit nicht voll entfalten zu können (vgl. FAZ 2006: 5). So wurde etwa die Sozialversicherung in der Tschechoslowakei bereits im Jahre 1906, in Polen 1927 und in Ungarn 1928 eingeführt.
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Doch neben der nicht gering zu achtenden Normierung bereits lange bestehender sozialpolitischer Ziele der EU verdient ein politikökonomischer Punkt mehr Beachtung: Sofern der Verfassungsvertrag einst in Kraft gesetzt wird, kommt das Mehrheitsprinzip als ordentliches Gesetzgebungsverfahren zum Einsatz. Der bisherige Zuständigkeitskatalog (Art. 136ff. EGV) wird in Art. III-209ff. VVE überführt und fortan Gegenstand stärkerer politischer Auseinandersetzung. Zwar „unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten“ (Art. III-210(2)a, VVE), aber „Mindestvorschriften [werden] durch Europäische Rahmengesetze festgelegt“ werden (Art. III-210(2)b, VVE). Zudem erwarten Union und Mitgliedstaaten, dass sich die Realisierung der sozialpolitischen Ziele „sowohl (...) aus den in der Verfassung vorgesehenen Verfahren sowie aus der Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten ergeben wird (Art. III-209, Satz 3 VVE).21 „Dies ist kein neuer Vorgang, sondern das Ergebnis eines sich über zwei Jahrzehnte erstreckenden Prozesses einer wachsenden Übertragung sozialrechtlicher Zuständigkeiten auf die EU. (...) Was freilich auf der Ebene der Verfassungsgebung als Endpunkt erscheint, dürfte aus dem Blickwinkel der Sozialpolitik zu einem Ausgangspunkt für den Versuch einer europäisch angeleiteten Sozialgesetzgebung werden.“ (Eichenhofer 2005a: 9f.)
5
Schlussbetrachtung
Eine „europäisch angeleitete Sozialgesetzgebung“ ist noch nicht mit Europäischer Sozialpolitik gleichzusetzen und noch ist die vollständige Ratifizierung des Verfassungsvertrages nicht in Sicht. Gleichwohl ist die vielfach beschworene soziale Dimension der Gemeinschaft auch jenseits ihrer kodifizierten Form vorhanden und entwickelt sich stetig fort im „konstitutionalisierenden Schatten Europäischen Rechts“ (Scharpf 2002: 647). Dabei darf allerdings nicht der Vergleich zum Nationalstaat maßgeblich sein, wenn man dem Gedanken folgt, dass „der Sozialstaat (...) die Vollendung von Nationalstaatlichkeit“ (Eichenhofer 2005a: 30) bedeutete. Zudem hat jede mögliche Supranationalisierung sozialpolitischer Kompetenzen mit dem strukturellen Nachteil zu ringen, dass sich negative Integration, verstanden als Marktschaffung einfacher bewerkstelligen lässt als jedwede Form gemeinsamer Standards, die auf eine Markteinhegung hinauslaufen.22 Letztere stößt in der Gemeinschaft nicht wegen ökonomischer, sondern aufgrund normativer Unterschiede schneller an ihre Grenzen: Die „fundamental asymmetry“ (Scharpf 2002: 665) besteht darin, dass politische Maßnahmen der Marktschaffung und Markteinhegung in Nationalstaaten denselben Verfassungsrang beanspruchen, wohingegen auf europäischer Ebene erstere weitaus stärker europäisiert worden sind. Die Einsetzung der Offenen Methode der Koordinierung ist daher nicht zuletzt die Abkehr vom Ziel der Harmonisierung sozialpolitischer Institutionen hin zur erwünschten Vereinheitlichung ihrer Wirkungen und einem einheitlichen „level-playing-field“. Ob dieses Instrument der „soft coordination“ seinen Zweck erfüllen wird, wird sich spätestens zur endgültigen Überprüfung der Lissabon-Strategie im Jahr 2010 erweisen. Zwei Punkte er21 22
Hervorhebung nicht im Original. Die Errichtung von Mindeststandards ist davon nicht berührt solange diese relativ niedrige Niveaus festschreiben und ausreichend flexibel gehandhabt werden.
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scheinen dabei wesentlich: Erstens ruht der Mehrwert dieses Verfahrens insbesondere im potenziellen Entdeckungsverfahren unterschiedlicher nationaler Politikmaßnahmen. Anders gewendet, falls die OMK die in sie gesetzten Erwartungen höherer Transparenz und eines vereinfachten Politiklernens erfüllt, dürfte die Einbeziehung der mittel- und osteuropäischen Wohlfahrtsstaaten wichtige Reformimpulse für die gesamte Union liefern: Die postkommunistischen Transformationserfahrungen mit ihrem Nebeneinander der Erfüllung europäischer Beitrittsvorgaben und wirtschaftspolitischer Auflagen seitens internationaler Finanzinstitutionen dürften dazu beitragen, nicht allein diskursive Pfadabhängigkeiten zu lösen. Der zweite bemerkenswerte Umstand zielt auf die verwendeten Messgrößen der OMK. Je stärker modale Ziele vorgegeben werden, desto bedeutender die Auswahl der zugrunde liegenden Indikatoren, desto größer die Agenda-Setzungs-Macht damit befasster Ausschüsse und nicht zuletzt der Europäischen Kommission. Der plausible Einwand, die Kommission könne nicht alleine tätig werden und sämtliche von der OMK erfassten Politikbereiche unterlägen letztlich Ratsentscheidungen23 geht dann fehl, wenn man bedenkt, welche Wirkung „sozialpolitische Leitvorstellungen“ (Eichenhofer 2005a: 30) auf EU-Ebene entfalten können. Auf die Reform der Alterssicherung gemünzt kommt der OMK die Funktion einer intergouvernementalen Rürup-Kommission zu: Nicht bindend, aber prägend. Literatur Adema, Willem/Ladaique, Maxime, 2005: Net Social Expenditure, 2005 Edition. More comprehensive measures of social support, OECD. Alesina, Alberto/Perotti, Roberto, 2004: The European Union: A Politically Incorrect View, NBER Working Paper 10342. Barr, Nicholas, 2002: Welfare States in Central and Eastern Europe, in: Kapstein, E.B./Milanovic, B.: When Markets Fail. Social Policy and Economic Reform, New York, S. 27-57. Blair, Tony, 2005: PM Speech to EU Parliament, 23.06. Busemeyer, Marius R./Kellermann, Christian/Petring, Alexander/Stuchlík, Andrej, 2006: Positionen zum Europäischen Wirtschafts- und Sozialmodell, Friedrich-Ebert-Stiftung, im Erscheinen. Däubler, Wolfgang, 2004: Die Europäische Union als Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft, in: Weidenfeld, W.: Die Europäische Union. Politisches System und Politikbereiche, Bonn, S. 273-288. Eichenhofer, Eberhard, 2005a: Europäisierung sozialer Sicherung, Vortrag an der AndrássyUniversität Budapest, 04.04.2005. Eichenhofer, Eberhard, 2005b: Internationale Sozialpolitik, in: Schmidt, M.G.: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 7 - 1982-1989: Bundesrepublik Deutschland. Finanzielle Konsolidierung und institutionelle Reform, Baden-Baden, S. 727-748. Eichenhofer, Eberhard, 2005c, Rechtsprechung des EuGH zum Europäischen koordinierenden Sozialrecht, in: Juristische Zeitung, 11, S. 558-565. Esping-Andersen, Gøsta, 1990: The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge. Esping-Andersen, Gøsta, 1996: Welfare States in Transition, National Adaptations in Global Economies, London; Thousand Oaks; New Delhi. European Commission, 1994: A White Paper – European Social Policy. A Way Forward for the Union, (COM (94) 333 final 27 July 1994). Ferge, Zsuzsa/Juhász, Gábor, 2004: Accession and social policy: the case of Hungary, in: Journal of European Social Policy 14:3, S. 233-251. 23
Ich danke Roland Sturm für diesen Hinweis.
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Andrej Stuchlík
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Die EU-Migrationspolitik: Exportschlager oder Neuorientierung? Petra Bendel
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Einleitung
Anders als in den „alten“ Mitgliedstaaten oft diskutiert, bezieht sich die EUMigrationspolitik nicht auf die Ängste vor einer „Überschwemmung“ der Arbeitsmärkte oder einem etwaigen Lohn- und Sozialdumping durch Arbeitsmigranten aus dem Osten, also auf die Unionsbürger und ihre Freiheiten. Vielmehr bezieht sie sich auf diejenigen Zuwanderer, die aus den so genannten „Drittstaaten“ in die Mitgliedstaaten der Europäischen Union kommen. Die hier verhandelten policies regeln deren Einreisemöglichkeiten und -bedingungen, ihre Aufnahme oder Rückweisung, ihre Rechte und Pflichten. Durch die offenen Grenzen innerhalb der Europäischen Union bedürfen aber, wie ich meine, die meisten migrationspolitischen Bereiche auch gemeinsamer Regelung. Diese These wird jedoch momentan in Brüssel nicht unisono bestätigt. Im Gegenteil vertreten die meisten Regierungsvertreter im Europäischen Rat wie auch im Rat der Europäischen Union die Auffassung, dass die Vergemeinschaftung der Migrationspolitik an ihre Grenzen gelangt und die Zukunft der legalen Zuwanderung wieder in nationale Hände zu legen sei. Im Unterschied dazu macht die Generaldirektion „Freiheit, Sicherheit und Recht“ unter der Leitung von Kommissar Franco Frattini neue Vorstöße zu einer stärkeren Harmonisierung selbst solcher Teilbereiche der Migration, die traditionell zu den Kernbereichen staatlicher Souveränität zählen. Mein Beitrag zeigt auf, dass die Zukunft der europäischen Migrationspolitik tatsächlich in einer Fortentwicklung dieser Gemeinschaftsaufgaben liegen sollte. Dabei sind m.E. gemeinschaftliche Regelungen zur Arbeitsmigration, zur Sozialpolitik, aber auch zum Flüchtlingsschutz und – etwa mit Blick auf die Ereignisse von Ceuta und Melilla im Oktober 2005 oder auch auf den Andrang auf die Kanarischen Inseln 2006 – zur Prävention von Fluchtbewegungen nötiger denn je. Um dieses Argument zu entwickeln, arbeite ich zunächst heraus, wie sich die EU-Migrationspolitik in den vergangenen Jahren inhaltlich entwickelt hat. In einem zweiten Schritt geht es darum, die Einführung des acquis communautaire der Migrationspolitik in den neuen Mitgliedstaaten zu analysieren – eine Frage, die hier unter dem Aspekt des „Exportschlagers Migrationspolitik“ behandelt wird. Im dritten Abschnitt versuche ich, aus den derzeitigen politischen Tendenzen und den Herausforderungen der neuen Migrationstrends Ziele und Handlungsstrategien für eine Migrationspolitik der erweiterten Europäischen Union abzuleiten. Wie wir noch sehen werden, ist es gerade auch an den neuen Mitgliedstaaten, die bestehende Migrationspolitik weiter zu entwickeln.
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Petra Bendel Die EU-Migrationspolitik seit 1999
Inhaltlich war die jüngere Geschichte der EU-Migrationspolitik1 spätestens mit Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages im Mai 1999 von einer regelrechten Aufbruchstimmung geprägt. Mehrere Forscher/innen2 konstatierten für eine Reihe von Mitgliedstaaten und für die EU als Ganze einen beginnenden Wahrnehmungs- und Bewusstseinswandel von „Migration“ und „Migrationspolitik“. Dies ließ sich m.E. als „policy-change“, kaum aber, wie von manchen schon beschworen, als „Paradigmenwechsel“ im Sinne von Hall (1993) einstufen. Denn letzterer würde voraussetzen, dass nicht nur die Wahrnehmung und die öffentlichen Stellungnahmen in einem Politikfeld sich ändern, sondern auch die tatsächlich vereinbarten policies und deren Umsetzung. Dies war freilich nur sehr kurzfristig der Fall. Eindeutig lässt sich zumindest nachweisen (Bendel i.V.), dass der Europäische Rat, die Europäische Kommission und das Europäische Parlament ab Ende der 1990er Jahre die Zuwanderung in die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft zusehends als Chance wahrnahmen und auch öffentlich darstellten. Das Paradigma, das in den Mitgliedstaaten wie auch auf gesamteuropäischer Ebene bis dato vorgeherrscht hatte, ließ sich grob umreißen mit den Eckpfeilern „Begrenzung“ und „Kontrolle“. Dies waren die Hauptziele einer Migrationspolitik, welche die Einwanderung schon seit Ende der 1970er Jahre vornehmlich als Bedrohung der inneren Sicherheit wahrgenommen hatte (Tomei 1998 und 2001). Diese Perzeption stieß aber ganz offenkundig an ihre Grenzen: Europa in einem weltweiten Wettbewerb um die „hellsten Köpfe“ zu positionieren, den Alterungsprozess durch „replacement migration“ zumindest abzufedern und die bereits Zugewanderten aktiver in die Gesellschaften der Mitgliedstaaten zu integrieren, waren Herausforderungen, die die EU-Entscheidungsträger auf Gipfeltreffen, in Mitteilungen und in parlamentarischen Stellungnahmen erkannten und benannten. Ambitionierte Vorstellungen einer neuen, aktiven und umfassenden Migrationspolitik bekundete zunächst der Europäische Rat auf dem 1999er Gipfel im finnischen Tampere (Tampere Europäischer Rat 1999). Davon zeugten seine bis dahin ungehörten Ziele, Flüchtlingsströmen präventiv zu begegnen, ein gemeinsames Asylsystem zu schaffen, Arbeitsmigranten zuzulassen und Drittstaatsangehörige zu integrieren. Diese Ratsvorgaben schlugen sich in entsprechenden Mitteilungen und Richtlinienentwürfen der Europäischen Kommission nieder, welche die Leitlinien recht liberal interpretierte. Die Kommission legte umfassende Richtlinienentwürfe in den Bereichen „Asyl“, „Rechte der Drittstaatsangehörigen“, „Anti-Diskriminierung“ und „Anwerbung von Arbeitskräften“ vor, zur Zuwanderung zum Ziel der Erwerbstätigkeit und zur Familienzusammenführung. Beinahe all ihre Entwürfe wurden zwar tatsächlich binnen der vereinbarten Fünfjahresfrist durch den Ministerrat gebracht. Aber im Verlauf des zum Teil jahrelangen Verhandlungsmarathons im Widerstreit zwischen Kommission und Rat (sowie, in geringerem Maße, auch dem Parlament, das nur Anhörungsrecht besaß) ließ sich letztlich keine Ausrichtung mehr erkennen, die der ursprünglichen Aufbruchstimmung entsprochen hätte. Die jüngsten Steuerungsziele nach Ablauf dieses ersten „Fünfjahres-Plans“ formulierte Ende 2004 der Europäische Rat von Den Haag für den Zeitraum 2005 bis 2010. Weit entfernt vom ambitionierten Tampere-
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Vgl. dazu etwa Klos (1998), Geddes (2000), Geddes (2003); Tomei (2001), Bendel (2002), Bendel (2005a). Vgl. dazu: Knodt/Staeck (1999), Lavenex (2002), Kostakopoulou (2002), Geddes/Guiraudon (2003), Geddes/Guiraudon (2004).
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Programm ist „The Hague Program“ in Brüssel nicht ganz zu Unrecht auch als „the vague program“ bekannt. 2.1 Migrationspolitik nach Tampere Eine in der Migrationspolitik oft bemühte Dichotomie unterscheidet zwischen „liberaler“ und „restriktiver“ Ausrichtung der gewählten Maßnahmen. Eine solch einheitliche „liberale“ oder „restriktive“ Orientierung lässt sich aber in der gemeinsamen Migrationspolitik seit 1999 nicht durchweg feststellen. Nur einige wenige Richtlinien, die bis zum Jahr 2001 verabschiedet wurden, behielten noch die „liberale“ Handschrift der Kommission im Verhandlungsverlauf bei. Dagegen zerschlug der Rat der Europäischen Union andere Kommissionsentwürfe bis hin zur Unkenntlichkeit, ja verkehrte sie bisweilen sogar in ihr Gegenteil. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, lässt sich nach übereinstimmender Einschätzung der einschlägig bekannten EU-Migrationsforscher die inhaltliche Tendenz der EUMigrationspolitik vorwiegend als restriktiv bezeichnen, wenngleich sich die von ihnen hierfür angeführten Erklärungsfaktoren unterscheiden. Analytisch lassen sich zunächst einmal die Zielsetzungen, wie sie im Amsterdamer Vertrag festgelegt und mit den Europäischen Räten von Tampere (1999) und Den Haag (2004) konkretisiert wurden, im Wesentlichen in zumindest fünf Steuerungsziele unterteilen (Bendel 2005): 1. die Prävention von Migrationsbewegungen, 2. die Begrenzung und Kontrolle von Migrationsbewegungen, 3. den Schutz von Flüchtlingen und Asylbewerbern, 4. die Integration der bislang Zugewanderten und 5. die gezielte Anwerbung neuer Migranten, etwa von Arbeitsmigranten. Abbildung 1:
Analyseraster zur Migrationspolitik – Steuerungsziele und Maßnahmen
_________________________________________________________________________ Steuerungsziel Policy-Bereich und Maßnahmen 1. Prävention von Fluchtbewegungen
Entwicklungs-, Außenhandels-, Außen-, Menschenrechtspolitik
2. Begrenzung und Kontrolle
Flüchtlings- und Asylpolitik, Sicherung der Außengrenzen, Visapolitik, Sanktionen gegen Transportunternehmern bzw. Arbeitgeber von irregulär Aufhältigen
3. Schutz von Flüchtlingen und Asylbewerbern
Schutzmaßnahmen, Harmonisierung von Standards bei der Behandlung von Flüchtlingen und Asylbewerbern (gleiche Rechte innerhalb der Gemeinschaft)
4. Integration von Zugewanderten
Antidiskriminierung, Familiennachzug, Einbürgerung, finanzielle Unterstützung /Programme, Wohnungsbau
5. Anwerbung neuer Migranten Kontingente, Greencards _________________________________________________________________________ Quelle: Bendel (2005).
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Petra Bendel
Trotz der erwähnten Aufbruchstimmung um die Mitte bis ans Ende der 1990er Jahre, die sich in Mitteilungen und Deklarationen niederschlug, setzten die Gesetzgeber der Europäischen Union faktisch vor allem eines dieser Steuerungsziele auch um: die Begrenzung und Kontrolle von Zuwanderung, die bereits die Politik der 1980er Jahre bestimmt hatte. Das lag zunächst einmal an der Kompetenzverteilung. Diejenigen Kompetenzen, die mit dem EGV in der Fassung von Amsterdam in die erste Säule (Titel IV, Artikel 62-63) wanderten, umfassten die Themenbereiche gemeinsame Visavergabe und Kontrolle der Außengrenzen, gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik. Aber sogar in dieser ersten, vergemeinschafteten Säule blieb die Wachsamkeit der Mitgliedstaaten gegenüber einem allzu großen Verlust staatlicher Souveränität in einem traditionell nationalstaatlich geregelten Politikfeld enorm. Die durchgesetzten Richtlinien schreiben lediglich ein Minimum an Gemeinschaftsregelungen vor und überlassen den Mitgliedstaaten erhebliche Spielräume für eigene, nationale Regelungen. Das Einstimmigkeitsprinzip im Ministerrat war ein wichtiger Faktor dafür, dass einzelne Vetospieler weiter reichende Regelungen blockieren konnten. Sehr dispers verteilt sind die Kompetenzen der Gemeinschaft im ohnehin schwierig zu kontrollierenden Bereich der Prävention von Fluchtbewegungen, der sich auf mehrere Politikfelder erstreckt (vgl. Abbildung). Entgegen den im Amsterdamer Vertrag und auf dem Tampere-Gipfel von 1999 anvisierten und in zwei Mitteilungen der Kommission konkretisierten Zielsetzungen fielen die Bereiche „Integration“ und „Anwerbung“ zusehends aus der „harten“ Gemeinschaftskompetenz heraus. Integrationspolitik kann derzeit allenfalls mit Kommissionshilfe über die Offene Methode der Koordinierung (OMK)3, etwa über best practices, allmählich anzunähern versucht werden; aber die Mitgliedstaaten – und, wie im deutschen Fall, sogar die Bundesländer – wachen eifersüchtig über ihre Befugnisse. Dies gilt für die Arbeitsmigration in noch größerem Maße. Prüfen wir aber die einzelnen Steuerungsziele und Maßnahmen im Einzelnen. Prävention Im Bereich der Prävention von Flüchtlingsbewegungen ist weniger geschehen als die politische Rhetorik zu und nach Tampere hätte vermuten lassen. Zwar galt die Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern dem Europäischen Rat von Tampere als Eckpfeiler der Migrationspolitik. Aber diese Kooperation wurde letztlich nur dahingehend interpretiert, dass die EU die Herkunftsländer befähigen solle, selbst gegen Fluchtbewegungen aktiv zu werden. Umfassende präventive Maßnahmen beträfen freilich auch sehr viel stärker die angrenzenden Politikfelder der Einwanderungs- und Asylpolitik: Außen-, Außenhandels- und Entwicklungspolitik. Wenngleich in einzelnen dieser policies immer wieder auch die Migration eine Rolle spielt, ist die Koordination dieser Politikbereiche noch kaum entwickelt. Bei ihrem Treffen in Hampton Court im Oktober 2005, bei dem die Staats- und Regierungschefs ein breiteres Verständnis von Migrationspolitik einforderten, das neben den 3
Bei der Methode der offenen Koordinierung werden im Rat Ziele festgesteckt, die i.d.R. durch ein transnationales Monitoring durch die Kommission in den Nationalstaaten überprüft werden kann. Ziel ist es, unter den Mitgliedstaaten Erfahrungen mit bestimmten policy-Maßnahmen auszutauschen, best practices herauszufiltern und in einen politischen Dialog über etwaige gemeinsame Ziele und Maßnahmen zu treten. Die Einzelstaaten können letztlich Selbstverpflichtungen eingehen, um diese Ziele zu erreichen. Die Methode ist nicht rechtlich bindend, kann aber m.E. eine erhebliche Eigendynamik bei der Annäherung der policies entfachen, so dass eine künftig stärkere Vergemeinschaftung des Politikfeldes nicht ausgeschlossen ist.
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sicherheits- auch entwicklungspolitische Aspekte einschließen sollte, zog die britische Präsidentschaft einen Teil der Tampere-Ideen aus den Ordnern und unterstrich, dass es einen umfassenden Ansatz der Migrationspolitik geben müsse, der die Parntnerschaft mit den Herkunftsstaaten in den Mittelpunkt rücke (Council of the European Union 2005a:1). Justiz und Inneres sollten nun stärker mit der Außenpolitik und der Entwicklungspolitik sowie mit der Europäischen Nachbarschaftspolitik und der Beschäftigung verknüpft werden – kurz: Migrationspolitik soll endlich als Querschnittspolitik etabliert werden. Die nun auf den Tisch gelegte „Strategie für Afrika“ und der komplexere Blick auf Kontrollmaßnahmen gegenüber Migration wären sicherlich nicht oder nicht in diesem Maße vorangetrieben worden, hätte es Ceuta und Melilla - und in deren Gefolge den neuerlichen Anstieg der Wirtschaftsmigranten auf die Kanarischen Inseln, auf Lampedusa und Malta nicht gegeben. Allein im Jahr 2006 wurde die Zahl der Migranten, die die Kanarischen Inseln erreichten, auf ca. 2000 geschätzt. Wie üblich preschte die Kommission mit einem umfassenden Programm zur Kooperation mit den Drittstaaten voran. Dieses “Thematic programme for the cooperation with third countries in the areas of migration and asylum” (Commission of the European Communities 2006) umfasst humanitäre Hilfsleistungen, die Förderung von Stabilisierungsmaßnahmen und Finanzhilfen ebenso wie Unterstützung der Europäischen Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit undwirtschaftliche Kooperation. Es bleibt zu prüfen, inwieweit diese Instrumente den Ministerrat zu passieren vermögen.
Schutz von Flüchtlingsrechten Der Schutz von Flüchtlingsrechten sollte dem Geist von Tampere zufolge ganz oben auf der Liste der Steuerungsziele stehen. Aber obschon gemeinsame Mindeststandards für die Aufnahme von Asylbewerbern und Asylverfahren verabschiedet (2003/9/EC) und vorübergehender Schutz für Massenmigration gewährleistet wurden (2001/55/EC), hinken die Maßnahmen zur Anerkennung des Flüchtlingsstatus und subsidiären Schutzes (2004/83/EG) für solche Personen, deren Status nicht von der Genfer Flüchtlingskonvention abgedeckt wird, weit hinter den Erwartungen aller einschlägigen NGOs und des UNHCR hinterher. Kontrolle und Begrenzung von Zuwanderung So bestätigte sich auch in der Asyl- und Flüchtlingspolitik die Tendenz, dass vor allem solche Instrumente den Ministerrat passierten, die überwiegend die Kontrolle und Begrenzung von Zuwanderung zum Ziel hatten. Hier ließ sich sogar ein „rush to the top“ (Boeri/Brücker 2005: 5) konstatieren: Policy spillovers von einem Land zum nächsten wurden oftmals in Deutschland losgetreten, das Anfang der 1990er Jahre ein Gros der Asylbewerber aufgenommen hatte und nun bestrebt war, seine Tore zu schließen. Zusehends restriktivere Regelungen, zum Teil aus Deutschland importiert, wurden schließlich in EU-Recht gegossen. Dazu zählt die Einrichtung eines Fingerabdrucksystems für Asylbewerber (EURODAC), um zu bestimmen, welcher Mitgliedstaat für die Behandlung eines Asylgesuchs zuständig ist (Verordnung [EG] Nr. 2725/2000). Ein Bildspeicherungssystem (FADO) zur Prüfung der Authentizität von Dokumenten wurde eingeführt, um „illegale“ Migration zu bekämpfen. Das Haager Programm will ferner die Schengen-Informationssysteme SIS II,
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VIS und EURODAC-Systeme miteinander vernetzen, was Datenschützer für beängstigend halten4. Andere, seit Tampere vergemeinschaftete Maßnahmen betreffen die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende und die Frage, welches Land für die Behandlung eines Asylgesuchs zuständig ist (Dubliner Übereinkommen und Dublin II). Sie beinhalten einheitliche Visabestimmungen für Drittstaatsangehörige, Sanktionen gegenüber Transportunternehmen, die Flüchtlinge ohne gültige Ausweispapiere befördern, Sanktionen gegen Menschenschmuggler, Rücknahmeübereinkommen mit den Herkunftsländern der Flüchtlinge und um eine einheitliche Rückkehrstrategie. Die schon immer die Migrationspolitik der EU bei weitem überragenden Aspekte der Sicherheit, Begrenzung und Kontrolle, die sich durch den „rush to the top“ bereits gegen Ende der 1990er Jahre hoch spiralisierten, verstärkten sich nach dem 11. September 2001 noch zusätzlich: Auf den Europäischen Räten von Laeken (Dezember 2001) und Sevilla (Juni 2002) stand vor allem die irreguläre Migration im Mittelpunkt der zuwanderungspolitischen Regelungen. Der Europäische Rat von Thessaloniki (Juni 2003) griff diese Schwerpunkte erneut heraus, und sie begleiten auch das Haager Programm (November 2004). Maßnahmen der Migrationspolitik wurden von nun an mit solchen der Terrorbekämpfung verknüpft und umgekehrt; Kommissionspapiere forderten strikte Maßnahmen zur Kontrolle von Ausländern, die Erweiterung gesetzlicher Möglichkeiten zur Ablehnung von Drittstaatsangehörigen aus Sicherheitsgründen. Damit schloss sich spätestens mit dem 11. September 2001 das window of opportunity für einige liberalere Instrumente, die sich um die Jahrtausendwende herum abzuzeichnen schienen. Das Haager Programm schließt gar Asylverfahren außerhalb der Europäischen Union nicht aus. Es steht zu vermuten, dass damit Pläne für „heimatnahe Schutzzonen“, „Aufnahmeeinrichtungen“ oder „Anlaufstellen“ wieder Konjunktur erhalten, wie sie ursprünglich von Großbritannien (New vision for refugees) im März 2003 vorgelegt, von der italienischen Präsidentschaft im Juli 2003 wieder aufgenommen und schließlich vom deutschen Bundesinnenminister Otto Schily und seinem italienischen Amtskollegen Guiseppe Pisanu Mitte 2004 ein drittes Mal lanciert worden waren. Diese verfolgten die Absicht, Flüchtlinge von europäischem Boden aus „Schutzzonen“ zu verweisen, die – quasi offshore – in den Hauptherkunftsregionen der Flüchtlinge eingerichtet werden sollen. Diese inhaltlich restriktivere und auf den Sicherheitsaspekt fokussierte Orientierung zeigte deutlich, dass nach dem 11. September, nach der Veränderung der Ratskonstellation und infolge der Schwäche der reformorientierten Akteure, die den policy change von Tampere hätten tragen können, etwaige windows of opportunity für eine umfassende Vergemeinschaftung der Migrationspolitik im Jahr 2004 zunächst einmal fest verschlossen schienen. Auf diese Weise blieben die Maßnahmen nach Den Haag zunächst weiterhin vor allem dem Sicherheits- und Kontrollaspekt verpflichtet (Bendel 2007): Die European Border Agency (Frontex) wurde zur Grenzsicherung eingerichtet, die Kontrollsysteme VIS, SIS (II) und EURODAC verknüpft, ein Überwachungssystem an der Südküste geplant. 4
SIS steht für „Schengen Information System“: Alle Schengenstaaten haben Zugriff auf diese elektronische Datenbank, deren Fortentwicklungen SIS II und „Visa Information System“ (VIS) genannt werden. Erfasst werden Personen aus Drittstaaten, denen bereits die Einreise verweigert wurde, aber auch gesuchte Delinquenten und Verdächtige sowie Vermisste. Im VIS sollen die persönlichen Daten von Visa-Antragstellern gespeichert werden. Mit dem Anti-Terrorplan der EU wurde die Aufnahme biometrischer Daten geplant. Ziel dieser Systeme ist es, die gemeinsame Visapolitik und die Bekämpfung der so genannten „illegalen Einwanderung“ zu unterstützen. Vgl. dazu Bendel/Jugl (2005).
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Integration Was die Integration der bereits Zugewanderten angeht, so hat das Diskriminierungsverbot, nach Artikel 12 des EGV die Vermeidung jedweder Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit zum Ziel. Dabei ist es unerheblich, ob der oder die Betreffende Staatsbürger eines Mitgliedstaates oder eines Drittlandes ist. Seit Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam ist dieser Grundsatz in Artikel 13 EGV noch eindeutiger festgeschrieben. Danach kann der Rat „...unbeschadet der sonstigen Bestimmungen dieses Vertrags im Rahmen der durch den Vertrag auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.“
Im Bereich des „harten Rechts“ bestehen mehrere Anti-Diskriminierungsrichtlinien. Hier setzte der Ministerrat ausgesprochen liberale Richtlinien zur Antidiskriminierung (2000/43/EG und 2000/78/EG) überraschend flott und reibungslos durch (Tyson 2001, Bell 2002), was einigen Forschern (Geddes/Giraudon 2004) den Paradigmenwechsel selbst im souveränitätslastigen Feld der Integrationspolitik der Europäischen Union anzuzeigen schien. Gegen die These eines solchen Paradigmenwechsel spricht jedoch die Tatsache, dass dieselben Länder, die diese Richtlinien mit beschlossen hatten, nun große Schwierigkeiten mit der Durchsetzung auf nationaler Ebene hatten, so dass sich die Kommission genötigt sah, Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten. Eine mittlere Position nimmt die Richtlinie zur Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (2003/109/EG) ein (vgl. Kostakopoulou 2002a). Die Perzeption von Migration der Jahre 1999 und 2000, die vergleichsweise liberalen 2000/43/EG und 2000/78/EG Richtlinien zugrunde lag, wurde durch die wirtschaftliche Krisenentwicklung einiger großer Mitgliedstaaten, allen voran Deutschlands, im Rat zusehends in Zweifel gezogen, spätestens aber mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 jäh unterbrochen. Die Richtlinienvorschläge, die in der Folge des 11. September verhandelt wurden, kippten nun zusehends zurück in die Sicherheitsaspekte der Zuwanderung. Sie wurden über mehrere Jahre hinweg verhandelt und wichen letztlich von der ursprünglichen Intention der Kommission um einiges ab. Am Ende unserer gedachten „LiberalRestriktiv“-Skala, der Antidiskriminierung diametral entgegenstehend, finden wir dann die 2003 verabschiedete Richtlinie zur Familienzusammenführung (2003/86/EG). Sie repräsentiert für die meisten Beobachter geradezu einen Ausbund an restriktiver Migrationspolitik; ihre Harmonisierungsstandards waren im langen Verhandlungsprozess immer weiter herabgesetzt worden (Walter 2003). Das Europäische Parlament hat Klage beim Europäischen Gerichtshof eingereicht, weil es seine Anhörungsrechte verletzt sieht. Auch bestehen Zweifel, ob die Richtlinie mit europäischen und internationalen Menschenrechtsstandards übereinstimmt (Apap/Carrera 2004). Der Europäische Gerichtshof wies die Klage jedoch ab mit der Begründung, der Gemeinschaftsgesetzgeber habe die von den Grundrechten vorgegebenen Grenzen nicht überschritten, indem er denjenigen Mitgliedstaaten mit besonderen Rechtsvorschriften bzw. jenen, die besondere Rechtsvorschriften erlassen wollten, erlaube, einzelne Aspekte des Rechts auf Zusammenführung abzuwandeln. Er führte aus, dass die
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Auflage eines Integrationskriteriums für nachziehende Kinder von über zwölf Jahren nicht gegen das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens, die Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls oder das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters verstoße. Die in der EMRK und der EuGRCH festgelegten Regelungen zur Achtung des Familienlebens würden für die Mitglieder einer Familie kein subjektives Recht auf Aufnahme im Hoheitsgebiet eines Staates begründen und ließen sich nicht dahingehend auslegen, dass den Staaten bei der Prüfung von Anträgen auf Familienzusammenführung kein Ermessensspielraum verbliebe (EuGH, Urteil vom 27.06.2006). Anwerbung Was schließlich die Anwerbung von Zuwanderern angeht, so liegt diese Kompetenz ausschließlich bei den nationalen Gesetzgebern. Im Unterschied zu den Regierungsvertretern im Rat der Europäischen Union, die hier auch keine weiteren Kompetenzen abtreten wollen, stehen die meisten EU-Bürger einer weiteren Vergemeinschaftung der Migrationspolitik sogar positiv gegenüber (vgl. die Umfragen bei Boeri/Brücker 2005). Ein Richtlinienentwurf für die Zulassung ausländischer Arbeitnehmer zu Erwerbszwecken (KOM 2002/386 edg.) liegt zwar seit 2001 vor. Er konnte aber im Ministerrat nicht verabschiedet werden, weil eine Anwerbung von Arbeitskräften den Regierungsvertretern angesichts steigender Arbeitslosenzahlen in einigen Mitgliedstaaten nicht vermittelbar schien. Bei den nationalen Anwerbepolitiken erfolgte ein spillover von Maßnahmen, die keine Annäherung zwischen den Mitgliedstaaten, sondern einen Wettbewerb um die Hoch- und Höchstqualifizierten freisetzten: Frankreich warb ab 2004 mit Steuerbefreiungen, nachdem Belgien begonnen hatte, Hochqualifizierte anzuwerben (Boeri/Brücker 2005). Das britische Programm für Hochqualifizierte wurde direkt durch die deutsche „Greencard“ beeinflusst (McLaughlan/Slat 2002). Ebenso wenig wie der Entwurf des Europäischen Verfassungsvertrags (Art. II-267(5)) sieht das Haager Programm vor, Bestimmungen zur legalen Migration vollständig zu vergemeinschaften. Einige Mitgliedstaaten, allen voran Deutschland und seine Länder, bestehen darauf, Art und Umfang der Zuwanderung in die Arbeitsmärkte weiterhin national zu steuern. Die Kommission ist nach wie vor der Auffassung, dass eine Migrationssteuerung drängt. So schlug sie bereits in einer weiteren Mitteilung vom 3. Juni 2003 (KOM/2003/336) einzelne policies vor, die den Bedürfnissen des EU-Marktes Rechnung tragen sollen. Im Dezember 2005 legte sie einen Strategischen Plan zur legalen Einwanderung als Mitteilung vor (KOM/2005/669). Dieser soll einen Fahrplan bis 2009 darstellen, wobei die Wirtschaftmigration in den Händen der Mitgliedstaaten verbleiben soll. Der Strategieplan wird von Richtlinienvorschlägen für die Bedingung für die Einreise und den Aufenthalt hoch qualifizierter Arbeitnehmer (mit Ausnahme von Forschern, für die ja bereits eine Richtlinie besteht) ergänzt, zu den Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Saisonarbeitern, von innerbetrieblich versetzten Arbeitnehmern und von bezahlten Auszubildenden, so dass hier also sämtliche Personengruppen erfasst wären, deren Einreise und Aufenthalt bislang nicht eigens geregelt war. Diese Richtlinienvorschläge sollen, beginnend im Jahr 2007, bis 2009 vorliegen. Die Kommission hat außerdem im Januar 2005 ein Grünbuch zur Wirtschaftsmigration (KOM 2004/811 endg.) vorgelegt. Sie will eine umfassende Diskussion erzielen „unter
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Einbeziehung der EU-Institutionen, der Mitgliedstaaten und der Zivilgesellschaft, über die geeignetste Form von Gemeinschaftsregeln für die Zulassung von Wirtschaftsmigranten und über den zusätzlichen Nutzen, der sich aus der Festlegung eines solchen gemeinsamen Rahmens ergibt“ (ebd.). Sie schlägt darin auch verschiedene Aufnahmeverfahren vor. Diese Maßnahmen sind Teil eines Gesamtansatzes, der neben der Anwerbung zusätzlicher Arbeitskräfte auch die Bekämpfung der illegalen Migration verfolgt. Das Gesamtpaket umfasst „europäische Greencards für hoch qualifizierte Arbeitskräfte, Arbeitsgenehmigungen für Erntehelfer über mehrere Jahre sowie Mehrfach-Visa für die zeitlich begrenzte Beschäftigung von Wirtschaftsmigranten“ (Jahn/Maurer/Oetzmann/Riesch 2006: 19). Die Eröffnung legaler Mechanismen zur Migrationssteuerung soll also eines der Mittel sein, um dem steigenden Bedarf an hoch qualifizierten wie auch an gering qualifizierten Arbeitskräften zu decken und die illegale Migration zu vermeiden. Hier wird überdeutlich, dass die Europäische Kommission ihre Rolle gerade im umstrittenen Bereich der legalen Migration als politischer Entrepreneur wahrnimmt und immer wieder aufs Neue versucht, der Migrationspolitik neuen Schwung zu verleihen. Sie fährt jedoch eine Strategie der „kleinen Schritte“ oder auch Salami-Taktik, indem sie den ganz großen Wurf in der Arbeitsmigration nicht mehr ansteuert, sondern Teilregelungen vorschlägt – und trägt damit zweifellos der Tatsache Rechnung, dass eine größere Lösung mit den Blockierern im Rat der Europäischen Union und angesichts einer Vielzahl der eingebundenen Ressorts nicht zu leisten wäre. Allerdings will sie 2007 ein ganzes Paket von Richtlinien vorlegen, in denen gemeinsame Regeln für Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen für Ausländer diskutiert werden. Dabei ließ sie noch offen, „ob sie für Hochqualifizierte die Schaffung einer EU-Aufenthaltsgenehmigung nach Vorbild der ‚Green Card’ in den USA vorschlagen wird, die uneingeschränkte Mobilität im EU-Raum bieten würde“ (Jahn/Maurer/Oetzmann/Riesch 2006: 33). 2.2 Der acquis communautaire in der Migrationspolitik Die Wahrnehmung der Migration und der entsprechend zu verfolgenden policies änderte sich im Untersuchungszeitraum 1999 bis 2005 für die alten Mitgliedstaaten wiederholt: Migration wurde vom Sicherheitsproblem zur Chance, und von der Chance wiederum zum Risiko umdefiniert. Entsprechend unterschiedlich fiel die Stoßrichtung der Schlussfolgerungen des Europäischen Rats von Tampere und des Europäischen Rats von Den Haag aus. Der acquis im Bereich Migration und Asyl ist im Wesentlichen durch Maßnahmen der Begrenzung und Kontrolle geprägt und spiegelt damit die Sicherheitsbedürfnisse der EUMitgliedstaaten wider. Bei diesen Steuerungszielen konnten sich die Mitgliedstaaten denn auch auf gemeinsame Regelungen einigen, wohingegen sie in den Bereichen „Integration“ und „Arbeitsmigration“ weiterhin auf ihren nationalen Kompetenzen beharren. Selbst in den Bereichen Asyl- und Flüchtlingspolitik blieb die Kompetenz der Gemeinschaft reduziert. Der geradezu „klassische“ Akteur, der zugunsten einer Harmonisierung zu wirken versucht, ist die Europäische Kommission, die selbst im Bereich der Arbeitsmigration Anstöße zu einer stärkeren Vergemeinschaftung gibt. Als wichtige Einflussvariablen für die inhaltliche Ausrichtung können gelten (Bendel i.V.):
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Petra Bendel Externe, zum Teil konjunkturelle Faktoren wie die zeitliche Koinzidenz von 11. September 2001 als focusing event und Verhandlung wichtiger Richtlinien (wie etwa die Zu- und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft, die Asylverfahrensrichtlinie, die Richtlinie zur Familienzusammenführung und die Richtlinie zu den Rechten der langfristig aufhältigen Drittstaatsangehörigen). Veränderungen in der Wahrnehmung des „Problems Migration“, der jeweils im Vordergrund stehenden Steuerungsziele mitsamt ihren Maßnahmen und der dazu gehörigen Lösungsansätze, evtl. auch Veränderungen der öffentlichen Meinung in den Mitgliedstaaten. Diese sind zum Teil begründet durch die konjunkturelle wirtschaftliche Situation in wichtigen Mitgliedstaaten. Verschiebungen in der Konstellation wichtiger Akteure in den EU-Organen, hier aber vor allem im Rat der Europäischen Union in der Folge von Wahlen in den Mitgliedstaaten. Ein noch 1999 mehrheitlich sozialdemokratisch zusammengesetzter Ministerrat im Bereich Innen- und Justizpolitik wird im Verlauf des Fünfjahreszeitraums abgelöst von einem mehrheitlich konservativ besetzten Ministerrat. Die nationalen Interessen wurden stark von der deutschen Position im Ministerrat dominiert, wo im fraglichen Zeitraum Einstimmigkeitsprinzip herrschte. Die in Punkt 2 erwähnte veränderte öffentliche Meinung schlug sich auch auf die Wahl rechtsextremer Parteien in Österreich (1999) nieder, wo die FPÖ auf 23,4% kam. Österreich wurde zunächst isoliert; der europäische Schock im seinerzeit mehrheitlich sozialdemokratisch zusammengesetzten Ministerrat über die Regierungsbildung im Alpenstaat trug ganz erheblich dazu bei, Gegenpositionen einzunehmen und in rascher Folge die Antidiskriminierungsrichtlinien zu verabschieden (Geddes/Guiraudon 2004). Nach den Wahlen in Frankreich (2002; Le Pen: 16,9%), Dänemark (2002; Volkspartei 12%) und den Niederlanden (2002; Liste Pim Fortuyn: 5,7%) jedoch wurde deutlich, dass die Rechtspopulisten nicht mehr alleine waren. Die öffentliche Meinung, die nicht nur, aber auch durch xenophobe Tendenzen in diese Richtung kippte5, sollte von den nationalen Regierungen berücksichtigt werden. Auch die Frage, welche Generaldirektion und welcher Ministerrat jeweils mit den Richtlinien beschäftigt war, spielte in dieser Querschnittspolicy eine wichtige Rolle: So wurde die liberalere Richtlinie zur Antidiskriminierung von den Arbeits- und Sozialministern, die konservativeren Richtlinien zur Familienzusammenführung von den Justiz- und Innenministern verhandelt.
Für die begrenzte Vergemeinschaftung des Politikfeldes „Migration“ zeichnet v.a. die Vetomacht einzelner Minister im Rat verantwortlich. Wiederholt war es der deutsche Bundesinnenminister, Otto Schily, der, gelegentlich im Bündnis mit seinem österreichischen Amtskollegen, weiter reichende Vorschläge blockierte, indem er auf das parallel zu einigen EU-Richtlinien in Berlin verhandelte deutsche Zuwanderungsgesetz verwies.
5
Der Zusammenhang zwischen Xenophobie, der Ausrichtung von Migrationspolitik und ihrer Wahrnehmung und schließlich der Wahlentscheidung zugunsten einer rechtspopulistischen oder rechtsextremen Partei ist selbstverständlich nicht eindeutig und muss im Einzelfall näher analysiert werden. Hier kommt es mir lediglich darauf an, die zeitliche und zumindest zum Teil auch kausale Koinzidenz aufzuzeigen, nach welcher die Ratsvertreter sich veranlasst sahen, rasch gemeinsam zu entscheiden. Dies bestätigten auch meine Interviews mit Mitarbeitern von Kommission, Rat und einschlägigen NGOs in Brüssel.
Die EU-Migrationspolitik: Exportschlager oder Neuorientierung? 3
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Osterweiterung und acquis communautaire
3.1 Übernahme des acquis in den MOEL Kann man sagen, dass sich diese Ausrichtung der Migrationspolitik entsprechend auch in die neuen Mitgliedstaaten übersetzt hat? Glauben wir einschlägigen Studien6, so ist das eindeutig der Fall. Die 1990er Jahre hindurch bestand der Hauptfokus der intergouvernementalen Aktivitäten von Seiten der Europäischen Union darin, die Kontrollfähigkeit der Beitrittskandidaten zu verbessern und diese darauf zu drängen, restriktive Maßnahmen wie strikte Visaanforderungen und beschleunigte Asylverfahren einzuführen. Dies geschah, noch bevor überhaupt eine administrative und juristische Basis für die Asylgesetzgebung geschaffen worden war. Diese „Über-Anpassung“ erwies sich jedoch zum Teil als allzu restriktiv: Alle Kandidaten führten die Regelung ein, nach der „offensichtlich unbegründete“ Asylanträge zügig behandelt werden, das Prinzip „sicherer Drittstaaten“ und andere deutsche „Exportschlager“. Allerdings hatten die damaligen Beitrittstaaten die internationalen Flüchtlingsabkommen zuvor nicht unterschrieben, so dass diese Maßnahmen häufig zu hart ausfielen: Ungelernte Grenzkontrolleure entschieden über die Zulässigkeit von Asylanträgen, juristische Kontrollen bestanden kaum. Außerdem wurde die Regel der „sicheren Drittstaaten“ sogar noch auf Weißrussland und die Ukraine ausgedehnt. Einige Abweichungen vom internationalen Flüchtlingsrecht wurden dann wiederum von „alten“ EU Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission rück-korrigiert. Dieser policy transfer erfolgte nicht so sehr über freiwillige Anpassung (policy learning), sondern durch einen starken Einfluss nationaler Akteure. Die Kommission spielte im Asyl- und Flüchtlingsbereich nur eine geringe Rolle. Vielmehr wurden die Reformen vor allem unkoordiniert durch nationale Einflüsse von einzelnen „alten“ Mitgliedstaaten vorangetrieben (Lavenex 2002: 716); dies geschah vorwiegend durch Twinning-Programme. Die MOE-Staaten haben nunmehr den aquis communautaire im Migrationsbereich übernommen. Darin enthalten sind auch alle Schengen-Regelungen, welche die gemeinsame Visapolitiken und die gemeinsame Sicherung der Außengrenzen betreffen. Aber erst wenn ihre Anwendung positiv evaluiert wurde, kann der Rat der Europäischen Union einstimmig die volle Mitgliedschaft beschließen, und erst dann werden die Grenzkontrollen zu den neuen Mitgliedstaaten eingestellt. 3.2 Erste Tendenzen der Zuwanderung in die MOEL Verlässliche Daten über Zuwanderungstrends nach der Osterweiterung stehen noch nicht zur Verfügung. Auf der Grundlage des vorhandenen Materials (OECD 2005), das sich vorwiegend auf die Tendenzen vor dem Beitritt, aber bei bereits eingeführtem acquis bezieht, lässt sich jedoch zeigen, dass die Asylsysteme der neuen Mitgliedstaaten im Vergleich zu den alten wenige Zugänge haben. Sie nehmen freilich in den meisten MOEStaaten zu (am stärksten in der Slowakei mit einem Anstieg von 2000: 1.600 Asylbewerbern, 2003: 10.3007; den geringsten Zulauf hatte Estland mit 2003: 14 Personen). Die Anerkennungsquote liegt zwischen 4% in Polen und 15% in Ungarn (Wallace 2002: 609). 6 7
Vgl. hier und im Folgenden: Lavenex (2002). Zum Vergleich: Bulgarien: 2400 im Jahr 2001, 2900 im Jahr 2002, Litauen verzeichnete einen Anstieg von 29% im Zeitraum 2001 bis 2002, Polen von 2002: 5.200, 2003: 6.900; OECD (2005).
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Petra Bendel
Eine in Tschechien durchgeführte Studie zeigte, dass nur Migranten mit geringem Sozialkapital und wenig Ressourcen um Asyl ersuchten, während solche Personen, die bereits auf soziale Netzwerke zurückgreifen konnten, ihren Unterhalt eher mit legalen oder ggf. auch illegalen Mitteln selbst bestreiten (Wallace 2002). Je nach Zielstaat erfolgen noch die meisten Zugänge aus den GUS-Staaten, den ärmeren Beitrittskandidaten-Staaten Rumänien und Bulgarien, aber auch aus Mazedonien und der Bundesrepublik Jugoslawien. Eine zweite, zusehends größere Gruppe besteht aus Drittstaatsangehörigen aus dem Irak, dem Iran, der Türkei, Somalia, aus China, Indien, Vietnam und Afghanistan (OECD 2005). Viele Asylbewerber tauchen unter und viele versuchen in den Westen zu gelangen, so dass die MOEL als Transitstaaten, als „Türhüter“ oder „Bahnhofswächter“ gelten. Dies gilt nicht nur für Asylbewerber, sondern auch für Arbeitsmigranten. Die Möglichkeiten, als Arbeitsmigrant in den neuen Mitgliedsländern aktiv zu werden, sind angesichts der Wirtschaftslage in den meisten Staaten (Ausnahmen: Estland, Lettland, Litauen) vergleichsweise begrenzt, die Pull-Faktoren angesichts des meist niedrigen Lohnniveaus gering. Aber in den alten wie in den neuen Mitgliedstaaten drängen Arbeitsmigranten in dieselben Sektoren: in das Baugewerbe, in die Landwirtschaft, in private Haushalte und in die Tourismusindustrie. Migranten werden dabei eher in kleinen und mittleren Betrieben und eher im Dienstleistungssektor eingestellt. Obwohl wir noch nicht über verlässliche Zahlen verfügen und sich alle MOE-Staaten um die Kontrolle illegal arbeitender Migranten bemühen, steht zu vermuten, dass die nicht registrierten Arbeitskräfte recht zahlreich sind. In Tschechien und Polen werden sie auf 200.000 geschätzt, in Ungarn sogar auf die Hälfte aller ausländischen Arbeitsmigranten. Diese Arbeitsmigration ist, wie sich bereits an den bevorzugten Sektoren ablesen lässt, vielfach zeitlich begrenzt: Arbeitskräfte wandern temporär und auch zirkulär. Dies gilt zwar auch für die westlichen Mitgliedstaaten. Diese aber weisen aus historischen Gründen der Arbeitskräfteanwerbung und des Familiennachzuges einen erheblich höheren Anteil an permanenter Migrationsbewegung auf. 4
Tentative conclusio und Perspektiven
Tentativ lassen sich folgende Tendenzen festhalten: Erstens, der starke Familiennachzug der vergangenen Jahrzehnte in die westlichen EU-Staaten hat unsere Wahrnehmung von Migration und damit auch von den anzustrebenden Migrationspolitiken stark auf die Notwendigkeit von Integrationspolitik gelenkt. Bei einem möglichen Türkei-Beitritt wird sicherlich diese dauerhafte Migration weiter verstärkt werden, weil typische Migrationsmuster belegen, dass bestehende Netzwerke weitere permanente Zuwanderung nach sich ziehen. Die Zuwanderung aus den Staaten östlich der MOEL weist aber eher in eine andere Richtung: Viele Wanderungsbewegungen, so lassen die ersten verfügbaren Daten ebenso wie die im Vorfeld durchgeführten Umfragen über das intendierte Migrationsverhalten vermuten, werden künftig stärker zeitlich befristet sein, so dass die Migranten sich nicht notwendigerweise mehr komplett in ihren Aufnahmestaat integrieren müssen (Menz 2002). Es steht zu vermuten, dass wir zumindest teilweise umdenken und die Bedürfnisse der einzelnen Zielgruppen nach Integration stärker voneinander unterscheiden müssen. Zweitens, die Zuwanderung in die EU wird künftig stärker von Marktmechanismen bestimmt, wie einige Migrationsforscher (Favell/Hansen 2002) belegen. Migrationspolitik bewegt sich damit in „konzentrischen Kreisen“. Diese weisen Inklusionseffekte für die
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Ränder einer – freilich nur in einige Richtungen – zusehends durchlässigen „Festung Europa“ auf, aber Exklusionseffekte für die Mitglieder von Staaten außerhalb dieser Kreise (ebd.). Die Ausgeschlossenen außerhalb dieser in Ceuta und Melilla so drastisch aufgezeigten Zirkel könnten künftig noch weiter ausgeschlossen werden, denn ihre Kompetenzen sind immer weniger gefragt. Hier liegt enormer Handlungsbedarf in den humanitären Aspekten der Gemeinschaftspolitik, die diesen rein ökonomischen Tendenzen entgegen wirken muss, will denn die Europäische Union zu dem von ihr vollmundig erklärten Wertekanon stehen. Er besteht namentlich in einer wachsamen Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik, aber auch in einer die Migration umfassenden Außenpolitik und einer faireren Außenhandelspolitik. Drittens, auch irreguläre Migration richtet sich nach Angebot und Nachfrage. Diese aber missachten soziale Erfordernisse und Errungenschaften. Die Herausforderungen an eine gemeinsame EU-Migrationspolitik liegen schon längst nicht mehr allein im Bereich der Innen- und Justizpolitik, wo die Migrationspolitik bislang vor allem angesiedelt ist. Sie liegen zusehends im Bereich der sozialen Sicherheit, insbesondere der arbeitsrechtlichen Regelungen. Legen wir also unser in der obigen Abbildung (Abb. 1) schematisch dargestelltes Analyseraster auf die künftigen Anforderungen an eine gemeinsame EU-Migrationspolitik an, so ergibt sich die dringende Notwendigkeit, die Steuerungsziele „Prävention“ und „Flüchtlingsschutz“ zu vertiefen. Die Anwerbung neuer, hoch- und höchstqualifizierter Zuwanderer scheint mir, ganz im Sinne der Europäischen Kommission, sinnvoll zu harmonisieren, wollen wir im längst laufenden Wettbewerb um die „brains“ nicht komplett hinterher hinken. Das letzte Steuerungsziel liegt dann, last but not least, in der ohnehin drängenden Annäherung sozialer und arbeitsrechtlicher Standards und weist damit über das engere Politikfeld „Migration“ hinaus. Tampere hatte der Gemeinschaft hohe Ziele gesetzt, die aufgrund nationalstaatlicher Interessen und weltpolitischer Ereignisse inhaltlich nicht erreicht wurden. „The Vague Program“ gibt diese Ideen nicht ganz auf, verfolgt sie aber nicht mehr mit der gleichen Vehemenz. Der neue Kommissar Frattini hat einige der Ideen reaktiviert, die zu Aufbruchszeiten auf der EU-Agenda standen. Es wird auch an den neuen Mitgliedstaaten liegen, diesen Ideen im Rat Leben einzuhauchen und sich von „Torhütern“ oder „Bahnhofswächtern“ zu aktiven Gestaltern der Migrationspolitik zu wandeln. Literatur Apap, Joanna/Carrera, Sergio, 2004: Family Reunification; A case for annulment before the ECJ?, EuroActiv. Com, Published Tuesday 17 February 2004, http://www.euractiv.com/Article?tcmuri=tcm:29-110014-16&type=Analysis zuletzt abgefragt: 7.10.2005 Bell, Mark, 2002: Anti-Discrimination Law and the European Union, Oxford. Bendel, Petra, 2002: Zurück in die Festung. Europäische Zuwanderungspolitik nach dem SevillaGipfel, in: Gesellschaft, Wirtschaft, Politik 3, S. 283-294. Bendel, Petra, 2004: Migrationspolitik der Europäischen Union: Kompetenzen, Inhalte, Prognosen, in: Werz, Nikolaus/Nuthmann, Reinhard (Hrsg.): Abwanderung und Migration in MecklenburgVorpommern, Wiesbaden, S. 251-269. Bendel, Petra, 2005: Immigration Policy in the European Union: Still bringing up the walls for fortress Europe? In: Migration Letters, Volume 2, No. 1, April, 20-31;
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Was kann die Offene Methode der Koordinierung im Bereich Alterssicherung leisten? Die Offene Methode der Koordinierung im Bereich Alterssicherung
Michaela Willert
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Einleitung
Die soziale Dimension der europäischen Union wurde im Laufe der Zeit immer wichtiger. Insbesondere Staaten mit einem hohen sozialen Sicherungsniveau haben ein großes Interesse daran, dieses gegen ein „race to the bottom“ zu schützen. Es gab seit dem Beginn der ökonomischen Integration verschiedene Versuche, auch die sozialpolitische Dimension zu berücksichtigen. Die ersten Ansätze zielten in den 1960er Jahren auf die Erleichterung der Freizügigkeit für Arbeitskräfte. Die späten 1980er Jahre waren durch die Definition sozialer Mindestregularien für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gekennzeichnet. 1999 mündeten diese Bemühungen in die Ratifizierung der europäischen Sozialcharta. In den 1990er Jahren wandelte sich der Charakter europäischer Sozialpolitik. Zugleich verringert sich der Spielraum nationaler Sozialpolitiken durch die ökonomische Integration und Verflechtung (Scharpf 2002), ohne dass diesem verringerten Spielraum ein übernationaler, europäischer Ausgleich geboten wurde. Mit der Realisierung der Wirtschafts- und Währungsunion wurde dem Schutz der bereits Beschäftigten durch das Beschäftigungskapitel im Amsterdamer Vertrag von 1997 eine gemeinsame europäische Beschäftigungsstrategie zur Seite gestellt1. Im Jahr 2000 wurden die europäischen Aktivitäten um eine gemeinsame soziale Dimension erneut ausgeweitet. Damit Europa bis 2010 zur wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wissensgesellschaft wird, soll nachhaltiges Wachstum mit mehr und besseren Jobs und größerer sozialer Kohäsion verbunden werden (Lissabon-Strategie)2. Sozialpolitik auf europäischer Ebene wird in diesem Rahmen als wichtiger Produktivfaktor angesehen, den es zu modernisieren gilt, weil er die „Umstellung auf die wissensbasierte Wirtschaft unterstützen“ muss (Europäischer Rat 2001: Absatz 31). Um dies zu erreichen, sollen die Staaten ihre Zusammenarbeit intensivieren, indem sie ihre Erfahrungen und bewährte Verfahren austauschen. Zusammen mit der Beschäftigungs- und Wirtschaftspolitik entstand auf europäischer Ebene ein – wenn auch noch nicht gleichseitiges - „Steuerungsdreieck“ (Behning 2003: 9). Die intensivierte Zusammenarbeit durch Erfahrungsaustausch stellt eine neue Art der gemeinschaftlichen Koordinierung dar. Sie ist durch eine Abkehr von der bisherigen Methode europäischen policy-makings gekennzeichnet. Die bisherige „GemeinschaftsMethode“ beruhte auf verbindlichen Direktiven und Vereinbarungen. Sie soll nun durch transparentere und deliberative Politik-Prozesse abgelöst werden3. Dazu gehört in erster Linie die „Offene Methode der Koordinierung“ (OMK):
1 2
3
Einen Überblick über die beteiligten Akteure und die Stufen bis zur Umsetzung gibt Pochet (2005: 46ff.). Vgl. hierzu den Beitrag von Attila Ágh im vorliegenden Band. Für eine genauere Diskussion der Unterschiede zwischen beiden vgl. Schäfer (2004: 16f.).
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Michaela Willert „In Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip geht es bei der offenen Koordinierungsmethode darum, grundlegende gemeinsame Ziele festzulegen, diese in nationale Strategien umzusetzen und sie unter anderem soweit wie möglich auf der Grundlage gemeinsam vereinbarter und definierter Indikatoren regelmäßig zu überprüfen, um aus dem Austausch der dabei gewonnenen Erkenntnisse Lehren zu ziehen.“ (Rat der Europäischen Union 2001: 3)
In diesem Artikel soll die Offene Methode der Koordinierung im Bereich der Alterssicherung (Renten-OMK) genauer betrachtet werden. Einen Überblick über den Ablauf der Methode gibt die folgende Tabelle. Tabelle 1: Zeitlicher Ablauf und Akteure der Renten-OMK November 2001:
Die Ausschüsse für Sozialschutz und für Wirtschaftspolitik übermitteln an den Rat der Europäischen Union einen gemeinsamen Bericht über Zielsetzungen und Arbeitsmethoden im Bereich der Renten
September 2002:
Die Mitgliedstaaten legen nationale Strategieberichte über Herausforderungen im Bereich Renten, kürzlich durchgeführte und geplante Reformen vor
Im Anschluss:
Peer Reviews
Frühjahr 2003:
Vorlage des Gemeinsamen Berichtes der Kommission und des Rates für die Frühjahrstagung des Europäischen Rates, in dem die nationalen Rentenstrategien bewertet werden und auf good practice hingewiesen wird
Altersvorsorge steht im Spannungsfeld von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Kristallisiert sich in diesem Politikbereich ein spezifisches europäisches Sozialstaatsmodell heraus? Ist die Offene Methode geeignet, die in ihrem Rahmen formulierten sozialen Ziele und Ansprüche auf nationaler Ebene umzusetzen? Dies ist auch für die Beitrittsländer von Interesse, hatten sie doch kaum Einfluss auf die Gestaltung der gemeinsamen Ziele. Ihre sozialen Sicherungssysteme unterscheiden sich z. T. stark von denen der bisherigen Mitgliedstaaten. Der Umfang des Systemwechsels in den neuen Mitgliedstaaten übertrifft zudem die geplanten und durchgeführten Reformen der alten Mitgliedstaaten. Stehen die Beitrittsländer nun vor einer Konfrontation mit einem normativen europäischen Sozialmodell der alten Mitgliedstaaten? Anhand des ersten „Gemeinsamen Berichtes der Kommission und des Rates“ (Europäische Kommission 2004) im Rahmen der Renten-OMK sollen im ersten Teil des Artikels die Umrisse eines europäischen Sozialmodells im Bereich der Alterssicherung herausgearbeitet werden. Der Gemeinsame Bericht vergleicht und kommentiert die von den Mitgliedstaaten eingereichten Strategieberichte. Welche Konzepte der Alterssicherung werden auf europäischer Ebene deutlich? Gibt es Sicherungssysteme und Strategien, die als besonders vorbildlich gewürdigt werden? Um die Fortschritte der Mitgliedstaaten auf dem Weg zu den gemeinsamen Zielen zu ermitteln, sind gemeinsame Indikatoren essentielle Bestandteile der OMK. Anhand der Indikatoren vergleichen sich die Mitgliedstaaten miteinander, aus ihnen werden „good practices“ abgeleitet und das Lernen überhaupt erst ermöglicht4. Im zweiten Abschnitt geht es deswegen um die Bildung und Nutzung der Indikatoren. Diese sind keinesfalls unumstritten. Dass die Kritik berechtigt ist, wird exemplarisch an den Beurteilungen Deutschlands und Großbritanniens im Rahmen des Gemeinsamen Berichtes gezeigt. Den Evaluationen wird eine eigene Berechnung aus dem Forschungsprojekt „Private 4
Idealtypisch dargestellt durch Rose (2001).
Die Offene Methode der Koordinierung im Bereich Alterssicherung
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Pensions and Social Inclusion in Europe“ gegenüber gestellt. Auf diese Weise können zentrale Kausalannahmen der gemeinsamen Ziele überprüft und die Indikatoren kritisch gewürdigt werden. Abschließend wird aus der Perspektive der Policy transfer-Forschung gezeigt, welches Einflusspotenzial die Renten-OMK hat, ein europäisches Sozialmodell in den Nationalstaaten zu verankern.
2
Europäische Perspektiven der Alterssicherung
Alterssicherungssysteme sind sensible nationale Angelegenheiten. Trotzdem spielten sie auf EU-Ebene nicht erst seit Etablierung der OMK eine Rolle. So gebietet es das Ziel der Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, dass Ansprüche aus staatlichen Rentensystemen von einem Land in ein anderes übertragen werden können. Aus diesem Grund bestehen schon seit langem bi- und multilaterale Vereinbarungen, die dies gewährleisten. In diesem Zusammenhang waren zudem Elemente des Sozialausgleiches, wie zum Beispiel die Honorierung von Kindererziehungszeiten in der Rentenberechnung, Gegenstand europäischer Rechtsprechung5. Die Zusatzrentensysteme sind ebenfalls durch europäische Direktiven reguliert, um den Binnenmarkt in diesem Bereich herzustellen, Sozialschutz und Arbeitnehmerfreizügigkeit zu gewährleisten. 2.1 Die Offene Methode der Koordinierung im Bereich der Rentenpolitik Wozu dann noch die Offene Methode der Koordinierung im Bereich Alterssicherung? Der Gemeinsame Bericht beantwortet diese Frage folgendermaßen: „Im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip bleiben die Mitgliedstaaten verantwortlich für die Gestaltung und Verwaltung der Rentensysteme. Auch wenn keinerlei Absicht besteht, dies zu ändern, so ist mittlerweile jedoch weitgehend unstrittig, dass die Angemessenheit und Zukunftssicherheit der Rentensysteme auch grenzübergreifende Implikationen hat. Wenn man bedenkt, dass gegenwärtig etwa ein Zehntel des BIP der EU für Renten ausgegeben wird, dann wird klar, weshalb die Bevölkerungsalterung eine der größten künftigen Herausforderungen für die öffentlichen Finanzen ist.“ (Europäische Kommission 2004: 10)
Die ökonomische Integration und wirtschaftliche Verflechtung durch die Währungsunion richteten das Augenmerk spätestens seit Ende der 1990er Jahre auf die nationalen Sozialbudgets, deren größter Posten die Rentenausgaben sind. Die Bevölkerungsalterung wird die Kosten der Alterssicherung voraussichtlich stark ansteigen lassen, sodass die Sorge um den europäischen Wirtschafts- und Währungsraum vor allem kritische Blicke auf die finanziellen Belastungen durch die Alterssicherungssysteme hervorrief. Das Besondere an der im Frühjahr 2001 auf den Weg gebrachten Renten-OMK ist, dass die finanzielle Nachhaltigkeit und die sozialpolitischen Aufgaben der nationalen Rentensysteme gemeinsam betrachtet werden. Die Kommission begründet die Notwendigkeit dieses Vorgehens damit, dass „die Fähigkeit der Europäischen Union, ein hohes Maß an sozialem Schutz zu fördern – eines der grundlegenden Ziele, die in Artikel 2 EG-Vertrag festgeschrieben sind – erheblich 5
Fälle „Elsen“, Rs. C-135/99 vom 23.11.2000 und „Kauer“, Rs. C-28/00 vom 07.02.2002.
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Michaela Willert
von der langfristigen Sicherheit der Rentensysteme abhängig“ sei (Europäische Kommission 2000: 2). Unterstützt wurde diese Verbindung durch die kurz zuvor eingeführte Offene Methode der Koordinierung im Bereich „Soziale Inklusion“. Sie fördert auf europäischer Ebene die Diskussion über Armutsrisiken verschiedener Bevölkerungsgruppen und nationale Strategien, die den sozialen Zusammenhalt sichern können. Pochet betont zudem, wie wichtig die Etablierung eines institutionell auf die Wahrung von Solidarität und Sozialschutz verpflichteten politischen Akteurs in Form des Komitees für Sozialschutz war (Pochet 2005: 66). Der Ausschuss soll die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten unterstützen, allerdings unter Beachtung der Arbeit des Ausschusses für Wirtschaftspolitik (Europäischer Rat 2001: Absatz 31). Tabelle 2: Ziele der Renten-OMK Angemessenheit
Ziel 1: Soziale Ausgrenzung vermeiden
Ziel 2: Zugang zu Rentensystemen sichern, um Menschen in die Lage zu versetzen, ihren Lebensstandard aufrecht zu erhalten Ziel 3: Förderung der Solidarität zwischen den Generationen und zwischen den Älteren Finanzielle Tragfähigkeit
Ziel 4: Beschäftigungsniveau anheben Ziel 5: Lebensarbeitszeit verlängern Ziel 6: Rentensysteme zukunftssicher machen im Rahmen solider öffentlicher Finanzen Ziel 7: Leistungen und Beiträge ausgewogen anpassen Ziel 8: Sicherstellen, dass private Alterssicherung solide und angemessen finanziert ist
Modernisierung
Ziel 9: Sich an flexible Beschäftigungs- und Laufbahnmuster anpassen, Mobilität fördern, Selbständigkeit nicht behindern
Ziel 10: Bestrebungen nach Gleichbehandlung von Frauen und Männer nachkommen
Ziel 11: Fähigkeit der Rentensysteme nachweisen, den Herausforderungen gerecht zu werden
Quelle:
Europäische Kommission 2004
In der Mitteilung zur „Entwicklung des Sozialschutzes in der Langfristperspektive“ schlägt die Kommission zehn Ziele vor, die die Mitgliedstaaten bei ihrem künftigen Reformprozess als Maßstab anlegen sollten6. Durch den Rat wurden schließlich elf gemeinsame Ziele beschlossen, die den Staaten helfen sollen „ihre eigene Politik progressiv so zu gestalten, dass die Angemessenheit des Rentenniveaus unter Gewährleistung der finanziellen Nachhaltig6
Großes Gewicht legt sie auf die Gewährleistung eines ausreichenden Rentenniveaus und die Sicherstellung von Umverteilungsmechanismen zwischen Hoch- und Geringverdienern sowie Alt und Jung. Zugleich favorisiert sie Rentensysteme mit einem klaren Bezug von Beiträgen und Leistungen. Insbesondere soll eine Verlängerung der Erwerbsphase belohnt werden. Die Förderung der Gleichstellung der Geschlechter, Transparenz und Anpassungsfähigkeit hinsichtlich einer flexibleren Arbeitswelt sowie die Konsistenz der verschiedenen Bestandteile des Alterssicherungssystems sind weitere Ziele. Gesunde öffentliche Finanzen bilden den Abschluss des Zielkataloges (Europäische Kommission 2000: 16).
Die Offene Methode der Koordinierung im Bereich Alterssicherung
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keit gesichert und der Herausforderung der sich verändernden sozialen Erfordernisse Rechnung getragen wird“ (Rat der Europäischen Union 2001). Die Ziele zur Reform der Rentensysteme in den Mitgliedstaaten sind eng mit weiteren europäisch koordinierten Politikbereichen verwoben. Besonders starke Interdependenzen bestehen mit der Europäischen Beschäftigungsstrategie und der koordinierten Wirtschaftsund Finanzpolitik. 2.2 Der Gemeinsame Bericht – Bewertung nationaler Vorhaben In ihrem gemeinsamen Bericht ziehen die Kommission und der Rat eine verhalten positive Bilanz der Reformen in den Mitgliedstaaten. Alle Staaten hätten bereits Reformprozesse eingeleitet: „Zwar sind die finanziellen Herausforderungen die Haupttriebkraft der Reformen, doch haben die Mitgliedstaaten die sozialpolitischen Zielsetzungen ihrer Rentensysteme aufrechterhalten und bemühen sich, ihr jeweiliges System den sich ändernden gesellschaftlichen Erfordernissen anzupassen.“ (Europäische Kommission 2004: 9)
Lassen sich aus dem Gemeinsamen Bericht Konturen eines spezifischen europäischen Sozialmodells herauslesen, das den Fluchtpunkt aller Koordinierungsbemühungen darstellt? Bereits die Zusammenfassung des Berichtes verdeutlicht die Vorstellungen bezüglich der Rentensysteme: „In dem Maße, wie man sich stärker auf die betriebliche Altersversorgung stützt – oft mit tarifvertraglicher Absicherung –, in die staatlichen und privaten Rentensysteme zunehmend solidarische Elemente einbaut und Beiträge und Leistungen enger miteinander verknüpft, wird sich die Angemessenheit der Renten erhöhen und damit auch die Generationengerechtigkeit gefördert.“ (Europäische Kommission 2004: 6)
Dies wurde z. T. so interpretiert, dass das europäische Ziel, ganz im Gleichklang mit Vorschlägen der Weltbank und der Europäischen Zentralbank, eine armutsvermeidende staatliche Grundrente sei, die typischerweise durch Steuern finanziert wird. Diese Grundrente wird durch nicht-staatliche einkommensbezogene Systeme ergänzt. Diese Interpretation wird dadurch gestützt, dass Rentenbeiträge im Gemeinsamen Bericht überwiegend als Steuern bezeichnet werden7. Damit verbunden ist die Befürchtung, dass die Rentenhöhe aus europäischer Sicht schon dann als angemessen gilt, wenn sie vor Armut schützt8. Dieser Lesart widerspricht allerdings, dass der Gemeinsame Bericht die Einführung zweier fiktiver beitragsbezogener Rentensysteme würdigt (Europäische Kommission 2004: 8). Der Versuch, finanzielle und soziale Zielstellungen gleichermaßen zu berücksichtigen, führt zu einer ambivalenten Darstellung der Rentenreformen im ersten Gemeinsamen Bericht. An der einen Stelle werden die schwedischen Rentenreformer für die Fixierung der Beiträge und ausschließliche Regulierung des Rentenhaushaltes über die Leistungshöhe 7
8
Diese Konnotation der Beiträge als ausschließliche Belastung des Faktors Arbeit (die im Rahmen der Europäischen Beschäftigungsstrategie vermindert werden soll) ist jedoch irreführend in Bismarckschen Rentensystemen wie z.B. dem deutschen. Deren Leistungen sind stark beitragsbezogen, unterliegen einer Eigentumsgarantie und werden durch Institutionen erbracht, die vom Staatshaushalt getrennt sind. So z.B. Schmähl (2005: 13).
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Michaela Willert
gelobt (Europäische Kommission 2004: 64). An anderer Stelle wird hingegen über die Zukunft der Solidarität geschlussfolgert, dass die bisherigen Anstrengungen eventuell nicht ausreichen werden, um ein Zurückfallen der Durchschnittseinkommen Älterer hinter die Jüngerer sowie eine größere soziale Ungleichheit zwischen den Älteren zu verhindern (Europäische Kommission 2004: 39). Die Leistungsfähigkeit privater Vorsorgeformen, einen angemessenen Lebensstandard gewährleisten zu können, wird ebenfalls durchgängig hinterfragt. Die eingangs zitierte Zusammenfassung aus dem Gemeinsamen Bericht verdeutlicht ein weiteres Element eines europäischen Sozialmodells: die Präferenz eines Alterssicherungsmixes aus staatlicher und privater Vorsorge. Hintergrund dessen ist die Hoffnung, auf diese Weise die öffentlichen Finanzen zu entlasten (Europäische Kommission 2004: 76, 84). Damit eröffnet sich jedoch ein Steuerungsdilemma: Wie sollen die Mitgliedstaaten dann angemessen hohe Rentenzahlungen sichern? Die wichtigste Maßnahme in diesem Zusammenhang ist in den Zielen der Renten-OMK angesprochen: die Mitgliedstaaten sollen einen regulativen Rahmen schaffen, der einen breiten Zugang zu den privaten Systemen sowie deren Effizienz, Kostengünstigkeit und Sicherheit fördert (Ziel 8). Die EU selbst ist in der Rahmensetzung bereits stark engagiert und fordert im Gemeinsamen Bericht einen weiteren Bedeutungszuwachs (Europäische Kommission 2004: 80). Im Rahmen der bisherigen Gemeinschaftsmethode fördern europäische Richtlinien den Binnenmarkt (Lebensversicherungsrichtlinie; Pensionsfondsrichtlinie) und schützen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in betrieblichen Rentensystemen (gleiche Leistungen für Männer und Frauen, Diskriminierungsverbot für Teilzeitbeschäftigte [Richtlinie 96/97/EG]; Arbeitgeber-Insolvenzrichtlinie [80/987/EWG]). Koordinierende Maßnahmen der Europäischen Kommission sollen die Arbeitnehmermobilität fördern, indem die unterschiedliche Besteuerung und die Übertragungsregeln von Vorsorgevermögen in den einzelnen Mitgliedstaaten harmonisiert werden9. Ein weiterer Weg, wie aus europäischer Sicht das Steuerungsdilemma zwischen Privatisierung und Erfüllung des Ziels angemessener Renten erreicht werden soll, ist der Einbezug der Tarifpartner in die Alterssicherung. Der Bericht betont die Vorteile betrieblicher Lösungen gegenüber der individuellen Absicherung (Europäische Kommission 2004: 33) und benennt darüber hinaus die tarifvertragliche Absicherung der Renten in Dänemark, den Niederlanden und Schweden explizit als Beispiel (Europäische Kommission 2004: 79)10. Zu einem umfassenden regulatorischen Rahmen der zusätzlichen Altersvorsorge gehört aus europäischer Perspektive deshalb „eine klare Rollenverteilung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie die Möglichkeiten tariflicher Vereinbarungen“ (Europäische Kommission 2004: 80). Ein weiteres Element des Europäischen Sozialmodells stellt die Durchsetzung der Gleichberechtigung der Geschlechter dar. Alleinlebende Rentnerinnen weisen das höchste Armutsrisiko auf, vor allem durch geringeren Verdienst und kürzere Phasen der Erwerbstätigkeit im Vergleich zu Männern. Innerhalb des Rentensystems ist es allerdings schwierig, auf dem Arbeitsmarkt bestehende Ungleichheiten auszugleichen. In diesem Zusammenhang wird auf das Ziel der europäischen Beschäftigungsstrategie verwiesen, die Beschäftigungs9
10
Zu den möglichen Auswirkungen dieser Regelungen auf das Ziel angemessener Renten bzw. soziale Inklusion von Rentnern vgl. Willert (im Ersch.). Zugleich müssen jedoch branchenweite tarifliche Versorgungseinrichtungen ihre exklusive Stellung gegen das Wettbewerbsrecht verteidigen, vgl. EuGH Fall Maatschappij Drijvende Bokken BV
Die Offene Methode der Koordinierung im Bereich Alterssicherung
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quote von Frauen auf 60 Prozent zu erhöhen. So würden Frauen eigene Rentenanwartschaften erwerben und weniger von Hinterbliebenenrenten oder Mindesteinkommen abhängig sein. Als wichtig wird deswegen erachtet, Erziehungs- und Pflegezeiten bei der Rente zu berücksichtigen, um die individuellen Anwartschaften Erziehender zu erhöhen. Allerdings sollte dies für Frauen und Männer gleichermaßen geschehen, um die Wiederaufnahme einer Beschäftigung für Frauen nicht zu gefährden. Vorrangig werden deshalb Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Pflegeaufgaben und Erwerbstätigkeit vorgeschlagen. In den Rentensystemen selbst sollen bislang geschlechterspezifische Regelungen, wie z.B. geringere gesetzliche Rentenalter für Frauen, denen der Männer angeglichen werden11. Die zunehmende Bedeutung der Zusatzrentensysteme wird als kritisch für die Situation künftiger Rentnerinnen bewertet, da die längere Lebenserwartung von Frauen zu geringeren monatlichen Rentenzahlungen führen kann12. Positiv erwähnt werden deswegen die Niederlande, die ab 2005 gleiche Rentenzahlungen auch in beitragsbezogenen Betriebsrenten vorschreiben. Die sich abzeichnenden Elemente des Europäischen Sozialmodells im Bereich der Alterssicherung verweisen auf das Modell eines „aktivierenden“ Sozialstaates13 (Gilbert 2002; Dingeldey 2005). Dafür stehen Rentensysteme, die angemessene Leistungen individuell, beitragsbezogen und auf Beschäftigung basierend erbringen. In die Leistungserbringung sind staatliche und nicht-staatliche Akteure (besonders die Tarifparteien) involviert. Die Rolle des Staates besteht darin, aktiv durch die Regulierung der ergänzenden Vorsorge sozialstaatliche Ziele zu verfolgen, denn: „Eine unzureichende staatliche Versorgung reicht nicht aus als Auslöser für die Entwicklung privater Systeme“ (Europäische Kommission 2004: 80). In welcher Weise findet dieser normative Rahmen Anwendung bei der Evaluation der nationalen Strategieberichte? Werden den Mitgliedstaaten Hinweise14 gegeben, ihre Reform-Strategien im Sinne des europäischen Sozialmodells zu verändern? 2.3 „Good practices“ im Gemeinsamen Bericht Basierend auf den Strategieberichten, die die Mitgliedstaaten erarbeiteten (möglichst in Zusammenarbeit aller relevanten zivilgesellschaftlichen Kräfte), werden am Ende des Gemeinsamen Berichtes in kurzen Kapiteln die spezifischen Herausforderungen der einzelnen Länder zusammengefasst und künftige Schwerpunkte von Reformen benannt. Auf ein Benchmarking, also auf die Bildung von Ranglisten, wurde dabei ausdrücklich verzichtet. Ausgesprochen positiv evaluiert wurde das schwedische Rentensystem. Auch die Niederlande bewertet der Bericht sehr positiv, mit leichten Einschränkungen hinsichtlich der finanziellen Zukunft des staatlichen Rentensystems. In der Anwendung auf die einzelnen Länder beschränkt sich das von der Kommission und dem Rat vertretene europäische Sozialmodell15 weitgehend auf die Elemente Förde11
12
13 14
Diese sind nach Richtlinie 79/7 zwar noch zulässig, sollen aber nur vorübergehender Natur sein und regelmäßig geprüft werden. Gleiches könnte auch für staatliche Rentensysteme mit fiktiven beitragsbezogenen Leistungen zutreffen. Schweden und Italien haben sich jedoch gegen eine Lösung mit unterschiedlichen Leistungen für Frauen und Männer entschieden. Wenngleich dieser Begriff im gesamten Gemeinsamen Bericht nicht auftaucht. Empfehlungen wie z.B. in der Beschäftigungsstrategie gibt es explizit nicht.
250
Michaela Willert
rung der Beschäftigung (Aktivierung), Armutsvermeidung sowie Flexibilität (Arbeitnehmermobilität; Zugang ‚untypischer’ Beschäftigter zu den Sicherungssystemen). Dies liegt zu einem großen Teil daran, dass finanzielle Nachhaltigkeit, Beschäftigung und Armut im Rahmen der Vorarbeiten anderer Koordinierungsbereiche quantitativ besser erfasst sind. Aufgrund dieser Verwerfungen in der Wahrnehmung bestimmter Aspekte des Rentensystems analysiert der nächste Abschnitt die Rolle der Indikatoren in der Renten-OMK. 3
Indikatoren der Renten-OMK – Werkzeug oder Politik?
Indikatoren sind die wichtigsten Werkzeuge der OMK, um die Performance der Politik der Mitgliedstaaten vergleichen und den Grad der Zielerreichung ablesen zu können. Die Absicht ist, durch den Vergleich der Ergebnisse die Stärken und Defizite eines bestimmten Rentensystems objektiv, anhand valider empirischer Daten abzubilden. Indikatoren sollen so bei der Problemwahrnehmung helfen und Diskussionsraum und Reformchancen zu dessen pragmatischer Lösung schaffen (Schludi 2003; Mabbett 2005). Im Vergleich besser abschneidende Länder können als Orientierung bei der Lösungssuche dienen, also zum Lernen anregen. Die Mitgliedstaaten erstellten ihre Strategieberichte für die Renten-OMK ohne vorher Indikatoren zu verabschieden. Aber durch die im Gemeinsamen Bericht der Renten-OMK als „good practice“ bewerteten Länder Schweden und Holland sind zumindest die Elemente erfolgreicher (aus europäischer Sicht) Rentensysteme benannt16. Zum Lernen, dem dezidierten Ziel der Offenen Methode der Koordinierung, fehlt jedoch die Offenlegung von Kausalketten, die Zuordnung von Ursachen und Wirkungen in den Rentensystemen (vgl. dazu Zeitlin 2005b: 475; Atkinson/Marlier et al. 2004: 50)17. Vielmehr wurden in den Länderanalysen vor allem solche Herausforderungen benannt, auf die die Mitgliedstaaten selbst in ihren Berichten verwiesen18. Zudem wurde sehr stark auf die bereits bekannten Ergebnisse anderer koordinierter Bereiche zurückgegriffen, so auf die Vorarbeiten zu den finanziellen Auswirkungen der Alterung, auf die Europäische Beschäftigungsstrategie und auf die Ergebnisse der OMK zur sozialen Inklusion19. 3.1 Der Einfluss von Indikatoren auf die Politik Indikatoren stehen nicht im luftleeren Raum. Ihre Auswahl und ihr Vorhandensein beeinflussen die Darstellung der Rentensysteme und die Gewichtung bestimmter Ziele. Auf diese 15
16
17
18 19
Die Sicherung der finanziellen Nachhaltigkeit, die in den Länderkapiteln breiten Raum einnimmt, wird hier nicht zum Sozialmodell gezählt. Die Kommission sowie die Ausschüsse für Wirtschafts- und Finanzpolitik und Sozialpolitik stellten die Daten zur Verfügung, die im Gemeinsamen Bericht vergleichend dargestellt wurden. Die in der zweiten Berichtsrunde verwendeten Indikatoren basieren darauf (Social Protection Committee (SPC)/Economic Policy Committee (ECP) 2005). Dies war ebenso wenig der Fall bei der OMK zur sozialen Inklusion (vgl. Mabbett 2005: 11) oder der Beschäftigungsstrategie (vgl. Zeitlin 2005b: 473). Ähnliches konstatieren für die Europäische Beschäftigungsstrategie auch de la Porte/Pochet (2003). Dazu mag der sehr knappe Zeitraum zwischen dem Eingang der nationalen Strategieberichte und der Verabschiedung des Gemeinsamen Berichtes beigetragen haben. Allerdings wurde der Zeitplan in der zweiten Runde der OMK nicht verändert.
Die Offene Methode der Koordinierung im Bereich Alterssicherung
251
Weise determinieren sie die Problemwahrnehmung und -bearbeitung im politischen Prozess. Die Dominanz der finanziellen Aspekte des Sicherungssystems im Gemeinsamen Bericht, die Konzentration auf Armutsprävention und auf Aktivierung als Kriterien für die Güte der Alterssicherungssysteme ist nicht nur Resultat einer bewussten Reduzierung oder der „dominierenden Rolle der Wirtschafts- und Finanzminister (und auch des derzeit dominierenden „Zeitgeistes“ in Wissenschaft und Politik)“ (Schmähl 2005: 22). Vielmehr dürfte ein wichtiger Grund sein, dass sich die Mitgliedstaaten zu dieser Zeit noch nicht auf Indikatoren für die Angemessenheit der Renten geeinigt hatten. Armutsquoten wurden im Rahmen der OMK zur sozialen Inklusion bereits erhoben; zur Entwicklung der RentenAusgaben lagen Prognosen des Wirtschaftsausschusses vor (Economic Policy Committee (ECP) 2001). Die Angemessenheit der Renten war zum Zeitpunkt der Berichterstellung nicht ‚messbar’ und vergleichbar. Dieses Ziel verlor so gegenüber den bereits ‚gemessenen’ Eigenschaften der Rentensysteme an kognitiver Relevanz (so auch Schludi 2003: 33). Für die nächste Runde der nationalen Berichterstattung entwickelte die Untergruppe des Ausschusses für Sozialpolitik einen Indikator für die Angemessenheit der Renten (Social Protection Committee (SPC) - Indicators Subgroup 2003), so dass dieses Ziel mehr Berücksichtigung im Vergleich der Reformstrategien der Länder finden könnte. Neben den Einfluss auf die Problemwahrnehmung beinhaltet die Auswahl der Indikatoren unter Umständen bereits Lösungsansätze für die zu entdeckenden Probleme. Die „Offenheit“ der Methode der Koordinierung ist dann zumindest fragwürdig. Ein Weg um dies zu vermeiden ist die Erhebung von outcomes (d.h. der Auswirkungen) der entsprechenden Politiken, wie z.B. Armutsquoten oder Bildungsniveau. Die Auswahl der notwendigen Mittel zur Erreichung der Ziele treffen die Mitgliedstaaten (Atkinson/Marlier et al. 2004: 51; Behrendt 2003: 87). Indikatoren, die eine klare und akzeptierte normative Interpretation zulassen und deren Veränderungen eindeutig zu beurteilen sind, tragen ebenfalls zur Offenheit der Methode bei. Im Rahmen der Renten-OMK wurden jedoch sog. “InputIndikatoren“ verwendet, wie z.B. die staatlichen Ausgaben für Rentensysteme und die Beschäftigungsquote. Dabei sind die Auswirkungen einer höheren Beschäftigungsquote auf die Rentensysteme eher indirekt20 und bei den Staatsausgaben kann von einem normativ eindeutigen Indikator nicht die Rede sein (Schludi 2003: 47). Die in diesem Indikator implizierten Lösungsansätze beschreibt Schmähl (2003): „Hierbei liegt aus Sicht der Finanzpolitiker nahe, einen niedrigen Prozentsatz als positiv und Steigerungen als negativ anzusehen. Die Folgerung, es sei stärker zu privatisieren, läge in diesem Fall nahe.“ (Schmähl 2003: 112)
Indikatoren können demnach eine hidden agenda bergen, die in hohem Maße politisiert ist. Politische Konflikte, die durch weichere, vagere Formulierungen der gemeinsamen Ziele vermieden wurden, werden bei der Auswahl der Indikatoren wieder virulent (Schludi 2003: 34; Radaelli 2004b: 23ff)21.
20
21
Die Auswirkungen auf die Alterssicherung hängen davon ab, welchen Personenkreis das Rentensystem erfasst. Steigt zum Beispiel in der Bundesrepublik Deutschland die Beschäftigungsquote durch mehr Selbständigkeit, hat dies auf die deutsche Rentenversicherung keinen direkten Einfluss, da nur abhängig Beschäftigte und deren Arbeitgeber die Rentenbeiträge aufbringen. In der Europäischen Beschäftigungsstrategie führte dies dazu, dass die Niederlande eigene statt der europäischen Indikatoren verwenden (Visser 2005: 195) und Italien den Nutzen der EU-Prinzipien für bestimmte Kontexte inzwischen für begrenzt hält (Radaelli 2004b: 23).
252
Michaela Willert
Die hidden aganda im Falle der Renten-OMK ist die des „aktivierenden Sozialstaats“ und den damit verbundenen Indikatoren der Beschäftigungsförderung und Verlängerung des Erwerbslebens. Der folgende Abschnitt veranschaulicht die Problematik dieser inhärenten Problemlösung und den möglichen Einfluss der Indikatoren-Wahl auf die Schlussfolgerungen über die Rentensysteme der Mitgliedstaaten. Als Beispiele dienen die Rentensysteme Großbritanniens und Deutschlands. 3.2 Indikatoren in der Praxis 3.2.1 Grundzüge der Rentensysteme Deutschlands und Großbritanniens Mit Großbritannien und Deutschland werden zwei höchst unterschiedliche Rentensysteme betrachtet. Die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland (GRV) sind, wie es typisch ist für Sozialversicherungen Bismarckschen Typs, an die eingezahlten Beiträge geknüpft. Es wird innerhalb des Systems nur in geringem Maße umverteilt. Der Anteil der gesetzlichen Rente an den gesamten Alterseinkünften ist sehr hoch. Die zusätzlichen Formen der Vorsorge sind freiwillig, werden jedoch staatlich gefördert. Betriebliche Alterssicherung wurde bislang ausschließlich vom Arbeitgeber initiiert, aber seit der Rentenreform 2001 existieren darüber hinaus tarifliche Vereinbarungen. Zudem werden bestimmte Privatvorsorge-Verträge steuerlich und durch direkte Zuschüsse an Niedrigverdiener gefördert („Riester-Rente“). Tabelle 3: Vergleich Staatlicher Rentensysteme in D und GB D
GB
Erfasste Einkommen/ Personen
Lohn- und Gehaltsbezieher + Gleichgestellte
SSP*: Lohn- und Gehaltsbezieher BP**: + Selbstständige
Grad der Umverteilung
Niedrig
SSP: moderat BP: hoch
Moderater Einkommensersatz
Basissicherung
10,8
5,5
Sicherungsziel ***
Staatl. Rentenausgaben (in % des BIP)
* SSP = Second State Pension ** BP = Basic Pension ***Daten für 2000, inkl. staatlicher Ersatzeinkommen für Personen ab 55 Quelle:
eigene Zusammenstellung und Europäische Kommission (2004: Tabelle 8)
Das staatliche Rentensystem Großbritanniens besteht aus zwei Teilsystemen. In die Basic Pension (BP) zahlen alle Erwerbstätigen, also auch die Selbständigen. Die Leistungen sind pauschaliert und niedriger als der britische Sozialhilfesatz. Für den einkommensbezogenen Teil, die Second State Pension (SSP), gelten die gleichen Prinzipien wie für die deutsche GRV. Allerdings wird in stärkerem Maße zugunsten von Beziehern niedriger Einkommen umverteilt. Obgleich die SSP eine Pflichtversicherung ist, kann sie ‚abgewählt’ werden. Ein Teil der Beiträge darf stattdessen in spezielle betriebliche Rentenversicherungen eingezahlt werden. Diese betrieblichen Rentenversicherungen bieten wie in Deutschland die Arbeitge-
Die Offene Methode der Koordinierung im Bereich Alterssicherung
253
ber an. Insgesamt leistet das staatliche System eine Mindestabsicherung, während der Hauptteil der Alterseinkünfte aus betrieblichen und privaten Vorsorgeformen stammen soll. Die durch den Gemeinsamen Bericht identifizierten Herausforderungen beider Rentensysteme sind völlig unterschiedlicher Natur. Das britische Rentensystem belastet aufgrund seiner auf Armutsvermeidung zielenden Ausgestaltung am wenigsten den Staatshaushalt. Die finanzielle Nachhaltigkeit gilt deswegen als gesichert. Als größte Herausforderung wird die Angemessenheit der Renten gesehen. Ob des komplexen Systems der Altersvorsorge wird zudem eine höhere Transparenz der Angebote und Leistungen für die Beschäftigten angemahnt und kritisch auf die Sicherheit der investierten Altersvermögen verwiesen (Europäische Kommission 2004: 174ff). Die Angemessenheit der Rente gilt im deutschen Altersvorsorgesystem gegenwärtig als gewahrt. Trotzdem wird positiv auf Maßnahmen hingewiesen, die das Armutsrisiko verringern sollen, so z.B. auf die Einführung einer Grundsicherung im Alter, die nicht auf das Einkommen der Kinder zurückgreift. Deutlich hingewiesen wird auf die ungesicherte finanzielle Nachhaltigkeit des Rentensystems. In diesem Zusammenhang verweist der Gemeinsame Bericht sogar auf die „nur geringe […] Absenkung der staatlichen Renten“ (Europäische Kommission: 120), so dass das Rentensystem im Zusammenhang mit fehlenden automatischen Anpassungsmechanismen weiterhin große finanzielle Risiken berge. Eine weitere Herausforderung aus Sicht der Kommission und des Rates ist der Ausbau der tariflichen Altersvorsorge, der allerdings nicht die Mobilität der Arbeitskräfte hemmen darf. An den Darstellungen beider Rentensysteme und ihrer Herausforderungen wird, erstens, wiederum die Selektivität in der Problemwahrnehmung durch die bereits vorhandenen Indikatoren deutlich. Zweitens reproduziert der Gemeinsame Bericht die aktuellen nationalen Debatten. Die Ergebnisse des Forschungsprojektes „Private Pensions and Social Inclusion in Europe“ zeigen22, dass die Verwendung eines langfristig orientierten Indikators für die Angemessenheit der Renten eine andere Perspektive auf beide Rentensysteme und deren weiteren Reformbedarf eröffnet. 3.2.2 Perspektiven der Angemessenheit Um die langfristigen sozialen Auswirkungen der Privatisierung von Rentensystemen zu analysieren, wurden im Projekt „Private Pensions“ Rentenzahlungen von Beispielbiographien im Jahr 2050 simuliert. Dabei wurden nicht nur die staatlichen Rentensysteme berücksichtigt, sondern ebenfalls betriebliche Altersvorsorgeangebote, so sie denn für Arbeitnehmer verpflichtend sind. Die im Forschungsprojekt entwickelten hypothetischen Biographien spiegeln typische Risiken im Lebensverlauf wider, die zu niedrigen Alterseinkommen führen können. Dazu zählen besonders Erwerbsunterbrechungen durch Betreuungsaufgaben, TeilzeitErwerbstätigkeit, Selbständigkeit sowie der Bezug unterdurchschnittlicher Einkommen (s. Übersicht 3). 22
Das Projekt unter Leitung von Prof. Barbara Riedmüller und Dr. Traute Meyer wurde durch die Europäische Union im 5. Rahmenprogramm gefördert (HPSE-CT-2002-00151). Daran beteiligt waren die Freie Universität Berlin (D), University of Southampton (GB), Universiteit Twente (NL), Istituto di Ricerche sulla Popolazione e le Politiche Sociale (I), Akademia Economiczna Krakow (PL), Université de Fribourg (CH).
254
Michaela Willert
Tabelle 4: Merkmale der Beispielbiographien Biographie
1
2
Gering qualifizierte Teilzeiterwerbstätige Mittel qualifizierte Teilzeiterwerbstätige
Branche
Einzelhandel
Öff. Dienst
3a
Durchschnittl. LebensEinkommen*
38%
62%
Wechsel zu Vollzeiterwerb
20%
3 Kinder, Pflegephase, Informales Beschäftigungsverhältnis
32%
+ Scheidung und anschließende Erwerbstätigkeit
Hausfrau 3b
Nahrungsmittel
4a
81% Gering qualifizierte Arbeiter
Automobil
Mittel Qualifizierter mit Erwerbsunterbrechung und Selbständigkeit
Bau
Familien-Unternehmer
-
Mittel qualifizierter Arbeiter
Chemie
8
Mittlerer Manager
Finanzdienstl.
137%
9
Migrant
Elektro
64%
4b 5
6
7
Besonderheiten
60%
Langzeitarbeitslosigkeit im Alter
104%
Arbeitslosigkeit, Training und Selbständigkeit ab Alter 34
89%
Nach kurzer Zeit Selbständigkeit
121%
2 Scheidungen nach Versorger-Ehe
Migration mit Alter 36
* In Relation zum Durchschnittsverdienst eines Vollzeiterwerbstätigen in der Privatwirtschaft
Die künftigen Renteneinkünfte dieser Biographien wurden unter ceteris-paribus-Annahmen in allen am Projekt beteiligten Ländern mittels der gleichen Annahmen zur ökonomischen Entwicklung23 simuliert. Als Indikator für Angemessenheit werden die so ermittelten Brutto-Rentenzahlungen zu einer relativen gesellschaftlichen Einkommensgrenze von 40% des durchschnittlichen Brutto-Einkommens ins Verhältnis24 gesetzt (Inklusionsgrenze). In Anlehnung an etablierte Armutsmaße, auf die wegen einer fehlenden vergleichbaren Datenbasis für alle beteiligten Länder nicht zurückgegriffen werden konnte, wird angenommen, dass ein Einkommen in dieser Höhe zu einer adäquaten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben befähigt25. 23
24
25
Reales Lohnwachstum von 2,0 % p.a., Real-Verzinsung von Anlagen in der privaten Alterssicherung, so keine anderen Regelungen existieren 4,0% p.a., Inflation 1,9% p.a. Ich danke Traute Meyer und Paul Bridgen (UK) dafür, dass sie mir ihre Simulations-Ergebnisse für diesen Beitrag zur Verfügung stellen. Damit weicht dieser Indikator vom Ansatz der EU ab, die Lohnersatzraten als Maßstab zu nehmen (vgl. Social Protection Committee (SPC) - Indicators Subgroup 2003). Ersatzraten sagen jedoch besonders bei Be-
Die Offene Methode der Koordinierung im Bereich Alterssicherung
255
Wie Abbildung 1 zeigt, ähneln sich die Ergebnisse sehr, trotz der unterschiedlichen Struktur der Alterssicherung in beiden Ländern. Höchst unterschiedliche Systeme der Alterssicherung können also, ganz im Sinne der Ziele der Renten-OMK, zu ähnlichen outcomes führen. Diese sind jedoch hinsichtlich der Angemessenheit bedenklich. Die Ergebnisse unterstützen die negative Bewertung der unsicheren Angemessenheit der Renten in Großbritannien im Gemeinsamen Bericht, sie widersprechen jedoch der positiven Bewertung des deutschen Rentensystems. Nur drei der neun Beispielbiographien erreichen in beiden Ländern ein Alterseinkommen oberhalb der Inklusionsgrenze. Allen diesen Biographien ist gemeinsam, dass sie Zugang zu einer großzügigen betrieblichen Altersvorsorge haben (Abbildung 2). Der Beschäftigte in der Chemieindustrie (Biographie 7) und jener im Finanzdienstleistungssektor (Biographie 8) verfügen darüber hinaus über überdurchschnittliche Einkommen im Lebensverlauf. Abbildung 1:
Brutto-Alterseinkommen in Deutschland und Großbritannien in Relation zur Inklusionsgrenze im Jahr 2050
200%
180%
D
UK
160% 140%
120% 100% 80% 60%
40% 20%
0% 1
2
3a
3b
4a
4b
5
6
7
8
9
Trotz der unterschiedlichen Bedeutung, die Betriebsrenten in beiden Rentensystemen haben, gleichen sich die Ergebnisse in der Tendenz auch hier. Jene Beispielbiographien mit den höchsten Alterseinkommen haben den höchsten Betriebsrenten-Anteil an den Gesamtrenten. Umgekehrt haben jene mit niedrigen oder gar keinen Betriebsrenten sehr niedrige Gesamtrenten. Zugang und Ausgestaltung der betrieblichen Rentensysteme sind für die Angemessenheit der Renten zentral, gerade in Anbetracht ihrer steigenden Bedeutung für die Altersvorsorge. Der Aspekt des Zugangs spielt in der Renten-OMK bereits eine Rolle (Ziel 2) und wurde im Gemeinsamen Bericht dokumentiert (Europäische Kommission 2004: Tabelle 3)26.
26
ziehern niedriger Einkommen wenig über deren Armutsgefährdung aus. Aktuelleren nationalen Quellen zufolge waren in Großbritannien im Jahr 2002 51% der beschäftigten Männer und 48% der Frauen (Office for National Statistics 2004: Table 6.2), in Deutschland 48% der Männer und 41% der Frauen (Kortmann/Haghiri 2003: 21) betrieblich abgesichert.
256
Michaela Willert
Abbildung 2:
Anteil von Betriebsrenten am Brutto-Alterseinkommen in Deutschland und Großbritannien im Jahr 2050
100%
D
90%
UK
80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% 1
2
3a
3b
4a
4b
1) Einzelhandel, Teilzeit 2) Öff. Dienst, Teilzeit 3a) Hausfrau 3b) Hausfrau, Scheidung 4a) Autoindustrie, geringe Qualifikation 4b) Autoindustrie mit Langzeit-Arbeitslose
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5) Bau, Selbständiger 6) Familienunternehmer 7) Chemieindustrie 8) Finanzdienstleister 9) Elektroindustrie, Migrant
Quelle: Projekt „Private Pensions“, eigene Berechnungen nach Bridgen/Meyer 2005
Auf die Ausgestaltung der Betriebsrenten hat der Staat in beiden Ländern hingegen wenig Einfluss. In Deutschland wie in Großbritannien ist die betriebliche Vorsorge freiwillig und wird vom Arbeitgeber, in der Bundesrepublik z. T. durch die Tarifparteien gestaltet. Die Unterschiede zwischen den Branchen und Betriebsgrößen sind dadurch sehr groß. Die Ergebnisse stellen darüber hinaus die dem aktiven Sozialstaatsmodell zugrunde liegende Annahme in Frage, dass kontinuierliche Erwerbstätigkeit zwangsläufig zu einer angemessenen Rente führt. Das Beispiel der Teilzeiterwerbstätigen im Einzelhandel (Biographie 1) verdeutlicht dies besonders. Trotz nur kurzer Erwerbsunterbrechungen zur Kindererziehung bezieht sie eine der niedrigsten Renten unter den Beispielbiographien. Niedrige Einkommen, und damit Rentenbeiträge, führen in beiden Systemen zu niedrigen Rentenleistungen. Ihre Situation verbessert sich in Großbritannien durch eine stärkere Umverteilung im gesetzlichen Rentensystem zugunsten niedriger Einkommen. Besonders in Deutschland fällt auf, dass die Teilzeiterwerbstätige keine viel höhere Rente bezieht als die Biographie der Hausfrau, die über die Honorierung von Erziehungs- und Pflegeleistungen (3a) bzw. vom geschiedenen Ehepartner (3b) Rentenansprüche erwirbt. Die beiden Selbständigen-Biographien (5 und 6) sind ebenfalls kontinuierlich erwerbstätig. In beiden Ländern wird ihnen eine hohe Eigenverantwortung in Bezug auf ihre Alterssicherung zugeschrieben. In Großbritannien sind sie deshalb nur durch die Basic Pension abgesichert, in Deutschland unterliegen sie keiner Versicherungspflicht. Es gibt jedoch
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kaum gesicherte empirische Erkenntnisse darüber, ob diese Verantwortung auch wahrgenommen würde27. Dies zeigt, dass spezifische Merkmale der Rentensysteme, in diesem Falle die Schließung für bestimmte Gruppen von Erwerbstätigen, Einfluss darauf haben, ob tatsächlich angemessene Renten durch Beschäftigung erzielt werden können. Im Falle der Selbständigen scheint es jedoch der Zielsetzung der EU zu entsprechen, ihnen die Entscheidung zur Absicherung selbst zu überlassen und Unternehmertum nicht durch Rentensysteme zu hemmen (Ziel 9)28. Insgesamt zeigt das hier präsentierte Beispiel eines Indikators für angemessene Renten, dass die Renten-OMK durchaus ein Mittel sein könnte, Rentenreformen anzuregen, damit Alterssicherungssysteme langfristig angemessene Renten gewährleisten. Dazu sind allerdings Indikatoren notwendig, mit denen die Stärken und Schwächen der Rentensysteme vergleichend analysiert sowie kausale Zusammenhänge offen gelegt und dem politischen Prozess zugänglich gemacht werden können. In dem Maße jedoch, in dem die Indikatoren in der OMK als „‘soft sanctions’ to enforce Member state compliance with European targets rather than as diagnostic tools“ genutzt werden (Zeitlin 2005b: 476), Indikatoren also mehr Politik als Werkzeug sind, ist dies illusorisch. 4
Ein europäisches Sozialstaatsmodell – Auf dem Weg in die Mitgliedstaaten?
Die Analyse der Offenen Methode der Koordinierung im Bereich der Alterssicherung zeigt, dass auf europäischer Ebene ein spezifisches Sozialmodell kreiert wird. Dessen Elemente sind im Zusammenhang mit der Strategie eines ‚aktivierenden Sozialstaates’ zu sehen und beinhalten: Die Sicherstellung eines mindestens Armut vermeidenden Renteneinkommens; einen Mix aus staatlicher- und nicht-staatlicher Leistungserbringung, dessen Rahmenbedingungen durch einen regulierenden Wohlfahrtsstaat definiert sind; den Einbezug der Sozialpartner; die Gleichstellung der Geschlechter. Die Systeme der sozialen Sicherung der neuen wie der alten Mitgliedstaaten beinhalten diese Elemente in sehr unterschiedlicher Weise. Wie steht es um die Durchsetzungskraft eines europäischen Sozialmodells? Oder politikwissenschaftlich ausgedrückt: Welche Möglichkeiten hat die EU, policy transfer in ihrem Sinne zu initiieren? An die OMK-Ziele knüpfen die Wissenschaft wie auch politische Akteure zugleich Hoffnungen wie Befürchtungen (zusammenfassend: Zeitlin 2005a: 22f; Schludi 2003: 36ff). So soll die OMK einen ‚dritten Weg’ für die europäische Sozialpolitik zwischen Harmonisierung und regulatorischem Wettbewerb eröffnen, eine Alternative sein zu Intergouvernementalität und Supranationalität. Außerdem bietet sie die Chance, gemeinsame Ziele und Herausforderungen unter Wahrung nationaler Diversität zu verfolgen. Weitere Stimmen begrüßen die Chance zur Konsensbildung über ein Sozialmodell Europa in einem Prozess des experimentellen Lernens. Zudem werden große Hoffnungen in das deliberative Potenzial der OMK gesetzt, indem der politische Prozess für zivilgesellschaftliche Kräfte geöffnet wird.
27 28
Für Deutschland vgl. Fachinger/Oelschläger (2000) und Fachinger (2002). Ein Ziel, das eher nicht sozialpolitischen Erwägungen entspringt; in den Vorüberlegungen der Kommission zur langfristigen Entwicklung des Sozialschutzes (Europäische Kommission 2000) findet sich dieses Ziel noch nicht. Im Gemeinsamen Bericht wird die mangelnde Absicherung Selbständiger in Belgien sogar problematisiert (Europäische Kommission 2004: Tabelle 4).
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Kritisiert wird die Offene Methode aus zwei sehr gegensätzlichen Richtungen. Zum einen wird sie als Einfallstor für die EU in rein nationale Regelungsbereiche gesehen. Auf diese Art und Weise, so die Argumentation der Kritiker, würde das Subsidiaritätsprinzip ausgehebelt29. Auch in den Stellungnahmen des Deutschen Bundesrates werden diese Befürchtungen deutlich (Deutscher Bundesrat 2002, 2004). Andererseits wird die Offene Methode als ‚zu weich’ kritisiert. Ihre Ergebnisse würden hinter denen der bisherigen Gemeinschaftsmethode zurück fallen, da die nationale Umsetzung nicht verbindlich durchgesetzt werden könne (Trubek/Trubek 2005). Die notwendigen Fortschritte im Bereich der sozialen Sicherung könnten auf diese Weise nicht erreicht werden. Die ersten empirischen Ergebnisse bezüglich des Lernens durch die OMK sind eher ernüchternd: „To sum up then, the main learning impact is limited to specific policy issues, some countries, and still to be confirmed by more systematic evidence“ (Radaelli 2004b: 23). Lernen wurde in erster Linie auf der europäischen Ebene festgestellt, vor allem bei jenen Beteiligten, die mit den Prozessen der OMK befasst sind (ebd.: 21). Der Einfluss der OMK-Prozesse auf nationaler Ebene zeigt sich bislang selten in konkreten politischen Reformen. Konstatiert wird jedoch eine kognitive Konvergenz der Mitgliedstaaten in der Wahrnehmung und im Diskurs von Problemen und Lösungsansätzen. Auch das europäische Vokabular wird in den Mitgliedstaaten verwendet, selbst von jenen Akteuren mit gegensätzlichen politischen Positionen (Zeitlin 2005b; Radaelli 2004b). Den größten Einfluss auf nationale Politikgestaltung hat die OMK dann, wenn sie als Legitimationsquelle für bereits geplante Reformen herangezogen werden kann (Erhel/Mandin et al. 2005; Visser 2005; Casey/Gold 2004). Bei dieser instrumentellen Verwendung der OMK kann von Lernen jedoch nicht gesprochen werden. Theoretisch lässt sich dieses eher magere Ergebnis der OMK – gemessen an den hohen Erwartungen – aus ihrer institutionellen Verankerung erklären. Bulmer und Padgett (2005) identifizieren vier mikro-institutionelle Variablen, die das Ausmaß und die Resultate30 von policy transfer auf die Mitgliedstaaten prägen. Die erste Variable ist die Autorität bzw. das normative Mandat der europäischen Institutionen im betreffenden Politikbereich. In der Renten-OMK ist die Initiative der Kommission besonders hinsichtlich ihrer sozialpolitischen Zielsetzungen hoch umstritten. Anders verhält es sich mit der Autorität supranationaler Institutionen, wenn es um das Ziel der finanziellen Nachhaltigkeit der Alterssicherungssysteme geht. Dieses ist durch die vertraglich verankerte gemeinsame Wirtschafts- und Währungspolitik legitimiert. Autorität realisiert sich auch im Vorhandensein von Sanktionen. Diese gibt es für die Nicht-Einhaltung der Maastricht-Kriterien, nicht aber für verfehlte sozialpolitische Ziele. Hier zeigt sich ein spezifisches Ungleichgewicht in den Zielsetzungen der Renten-OMK, die policy transfers zugunsten eines europäischen Sozialmodells unwahrscheinlicher machen bzw. zu schwächeren Resultaten führen. Dies bestätigt jene Kritiker der OMK, denen die Methode ‚zu weich’ ist. Scharpf (2002) schlussfolgert in diesem Sinne, dass eine Verbindung der OMK mit europäischem ‚hard-law’ größere Fortschritte in Richtung eines Europäischen Sozialmodells bringen könnte. Als zweite institutionelle Variable identifizieren Bulmer und Padgett die Bedingungen, unter denen Mitgliedstaaten miteinander verhandeln. Der Modus der Abstimmung beein29 30
Einen Überblick über die Argumente aus ordnungsökonomischer bietet Okruch (2004). Die qualitativen Abstufungen der Resultate des policy transfers sind: Emulation bzw. Kopie, Synthese, Einfluss, Transferabbruch (Bulmer/Padgett 2005: 106).
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flusst das Ergebnis politischen Transfers. Vor allem Entscheidungsprozesse mit qualifizierten Mehrheitsvoten fördern problemorientierte Beratungen und Abstimmungen. Die Sozialpolitik unterliegt jedoch der Einstimmigkeitsregel. Ganz allgemein mindert die Erfordernis von Verhandlungen den Raum für Lernen in der OMK (Radaelli 2004b). Der Artikel hat gezeigt, dass die Renten-OMK in hohem Maße politisiert und infolge dessen durch Verhandlungen der Mitgliedstaaten geprägt ist31. Die Festlegung von Indikatoren und die Ermittlung von ‚good practices’ ist eben keine „truthseeking exercise“ (ebd.: 3). Im Gegenteil existieren vielfältige Spannungslinien zwischen den europäischen Institutionen und den Mitgliedstaaten. Erstere wollen Reformen fördern und sind auf das freiwillige Engagement sowie Konsens der nationalen Regierungen angewiesen. Daraus resultiert die konstatierte große Offenheit gegenüber den nationalen Darstellungen der Rentensysteme. Zu scharfe Kritik und negative Bewertungen sind dem Reformziel abträglich. Dies schränkt die Fähigkeit der Kommission ein, als unabhängiger und neutraler Akteur kritische Analysen der Systeme durchzuführen und im Gemeinsamen Bericht zu veröffentlichen (Atkinson/Marlier et al. 2004: 49). Diese Aufgabe soll stattdessen durch Peer-Reviews erfüllt werden, ein Verfahren das sich bislang als wenig erfolgreich erwies (Casey/Gold 2004). Die reformwilligen Akteure in den Mitgliedstaaten hingegen brauchen einen positiven Evaluator ihrer eigenen politischen Ansätze, um diese innenpolitisch legitimieren und durchsetzen zu können (Radaelli 2004a: 728). Die Gestaltung der europäischen Leitlinien im eigenen Sinne ist deshalb von großer Bedeutung32. Ebenso die Formulierung der Indikatoren: Je nach deren Definition können die Ergebnisse die eigenen Reformen unterstützen oder bei schlechtem Abschneiden im europäischen Vergleich die innenpolitische Opposition stärken (Zeitlin 2005b: 477). Wo beides nicht gelingt, erfolgt die Unterstützung durch die europäische Ebene am ehesten dann, wenn in den Strategieberichten die bereits unternommenen Reformschritte im Sinne der gemeinsamen europäischen Ziele uminterpretiert werden. Das politische Streben nach europäischer Anerkennung verhindert zugleich einen wichtigen Motor des Lernens: Das Lernen aus Fehlern. Die OMK zielt auf die Präsentation von Erfolgen, nicht auf negative Erfahrungen oder unintendierte Effekte (Radaelli 2004b; Casey 2004). Hier vergeben sich besonders die alten Mitgliedstaaten Chancen, von den profunden Reformerfahrungen der neuen Mitglieder zu lernen. Insgesamt wird das Potenzial für den Transfer des Europäischen Sozialmodells durch den Verhandlungscharakter der OMK vermindert. Den Grad der Institutionalisierung von Routinen im Rahmen OMK sehen Bulmer und Padgett (2005) als dritte Determinante von policy transfer. Für die Renten-OMK dürfte die Routinisierung der Kontakte zwischen wirtschafts- und sozialpolitischen Akteuren (Recht 2003: 17; Zeitlin 2005b: 457) eine besondere Unterstützung für ein europäisches Sozialmodell sein. Die Institutionalisierung im nationalen Rahmen wird widersprüchlich bewertet. So scheinen sich zwar auf administrativer Ebene neue Formen der Kooperation herausgebildet zu haben, die Legislative war jedoch an der Gestaltung der Koordinierungsprozesse nur selten beteiligt33 (Zeitlin 2005b). Die Chancen zum Transfer eines europäischen Sozialmodells in nationale Gesetzgebungsprozesse sind so gering. 31
32 33
Bulmers and Padgetts Ansatz, die OMK nur als „geförderten Unilateralismus“, die ‚weichste’ Governanceform auf europäischer Ebene, zu analysieren, greift deswegen zu kurz. Vorausgesetzt, dass europäische Institutionen als hinreichend legitim angesehen und wahrgenommen werden. Dies ist umso kritischer zu bewerten, da Parlamente als ‚normbildende Systeme’ offener für Lernen sind als Verwaltungen, die Normen anwenden (Bothfeld 2005: 136).
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In engem Zusammenhang mit der Institutionalisierung steht schließlich die vierte Variable, die policy transfer beeinflusst: politische Netzwerke. In diesen wird das größte Potenzial gesehen, ein gemeinsames Sozialmodell europaweit zu etablieren. Die Beteiligung der Sozialpartner und aller relevanten gesellschaftlichen Kräfte wird zwar allseits gefordert, ist aber bislang kaum erfolgt. Die verschiedenen europäischen Koordinierungsprozesse bieten spezifische Potenziale, neue politische Formierungen zu begründen. Diese Bestrebungen werden besonders durch die Kommission unterstützt, die z.B. im Bereich der sozialen Inklusion die Arbeit zahlreicher Nicht-Regierungs-Organisationen finanziell fördert. In der Renten-OMK spielen derartige Akteure nur eine untergeordnete Rolle. Inwieweit eine Einflussnahme auf die nationale Politikgestaltung im Sinne eines europäischen Sozialmodells möglich ist, bedarf weiterer Untersuchungen. Insgesamt scheinen die institutionellen Ressourcen für die Verbreitung eines spezifischen europäischen Sozialmodells im Bereich der Altersvorsorge gering. Die klassischen Instrumente der Gemeinschaftsmethode wie auch die gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik prägen die Alterssicherungssysteme weitaus stärker. Die Spielräume nationaler Sozialpolitik haben sich durch die OMK nicht vergrößert. Was diese Methode leisten kann, ist eine Homogenisierung des europäischen Diskurses über Alterssicherung. Die damit einhergehende Verengung der Diskussion auf noch nicht hinreichend überprüfte Kausalitätsannahmen (wie z.B. die positive Wirkung von Beschäftigung auf die Rentenkassen und auf die individuellen Renteneinkünfte) kann dem Ziel der OMK – des Lernens voneinander und des Findens von ‚good practices’ – sogar abträglich sein. Zum anderen ist die Methode der Offenen Koordinierung paradoxerweise zugleich zu offen für nationale Subjektivismen, um wirksam sein zu können. Mit anderen Worten: sie ist zu unkritisch gegenüber den Definitionen des ‚Sozialen’ durch die nationalen Akteure und deren dargelegten Strategien, z.B. hinsichtlich der Angemessenheit von Renten. Die institutionelle Ausgestaltung der OMK und die damit verknüpfte Politisierung des Prozesses verringert die Möglichkeit, dass nationale Sozialpolitiken europäische Ideen und Ziele von Sozialstaatlichkeit inkorporieren. Von der Offenen Methode der Koordinierung haben die neuen Mitgliedstaaten insofern keine Konfrontation ihrer Sozialsysteme mit einem europäischen Sozialmodell zu fürchten. Literatur Atkinson, Antony B./Marlier, Eric, et al., 2004: Indicators and Targets for Social Inclusion in the European Union, in: Journal of Common Market Strategies 42: 47-75. Behning, Ute, 2003: Die 'neue Methode der offenen Koordinierung': Versuche der integrationstheoretischen Klassifizierung einer neuen Form des sozialpolitischen Regierens in der Europäischen Union, ZeS-Arbeitspapier 12/2003, Bremen. Behrendt, Christina, 2003: Indikatoren im Prozess der „Offenen Methode der Koordinierung“: Bestandsaufnahme und Perspektiven, in: DRV-Schriften 47 - Sonderband: Offene Methode der Koordinierung im Bereich Alterssicherung - Quo Vadis?, S. 87-94. Bothfeld, Silke, 2005: Vom Erziehungsurlaub zur Elternzeit. Politisches Lernen im Reformprozess, Frankfurt a.M.. Bridgen, Paul/Meyer, Traute, 2005: Private Pensions and Social Inclusion. The United Kingdom. Draft version of the final report for the European research project “Private pensions and social inclusion in Europe. A Study of Germany, Italy, the Netherlands, Poland, Switzerland and the United Kingdom”, Southampton.
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III. Außenbeziehungen
Die Europäische Außenpolitik: Genese, Entwicklungsstand und Perspektiven Gisela Müller-Brandeck-Bocquet
1
Einleitung
Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) gehören inzwischen zum Besitzstand, zum acquis communautaire, der EU. Zwar weisen diese neuen Politikfelder europäischer Zusammenarbeit noch bei weitem nicht die Integrationsdichte auf, die im gesamten Komplex der ersten Säule, d.h. der Binnenmarktverwirklichung mit ihren tiefgehenden Harmonisierungsmaßnahmen inzwischen erreicht wurde; dafür stehen allein schon die spezifischen Entscheidungsregeln der so genannten 2. Säule des Unionsvertrags, die im Intergouvernementalismus verbleiben und den Mitgliedstaaten eine herausgehobene Rolle im Vergleich zu den Gemeinschaftsorganen Kommission und Parlament einräumen. Ohne jeden Zweifel jedoch weisen die sich mit „Lichtgeschwindigkeit“ (Javier Solana) einstellenden Fortschritte die GASP und ESVP als das Zukunftsprojekt der EU aus, das dem Integrationsprozess nach der Verwirklichung des Binnenmarktes, der Währungsunion und der Osterweiterung neue Horizonte für die „immer engere Union der Völker Europas“ (Art. 1 EUV) aufzeigt. Denn es geht nun darum, die EU zu einem auch in der Außen- und Sicherheitspolitik handlungsfähigen Akteur auszubauen, der die grundlegenden Werte und die gemeinsamen Interessen wirkungsvoll vertreten sowie die Sicherheit und Unversehrtheit der Union gewährleisten kann. Zudem versetzt nur eine glaubwürdige außen- und sicherheitspolitische Akteursqualität die EU in die Lage, gleichberechtigt an der Seite der USA einen substantiellen Beitrag zum Aufbau einer gerechten und nachhaltigen internationalen Friedensordnung sowie zur weltweiten Durchsetzung von Demokratie und Rechtstaatlichkeit zu leisten. Doch seit kurzem ist dieses junge, neue Zukunftsprojekt der europäischen Integration schwerwiegenden Belastungen ausgesetzt: So ist es über der Frage, wie mit dem Irak umzugehen sei, 2002/2003 zu gravierenden Spannungen, ja zur Spaltung Europas gekommen. Dabei ging es letztlich darum, wie es der einzelne Mitgliedstaat mit der Gefolgschaft bzw. dem Gehorsam gegenüber den USA hält. Obgleich diese Risse auch quer durch die „alten“ Mitgliedstaaten der EU 15 gingen, heizte die – damals unmittelbar bevorstehende – Osterweiterung die innereuropäische Irak-Krise an. Denn angesichts ihrer jüngeren Geschichte und den daraus resultierenden außenpolitischen Orientierungen setzen die neuen Mitgliedstaaten aus Mittel- und Osteuropa sehr stark auf engste Beziehungen zur einzig verbliebenen Weltmacht. Außerdem scheinen sich ihre außenpolitischen Prioritäten nach dem Motto: Nato is for life, the EU is for a better life zu richten. „Nach dem Untergang des Staatssozialismus“, so charakterisiert Stephan Martens die aktuelle Lage, „leben die neuen EUMitgliedstaaten in einer widersprüchlichen Symbiose der europäischen Reintegration und Renationalisierung. Im Grunde räumen sie Europa nur eine wirtschaftliche Mission ein.“ Es sei aber erforderlich, dass man sich „in den östlichen Hauptstädten [...] schon ein wenig Mühe mit der EU als einer politischen Gemeinschaft“ gibt (Martens 2004: 1).
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Aber auch das Scheitern des „Vertrags über eine Verfassung für Europa“ (Verfassungsvertrag-VVE) im Mai und Juni 2005 in Frankreich und den Niederlanden lastet als schwere Hypothek auf der Zukunft des Integrationsprojekts; denn seither befindet sich die EU in einer beispiellosen Krise. Daher stellt sich die Frage, ob im Kreis der 27 Mitgliedstaaten der weitere Ausbau der EU zu einem gewichtigen, selbständig handlungsfähigen Akteur der internationalen Politik überhaupt möglich ist, wenn auf die zahlreichen, viel versprechenden Innovationen, die der Verfassungsvertrag für GASP und ESVP bereithält, verzichtet werden muss. Schließlich berührt auch der fortlaufende, wenn auch zeitlich sehr offene Erweiterungsprozess die Zukunftsperspektiven dieser Politikfelder nachhaltig. Um den aktuellen institutionellen wie operativen Entwicklungsstand der europäischen Außenpolitik sowie ihre Perspektiven angemessen bewerten zu können, soll zunächst ihre Genese kurz rekapituliert werden. Denn diese Entstehungszusammenhänge ebenso wie die Rahmenbedingungen und Etappen des weiteren Ausbaus erhellen die Spezifika von GASP und ESVP, die wiederum die Entwicklungsperspektiven präjudizieren. Diese sind im Vertrag niedergelegt worden. Daher gilt es abschließend zu erörtern, ob und wie es gelingen könnte, die GASP- und ESVP-bezogenen Innovationen des Verfassungsvertrags trotz der aktuellen Krise in die Zukunft hinüberzuretten und wie den Erwartungen der Bürger Europas Rechnung getragen werden kann.
2
Die Genese der Gemeinsamen Europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GASP und ESVP)
2.1 Die machtpolitische Abstinenz der Gründungsjahre Zunächst ist festzuhalten, dass eine gemeinsame Europäische Außen- und Sicherheitspolitik sich lange Zeit nicht entfalten konnte. Während die Integration im wirtschaftlichen Bereich auf der Grundlage des EGKS-Vertrags von 1951 und vor allem der Römischen Verträge aus dem Jahr 1957 schnell voranschreiten konnte und die EWG – seit 1968 EG genannt – bald zu einer bedeutenden Wirtschaftsmacht im internationalen System heranwachsen ließ, scheiterten die frühen Versuche, auch die Außen, Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu europäisieren. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass die gemeinsame Wirtschaftsund Außenhandelspolitik der EWG/EG schon sehr früh eine beträchtliche Macht auf internationaler Ebene verschafft hat; denn über den Hebel des Zugangs zum äußerst lukrativen Binnenmarkt – sei es durch Assoziierungsabkommen mit oder ohne Beitrittsperspektive, sei es durch präferenzielle Handelsabkommen – kann die EWG/EG/EU seit jeher auf Dritte einwirken. Diese soft-power hat die Integrationsgemeinschaft schon immer sehr effizient einzusetzen vermocht, insbesondere im Verhältnis zu den Entwicklungsländern und beitrittswilligen Nachbarstaaten. Hard power hingegen ging der EWG/EG lange Zeit vollständig ab; aber auch auf jenes Maß an internationaler Macht und weltweitem Einfluss, das ihr durch eine Bündelung der außenpolitischen Kräfte hätte entstehen können, blieb ihr Jahrzehnte lang versagt, da die Mitgliedstaaten kompromisslos an ihren Souveränitätsrechten in der Außen- und Sicherheitspolitik festhielten. Bis zum Ende des Kalten Krieges verharrte die Integrationsgemeinschaft daher in der machtpolitischen Bedeutungslosigkeit, die gern mit der Formel: wirtschaftlicher Riese, (außen)politischer Zwerg umschrieben wird. So scheiterten die Versuche Frankreichs und Großbritanniens, den 1948 aus dem bilateralen Vertrag von Dünkirchen (1947) hervorgegangenen Brüsseler Pakt zu einem europä-
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ischen Sicherheits- und Verteidigungsbündnis auszubauen; dies war den Zwängen der bipolaren Weltordnung, den Hegemonieansprüchen der USA und nicht zuletzt den beiderseitigen Rivalitäten geschuldet (Dietl 2004: 27-36). Und auch die beiden späteren, nun bereits auf das integrierte EWG-Europa beschränkten Versuche, Europa außen- und machtpolitisch zu einen, misslangen: Angesprochen sind hier der Pleven-Plan aus dem Jahr 1952, der die westdeutsche Wiederbewaffnung in einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft EVG einbinden wollte, sowie die de Gaulle’schen Fouchet-Pläne aus den Jahren 1961/1962, die ebenfalls eine kontinentaleuropäische gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik zum Ziel hatten. Warum scheiterten all diese Vorstöße? Angesichts der von der Sowjetunion ausgehenden Bedrohung war Westeuropas Sicherheit nur unter der Schirmherrschaft der USA zu gewährleisten. So kam es zur vollständigen Unterstellung der Kapazitäten der 1954 aus dem Brüsseler Pakt entstandenen WEU unter die NATO; die dominante Stellung der USA innerhalb der Nato verstetigte die amerikanische Hegemonie über Westeuropa, die von den Westeuropäern angesichts der Sicherheitsrisiken jedoch als benevolent wahrgenommen und bereitwillig akzeptiert wurde. Allein Frankreich opponierte gegen diese Machtverteilung und versuchte, sich als außen- und sicherheitspolitisch unabhängige, eigenständige Kraft zu etablieren. Aus solch souveränitätsfixierten Gründen heraus lehnte die französische Nationalversammlung 1954 den EVG-Vertrag ab; und auch das Scheitern der Fouchet-Pläne war der Tatsache geschuldet, dass de Gaulle damit eine „unauflösliche europäische Union“ schaffen wollte, die – unter französischer Führung – die Vormachtstellung der USA in Westeuropa brechen sollte. Doch die anderen EWG-Partner lehnten dieses Ansinnen ab und hielten an der NATO und mithin an der amerikanischen Präsenz und Dominanz fest (Müller-Brandeck-Bocquet 2004a: 23-27).
2.2 Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) In der genuinen Außenpolitik allerdings, also der Außenpolitik minus Sicherheits- und Verteidigungspolitik, fand man sich im Kreise der 6 EWG-Gründungsstaaten bereits 1969 zu vermehrter Zusammenarbeit bereit. Großbritannien, das der EWG 1973 beitrat, war an diesen Beschlüssen bereits beteiligt. So entstand die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) als Vorläuferin der GASP, die die vollständige außenpolitische Abstinenz der EWG/EG beendete. Was hatte die europäischen Staats- und Regierungschefs bewogen, diesen neuen Schritt zu wagen? Zweierlei lässt sich anführen. Zum ersten war die weltweite Bedeutung der EG durch die schnellen Fortschritte in der Wirtschaftsintegration rasch angestiegen, zumal die USA damals auf einen wirtschaftlichen und machtpolitischen decline zusteuerten. So hießt es im Luxemburger Bericht vom Oktober 1970, dass Europa „sich auf die Ausübung der Verantwortlichkeiten vorbereiten [muss], die es wegen seiner verstärkten Zusammenarbeit und seiner immer bedeutenderen Rolle in der Welt zu übernehmen nicht nur verpflichtet, sondern auch genötigt ist“ (zitiert nach Algieri 2005: 205). Zum zweiten verlieh der bevorstehende Beitritt Großbritanniens der EG nun auch ein beträchtlich angewachsenes internationales Gewicht; neben den außenpolitischen Leichtgewichten Benelux, Italien und BRD konnten nun zwei ehemalige Weltmächte, Siegermächte des 2. Weltkrieges, Atomwaffenbesitzer und Ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats die Ansprüche Europas auf Mitgestaltung der internationalen Ordnung mit Nachdruck vertreten. Wegen der deutlich divergierenden Ausrichtung zwischen französischer und britischer Außen- und
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Weltpolitik – hier Streben nach Unabhängigkeit und Weltmachtrolle, dort Unterordnung unter die USA im Rahmen der special relationship – waren Meinungsverschiedenheiten über die Rollendefinition Europas jedoch bereits vorprogrammiert. Da angesichts der Persistenz des Ost-West-Konflikts die Sicherheits- und Verteidigungspolitik Westeuropas weiterhin im Nato-Rahmen betrieben wurde, bestand die EPZ de facto in der außenpolitischen, rein diplomatischen Koordination der in diesem Politikfeld souverän verbleibenden EG-Mitgliedstaaten, deren Effizienz bis heute in der Wissenschaft umstritten ist (Regelsberger/de Schoutheete de Tervarent/Wessels 1997). Eine Sternstunde der EPZ aber war sicherlich die KSZE-Konferenz, wo die EG-Staaten sehr einheitlich auftraten. Fest steht weiterhin, dass die EPZ einen Koordinationsreflex zwischen den EGMitgliedstaaten ausgelöst hat, den Reflex also, die Partner möglichst weitgehend über eigene außenpolitische Optionen und Vorhaben zu unterrichten und – vor allem – Alleingänge so weit wie möglich zu vermeiden (Marcusen et al. 1999). Die weltpolitischen Veränderungen zu Ende der 70er und Beginn der 80er Jahre, die eine erneute – finale – Zuspitzung des Ost-West-Konflikts brachten, beförderten zumindest bei manchen Mitgliedstaaten die Einsicht in die Notwendigkeit einer weiteren Stärkung Europas als weltpolitischer Akteur. So forderte die deutsch-italienische Initiative (sog. Genscher-Colombo-Plan) vom November 1981 weiterreichende außen- und sicherheitspolitische Abstimmungen. Doch wegen der ablehnenden Haltung Großbritanniens, Irlands, Dänemarks und Griechenlands sowie der Halbherzigkeit Frankreichs ließ sich in der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA), die zum 1.7.1987 in Kraft trat, lediglich die verbindliche vertragliche Festschreibung des bereits Praktizierten erreichen. Minimale Fortschritte sind in der Ausweitung der Konsultationen auf sicherheitspolitische Belange sowie der Einrichtung eines EPZ-Sekretariats, das die halbjährlich wechselnden Ratspräsidentschaften unterstützen sollte, zu erkennen (Müller-Brandeck-Bocquet 2004a: 77). „Die große Diskrepanz zwischen wirtschaftlicher und politischer Integration wurde zudem dadurch bestätigt, dass man EG und EPZ zwar rechtlich verklammerte, es aber bei dem Nebeneinander von supranationaler und intergouvernementaler Methode beließ“ (Keßler 2002: 127). 2.3 Von der EPZ zur GASP Die EPZ als embryonale europäische Außenpolitik wurde 1991 im Maastrichter Vertrag ausgebaut und intensiviert; vor allem wurde das Handlungsinstrumentarium ausdifferenziert und die Entscheidungsregeln neu definiert. Diese neuen GASP-Bestimmungen traten zum 1.11.1993 in Kraft. Historischer Hintergrund dieser weiteren Entwicklungsetappe der Europäischen Außenpolitik waren der Fall der Berliner Mauer, die Deutsche Einheit und der Wegfall des Ost-West-Konflikts. Vor allem Frankreich und Großbritannien wollten die Außenpolitik des neuen, größeren und nun außenpolitisch voll souveränen Deutschlands in die EG einbinden, um auch in Zukunft deutsche Sonderwege auszuschließen. Diese Einbindung entsprach zugleich vollkommen dem Ansinnen von Bundeskanzler Helmut Kohl, der die deutsche und europäische Einheit mehrfach als die zwei Seiten derselben Medaille bezeichnet hatte (Keßler 2002: 135). Außerdem war nach dem Ende des Ost-WestKonflikts ein US-amerikanisches disengagement in Europa zu befürchten; dem dadurch eventuell entstehenden Sicherheitsvakuum wollten die Westeuropäer durch die Stärkung der einschlägigen Handlungskompetenzen der Integrationsgemeinschaft begegnen. So entstand die GASP.
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Seit Maastricht stellt die GASP nun eine eigenständige, zweite Säule der Unionsverträge dar; d.h. sie verblieb im Wesentlichen intergouvernemental, wurde also nicht in den Gemeinschaftsbereich überführt. Die weiterhin über die außenpolitische Souveränität verfügenden Mitgliedstaaten verpflichteten sich jedoch zu vertiefter Koordination und außenpolitischer Kohärenz. Im Europäischen Rat, der die Leitlinien in der GASP vorgibt, müssen in der Regel alle Entscheidungen einstimmig, also im Konsens getroffen werden, im Rat der Außenminister als dem Organ, das die GASP konkret ausgestaltet und umsetzt, wurde – allerdings nur äußerst zaghaft – auch die Möglichkeit zu Mehrheitsentscheidungen eröffnet. Erstmals wird die Kommission an diesen Aufgaben „in vollem Umfang“ beteiligt (Art. J2 Abs. 3). Trotz dieser Fortschritte blieb auch die GASP in der Sicherheitspolitik zunächst abstinent. Zwar sollte das S im Namen mögliche künftige Entwicklungen andeuten. So heißt es im Vertrag von Maastricht: „Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik umfasst sämtliche Fragen, welche die Sicherheit der Europäischen Union betreffen, wozu auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte“ (Art. J4 Abs.1). De facto war 1991 aber hier kaum mehr als die enge Verknüpfung von EU und WEU zu erreichen, die zum „integralen Bestandteil“ der EU deklariert wurde (Art. J4 Abs. 2). Diese Zögerlichkeit hatte gewichtige Gründe: So verfolgte Frankreich nach wie vor die Vision einer von den USA und der NATO möglichst unanhängig agierenden europäischen Außenpolitik Dieser latent anti-amerikanische bzw. anti-hegemoniale Impetus, den Frankreich mit der GASP verknüpfte, stieß aber auf breiten Widerstand; selbst die Bundesrepublik als Frankreichs privilegierter Partner vermochte sich die zu schaffenden gemeinsamen Verteidigungskapazitäten ausschließlich als europäischen Pfeiler der Nato vorzustellen. Sie fand sich allerdings zu enger deutsch-französischer sicherheits- und verteidigungspolitischer Zusammenarbeit bereit; so war bereits 1988 die deutsch-französische Brigade entstanden, die 1992 bis 1995 zum Eurokorps ausgebaut wurde. Erwartungsgemäß war es vor allem Großbritannien, das jedwede Abkoppelung der europäischen Verteidigungsbemühungen von der Nato kategorisch ablehnte. Denn das Vereinigte Königreich sah sein relatives Gewicht, sah den Ertrag der special relationship mit den USA in der angelsächsisch dominierten Nato besonders gut gewahrt. Daher also wurde in Maastricht die EU in ihrer genuinen Außenpolitik – wenn auch nur in bescheidenem Ausmaß – gestärkt, die sicherheits- und verteidigungspolitische Dimension der GASP aber blieb zunächst ungenutzt. 2.4 Die Schaffung der ESVP An der sicherheits- und verteidigungspolitischen Abstinenz der EU änderte sich auch mit der nächsten Vertragsreform, die 1997 in Amsterdam vorgenommen wurde, nichts Substantielles. Die Schockwirkungen des europäischen Versagens während des kriegerischen jugoslawischen Zerfallsprozesses bewirkten aber, dass immerhin die Zielsetzungen einer künftigen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik definiert werden konnten. Die WEU, die seit Maastricht bereits ein „integraler Bestandteil der Entwicklung der Union“ war, sollte dieser nun den Zugang „zu einer operativen Kapazität“ eröffnen. Zugleich erfolgte eine Präzisierung der möglichen militärischen Aufgaben der EU, da die sog. „Petersberg-Aufgaben“ (humanitäre Aufgaben, Rettungseinsätze, friedenserhaltende
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Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen) zu GASP-Aufgaben erklärt wurden (Art. 17 Abs. 2). Hier lässt sich von einer „Aufwertung der sicherheitspolitischen Dimension“ der EU sprechen (Algieri 2005: 207). Hier ist zu betonen, dass diese Aufwertung weitgehend in die Hände des Europäischen Rats gegeben wurde, heißt es in Art. 17 EUV doch nun, dass zur GASP auch „die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik [...] gehört, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte, falls der Europäische Rat dies beschließt“. Zu solch einem Beschluss war der Europäische Rat jedoch erst nach einem höchst bemerkenswerten britischen Positionswechsel fähig. Hatte Großbritannien über lange Jahre hinweg das Ansinnen, die EU auch sicherheits- und verteidigungspolitisch zu einem eigenständigen Akteur auszubauen, blockiert, so nahm Tony Blair hier eine Kehrtwende vor. Auf dem französisch-britischen Gipfeltreffen vom Dezember 1998 in St. Malo gab er seine Bereitschaft bekannt, nun eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) mitzutragen (Howorth 2000: 23). Um ihre internationale Rolle angemessen auszuüben, so heißt es in dieser Erklärung, müsse die Union auch über „eine autonome Handlungsfähigkeit verfügen, die sich auf glaubwürdige militärische Kräfte stützt, mit der Möglichkeit, sie einzusetzen, und mit der Bereitschaft, dies zu tun, um auf internationale Krisen zu reagieren“ (Absatz 2 der Erklärung von St. Malo). Mit diesem Positionswechsel wollte Blair sicherstellen, dass Großbritannien, das sich der Gemeinschaftswährung Euro nicht anschloss, dennoch im europäischen Spiel bliebe. Blair wollte somit einer britischen Isolation vorbeugen. Seine Kehrtwende war also „in many ways [...] an attempt to demonstrate that Britain intended to be an engaging and leading actor in the European Union“ (Kirchner 2002: 44) . Nicht zuletzt unter dem Eindruck des Kosovo-Konflikts arbeitete die deutsche Ratspräsidentschaft erfolgreich darauf hin, diese bilaterale französisch-britische Vereinbarung auf die europäische Ebene zu übertragen. Mit der Erklärung des Europäischen Rats „über die Stärkung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“, die auf dem Kölner Gipfel vom Juni 1999 verabschiedet wurde, war die ESVP geboren (Fischer 2005: 172/173; Schmalz 2002: 568). Im Dezember 1999 konnte der Europäische Rat von Helsinki einen weiteren Durchbruch erzielen: Denn nun beschloss man, bis zum Jahr 2003 Krisenreaktionskräfte mit einem Umfang von 60.000 Soldaten aufzustellen und bis zum März 2000 interimär die für militärisches Krisenmanagement nötigen Gremien einzurichten. Die neuen Strukturen und Entscheidungsmechanismen der ESVP wurden vom Europäischen Rat in Nizza im Dezember 2000 völlig unkontrovers beschlossen und definitiv eingesetzt. Die europäischen Krisenreaktionskräfte sind für die Bewältigung der bereits erwähnten Petersberg-Aufgaben vorgesehen. Sie verstehen sich vorrangig als europäischer Pfeiler der Nato, auf deren Ressourcen sie zurückgreifen können, auch wenn die USA sich an einem Einsatz nicht beteiligen. Die genauen Modalitäten des Rückgriffs der EU auf NatoKapazitäten konnten nach jahrelangen Verhandlungen erst im März 2003 im sog. BerlinPlus-Abkommen abschließend geregelt werden (Reichard 2004).
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Aktueller Entwicklungsstand von GASP und ESVP
3.1 Vorzüge und Defizite der ESVP Wie bisher dargelegt, hat die EU in den letzten Jahren ihre außen- und sicherheitspolitischen Fähigkeiten beträchtlich auf- und ausgebaut. Obwohl eindeutig noch mannigfaltige Schwächen bestehen, kann der EU bestätigt werden, dass die Struktur ihrer neuen Handlungsmöglichkeiten unter den aktuellen Bedingungen der internationalen Ordnung durchaus vielversprechend sind. Als Positivum zu veranschlagen ist ihr modernes Souveränitätsverständnis, das der voranschreitenden Globalisierung angepasst ist, weiterhin ihre großen Erfahrungen im Umgang mit nichtstaatlichen Akteuren, mit einem Regieren jenseits des Nationalstaates sowie mit internationaler Politikgestaltung in Netzwerken (Roloff 2001: 1045ff.). Besonders hervorzuheben ist der duale Ansatz der ESVP, der die EU wie keine andere internationale Organisation – die Nato inbegriffen – zu effektiver und fruchtbarer Krisenbewältigung befähigt. Denn parallel zur Schaffung ihrer Krisenreaktionskräfte hat die EU, auf Drängen vor allem Deutschlands und Schwedens, dafür Sorge getragen, dass der zivilen Komponente von Krisenmanagement auch im ESVP-Rahmen eine herausragende Bedeutung eingeräumt wird. Im Mai 2000 wurde ein Ausschuss für ziviles Krisenmanagement geschaffen und Planziele verabschiedet, die von den Europäischen Räten in Nizza und in Göteborg weiter präzisiert wurden. So baute die EU auch zivile Krisenreaktionskräfte auf: 5000 Polizeikräfte stehen dafür zur Verfügung, wovon 1000 Mann binnen 30 Tagen einsatzbereit sein müssen (Algieri 2001: 172). Ex-Außenminister Fischer jedenfalls bezeichnete den „doppelten, militärischen und zivilen Ansatz der ESVP“ als „Markenzeichen“ für das europäische Krisenmanagement im 21. Jahrhundert“ (Kremer/Schmalz 2001: 167). Die EU hat inzwischen mehrere Militäreinsätze durchgeführt, so beispielsweise die Operation Concordia in Mazedonien, die (erste) völlig autonome Mission Artemis im Kongo, und Anfang 2005 hat sie unter der Bezeichnung EUFOR die Nato-Mission SFOR in Bosnien-Herzegowina übernommen (Lindstrom 2005: 131). Anfang 2003 startete die erstezivile EU-Mission in Bosnien und Herzegowina, als eine 500 Mann starke EUPolizeieinheit die Führung von der UN übernahm und seither für den Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen sorgt. Auch bei der ESVP-Mission Proxima in Mazedonien handelt es sich um eine Polizeimission (Lindstrom 2005: 131). Inzwischen sind insgesamt 13 zivile ESVPMissionen zu verzeichnen. Seit dem Beschluss von Helsinki hat sich das neue Politikfeld ESVP folglich in der Tat mit „Lichtgeschwindigkeit“ (Javier Solana) entwickelt. Damit sind die Zeiten, da man die Europäische Union (EU) süffisant oder gar mitleidig als „wirtschaftlichen Riesen und politischen Zwerg“ bezeichnen konnte, definitiv vorbei. Denn nun hat sich die EU mit Krisenpräventions- und Krisenmanagementkapazitäten ausgestattet, die ihr die Glaubwürdigkeit als internationaler Akteur verschaffen, die ihr in den Augen vieler zuvor noch fehlte. Allerdings sind die Akteursqualitäten der EU noch keineswegs auf der Höhe der Herausforderungen. So wurde im November 2001 ein Aktionsplan beschlossen, der die militärischen Defizite Europas schließen helfen soll – diese bestehen vor allem in den Bereichen Aufklärung, Kommunikationssystem, Luft- und Seetransport über größere Distanzen. Auch das 2004 festgehaltene headline goal 2010 verpflichtet sich der Beseitigung dieser Schwachstellen. Im Dezember 2001 konnte der Europäische Rat von Laeken erstmals die Einsatzbereitschaft der ESVP erklären. Allerdings ist diese Einsatzbereitschaft vorläufig
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nur bedingt und mit gewissen Einschränkungen gegeben. Trotz der „erheblichen Fortschritte, die seit den Tagungen des Europäischen Rats in Köln und Helsinki erzielt wurden“, so die Erklärung des Europäischen Rats von Laeken, ist die EU derzeit lediglich in der Lage „einige Operationen zur Krisenbewältigung durchzuführen“. Erst im Zuge der weiteren Entwicklung ihrer Mittel und Fähigkeiten wird sie, „nach und nach immer anspruchsvollere Operationen durchführen“ können. Schließlich betont der Europäische Rat, dass „noch erhebliche Fortschritte erzielt werden“ müssen, damit die EU Operationen „im gesamten Spektrum der Petersberg-Aufgaben, einschließlich Operationen, die größte Anforderungen im Hinblick auf Größenordnung, Verlegungsfrist und Komplexität stellen“, ausführen kann (Europäischer Rat Laeken vom 14./15.12.2001). Im Mai 2003 wurde diese Einschätzung vom Rat erneut bestätigt: Zwar verfüge die EU nun im gesamten Spektrum der PetersbergAufgaben über operative Fähigkeiten, bestehende Schwächen verhinderten bzw. erschwerten jedoch noch immer Einsätze bei Konflikten höherer Intensität (Algieri/Bauer 2005: 231). Zwar wurden mit dem Zusammenschluss nationaler Rüstungskonzerne zur European Aeronautic, Space and Defence Company (EADS) und vor allem mit der gemeinsamen Konstruktion und Anschaffung des Militärtransporters A-400M, der sich durch gewaltiges Transportvermögen und große Reichweiten auszeichnet, erste Schritte zur Verbesserung der militärischen Fähigkeiten unternommen. Die begrenzten Mittel, die die EU-Staaten ihrer Verteidigung zuweisen, werden aber auch weiterhin eine Schwachstelle der ESVP darstellen, daran wird selbst die im Frühsommer vorgenommene Flexibilisierung des Stabilitäts- und Wachstumspakts wohl kaum etwas ändern. Hier muss die EU darauf achten, dass nicht erneut ein capability-expectation-gap (Christopher Hill) entsteht, das die Glaubwürdigkeit der jungen ESVP unterminiert. 3.2 ESVP-Strukturen und Entscheidungsverfahren: aktueller Stand Die momentan gültigen ESVP-Strukturen und -Entscheidungsverfahren wurden im Rahmen der letzten Vertragsveränderung vom Europäischen Rat von Nizza beschlossen. ESVPEntscheidungen werden demgemäß durchgängig einstimmig getroffen, die Möglichkeit zu abgestufter Integration in Form von verstärkten Zusammenarbeiten ist ausgeschlossen. Bei Beschlussfassung und politischer Kontrolle kommt dem Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee (PSK) – vormals Politisches Komitee – eine herausgehobene Rolle zu, da es auf Ersuchen des Rats der Außenminister wesentlich zur Festlegung der ESVP beiträgt und im Krisenfall „unter der Verantwortung des Rats“ die strategische Leitung von Operationen zur Krisenbewältigung wahrnimmt (Art. 25 EUV). Damit sind die politischen Direktoren der einzelstaatlichen Außenministerien bzw. deren ständige Vertreter in Brüssel nach dem Allgemeinen Rat die wichtigste Schaltstelle der ESVP. Das PSK tritt regulär zwei Mal pro Woche zusammen, in Krisenzeiten jederzeit. Nach Vorbild der Nato umfassen die ESVPStrukturen weiterhin einen Militärausschuss, der aus den Generalstabschefs der EUMitgliedstaaten besteht, sowie einen Militärstab, der ursprünglich 130 Mitarbeiter zählen sollte. Der Militärstab, der dienstrechtlich dem Generalsekretär, fachlich dem Militärausschuss unterstellt ist, soll den nötigen „militärischen Sachverstand in die EU- Planungsund Entscheidungsprozesse einbringen“ und das neue Lagezentrum im Ratssekretariat (Situation Centre, SitCen) mit einschlägiger Expertise versorgen (Adam 2002: 138). Nach monatelangen – nicht zuletzt Irakbedingten – Auseinandersetzungen über die Schaffung
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eigenständiger, d.h. Nato-unabhängiger ESVP-Planungs- und Führungskapazitäten konnten die Staats- und Regierungschefs sich im Dezember 2003 auf einen Kompromiss einigen, der das vor allem von Großbritannien hartnäckig verteidigte Nato-First-Prinzip wahrt: Statt der Einrichtung eines veritablen ESVP-Hauptquartiers, so wie ursprünglich unter dem Stichwort Tervuren angedacht, sieht der Kompromiss nun zum einen die Einrichtung eines kleinen EU-Stabs bei Shape (Oberstes Hauptquartier der Alliierten Mächte in Europa) im belgischen Mons, zum anderen die Aufstockung des Brüsseler Militärstabs um 40-50 Offiziere vor. Diese neuzuschaffende Planungszelle (EU civilian and military planning cell, kurz: civ/mil.cell) im Militärstab wird im Bedarfsfall autonome EU-Missionen dann planen, wenn weder die Nato als ganze involviert ist, noch auf Nato-Ressourcen im Sinne des Berlin Plus-Abkommens zurückgegriffen wird, und wenn die nationalen Hauptquartiere nicht zur Verfügung stehen. „Institutionally, there are now three different ways for Europeans to act. The first as part of a NATO operation, the second under the ‘Berlin-plus’ agreement, and the third in an autonomous operation with either a lead-nation framework involving a national headquarter or the European headquarter. All these options are now agreed”. (Haine 2005: 141). Somit werden die autonomen europäischen Planungskapazitäten vorrangig bei Missionen zum Zuge kommen, die militärische und zivile Aufgaben verknüpfen. Genau dies aber wird, so ist aus Brüssel zu hören, in Zukunft immer häufiger der Fall sein (MüllerBrandeck-Bocquet 2004b: 171). 3.3 GASP-Strukturen und Entscheidungssystem: Stand Nizza Durch die ESVP-Beschlüsse von Helsinki und Nizza haben sich der Stellenwert und das Wesen der GASP, als deren Teilmenge die ESVP zu verstehen ist, wesentlich verändert. Daher mag es auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, dass der wichtige Beschluss, die EU auch zu einem handlungsfähigen sicherheitspolitischen Akteur auszubauen, sich in Nizza kaum in Vertragsänderungen die GASP betreffend niedergeschlagen hat. In der Tat wurden im Dezember 2000 lediglich der Artikel 17 verändert, da die Bezüge zur – nahezu aufgelösten – WEU gestrichen wurden, sowie der Artikel 25 neu formuliert, um die Befugnisse des PSK zu regeln. Der geringe Reformgehalt des Nizzaer Vertrags in Bezug auf die GASP erklärt sich zum einen aus der schlechten Gipfelatmosphäre, die unter anderem den damaligen deutschfranzösischen Verstimmungen geschuldet war und die Regel bestätigte, dass ohne fortschrittliche, gemeinsame deutsch-französische Vorschläge die Integration ins Stocken gerät. Das Fehlen eines solchen Vorstoßes bewirkte, dass in Nizza auch die anderen Mitgliedstaaten auf restriktiven Positionen verharrten. So beließ man die Entscheidungsstrukturen der GASP weitgehend in der einstimmigen Beschlussfassung, also der intergouvernementalen Methode. Nachdem bereits seit Amsterdam qualifizierte Mehrheitsentscheide nur bei der Beschlussfassung über sog. Gemeinsame Aktionen und Gemeinsame Standpunkte im Rahmen einer gemeinsamen Strategie sowie bei Durchführungsbeschlüssen derselben zulässig sind, wurden in Nizza lediglich die Ernennung des Hohen Vertreters für die GASP sowie von Sonderbeauftragten dieser Beschlussfassungsregel unterworfen (Regelsberger 2004: 48). Allerdings bietet das Instrument der konstruktiven Enthaltung eine gewisse Entlastung vom Einstimmigkeitsprinzip. Seit Amsterdam kann ein Staat sich bei einer GASPEntscheidung enthalten, „akzeptiert jedoch, dass der Beschluss für die Union bindend ist. Im Geiste gegenseitiger Solidarität“, so der Vertragstext weiter, „unterlässt der betreffende
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Mitgliedstaat alles, was dem auf diesem Beschluss beruhenden Vorgehen der Union zuwiderlaufen oder es behindern könnte“ (Art. 23 EUV). Auch der Rückgriff auf die verstärkte Zusammenarbeit, also die Möglichkeit, dass nicht alle, sondern lediglich die Mehrheit der Mitgliedstaaten in GASP-Materien handeln, wurde eng begrenzt. Nachdem die GASP in Amsterdam noch diesem neuen Flexibilisierungsinstrument – man kann es auch als Integrationsbeschleunigungsinstrument interpretieren – verschlossen geblieben war, hat man in Nizza hier eine zaghafte Öffnung zugelassen: So kann bei der Durchführung von gemeinsamen Standpunkten und gemeinsamen Aktionen nun auf dieses Instrument zurückgegriffen werden; an dieser halbherzigen Innovation bedauert die Bundesregierung, dass es sich hierbei "definitionsgemäß immer [um] befristete" Maßnahmen handelt (Adam 2002: 136). Wenn das GASP-Kapitel in Nizza keine substantielle Veränderung erfuhr, so erklärt sich dies zum anderen auch durch den weitreichenden Beschluss des Amsterdamer Vertrages, den Generalsekretär des Rats zum hohen Vertreter für die GASP zu ernennen. Zwar wurde diesem Amt lediglich eine dienende Funktion zugebilligt – so „unterstützt“ der Hohe Vertreter den Rat, „indem er [...] zur Formulierung, Vorbereitung und Durchführung politischer Entscheidungen beiträgt und [...] auf Ersuchen des Vorsitzes im Namen des Rats den politischen Dialog mit Dritten führt“ (Art. 26 EUV); doch seit seiner Ernennung 1999 gelang es Javier Solana, früherer Nato-Generalsekretär und ehemaliger spanischer Außenminister, dieses Amt wesentlich aufzuwerten. Indem er äußerst geschickt und umsichtig seine formal eher bescheidenen Kompetenzen zu nutzen verstand, gelang es ihm, der GASP Gesicht und Stimme zu verleihen und sie mithin weltweit deutlich besser sichtbar zu machen. Zu Solanas Erfolgen trägt auch die seit 1999 eingerichtete Policy Unit bei, die ihn bei der außenpolitischen Analyse und der Erarbeitung von Plänen und Strategien unterstützt. Innerhalb der PU kommt dem Lagezentrum eine besondere Bedeutung zu. Dieses gern als Großhirn der EU bezeichnete SitCen ist eng mit den Strukturen der ESVP verwoben, da auch der Militärstab hier militärischen Sachverstand einfließen lässt. Als Vorgesetzter des SitCen sorgt Solana folglich für die Verzahnung von GASP und ESVP und bestimmt den Policy-Mix der EU, d.h. die Wahl des Mitteleinsatzes, wesentlich mit (Müller-BrandeckBocquet 2002: 257 ff.). Wie die Irak-Krise jedoch gezeigt hat, sind dem Wirken Solanas auch Grenzen gesetzt; wenn zwischen den Mitgliedstaaten fundamentale Meinungsverschiedenheiten bestehen, dann sind dem Hohen Vertreter die Hände gebunden. Denn nach heutigem Primärrecht verbleibt das Initiativrecht in der GASP ausschließlich beim Europäischen Rat und Rat, der Hohe Vertreter kann nur auf Weisung hin tätig werden. So gelang es Solana ebenso wenig wie den europäischen Staats- und Regierungschefs und den Außenministern, die Spaltung Europas in dieser Frage zu verhindern. Nicht zuletzt diesem Scheitern wurde im Verfassungsvertrag Rechnung getragen. 3.4 Zielsetzungen der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik Mit dem Auf- und Ausbau von GASP und insbesondere ESVP hat die EU ihre internationale Akteursqualität erheblich verbessert. Sie kann nun alle Dimensionen des Außenhandelns bei der Gestaltung und Durchführung ihrer Außenbeziehungen zum Einsatz bringen, also außer der Außenhandels-, Außenwirtschafts- und Entwicklungspolitik auch auf die Instrumente der Außen- und Sicherheitspolitik zurückgreifen. Gleichwohl bleibt die EU hier ein
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Akteur der besonderen Art, sui generis, wie es zutreffend heißt, wenn ausgedrückt werden soll, dass die EU kein Staat ist und auch nicht werden wird. Sie verbleibt „unterhalb des Bundesstaates“ und ist „zugleich doch mehr als ein Staatenverbund – sui generis eben“, wie Ex-Außenminister Fischer formulierte (Fischer 2005: 168). Mit den ESVP-Beschlüssen und deren Implementierung ging eine fundamentale Neuausrichtung der EU einher; denn nun versteht sich die Union nicht länger als ausschließlich zivile Macht, wenngleich dieser Politikansatz ihr „auswärtiges Handeln auch weiterhin in besonderem Maße mitbestimmen“ wird (Algieri/Bauer 2005: 228). Seit die EU über operative zivile und militärische Eingreifkräfte verfügt, ist die Frage aber höchst dringlich geworden, welche Zielsetzungen sie in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik verfolgen soll. Hierzu gibt Art. 11 des Nizzaer Vertrags Auskunft, allerdings in recht allgemein gehaltener Weise. Als Ziele von GASP und ESVP werden die Wahrung der gemeinsamen Werte, die Stärkung der Sicherheit der Union, die Wahrung des Friedens und die Stärkung der internationalen Sicherheit sowie die Förderung der internationalen Zusammenarbeit und die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten genannt. Eine wesentliche Konkretisierung der Zielsetzungen von GASP und ESVP hat sich die EU im Dezember 2003 in der von Solana ausgearbeiteten Europäischen Sicherheitsstrategie „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“ (ESS) gegeben. Nach einer vertieften Analyse der neuen Bedrohungslage bekennt sich die EU in diesem knappen Dokument zum Primat der Krisenprävention, zur Übernahme internationaler Verantwortung, gegebenenfalls auch mit militärischen Mitteln, sowie zu einem effektiven Multilateralismus, der eine enge Verzahnung mit anderen internationalen Organisationen, vor allem den Vereinten Nationen anstrebt. Mit der Annahme der ESS haben die europäischen Staats- und Regierungschefs ein Bekenntnis zu einem umfassenden Sicherheitsbegriff abgegeben und die internationale Rolle der Union als die eines „Stabilitätsraums für die eigenen Mitglieder und die Nachbarregionen“ definiert. Da die EU jedoch auch zu Mächten wie Russland, China, Japan und Indien enge Partnerschaften unterhält bzw. aufbauen will, dehnt sich ihr „strategischer Radius [...] über die Nachbarschaftsregionen der EU hinaus global“ aus (Algieri 2005: 222). 4
GASP- und ESVP-Innovationen des Verfassungsvertrags
Der zügige Auf- und Ausbau der ESVP erfolgte zeitlich weitgehend parallel zu den Arbeiten des Europäischen Verfassungskonvents. Allen EU-Mitgliedern sowie Kandidatenstaaten war klar, dass die nun gegebenen operativen Fähigkeiten auch nach verbesserten institutionellen Regelungen und Entscheidungsverfahren verlangten. Eben diese sollten im „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ - VVE verankert werden. Ohne jeden Zweifel bietet der Verfassungsvertrag für die Politikfelder GASP und ESVP besonders zahlreiche, substantielle Innovationen an, die sich zugunsten der Handlungsfähigkeit und Effizienz europäischer Außen- und Sicherheitspolitik auswirken könnten, wenn – ja wenn das Dokument denn einmal europäische Wirklichkeit werden sollte. Die fortschrittlichen Neuerungen, die der Verfassungsvertrag für GASP und ESVP anbietet, sind bereits häufig analysiert und als „neue Angebotsvielfalt mit Chancen und Mängeln“ bezeichnet worden (Jopp/Regelsberger 2003: 550-563; vgl. auch Risse 2003: 564575; Algieri 2005: 205-227). „Insgesamt schaffen die Bestimmungen des VVE Grundlagen, die von der EU und ihren Mitgliedstaaten genutzt werden können, um ihre Aufgaben- und
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Fähigkeitsprofile den aktuellen Sicherheitsherausforderungen anzupassen. Darüber hinaus erleichtern diese Bestimmungen das gemeinsame Handeln in Krisenfällen“, lautet eine weitere Einschätzung (Peterson/Lang 2005: 2). Hervorzuheben sind insbesondere die geplante Position eines europäischen Außenministers und die verschiedenen Möglichkeiten, im kleineren Kreise, also in der Formation 27-x Mitgliedstaaten, gewisse außen- und sicherheitspolitische Projekte und Missionen, z.B. friedenssichernde Missionen im Namen der EU durchzuführen. Der europäische Außenminister, der die bisherigen Funktionen des Hohen Vertreters für die GASP, also Solanas, und des Außenkommissars, derzeit Frau Ferrero-Waldners, in sich vereinigt und daher einen Doppelhut trägt, soll laut Verfassungsvertrag über zahlreiche Möglichkeiten verfügen, die Außen- und Sicherheitspolitik der EU zu gestalten. Art. I-28 Abs. 2 VVE gesteht ihm ein Initiativrecht zu, wenn es heißt: „Der Außenminister der Union leitet die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Union. Er trägt durch seine Vorschläge zur Festlegung dieser Politik bei [...] Er handelt ebenso im Bereich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“. Auch Bestimmungen des Teils III des Verfassungsvertrags wiederholen dieses Ko-Initiativrecht des Außenministers: So heißt es in Art. III-299 Abs. 1 VVE: „Jeder Mitgliedstaat, der Außenminister der Union oder der Außenminister mit Unterstützung der Kommission kann den Rat mit einer Frage der GASP befassen und ihm Initiativen bzw. Vorschläge unterbreiten“. Hier sind auch die Dringlichkeitsfälle geregelt. Art. III-299 Abs. 2 VVE lautet: „In den Fällen, in denen eine rasche Entscheidung notwendig ist, beruft der Außenminister der Union von sich aus oder auf Antrag eines Mitgliedstaates innerhalb von 48 Stunden, bei absoluter Notwendigkeit in kürzerer Zeit, eine außerordentliche Tagung des Rats ein“. Schließlich hat der Außenminister den ständigen Vorsitz im Rat Auswärtige Angelegenheiten inne. All diese Kompetenzen sollten ein außenpolitisches Versagen der EU wie jüngst in der Irak-Krise verhindern; damals war der blamabelste Sündenfall der, dass die EU sich nicht auf eine gemeinsame Position einigen konnte. Der Europäische Außenminister wird solch eine Sprachlosigkeit, solch ein Schweigen der EU in herausgehoben wichtigen Fragen künftig wohl zu verhindern wissen. Übrigens kann auch der künftige Präsident des Europäischen Rats außerordentliche Tagungen einberufen, wenn „eine internationale Entwicklung es erfordert“ – so der Wortlaut des Verfassungsvertrags (Art. III-295 Abs.1 VVE). Insgesamt soll laut Verfassungsvertrag der Außenminister – und nicht der EUPräsident – der wahre Manager der GASP und ESVP sein. So trägt der Außenminister – wie der Rat auch – für die Einhaltung der GASP-Grundsätze Sorge (Art. III-294 Abs. 2 VVE). Und diese Grundsätze verpflichten die Mitgliedstaaten in wesentlich größerem Maße als bisher, ein gemeinsames Vorgehen festzulegen und sich auch daran zu halten (Art. I40 Abs 5 und III-294 Abs. 2 VVE); dies bedeutet einen wesentlichen Fortschritt, ist doch der mangelhafte Verpflichtungscharakter der GASP eine ihrer markantesten Schwachstellen. Weiterhin wird der Außenminister durch die Bestimmung gestärkt, dass sich ohne seinen Vorschlag die Quoren für den qualifizierten Mehrheitsentscheid erhöhen (Art. I-25 Abs. 2 VVE) und er auch über besondere Kompetenzen bei der Zulassung von verstärkten bzw. strukturierten Zusammenarbeiten in GASP (Art. III-419 Abs. 2 VVE) und ESVP verfügt (Artikel III-312 VVE). Dies ermöglicht es ihm, GASP- und auch ESVP-Avantgarden zu schmieden und damit ein dynamisches Element in diese Politikfelder hineinzutragen. Durch seine Position als Vizepräsident der Kommission fungiert er weiterhin quasi als Brücke zwischen Rats- und Kommissionsstrukturen (Art. I-28 Abs. 4 VVE); diese Doppel-
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hut-Konstruktion dürfte dafür sorgen, dass die Potenziale der Kommission besser in die Gestaltung der Europäischen Außenpolitik einfließen können und dem mehrdimensionalen Außenhandeln der Union mehr Kohärenz verleihen. Somit wird die sogenannte „Interpillarisation“, d.h. das pfeilerübergreifende Handeln, weiter vorangetrieben. Schließlich wird der Außenminister von einem auswärtigen Dienst unterstützt (Art. III-296 Abs. 3 VVE), was Effizienz, Sichtbarkeit und Kohärenz der Europäischen Außenpolitik in Drittstaaten spürbar erhöhen dürfte. Diesen beachtlichen Innovationen steht als gravierendster Mangel das Festhalten an der Einstimmigkeit als dominanter Entscheidungsregel im Rat gegenüber. Manche Vorstöße, wie der deutsch-französische vom 15.1.2003, der den qualifizierten Mehrheitsentscheid auch in der GASP vorsah, wurden vom Verfassungskonvent nicht zuletzt im Kontext der Irak-Krise wieder fallengelassen: schließlich hätte in dieser Krise keine Seite, weder Kriegsgegner noch Kriegsbefürworter, eine qualifizierte Mehrheit erreicht. Daher hält der Verfassungsvertrag weitestgehend an der Einstimmigkeit fest (Art. I-40 Abs. 6 VVE; zu den Ausnahmen vgl. Art. III-300 Abs. 2 VVE). Der VVE führt in Artikel I-40 Abs. 7 VVE jedoch eine sog. Passerelle-Klausel ein, die es dem Europäischen Rat gestattet, per einstimmigem Beschluss den qualifizierten Mehrheitsentscheid in beliebigen GASP-Themen zuzulassen. Dies mag in der tagtäglichen GASP-Praxis zur Anwendung kommen und dort sehr nützlich sein. Bei Fragen von herausgehobener Bedeutung wie beispielsweise der IrakKrise ist die Aktivierung dieser Passerelle-Klausel aber kaum denkbar. Diese – insgesamt eher bescheidenen – Möglichkeiten zum qualifizierten Mehrheitsentscheid sind für die ESVP explizit ausgeschlossen. Dort gilt durchgehend die Einstimmigkeit (Artikel I-41 Abs. 4 VVE). Als weitere Beispiele für Fortschritte, die der Verfassungsvertrag für GASP und ESVP bereithält, sind die Möglichkeiten zu flexibilisiertem Handeln zu nennen, ja, diese Flexibilisierung kann als Markenzeichen des Verfassungsvertrags gelten. Im Vergleich zum Nizzaer Vertrag weitet der Verfassungsvertrag den möglichen Rückgriff auf das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit in der GASP erheblich aus (Art. I-44 VVE). Es gilt der Grundsatz, dass auf die verstärkte Zusammenarbeit immer nur als ultima ratio zurückgegriffen werden darf, d.h. nur dann, wenn die entsprechenden Ziele ansonsten nicht in einem vertretbaren Zeitraum verwirklicht werden können (Art. I-44 Abs. 2 VVE). Im gültigen Primärrecht, im Vertrag von Nizza, sind verstärkte Zusammenarbeiten im Bereich der ESVP explizit ausgeschlossen. Doch da angesichts der jüngsten weltpolitischen Umbrüche und des Kampfes gegen den Terrorismus gerade die sicherheits- und verteidigungspolitische Handlungsfähigkeit der EU immer deutlicher ins Zentrum des Projektes eines starken Europas gerückt ist, hat hier ein markanter Umdenkungsprozess stattgefunden. So sieht der VVE für die ESVP zwei Flexibilisierungsmodalitäten vor: die sogenannte strukturierte Zusammenarbeit sowie die Gruppenbildung. Das Instrument der strukturierten Zusammenarbeit eröffnet nach Inkrafttreten der Verfassung den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, in einer Formation von 27-x Mitgliedstaaten ihre militärischen Fähigkeiten gemeinsam auszubauen, wobei das Adjektiv „strukturiert“ ausdrücken soll, dass diese Art der Zusammenarbeit nicht ad hoc, sondern dauerhaft gemeint ist und dass die Mitgliedstaaten sich dadurch beträchtlich binden. Dazu heißt es in Artikel I-41 Abs. 6 VVE: „Die Mitgliedstaaten, die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen untereinander weiter gehende Verpflichtungen eingegangen sind, begründen eine Ständige Strukturierte
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Zusammenarbeit im Rahmen der Union“. Artikel III-312 VVE regelt die konkrete Schaffung solch einer ständigen strukturierten Zusammenarbeit. Dabei beschließt der Rat nach Anhörung des Außenministers mit qualifizierter Mehrheit. Im Zentrum des komplexen Regelsatzes steht das „Protokoll über die ständige strukturierte Zusammenarbeit“, in welchem die einschlägigen Verpflichtungen festgehalten sind, die die partizipierenden Mitgliedstaaten zu erfüllen haben (vgl. das „Protokoll über die ständige strukturierte Zusammenarbeit gemäß Artikel I-41 Abs. 6 und Artikel III-312 der Verfassung, C 310/364). Strukturierte Zusammenarbeiten werden sich mutmaßlich in vielfältigen Rüstungskooperationen niederschlagen, die die neu zu schaffende Europäische Agentur für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten (Art. I-41 Abs. 3 VVE) involvieren werden. Hier kann auf die Vorarbeiten der im Dezember 2003 gegründeten europäischen Rüstungsagentur zurückgegriffen werden, die im Januar 2004 ihre Arbeiten aufnahm und deren Chef der Brite Nick Witney ist. Von der strukturierten Zusammenarbeit ist die sogenannte Gruppenbildung zu unterscheiden. Artikel I-41 Abs. 5 ermächtigt den Rat, „zur Wahrung der Werte der Union und im Dienste ihrer Interessen eine Gruppe von Mitgliedstaaten mit der Durchführung einer Mission im Rahmen der Union zu beauftragen“. Gemeint sind zivile oder militärische Einsätze, die als sog. Petersberg-Plus-Einsätze in Artikel III-309 Abs. 1 definiert werden: „Gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten. Mit all diesen Maßnahmen“, so der VVE weiter, „kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet“. Im Terrorismusbezug ist die Aktualisierung, die der Verfassungsvertrag an den Petersberg-Aufgaben vornimmt, zu erkennen. Eine solche Gruppe umfasst Mitgliedstaaten, die sich zur Durchführung entsprechender Missionen bereit erklärt haben, und die über die erforderlichen militärischen oder zivilen Fähigkeiten verfügen (Artikel III-310 Abs. 1 VVE). Der Verfassungsvertrag eröffnet willigen Mitgliedstaaten folglich die Möglichkeit, insbesondere in der ESVP „weiter und schneller voranzugehen als andere“. Mithin prägt Freiwilligkeit in hohem Maße die ESVP der Zukunft. Dies ist nicht nur den Belangen der neutralen EU-Mitgliedstaaten geschuldet, die sich auch in den konkreten Regelungen der neu eingeführten Beistandspflicht niederschlagen (Art. I-41 Abs. 7); vielmehr tragen diese Flexibilisierungsmöglichkeiten auch den sehr ungleich verteilten militärischen Fähigkeiten der 25 Mitgliedstaaten Rechnung (Salmon 2005: 372 f.). Abgestufte Integration ist aber auch deshalb eine conditio sine qua non erfolgreicher europäischer Sicherheitspolitik, weil nur sie das größte Handicap der ESVP überwinden kann: Dieses besteht in fortdauernden Divergenzen über den Grad der Autonomie, die Europas Außen- und Sicherheitspolitik den USA und der Nato gegenüber anstreben soll, wobei die Fronten quer durch die Mitgliedstaaten, ob alt oder neu, ob klein oder groß, ob nördlich oder südlich, östlich oder westlich gelegen, verlaufen (Müller-Brandeck-Bocquet 2006).
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Perspektiven für GASP und ESVP – mit und ohne VVE
Als der Verfassungsvertrag im Dezember 2003 im Europäischen Rat scheiterte, waren dafür nicht die Bestimmungen zu GASP und ESVP ausschlaggebend; vielmehr wollten einige Mitgliedstaaten, vor allem Spanien und Polen, die demokratietheoretisch anspruchsvollen Regeln zur doppelten Mehrheit nicht akzeptieren. Denn der Vorschlag des Verfassungskonvents, dass eine qualifizierte Mehrheit dann zustande kommt, wenn 50 % der Staaten, die 60 % der EU-Bevölkerung repräsentieren, zustimmen, hätte ihr relatives Gewicht im Vergleich zur Stimmneuwägung des Nizzaer Vertrags erheblich geschmälert. Erst nachdem diese Quoren auf 55 bzw. 65 % erhöht worden waren, konnte der Europäische Rat den dieserart verwässerten Verfassungsvertrag im Juni 2004 unterzeichnen – offiziell geschah dies erst am 29.10.2004. Die Bestimmungen zu GASP und ESVP hingegen wurden nahezu unverändert übernommen. Doch inzwischen ist der Verfassungsvertrag im Mai und Juni 2005 an den negativen Referendumsvoten in Frankreich und den Niederlanden gescheitert; daraufhin wurde der Ratifizierungsprozess unterbrochen und noch ausstehende Referenden, wie z.B. das in Großbritannien oder Polen, sine die vertagt. Der Europäische Rat verordnete der Union im Juni 2005 eine „Zeit der Reflexion“, die für eine „ausführliche Diskussion“ genutzt werden sollte. Nachdem im ersten Halbjahr 2006, unter österreichischer Ratspräsidentschaft, keine neuen Impulse für den Ratifizierungsprozeß gesetzt werden konnten, wurde die Reflexionsphase im Juni 2006 um ein weiteres Jahr verlängert. Außerdem beschloß man Nachverhandlungen zum VVE, die unter deutscher Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 begonnen und unter französischem Vorsitz im zweiten Halbjahr 2008 abgeschlossen werden sollen (Le Monde, 16.6.2006). Unklar ist das angedachte bzw. angestrebte Ausmaß der Veränderungen, die an Wortlaut und Gehalt des VVE vorzunehmen sind. Es stellt sich folglich mit aller Dringlichkeit und Dramatik die Frage, wie es mit der Integration, wie es mit dem Verfassungsprojekt weitergehen kann. Können Teile des VVE auf quasi außerkonstitutionelle Weise, d.h. ohne Nachverhandlungen und auch ohne abgeschlossenen Ratifizierungsprozess in Kraft gesetzt werden? Welche Teile des Verfassungsvertrags könnten den Nachverhandlungen zum Opfer fallen, welche auch diese Hürde überwinden? Während von offiziell-politischer Seite all diese Fragen vollständig offen gelassen werden, hat die Wissenschaft bereits erste Vorschläge für einen „Vertrag zur Reform des Vertrags von Nizza“ vorgelegt (Vgl. CAP, Bertelsmann-Stiftung, Mai 2006) Insgesamt betrachtet kann, zumindest was die ESVP anbelangt, weitgehend Entwarnung gegeben werden. Da die ESVP seit jeher an die intergouvernementale Methode gebunden ist, kann sie auch ohne das Inkrafttreten des Verfassungsvertrags fortentwickelt werden. D.h. die Mitgliedstaaten können einstimmig darüber befinden, ob und in welchem Ausmaß sie die ESVP-Integration vorantreiben wollen – mit oder ohne VVE. In der Tat greift dieses Dokument oft nur Entwicklungen auf, die in der Praxis bereits angestoßen wurden, so z.B. in Art. I-41 Abs. 3, der die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, „ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“ festhält und somit das headline goal 2010 übernimmt. Dazu gehört die Schaffung der sogenannten battle groups wie im November 2004 beschlossen. Auch die Verbesserung der Planungs-, Führungs- und Koordinationsfähigkeiten in Gestalt der Schaffung der zivil-militärischen Planungszelle (ci./mil. cell) im EU-Militärstab wurde quasi im Vorgriff auf den Verfassungsvertrag realisiert. Schließlich wurden auch die Zielsetzungen, die der Verfassungsvertrag für GASP und ESVP formuliert (Art. I-3, Art. III-292 VVE), bereits in der ESS vom Dezember 2003 niedergelegt. Die
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Befähigung des Europäischen Rats, Bestimmungen des Verfassungsvertrags vorwegzunehmen und durch einstimmiges Votum vorzeitig, also vor einer Ratifizierung des VVE in Kraft zu setzen, wird durch seinen Beschluss vom März 2004 belegt, als man angesichts der Terroranschläge von Madrid die Solidaritätsklausel des Art. I-43 VVE „mit sofortiger Wirkung“ umsetzte (Gemeinsame Erklärung des Europäischen Rats vom 25.3.2004). Demgegenüber scheint die außerkonstitutionelle Inkraftsetzung der wichtigen GASPInnovationen des Verfassungsvertrag schwieriger, obgleich auch hier die prinzipielle Möglichkeit besteht, „den Kernbestand der Verfassungsneuerungen in Gestalt eines Änderungsvertrags zum Vertrag von Nizza oder im Zuge einer ‚kleinen Vertragsänderung’, die jeder Beitrittsvertrag mit sich bringt, in den vertraglichen Rahmen zu übernehmen“ (Peterson/Lang 2005: 3). Es ist jedoch kaum vorstellbar, dass so substantielle Innovationen wie das Amt des EU-Präsidenten und des Außenministers auf diesem Wege in Kraft gesetzt werden könnten. Bevor ein so weitreichender Fahrplan zur Zukunft der EU, wie der Verfassungsvertrag ihn darstellt, Wirklichkeit werden kann, muss vielmehr erst die tiefe Vertrauenskrise, die sich derzeit zwischen der Union und ihren Bürgern auftut, überwunden werden. Denn der Verfassungsvertrag, von dem viele behaupten, dass er „die zurzeit und auf lange Sicht bestmöglichen Lösungen“ bereithält (Jopp/Kuhle 2005: 261), bedeutet einen qualitativen Sprung sowohl zu mehr Demokratie, Transparenz, Effizienz und Handlungsfähigkeit als auch zu einer gefestigten gemeinsamen europäischen Identität. Ist die EU-25 dazu bereit? Die EU-Bürger senden derzeit höchst widersprüchliche Signale nach Brüssel. So spiegeln neuere Eurobarometerumfragen sinkendes Vertrauen in die EU wider – derzeit haben nur 50 % der Befragten Vertrauen zur EU und nur 48 % sind mit der Funktionsweise der EU zufrieden (Schwarzer 2005: 3). Andererseits richten dieselben Bürger hohe Erwartungen insbesondere an die Europäische Außen- und Sicherheitspolitik. 77 % der Bürger der EU25 befürworten eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, wobei die Bürger der neuen Mitgliedstaaten mit 85 % Zustimmung noch höhere Erwartungen artikulieren als die Bürger der EU-15 mit 75 %. Eine gemeinsame europäische Außenpolitik befürworten 67 % der Befragten; auch hier ist die Zustimmung in den neuen Mitgliedstaaten mit 75 % höher als in der EU-15 mit 66 % – besonders Briten, Schweden und Dänen sind hier vergleichsweise zögerlich (Eurobarometer, Juli 2005). Laut den Transatlantic Trends 2005 wünschen 70 % der Europäer, dass die EU zu einer den Vereinigten Staaten von Amerika vergleichbaren „Supermacht“ wird (Transatlantic Trends 2005: 4). Laut Eurobarometer-Umfrage befürworteten im Sommer 2005, also nach den beiden verunglückten Referenden, 61 % der Bürger der EU-25 den Gedanken einer europäischen Verfassung; dies – so warnt Eurobarometer – darf aber nicht als gefestigte Zustimmung zum konkret vorliegenden VVE interpretiert werden. Gleichwohl: Die Europäer wünschen den Fortgang der Integration, besonders im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Um diese Erwartungen mit dem Verfassungsprojekt zu verknüpfen, um die zahlreichen, höchst konkreten Fortschritte und Gewinne, die der Verfassungsvertrag im Vergleich zum gültigen Primärrecht des Nizzaer Vertrags bringt, besser verständlich zu machen, bedarf es eines breit angelegten öffentlichen Dialogs – dies hatte der Europäische Rat im Juni 2005 ja versprochen, bislang jedoch ist noch nichts geschehen. Durch die Verlängerung der Reflexionsphase ergibt sich hier erneut die Chance, dass die europäische Politikelite ihren Bürgern die Vorteile der Integration, insbesondere auch die einer vermehrten internationalen Handlungsfähigkeit verständlich zu machen sucht. Weil die aktuel-
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le Akzeptanzkrise der EU laut Eurobarometer aber in einem hohen Ausmaß dem als all zu schnell empfundenen Erweiterungsprozess geschuldet ist, sollte dabei – wie vom Europäischen Rat im Juni 2006 angeregt – die Frage nach der Aufnahmefähigkeit der EU im Vordergrund stehen. Denn eine EU, die ihre eigenen Aufnahmekapazitäten überschreitet, wird kaum zur Festigung der derzeit fragilen europäischen Identität beitragen können, die wiederum Voraussetzung für das weitere Erstarken der Europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist. Literatur Adam, Rudolf G, 2002: Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union nach dem Europäischen Rat von Nizza, in: Müller-Brandeck-Bocquet (Hrsg.): Europäische Außenpolitik. GASP- und ESVP-Konzeptionen ausgewählter Mitgliedstaaten, Baden-Baden, S. 134-148. Algieri, Franco, 2001: Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik: erweiterter Handlungsspielraum für die GASP, in: Weidenfeld, Werner (Hrsg.): Nizza in der Analyse, Gütersloh, S. 161-201. Algieri, Franco, 2005: Von der Macht der Zeitumstände und der Fortführung eines integrationspolitischen Projekts: Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik im Verfassungsvertrag, in: Weidenfeld, Werner(Hrsg.): Die Europäische Verfassung in der Analyse, Gütersloh, S. 205-227. Algieri, Franco/ Bauer, Thomas, 2005: Eine Frage der Macht: Die EU auf dem Weg zum sicherheitsund verteidigungspolitischen Akteur mit globaler Reichweite, in: Weidenfeld, Werner(Hrsg.): Die Europäische Verfassung in der Analyse, Gütersloh, S. 228-249. CAP, 2006: Ein Vertrag zur Reform des Vertrags von Nizza, Gütersloh, Mai. Dietl, Ralph, 2004: Kontinuität und Wandel – zur Geschichte der europäischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Sicherheits- und Verteidigungspolitik 1948-2003, in: Meier-Walser, Reinhard (Hrsg.): Gemeinsam sicher? Vision und Realität europäischer Sicherheitspolitik, Neuried, S. 1986. Eurobarometer 63, 2005, Brüssel. Haine, Jean-Yves, 2005: ESVP und Nato, in: Gnesotto, Nicole (Hg.), Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU. Die ersten fünf Jahre (1999-2004), Institut für Sicherheitsstudien der Europäischen Union, S. 155-170. Howorth, Jolyon, 2000: European integration and defence. The ultimate challenge? Chaillot Paper 43, ISS, Paris. Jopp, Mathias/Regelsberger, Elfriede, 2003: GASP und ESVP im Verfassungsvertrag- eine neue Angebotsvielfalt mit Chancen und Mängel, in: Integration 26 (4), S. 550-563. Jopp, Mathias/ Kuhle, Gesa-S., 2005: Wege aus der Verfassungskrise – die EU nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden, in: Integration 28 (3), S. 257-261. Keßler, Ulrike, 2002: Deutsche Europapolitik unter Helmut Kohl: Europäische Integration als "kategorischer Imperativ"? in: Müller-Brandeck-Bocquet, Gisela et al.: Deutsche Europapolitik von Konrad Adenauer bis Gerhard Schröder, Opladen, S.115-166. Kirchner, Emil, 2002: British perspectives on EFSP and ESDP, in: Müller-Brandeck-Bocquet, Gisela (Hrsg.): Europäische Außenpolitik. GASP- und ESVP-Konzeptionen ausgewählter Mitgliedstaaten, Baden-Baden, S. 41-56. Kremer, Martin und Schmalz, Uwe, 2001: Nach Nizza - Perspektiven der Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in: Integration 24 (2), S. 167-178. Lindstrom, Gustav, 2005: Im Einsatzgebiet: ESVP-Operationen, in: Gnesotto, Nicole (Hrsg.): Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU. Die ersten fünf Jahre (1999-2004), Institut für Sicherheitsstudien der Europäischen Union, Paris, S. 131-153.
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Dokumente http://www.bundesregierung.de/servlet/init.cms.layout, Schröder vom 2.7.2004
Regierungserklärung
von
Bundeskanzler
Die Europäisch-Russischen Beziehungen – eine Europäische Perspektive Margareta Mommsen
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Einführende Betrachtungen
Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und dem postsowjetischen Russland sind keine Erfolgsgeschichte. Sie zeugen eher von einer Abfolge gegenseitiger Fehlwahrnehmungen und enttäuschter Erwartungen als von konkreten Verständigungen und einer tatsächlichen Annäherung. Seit der Osterweiterung der EU haben sich die Vorbehalte auf beiden Seiten noch verstärkt. Während sich in Brüssel schon im Vorfeld der Erweiterung eine „Russland-Müdigkeit“ breitmachte, wuchsen in Moskau die Zweifel über den Nutzen engerer Beziehungen zu den immer mehr als „normatives Imperium“ wahrgenommenen europäischen Einrichtungen, ob Europäische Union oder Europarat. Zweifellos schlägt in dem „Mismatch“ des Verhältnisses der Umstand zu Buche, dass beide Akteure noch ihre Identität und ihren Platz in der Welt suchen (Skak: Oktober 2005). Weder hat die EU ihre endgültige äußere und innere Gestalt erlangt, noch hat das postsowjetische Russland seine Systemtransformation beendet. Es kann daher wenig überraschen, dass das Verhältnis der beiden Akteure ähnlich verschwommen ist wie das je eigene Profil. Die Interaktionen zwischen der EU und Russland bringen diese Prozesse der Selbstfindung und internationalen Standortbestimmung deutlich an den Tag. In dem vorliegenden Beitrag sollen die Besonderheiten im Wechselverhältnis von EU und Russland herausgearbeitet werden. Dabei steht die europäische Perspektive im Vordergrund. Von Interesse ist vor allem, von welchen Prioritäten die Politik der europäischen Institutionen gegenüber Moskau geleitet ist. Kommen stärker Werte oder handfeste ökonomische Interessen ins Spiel? Sorgt sich die EU – anders ausgedrückt – mehr um Demokratie und Rechtsstaat in Russland als um die eigene Versorgung mit Erdöl und Erdgas? Von besonderem Interesse ist auch, ob die EU eine einheitliche Haltung gegenüber Russland einnimmt oder bilaterale Kontakte einzelner westeuropäischer Staaten – etwa Deutschlands und Frankreichs – mit der gemeinsamen multilateralen Linie der EU in Widerspruch treten und letztlich Fortschritte im Prozess der Annäherung der beiden Akteure beeinträchtigen. Schließlich stellt sich seit der EU-Osterweiterung die Frage nach der etwaigen besonderen Rolle der neuen Mitglieder bei der Konzipierung der Agenda der EU gegenüber Russland. Es fragt sich, ob die früheren baltischen Unionsrepubliken und die vormaligen Satellitenländer der UdSSR in Ostmitteleuropa ihre Mitgliedschaft in der EU dazu nutzen, um dem mächtigen Sukzessorstaat Russland heute selbstbewusst entgegenzutreten. Die Antworten auf die aufgeworfenen Fragen werden im Rahmen eines entwicklungsgeschichtlichen Überblicks dargelegt, der von den ersten Reaktionen der Europäischen Gemeinschaft auf Gorbatschows neue Westpolitik bis zur gegenwärtigen Position Brüssels gegenüber Putin führt. Bei aller vorrangigen Gewichtung der europäischen Perspektive, die zusätzlich das Eingehen auf das Verhältnis zwischen dem Europarat und Russland erforderlich macht, kommt der Beitrag nicht umhin, auch auf die besonderen russischen Vorstel-
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Margareta Mommsen
lungen und Interessenlagen gegenüber der EU einzugehen, in denen sich die unstete „Europäisierung“ im eigenen Land und das Auf und Ab der Moskauer Außenpolitik widerspiegelt. 2
Die europäischen Institutionen und das Werben Gorbatschows wie Jelzins um Integration
Der Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Osteuropa und das damit erreichte Ende des Ost-West-Konflikts schufen ein freundliches Klima für die Fühler, die erst Michail Gorbatschow und dann Boris Jelzin zu den europäischen Einrichtungen ausstreckten. Ein erster Meilenstein bei der gegenseitigen Annäherung war der Abschluss des Handelsund Kooperationsabkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der UdSSR vom Dezember 1989. Es war die konkrete Antwort auf Gorbatschows Vorstellung vom „Gemeinsamen Europäischen Haus“ (Timmermann 1994: 9). Nach dem Zerfall der Sowjetunion und vor allem angesichts der einsetzenden Demokratisierung im postsowjetischen Russland stieg die Bereitschaft zur Integration auf beiden Seiten weiter an. Hochgespannte Partnerschaftsvisionen waren an der Tagesordnung. Jelzin wollte „Russland nach Europa zurückbringen“ und überhaupt in die „zivilisierte Staatenwelt“ integrieren. Diese Perspektive schloss eine Wertegemeinschaft der beiden Seiten ein (Malcolm 1994: 163). Es dauerte allerdings geraume Zeit, bis das von Moskau so sehr ersehnte Abkommen für Partnerschaft und Zusammenarbeit, das den Vertrag von 1989 ablösen sollte, unterschriftsreif war. Im Juni 1994 war es so weit, aber erst Ende 1997 trat das Abkommen in Kraft. Zum Ausgleich drängte das enttäuschte Russland auf eine Mitgliedschaft im Europarat. Dieser Wunsch ging jedoch erst im Februar 1996 in Erfüllung. In beiden Fällen war die Verzögerung vorwiegend durch Pannen und durch Verletzung der Vertragskonditionen seitens Russlands selbst verursacht. Dabei spielten die von russischen Truppen begangenen massiven Menschenrechtsverletzungen im ersten Kaukasuskrieg eine entscheidende Rolle. Dies führte dazu, dass die EU den Prozess der Ratifizierung des Abkommens zeitweilig einfror und die Parlamentarische Versammlung des Europarats den Beitrittsantrag Russlands nicht behandelte. Letztlich siegte aber in beiden Gremien – vor allem dank der deutschen Fürsprache – die Vorstellung, dass es besser sei, Russland zu integrieren als zu isolieren (Mommsen 2004a: 487f.). Trotz aller Schwierigkeiten war das wechselseitige Verhältnis in der Ära Jelzin auch russischerseits von der grundsätzlich gegebenen Akzeptanz der „universellen menschlichen Werte“ und von dem Ziel einer möglichst engen politischen, institutionellen und ökonomischen Integration getragen. Von Moskau wurde wiederholt der Wunsch nach einer vollen Mitgliedschaft Russlands in der EU ausgesprochen. Dies war auch als Kompensation für die NATO-Osterweiterung gedacht, gegen die sich die Moskauer Führung vergeblich aufgelehnt hatte (Mommsen 2004b: 172f.). Aufs Ganze gesehen zeigte sich auf der russischen Seite seit Mitte der neunziger Jahre allerdings die Tendenz, das fortgesetzte Streben nach europäischer Integration als einen Handel um Konzessionen und Kompensationen nach altem sowjetischem Muster zu betreiben. Die EU ließ sich auf dieses Spiel ein. So fühlte sie sich nach den Moskauer Protesten gegen die NATO-Invasion in Jugoslawien ihrerseits im Obligo, Russland – wie der deutsche Außenminister Fischer sagte –, „wieder ins Boot zu holen“. Dies führte dazu, dass Russland im Juni 1999 eine „Gemeinsame Strategie der EU“ offeriert wurde. Die neuen Kooperationsziele waren darin aber so allgemein formuliert,
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dass sie wenig Wirkung entfalteten (Mommsen 2004b: 192f.). Auffällig war die seitens der EU erneuerte Erwartung an Moskau, gemeinsame demokratische Werte zu verfolgen. Dem entsprach allerdings die von Moskau vorgelegte Antwort in keiner Weise. Vielmehr fanden in der Ende Oktober 1999 präsentierten „Mittelfristigen Strategie für die Entwicklungen der Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und der Europäischen Union im Zeitraum von 2000 bis 2010“ die von der EU postulierten „demokratischen Werte“ keinerlei Erwähnung. Tatsächlich standen ganz unterschiedliche Konzepte der Integration einander gegenüber. Russlands Strategie war „von den Vorstellungen der EU durch Welten getrennt“. (Adomeit 2005: 12) Das russische Dokument kehrte den Großmachtstatus des Landes hervor, mehr noch, seinen Status als eine Weltmacht, die sich auf zwei Kontinente erstreckt. Weiter betonte es Russlands Stellung als größtes GUS-Land, das seine „Unabhängigkeit“ und seine „Aktivitäten in internationalen Organisationen“ selbst bestimmen wollte. Russland müsse seine „nationalen Interessen“, hieß es dort, in Europa und der Welt zur Geltung bringen. Von einer möglichen Übertragung von Souveränität an eine supranationale Institution war nicht die Rede. Überhaupt atmete die russische Denkschrift ganz den Geist der Primakowschen Doktrin von einer multipolaren Welt und zeugte von dem starken Wunsch Russlands nach der Bildung eines eigenen Pols, um den sich andere Staaten herum gruppieren sollten (Mommsen 2004b: 203f.). Das auf Selbstüberhöhung und sogar Selbstisolierung ausgerichtete Denken, das darin zum Ausdruck kam, kennzeichnete schon die Anfänge der Putinschen Außenpolitik. 3
Die europäischen Institutionen und die Kremlführung unter Putin bis 2004 – viel Pathos, begrenzte Kooperation
Die Beziehungen zwischen Brüssel und Moskau vollzogen sich vornehmlich in Gestalt regelmäßiger Treffen der EU-Troika mit der Kremlführung. Diese zeichneten sich vor allem durch glanzvolle Kulissen und ein großes Repertoire an gegenseitigen Lobpreisungen aus. Russland inszenierte dabei seinen Großmachtanspruch. Die EU bzw. das dank der Rotation jeweils den Ratsvorsitz führende Land sah sich im Zugzwang, seinerseits die eurasische Atommacht zu hofieren. Aus dem allgemeinen Showbusiness scherte lediglich das kleine Dänemark aus, das allen Protesten aus Moskau zum Trotz die Abhaltung eines Tschetschenienkongresses in Kopenhagen erlaubt hatte. Da sich daraufhin die Kremlführung weigerte, nach Kopenhagen zu kommen, musste um des diplomatischen Friedens willen der planmäßige EU-Russlandgipfel im Spätherbst 2002 auf Brüssel ausweichen (Kommersant, 12.11.2002). Auf den späteren Treffen setzten sich die eingeübten Festlichkeitsrituale und die vordergründige Inszenierung wechselseitiger Aufgeschlossenheit und Verständigung fort. Es unterblieben jedoch substantielle Fortschritte der Kooperation. Auf beiden Seiten standen Handelsinteressen im Vordergrund. Schon beim ersten Treffen der EU-Troika mit Putin im Mai 2000 hatte Kommissionspräsident Prodi das gegenseitige Handelspotential auf das prosaische Bild gebracht, dass die EU und Russland so glänzend zu einander passten „wie Whiskey und Soda“ (Iswestija, 30.5.2000). Tatsächlich zeigten beide Seiten ein starkes Interesse, über russische Erdgas-, Erdöl und Stromlieferungen zu einem wechselseitig lukrativen Geschäft zu kommen. Bei dem Treffen im Oktober 2000 wurde der „Energiedialog“ zwischen der EU und Russland geboren. Im Mai 2001 nahm man die schon seit 1997 disku-
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tierte Schaffung eines Europäischen Wirtschaftsraumes im Sinne einer Freihandelszone wieder auf. Wiederkehrenden Anlass zur Sorge bereitete der EU der Krieg gegen Russlands aufmüpfige Provinz Tschetschenien, der im Sommer 1999 ein weiteres Mal entbrannte. Da die EU ihre eigene Glaubwürdigkeit als Wahrer und Förderer von Demokratie und Menschenrechten nicht ganz aufs Spiel setzen durfte, protestierte Brüssel wiederholt – wenn auch eher zurückhaltend – gegen die Kaukasuspolitik des Kremls. Im Dezember 1999 übten die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten in einer gemeinsamen Erklärung sogar scharfe Kritik am Vorgehen des russischen Militärs. Der Rat der EU beschloss, die Anwendung der Gemeinsamen Strategie zu überprüfen und 90 Millionen Euro der für Russland vorgesehenen TACIS-Mittel einzufrieren. Kredite für Nahrungsmittel in Höhe von 30 Millionen Euro und 60 Millionen Euro an Zollvergünstigungen wurden blockiert (Archiv der Gegenwart 11.12.1999: 439549). Letztlich ging es eher um symbolische Gesten der Drohung als um reale Sanktionen. Die Parlamentarische Versammlung des Straßburger Europarates verhielt sich weniger zurückhaltend als die EU und entzog der russischen Delegation im April 2000 vorübergehend das Stimmrecht. Das Ministerkomitee des Europarates folgte jedoch der Brüsseler Beschwichtigungsstrategie und ignorierte die wiederholten Aufforderungen der Parlamentarischen Versammlung, ein Ausschlussverfahren gegen Russland einzuleiten. Aber auch die Versammlung besann sich Anfang 2001 wieder auf die Linie, Russland eher zu integrieren als zu isolieren. Der russischen Delegation wurden wieder alle Rechte eingeräumt (Mommsen 2004a 493). Im wesentlichen blieb es bei der Rollenteilung, dass die EU russische Vertragsverletzungen eher tolerierte als der Europarat, der stärker seiner angestammten Aufgabe als Wahrer und Mahner von Rechtsstaat und Demokratie gerecht wurde. 4
Ungleicher Umgang mit Moskau – Putins „Freunde“ in Westeuropa durchkreuzen die kritische Linie der EU
Während die EU bei aller Zurückhaltung in ihren multilateralen Kontakten mit der russischen Führung aufs ganze gesehen ihrer Rolle als Anwältin der „europäischen“ Werte gerecht zu werden suchte, tendierten im Gegensatz dazu die bilateralen Kontakte der stärksten EU-Mitglieder mit Moskau in eine andere Richtung. Eine herausragende Rolle nahmen dabei Deutschland und Frankreich ein, die sich geradezu zu Schutzmächten des Putinschen Russland aufwarfen und dabei nolens volens der Russlandpolitik der EU in den Rücken fielen. Die Umarmungsstrategie dieser beiden Länder erwuchs vorwiegend aus ihrer gemeinsamen Ablehnung der bewaffneten Intervention der USA im Irak. Wegen der intensiven Konsultationen und Treffen zwischen den Spitzenakteuren Deutschlands, Frankreichs und Russlands machten Publizisten bereits die Bildung einer neuen „Achse“ aus. Die deutsche Regierung hatte es schon zuvor nicht an wohlwollender Aufmerksamkeit gegenüber der Kremlführung fehlen lassen. Nach Putins momentanem Westkurs im Gefolge der Terroranschläge vom 11. September sah sich Bundeskanzler Schröder sogar veranlasst, das Tschetschenienproblem etwas „differenzierter“ zu betrachten (Mommsen 2004b: 219). Wiederholte Kontakte auf familiärer Ebene und die regelmäßigen Konsultationen zwischen Deutschland und Russland auf Regierungsebene boten reichlich Gelegenheit zur Vertiefung dieser Art von special relationship. Dabei äußerte der Kanzler mal Verständnis für Putins Anschuldigungen gegenüber dem Ölmagnaten Chodorkowskij, mal lobte er den
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russischen Präsidenten als „lupenreinen Demokraten“ und mal fungierte er als Klagemauer für massive Beschwerden der Kremlführung gegen die Brüsseler Eurobürokraten. Dies ereignete sich zum Beispiel im Oktober 2003 anlässlich der deutsch-russischen Regierungskonsultationen in Jekaterinburg. Putin wehrte sich bei der Gelegenheit nachdrücklich gegen den Druck der EU, die heimischen Energiepreise als Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der WTO deutlich anzuheben. Wörtlich klagte Putin: „Die Haltung der Eurobürokraten gegenüber Russland ist ungerecht und unehrlich. Sie ist ein Versuch, unsere Arme zu fesseln, aber Russlands Arme werden stärker, und der EU wird es nicht gelingen, sie zu fesseln“ (Novaja Gazeta, 13.-15.10.03). Diese Aussage verdeutlicht die kritische Einstellung der Kremlführung gegenüber Brüssel ebenso wie das starre Festhalten an der Vorstellung von Russland als einer aus eigener Kraft aufsteigenden Großmacht. In die gleiche Richtung gingen die wiederholten Vorwürfe Moskaus an die Adresse der EU wie der USA, der Westen habe gar kein Interesse an einer Gesundung und damit an einer weltpolitischen Stärkung Russlands. Der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi gab sich neben Gerhard Schröder und Jacques Chirac ebenfalls als starker Befürworter des russischen Präsidenten zu erkennen. Im Februar 2003 plädierte er für die Schaffung eines ständigen konsultativen Organs für Russland und die EU. Diese Avance erfolgte vor dem Hintergrund der Spannungen im Vorfeld des Irakkrieges. Berlusconi legte sichtlich einen Köder aus, um Moskau in das Lager der „Kriegswilligen“ zu locken. Auch wenn dies nicht gelang, hielt Berlusconi weiterhin seine schützende Hand über Putin. Dies war besonders auffällig, als Putin auf dem EU-Russland Gipfel, der während des italienischen Ratsvorsitzes im November 2003 in Rom stattfand, von italienischen Journalisten mit kritischen Fragen überhäuft wurde. Berlusconi stand dabei nicht an, Putin generös von den Vorwürfen einer Unterdrückung der Pressefreiheit und von politischen Implikationen der Yukos-Affäre freizusprechen (Kommersant Vlast’, 30.5.2005). Während Berlusconi die Unabhängigkeit der russischen Justiz lobte, forderte der ebenfalls anwesende EU-Kommissar Chris Patten Russland hingegen auf, „sich rechtsstaatlichen Regeln zu unterwerfen“. Kurz darauf distanzierte sich auch Kommissionspräsident Romano Prodi in aller Form von Berlusconis vorgeblich nur „persönlich“ geäußerter Meinung (Reuters, 6.11.2003). Wenige Tage später verabschiedete das Europäische Parlament eine Resolution, die Berlusconi wegen seines Eintretens für Putin rügte. Das italienische Intermezzo machte besonders deutlich, wie gegenläufig die Interessen der EU und einzelner ihrer Mitgliedstaaten gegenüber Russland ins Spiel gebracht wurden. Der Schlagabtausch kam vor allem dem Moskauer Spieler zugute. Während Berlusconi seine Russlandpolitik dazu nutzte, die Eigenständigkeit Italiens in der internationalen Politik und darüber hinaus die Affinität mit den USA augenfällig zu machen, verfolgten der deutsche Kanzler und der französische Präsident bei der Solidarisierung mit Moskau vorwiegend die bereits erwähnte Bildung einer gemeinsamen Abwehrfront gegenüber den Kriegsplänen der USA im Irak. Bei beiden Akteuren schlugen aber auch spezifisch nationale außenpolitische Interessen zu Buche. So ging es dem deutschen Kanzler vorwiegend darum, in Russland einen sicheren Energielieferanten und einen Fürsprecher bei dem Streben Deutschlands nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu gewinnen. Für Frankreich ging es darum, das Konzept der mulitpolaren Welt tatkräftig umzusetzen und sich zugleich als Großmeister einer klassischen Gleichgewichtspolitik in den internationalen Beziehungen hervorzutun. Tatsächlich sollte
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es Chirac nach dem Regierungswechsel in Spanien gelingen, auch dieses Land in die Phalanx des „Alten Europa“ und der Freunde Moskaus einzubinden. Im Vorfeld der Osterweiterung der EU sparten „Putins Freunde“ in Westeuropa nicht damit, Russland behutsam auf die neue Konstellation vorzubereiten. Zu diesem Zweck organisierte Chirac im März 2004 ein Treffen der Außen- und Verteidigungsminister der beiden Länder und des Französisch-Russischen Sicherheits- und Kooperationsrates in Paris. Es wurde eine umfassende bilaterale Kooperation im Verteidigungs- wie im Wirtschaftsbereich beschlossen. Chirac trieb seine Anwaltsrolle gegenüber Russland so weit, dass er bei der Gelegenheit das im Zusammenhang mit der Osterweiterung vorgeblich „unkorrekte Verhalten der EU“ gegenüber Russland rügte. Er machte dies unter andem an dem mangelnden Verständnis der EU für die Lage der russischsprachigen Minderheiten im Baltikum fest (Russkij Kurjer, 5.3.2004). In einem weiteren Treffen von Putin, Chirac und Schröder im April 2004 wurde einmal mehr demonstriert, dass Russland unmittelbar vor der Osterweiterung der EU auf seine Freunde in Westeuropa zählen könne (Vremja Novostej, 5.4.2004). Chirac und Schröder standen nicht an, die vorgeblich „strategische Partnerschaft Russlands mit der EU“ schönzureden und sich für deren weiteren Ausbau stark zu machen. 5
EU-Osterweiterung und Rivalitäten um das neue „Zwischeneuropa“
Die geschilderten Solidaritätsbekundungen zwischen Paris, Berlin und Moskau dienten vorwiegend dem Ziel, einen psychologischen Ausgleich zu etwaigen Nachteilen der EUOsterweiterung für Russland zu schaffen. Tatsächlich hatten sich im Vorfeld der Erweiterung die Beziehungen zwischen Brüssel und Moskau krisenhaft zugespitzt. Es kam zu einem gegenseitigen Offenbarungseid. Die russische Seite forderte plötzlich im Stil sowjetischer Denkschablonen Kompensationen für die EU-Osterweiterung. Sie listete 14 Bedenken im Zusammenhang mit der Osterweiterung auf. Dazu zählte die Forderung nach Erhöhung der Importquoten für Stahl und Getreide, Zugeständnisse zur Entwicklung des Gebietes Kaliningrad und mehr Rechte für die russischsprachigen Minderheiten in Estland und Lettland. Außerdem sollten die zehn neuen Mitgliedsländer „vollwertige Visa-Regeln“ für russische Bürger bereitstellen (Financial Times, 2.2.2004). In Brüssel lösten die 14 Bedenken einen Weckruf aus. Die EU-Kommission sah ein, dass endlich mit den feierlichen allgemeinen Erklärungen Schluss sein müsse. Vielmehr sollten konkrete gemeinsame Arbeitspläne erarbeitet werden. Politische Leisetreterei sei definitiv nicht mehr angebracht, wenn Russland weiterhin gegen die vertraglichen Grundlagen der Partnerschaft verstoße, hieß es. Es wurde Moskau klar gemacht, dass die Ausweitung des Partnerschaftsabkommens mit Russland auf die neuen EU-Staaten nur „eine Formalie“ sei, die „keinerlei Gegenleistungen“ dulde (Neue Zürcher Zeitung, 6.2. u. 11.2.2004; Süddeutsche Zeitung, 10.2.2004). Die Erschütterungen im Vorfeld der Osterweiterung blieben nicht ohne Wirkungen auf das Außenverhältnis der EU wie auf das Binnenverhältnis ihrer Mitglieder. Kommission, Parlament und Rat verordneten neue Verhaltensregeln an die eigene Adresse. Fortan sollte die EU mit Moskau in einer gemeinsamen Sprache verhandeln, übereinstimmende Positionen vertreten und eine feste Haltung an den Tag legen (Adomeit/Lindner 2005: 9). Da allerdings weiterhin parallel zueinander multi- und bilaterale Beziehungen den Dialog zwi-
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schen den westeuropäischen Metropolen und Moskau bestimmten, war die Wirkungskraft dieses Aufrufs zur Einigkeit von vorne herein eingeschränkt. Gerade noch rechtzeitig zum Beitritt der zehn Länder am 1. Mai 2004 kam es zu einer Verständigung zwischen Brüssel und Moskau über die russischen Forderungen. Auf einer Sitzung des Ständigen Rates von EU und Russland wurde die Ausdehnung des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens auf die zehn neuen Mitglieder festgelegt. Beide Seiten bezeichneten den Kompromiss als ausgewogen (RFE/RL Newsletter vol. 8, Nr. 78, Part 1, 27.4.2004). Bei dieser Einschätzung kam freilich wieder der über die Jahre hin verinnerlichte Habitus zum Tragen, die tatsächlich mageren Ergebnisse schönzureden. Die realen Fortschritte bei der Abarbeitung aller aufgelaufenen gegenseitigen Forderungen waren indessen prekär. Hannes Adomeit hat sie im April 2005 einer kritischen Bilanz unterzogen. Am stärksten fiel dabei auf der Negativseite ins Gewicht, dass das Ziel der Demokratisierung und die Errichtung einer freien und fairen Marktwirtschaft als die ursprünglich von beiden Seiten verfolgte Vision abhanden gekommen und im Gegenteil in Russland „eine gelenkte Demokratie mit autoritären Zügen“ entstanden war, wie Adomeit schreibt. Unter dem Aspekt der Menschenrechte nahm sich die verschleppte Befriedung Tschetscheniens als besonders gravierend aus. Eine gemeinsame Sicherheitspolitik von EU und Russland war ebenfalls kaum gediehen, hatte Moskau doch in dieser Frage einer Kooperation mit der NATO den Vorrang gegeben (Adomeit, 2005: 12ff.). Ungeachtet der seitens der EU bekundeten generellen „Russlandmüdigkeit“ und des von beiden Seiten zu verantwortenden Verlusts an Dynamik in den Beziehungen zeichneten sich auch nach der EU-Osterweiterung durchaus reale Möglichkeiten dafür ab, in einer Reihe konkreter Fragen einvernehmliche Lösungen zu erreichen. Dies traf auf die noch strittigen Transitfragen im Verkehr von und nach Kaliningrad zu. Bei den Visaregelungen fehlte lediglich ein Rückführungsabkommen für illegale Einwanderer in die EU. Ein weiteres Desiderat seitens der EU war die Abschaffung der Transitgebühren für Flüge europäischer Fluggesellschaften über Sibirien. Nachdem das russische Parlament im Oktober 2004 das Kyoto-Protokoll ratifiziert hatte, stand der im Gegenzug geplanten Unterstützung der EU zu dem angestrebten WTO-Beitritt Russlands nichts mehr im Wege (Archiv der Gegenwart, 22.10.2004, S.47127f.). Weiterer Einigungsbedarf erstreckte sich auf die Angleichung der internen russischen Energiepreise an Weltmarktpreise und auf die Ratifizierung der Internationalen Energiecharta durch Russland. Schließlich sollten als Voraussetzung für eine neue Verständigungsrunde Grenzverträge zwischen Russland und den neuen EUMigliedern Lettland und Estland erzielt werden. Ihr Abschluss wurde für den EU-Russland Gipfel am 10. Mai 2005 auf die Agenda gesetzt. Da die EU und Russland der Unterzeichnung eines neuen Dokuments zur „Strategischen Partnerschaft“ im Kontext der russischen Siegesfeiern zum 60. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges zumindest eine Chance geben wollten, kam man im November 2004 überein, den Weg zu den schon seit längerem angestrebten vier „Gemeinsamen Räumen“ für die Bereiche Wirtschaft, Sicherheit, Justiz und innere Angelegenheiten sowie Bildung, Wissenschaft und Kultur mithilfe von Road Maps zu erleichtern. Die Einführung des modischen Begriffs der Road Map zeugte freilich eher davon, dass beide Seiten das bisherige Spiel mit Rhetorik und Floskeln fortsetzen und somit die virtuelle Partnerschaft zwischen Russland und der EU weiter bedienen wollten. Unterdessen brauten sich neue Probleme und selbst Rivalitäten unter den beiden Hauptakteuren zusammen. Sie kamen vor allem im jeweiligen Verhältnis zu den „neuen
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Nachbarn“ der EU wie überhaupt zu dem seit der EU-Osterweiterung entstandenen sogenannten „Zwischeneuropa“ der Länder Belarus, Moldowa und Ukraine ins Spiel. Dass das Verhältnis der EU zu Russland gerade in dieser geopolitischen Konstellation vor große Herausforderungen gestellt wurde, zeigte sich in der ganz unterschiedlichen Haltung Moskaus und Brüssels zu den Präsidentenwahlen in der Ukraine im Spätherbst 2004. Während der russische Präsident ungeachtet der offenkundigen Wahlmanipulationen dem Moskauer Schützling Viktor Janukowitsch vorzeitig zum vermeintlichen Sieg in der Stichwahl gratulierte, fanden Viktor Juschtschenko und dessen Anhängerschar in der EU einen tatkräftigen Anwalt für die Wiederholung des Wahlganges. Hinzu kam, dass sich insbesondere die neuen EU-Mitglieder Polen und Litauen als Verteidiger der demokratischen Volksbewegung Juschtschenkos hervortaten und ihr gegenüber dem zürnenden Moskau den Rücken stärkten (Archiv der Gegenwart, 22.11.2004: 47167ff.). Es zeigte sich, dass Polen und Balten stärker als die Vertreter des „Alten Europa“ an einer kohärenten und entschiedenen Russlandpolitik der EU interessiert waren. Vor allem brillierte der damalige polnische Präsident Alexander Kwasniewski als tüchtiger Makler und geschickter Gegenspieler Moskaus. Sein Auftreten zeugte von der seit dem Zerfall der UdSSR konsequent verfolgten Haltung Polens als Anwalt einer Westintegration der Ukraine. Besonders bemerkenswert an dem internationalen Krisenmanagement in der Ukraine war schließlich, dass es der EU diesmal tatsächlich gelang, gegenüber Moskau mit einer Stimme zu sprechen und die Forderungen der demokratischen „Revolution in Orange“ zu unterstützen. Da fügte es sich letztlich gut, dass der deutsche Bundeskanzler dank seiner engen Beziehungen zum russischen Präsidenten in Telefongesprächen darauf hinwirken konnte, dass sich Moskau mit der Wiederholung der umstrittenen Stichwahl zwischen Janukowitsch und Juschtschenko abfand. Allerdings wurden die russischen Bedenken gegen die aus der Sicht des Kremls illegitime Intervention westlicher Mächte auf dem Territorium der GUS nur vordergründig und vorläufig zerstreut. Tatsächlich hatte gerade während Putins Präsidentschaft die Vorstellung von legitimen russischen „Einflusssphären“ in den Nachbarstaaten kräftigen Auftrieb erhalten. Charakteristisch dafür war Putins Botschaft an das Parlament im April 2005, in der er den Zerfall der UdSSR als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ beklagte (Rossijskaja Gazeta, 26.4.2005). Damit bediente er nicht nur den Phantomschmerz der Russen über den Verlust des Sowjetimperiums, sondern rechtfertigte zugleich die fortgesetzten Führungsansprüche Moskaus auch gegenüber dem neuen „Zwischeneuropa“. Die westlichen GUS-Staaten hatten aus der Sicht Moskaus für die EU eine Tabuzone zu sein (Adomeit/Lindner 2005: 11). Angesichts der in der förmlichen neuen „Nachbarschaftspolitik“ Brüssels angelegten engeren Anbindung dieser Region an die EU waren indessen weitere Spannungen mit Moskau vorprogrammiert (Piehl/Schulze/Timmermann 2005: 31ff.). Die einen Tag nach den großen Siegesfeiern zum 60. Jahrestag des Zweiten Weltkrieges in Moskau für den 10. Mai 2005 anberaumte Unterzeichnung der Road Maps erfolgte termingemäß. Allerdings entstand wieder nur ein Papiertiger, wie der deutsche Russlandexperte Heinz Timmermann enttäuscht anmerkte (Russlandanalysen 66/2005). Außerdem waren die seitens der EU als Voraussetzung für die neue Verständigungsrunde in Rechnung gestellten Grenzverträge zwischen Russland und den beiden EU Mitgliedsstaaten Lettland und Estland nicht zustandegekommen. Die EU war daran interessiert, dass über die neuen Außengrenzen der EU im Baltikum Klarheit herrschte. Aus starker Verärgerung über die im Vorfeld der Siegesfeiern geltend gemachten Vorbehalte der Balten gegenüber dem von
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Moskau nicht wiederholten Eingeständnis, dass diese Länder durch die UdSSR okkupiert worden seien, war die Kremlführung zuletzt zu keinerlei Kompromissen in Sachen Grenzvertrag bereit. Auf einer Pressekonferenz am 10. Mai 2005 meinte Putin verärgert, er hoffe, dass die Balten keine „idiotischen“ territorialen Forderungen stellen würden; im übrigen würden sie bestenfalls „tote Eselsohren“ erhalten. Bei all den Ausfällen erstaunte es, dass die europäische Seite Moskau weiterhin bei guter Stimmung zu halten suchte. So sprach der Luxemburger Jean-Claude Juncker in seiner Eigenschaft als Ratsvorsitzender sogar davon, dass die EU und Russland zwar „noch nicht in den Flitterwochen“ angelangt seien, zwischen beiden mittlerweile aber „wahre Liebe“ herrsche (International Herald Tribune, 11.5.2005; Window on Eurasia, 1.7.2005). Derart gekünstelte Liebesbeteuerungen bemäntelten nur die Tatsache, dass sich in Wirklichkeit die Beziehungen zwischen Brüssel und Moskau weiter abkühlten. Lilia Schewzowa von der Carnegie Stiftung in Moskau beobachtete kurz nach dem Moskauer Gipfel ein wachsendes wechselseitiges Misstrauen der beiden Akteure (The Economist, UK 7.-13.5.2005), während ihr Kollege Timofej Bordatschow zum Jahresende 2005 zu dem Schluss kam, dass Moskau und Brüssel nicht verstünden, was sie eigentlich von einander wollten. Man sei sich gegenseitig überdrüssig geworden, meinte er (Vremja Novostej, 9.12.2005). Tatsächlich war zumindestens das gegenseitige Desinteresse auf dem EU-RusslandGipfel im Oktober 2005 unübersehbar geworden. Denn hier beschränkte man sich darauf, die im Mai niedergelegten Formelkompromisse fürs erste in konkrete Aktionspläne umzusetzen, deren Präzisierung und Ausarbeitung den „Experten“ übertragen wurde (Adomeit/Lindner 2005: 5 ff). Sie sollten zunächst „die Frage des Beginns der gemeinsamen Verwirklichung der Wegekarten“ beraten. Diese umständliche bloße Anbahnung der weiteren Zusammenarbeit machte mehr als deutlich, dass auf beiden Seiten die Antriebskräfte dafür fehlten, dem gegenseitigen Verhältnis weiteres Leben einzuhauchen, geschweige denn es auszubauen. Immerhin schien man sich in der Kunst des Aufschiebens ernsthafter Unterhandlungen gut zu verstehen. Die gegenseitige Entfremdung zwischen Russland und den europäischen Institutionen wurde am stärksten in den prekären Beziehungen zwischen Moskau und dem Straßburger Europarat sichtbar. Dieser ließ nicht davon ab, an den notorischen Verstößen Russlands gegen die Verpflichtungen eines Europaratsmitglieds Kritik zu üben. So nahm er wiederholt die fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien oder die nicht erfolgte Abschaffung der Todesstrafe ins Visier. Als am 22. Juni 2005 der traditionelle „Russland-Tag“ in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates über die Bühne ging, lag ein 144 Seiten starker Bericht über den prekären Umgang Russlands mit den vom Europarat auferlegten Verpflichtungen vor. Das Dokument enthielt über 400 kritische Einlassungen. Die anwesenden russischen Spitzenpolitiker aus Duma und Föderationsrat waren in der Defensive. Sie erbaten sich mehr Entgegenkommen und Verständnis. Außerdem machten sie geltend, dass man Russland doch nicht gerade am 22. Juni, dem Tag der deutschen Invasion im Jahre 1941, mit Kritik überhäufen solle. Die Parlamentarische Versammlung blieb jedoch ungerührt und verabschiedete die lange Liste von Mahnungen und Geboten, darunter den Appell zum Abzug der russischen Truppen aus der transnistrischen Moldowa (Baev 2005). Auch wenn es sich bei der Philippika des Europarats um die Stimme des schwächsten Gliedes der europäischen Organisationen handelte, löste sie in Moskau gereizte Reaktionen aus. So erklärte der „Polittechnologe“ und Vorsitzende der Stiftung der kremlnahen Partei
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„Einiges Russland“, Wjatscheslaw Nikonow, dass Russland es nicht nötig habe, immer mit der Kritik des Europarates konfrontiert zu werden (Radio Echo Moskwy, 23.6.2005) Letztlich sei die Mitgliedschaft in dieser Organisation überflüssig. Nikonows Äußerungen waren nur eine der Stimmen im wachsenden Chor derer, die nicht einsehen wollten, warum sich das große Russland überhaupt irgendwelcher Kritik aus dem „normativen europäischen Imperium“ aussetzen solle. Die geschilderten Reaktionen machen ebenso wie das erheblich gesunkene Interesse der politischen Führung Moskaus für mutlilaterale Übereinkünfte mit der Brüsseler EU deutlich, dass das Europäische Projekt, so wie es von Gorbatschow und Jelzin angelegt worden war, in der politischen Klasse Russlands immer weniger Befürworter zählte. Umso mehr zeigte sich Moskau am Ausbau bilateraler Beziehungen mit den großen westeuropäischen Staaten interessiert. Bezeichnenderweise meinte Konstantin Kosatschow, Vorsitzender des Duma-Ausschusses für internationale Angelegenheiten, im November 2005, dass es für Russland nicht gleichgültig sei, welche EU Mitgliedsstaaten sich stärker für ein Rapprochement mit Russland einsetzten und ob die „italienisch-deutsche“ oder die „polnisch-baltische“ Linie in Brüssel die Oberhand gewinne (Iswestija, 16.11.2005). Die in den Anfängen des Jahres 2006 unternommenen Staatsbesuche Putins warfen ein neues Licht auf die tatsächlich bevorzugten Routen in Russlands Europapolitik. Eine konkrete Road Map wies den Weg nach Spanien, eine andere nach Ungarn und Tschechien. Während die Reisen in die beiden ostmitteleuropäischen Länder als eine Art huldvolle „Offensive des Charmes“ (The Economist, 4.-11.2.2006) auf dem Glacis der vormaligen Satellitenländer der UdSSR konzipiert waren und einen auffälligen Bogen um Polen machten, war die Reise nach Madrid als ein Treffen zweier mächtiger internationaler Akteure mit vorgeblich großen Affinitäten und ähnlichen Interessenlagen programmiert. Allerdings verstand man es in Spanien, dank einer Rollenteilung zwischen dem königlichen Staatsoberhaupt und dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten, an Russland gleich mehrere ganz unterschiedliche Botschaften zu richten. Während José Luis Rodriguez Zapatero Russlands Vermittlerrolle im Nahen Osten und im Konflikt um die iranische Nuklearpolitik lobte, durfte Juan Carlos beim Galadiner den mahnenden Part übernehmen. So sprach der König die große Verantwortung Russlands an, die ihm wegen seines Energiereichtums für die Stabilität des ganzen Kontinents zukomme. Der diplomatischen Anspielung auf die im Zuge des Gaskriegs zwischen Moskau und Kiew aufgetretenen Energieversorgungsprobleme Europas schloss sich ein mahnender Fingerzeig auf die Schwächung der russischen Demokratie an. Diese Mahnung wurde geschickt nicht an Putin, sondern an das russische Volk adressiert, dem der König die Unterstützung Spaniens beim Aufbau eines wirksamen Systems demokratischer Freiheiten und bei der Festigung des Rechtsstaates zusicherte (Neue Zürcher Zeitung, 10.2.2006). 6
Europa und Russland seit 2006 – mehr Abgrenzung als Annäherung
Versucht man die Generallinie im Verhältnis von EU und Russland seit Anfang 2006 zu bestimmen, so zeigt der Trend stärker in Richtung Abgrenzung als Annäherung. Den Schwerpunkt der Beziehungen bilden auf beiden Seiten ökonomische Interessen, die zum Teil übereinstimmen, zum Teil einander entgegenstehen. Die Ziellinien des Brüsseler „normativen Imperiums“ und die Wertehorizonte der russischen Transformation driften indessen immer stärker auseinander. Hinzu kommen anhaltende Rivalitäten im Hinblick auf
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„Zwischeneuropa“. Abschließend soll der Frage nachgegangen werden, wie sich der gegenwärtige Wirtschaftsdialog anlässt, wie die Wertekonflikte und die damit verbundenen Führungsansprüche gegenüber den „alten“ bzw. „neuen“ Nachbarn ausgetragen werden und welche Entwicklungsszenarien sich heute zwischen Europa und Russland abzeichnen. Eine kursorische Antwort auf die ersten beiden Fragen lieferte das Treffen, zu dem der EU-Kommissionsvorsitzende José Manuel Barroso bei Putin am 17. März 2006 eingeladen war. Denn bei dieser Gelegenheit ging es sowohl um die gegenseitigen Handelsinteressen im Energiebereich als auch um die besondere Sorge der EU um marktwirtschaftliche und demokratische Entwicklungen in Russland. Barroso drängte nach eigenem Bekunden den russischen Präsidenten, auf die Aufgliederung des russischen Energiemarktes und auf den stärkeren Einbezug privater und auch ausländischer Unternehmen zu achten und im übrigen für zuverlässige Energielieferungen nach Europa einzustehen. Das zuletzt genannte Anliegen wurzelte in der erwähnten Energieversorgungskrise, die zum Jahresende im Zusammenhang mit dem „Gaskrieg“ zwischen Russland und der Ukraine die Bezieherländer in Europa erfasst hatte. Da damals die Erdgaslieferungen aus Russland vorübergehend gedrosselt worden waren, hatte dies Schockwellen der Verunsicherung bei den europäischen Empfängern ausgelöst. Ungeachtet aller gegensätzlichen Beteuerungen Moskaus hatte die Erwartung in eine konstante sichere Energieversorgung aus Russland schweren Schaden genommen. Zu den unmittelbaren Konsequenzen dieser Erfahrung gehörte, dass die Regierungen der betroffenen Länder nach einer möglichen Diversifikation von Energiequellen und einer multilateralen Absicherung der Versorgungssysteme Ausschau zu halten begannen (Neue Zürcher Zeitung, 17.3.2006). In ihrem Unmut über mögliche Versorgungskalamitäten mit Russland gingen die baltischen Staaten und Polen am weitesten. Sie verlangten eine entschiedene gemeinsame Energiepolitik der EU (Financial Times, 17.1.2006). Brüssel zögerte nicht, das gemeinsame Anliegen der EU-Mitgliedsländer Moskau gegenüber zur Geltung zu bringen. Die EU nutzte dazu auch ihre Gastrolle am Energie-Gipfel der G8, der in Moskau im März 2006 stattfand. Im übrigen drängten die Emissare der EU die russische Führung bei der Gelegenheit erneut dazu, doch endlich die Internationale Energiecharta zu ratifizieren und die russische Energiebranche ausländischen Unternehmern zu öffnen (Neue Zürcher Zeitung, 17.3.2006; Financial Times, 17.3.2006) Von der russischen Seite wurde geltend gemacht, dass der gewünschten Angebotssicherheit eine entsprechende Abnahmesicherheit entgegenstehen müsse. Widrigenfalls liefere Russland sein Erdgas nach China (Neue Zürcher Zeitung, 17.3.2006). Mit dieser Haltung ließ Moskau seine Gesprächspartner spüren, dass es als Energieproduzent am längeren Hebel als die vielen bedürftigen Energiekonsumenten in aller Welt saß. In der für Europa besonders wichtigen Frage der Ratifizierung der Energiecharta bewegte sich die russische Seite indessen nicht. Zuvor müsse ein Zusatzabkommen zu Transitfragen geschlossen werden, hieß es. Der russische Erdgasmonopolist Gasprom verwahrte sich im übrigen gegen die selbständige Erschließung russischer Energievorkommen durch westliche Firmen. Die großen Schwierigkeiten zwischen Brüssel und Moskau, zu einer gegenseitig fruchtbaren Energiepolitik zu kommen, haben sich letztlich aus der wachsenden Übernahme wichtiger Wirtschaftsbereiche durch den russischen Staat wie überhaupt aus der Entstehung eines „Staatskapitalismus“ ergeben. Dieser Trend, der die weiterreichende Absicht der Putin-Administration widerspiegelt, Russland zu einer „Energie-Supermacht“ nach dem Muster Saudiarabiens zu machen, steht im Widerspruch zu den Prinzipien einer freien Marktwirtschaft, für die Brüssel einsteht. Insofern sind die Konflikte in Energiefragen
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gleichzeitig symptomatisch für die unvereinbaren Wertewelten zwischen den europäischen Organisationen und Putins Russland, in dem sich zusammen mit dem Staatskapitalismus ein System der „gelenkten Demokratie“ und ein „bürokratischer Autoritarismus“ herausgebildet haben (Shevtsova 2006: 11). Auch dieses Gravamen wurde von Barroso bei seinem Entrevue mit Putin am 17. März zur Sprache gebracht. Der EU-Kommissions-Präsident gab dem russischen Präsidenten deutlich zu verstehen, dass die Europäische Union von Russland einen vollständigen Übergang zur Demokratie erwarte und sicher sein möchte, dass die Transformation „nicht in eine Art Halb-Demokratie“ führe (Radio Free Europe/Radio Liberty, 20.3.2006). Barroso ließ also keinen Zweifel daran, dass die Beziehungen zwischen Moskau und Brüssel nur gedeihen könnten, wenn beide die gleichen Werte und die gleichen demokratischen Prinzipien einer offenen Gesellschaft und einer offenen Wirtschaft teilten (Neue Zürcher Zeitung, 20.3.2006). Wie der konkret geführte Dialog zwischen den höchsten Repräsentanten der beiden internationalen Akteure EU und Russland zeigt, versucht die europäische Seite durchaus, die Grundvoraussetzungen für eine bessere Kooperation zur Geltung zu bringen. Während die „normativen“ Einlassungen der EU in Moskau auf taube Ohren stoßen, liegt der russischen Führung jedoch viel daran, in Europa gesicherte Energieabnehmer zu haben. Die auf beiden Seiten wichtige Energiesicherheit blieb auf der Agenda (Götz 2006: 2f.). Es sollte das vorrangige Thema aller Treffen zwischen der EU und Brüssel während der Ratspräsidentschaft Österreichs, Finnlands und seit 1. Januar 2007 der Bundesrepublik Deutschland sein (Westphal 2007: 241-255). Neben den seitens der EU weiterhin verfolgten Bemühungen, im Dialog mit Russland auch immer wieder die Gretchenfrage der demokratischen Standards zu stellen, versucht der Straßburger Europarat unablässig und in einer Art Katz und Mausspiel die Kriterien von Demokratie und Rechtsstaat gegenüber Russland zur Geltung zu bringen. So wurde das problematische Gesetz zu den Nichtregierungsorganisationen von Straßburg im Februar 2006 geprüft und mit Empfehlungen zur Überarbeitung nach Moskau zurückgereicht. Die russische Seite beteuerte, die Änderungsvorschläge spätestens bei der Umsetzung des Gesetzes berücksichtigen zu wollen (RIA Nowosti, 3.3.2006; Kommersant, 15.2.2006). Angesichts dieses zumindest verbalen Entgegenkommens begrüßte Terry Davis, der Generalsekretär des Europarates, die anstehende Übernahme der Präsidentschaft des Europarates durch Russland im Rahmen eines Fernsehinterviews in Moskau ausdrücklich (TV, Moskau 6.3.2006, BBC Monitoring). Allerdings führte der von Mai bis November 2006 währende russische Vorsitz im Europarat zu einer eher „traurigen Bilanz“, wie Olaf Melzer in einer kurzen Studie dargelegt hat. Dieses Urteil stützt sich auf die Erkenntnis, dass „bei allen vordergründigen Zusicherungen aller rechtlichen und politischen Verpflichtungen auf Basis der gemeinsamen europäischen Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtsschutz“ die russische Führung in Wirklichkeit all diese gemeinsamen Ziele hintertreibe, blockiere, verzögere und verschiebe (Melzer 2006: 2-5). Zu den schon erwähnten heiklen Fragen im Verhältnis von EU und Russland gehört der Umgang mit „Zwischeneuropa“, das für Russland ein unaufgebbares Terrain der eigenen legitimen Einflusssphäre und für die EU ein Gebiet der neuen Nachbarschaft und besonderen Fürsorge darstellt. Darüber hinaus kommen unmittelbare Rivalitäten zwischen Brüssel und Moskau bei den sogenannten „eingefrorenen Konflikten“ ins Spiel, worunter die zwischen Russland und anderen Nachfolgestaaten der UdSSR umstrittenen Gebiete Transnistrien, Abchasien und Südossetien zu verstehen sind. Während Moskau gegenüber
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diesen Gebieten seine Vormachtrolle und die unverhohlene Bereitschaft demonstriert, die Gebiete in das russische Hoheitsgebiet aufzunehmen, bietet die EU zur geringen Freude Moskaus ihre besonderen Dienste bei der Beilegung der Konflikte an (Halbach 2005: 18ff.). Ähnliches gilt für Tschetschenien. Schließlich sind erhebliche Rivalitäten im Umgang mit der Ukraine im Spiel. Dabei befindet sich die EU in dem Dilemma, die ungeduldig auf eine Mitgliedschaft in der EU pochende Ukraine so lange vertrösten zu müssen, bis das Land die allgemeinen Kopenhagener Aufnahmekriterien zu erfüllen imstande ist. In Russland verfolgt man eine eventuelle volle Integration der Ukraine in die EU mit äußerstem Missbehagen, da man befürchtet, der große slawische Bruderstaat könnte gegebenenfalls endgültig dem eigenen Einflussbereich entzogen sein. Dass sich diese Haltung vor dem Hintergrund der mit Wegekarten und Gemeinsamen Räumen zumindest programmatisch voll gespickten Beziehungen zwischen der EU und Russland selbst höchst ambivalent ausnimmt, scheint man in Moskau zu übersehen (Shevtsova 2006: 11). Um übersteigerte Phobien Russlands gegenüber dem Engagement der EU im „Zwischeneuropa“ hintanzuhalten, räumte Brüssel Anfang 2006 ausdrücklich Verständnis für Russlands „legitime Interessen“ in den ehemaligen sowjetischen Unionsrepubliken ein (Interfax, 6.1.2006). Unterdessen steht eine Neuauflage des Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen Russland und der EU an, da der gegenwärtig gültige Vertrag Ende 2007 ausläuft. Die Aufnahme von Verhandlungen kam indessen erst gar nicht zustande. Denn überraschend stellte sich Polen auf dem Russland-EU-Gipfel in Helsinki Ende November 2006 strikt dagegen. Warschau wollte erst nach Aufhebung des russischen Einfuhrverbots für polnische Fleisch- und Wurstwaren einlenken. Außerdem pochte Polen auf die sofortige Ratifizierung der Energiecharta. Die Warschauer Regierung zeigte sich unversöhnlich, da sie wohl nicht zu unrecht in dem Boykott der Fleischimporte aus vorgeblich hygienischen Gründen einen Racheakt Russlands für die energische polnische Unterstützung der Revolution in Orange vermutete (Neue Zürcher Zeitung, 22. 1. 2007). Immerhin liegen die Parallelen zu Strafaktionen Russlands gegenüber vorgeblich gesundheitsgefährdenden Weinen und Mineralwasser aus den gegenüber Moskau unbotmäßigen Ländern Georgien und Moldowa auf der Hand. In dem zähen Widerstand Warschaus gegen den Druck aus Moskau kommt auch zum Ausdruck, dass Polen seine Politik seit seiner EU-Mitgliedschaft darauf ausrichtet, „eine Führungsposition in der Subregion einzunehmen und russischen Einfluss zurückzudrängen“ (Fischer 2006: 8; Ochmann 2007: 2-6). Aufs Ganze gesehen bietet sich gegenwärtig die von der EU wie von Russland trotz aller Vorbehalte betonte wechselseitige „strategische Partnerschaft“ eher als ein virtuelles denn als ein reales Projekt an. Auf beiden Seiten werden indessen Chancen für einen neuen Entwicklungsschub in den Beziehungen für möglich und offen gehalten. Der eingangs erwähnte unvollendete Charakter beider internationalen Akteure trägt zu den Unwägbarkeiten der weiteren Beziehungen bei. Seit dem Scheitern des Verfassungsprojektes und angesichts interner Funktionsprobleme der erweiterten Europäischen Union fehlt es dieser am wünschenswerten Gewicht in der internationalen Politik. Die EU kann auch so lange keine eindeutige und erfolgreiche Russlandpolitik betreiben, wie einzelne Mitgliedstaaten aus der gemeinsamen Linie ausscheren, ob Berlin, Paris oder Warschau. Da es bislang jedoch keinen Zwang zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU gibt, fehlt es Brüssel an Sanktionen gegenüber seinen eigenen Mitgliedern. In Russland selbst ist weder der Transformationsprozess im Innern abgeschlossen noch hat die Außenpolitik in ruhiges Fahrwasser gefunden. Nachdem die Vorstellung von
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einer vollen Integration in die westliche Gemeinschaft außer Mode gekommen ist, sieht sich Russland „gleichzeitig als Partner und als Konkurrent des Westens“ (Shevtsova 2006: 11). Dass Moskau die Europäische Union als Rivalin in seinem angestammten Hinterhof wahrnimmt, trübt die vorgebliche Partnerschaft mit Brüssel. Vor diesem Hintergrund erklärt es sich, dass auf der russischen Seite die Verfassungskrise der EU mit Erleichterung wenn nicht gar Genugtuung registriert wurde, tat dies doch aus Moskauer Sicht der Autorität des geopolitischen Konkurrenten wie überhaupt des „normativen Imperiums“ deutlichen Abbruch. Unterdessen werden in Russlands außenpolitischen Diskursen munter die möglichen Entwicklungsszenarien im Verhältnis von EU und Russland debattiert. Wie üblich für die traditionellen Diskurse über Russlands Entwicklungswege und seinen Standort in der Welt fehlt es nicht an interessanten und bisweilen utopischen Entwürfen. Hannes Adomeit und Rainer Lindner haben vier am meisten diskutierte Modelle ausgemacht: erstens das Vorbild des NATO-Russland-Rats, zweitens die Möglichkeit einer Assoziierung mit gradueller Integration, drittens eine Assoziierung unter Bewahrung von Russland als einem eigenständigen „unabhängigen Kraftzentrum“, viertens das „norwegische Modell“, worunter eine weitreichende „horizontale Integration ohne Mitgliedschaft“ verstanden wird. Es überrascht wenig, dass das dritte Modell, das Russland als ein „unabhängiges Kraftzentrum“ im gleichzeitigen Verbund mit der EU perzipiert, den größten Zuspruch findet (Adomeit/Lindner 2005: 20ff.) Von der westeuropäischen Seite wurden im Verhältnis zum früheren „Ostblock“ und der UdSSR unterschiedliche Paradigmen ins Spiel gebracht. 1961 formulierte Egon Bahr das Diktum des „Wandels durch Annäherung“. Im Zusammenhang mit der Wende 1989 stellte sich wie von selbst die Formel der „Annäherung durch Wandel“ ein. Im September 2006 lancierte der deutsche Außenminister für die künftigen Beziehungen der EU zu Russland die Strategie einer „Annäherung durch Verflechtung“ (Fischer 2006: 6). Konkret könnte dies auf die Bildung einer Freihandelszone, den zügigen Ausbau der vier Räume – Wirtschaft, Sicherheit, Justiz, Inneres – und last, but not least, auf den Austausch von Garantien für eine wechselseitige Energiesicherheit hinauslaufen. Im Frühjahr 2007 befinden sich die beiden involvierten Akteure EU und Russland immer noch in einem Prozess innerer Transformation und Profilierung. In Russland stehen Parlaments- und Präsidentenwahlen an, deren Ausgang selbst unter den Bedingungen einer „gelenkten Demokratie“ nicht klar absehbar ist. Mit dem Wandel der Machtkonstellation im Kreml steht und fällt die Kooperationsbereitschaft Moskaus gegenüber Brüssel wie die russische Orientierung auf Europa überhaupt. Innerhalb der Europäischen Union ist der Prozess der Verfassunggebung und der inneren Reformen weiterhin offen. Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist ebenfalls nicht an der Tagesordnung. Eine einheitliche Russlandpolitik der EU stößt sich in erster Linie daran, dass die neuen ost- und ostmitteleuropäischen Mitgliedstaaten ihrer früheren russischen Hegemonialmacht die Stirn zu bieten wissen und sich nicht auf vorschnelle Kompromisse bei der Erneuerung des Partnerschaftsund Kooperationsabkommens mit Moskau einlassen wollen. So gesehen bleibt für das Verhältnis von Moskau und Brüssel der Charakter einer Hybride von Partnerschaft und Rivalität charakteristisch.
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Die Europäische Union und die russländische Transformation – eine russische Perspektive Die Europäische Union und die russländische Transformation
Galina Michaleva
1
Einleitung: Die Ziele des Westens, der EU und Russlands
Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Russland während der russländischen Transformation sind ein Weg der Illusionen und Irrtümer, der Widersprüche zwischen Rhetorik und politischer Praxis und periodischer Rückkehr zum Algorithmus der Beziehungen zur Zeit der Sowjetunion. Nichtsdestotrotz sind sich beide Seiten seit dem Beginn der Perestrojka ihrer gegenseitigen Abhängigkeit immer bewusster geworden, wie Heinz Timmermann (2004:2) mit Recht anmerkt: “As a democratically oriented and cooperative partner which defines itself in European terms, Russia can contribute substantially to building stability and prosperity on the continent. However, as a major power that is marginalised and uncertain of its orientation, there is a risk that Russia could export instability across Eastern Europe to Western Europe.”
In allen Stadien der russländischen Transformation gab es in der einen oder anderen Form europäischen Einfluss, der allerdings nicht zum gewünschten Ergebnis geführt hat, Russland in eine stabile Demokratie und Marktwirtschaft und einen zuverlässigen und gleichberechtigten Partner zu verwandeln. International einflussreiche kollektive Akteure – internationale Wirtschafts-, zwischenstaatliche und Nichtregierungsorganisationen – sind bei ihrer Planung im Hinblick auf Russland von einem abstrakten Modell globalisierten Einflusses ausgegangen. Dieses Modell bestand aus Forderungen zur Änderung von Institutionen, was mit der Vergabe von Gütern und Leistungen verknüpft wurde. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten brauchten ziemlich lange, um ihre Ziele und Interessen in Bezug auf Russland zu formulieren. Die EU war zu sehr mit internen Problemen beschäftigt, vor allem mit der Osterweiterung. An Russland war Brüssel nur insofern interessiert, soweit es um Sicherheitsfragen und um einen möglichen Widerstand gegen die Osterweiterung ging. Die Beziehungen zwischen der EU und Russland fußten auf dem Prinzip des „Zerrspiegels“; sie waren beherrscht von Verzögerungen, von Diskrepanzen zwischen der Rhetorik der Dokumente und Ankündigungen von Seiten der Geldgeber:
Die Bewertung der Transformation in Russland durch die EU spiegelte Wunschdenken und nicht Tatsachen wider, trotz vieler kritischer Anmerkungen; Strategien wie auch konkrete Programme wurden nach unzureichenden Zielvorgaben entwickelt; Strategien wurden erst post factum korrigiert, als es nicht mehr möglich war, die Augen davor zu verschließen, dass die Entwicklung Russlands falsch eingeschätzt worden war;
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Galina Michaleva Konkrete Programme traten gewissermaßen „phasenverschoben“ in Kraft und waren stets auf das abgelaufene Transformationsstadium ausgerichtet.
Die Ziele Russlands und der EU unterschieden sich aber bereits von dem Moment an deutlich, in dem die Strategien formuliert wurden, was auch in den Dokumenten erkennbar ist. Für die EU hatten und haben die folgenden Ziele Vorrang: Förderung der Demokratie, Integration Russlands in einen einheitlichen Wirtschafts- und Sozialraum, Kooperation. Auf diesem Wege sollten angesichts der allgemeinen Herausforderungen für den Kontinent (Terrorismus, Migration usw.) Stabilität und Sicherheit in Europa und jenseits seiner Grenzen erhöht werden. Diese programmatischen Ziele mussten aber zumindest mittelfristig eher utopisch erscheinen. So würde ein gemeinsamer Wirtschaftsraum nach dem Muster der EU nicht nur den freien Austausch von Kapital, Waren und Arbeitskraft voraussetzen, sondern, was sehr viel wichtiger ist, eine Angleichung der Institutionen, darunter auch von Rechtsnormen und gerichtlicher Praxis. Russland strebt die wirtschaftliche Modernisierung des Landes und Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt an. Die Einstellung zu Globalisierung und dem Westen war und ist aber unklar und inkonsequent. Einerseits drückt sich in imperialer Rhetorik und der Verkündung entsprechender Ziele das „postsowjetische Syndrom“ aus, andererseits wird jegliche westliche finanzielle Unterstützung angenommen. Trotz der deklarativen Entscheidung Russlands zugunsten der Europäisierung im Jahre 1994 (Vertrag über Partnerschaft und Zusammenarbeit mit der EU) hatte Russland nicht die Absicht (und war auch nicht imstande), die unterschriebenen Vereinbarungen zu erfüllen. Der Westen forderte dies allerdings auch nicht ein. Bis heute bevorzugt Russland bilaterale Vereinbarungen und – nach dem 11. September 2001 – ein politisches Dreiecksspiel zwischen Russland, den USA und der EU. Für Russland war es wichtig, die Rolle einer Weltmacht zu erhalten (was atomares Potential, Territorium und Energiereserven zulassen) und dementsprechend die Mitgliedschaft in angesehenen internationalen Organisationen. Der Westen als Ganzes, wie auch die EU, verfolgte ein breites Spektrum von Zielen. Prioritäre Fragen auf den Gebieten Sicherheit und Energie sollten ebenso gelöst werden wie lokale, aber dennoch relevante Fragen (z.B. Transitvisum für das Gebiet Kaliningrad). Der Westen benutzte dabei eine demokratische Rhetorik und erwartete das Gleiche von Russland als Gegenleistung. Signifikante partnerschaftliche Beziehungen gab es nur in den oben erwähnten Bereichen. Die Transformation hin zur Demokratie war dabei zweitrangig. Die EU wie der Westen insgesamt gaben sich mit Deklarationen oder mit Imitationen demokratischer Praxis zufrieden. Um in das System der internationalen Netze von „isomorphen“ Normen und Institutionen (formal ist die Gewaltenteilung vorhanden, Prinzipien des Rechtstaates und der Menschenrechte werden deklariert) eingebunden zu werden, waren für Russland wirtschaftliche Zusammenarbeit und Kooperation bei der kollektiven Sicherheit ausreichend: Das Land wird als gleichberechtigter internationaler Partner angesehen, wobei es von zweitrangiger Bedeutung ist, ob es wirklich funktionierende demokratische Institutionen gibt. Die Globalisierung auf wirtschaftlicher, militärischer, humanitärer, sozialer und kultureller Ebene wurde von den westlichen Akteuren als natürlicher Prozess angesehen, der nur wenig reguliert zu werden braucht. Es galt die Logik von „soft power“, die Fähigkeit, die
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Transformationsländer zu zwingen, „das Gleiche wie der Westen zu wollen“. Diese Tendenz verstärkte sich nach dem 11. September 2001. Es wurden jetzt auch militärische Aktionen benutzt, um Systeme in Afghanistan und Irak einzurichten, die das Erreichen von vor allem wirtschaftlichen Zielen erlaubten. Durch diese Logik werden auch Form und Inhalt des europäischen Einflusses auf die russländische Transformation erklärt, wobei sich die von beiden Seiten benutze Rhetorik von den wirklichen Zielen und der Praxis unterscheidet, die sich ihrerseits im Laufe der Zeit ändern. Änderungen in der russländischen Innen- und Außenpolitik seit Beginn der zweiten Amtszeit Vladimir Putins haben auch die Beziehungen zwischen Russland und Europa beeinflusst. Die zunehmenden autoritären Tendenzen in der Innenpolitik und das Bestreben Russlands, seinen Einfluss auf den „postsowjetischen Raum“ zu erhöhen haben auf Seiten der EU zu Ernüchterung, mehr Pragmatismus und verstärkter Kritik an den Verhältnissen in Russland geführt. Obwohl Europa Einfluss auf Russland nicht nur durch die Institutionen der EU nimmt, sondern dies oft auch durch intensive bilaterale Beziehungen einzelner europäischer Länder geschieht, möchte ich mich nichtsdestotrotz auf die grundlegenden Dokumente und Schritte der EU konzentrieren (Bordačev 2004: 10; Timmermann 2004: 22). 2
Phasen der Politik der EU während der Transformation in Russland
2.1 Das Entstehen eines neuen russländischen Staates (1991 – 1993) In der sowjetischen Periode fanden die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der UdSSR mit wechselndem Erfolg auf zwei Gebieten statt: Handel und internationale Sicherheit. Die ersten Schritte zur finanziellen Unterstützung der Transformation in Russland wurden auf Initiative der BRD im Rahmen der 2+4 Gespräche 1990 unternommen. Eine Absprache zwischen der EU und den USA sah vor, die Formulierungen von Anforderungen an Russland dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank zu überlassen. Der „Washingtoner Konsensus“ legte die Hauptrichtungen für die Unterstützung aller Transformationsstaaten Ost- und Mittelosteuropas wie der ehemaligen Sowjetunion fest, ohne Berücksichtigung der Spezifika Russlands. Die Ideologie des „Washingtoner Konsensus“ war darauf gerichtet, das sozialistische System nieder zu reißen und die Wirtschaft zu transformieren. Hauptbedingungen für die Unterstützung aller Transformationsstaaten waren: Steuerdisziplin, Minimierung von sozialen Zahlungen, Steuerreform, Optimierung und Liberalisierung von Kapital- und Warenströmen. Ein Schwerpunkt wurde auf die Liberalisierung der Wirtschaft gelegt. Marktwirtschaftliche Reformen sollten die wirtschaftlichen Institutionen „kompatibel“ zu den westlichen Märkten machen, zuvor durch das sozialistische System verschlossene Gebiete für westliche Waren und Investitionen öffnen und gleichzeitig zu wirtschaftlichem Wachstum in diesen Ländern führen. Dieser Mechanismus war schon mehrfach in Lateinamerika erprobt worden. Neue globale Regeln, die die Interessen des Kapitals vor möglichen Risiken in unsicheren Ländern bewahren sollten, lagen dieser Strategie zugrunde. Wie in der vorherigen Welle der Transformation wurden wichtige wirtschaftliche Entscheidungen nicht von den Präferenzen einer Mehrheit der Wähler in den ehemals sozialistischen Ländern selbst bestimmt, sondern von den technokratischen Eliten des Internationalen Währungsfonds, der
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Weltbank und der Welthandelsorganisation (WTO) diktiert (Skidmore 2003: 36–37; Skidmore 2004). Die EU verabschiedete 1990 in Rom im Einklang mit den zuvor von den G7 getroffenen Entscheidungen ein technisches Hilfsprogramm (Technical Assistance for the Commonwealth of Independent States, TACIS), um die sowjetische Transformation zu unterstützen. Das erste TACIS-Programm begann im Jahre 1991. Sein Ziel wurde als „transition to a market economy“ definiert. Im Einzelnen sollte es auf den folgenden Gebieten Hilfe leisten:
Ausbildung von Managern für den öffentlichen und privaten Sektor Finanzhilfe Energiewirtschaft Transportwesen Lebensmittelhilfe
Die Beziehungen mit Russland ruhten zu diesem Zeitpunkt immer noch auf der Grundlage der bereits mit der UdSSR unterzeichneten Vereinbarung über Handel und Zusammenarbeit aus dem Jahre 1989. Erst 1992 schlug der damalige Präsident der EU-Kommission Jacques Delors vor, einen neuen Vertrag mit der Russländischen Föderation abzuschließen. Es gab allerdings keine Konzeption, die die weit reichenden politischen und wirtschaftlichen Veränderungen, ganz zu schweigen vom Zerfall der UdSSR, berücksichtigt hätte. Statt dessen herrschte die Ansicht vor, dass „der Markt alles reguliert“. Dies lief auf eine Unterstützung von Jelzins marktwirtschaftlichen Reformen hinaus. Nach dem Auseinanderbrechen der UdSSR im Dezember 1991 und der Ausrufung der Demokratie stellte Russland aus westlicher Perspektive keine Gefahr mehr dar, so dass die wirtschaftliche Transformation benutzt werden konnte, um Russland in das System des weltweiten Handels einzubinden. Führende russländische Politiker äußerten in jener Zeit mehr als einmal den Wunsch, dass Russland EU-Mitglied werden sollte (Chudolej 2003: 14). Bei aller Widersprüchlichkeit der Innenpolitik Russlands in dieser Zeit waren die westlichen Partner mit Jelzins Politik zufrieden, die auf der einen Seite darin bestand, umfangreiche westliche Kredite aufzunehmen und auf der anderen Seite darin, die die nationalpatriotische und kommunistische Opposition zu unterdrücken. Die politische Transformation war für die westlichen Akteure zweitrangig, so dass sie auf diesem Gebiet keine Forderungen erhoben. Westliche Rechtsnormen konnten während des Anfangsstadiums der Demokratie auch nicht „importiert“1 werden (Merkel 1999: 141). Die politischen Konflikte um Jelzins Machteroberung sahen aus wie ein „Verfassungskonflikt“, daher war die direkte Einmischung westlicher Experten bei der Formulierung der grundsätzlichen Normen staatlichen Rechtes in diesem Stadium kaum möglich. Allerdings ist bekannt, dass es eine weit verbreitete Praxis von „rechtlichen Konsultationen“ russländischer Politiker und Experten zu wichtigen und zweitrangigen Fragen des postsowjetischen Rechtssystems gab. Diese Konsultationen geschahen im Rahmen von europäischen und nationalstaatlichen Hilfsprogrammen für Osteuropa. Auch die politischen Stiftungen beteiligten sich intensiv daran. Die westliche Einflussnahme lässt sich auf einigen Gebieten des Rechts nachweisen. So ist etwa bei der föderalen Struktur oder der Wahl1
Zum „Import“ westlicher Rechtsnormen siehe die Arbeiten von Georg Brunner, z.B.: Brunner (1991).
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gesetzgebung der Einfluss des deutschen Rechts nicht zu übersehen. Im Ganzen war der Einfluss auf die Formulierung russländischer Gesetzgebung aber nicht systematisch. Aus unserer Sicht sind in Russland westliche Rechtsnormen nicht direkt übernommen worden. Darüber hinaus haben wir keine Arbeit finden können, die die Hilfe im rechtlichen Bereich und ihre Auswirkungen für die russländische föderale und regionale Gesetzgebung im Allgemeinen beschreibt. Nichtsdestotrotz hat es eindeutig europäischen Einfluss bei dem Aufbau neuer Institutionen gegeben, auch wenn er nur von untergeordneter Bedeutung war. Die Eliten, die um die Macht kämpften, sahen die Ressourcen, die sie durch das TACIS-Programm und einzelne EU-Mitgliedsstaaten erhielten und deren Verteilung im Land damals noch nicht kontrolliert wurde, als zusätzliche Ressource an. Die Zerschlagung der Opposition und die institutionelle Untermauerung von Jelzins Sieg in der neuen russischen Verfassung im Dezember 1993 hatten zuerst keine Auswirkung auf die Beziehungen zwischen der EU und Russland. Die Annahme der das Präsidialsystem sichernden Verfassung wurde als Grundlage für politische Stabilität und für eine Erweiterung der Beziehungen zu Russland gesehen, trotz einiger Kritik seitens westlicher Gesellschaften und wissenschaftlicher Kreise. 2.2 Innere Konflikte und das Präsidialsystem (1993–1999) Erst im Jahre 1994 unterschrieben die Russländische Föderation (RF) und die EU den Vertrag über Partnerschaft und Zusammenarbeit. Während der Verhandlungen kristallisierten sich die unterschiedlichen Prioritäten von RF und EU heraus. Dennoch wurde in den Vertragstext die Forderung aufgenommen, dass die RF die Regeln der OSZE beachten sollte. In diplomatischen Kreisen wird dieses Dokument als grundlegend für den russländischeuropäischen Dialog und als pragmatische Vereinbarung angesehen, weil Russland immerhin eine Entscheidung für Europa getroffen und Europa Russlands Teilnahme an europäischen Prozessen nicht abgelehnt hatte (Tarasov 2004: 56–63). Der Hauptzweck des Vertrages war es, die nötigen Bedingungen für eine Zone des freien Marktes zu schaffen. Bei der Formulierung der Kooperationsprogramme wurden die internen Konflikte in Russland ignoriert, sodass der erste Tschetschenienkrieg 1994 als unangenehme Überraschung für westliche politische Kreise kam. Wegen dieses Krieges wurde die Ratifizierung des Vertrages verschoben und die Beziehungen zwischen EU und RF traten in eine Phase des Misstrauens und gegenseitiger Vorwürfe. Russland ignorierte die Position der EU zu Tschetschenien, und die EU nahm Dokumente zur EU-Erweiterung an, ohne die russländischen Interessen zu berücksichtigen. Schließlich wurde eine temporäre Vereinbarung abgeschlossen, die keine Ratifizierung erforderte, so dass das TACIS- Programm fortgesetzt werden konnte. Von 1991 bis 1997 erhielt Russland im Rahmen dieses Programms 2,3 Mrd. Euro.2 Erst nach der Beendigung der Kampfhandlungen in Tschetschenien während der Wahlkampagne vor den Präsidentenwahlen 1996 kam es zu einer informellen Abmachung über die Erweiterung der NATO und den Beitritt Russlands zum Europarat. Auch konnte der Vertrag über Partnerschaft und Zusammenarbeit 1997 endlich in Kraft treten.
2
Zum Vergleich: In der gleichen Zeit erhielt Russland von Internationalen Währungsfonds 18 Mrd. USDollar.
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Im Artikel 86 des Vertrages heißt es: „Russia shall benefit from temporary financial assistance from the Community by way of technical assistance in the form of grants to accelerate the economic transformation of Russia“. Im Vertrag werden folgende Kooperationsgebiete im Rahmen des TACIS- Programms aufgezählt:
Wirtschaftliche Kooperation, vor allem bei Management, Privatisierung und Ausbildung von Managern Verbesserung des Investitionsklimas Allgemeine und Berufsbildung Energiewirtschaft (zur Einbindung der RF in den europäischen Energiemarkt) Umwelt und nukleare Sicherheit Infrastruktur von Transportwesen, Post, Telekommunikation Entwicklung der Regionen Restrukturierung des Sozialsystems Unterstützung von mittleren und kleinen Unternehmen
Der neue Algorithmus der Zusammenarbeit setzte auf eine Ablehnung des Washingtoner Konsensus, die Erweiterung der politischen Zusammenarbeit und eine Konzeption von partnerschaftlichen Beziehungen. Der Vertrag beinhaltete allerdings keinen Mechanismus für seine Durchsetzung. Daher wurden im Rahmen von TACIS Entscheidungen zur Unterstützung der einen oder anderen Richtung getroffen, die mit den deklarierten Zielen oft kaum etwas gemeinsam hatten. Im Unterschied dazu sah z.B. das PHARE-Programm für die Beitrittsländer klare und messbare Kriterien vor. Dies führte dazu, dass die EUBeitrittskandidaten die ihnen aufgezwungenen Spielregeln verstanden und dafür bedeutende Wirtschaftshilfe erhielten. Mit diesen Instrumenten agierte Europa als civilian power (Bordačev 2003: 54). Solche Forderungen konnten an Russland nicht gestellt werden, so dass ein anderer Algorithmus für die Beziehungen galt. Der Vertrag über Partnerschaft und Zusammenarbeit erwies sich aus Sicht der EU als ein Systemfehler: Der Vertrag war als Instrument zur Quasiintegration der EU und Russlands gedacht, wobei allerdings der Beitritt Russlands zur EU nie praktisch erwogen worden war. Die russländischen Wirtschaftsreformen verliefen aber konträr zum europäischen Modell und die neuen politischen Institutionen boten die Basis für einen schnellen Übergang zu Autoritarismus und Diktatur, während sich in der Außenpolitik immer mehr neoimperialistische Tendenzen bemerkbar machten. Letztlich befestigte der Vertrag über Partnerschaft und Zusammenarbeit nur den regelmäßigen politischen Dialog und die kulturelle Zusammenarbeit, zwei Gebiete, die im Vertrag am wenigsten definiert wurden. Alle anderen Artikel des Vertrages blieben unerfüllt (Borko 2004: 14). Anstelle von konkreten Forderungen und Kriterien wurden in den EU-Programmen nur allgemeine Richtlinien formuliert. Gleichzeitig wurden Ressourcen und Effektivität der Projekte nur wenig kontrolliert. Bis 1999 wurden vor allem Projekte zur Verbesserung der marktwirtschaftlichen Infrastruktur finanziert und kollektive wie individuelle Akteure durch Programme für besseres Management unter den Bedingungen der „wirtschaftlichen Globalisierung“ in der Wirtschaft gefördert. Von 1996 bis 1999 wurden im Rahmen von TACIS 2,24 Mrd. Euro für Projekte in Russland ausgegeben. Diese hatten die folgenden Schwerpunkte:
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Humanitäre Ressourcen Restrukturierung von Firmen, wie auch Aufbau von kleinen und mittleren Unternehmen sowie Privatisierung Infrastruktur von Transportwesen und Telekommunikation Restrukturierung und technologischer Fortschritt in der Landwirtschaft Produktion, Verarbeitung und Verkauf von Lebensmitteln begleitende soziale Maßnahmen bei der Restrukturierung von Firmen.
Im Vergleich zur vorgehenden Periode wurden mehr Projekte zu politischem Consulting, Umweltschutz und nuklearer Sicherheit unterstützt, während die Finanzierung von Privatisierungsprojekten gekürzt wurde. Als neues Element kamen wegen der EU-Erweiterung Projekte mit Beteiligung von Ländern Ostmitteleuropas hinzu. 1998 erklärte der damalige Premierminister Sergej Kirienko in Erwartung einer baldigen Entscheidung über die Beziehungen zu Russland erneut, dass ein EU-Beitritt Russlands möglich sei. Die Finanzkrise im August 1998 hatte zwar negative Auswirkungen auf Export und Investitionen in Russland, wirkte sich aber kaum auf die allgemeine Formulierung von Zielen aus. Nach der Krise schrieb der Ausschuss der Ständigen Vertreter einen Bericht über die Russlandpolitik der EU, der auch die Folgen der Finanzkrise berücksichtigte. Die Schlussfolgerung dieses Berichtes war, dass Russland vielfältige Probleme hat, dementsprechend müsse auch eine Strategie zu ihrer Lösung vielseitig sein. Damit ließ die EU die Frage unbeantwortet, wie gegenüber Russland zu verfahren sei. Die falsche Beurteilung der Ereignisse in Russland, vor allem die Ansicht, die Transformation Russlands sei ein Übergang zur Demokratie, führte dazu, dass während der gesamten Ära Jelzin in den strategischen Dokumenten der EU die Demokratisierung nicht angemahnt wurde, und in der Praxis der Geldgeber Demokratisierungsprogramme von geringer Bedeutung waren. Der Westen ging von der Vorstellung aus, dass sich Russland im Großen und Ganzen in Richtung Demokratie bewegt, und dass Programme, die zur Angleichung der wirtschaftlichen Bedingungen dienen, die Grundlage hierfür schaffen würden. Interne russische Konflikte wurden nicht als Defekte des Systems angesehen, sondern bestenfalls als Abweichungen vom allgemeinen Kurs der Transformation zu Markwirtschaft und Demokratie. Daher haben sich grundlegende Dokumente und Programme trotz der anfänglich (relativ) scharfen Reaktion auf den Tschetschenienkrieg wenig geändert. In den Augen der EU schneidet Russland im Vergleich mit der sozialistischen Sowjetunion bis heute besser ab, da von ihm keine direkte militärische Bedrohung ausgeht. Für den Westen vermengte sich das „russische Risiko“ mit den globalen Herausforderungen, die Russland ebenso betreffen wie den Westen (örchard 2004: 35). Bei den Planungen für Russland steht nach wie vor an erster Stelle der Wunsch, auf die russische Transformation in der Weise gestaltend einzuwirken, dass ein vertragsfähiger Partner im Wirtschaftsbereich (vor allem in der Energiewirtschaft), aber auch bei Fragen der Ökologie, der nuklearen Sicherheit und des Kampfes gegen das internationale Verbrechen entsteht.
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2.3 EU und Russland in der Ära Putin Wichtige Faktoren für eine Änderung der europäischen Russlandpolitik in der Ära Putin waren:
ein verändertes Kräftegleichgewicht in der Welt und die Bildung der Koalition gegen den Terror die Erweiterung der EU eine größere Abhängigkeit von Russland im Energiesektor Bedrohungen durch eine Kombination aus dem Abbau demokratischer Institutionen, militärischen Konflikten und Terrorismus Anerkennung, dass im russischen Kontext der Stabilität Priorität vor demokratischen Werten zukommt Zunahme von diplomatischen Krisen aufgrund des unterschiedlichen Verständnisses der Rolle Russlands
Dennoch wurde die Rhetorik von der „gleichberechtigten Partnerschaft“ praktisch bis zum Beginn der zweiten Amtszeit von Präsident Putin beibehalten. Im Jahre 1999 verabschiedete die EU die „Gemeinsame Strategie der EU für Russland“, die die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik definierte. Obwohl sowohl Russland wie die USA an der Konzipierung dieses Dokumentes beteiligt waren, kam es nicht zu einem gemeinsamen Dokument. Stattdessen nahm die russische Regierung die „Mittelfristige Strategie der Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und der EU (2000– 2010)“ an. Beide Dokumente sind Antworten auf die neuen Herausforderungen durch die EU-Erweiterung. Sie sollen Risiken minimieren und Mechanismen für die Kooperation zwischen RF und EU schaffen. Der Vergleich dieser beiden Dokumente lässt den Schluss auf eine asymmetrische Partnerschaft zu, da aus ihnen unterschiedliche Ziele, unzureichender Realismus und mangelndes gegenseitiges Verständnis herausgelesen werden können (Kandel 2004: 66–67). Die unrealistischen Ziele, die in den strategischen Programmen der EU enthalten sind, sind nach Meinung russländischer Forscher auf mangelndes echtes Interesse der EU an einer vollwertigen Partnerschaft zurückzuführen. Die EU hebt in ihrem strategischem Dokument Stabilität und –- das erste Mal so klar und deutlich – Demokratie, den Rechtsstaat und eine soziale Marktwirtschaft in Russland als strategische Ziele hervor. Konkret werden genannt:
„Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und öffentliche Institutionen in Russland festigen, Russland weiter in einen gemeinsamen europäischen Wirtschafts- und Sozialraum integrieren; mit Russland verstärkt zur Verbesserung der Stabilität und Sicherheit in Europa zusammenzuarbeiten; gemeinsam mit Russland den Herausforderungen begegnen, denen wir uns auf dem europäischen Kontinent gegenübersehen, z.B. in der Energiepolitik und im gemeinsamen Kampf gegen die organisierte Kriminalität.“ (http://www.auswaertigesamt.de/www/de/eu_politik/gasp/eu_aussenbez/russland_htm )
Der Konzeption des EU-Dokumentes liegt der Gedanke zugrunde, dass die russländische Transformation ein längerer Prozess ist, der breiter Unterstützung und Partnerschaft auf
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allen Gebieten bedarf: politisch, wirtschaftlich, institutionell und kulturell. 1999 formulierte TACIS neue Richtlinien für den Zeitraum 2000 bis 2006. Das Dokument bezieht sich auf die Unterstützung der „Partnerstaaten in Osteuropa und Zentralasien“.3 Im Gegensatz zu den vorherigen Dokumenten, die die Unterstützung der wirtschaftlichen Transformation als Grundlage hatten, geht dieses Dokument von partnerschaftlichen Beziehungen zwischen Staaten nach dem westlichen Muster aus. Als Ziele für Russland werden der Übergang zur Marktwirtschaft und die Festigung der Demokratie und des Rechtsstaates definiert. Das Programm hat die folgenden Hauptrichtungen:
Unterstützung von institutionellen und Rechtsreformen Unterstützung des Privatsektors und Hilfe bei der wirtschaftlichen Entwicklung Unterstützung von „Infrastrukturnetzwerken“ Umweltschutz und Management von Naturressourcen Entwicklung der ländlichen Wirtschaft
Vorschläge der russländischen Seite sollten in größerem Maße als früher berücksichtigt werden. Regionaler und grenznaher Kooperation und partnerschaftlichen Projekten sollte mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die Zielrichtung des russländischen Dokumentes „Mittelfristige Strategie der Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und der EU (2000–2010)“ ist gänzlich anders: „Hauptziele der Strategie sind die Garantie der nationalen Interessen und Erweiterung der Rolle und Autorität Russlands in Europa und der Welt durch den Aufbau eines europäischen Systems kollektiver Sicherheit; wirtschaftliches Potential und Verwaltungserfahrung der Europäischen Union zur Schaffung einer entwickelten sozialen Marktwirtschaft Russlands anzuziehen, die auf den Prinzipien des fairen Wettbewerbs basiert; und der weitere Aufbau eines demokratischen Rechtsstaates. In der Übergangsperiode der Reformen ist ein Schutz der einheimischen Produktion in bestimmten Sektoren der Wirtschaft gerechtfertigt, unter Berücksichtigung internationalen Rechts und internationaler Erfahrung.“ (http://www.delrus.cec.eu.int/ru/index.html )
Die Eingangsformel des Dokumentes ist die einzige Stelle, an der der Begriff „demokratischer Rechtsstaat“ benutzt wird. Der Inhalt wird von der Vorstellung dominiert, dass „Russland als Weltmacht, deren Territorium sich auf zwei Kontinente erstreckt, sich die Freiheit bewahren muss, seine Innen- und Außenpolitik zu formulieren und durchzuführen, wie auch seinen Status und seine Privilegien als euroasiatischer Staat und größtes Land der GUS und seine unabhängige Position und Aktivität in internationalen Organisationen.“ (ebd.)
Der strategische Charakter der Partnerschaft setzt voraus:
3
die Schaffung eines kollektiven Sicherheitssystems in Europa, ohne sich von den USA zu isolieren die Öffnung der Märkte der EU, bei gleichzeitiger Bewahrung der Sonderrechte für Russland und der Investitionen im Land
„Council Regulation (EC, Euratom) No 99/2000 of 29 December 1999 concerning the provision of assistance to the partner States in Eastern Europe and Central Asia“, http://europa.eu.int/comm/external_relations/ceeca/tacis/reg99_00.pdf
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Galina Michaleva die Erweiterung der technischen und anderen Hilfe für Russland, während die Schulden Russlands bei europäischen Staaten umstrukturiert werden
Die hauptsächlichen Gebiete für die politische Zusammenarbeit sind: der politische Dialog mit der EU, während das politische Gewicht Russlands als internationaler Akteur bewahrt und vergrößert wird. Dazu zählt auch aktive Arbeit in der OSZE und Teilnahme am Dialog der EU mit den anderen Weltmächten. In der Wirtschaft wird der Schwerpunkt auf die Förderung des Handels und der Investitionen gelegt, u.a. in der Energiewirtschaft und auf einen „realistischen Ansatz“ zum WTO-Beitritt. Im finanziellen Bereich sollen die Programme für technische und andere Hilfe für Russland erweitert werden, die Schulden sollen restrukturiert und teilweise abgeschrieben werden. Folgende Fragen werden gesondert aufgeführt:
die Notwendigkeit einer europäischen Kooperation im Bereich der Infrastruktur, auch bei Energiewirtschaft und Transportwesen Zusammenarbeit bei Wissenschaft, Technik und Schutz des intellektuellen Eigentums grenzüberschreitende Zusammenarbeit Aufbau einer rechtlichen Basis für die Kooperation, Annäherung von Wirtschaftsgesetzgebung und technischen Standards, „die Notwendigkeit, die Unabhängigkeit des russländischen Rechtssystems zu bewahren“, wurde aber unterstrichen Kooperation im Rechtsschutz, vor allem bei der Verbrechensbekämpfung und Ausbildung von Personal Intensivierung der Kontakte von Firmen und Geschäftsleuten mit der EU
Im Dokument wird außerdem hervorgehoben, dass Russland den größtmöglichen Vorteil aus der EU-Erweiterung ziehen soll. So soll die Partnerschaft mit der EU die Stellung Russlands als führende Kraft für neue politische und wirtschaftliche Beziehungen in der GUS festigen. Der zweite Tschetschenienkrieg führte erneut zu Kritik von Seiten der EU. 1999 nahm der Europarat die „Tschetscheniendeklaration“ an, die vorsah, dass die Zusammenarbeit mit der RF überprüft und das TACIS- Programm ausgesetzt werden sollte. Es war das erste Mal, dass die EU wirtschaftlichen Druck ausübte, um die Politik eines Landes zu beeinflussen. Ausgenommen hiervon waren nur Projekte, die sich mit Menschenrechten, Rechtsstaat, Unterstützung der Zivilgesellschaft und nuklearer Sicherheit befassten. In der Praxis aber wurde der Boykott kaum durchgeführt. Im Jahre 2000 gründete die EU „EuropeAid“, das viele Verwaltungsstrukturen vereinte, die Projekte leiteten, von Konzipierung bis zu Monitoring und Kontrolle der Finanzen. Die Vollmachten wurden neu aufgeteilt: kleine Projekte wurden unmittelbar den Delegationen der Europäischen Kommission in den Empfängerländern selbst übergeben. Die neue Behörde hatte auch Auswirkungen auf die Rahmenplanung des TACIS-Programms für Russland. In der TACIS-Konzeption4 wird hervorgehoben, dass die RF ein sehr wichtiger Partner für die Sicherheit in Europa ist, gleichzeitig aber selbst, durch neue Bedrohungen, ein Risikofaktor für Europa. Nach der Wahl Putins kann Russland als stabil bezeichnet werden, allerdings mit der Kehrseite, dass die Opposition geschwächt ist und die Massenmedien ihre Unabhängigkeit verloren haben. 4
Country Strategy Paper 2002–2006, National Indicative Programme 2002–2003 Russian Federation.
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Trotz der wesentlichen Änderungen des TACIS-Programms blieben die hauptsächlichen Nachteile unverändert: Die Vergabe der Projekte ist von Bürokratie und Lobbyismus geprägt und vollständige Informationen über laufende und beendete Projekte sind nicht immer zugänglich. Bei großen Projekten, bei denen die Teilnahme von mehr als einem EUMitglied obligatorisch ist, wächst der administrative Überhang und die Positionen sind schwer abzustimmen. Die Vorgaben der „Strategie“ sind zum größten Teil nicht erfüllt worden. Die Gründe hierfür sind logische Widersprüche im Dokument und die Tatsache, dass es mit den Dokumenten in Bezug auf Russland nicht abgestimmt wurde (de Spiegeleire 2001: 81–116). Im Jahr 2000 begann der Energiedialog. Außerdem wurde eine Erklärung über die Zusammenarbeit in politischen und Sicherheitsfragen in Europa unterschrieben. Im März 2001 nahm Russland dann zum ersten Mal an einem Gipfel der EU teil, bei dem Dumping, Energielieferungen nach Europa und die Konflikte auf dem Balkan und in Tschetschenien diskutiert wurden. Im Mai 2003 vereinbarten die EU und Russland schließlich, den jährlich tagenden Kooperationsrat durch einen ständigen Partnerschaftsrat zu ersetzen, der die gemeinsamen Interessen definieren und die Ressourcen beider Seiten hierfür bestimmen soll. Eine effektive Partnerschaft konnte dennoch bisher praktisch nicht realisiert werden. Hierfür gibt es objektive wie subjektive Hindernisse. Zu den objektiven Hindernissen gehören Unterschiede in den politischen Systemen und Schwierigkeiten einer institutionellen Angleichung; zu den subjektiven zählen Unterschiede im Verständnis der „Partnerschaft“. Die RF sieht in der EU einen Partner, der bei der Modernisierung helfen soll, während die EU in den letzten Dokumenten ein Junktim von wirtschaftlicher Modernisierung und Demokratisierung aufstellt. Autoritäre Tendenzen in der RF widersprechen den Verpflichtungen, die in schon unterschriebenen und durchgeführten Vereinbarungen eingegangen wurden. Die Russlandpolitik der EU ist in eine Sackgasse geraten: Der Inhalt der Politik hat sich während der Implementierung [dieser Politik] geändert, obwohl Namen und Terminologie der Dokumente beibehalten wurden (Haukkala, 2003: 63–64). Beobachter verweisen auf den „äußerst unstrategischen Charakter gemeinsamer Strategien“, nicht nur in Hinblick auf Russland, sondern auch auf andere Regionen und Länder, wie auch auf die Schwierigkeiten, klare Prioritäten und eine gemeinsame Politik zu formulieren (Spencer 2001: 38–39; Sasse 2002: 213–220; Haukkala 2001: 22–80). Obwohl es erhebliche Unterschiede zwischen den strategischen Dokumenten und den wirklichen Zielen gibt, wird die Rhetorik der „Partnerschaft“ beibehalten. Die Diffusion von Regierungs- und Geschäftspraktiken hat natürlich ihre Grenzen. Die Realität des politischen Lebens und die Regeln der Zusammenarbeit zwischen politischen und wirtschaftlichen Akteuren erlauben nur teilweise die Umsetzung der zum „Import“ vorgeschlagenen Normen und Institutionen. Man verwendet sie bei Kontakten mit ausländischen politischen oder wirtschaftlichen Partnern zwar zur äußerlichen Zusammenarbeit, aber zu einem Umbruch der inneren Verhältnisse kommt es nicht. Die Forderungen nach „Demokratisierung“ bleiben so nur eine rhetorische Figur. Nach wie vor investiert die EU nur vereinzelt in die „Demokratisierung“. Es handelt sich dabei um relativ kleine Programme, die von politischen Stiftungen finanziert werden, und um eine kleine Anzahl von Projekten, die nicht durch eine einheitliche Logik verbunden sind, innerhalb der TACIS- Programme „Europäische Initiative für Demokratie und
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Menschenrechte“ (EIDHR) und „Tacis Institution Building Partnership Programme“ (IBPP). Als Beispiel einer „selbstentwickelnden Strategie“, die sich immer weiter von der Realität entfernt, sollte auch die Konzeption des „einheitlichen europäischen Wirtschaftsraums“ genannt werden, dessen Hauptgedanke die allmähliche Aufhebung der wirtschaftlichen Barrieren ist (Gutnik 2003:7–24). Diese Idee wurde 2001 von dem damaligen Präsidenten der Europäischen Kommission Romano Prodi formuliert. Die Hauptelemente sind:
Reformen zur Vermehrung von kleinen und mittleren Unternehmen, die eine Schicht von „Subkontraktoren“ für westliche Firmen sein können Bankenreform Institutioneller Rahmen für Geschäfte mit Risikokapital Formulierung von effektiven Wettbewerbsregeln mit einem Minimalstandard für eine Antimonopolpolitik
Zur Bearbeitung dieser Fragen wurde eine Arbeitsgruppe gegründet (Christenko-Patten). Die Fragen sollten stufenweise entschieden werden, angefangen mit der Aufnahme Russlands in die WTO und dem Abschluss der Wirtschaftsreformen in Russland bis zur strukturellen Annäherung an die EU. Während des Petersburger Gipfels 2003 wurde die Schaffung von vier Räumen vorgeschlagen: Wirtschaftsraum, äußere Sicherheit und Justiz, Wissenschaften und Bildung mit Kultur. Dies sah in Anbetracht der Ereignisse in Russland absurd aus. In der Praxis scheint die Zusammenarbeit zwischen Russland und Europa nur in den folgenden Bereichen noch beiderseitige Priorität zu haben:
Energiedialog; Institutionelle Angleichung für die wirtschaftliche Zusammenarbeit; Sicherheit.
Hiksi Haukkala ist der Meinung, dass ein Vergleich der Verhandlungsstränge im Rahmen des Energiedialoges und der Gespräche zur Schaffung des einheitlichen Wirtschaftsraumes zeige, dass der Energiedialog konkreter und erfolgreicher war (Haukkala 2001: 51). Beide Verhandlungsstränge werden durch den Vertrag über Partnerschaft und Zusammenarbeit begründet und sollen die Wirtschaften sowie die relevanten Gesetze und Normen aneinander angleichen. Das Paradoxon hierbei ist, dass die EU nicht die Hauptrolle spielt, sondern Russlands Beitritt zur WTO. Ohne diesen Schritt sind Diskussionen über einen einheitlichen Wirtschaftsraum aus der Luft gegriffen. Für einen WTO-Beitritt ist nicht nur eine gründliche Überprüfung der russländischen Gesetzgebung notwendig, wobei nicht nur ungefähr tausend Gesetze und normative Akte geändert werden (Prikhodko/Pachomov 2001: 13), sondern auch beträchtliche wirtschaftliche Verluste in Kauf genommen werden müssen. Nichtsdestotrotz wurde im Mai 2004 ein Abkommen erreicht, das Verhandlungen über den Zugang zum Markt abschloss. Dies war eine weitere Etappe auf dem Weg Russlands in die WTO. Russland verpflichtete sich dazu, die Zölle auf fossile Brennstoffe zu erhöhen, um Gewinn und Investitionen zu berücksichtigen, die für die Erschließung neuer Vorkommen nötig sind. Bei dem gleichen Treffen wurde auch die Bereitschaft erklärt, die Visaregelung aufzuheben (Stepanov 2004: 34–40).
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Europa wird noch längere Zeit von russländischen Öl-, Gas- und Stromlieferungen abhängig sein, daher ist es an stabilen Beziehungen und langfristigen Verträgen interessiert. Dabei verlagert sich der Schwerpunkt von Kohle und Öl auf Gas; außerdem verlangt die globalisierte Weltwirtschaft immer mehr Energieressourcen. Im letzten Jahrzehnt ist der Bedarf an Erdgas in Europa um 20% gestiegen; bis 2020 wird der Gasimport in die EU nach Schätzungen von Experten von 200 Mrd. Kubikmetern auf 500 Mrd. Kubikmetern steigen. Gegenwärtig werden zwei Drittel des russländischen Gases und die Hälfte des russländischen Öles nach Europa exportiert. Es muss in diese Branchen investiert werden, aber westliche Firmen, die in diesem Bereich aktiv sind, werden mit beträchtlichen Problemen konfrontiert. Die Stabilisierung dieser Lage soll Gegenstand des „Energiedialogs“ werden, der im Jahre 2000 von der EUKommission initiiert wurde. Hierbei wird das Hauptaugenmerk darauf gelegt, dass Russland europäische Standards und Regeln implementiert, darunter auch die Rechtsnormen für seinen Beitritt zur Energiecharta (Pinder 2002: 19–20). Das ist eine Vorbedingung für größere Investitionen, die nötig sind, um eine Infrastruktur aufzubauen (z.B. neue Gasleitungen). Außerdem muss der Erdgasmarkt liberalisiert und der Zugang zu Gasleitungen freigegeben werden. Gegen diese Vorschläge ist „Gazprom“, das mehr als 40% des nach Europa importierten Gases liefert (Ševel’kova 2003: 11). Daher macht der sowohl für Europa als auch für Russland so wichtige Energiedialog so wenig Fortschritte (Luk’janov 2003: 5–10). Russland ist der größte Empfänger von Investitionen der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE bzw. EBRD); durch diese Bank wird auch die Finanzierung durch die EU abgewickelt. Als Folge einer solchen Finanzierung stellt die EBWE zusätzliche Investitionen zur Verfügung. Die Kooperation zur Sicherung von Stabilität und Sicherheit in Europa und außerhalb, eine der wichtigsten Facetten der „Gemeinsame Strategie der EU für Russland“, hat nicht definiert, welche Rolle Russland konkret in diesem Prozess spielen soll. Nach Heinz Timmermann werden die Probleme, die Russland mit der EU hat, durch die zu große Dichte der Beziehungen und die Notwendigkeit für langfristige Planung verursacht. Im Vergleich dazu seien die Beziehungen zu den USA „einfach“, da sie sich auf den Kampf gegen den Terrorismus und internationale Sicherheit beschränkten (Timmermann 2004: 95). Nach dem 11. September 2001 beließ es Russland im Rahmen des Kampfes gegen den Terrorismus bei einem intensiven Dialog. Dabei zog es Russland vor, in dieser Sphäre mit einzelnen Ländern zu verhandeln, nicht aber mit den Institutionen der EU, vor allem wegen der Differenzen bezüglich des Irakkrieges. Hier werden wir auch mit verschiedenen Ansichten über die Rolle Russlands bei der Garantie von Sicherheit konfrontiert: Für Europa ist es wichtig, dass Russland zu einem Faktor „dauerhaften Friedens auf dem Kontinent“ wird, in anderen Worten, dass es keine Bedrohung mehr darstellt. Russland aber versucht seine Position als internationaler Akteur zu verstärken, z.B. dadurch, dass es an solchen Entscheidungsprozessen teilnimmt und ein Veto gegen militärische Operationen einlegt. Für die EU ist die Kooperation mit Russland in erster Linie auch eine Frage der eigenen Sicherheit im Sinne von soft security. In diesem Zusammenhang geht es darum, das Risiko von Umwelt- und Atomkatastrophen zu verringern und das internationale organisierte Verbrechen zu bekämpfen. Für Russland ist diese Kooperation aber auch von strategischem Interesse. Besonders intensiv findet diese Zusammenarbeit in Grenzgebieten statt, oft werden dabei Strategien benutzt, die sich von denen, die vom Zentrum verkündet werden, unterscheiden (Averre 2003: 63–81).
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Kritisch anzumerken ist, dass diese Programme mit nur geringer Koordinierung und großem bürokratischem Überbau durchgeführt werden. Die Lage wird noch dadurch erschwert, dass eine Vielzahl von nichtstaatlichen und subregionalen Akteuren in diese Programme eingebunden wird (Stålvant 2001). Schon 1999 wurde der Aktionsplan des Programms „Northern Dimension“, das Finnland 1997 initiiert hatte, verabschiedet (Sergounin 2001: 58–80). Dieses Programm, das intensive internationale Kooperation zum Ziel hatte, beinhaltete eine ganze Reihe konkreter Projekte:
Umweltschutz (vor allem Qualität von Wasser und Luft) Nukleare Sicherheit Sicherheit im Energiebereich Entwicklung von humanitären und wissenschaftlichen Ressourcen Gesundheit und Lebensqualität Beseitigung von internationalen Hürden für Waren und Investitionen Kampf mit dem organisierten Verbrechen Lösung des Kaliningrad-Problems.
Für die „Northern Dimension“ wurden alle Haushaltsinstrumente eingesetzt: TACIS, PHARE und INTERREG. Die „Northern Dimension“ war ein wirksames Instrument, um Investitionen in die Nordwest-Region zu ziehen. Nach der Erweiterung der EU wandelt sich das Programm immer mehr zu einem Instrument, um der nichtmilitärischen Bedrohung von Seiten Russlands gegen Länder der EU entgegenzuwirken (Bordačev 2003: 2). 3
Ausblick
Seit dem 1. Mai 2004, als 10 neue Länder der EU beitraten, ist eine neue Situation entstanden. Erstens sind die Probleme, denen sich die EU gegenübersieht, verschärft worden, in Anbetracht der außerordentlichen Vielfalt und der großen wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Mitgliedsländern (Tarasov 2004: 56–63). Zweitens ist der Prozess der Entscheidungsfindung in der EU schwieriger geworden. Drittens ist mit der Verlängerung der Grenze und dem EU-Beitritt von ehemaligen Republiken der UdSSR eine völlig neue geopolitische Situation entstanden. Länder, die sich früher wegen der Einführung eines Visumszwanges und geänderter Handelsbedingungen an Russland orientierten, werden sich jetzt mehr an den anderen EU-Mitgliedsstaaten ausrichten. Der Status der Verträge, die zwischen diesen Ländern und der RF über Energielieferungen abgeschlossen wurden, bleibt unklar. Die Annahme von Antidumping-Gesetzen, technischen Standards und Zertifikationsprozeduren durch die neuen EU-Mitglieder, wie auch die einheitliche Verteidigungs- und Agrarpolitik werden zu hohen Hürden für chemische Erzeugnisse, Lebensmittel, Erzeugnisse des Maschinenbaus, den Waffenexport und den Import von landwirtschaftlichen Produkten führen. Die Einfuhrzölle für eine Reihe traditioneller russländischer Exporte in diese Länder, z.B. für Aluminium und Lebensmittel, werden erhöht. Die neuen EU-Mitglieder werden Subventionen für ihren Agrarsektor erhalten, was ihre Konkurrenzfähigkeit erhöhen und wiederum den russische Produzenten schaden wird.
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Außerdem werden direkte Investitionen in den neuen EU-Mitgliedsstaaten zunehmen, was zu weniger Investitionen in Russland führen kann. Zu guter Letzt erschweren einheitliche Grenzkontrollen die Bewegung von Personen und Waren, was besonders durch das Kaliningrad-Problem verschärft wird (Afoncev 2003: 36–37). Maksim Medvedkov, Leiter der russländischen Delegation bei den Verhandlungen über den Beitritt Russlands zur WTO, bewertet den Gesamtschaden für russländische Exporteure infolge der EU-Erweiterung auf ungefähr 150 Mio. Dollar im Jahr.5 Die Haupthindernisse auf dem Weg der Partnerschaft, wie sie in allen Dokumenten verkündet wird, haben mit der geänderten weltpolitischen Lage im Ganzen zu tun. In erster Linie sind dies die Beziehungen zur islamischen Welt, worunter auch das Verhältnis zu den in Europa lebenden Muslims und der türkische Wunsch, der EU beizutreten, fällt. Zweitens geht es um den Kampf gegen den Terrorismus. Drittens handelt es sich um die Folgen der EU-Osterweiterung. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der EU hat nach Meinung von Experten jetzt ihre Grenzen erreicht (Chudolej 2003: 20). Sowohl die Verhandlungen über den Beitritt Russlands zur WTO als auch der Energiedialog machen bis jetzt nur langsam Fortschritte, ohne eine Entscheidung über diese Problemkreise wird eine Erweiterung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit aber kaum möglich sein. Der politische Dialog baut bis jetzt auf den „Präsumtionen demokratischer Erklärungen“ Russlands auf. Bei der Hilfe zur Demokratisierung hat die EU völlig rational gehandelt, indem sie für diese Programme minimale Mittel ausgab. Akteure von außerhalb können nur marginal einwirken auf politische Prozesse im Land. Die erhaltenen Ressourcen werden von den nationalen Eliten nach einem Schema verteilt, das von der Art des Regimes abhängt. Hinter der russländischen Strategie standen konkrete Interessen: der Handel sollte erweitert, Investitionen erhöht, russländische Schulden abgeschrieben und umstrukturiert, der Beitrittswunsch zur WTO unterstützt werden. Eine äußerst kritische Haltung zu den Demokratisierungsforderungen der EU und zur westlichen Kritik an der russischen Tschetschenienpolitik führt in Russland zu einer skeptischen Haltung gegenüber Dokumenten und Programmen der EU: „Europa hat keinen Bedarf an irgendeiner ‚russländischen Wahl’. Daher wird man dort mit Russland in dem Maße rechnen, in dem Russlands ‚europäische Wahl’ kein Imperativ ist, sondern eine von mehreren Richtungen“ (Kandel’ 2004: 6). Erst vor relativ kurzer Zeit, nach dem Beginn von Putins zweiter Amtsperiode als Präsident und nach der unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Terrorismus betriebenenkonsequenten Demontierung aller demokratischen Institutionen in Russland haben westliche Politiker ernsthaft angefangen, ihre Besorgnis über die autoritären Tendenzen in Russland auszudrücken. Das Potential für Schritte zur Annäherung von Russland und Europa ist schon erschöpft, alle möglichen Erklärungen sowohl von Seiten der EU als auch von Seiten Russlands sind erfolgt. Praktische Schritte haben sich aber als ungleich schwerer herausgestellt. Ein Problem der Beziehungen zwischen Europa und Russland liegt auch in der Asymmetrie von Größe und Ressourcen der Partner begründet. Das Hauptproblem aber ist ein anderes: während von der EU in der Außenpolitik nur Innovationen erwartet werden, 5
Dlja Rossii v rasširenii ES est’ i dostoinstva, i nedostatki (interv’ju s M. Medvedkovym), S. 8.
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muss Russland radikale Veränderungen im Land durchführen, um diese Beziehungen zu vertiefen, was sehr viel mehr Ressourcen und Anstrengungen erfordert (Timmermann 2004: 110). Offensichtlich ist die erhöhte Besorgnis dem Verständnis geschuldet, dass die russländische Transformation keine Demokratisierung war, die strategischen Ziele Europas und der EU aber auch in Kooperation mit einem stabilen autoritären Staat erreicht werden können. Gerade daher werden Aufrufe zu Pragmatismus und „horizontaler Integration“ immer lauter: „In this situation, EU-Russian relations should be guided by pragmatism and new realism. The two partners should not make impossible demands of each other but should seek to close the gap between rhetoric and reality. The EU should view itself as a partner and, if necessary, as a counterweight if Russia’s conduct at home and abroad clashes with European values, concepts of law and order, and interests, as in Chechnya, for example. Admittedly, the EU’s opportunities to influence developments in Russia are limited“ (Ebd.:11).
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Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine Ellen Bos
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Einführung
Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine waren in der Vergangenheit eher durch nicht erfüllte gegenseitige Erwartungen und eine Diskrepanz zwischen offizieller Rhetorik und tatsächlicher Politik geprägt. Insbesondere in der Ära Leonid Kutschma war die ukrainische Europapolitik durch ein Oszillieren zwischen Moskau und Brüssel gekennzeichnet. Sie schien dem Motto „nach Brüssel blinken und nach Moskau abbiegen“ zu folgen. Nach der so genannten orangenen Revolution in der Ukraine, die im Winter 2004 zum Ende der Ära Kutschma führte und die Wahl Wiktor Juschtschenkos zum ukrainischen Präsidenten ermöglichte, schien sich dann die Chance für einen grundlegenden Wandel der ukrainisch-europäischen Beziehungen zu eröffnen. Die Ukraine wurde im Westen sehr viel positiver wahrgenommen, und der neue Präsident Juschtschenko schickte sich an, die rein deklaratorische EU-Politik seines Vorgängers durch eine glaubwürdige Integrationspolitik zu ersetzen. Eine Rolle spielte auch, dass die EU bereits bei der Beilegung der Krise in der Ukraine eine wichtige Rolle gespielt hatte. So hatten der Hohe Vertreter für die GASP (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU), Javier Solana, ebenso wie die Präsidenten Polens, Alexander Kwasniewski, und Litauens, Valdas Adamkus, als Repräsentanten der EU maßgelblich zur Vermittlung zwischen der ukrainischen Opposition und den Vertretern des Kutschma-Regimes beigetragen. Doch schon bald sollte sich zeigen, dass die Erwartungen der neuen ukrainischen Führung in der EU auf wenig Resonanz stießen. So ließ Präsident Juschtschenko nach seiner Amtseinführung zwar zunächst keine Gelegenheit ungenutzt, die Aufnahme der Ukraine in die EU zu fordern. Die EU reagierte auf diese Forderungen trotz aller Euphorie über die ukrainische Revolution allerdings mit großer Zurückhaltung. Spitzenvertreter der EU hielten an der seit 2002 vertretenen Position fest, dass es für die Ukraine keine Beitrittsperspektive gebe. Spätestens nach den Parlamentswahlen des Jahres 2006 trat auf Seiten der EU dann endgültig wieder Ernüchterung ein. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf den außenund europapolitischen Kurs des Nachbarstaates. Die Situation nach dem Regierungsantritt von Ministerpräsident Wiktor Janukowitsch im August 2006 weist tatsächlich wieder viele Parallelen zur Kutschma-Zeit auf. Denn zwischen den von Präsident und Ministerpräsident vertretenen außenpolitischen Positionen gibt es keine Übereinstimmung. Juschtschenko steht für die schnelle Integration in EU und NATO, Janukowitsch für einen stärker an Moskau orientierten Kurs. Im folgenden wird zunächst die Entwicklung der Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine seit dem Zerfall der Sowjetunion im Dezember 1991 nachvollzogen Anschließend wird auf die Europäische Nachbarschaftspolitik eingegangen, die von der EU nach der Osterweiterung als Strategie gegenüber ihren neuen Nachbarn im Osten entwickelt wurde und seitdem für die ukrainisch-europäischen Beziehungen maßgeblich ist. Im dritten Teil
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sollen die aktuellen Entwicklungen in der Europapolitik der Ukraine und der Ukrainepolitik der Europäischen Union beleuchtet und einer kritischen Bewertung unterzogen werden. 2
Die Entwicklung der Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine 1991-2004
Nachdem die Ukraine Ende 1991 ihre Unabhängigkeit erreicht hatte, betrieb sie außenpolitisch einen Kurs, der auf eine Annäherung an den Westen ausgerichtet war. Im Jahr 1993 wurden Gespräche mit der Europäischen Kommission über ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen aufgenommen, das im Juni 1994 unterzeichnet wurde. Allerdings konnte das Abkommen, das von der Ukraine bereits 1995 ratifiziert wurde, erst am 1. März 1998 in Kraft treten. Begründet wurde dies durch die Notwendigkeit der Vertragsratifizierung in allen 15 Mitgliedsstaaten. Die lange Dauer des Ratifizierungsprozesses ist aber zweifellos auch auf eine unentschlossene und zögerliche Haltung in vielen europäischen Mitgliedsstaaten zurückzuführen (Durkot 2003: 33f.). Trotz des langen Ratifizierungsprozesses wurde von der ukrainischen Staatsführung der Wunsch nach einer zukünftigen Mitgliedschaft in der Europäischen Union immer deutlicher artikuliert. So erklärte der im Jahr 1994 gewählte ukrainische Präsident Leonid Kutschma im Jahr 1996 die Integration in die euro-atlantischen Strukturen erstmals zum strategischen Ziel. Gleichzeitig wurde aber auch die Doktrin einer multivektoralen oder zweigleisigen Außenpolitik eingeführt und Russland als der wichtigste strategische Partner charakterisiert. Diese wenig eindeutige außenpolitische Positionsbestimmung wurde auch in der Ukraine als Unentschlossenheit und „fauler Kompromiss“ kritisiert. So spottete man in der Ukraine, „dass die momentane außenpolitische Orientierung des Landes davon abhängig sei, wo sich der ukrainische Präsident gerade aufhalte – in Moskau oder in einer europäischen Hauptstadt“ (Durkot 2003: 35). Nach dem Inkrafttreten des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens verblieb der Dialog zwischen der Ukraine und der EU weitgehend auf der Ebene von Deklarationen. Während die ukrainische Führung auf einen Assoziierungsstatus und eine klare Beitrittsperspektive drängte, verwies die EU auf die Notwendigkeit innenpolitischer Reformen und forderte die vollständige Umsetzung des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens. Die Verständigung auf weitere Vereinbarungen wurde davon abhängig gemacht. Dennoch wurden von Präsident Kutschma Dokumente unterzeichnet, die die Ukraine dem Ziel eines EU-Beitritts näher bringen sollten. So unterschrieb er im Sommer 1998 die „Strategie für die europäische Integration der Ukraine“ und vier Jahre später einen Fahrplan zum EU-Beitritt der Ukraine (Durkot 2003: 36). Die von Kutschma unter dem programmatischen Titel „Europäische Wahl“ am 18. Juni 2002 an das ukrainische Parlament gerichtete jährliche Adresse sollte laut ihrem Untertitel „konzeptionelle Grundlagen der Strategie der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Ukraine 2002 bis 2001“ liefern. Die Strategie orientierte sich ausdrücklich an den Kopenhagener Kriterien. Diese sollten in einem mehrstufigen Verfahren umgesetzt werden. Danach sollte bis zum Jahr 2004 eine Freihandelszone erreicht werden, im Zeitraum 2005 bis 2007 dann eine Zollunion. Für das Jahr 2007 sah Kutschma ein Assoziierungsabkommen mit der EU vor, dem schließlich im Jahr 2011 der EU-Beitritt der Ukraine folgen sollte (Timmermann 2003: 12). Die EU reagierte auf diese Initiativen sehr zurückhaltend. Es kam lediglich zur Verabschiedung einer „Gemeinsamen Strategie für die Ukraine“ auf dem EU-Gipfel in Helsinki im Dezember 1999. Diese beschränkte sich allerdings darauf, die pro-europäische Wahl der
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Ukraine zu begrüßen und die auf die EU gerichteten Aspirationen zu würdigen. Eine Beitrittsperspektive wurde zur Enttäuschung der Ukraine aber nicht eröffnet. Die Zurückhaltung auf europäischer Seite erklärt sich zunächst aus der allenfalls mangelhaften Umsetzung des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens. Wichtiger war aber die innenpolitische Entwicklung in der Ukraine. Hier setzte sich insbesondere nach der Wiederwahl Kutschmas im Jahr 1999 ein Trend in Richtung Autoritarismus durch. Demokratische und rechtsstaatliche Standards wurden immer offensichtlicher verletzt (Bos 2006). Die von Präsident Kutschma immer wieder verkündete europäische Wahl der Ukraine wurde in keiner Weise mit Substanz gefüllt. Es blieb bei rhetorischen Floskeln, denen keine Taten folgten. Die Diskrepanz zwischen dem offiziell angestrebten Beitritt und der innenpolitischen Lage wurde ständig größer. Ein amerikanischer Diplomat kommentierte diese Diskrepanz wie folgt: „Zum ersten Mal sehe ich ein Land, das sich offiziell um eine Mitgliedschaft in den euro-atlantischen Strukturen bemüht, in der Tat jedoch alles tut, um demokratische Standards zu untergraben“ (zitiert nach Durkot 2003: 37). Der Hohe Vertreter der GASP, Javier Solana, urteilte, es entstehe der Eindruck, dass die Ukraine nicht nach den Regeln, sondern mit den Regeln spiele (Durkot 2003: 38). Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang z.B. auf die eingeschränkte Medienfreiheit sowie auf die Manipulationen der Parlamentswahlen 2002. Bezeichnend für die innenpolitische Entwicklung war, dass die Ukraine von der Internationalen Journalistenvereinigung Reporter ohne Grenzen in ihrem erstmals im Jahr 2002 veröffentlichten jährlichen Index der Pressefreiheit regelmäßig schlecht positioniert wurde. Vom Komitee zum Schutz von Journalisten wurde Leonid Kutschma in den Jahren 1999 und 2001 gar unter den 10 schlimmsten Feinden der Pressefreiheit weltweit angesiedelt. Schließlich erscheint die Ukraine in dem von Transparancy International jährlich erstellten Index der Korruption seit 1999 immer in der Gruppe der korruptesten Staaten der Welt. Aufgrund der wachsenden Diskrepanz zwischen Rhetorik und innenpolitischer Entwicklung erteilten schließlich europäische Politiker und ranghohe Beamte den Beitrittsambitionen der Ukraine öffentliche und deutliche Absagen. So sprach der damals für die Erweiterung zuständige EU-Kommissar Verheugen der Ukraine auf dem europäischen Wirtschaftsgipfel in Salzburg im September 2002 eine Beitrittsperspektive ab. Präsident Kutschma zeigte sich davon wenig beeindruckt und relativierte die Absage als persönliche Meinung von Verheugen: „Verheugen ist doch nicht die gesamte Europäische Union“ (zitiert nach Durkot 2003: 39). Auch der damalige Kommissionspräsident Prodi äußerte sich wenige Monate nach Verheugen dahingehend, dass die Ukraine niemals der EU beitreten werde. Vor allem aufgrund der endemischen Korruption deponierte er die Ukraine in der Schublade der „hoffnungslosen Fälle“ (NZZ 24.12.2004). Schließlich ermahnte auch der Hohe Vertreter für die GASP Kutschma, er sollte sich an Vereinbarungen halten und nach den Regeln spielen. Der Kurs, den die Ukraine eingeschlagen habe, führe nicht zu einer Annäherung an europäische Institutionen. Solana riet der ukrainischen Führung zu einem Kurswechsel. Seit Anfang 2002 wurde außerdem sichtbar, dass sich im Dialog zwischen der Europäischen Union und der Ukraine die Akzente verschoben hatten. Während früher EUDiplomaten immer wieder die Einhaltung der Kopenhagener Kriterien gefordert hatten, wurden solche Forderungen trotz der zahlreichen Verstöße der Ukraine gegen demokratische und rechtsstaatliche Standards immer seltener. Ukrainische Beobachter interpretierten dies zu Recht so, dass die EU die Ukraine inzwischen „aufgegeben“ habe. In die gleiche
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Richtung deutete auch die Entscheidung der EU, die Ukraine gemeinsam mit Weißrussland und Moldawien im Rahmen der neuen Nachbarschaftspolitik den Status eines Nachbarstaates ohne Beitrittsperspektive zu geben (Durkot 2003: 40). Trotz der geänderten Situation hielt die ukrainische Außenpolitik an ihrer auf einen Beitritt gerichteten Linie fest. Ende April 2002 bezeichnete etwa der damalige ukrainische Außenminister Anatolij Slenko als wichtigstes außenpolitisches Ziel der Ukraine, von der EU eine klare Beitrittsperspektive zu erhalten (Durkot 2003: 40). Dessen ungeachtet blieb es aber bei einer Haltung, die der vollständigen Umsetzung des Partnerschafts- und Kooperationsabkommen sowie der Anpassung der nationalen Gesetzgebung an die Standards der EU keine besondere Priorität beimaß. Gleichzeitig sah man sich mit den negativen Folgen der bevorstehenden Osterweiterung konfrontiert. Diese bedeutete, dass die Einführung von Visa für den Verkehr zwischen der Ukraine und den neuen Mitgliedern Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn unvermeidlich wurde. Während die EU also immer deutlicher von einer Beitrittsperspektive abrückte und diese schließlich explizit zurückwies, beharrte die Ukraine auf ihren Beitrittsambitionen. Die Nachbarschaftspolitik der EU und der damit verbundenen Status eines EUNachbarlandes wurden als inakzeptabel zurückgewiesen. Damit waren die Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine endgültig in eine Sackgasse geraten. Nicht zu übersehen war auch, dass die Ukraine wieder näher an Russland heranrückte.
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Die Europäische Nachbarschaftspolitik
Die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) wurde von der EU im Zuge der Osterweiterung als neue Strategie gegenüber den Nichtmitgliedern im Osten Europas und am südlichen Mittelmeer entwickelt. Sie nahm mit einer Mitteilung der Europäischen Kommission „Größeres Europa – Nachbarschaft: Ein neuer Rahmen für die Beziehungen der EU zu ihren östlichen und südlichen Nachbarn“ im März 2003 ihren Anfang.1 Im Mai 2004 legte die Kommission dann ein Strategiepapier „Europäische Nachbarschaftspolitik” vor, in dem die ENP konkretisiert wurde.2 Ziel der ENP ist es, „die Vorteile der Erweiterung, nämlich Stabilität, Sicherheit und Wohlstand, mit den Nachbarländern der EU zu teilen, jedoch in einer anderen Form als durch die EU-Mitgliedschaft”. Das Entstehen neuer Trennlinien in Europa soll verhindert werden. Im Strategiepapier vom Mai 2004 heißt es: „Die Vision der Europäischen Nachbarschaftspolitik ist ein Ring aus Ländern, die die grundlegenden Werte und Ziele der EU teilen und in eine zunehmend engere Beziehung eingebunden werden, die über die Zusammenarbeit hinaus ein erhebliches Maß an wirtschaftlicher und politischer Integration beinhaltet. Das wird allen Beteiligten in Bezug auf Stabilität, Sicherheit und Wohlstand enorme Vorteile bringen” (S. 5). Die ENP bietet damit eine Perspektive enger Zusammenarbeit an, allerdings unterhalb der Beitrittsschwelle.3 1
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Mitteilung der Kommission an den Rat und as Europäische Parlament. Größeres Europa – Nachbarschaft: Ein neuer Rahmen für die Beziehungen der EU zu ihren östlichen und südlichen Nachbarn, KOM(2003)393 endg. V.1.7.2003. Mitteilung der Kommission, Europäische Nachbarschaftspolitik – Strategiepapier, KOM(2004)373 endg. V. 12.5.2004. Die ENP richtet sich in Europa an Russland, die Ukraine, Belarus und Moldau. Im Mittelmeerraum richtet sie sich an alle nicht der EU angehörenden Teilnehmer der Europa-Mittelmeer-Partnerschaft, das sind: Algerien, Ägypten, Israel, Jordanien, Marokko, Syrien, Tunesien und die Palästinensische Autonomiebehörde. Im Juni 2004 wurde die ENP auch auf die Region des südlichen Kaukasus ausgedehnt. Konkret wurden
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Seit diese Politik auf den Weg gebracht wurde, hat die EU hervorgehoben, dass die ENP „ein Instrument zur Stärkung der Beziehungen zwischen der EU und Partnerländern darstellt, das sich von den europäischen Ländern nach Artikel 49 des Vertrags über die Europäische Union zur Verfügung stehenden Möglichkeiten unterscheidet“ (S. 3). Artikel 49 des EU-Vertrages lautet bekanntlich: „Jeder europäische Staat, der die in Art. 6 Abs. 1 genannten Grundsätze achtet, kann beantragen, Mitglied der Union zu werden. Er richtet seinen Antrag an den Rat; dieser beschließt einstimmig nach Anhörung der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments, das mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder beschließt“. Die in Art. 6 Abs. 1 verankerten Grundsätze sind Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschendrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit. Nach dem EU-Vertrag kann also jeder europäische Staat, der die Grundsätze der Demokratie beachtet, die Mitgliedschaft in der Union beantragen. Auch im Entwurf der europäischen Verfassung findet sich eine ähnliche Formulierung. Dort heißt es: „Die Union steht allen europäischen Staaten offen, die die in Art. 2 genannten Werte achten und sich verpflichten, ihnen gemeinsam Geltung zu verschaffen“. Als gemeinsame Werte, der Union werden aufgeführt: „Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte“. Weiter heißt es: „[D]iese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und Nichtdiskriminierung auszeichnet.“ Die im EU-Vertrag verankerten Beitrittskriterien waren im Juni 1993 auf dem EUGipfel in Kopenhagen durch die so genannten Kopenhagener Kriterien ergänzt worden. Diese enthalten folgende Beitrittsbedingungen: Erstens müssen Demokratie Rechtsstaatlichkeit und Einhaltung der Menschenrechte einschließlich des Minderheitenschutzes garantiert sein; zweitens muss eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung und Wettbewerbsfähigkeit auf dem gemeinsamen Markt vorhanden sein; drittens muss der so genannte acquis communautaire in die Rechtsordnung der neuen Mitgliedsstaaten übernommen worden sein und außerdem muss sich das neue Mitglied zum Ziel der Politischen Union und der Währungsunion bekennen; viertens muss die EU einstimmig zu der Auffassung kommen, dass die Aufnahme neuer Mitglieder die Union nicht institutionell und politisch so überfordert, dass die Vertiefung der europäischen Integration dadurch in Frage gestellt wird. Mit der ENP wird nun also im Grunde eine implizite Modifizierung der bisherigen Politik, insbesondere von Artikel 49 des EU-Vertrages vorgenommen. Denn gemäß der ENP lautet der erste Satz nun nicht mehr: „Jeder europäische Staat, der die in Art. 6 Abs. 1 genannten Grundsätze achtet, kann beantragen, Mitglied der Union zu werden”, sondern eigentlich „Jeder europäische Staat außer der Ukraine, Weißrussland, Moldawien, der die in Art. 6 Abs. 1 genannten Grundsätze achtet, kann beantragen, Mitglied der Union zu werden”. Denn die ENP benennt die Staaten, für die Artikel 49 keine Gültigkeit haben soll. Es fehlt allerdings eine Begründung für diese Einschränkung. Die im Rahmen der ENP vorgesehene Methode besteht darin, zusammen mit den Partnerländern eine Reihe an Prioritäten festzulegen, deren Erfüllung sie näher an die Europäische Union heranrückt. Diese Prioritäten werden in gemeinsam vereinbarten Aktionspläne aufgenommen und beziehen sich auf besondere Maßnahmen in einigen zentralen Bereichen: politischer Dialog und Reform; Handel und Maßnahmen für die Vorbereitung der Armenien, Aserbaidschan und Georgien in die ENP aufgenommen.
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Partner auf die allmähliche Teilnahme am EU-Binnenmarkt; Justiz und Inneres, Energie, Verkehr, Informationsgesellschaft, Umwelt, Forschung und Innovation sowie Sozialpolitik und Kontakte der Bevölkerung („people-to-people“). Die privilegierte Partnerschaft mit den Nachbarn soll auf einer gegenseitigen Verpflichtung auf gemeinsame Werte in erster Linie in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, verantwortungsvolles Regieren, Achtung der Menschenrechte einschließlich der Minderheitenrechte, Förderung gutnachbarschaftlicher Beziehungen und die Prinzipien der Marktwirtschaft und der nachhaltigen Entwicklung beruhen. Darüber hinaus wird ein Engagement für bestimmte wesentliche Aspekte des auswärtigen Handelns der EU angestrebt wie insbesondere die Bekämpfung des Terrorismus und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen sowie die Einhaltung des Völkerrechts und Anstrengungen zur Konfliktlösung (Stratenschulte 2004: 68ff.). Die ENP unterscheidet sich also klar von einer Vor-Beitrittspolitik. Sie zielt stattdessen auf eine dauerhafte und intensive Partnerschaft mit Nicht-Mitgliedern der EU. Das Angebot der EU umfasst zwar einen „erheblicher Grad an Integration“, so wird die Teilnahme am Binnenmarkt und an anderen zentralen Aspekten der Politiken der EU in Aussicht gestellt. Allerdings würde die Teilnahme am Binnenmarkt voraussetzen, dass die Partnerländer zumindest den wirtschaftlichen Teil des acquis communautaire übernehmen müssten, ohne dass ihnen ein Mitspracherecht zukommen würde. Für die Teilnahme an anderen Politiken der EU ergibt sich ein ähnliches Dilemma. So müssten sich Staaten wie beispielsweise auch die Ukraine auf die Ausführung von EU-Beschlüssen beschränken, ohne dass sie am Zustandekommen der Beschlüsse beteiligt würden. Dies erscheint wenig attraktiv. Die fehlende Aussicht auf eine spätere Mitgliedschaft hat aber vor allem zur Folge, dass der EU der in der Vergangenheit so erfolgreich eingesetzte zentrale Transformationsanreiz nicht zur Verfügung steht, um gewünschte Reformprozesse in Gang zu setzten bzw. zu unterstützen. Dies gilt in besonderem Maße auch für die Beziehungen zur Ukraine. 4
Die Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine seit 2005
Die zur Jahreswende 2004/2005 erfolgte demokratische Emanzipation der Ukraine bedeutete für die EU eine große Herausforderung. Der neue Präsident Wiktor Juschtschenko ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass ein schneller EU-Beitritt der Ukraine zu seinen prioritären politischen Zielen zählte. So kündigte er nach seiner Vereidigung am 23. Januar 2005 vor mehreren Hunderttausend Menschen auf dem Unabhängigkeitsplatz nicht nur eine umfassende Demokratisierung des Landes an, sondern auch, dass die Ukraine einen Platz in der Europäischen Union anstreben werde. Juschtschenko sagte: „Unser Weg in die Zukunft ist der Weg eines vereinigten Europa. Zusammen mit den Völkern Europas gehören wir zu ein und derselben Zivilisation. Wir bekennen uns zu denselben Werten“. Weiter sagte er: „Wir befinden uns nicht mehr am Rande Europas. Wir sind im Zentrum Europas“ (NZZ 24.1.2005). Wenige Tage später, am 25. Januar 2005, versprach Juschtschenko bei seinem Auftritt vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg, dass sein Land die mit der 1995 erfolgten Aufnahme in den Europarat eingegangenen Verpflichtungen nun endlich erfüllen werde. Die entsprechenden Gesetze könnten in etwa sechs Monaten verabschiedet werden. Er bat um die Unterstützung des Europarates bei einer Politik, die auf die praktische Umsetzung der Demokratie- und Rechtsnormen gerichtet sei. Ziel sei es, die
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Unabhängigkeit der Justiz zu erreichen, um so den Demokratisierungsprozess irreversibel zu machen. Juschtschenko skizzierte in seiner Rede vor der Parlamentarischen Versammlung auch den Weg der Ukraine in die EU. Dieser Weg sollte mit Hilfe eines Fünfjahresplanes erreicht werden. Die Umsetzung der Normen des Europarates hätte dabei Priorität, da dies gleichzeitig der Erfüllung der Kopenhagener Kriterien der EU bedeute, was die Voraussetzung für die angestrebte EU-Mitgliedschaft bilde. Weiter sollten ökonomische Reformen garantieren, dass die Ukraine auch fit für eine WTO-Mitgliedschaft werde. Auf die Frage eines Abgeordneten, wann mit dem Beitrittsantrag der Ukraine zu rechnen sei, gab Juschtschenko folgende Antwort: „mit dauerndem Anklopfen und mit Rhetorik könne man nicht in dieses Haus eintreten, sondern nur mit Leistung. Die Ukraine werde so lange hart arbeiten, bis die Union sagt: ‚Wir warten auf Sie’“ (NZZ 26.1.2005). Einen Monat später, bei einem Auftritt vor dem Europäischen Parlament in Straßburg präzisierte Juschtschenko den EU-Beitrittswunsch. Er kündigte an, im Jahr 2007 einen Aufnahmeantrag zu stellen. Er äußerte sich überzeugt davon, dass Beitrittsverhandlungen schon bald nach dem Aufnahmeantrag beginnen könnten, weil die Ukraine bis dahin durch umfangreiche Reformen die Beitrittsvoraussetzungen erfüllt haben werde. Auch den bereits im Januar angesprochenen Fünfjahresplan, der den Weg in die EU ebnen soll, präzisierte Juschtschenko. Im Vordergrund der im Fünfjahresplan festgelegten Reformmaßnahmen ständen der Aufbau einer transparenten Marktwirtschaft, die Bekämpfung der Korruption, die Schaffung einer unabhängigen Justiz und die Gewährleistung der Medienfreiheit. Weiter kündigte er die Anpassung der Verwaltung an die Normen der EU an. Der erste wichtige Schritt sei die Umsetzung des im Rahmen des Aktionsplans der EU-Nachbarschaftspolitik im Januar vereinbarten Zehn-Punkte-Plan. Der zweite Schritt solle dann der Abschluss eines Assoziationsabkommens sein. Juschtschenko sagte, dass sein Land zwar noch einen weiten Weg bis zur Mitgliedschaft in der EU zurücklegen müsse, aber dass der eingeschlagene Weg unumkehrbar sei: „Unsere Wahl für Europa ist endgültig.“ Für diese Aussagen wurde Juschtschenko von den Abgeordneten mit stehenden Ovationen gefeiert (NZZ 24.2.2005). Vor seinem Deutschlandbesuch im März 2005 ließ Juschtschenko in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung erneut keinen Zweifel an seinen Ambitionen, die Ukraine schnell in die EU zu führen: „Wir möchten heute schon beginnen, die Integration der Ukraine in die EU voranzutreiben, ein Ziel das wir in zehn Jahren erreichen wollen.“ Von der deutschen Regierung erwartete Juschtschenko „Unterstützung unseres Kurses der Integration in die EU“. Er verstehe die Skepsis der Deutschen gegenüber der Osterweiterung und er kenne die Debatte über eine Aufnahme der Türkei. Dies dürfe aber nicht bedeuten, „dass der Ukraine der Weg zur EU verbaut, dass eine Entscheidung darüber vertagt wird. Dies wäre ein großer Fehler“. Auf die Frage, was die Ukraine der EU biete, antwortete Juschtschenko: „Ein Land mit 48 Millionen Einwohnern, mit einer starken Industrie, einem hochspezialisierten Rüstungssektor, das modernste Schiffe baut und Trägerraketen, die heute in der gesamten Welt Verwendung finden, das über wichtige Rohstoffe verfügt, muss selbstverständlich wirtschaftlich interessieren. Auch kann die Ukraine der Garant für Stabilität, Sicherheit und letztlich auch Demokratisierung der Region sein. Wir sind uns im Klaren darüber, dass wir auf dem Weg dahin noch sehr viele Hindernisse überwinden müssen.“ Weiter betonte er: „Europa wird ohne die Ukraine nicht komplett sein. Wir sind keine Nachbarn Europas, wir sind Teil
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von Europa, wir sind Europa! Also wollen wir auch ein Teil der Europäischen Union werden, selbstverständlich mit ihren Werten. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass wir nun wohl die letzte Generation von Politikern sind, die es schaffen kann, Europa zu einigen“ (SZ 21.3.2005). Auch in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 9. März 2005 bekräftigte der ukrainische Präsident seine Entschlossenheit zur Integration seines Landes in die EU und appellierte an Deutschland und die EU, der Ukraine möglichst schnell den Weg in die EU zu ebnen. Die Ukraine sei ein „unentbehrlicher Teil des vereinten Europa und der europäischen Völkerfamilie“, die Ukrainer fühlten sich als Europäer. Er „sehe die Ukraine in nicht allzu ferner Zukunft im vereinten Europa (SZ 21.3.2005). Im Hinblick auf die Beziehungen der Ukraine zu Russland hab Juschtschenko zwar darauf ab, dass Russland der „ewige strategische Partner der Ukraine“ sei. Weiter betonte er, dass die Ukraine an freundschaftlichen Beziehungen zu Russland sehr interessiert sei und sich die ukrainische Außenpolitik gegen niemanden richte. Gleichzeitig stellte er aber klar, dass die Zusammenarbeit mit Russland […] die Integration mit Europa nicht blockieren dürfe (SZ 21.3.2005). Dass Juschtschenko im Gegensatz zu seinem Vorgänger tatsächlich einen eindeutig auf EU-Integration gerichteten Kurs verfolgte, stellte er beim ersten Ukraine-Besuch des russischen Präsidenten Putin nach dem Machtwechsel in Kiew dadurch unter Beweis, dass er dem Beitritt der Ukraine in einen gemeinsamen Wirtschaftsraum mit Russland, Weißrussland und Kasachstan eine klare Absage erteilte (SZ 21.3.2005). Präsident Juschtschenko beließ es nicht bei EU-freundlicher Rhetorik. Die Ernsthaftigkeit seines EU-Kurses schlug sich auch in konkreten Maßnahmen nieder. Diese zeigten sich nicht zuletzt in einer Umstrukturierung der Regierung. So wurde die Zuständigkeit für Europa dem Wirtschaftsministerium entzogen und einem eigenen Ressort übertragen. Der zentrale Stellenwert der Beziehungen zur EU spiegelte sich auch darin, dass der Inhaber dieses Ressorts gleichzeitig den Rang eines stellvertretenden Regierungschefs innehatte. Oleg Rybatschuk, dem die Zuständigkeit für Europa übertragen wurde, war in der neuen ukrainischen Regierung für die Koordinierung der Europapolitik zuständig. In jedem Ministerium wurde die Position eines Vizeministers für Europafragen geschaffen, der direkt Rybatschuk unterstellt war. In allen Ministerien sollte außerdem eine Abteilung für europäische Integration geschaffen werden, um auf diese Weise die Umsetzung des EU-UkraineAktionsplans in den einzelnen Ressorts sicher zu stellen (Schneider 2005: 3). Auch durch die Ernennung von Boris Tarasjuk zum Außenminister wurde die Glaubwürdigkeit des auf die EU gerichteten Kurses unterstrichen. Tarasjuk, der das Außenministerium bereits einmal unter Präsident Kutschma innegehabt hatte, war von diesem im September 2000 nicht zuletzt aufgrund seiner zu großen Europafreundlichkeit entlassen worden. Ziel Juschtschenkos ist es, seinen Traum von einem EU-Beitritt der Ukraine am Ende seiner zweiten Amtszeit, d.h. in zehn Jahren verwirklicht zu haben. Die Erwartung, dass die Ukraine bereits in der ersten Jahreshälfte 2006 ihr Beitrittsgesuch einreichen werde, erfüllte sich allerdings aufgrund der innenpolitischen Entwicklung in der Ukraine nicht. Kurzfristige Ziele Juschtschenkos waren die Anerkennung des Marktwirtschaftsstatus durch die EU, die Aufnahme in die WTO und Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit der EU. Weiter wollte er eine Vereinfachung der Visumsbestimmungen für Studenten, Journalisten und Diplomaten sowie Fortschritte im Energiedialog erreichen. Außer-
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dem plante er mit Unterstützung der EU eine Modernisierung der ukrainischen Grenzen, um diese an europäische Standards anzupassen. Der europafreundliche Kurz der neuen ukrainischen Regierung und ein EU-Beitritt der Ukraine werden von einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung unterstützt (Durkot 2003: 45; Ukraine-Analysen Nr. 17, 2006, S. 14). Auch im ukrainischen Parlament stellt sich nur die kommunistische Fraktion offen gegen einen EU-Beitritt (Kuzio 2006: 90). Während also Juschtschenko ständig seine Entschlossenheit bekundete, die Ukraine möglichst zügig in die EU zu führen, hielten Kommission und Ministerrat an ihrer bisherigen Strategie fest, die Beziehungen der Ukraine im Rahmen der ENP weiterzuentwickeln. Entsprechend sollte der bereits im Dezember 2004 vorgestellte Aktionsplan für die Nachbarschaftspolitik als Grundlage für das europäisch-ukrainische Verhältnis Bestand haben. Kommission und Ministerrat sind sich darin einig, jeden Hinweis auf eine Mitgliedsperspektive zu vermeiden. Die Strategie besteht stattdessen darin, das Angebot an die Ukraine im Rahmen der Nachbarschaftspolitik aufzubessern (NZZ 22./23./1.2005). Konkret bedeutete das eine Ergänzung des Aktionsplans bzw. eine Veränderung des darin festgelegten zeitlichen Ablaufs. Dies bezog sich auf die Anerkennung des Marktwirtschaftsstatus, den Abschluss eines Freihandelsabkommens und die Gewährung von Visumserleichterungen. Auch die geplanten Gespräche über ein Folgeabkommen wurden früher terminiert. Allerdings enthielt auch das nachgebesserte Angebot der EU keine Beitrittsperspektive (NZZ 22./23./1.2005). Kommissionspräsident Barroso erklärte etwa im Januar 2005, der Beitritt der Ukraine stehe nicht auf der Tagesordnung. (NZZ 22./23./1.2005) Die EU sei „offen für engere Beziehungen zur Ukraine“, ein Beitritt sei aber derzeit nicht geplant (SZ 28.1.2005). Auch die EU-Außenminister reagierten auf die Beitrittsambitionen der neuen ukrainischen Führung eher ablehnend. Sie bekräftigen im Februar 2005, dass sie die Ukraine nicht als Beitrittskandidaten betrachteten und verabschiedeten lediglich einen Aktionsplan zur Vertiefung der Beziehungen im Rahmen der ENP (NZZ 24.2.2005). Beitrittsverhandlungen mit der EU wurden von der damaligen luxemburgischen Ratspräsidentschaft als „unrealistisch“ qualifiziert (SZ 10.3.2005). Die Außenkommissarin der EU, Benito Ferrero-Waldner, äußerte sich am 1. Dezember 2004 vor dem Europäischen Parlament ähnlich, bezog dabei aber eine etwas flexiblere Position als Kommission und Ministerrat: „Die Frage eines EU-Beitritts der Ukraine stellt sich im Moment nicht. Allerdings ist auch ganz klar, dass wir keine Türen zuschlagen wollen. Natürlich hängt die Qualität unserer Partnerschaft auch von der Qualität der Demokratie in der Ukraine ab.“4 Im Hinblick auf die ENP betonte sie, dass diese die Frage über einen Beitritt der Ukraine nicht präjudiziere. Die Frage einer Mitgliedschaft würde aber von den realen Aufgaben und Problemen nur ablenken. Dringend sei die Umsetzung von Reformen. Diese Reformen seien für eine Mitgliedschaft notwendig, aber auch unabhängig davon wichtig für das Wohl der Ukraine. Energien sollten in den Reformprozess und nicht in nutzlose Spekulationen investiert werden.5 Weiter sagte sie: Es wäre „ein Jammer, die Nachbarschaftspolitik fallen zu lassen, ehe sie überhaupt begonnen hat“. Sie warb für eine „pragmatische“ Herangehensweise. In der ganzen Debatte müsste berücksichtigt werden, 4
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Benita Ferrero-Waldner: Situation in der Ukraine. Plenarsitzung des Europäischen Parlamentes, Brüssel, 1.12.2004. SPEECH/04/506. Benita Ferrero-Waldner: The EU and Ukraine – what lies beyond the horizon?, Mardi de L’Europe luncheon, Brüssel, 26.04.2005.
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dass die EU gerade dabei sei „zehn neue Länder zu verdauen“ und deshalb stärker ein wichtiges Kriterium beachtet werden müsse, das der „Aufnahmefähigkeit der EU“. Die EU-Institutionen und die EU-Mitgliedsstaaten nehmen allerdings gegenüber dem ukrainischen Beitrittswunsch keine einheitliche Position ein. So forderte das Europäische Parlament Mitte Januar 2005 mit überwältigender Mehrheit ausdrücklich, dass der Ukraine eine klare europäische Perspektive bis hin zum Beitritt zur EU gegeben werde. Auch Polen und Litauen beziehen eine beitrittsfreundliche Position. Das gleiche gilt für die Regierungen der anderen vier neuen EU-Mitglieder. Insbesondere Polen fordert z.B. eine klare Beitrittsperspektive für die Ukraine (Schneider-Deters 2005: 10). Gerade die Vertreter der großen Mitgliedsstaaten wollen aber von der Möglichkeit eines Beitritts der Ukraine überhaupt nicht sprechen. Frankreich und Großbritannien halten die Debatte über eine Beitrittsperspektive für die Ukraine für verfrüht. Die südeuropäischen Länder haben an einer EU-Mitgliedschaft der Ukraine schließlich überhaupt kein Interesse, da sie bereits die Folgen der Osterweiterung als besonders negativ empfinden. Die Bundesrepublik vertritt schließlich eher eine mittlere Position. So will die deutsche Regierung die Ukraine zwar dabei unterstützten, beitrittsfähig zu werden, aber Versprechen im Hinblick auf eine spätere Mitgliedschaft unbedingt vermeiden (Schneider 2006: 3). Dies wurde auch beim Deutschlandbesuch von Wiktor Juschtschenko im März 2005 deutlich. Der Besuch in Deutschland war nach dem Antrittsbesuch in Moskau Juschtschenkos zweiter Staatsbesuch. Für Juschtschenko kommt Deutschland die Schlüsselrolle zu bei seinem Bestreben, den EU-Beitritt der Ukraine zu erreichen. Die deutschen Gastgeber reagierten auf Juschtschenkos Appell allerdings zurückhaltend. Der damalige Bundeskanzler Schröder beschränkte sich auf die Zusage, Deutschland werde sich dafür einsetzen, dass die EU die Ukraine noch in diesem Jahr als Marktwirtschaft anerkenne und in die WTO aufgenommen werde. Schröder unterließ jedoch jeden Hinweis auf Beitrittsverhandlungen. Er sprach nur sehr vage von der Integration der Ukraine in euro-atlantische Strukturen: „Deutschland wird hilfreich sein bei der Heranführung der Ukraine an die euro-atlantischen Strukturen“. Diese Haltung hat sich auch nach dem Regierungswechsel unter der Regierung Angela Merkel nicht verändert. Namentlich Frankreich und Deutschland vertreten im Übrigen die Position, bei aller Sympathie für die Ukraine müssten ihre Beziehungen zu Russland berücksichtigt werden. (NZZ 22./23./1.2005) Bezeichnend für das nach wie vor geringe Interesse der EU an der Ukraine war bereits gewesen, dass bei der Vereidigung des neuen ukrainischen Präsidenten die Staats- und Regierungschefs der großen EU-Staaten ebenso wie die führenden Repräsentanten der EU abwesend waren. Anwesend waren dagegen neben dem damaligen polnischen Präsidenten Kwasniewski die Staatschefs der anderen neuen Mitgliedsstaaten Estland, Lettland, der Slowakei, und Ungarn. Die Wichtigkeit des Wandels in der Ukraine wurde und wird offensichtlich unterschiedlich eingeschätzt (NZZ 24.1.2005). Der im Rahmen der EU-Nachbarschaftspolitik am 21. Februar schließlich unterzeichnete Aktionsplan enthält unter anderem folgende Forderungen (Schneider/Saurenbach 2005:1f.):
Die Parlamentswahlen 2006 sollen nach OSZE-Standards durchgeführt werden Meinungs- und Pressefreiheit sollen gewährleistet werden Stabilität und Effektivität der demokratischen Institutionen des Rechtsstaats sollen gestärkt werden
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Das Investitionsklima soll verbessert werden Die Korruption soll wirksam bekämpft werden Mit öffentlichen Geldern soll effizienter umgegangen werden Reformen im Sozial- und Gesundheitswesen sollen eingeleitet werden
In Aussicht gestellt werden in dem Aktionsplan eine engere Zusammenarbeit im Rahmen der GASP, eine engere Kooperation bei der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit sowie Verhandlungen über eine Freihandelszone. Schließlich ergänzte die EU den Aktionsplan für die Ukraine durch einen ZehnPunkte-Plan, der nach der ukrainefreundlichen Resolution des Europaparlaments am 13. Februar 2005 von Außenkommissarin Ferrero-Waldner und Javier Solana vorgestellt wurde. Der Zehn-Punkte-Plan stellte eine Aufwertung der Beziehungen zur Ukraine über den im Rahmen der Nachbarschaftspolitik abgeschlossenen Ukraine-Aktionsplan dar. Ein wichtiges Element des Plans ist die engere wirtschaftliche Zusammenarbeit. Unter anderem soll der Export von Stahl- und Textilprodukten aus der Ukraine erleichtert und die Zusammenarbeit in der Transport- und der Energiepolitik verstärkt werden. Weiter sagte die EU zu, die Ukraine bei ihrem Weg in die WTO zu unterstützen. Auch die Anerkennung als Marktwirtschaft wurde in Aussicht gestellt (SZ 28.1.2005). Angeboten werden im Zehn-PunktePlan außerdem (Schneider 2006: 2):
Ein neues verstärktes Abkommen nach dem Auslaufen des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens im Jahr 2008 Einrichtung eines hochrangigen Forums für den Energiedialog Gespräche über ein vereinfachtes Visumsregime Erleichterter Zugang zu Geldern der Europäischen Inverstitionsbank Eine Anpassung des EU-Ukraine-Aktionsplans bereits Anfang 2006.
Die EU hat bereits im Dezember 2005 der Ukraine den Status einer Marktwirtschaft zuerkannt (Schneider 2006: 3). Außerdem erklärte die EU-Außenkommissarin im Februar 2006 nach einem Treffen mit dem damaligen ukrainischen Außenminister Tarasjuk, dass bereits im Jahr 2006 Verhandlungen über eine vertiefte Partnerschaft zwischen EU und Ukraine aufgenommen werden könnten. Auch der Leiter der EU-Kommission Barroso äußerte nach einem Treffen mit dem ukrainischen Ministerpräsidenten Janukowitsch im September 2006, dass die EU Anfang des Jahres 2007 Gespräche über eine engere und breitere Kooperation mit der Ukraine beginnen werde. Aber auf die Beitrittsabsichten der Ukraine wurde dabei nicht eingegangen. Trotz der Zurückhaltung der EU hielt Präsident Juschtschenko an seiner Forderung nach einer klaren Beitrittsperspektive für die Ukraine fest. Im Mai 2006 erklärte er in diesem Zusammenhang, die Ukraine strebe nach Ablauf des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens zunächst einmal ein Assoziierungsabkommen mit der EU an. Auch auf dem informellen EU-Gipfel im finnischen Lahti am 27. Oktober 2006 wiederholte Juschtschenko diese Position. Der Präsident der EU-Kommision nannte dagegen ein Freihandelsabkommen als zentrales Ziel der bilateralen Beziehungen. Voraussetzung für eine Annäherung der Ukraine an die EU ist die tatsächliche Umsetzung von Reformen in der Ukraine. Ein wichtiger Test waren in dieser Hinsicht die Parlamentswahlen im Frühjahr 2006. Hier stellte die neue Regierung zwar ihre Ernsthaftigkeit bei der Umsetzung demokratischer und rechtsstaatlicher Standards unter Beweis. Aller-
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dings wurden die Beitrittsambitionen der Ukraine aufgrund der innenpolitischen Entwicklung nach den Wahlen mehr und mehr in Frage gestellt. Nachdem die Partei der Regionen als stärkste Kraft aus den Wahlen hervorgegangen war, konnte der im Winter 2004 im Präsidentschaftswahlkampf unterlegene Wiktor Janukowitsch nach schwierigen und langwierigen Verhandlungen erneut das Amt des Ministerpräsidenten übernehmen. Der Regierungsantritt von Janukowitsch bedeutete eine Zäsur in der außenpolitischen Ausrichtung der Ukraine. Janukowitsch und Juschtschenko hatten sich im Vorfeld der Regierungsbildung zwar auf eine Einigkeitsdeklaration geeinigt, in der die Ziele des Beitritts zu EU und zur NATO festgeschrieben wurden. Auch bekannte sich Janukowitsch in einem Kommentar zur außenpolitischen Orientierung der Ukraine dazu, dass es „keinen Zweifel an der europäischen Ausrichtung“ der Ukraine geben sollte. Dessen ungeachtet wurde aber schon bald nach dem Regierungsantritt von Ministerpräsident Janukowitsch deutlich, dass die außenpolitischen Divergenzen zwischen ihm und Präsident Juschtschenko keinesfalls beigelegt waren. Erstmals offensichtlich wurde dies beim Besuch von Janukowitsch im NATO-Hauptquartier am 14. September 2006. Der ukrainische Ministerpräsident erklärte bei dieser Gelegenheit, dass sich der NATO-Beitritt der Ukraine verzögern werde, weil er von der Bevölkerung mehrheitlich abgelehnt würde. Dieser Position wurde sogleich von Außenminister Tarasjuk und Präsident Juschtschenko widersprochen. Tarasjuk vertrat dabei die Position, der Ministerpräsident habe nicht die Kompetenz, „außenpolitische Aussagen über die Ukraine zu formulieren“. Die Handlungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit der ukrainischen Außenpolitik wurde schließlich durch die eskalierenden Konflikte zwischen Präsident und Ministerpräsident, die sich im Streit um den Außenminister bündelten, mehr und mehr eingeschränkt. Nachdem das Parlament am 1. Dezember 2006 für die Entlassung Tarasjuks gestimmt hatte, erklärte Präsident Juschtschenko, dass er die Entlassung nicht aktzeptiere. Der Außenminister blieb im Amt, wurde aber am Zutritt zu den Regierungsinstitutionen gehindert. Ein von ihm im Januar 2007 unternommener Besuch in der Tschechischen Republik wurde von der Regierung als „nicht autorisiert“ qualifiziert. Tarasjuk entschloss sich schließlich Ende Januar 2007 zum Rücktritt. Der von Juschtschenko als Nachfolger für Tarasjuk nominierte Wolodomir Ohrisko scheiterte nach Tumulten im Sitzungssaal am 22. Februar 2007. Heiko Pleines kommt zu folgender prägnanter Charakterisierung der Entwicklungen auf dem Gebiet der Außenpolitik: „Von August bis November hatte die Ukraine einen Außenminister, der erklärte, dass der Ministerpräsident für Außenpolitik nicht kompetent sei, von Dezember bis Januar hatte die Ukraine dann einen Außenminister, von dem die Regierung erklärte, er reise und spreche nur als Privatmann, und seitdem hat die Ukraine vorläufig gar keinen Außenminister mehr“ (Pleines 2007: 5). Dass auf diese Weise keine wirkungsvolle Außenpolitik gestaltet werden kann, ist offensichtlich. Auch die nur zögerliche Verabschiedung der für den WTO-Beitritt notwendigen gesetzlichen Regelungen durch das ukrainische Parlament verweisen auf den fehlenden Konsens in außenpolitischen Fragen. 5
Ausblick
Charakteristisch für die Europapolitik der Ukraine in der Ära Kutschma war ein großes Auseinanderklaffen zwischen EU-freundlicher Rhetorik und ausbleibenden innenpolitischen Reformen. Außerdem war die ukrainische Außenpolitik durch einen schwankenden Kurs zwischen Russland und der EU gekennzeichnet. Die ukrainische Außenpolitik unter
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Kutschma kann als unberechenbar, unzuverlässig und nicht vertrauenswürdig beschrieben werden. Auf Seiten der EU führten die Entwicklungen in der Ukraine zu einer zunehmenden Desillusionierung. Durch die orangene Revolution und den Amtsantritt von Wiktor Juschtschenko zum Jahreswechsel 2004/2005 schien sich dann die Chance für einen grundsätzlichen Wandel des Verhältnisses zu bieten. Dies betonte auch die EU-Außenommissarin Benito FerreroWaldner. Sie sagte, für die EU hätte die offizielle ukrainische Rhetorik zur Annäherung an die EU in der Vergangenheit entschieden hohl geklungen, während für ukrainische Ohren sie und die europäischen Außenminister wie Schallplatten mit einem Sprung geklungen haben müssten, die das Mantra der Reform ständig wiederholten. Erst nach dem Regierungswechsel in der Ukraine habe sich die Situation grundlegend geändert. Die Vertreter der EU stießen in der Ukraine nicht mehr auf taube Ohren. 6 Trotz des Wechsels in der Ukraine hielt die EU an ihrer Strategie gegenüber dem Nachbarland fest. Die ENP blieb der Rahmen für die europäisch-ukrainischen Beziehungen. Spätestens nach den innenpolitischen Entwicklungen im Sommer und Herbst 2006 ist in der EU wieder Ernüchterung im Hinblick auf die Transformationsfortschritte der Ukraine eingekehrt. Dies gilt insbesondere für den außenpolitischen Kurs des Nachbarstaates. Die Situation nach dem Regierungsantritt von Janukowitsch weist viele Parallelen zur Kutschma-Zeit auf. Da es keinen außenpolitischen Konsens zwischen Präsident und Ministerpräsident gibt, ist die Außenpolitik weiterhin widersprüchlich. Der Machtkampf zwischen Juschtschenko und Janukowitsch wird auch auf dem Feld der Außenpolitik ausgetragen, was die außenpolitische Handlungsfähigkeit der Ukraine in Frage stellt. Voraussetzung für die Verwirklichung der Beitritts-Ambitionen des Präsidenten wäre aber eine gemeinsame Vision von Präsident und Ministerpräsident, die außerdem von einer parlamentarischen Mehrheit und einem großen Teil der Bevölkerung unterstützt werden müsste. Für die Zurückhaltung der EU gegenüber den ukrainischen Beitrittsambitionen lassen sich mehrere Faktoren verantwortlich machen. An erster Stelle ist die im März 2004 vollzogene große Erweiterungsrunde zu nennen, die zunächst einmal verkraftet werden muss und die zu einer verbreiteten Erweiterungsmüdigkeit geführt hat. Außerdem befindet sich die EU nach dem zumindest vorläufigen Scheitern der Europäischen Verfassung in den Referenden in Frankreich und den Niederlanden in einer inneren Krise. Auch diese steht einer Intensivierung der Beziehungen zwischen EU und Ukraine entgegen. Weiter spielen die Beziehungen der EU zu Russland eine Rolle. Denn mit Russland verbindet die EU eine strategische Partnerschaft, der gegenüber den Beziehungen zur Ukraine Priorität eingeräumt wird. Ins Gewicht fällt aber mit Sicherheit auch die Entwicklung der Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine in der Vergangenheit, die auf Seiten der EU zur Desillusionierung und schließlich zu Desinteresse geführt hatte. Zurzeit spricht alles dafür, dass die EU ihre Beziehungen zur Ukraine auch zukünftig im Rahmen der ENP fortentwickeln wird. Sollte sich die Ukraine tatsächlich konsequent in Richtung Demokratie entwickeln, wird sie sich allerdings den ukrainischen Beitrittsambitionen nur schwer verschließen können. Spätestens dann wird die EU um eine klare Positionierung in Bezug auf die Geltung von Artikel 49 nicht herumkommen, will sie nicht ihre Glaubwürdigkeit verlieren. Zumindest müsste sie klar und plausibel begründen, warum Art. 49 für die Ukraine nicht in Frage kommt. 6
Benita Ferrero-Waldner: The EU and Ukraine – what lies beyond the horizon?, Mardi de L’Europe luncheon, Brüssel, 26.04.2005.
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Die Beziehungen der EU zum Kaukasus: neue Dynamik ohne klare Strategie Margarete Klein
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Einleitung
In den Außenbeziehungen der EU spielten die drei kaukasischen Länder Armenien, Aserbaidschan und Georgien1 lange Zeit kaum eine Rolle. Zu weit entfernt und zu sehr im Schatten der russisch-europäischen Beziehungen liegend erschien das konfliktreiche Gebiet zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer. Allein im energiepolitischen Bereich entwickelte Brüssel schon früh ein Interesse an den kaukasischen Staaten, die wichtige Produzenten bzw. Transitländer für Öl und Gas darstellen. Mit der Osterweiterung der EU und dem Beschluss, Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu beginnen, veränderten sich die Rahmenbedingungen jedoch. Geographisch rückte der Kaukasus damit näher an die erweiterte EU, wodurch seine Bedeutung für Brüssel wuchs. Während die geänderten Rahmenbedingungen den Weg dafür ebneten, dass seit dem Jahr 2003 eine neue Dynamik in die europäisch-kaukasischen Beziehungen kam, stammt der eigentliche Impuls hierfür aus der Region selbst. Dort war im November 2003 der autoritär regierende Präsident Georgiens, Eduard Schewardnadse, in Folge der sogenannten „Rosenrevolution“ gestürzt worden. Dieses Ereignis ließ auf europäischer Seite die Hoffnung auf einen Demokratisierungsschub in der Region wachsen. Zugleich drängte und warb vor allem die neue georgische Führung unter Michail Saakaschwili hartnäckig um ein stärkeres Engagement der EU im Kaukasus. Beides gipfelte im Mai 2004 in der nachträglichen Aufnahme der drei Kaukasusrepubliken in die Europäische Nachbarschaftspolitik. Die Politik der EU gegenüber dem Kaukasus ist vor allem deshalb von Interesse, weil sie exemplarisch die allgemeinen Herausforderungen beleuchtet, vor denen die erweiterte Union steht. Inwieweit sie diese meistert, gibt Aufschluss über ihre Fähigkeit, als politisch handlungsfähige Einheit zu agieren. In erster Linie geht es für die erweiterte Union darum, für die (neuen) Nachbarregionen, die bislang nicht im Fokus ihrer Außenbeziehungen standen, eine gemeinsame Politik zu entwickeln. Dies impliziert zum einen eine klare Interessendefinition und Prioritätensetzung sowie davon ausgehend die Entwicklung eines passenden Instrumentariums zur Durchsetzung der aufgestellten Ziele. Zum anderen erfordert die Entwicklung einer gemeinsamen Politik eine gleich dreifach zu erbringende Koordinierungsleistung. Erstens geht es darum, mögliche widerstreitende Interessen einzelner EUStaaten in Einklang zu bringen. Zweitens muss Brüssel seine Politik gegenüber den drei Kaukasusstaaten Armenien, Aserbaidschan und Georgien abstimmen. Und drittens ist eine Koordinierung der EU-Kaukasuspolitik mit den Beziehungen gegenüber Russland und der Türkei erforderlich. Schließlich stellen Ankara und Moskau im Gebiet zwischen Schwarzem und Kaspischen Meer neben den USA die wichtigsten externen Akteure dar. 1
Im Folgenden werden unter dem Begriff „Kaukasus“ die drei südkaukasischen Länder Armenien, Aserbaidschan und Georgien verstanden. Der Nordkaukasus, der völkerrechtlich zu Russland gehört, wird in der Untersuchung nicht berücksichtigt.
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Sich neben bzw. in Konkurrenz zu den etablierten Regionalmächten einen eigenständigen Handlungsspielraum im Kaukasus zu erkämpfen, wird für die EU nicht einfach werden. Mit der „Rosenrevolution“ sind ihre Einflussmöglichkeiten aber gestiegen. Denn sie kann den Kaukasusländern etwas bieten, das die primär geostrategisch und -ökonomisch motivierten russischen und amerikanischen Führungen nicht können: die mittelfristige Chance einer auf breiterer Basis beruhenden Anbindung an Europa. Diese Perspektive greift über die durchaus beträchtlichen Finanzhilfen der USA an Georgien oder den von Armenien mit politischer Abhängigkeit erkauften militärischen Schutz durch Russland hinaus. Brüssel wird dieses „window of opportunity“ aber nur nutzen können, wenn es mehr als eine rein reaktive ad-hoc-Politik betreibt. Auf welche Fortschritte Brüssel bei der Entwicklung einer einheitlichen Kaukasuspolitik bereits verweisen kann, aber auch welche Probleme diese bis heute belasten, wird im Folgenden analysiert. Davor soll in einem kurzen Überblick die Entwicklung der beiderseitigen Beziehungen seit dem Zerfall der Sowjetunion nachgezeichnet werden. 2
Zwischen Regionalkonflikten und Energiepolitik: die Anfänge (1991-1996)
Die erste Phase der europäisch-kaukasischen Beziehungen beginnt mit der Unabhängigkeitserklärung2 Georgiens, Armeniens und Aserbaidschans. Durch diese wurden die kaukasischen Staaten zum ersten Mal seit mehr als 70 Jahren wieder zu selbständigen internationalen Akteuren. Von Beginn an definierten sie sich als Teil Europas. Aufgrund einer krisenhaften Häufung interner Konfliktlagen war es ihnen damals aber nicht möglich, Impulse in Bezug auf die EG/EU zu setzen. Innenpolitische Machtkämpfe, Bürgerkriege, ethnoterritoriale Konflikte und Kriege sowie ein dramatischer Verfall der Wirtschaftskraft3 verwandelten Anfang der 90er Jahre Georgien, Armenien und Aserbaidschan in schwache bzw. scheiternde Staaten4. Noch zu Sowjetzeiten war der Konflikt um die mehrheitlich von Armeniern bewohnte, aber innerhalb des aserbaidschanischen Territoriums liegende Enklave Berg-Karabach ausgebrochen.5 Nachdem sich im Juni 1992 das autonome Gebiet Südossetien und einen Monat später die autonome Republik Abchasien für unabhängig von Georgien erklärt hatten, kam es auch dort zu kriegerischen Auseinandersetzungen.6 Zwar wurden alle drei Konflikte 1994 mit Waffenstillstandsabkommen beendet; da sie aber nicht 2
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Während Georgien bereits am 9. April 1991 seine Unabhängigkeit erklärte, wagten Armenien und Aserbaidschan diesen Schritt erst, nachdem der Putschversuch konservativer sowjetischer Kräfte gegen Michail Gorbatschow Mitte August 1991 gescheitert war. Dies bedeutete de facto auch das Ende der Versuche, mittels eines neuen Unionsvertrags den Erhalt der UdSSR zu sichern. Von 1991 bis 1994 büßten die drei kaukasischen Staaten mehr als die Hälfte ihrer Wirtschaftsleistung ein (Freitag-Wirminghaus 1999: 24). Zum Konzept des schwachen bzw. scheiternden Staates siehe: Schneckener, Ulrich 2004: States at Risk – Zur Analyse fragiler Staatlichkeit, in: Schneckener, Ulrich (Hrsg.): States at Risk. Fragile Staaten als Sicherheits- und Entwicklungsproblem, Berlin, S. 17ff (= SWP-Studie Nr. 43). In dem Konflikt kamen ca. 30.000 Personen zu Tode, 800.000 Aserbaidschaner flohen aus dem Gebiet Karabach, 300.000 Armenier aus Aserbaidschan. Im Laufe der militärischen Auseinandersetzungen gelang es Armenien, Teile des aserbaidschanischen Territoriums zu besetzen und bis heute besetzt zu halten. Trotz des Waffenstillstandsabkommen von 1994 kommt es immer wieder zu Scharmützeln. In Folge dieser beiden Konflikte wurden 260.000 Personen zu Flüchtlingen. Bis heute stehen 18% des georgischen Territoriums nicht unter der Kontrolle Tiflis. Beide Konflikte wurden 1994 mit einem Waffenstillstandsabkommen eingefroren. Dennoch kommt es auch dort immer wieder zu kleineren bewaffneten Zusammenstößen, zuletzt im Sommer 2004 in Südossetien.
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gelöst sind, stellen sie als „frozen conflicts“ bis heute eine permanente Gefahrenquelle dar. Verschärft wurde die Situation in Georgien und Aserbaidschan Anfang der 90er Jahre zudem durch den Sturz der dortigen Präsidenten, Swiad Gamsachurdia und Ebulfez Elcibey, der zu innenpolitischen Machtkämpfen und bürgerkriegsähnlichen Zuständen führte (vgl. Pietzonka 1995; Halbach/Kappeler 1995; Mangott 1999). Vor dem Hintergrund fragiler Staatlichkeit war es den kaukasischen Republiken in den ersten Jahren ihrer neuen Existenz daher nicht möglich, eine aktive Außenpolitik jenseits der Beziehungen zu den Regionalmächten zu führen. In der Außenpolitik der EG-Länder wiederum spielten die kaukasischen Staaten damals kaum eine Rolle. Zu sehr war man mit den spektakulären Umwälzungen in Mittelosteuropa und den slawischen Sowjetrepubliken beschäftigt. Es verwundert daher nicht, dass das Engagement Brüssels im Kaukasus stark begrenzt war und sich lediglich auf zwei Einzelbereiche konzentrierte. Zum einen sandte das 1993 gegründete Amt für humanitäre Hilfe (ECHO) Nahrungsmittel- und humanitäre Hilfe in den Kaukasus, um die Folgen der Kriege, Konflikte und wirtschaftlichen Krisen zu lindern (vgl. Wolter 1999: 33). Daneben engagierten sich die europäischen Staaten im Bereich der Energiepolitik. Anfang der 90er Jahre war der Wettstreit um die Erschließung und den Transport der Öl- und Gasvorkommen des Kaspischen Meers und Zentralasiens ausgebrochen, der von der Presse gerne in Anspielung auf die Ereignisse im 19. Jahrhundert als „Great Game“ bezeichnet wurde. Um den Zugang zu ihnen zu erleichtern, startete Brüssel 1993 und 1994 im Rahmen des TACIS-Programms zwei regionale Infrastrukturprojekte: TRACECA7 und INOGATE8. Sie dienen dazu, die Kommunikationsnetze und Transportrouten der kaukasischen Länder zu modernisieren und auszuweiten. Auf diese Weise sollte die Entwicklung neuer, von Moskau unabhängiger Pipelinenetze gefördert und die geographische Lage des Kaukasus als Brückenkopf zwischen Europa und (Zentral)Asien nutzbar gemacht werden (vgl. Wolter 1999: 36). 3
Beziehungen im Rahmen der Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (19962003)
Die zweite Phase in den europäisch-kaukasischen Beziehungen beginnt am 1. April 1996, als in Luxemburg feierlich die Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen der EU auf der einen und Armenien, Aserbaidschan und Georgien auf der anderen Seite unterzeichnet wurden. Diese stellen insofern eine Zäsur dar, als das beiderseitige Verhältnis damit zum ersten Mal auf eine vertragliche Grundlage gestellt wurde.9 Das Ziel der Ab7
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Die Abkürzung TRACECA steht für „Transport Corridor Europe Caucasus Central Asia”. Das auch gerne als „neue Seidenstrasse“ bezeichnete Programm leistet den kaukasischen und zentralasiatischen Staaten seit 1993 vor allem technische Hilfe bei der infrastrukturellen Entwicklung im Transport- und Kommunikationswesen, also im Straßen-, Schienennetz-, Hafen- und Pipelinebau. Bis zum Jahr 2000 wurden im Rahmen dieses Programms 35 Millionen Euro für die zentralasiatischen und kaukasischen Länder ausgegeben (MacFarlane 2004: 129). Das 1994 begonnene „Interstate Oil and Gas Transport to Europe“-Programm leistet technische Hilfe bei der Modernisierung der Öl- und Gaspipelines und deren Neuausrichtung auf die Produktionsstätten in Zentralasien und dem Kaspischen Meer sowie die Abnehmer in Europa. Bis zum Jahr 2000 wurden im Rahmen dieses Programms 42 Millionen Euro für die Staaten Zentralasiens und des Kaukasus ausgegeben (MacFarlane 2004: 129). Die Kaukasusstaaten hatten nach der Erlangung ihrer Unabhängigkeit aus prinzipiellen Gründen die Über-
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kommen besteht darin, mit den postsowjetischen Staaten eine umfassende Partnerschaft zu begründen – jedoch ohne Beitrittsperspektive. Über einen institutionalisierten politischen Dialog und den Ausbau von Wirtschafts- und Handelsbeziehungen soll die demokratische und marktwirtschaftliche Entwicklung der ehemaligen Sowjetrepubliken gefördert werden. Als die kaukasischen Staaten ihre Partnerschafts- und Kooperationsabkommen unterzeichneten, war dieses Instrument, das allen postsowjetischen Staaten offen stand, bereits vier Jahre alt. Die zeitliche Verzögerung war aber nicht Divergenzen zwischen Brüssel und Tiflis, Erivan oder Baku, sondern der schwierigen, konfliktreichen internen Lage der Kaukasusstaaten geschuldet. Was die Reichweite der Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit Armenien, Aserbaidschan und Georgien anbelangt, so illustriert diese treffend deren Verortung auf der EU-Prioritätenskala für den GUS-Raum. Im Unterschied zu den Abkommen mit Russland, Belarus und der Ukraine sehen sie „keine Perspektive der Errichtung einer Freihandelszone“ vor. Anders als in den Abkommen mit den zentralasiatischen Republiken wird für die Kaukasusstaaten aber immerhin das Ziel formuliert, diese in einen „größeren Raum der Zusammenarbeit in Europa“ einzubeziehen (Gemeinsame Erklärung der Europäischen Union und der Republik Armenien, der Aserbaidschanischen Republik und Georgiens vom 22. Juni 1999). Mit dem Inkrafttreten der Partnerschafts- und Kooperationsabkommen am 1. Juli 1999 verdichteten sich die institutionellen Kontakte zwischen der EU und den Kaukasusstaaten. Regelmäßig fanden Treffen der Kooperationsräte und -komitees sowie der Gemischten Parlamentsausschüsse statt. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Dynamik in den Beziehungen gering und die Ergebnisse mager waren. Das ist zum einen auf die innenpolitische Entwicklung in den kaukasischen Staaten zurückzuführen. Indem sie autoritäre Systeme etablierten und es an rechtstaatlichen sowie marktwirtschaftlichen Reformen mangeln ließen, vergaben sie sich selbst die Chance auf eine Vertiefung der Beziehungen. Zum anderen lag dies an der geringen Ausprägung der europäischen Interessen, die sich auch weiterhin in der Energie- und Infrastrukturpolitik erschöpften. 4
Neue Dynamik im Zeichen von Osterweiterung und „Rosenrevolution“ (ab 2003)
Die dritte Phase der EU-Kaukasus-Beziehungen beginnt im Jahr 2003 und wurde durch zwei Impulse gespeist. Zum einen rückten Armenien, Aserbaidschan und Georgien im Zuge der anstehenden Osterweiterung der Union sowie den Diskussionen über einen Türkei-Beitritt geographisch näher an Europa. Dadurch erweiterte sich das Interessenspektrum Brüssels. Neben dem allgemeinen Wunsch nach einer Demokratisierung der Region und den energiepolitischen Interessen entdeckte Brüssel zunehmend die sicherheitspolitische Bedeutung das Kaukasus. Um Spillover-Effekte aus der Region zu verhindern, erklärte sich die EU bereits im Februar 2001 bereit, eine „aktivere politische Rolle in der Region“ zu spielen (Gemeinsames Kommunique „EU-Troika Südlicher Kaukasus“ vom 29. Oktober nahme von Verträgen abgelehnt, die noch von der UdSSR unterzeichnet worden waren. Dies galt damit auch für das Abkommen über Handel und wirtschaftliche Zusammenarbeit, das die Sowjetunion 1989 mit der EG abgeschlossen hatte. Dennoch haben sie zwei der darin vorgesehenen Kooperationsinstrumente bereits vor dem Abschluss der Partnerschafts- und Kooperationsabkommen in Anspruch genommen: den Status des Meistbegünstigten sowie den institutionalisierten Dialog in Form Gemischter Ausschüsse (vgl. Wolter 1999: 34). Die Partnerschafts- und Kooperationsabkommen wiesen den kaukasischen Staaten dann vertraglich den Status der Meistbegünstigten zu, eliminierten Zollquoten, sicherten intellektuelle, industrielle und kommerzielle Eigentumsrechte und etablierten einen jährlichen politischen Dialog.
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2001). Gesteigert wurde das sicherheitspolitische Interesse am Kaukasus durch die veränderte Bedrohungseinschätzung nach dem 11. September 2001. Nicht ohne Grund fand die bis dahin höchstrangige Reise von EU-Vertretern in die Kaukasusstaaten im Oktober 2001 statt. Sie war durch die „strategische Bedeutung des Südkaukasus für die Sicherheit und Stabilität Europas in Anbetracht der Notwendigkeit einer effektiven Bekämpfung des Terrorismus“ motiviert (Gemeinsames Kommunique „EU-Troika – südlicher Kaukasus“ vom 29. Oktober 2001). Ähnliche Formulierungen finden sich in der Europäischen Sicherheitsstrategie vom Dezember 2003, in der die EU-Mitgliedstaaten aufgerufen werden, „ein stärkeres und aktiveres Interesse für die Probleme im Südkaukasus aufzubringen“ (Europäische Sicherheitsstrategie 2003: 8). Dass die EU zu Beginn des neuen Jahrtausends ein verstärktes Interesse am Kaukasus entwickelte, spiegelt sich auch darin wider, dass sie bereits im Juli 2003, also noch vor der „Rosenrevolution“ einen eigenen Sonderbeauftragten für die Region ernannte: den finnischen Diplomaten Heikki Talvitie. Seine Ernennung markiert die beginnende Suche nach einer in sich kohärenteren und gemeinsamen europäischen Kaukasuspolitik. Bis dahin war eine solche nicht als notwendig erachtet worden. Zwar hatte die Kommission bereits 1995 einen ersten Ansatz zu einer stärker koordinierten Politik entwickelt; dieser konnte aber im Europäischen Rat keine Zustimmung finden (Ehrhart/Thränert 1998: 41). Nur bedingt als Vorstufe für eine stärker koordinierte Kaukasuspolitik kann die „Gemeinsame Erklärung“ der EU- und Kaukasusstaaten vom 22. Juni 1999 gelten. In diesem Dokument, das anlässlich des förmlichen Inkrafttretens der Partnerschafts- und Kooperationsabkommen unterzeichnet wurde, sind die zentralen Ziele der EU im Kaukasus festgeschrieben. Dennoch stellte die Erklärung nie mehr als eine politische Willensbekundung dar. Zu unpräzise waren die Interessen formuliert und nicht mit konkreten Aktionen verbunden (Gemeinsame Erklärung der Europäischen Union, der Republik Armenien, der Aserbaidschanischen Republik und Georgiens vom 22. Juli 1999). Als ernsthaften Schritt zur Entwicklung einer gemeinsamen Kaukasuspolitik lässt sich daher erst die Ernennung des EUSonderbeauftragten begreifen. Schließlich besteht seine zentrale Aufgabe explizit darin, dem Europäischen Rat bei der Erarbeitung einer umfassenden Politik gegenüber Armenien, Aserbaidschan und Georgien zu helfen. Dahinter steht die Einsicht, dass die EU nur mittels einer „klaren Kompetenzabgrenzung sowie eines abgestimmten und kohärenten außenpolitischen Vorgehens“ in der Lage ist, ihrem Ziel nachzukommen, eine „aktivere politische Rolle“ in der Region zu spielen (Amtsblatt der EU L 169/74 vom 8. Juli 2003). Talvitie und sein Team sind in erster Linie dafür da, die Informationsbasis Brüssels zu verbessern. Er hält den Kontakt zu den kaukasischen Entscheidungsträgern – sowohl in den Hauptstädten, als auch in den abtrünnigen Gebieten – und lotet auf dieser Basis die Ansatzpunkte europäischen Engagements und regionaler Konfliktlösung aus. Zugleich fungiert der Sonderbeauftragte als Informationsscharnier gegenüber den Kaukasusrepubliken. Indem er die Position der EU kommuniziert, soll er dafür sorgen, „dass die EU in der Region mehr Wirkung entfaltet und besser wahrgenommen wird“ (Amtsblatt der EU L 169/74 vom 8. Juli 2003). Auch wenn Brüssel bereits vor der georgischen „Rosenrevolution“ ein stärkeres Interesse am Kaukasus bekundete, lieferte dieses Ereignis doch den eigentlichen Anstoß für eine neue Dynamik in den Beziehungen. Im November 2003 musste der bisherige, autoritär regierende Präsident Eduard Schewardnadse nach wochenlangen Protesten gegen gefälschte Parlamentswahlen zurücktreten. Nur sechs Wochen später wurde der charismatische Anführer der Protestbewegung, Michail Saakaschwili, mit überwältigender Mehrheit zum neuen Staatspräsidenten gewählt (Wiest 2006). Diese erste „farbige Revolution“ auf GUS-
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Boden belebte die europäisch –kaukasischen Beziehungen in zweierlei Hinsicht. Zum einen wuchs innerhalb der EU die Hoffnung auf einen Demokratisierungsschub in der Region. Zum anderen entfaltete die neue georgische Führung eine massive Europa-Kampagne. Sie stellte von Anfang an klar, dass die „Rosenrevolution“ nicht nur innenpolitische Ziele verfolgte, sondern auch als außenpolitische Wende zu verstehen sei – hin zu Europa. Bei zahlreichen Auftritten beschwor Saakaschwili die „Heimkehr“ seines Landes nach Europa und bezeichnete die Mitgliedschaft in der EU als wichtigstes Ziel seiner Außenpolitik. „Wir sind nicht nur alte, sondern uralte Europäer und daher nimmt Georgien einen besonderen Platz in der europäischen Zivilisation ein“, so der neue Präsident selbstbewusst in seiner Inaugurationsrede10. Konsequent baute er die außenpolitische Infrastruktur seines Landes auf dieses Ziel aus. So wurden eine eigene „Kommission zur Integration in die EU“ unter Leitung des Premierministers sowie der neue Posten eines „Staatsministers für die Europäische Integration“ eingerichtet. Das georgische Parlament bildete zudem einen eigenen „Ausschuss zur Integration in die EU“ – neben dem „normalen“ außenpolitischen Komitee. Am medienwirksamsten spiegelte wohl die Ernennung der ehemaligen französischen Botschafterin in Tiflis, Salome Zurabischwili, zur neuen georgischen Außenministerin die europaorientierte Außenpolitik des Landes wider.11 Es war in erster Linie den Entwicklungen in Georgien und dem hartnäckigen Werben der neuen georgischen Regierung geschuldet, dass die drei Kaukasusstaaten am 14. Juni 2004 auf Entschluss des Europäischen Rates nachträglich doch noch in die Europäische Nachbarschaftspolitik einbezogen wurden.12 Trotz ihres verstärkten sicherheitspolitischen Interesses an der Region, hatte sich die EU bis dahin zur großen Enttäuschung Georgiens, Armeniens und Aserbaidschans geweigert, diese in das im März 2003 vorgelegte Nachbarschaftsprogramm aufzunehmen. Stattdessen sollte dieses neue Instrument zunächst nur auf die unmittelbaren Nachbarländer Ukraine, Moldawien und die Partner des BarcelonaProzesses angewandt werden. Die Einbeziehung in die Europäische Nachbarschaftspolitik ist deshalb für die kaukasischen Staaten so interessant, da sie den Partnerländern die Perspektive eines Zugangs zum europäischen Binnenmarkt eröffnet – über die Errichtung einer Freihandelszone und eines gemeinsamen Wirtschaftsraums. Sie geht damit über die bestehenden Partnerschafts- und Kooperationsabkommen hinaus. Dafür verlangt sie als Vorbedingung politische, wirtschaftliche und institutionelle Reformen in Richtung Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Marktwirtschaft (vgl. Heusgen 2004: 700). Mit der Möglichkeit, ihre Beziehungen zur EU massiv zu erweitern, stellt die Aufnahme der kaukasischen Republiken in den Kreis der „Nachbarschafts-Partner“ das wichtigste Anzeichen für eine neue Dynamik in den beiderseitigen Beziehungen dar. Die Ausarbeitung der relevanten Dokumente geht trotz einiger Probleme reibungslos vor sich. Bereits am 2. März 2005 legte die Kommission die drei Länderberichte zu Armenien, Aserbaidschan und Georgien dem Europäischen Rat vor. Trotz Kritik an mangelnden wirtschaftlichen und politischen Reformen 10 11
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http://www.kaukasische-post.de/KA45/pol1.htm Am 19. Oktober 2005 wurde Salome Zurabischwili ihres Postens als Außenministerin enthoben. Dahinter stehen Machtkämpfe innerhalb der georgischen Führungsriege. Zurabischwili war in der Vergangenheit immer mehr als Kritikerin des Präsidenten in Erscheinung getreten. Ihre Entlassung löste im Westen Besorgnis über die Stabilität des pro-westlichen außenpolitischen Kurses des Landes aus. Am 12. Mai 2005 empfahl die Kommission in einem Strategiepapier, in dem sie die Ziele der Nachbarschaftspolitik konkretisierte, die Aufnahme der kaukasischen Staaten in die Nachbarschaftspolitik (Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 2004: Europäische Nachbarschaftspolitik. Strategiepapier, in: KOM 373 vom 12. Mai 2005).
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empfahl sie darin die Ausarbeitung von Aktionsplänen und damit die Intensivierung der Beziehungen.13 Die Aktionspläne werden zusammen von der EU und dem jeweiligen Partnerland für die kommenden drei bis fünf Jahre erarbeitet. Sie beinhalten Ziele und Kriterien, zu deren Erreichung sich das Partnerland verpflichtet und die als „Vorstufe“ zu wirtschaftlicher Integration dienen (Heusgen 2004: 700). Bis zum Frühjahr 2006 sollen die Aktionspläne für die drei kaukasischen Staaten fertig gestellt werden. Die Intensivierung der Beziehungen spiegelt sich darüber hinaus in der Ausweitung institutioneller und persönlicher Kontakte wider. Nach der Aufnahme der kaukasischen Staaten in die Nachbarschaftspolitik erweitete Brüssel seine Präsenz vor Ort. Während der EU-Sonderbeauftragte bis dahin allein von Tiflis aus operierte, wurde bald danach auch in der armenischen Hauptstadt eine EU-Mission eröffnet. Eine weitere in Baku soll bald folgen.14 Dem intensiveren Kontakt dienen auch Reisen von EU-Politikern in die Region, die eine bisher nicht gekannte Dichte und Hochrangigkeit aufweisen. Mit Romano Prodi flog im September 2004 zum ersten Mal ein europäischer Kommissionschef in den Kaukasus.15 Darüber hinaus scheint die EU erstmals auch bereit zu sein, in – wenn auch niedrigem, so doch deutlich erweitertem Rahmen – finanzielles und diplomatisches Kapital in der Region zu investieren. Im Juni 2004 führte sie zusammen mit der Weltbank eine Geberkonferenz für Georgien durch, auf der dem Land insgesamt 850 Mio. Euro zugesagt wurden, davon 125 Mio. von Brüssel. Von europäischer Seite aus bedeutet dies eine Verdoppelung der finanziellen Hilfen16. Auf Bitten der georgischen Regierung erklärte sich Brüssel zudem bereit, eine Rechtsstaatsmission in das Land zu entsenden: EUJUST THEMIS. Von Juli 2004 bis Juli 2005 beriet eine zehnköpfige europäische Expertengruppe die georgische Regierung bei der Reform ihres Strafrechts und Strafvollzugswesens. Die Umsetzung der dabei erarbeiteten Reformstrategie soll als Ziel im Aktionsplan festgeschrieben werden17. EUJUST THEMIS stellt die erste Rechtsstaatsmission im Rahmen der ESVP dar. Sie ist damit auch als Weiterentwicklung des zivilen Strangs der ESVP zu sehen, eine Entwicklung, die gerade für den Kaukasusraum von Interesse sein kann. Des weiteren unterstützt die EU seit dem 1. September 2005 Georgien bei der Reform seines Grenzschutzes. Die Intensivierung der europäisch-kaukasischen Beziehungen darf aber nicht überinterpretiert werden. Sie erscheint deshalb bemerkenswert, weil sie in kurzer Zeit stattfand und von einem äußerst niedrigen Niveau startete. Betrachtet man dagegen die konkreten Aktivitäten der EU, so sind diese im Vergleich zu anderen Nachbarschaftsregionen wie dem Mittelmeerraum oder den slawischen GUS-Republiken erst schwach ausgeprägt. So sind die gemeinsamen Aktionen Brüssels im Kaukasus sowohl in ihrer Reichweite, als auch in ihrer Ausstattung noch stark begrenzt. Neben der Ausarbeitung der Aktionspläne konzentriert sich Brüssel in erster Linie auf Georgien, das am intensivsten um engere Beziehungen wirbt. In Bezug auf Armenien und Aserbaidschan wurde das Engagement der EU 13
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Der Länderbericht zu Georgien fiel dabei am wenigsten kritisch aus. Armenien und Aserbaidschan wurden dagegen scharf für die Unterdrückung von Grund- und Freiheitsrechten sowie einen allgemeinen ReformUnwillen gerügt (Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 2005: Europäische Nachbarschaftspolitik. Empfehlungen für Armenien, Aserbaidschan und Georgien sowie Ägypten und Libanon, in: KOM Nr. 72 vom 2. März). Die EU-Mission in Erivan und die in Baku zu eröffnende unterstehen dem Büro des EU-Sonderbeauftragten in Tiflis. Im Februar 2001 hatte zum ersten Mal die EU-Ministertroika den Kaukasus besucht. http://europa.eu.int/comm/externalrelations/georgia/intro/index.html http://ue.eu.int/cms3_fo/showPage.asp?id=701%lang=de
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dagegen nicht wesentlich gesteigert. Zudem ist die finanzielle und personelle Basis der gemeinsamen Aktionen – im Vergleich zu anderen Regionen – noch schwach. Es verwundert daher nicht, dass auch bei den Ergebnissen bislang von keinem wirklichen Durchbruch die Rede sein kann. Der Einfluss der EU auf den politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Reformprozess der Kaukasusstaaten ist immer noch gering. Natürlich ist dabei zu bedenken, dass die Zeitspanne, seitdem sich die Beziehungen intensiviert haben, sehr knapp ist. Inwieweit sich dies im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik ändern kann, wird in erster Linie davon abhängen, ob Brüssel eine klare Strategie gegenüber dem Kaukasus entwickelt. 5
Unbestimmte Interessen
Ausgangspunkt bei der Entwicklung einer kohärenten Strategie muss eine klare Identifizierung von Interessen und Prioritäten sein. Hieraus ergibt sich normalerweise ein Koordinierungsproblem. Schließlich müssen mögliche widerstreitende Interessen einzelner europäischer Staaten in Einklang gebracht werden. Dieser Fall spielt in Bezug auf den Kaukasus aber nur eine geringe Rolle. Zwar sind einige europäische Länder durchaus eng mit einem der Kaukasusstaaten verbunden. So vertritt Frankreich, auch aufgrund seiner großen armenischen Diaspora, traditionell eine pro-armenische Position. Beispielsweise setzte sich Paris in der Minsker-Gruppe, die von der OSZE zur Lösung des Karabach-Konflikts eingesetzt wurde und in der Frankreich neben den USA und Russland den Ko-Vorsitz innehat, stets für die Belange Erivans ein. Großbritannien wiederum besitzt enge Beziehungen zu Aserbaidschan. Dies ist Folge des Engagements von British Petroleum, das am Konsortium zur Ausbeutung der Ölfelder des Kaspischen Meers führend beteiligt ist. Darüber hinausgehend finden sich aber kaum gravierenden Interessendivergenzen europäischer Staaten im Kaukasus. Für die Erarbeitung einer gemeinsamen EU-Politik gegenüber Armenien, Aserbaidschan und Georgien stellt diese Situation einen großen Vorteil dar. Dieser wird in weiten Teilen aber dadurch aufgehoben, dass die Interessen der europäischen Länder im Kaukasus äußerst unbestimmt sind. Zwar kam es im Zuge der EU-Osterweiterung und der TürkeiDebatte zu einer Ausdifferenzierung und Ausweitung der europäischen Interessen. Diese reicht jedoch kaum aus, um für Brüssel einen dringenden Handlungsbedarf zu schaffen – in Richtung einer schnellen Intensivierung und Koordinierung der Beziehungen zu Armenien, Aserbaidschan und Georgien. Die geringe Ausprägung europäischer Interessen im Kaukasus hängt stark damit zusammen, dass Europa mit den dortigen Ländern keine Jahrhunderte lange Geschichte intensiver Beziehungen verbindet – anders als mit den Balkanstaaten. Statt dessen gab es nur „Momente“, in denen die kaukasischen Staaten für die europäischen Großmächte von Bedeutung waren (MacFarlane 2005: 119). Aus dieser mangelnden Tradition enger Bindungen ergibt sich eine ideelle Indifferenz gegenüber der Region. In den Augen nicht weniger europäischer Politiker ist die Zugehörigkeit Armeniens, Aserbaidschans und Georgiens zu Europa umstritten. Anstatt als integraler Bestandteil Europas wurden die Kaukasusländer zu Beginn der 90er Jahre oftmals eher mit Zentralasien in Verbindung gesetzt oder als Brücke zwischen Europa und Asien betrachtet. Die geringe historische Verankerung der europäisch-kaukasischen Beziehungen erklärt darüber hinaus auch, weshalb sich unter den EUStaaten kaum ausgewiesene Anwälte einer stärkeren Anbindung Georgiens, Armeniens und Aserbaidschans an die EU finden. Das war bei den mittelosteuropäischen Ländern und den
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Mittelmeeranrainerstaaten anders. Lediglich die baltischen Republiken, Polen sowie die EU-Beitrittskandidaten Rumänien und Bulgarien, die sich in der Gruppe „Neue Freunde Georgiens“ zusammen geschlossen hatten, warben nach der „Rosenrevolution“ für engere Beziehungen zu Georgien. Traditionell skeptisch gegenüber Russland wollen sie auf diese Weise die Ablösung des Landes von Moskau fördern. Als junge bzw. erst künftige EUMitglieder verfügen diese Staaten aber noch nicht über den nötigen Einfluss, um effektiv die Anwaltsrolle gegenüber Georgien ausfüllen zu können. Betrachtet man die Interessen, die die EU-Staaten gemeinsam in Bezug auf den Kaukasus formulierten, so lassen sich diese in drei Bereiche einteilen.18 Erstens will Brüssel in der Region die Entwicklung von Rechtstaatlichkeit und Demokratie fördern. Bislang ist die Systemtransformation in allen drei Kaukasusstaaten gescheitert. Nach der Unabhängigkeitserklärung stockte der Demokratisierungsprozess und führte sowohl in Armenien, als auch in Aserbaidschan und Georgien zur Etablierung autoritärer Systeme19. Neben der Beschränkung des politischen und Meinungspluralismus zeichnen sich diese durch fehlende Rechtstaatlichkeit und einen hohen Grad an Klientelismus und informeller Entscheidungsfindung aus. Die normative Dimension der europäischen Interessen ist nicht nur der Konzeption der EU als Wertegemeinschaft geschuldet. Sie steht darüber hinaus in engem Zusammenhang mit den wirtschafts- und sicherheitspolitischen Interessen Brüssels. So leiden unter der „chronischen bad governance“ (MacFarlane 2005: 125) der Kaukasusrepubliken nicht nur deren Bürger, sondern auch die europäischen Investoren. Auf dem Index von Transparency International liegen Aserbaidschan und Georgien auf Platz 137 bzw. 130 von 158 Staaten und damit noch hinter Sierra Leone oder Burundi.20 Sie gehören zu den korruptesten Ländern der Welt. Die mangelnde Rechtstaatlichkeit der kaukasischen Länder schlägt sich zudem in einer Justiz nieder, die durch politische Einflussnahme in ihrer Unabhängigkeit beschränkt wird und wenig Professionalität aufweist. Vor dem Hintergrund fragiler Staatlichkeit stellt die mangelnde Rechtstaatlichkeit auch ein Sicherheitsrisiko dar, das über den kaukasischen Raum hinausgreift. Schließlich werden hierdurch Schlupflöcher für transnationale Gefahren wie organisiertes Verbrechen, Schmuggel und internationalen Terrorismus geöffnet. Dass die EU in den letzten Jahren innerhalb ihres normativen Interessenkomplexes eine Prioritätensetzung zugunsten des Themas „Rechtstaatlichkeit“ vornahm, erscheint damit nur konsequent. Auch wenn die Identifizierung von Prioritäten eine unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung einer gemeinsamen Strategie darstellt, darf nicht übersehen werden, dass die normativen Interessen der EU insgesamt noch sehr allgemein gefasst sind. Allein aus ihnen heraus wird sich kaum ein entscheidender Impuls für die Ausweitung der Beziehungen ergeben. Dazu kommt noch, dass die normativen Ziele teilweise in Widerspruch zu den energiepolitischen Interessen stehen. Zwar ist es im Sinne 18
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Daneben lassen sich noch Sonderinteressen in Bezug auf die einzelnen Kaukasusrepubliken identifizieren. Besondere Bedeutung besitzt dabei die Abschaltung des armenischen Atomkraftwerks Medzamor. Diese noch aus sowjetischer Bauart stammende Anlage gilt als Sicherheitsrisiko, auch weil sie in erdbebengefährdetem Gebiet liegt. Die EU ist bereit, dafür 100 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. Da Medzamor aber für 40% der armenischen Stromversorgung aufkommt, ist bislang kein Entgegenkommen Erivans zu verzeichnen. Dies gilt auch für Georgien, das zwar nach der „Rosenrevolution“ demokratische Fortschritte verzeichnen konnte, aber dennoch nicht den Anforderungen eines demokratischen Staats entspricht. Insbesondere im Bereich der Rechtstaatlichkeit sowie des politischen und Meinungspluralismus lassen sich auch heute noch gravierende Defizite feststellen (vgl. Wiest 2006). Lediglich Armenien rangiert im „Corruption Perception Index“ von 2005 auf Platz 88 im Mittelfeld (www.transparency.de/Corruption_Perceptions_Index_2.810.0.html).
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einer langfristigen Versorgungssicherheit sinnvoll, dass Europa die rechtstaatliche Entwicklung des Gebiets zwischen Schwarzen und Kaspischen Meer fördert. Kurzfristig kann es für Brüssel aber von Nachteil sein, die autoritären Regime zu sehr unter Druck zu setzen. Schließlich garantieren diese ein gewisses Maß an politischer Stabilität, was angesichts der „frozen instability“ (Halbach/Müller 2001: 2) der Region durchaus von Bedeutung ist. Das dürfte auch der Grund sein, weshalb die EU die manipulierten Parlamentswahlen Aserbaidschans im November 2005 zwar kritisierte, darüber hinausgehend aber keine Sanktionen verhängte – wie die Aussetzung der Arbeit am Aktionsplan. Der zweite Interessenkomplex der EU bezieht sich auf den Bereich der Sicherheitspolitik. Zwar ist die Bedeutung des Kaukasus in diesem Politikfeld durch die veränderte Bedrohungslage nach dem 11. September 2001 und die geographische Annäherung im Zuge der Osterweiterung gestiegen. Fast alle „Hauptbedrohungen“, die in der Europäischen Sicherheitsstrategie vom Dezember 2003 aufgezählt werden, lassen sich gebündelt in der Region zwischen Schwarzem und Kaspischen Meer finden: internationaler Terrorismus, regionale Konflikte, scheiternde Staaten sowie organisiertes Verbrechen und illegale Immigration (Europäische Sicherheitsstrategie 2003). Vor diesem Hintergrund stellt der Kaukasus ein latentes Sicherheitsrisiko für die EU dar. Zwar ist bislang Russland am stärksten von den Spillover-Effekten aus der Region betroffen. Mit einem möglichen Türkei-Beitritt wird dieses Problem aber auch für die EU an Dringlichkeit gewinnen. Schließlich grenzt das Land im Osten an zwei kaukasische Länder, Armenien und Georgien. Aus energiepolitischer Sicht stellt die fragile Sicherheitslage des Kaukasus bereits heute ein Problem für Europa dar. Terroristische Anschläge, vor allem aber ein Wiederaufbrechen der „frozen conflicts“ bedrohen die Versorgung mit Öl und Gas aus dem Kaspischen Meer und Zentralasien. Aus diesen Gründen ist es nur sinnvoll, dass die EU innerhalb des sicherheitspolitischen Interessenkomplexes eine Prioritätensetzung vornahm – und zwar zugunsten der Lösung der Regionalkonflikte. Schließlich stellen diese das sicherheitspolitische „Grundübel“ des Kaukasus dar. Solange sie nicht gelöst sind, werden Terroristen und das organisierte Verbrechen über leichte Rückzugsgebiete verfügen. Zudem belasten sie die demokratische und rechtstaatliche Entwicklung der kaukasischen Republiken: Denn sie eröffnen den dortigen Exekutiven die Möglichkeit, ihre Dominanz im politischen System zu legitimieren, weiten den Handlungsspielraum demokratisch nicht legitimierter Akteure aus und fördern die Radikalisierung der ohnehin schon exklusiven Nationalismen. Seit dem Gipfeltreffen von 1999 heißt es daher konsequenterweise in allen relevanten Dokumenten der EU, dass die Lösung der „frozen conflicts“ Voraussetzung für die weitere Entwicklung der Beziehungen sei (Gemeinsame Erklärung der Europäischen Union, der Republik Armenien, der Aserbaidschanischen Republik und Georgiens vom 22. Juni 1999). Dieser Ansatz kann aber nur Wirkung entfalten, wenn die Konditionalität mit starken (wirtschaftlichen) Anreizen verbunden und von einem aktiven Engagement der EU begleitet wird. Das bedeutet, dass Brüssel in den Aktionsplänen für jedes Land klar umrissene Ziele für die Konfliktlösung festschreiben und diese mit konkreten Angeboten – wie Wirtschaftshilfen oder VisaErleichterungen – verbinden muss. Dies allein wird allerdings kaum ausreichen. Da die kaukasischen Konflikte teilweise bereits seit Jahrhunderten schwelen, ist die Wirksamkeit rationaler Anreizsysteme begrenzt. Umso wichtiger ist es, dass Brüssel parallel diplomatische Instrumente einsetzt. Mit relativ geringem Aufwand könnte beispielsweise eine europäische Mission gegründet werden, die die georgische Regierung bei der Erarbeitung einer
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föderalen Lösung für Südossetien und Abchasien berät. Deutlich mehr finanzielle und personelle Ressourcen würde dagegen eine aktive Vermittlungstätigkeit oder ein militärisches Engagement der EU erfordern, z.B. zur Überwachung der instabilen Grenzen oder als Peacekeeping-Einheiten. Diplomatische Initiativen Brüssels könnten durchaus Schwung in die eingefahrenen Verhandlungen im Rahmen von OSZE und UNO bringen. Zudem verfügt die EU über den Vorteil, in der Region als neutrale „Ordnungsmacht ohne Dominanzanspruch“ (Wolter 1999: 39) zu gelten. Dass sie sich bisher weigert, ihr sicherheitspolitisches Engagement signifikant zu steigern, liegt zum einen am Risiko, die russisch-europäischen Beziehungen zu gefährden. Moskau ist in allen existierenden Verhandlungsformaten in zentraler Position beteiligt21 und möchte diese vorteilhafte Situation nicht durch europäische Konkurrenz gefährden. Zum anderen ist das geringe Engagement der EU im Kaukasus Folge der begrenzten personellen und finanziellen Ressourcen. Sie werden auf diejenigen Regionen konzentriert, die aufgrund direkt spürbarer Spillover-Effekte Priorität genießen, allen voran den Balkan. Im Kaukasus beschränkt man sich darauf, Prozesse zu unterstützen, die von anderen Organisationen wie der UNO oder der OSZE ausgingen (MacFarlane 2005: 130). Es lässt sich also konstatieren, dass die sicherheitspolitischen Interessen der EU im Kaukasus in den vergangenen Jahren gestiegen sind und durchaus als Anreiz zur Ausarbeitung einer stärker koordinierten Politik wirken. Dass sich hieraus zugleich ein deutlich erweitertes Engagement Brüssels vor Ort ergibt, erscheint kurz- bis mittelfristig aber „vergleichsweise gering“, wie der EU-Sonderbeauftragte Heiki Talvitie einräumt22. Betrachtet man die Wirtschaftspolitik als dritten Interessenkomplex, ist festzustellen, dass sich dieser weitgehend in der Energiepolitik erschöpft. Darüber hinausgehend ist der Kaukasus für Brüssel ökonomisch von zu vernachlässigender Bedeutung. Weder besitzt er Öl und Gas ausgenommen – nennenswerte Rohstoffe, noch stellt er in naher bis mittlerer Perspektive einen interessanten Absatzmarkt für europäische Produkte dar. Das geringe Potential der Wirtschaftsbeziehungen lässt sich beispielsweise daran ablesen, dass die EUExporte nach Georgien nur 0,03% des EU-Außenhandels ausmachen23. Für die übrigen Kaukasusländer gelten ähnliche Zahlen.24 Lediglich im Bereich der Energiepolitik entwickelte die EU von Beginn an ein starkes Interesse an den kaukasischen Staaten. Um ihre Energieimporte zu diversifizieren, wollen die europäischen Staaten gesicherten Zugang zu den Öl- und Gasquellen im Kaspischen Meer sowie in Zentralasien. Daher unterstützte Brüssel mit den TRACECA- und INOGATE-Programmen die Entwicklung einer von Russland unabhängigen Pipelineführung. Seit Mai 2005 werden die europäischen Staaten durch 21
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Russland besitzt zusammen mit den USA und Russland den Ko-Vorsitz in der Minsker Gruppe der OSZE, die seit 1994 um eine Lösung des Karabach-Konflikts ringt. In den georgischen Regionalkonflikten ist die Position Moskaus noch stärker ausgeprägt. Seit 1994 überwacht eine GUS-Peacekeeping-Truppe, die aus russischen Soldaten besteht, kontrolliert von der UNOMIG (UN Observer Mission to Georgia) die abchasisch-georgische Grenzregion. Im Fall von Südossetien bemüht sich eine Gemeinsame Kontrollkommission um die Lösung des Konflikts. In diesem ist Russland gleich zweifach bzw. indirekt gleich dreifach vertreten: erstens als Gesamtstaat, zweitens durch sein Föderationssubjekt Nordossetien und drittens durch das abtrünnige georgische Gebiet Nordossetien, das massiv von Russland unterstützt wird. Dem steht die Zentralmacht in Tiflis als vierte Verhandlungspartei relativ schwach gegenüber. http://www.dradio.de/dlf/sendungen/europaheute/374554 http://europa.eu.int/comm/external_relations/georgia/intro/index.htm Importe aus Aserbaidschan machten im Jahr 2004 0,1% aller Importe in die EU aus. 0,13% der europäischen Exporte gingen nach Aserbaidschan. Die europäischen Exporte nach Armenien machten im Jahr 2004 0,1% aller europäischen Exporte aus. 0,2% der europäischen Importe stammten im selben Jahr aus Armenien, http://europa.eu.int/comm/trade/issues/bilateral/data.htm
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die von Baku über Georgien ins türkische Ceyhan führende Pipeline mit Öl versorgt25. Die energiepolitische Bedeutung des Kaukasus wird in Zukunft noch steigen, wenn die Abhängigkeit der EU-Staaten von externen Energiezufuhren von momentan 50% auf prognostizierte 70% im Jahr 2030 wachsen wird (Europäische Sicherheitsstrategie von 2003). Angesichts der zunehmenden Abhängigkeit von Russland und dessen im „Gaskrieg“ mit der Ukraine demonstrierten Willen, die Energiepolitik als außenpolitische Waffe einzusetzen, erhält die Diversifizierung der Energieimporte für Europa noch größere Brisanz. Die Kaspische Region könnte dabei bis 2020 ein Drittel des gesamten europäischen Erdöl- und Erdgasimports decken (Warkotsch 2004). Auch wenn die energiepolitischen Interessen der EU stark ausgeprägt sind, liefern sie nur bedingt einen Impuls zur Erarbeitung einer gemeinsamen Kaukasuspolitik. Schließlich beziehen sie sich nicht exklusiv auf Aserbaidschan und Georgien26, sondern schließen die übrigen an Produktion und Transport beteiligten Länder mit ein. Davon zeugt die Europäische Energiecharta, das wichtigste Ordnungsinstrument der EU in diesem Bereich27. Sie legt die rechtlichen Grundlagen zur energiepolitischen Zusammenarbeit mit alle Ländern der ehemaligen Sowjetunion fest. Die kaukasischen Republiken erscheinen darin nicht als isolierter Raum, sondern erhalten ihre Bedeutung erst im Gesamtzusammenhang. Das zentrale Koordinierungsproblem bei der Ausarbeitung einer gemeinsamen EUKaukasuspolitik besteht also nicht darin, unversöhnliche Interessendivergenzen einzelner europäischer Staaten abgleichen zu müssen. Brüssel verfügt in dieser Hinsicht sogar über einen überraschend hohen „Freiheitsgrad“ (Halbach/Müller 2001: 3). Dass es diesen bislang nur bedingt nutzte, hängt in erster Linie damit zusammen, dass seine Interessen in der Region zu schwach und zu unspezifisch ausgeprägt sind. Dadurch entsteht kaum der dringende Handlungsdruck, der nötig ist, um die mit der Ausarbeitung einer „Gemeinsamen Politik“ verbundenen „Kosten“ zu rechtfertigen. In erster Linie fehlen ökonomische Anreize jenseits der Energiepolitik, die als Zugpferd für ein stärkeres Engagement Europas dienen könnten. Es mangelt an wirtschaftlicher Zusammenarbeit auf der mittleren Ebene, aus der heraus eine konstante Lobby für engere Beziehungen zum Kaukasus entstehen könnte. Ob sich dieser Nachteil und die Hypotheken, die sich aus der fehlenden Tradition enger Beziehungen und der allgemeinen europäischen Indifferenz gegenüber dem Kaukasus ergeben, in mittlerer Perspektive allein durch die ausgeweiteten sicherheits- und energiepolitischen Interessen ausgleichen lassen, bleibt abzuwarten.
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Mit dem Bau der 1768 km langen BTC-Pipeline war 2002 begonnen worden. Inhaber ist ein internationales Konsortium aus 11 Öl-Gesellschaften, an dem British Petroleum den größten Anteil besitzt. Unter Führung von BP wurden noch zwei weitere Pipelines gebaut: die Western Route Export Pipeline vom Kaspischen Meer über Aserbaidschan bis zum georgischen Schwarzmeerhafen Suspsa, durch die seit 1999 Erdöl fließt sowie die South Caucasus Gas Pipeline vom Kaspischen Meer über Georgien ins türkische Erzurum. Sie soll bis zum Herbst 2006 fertig sein und Erdgas nach Westen liefern. Armenien spielt energiepolitisch für die EU kaum eine Rolle, denn es ist weder Liefer- noch Transitland. Auf niederländische Initiative erarbeitete die EU-Kommission 1991 das Konzept einer Europäischen Energiecharta. Unterzeichnet wurde der Vertrag über die Energiecharta am 17. Dezember 1994 in Lissabon von mehr als 40 Staaten. Sein Ziel besteht darin, einen rechtlichen Rahmen zur Förderung der Öl- und Gasreserven auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion aufzustellen. Zugleich soll die Nutzung dieser Energieressourcen mittels westlicher Technologien und westlichen Kapitals erleichtert werden (www.europa.eu.int/scadplus/leg/de/lvb/127028.htm)
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Der Kaukasus im Schatten der Russland- und Türkeipolitik
Ein weiteres Problem bei der Ausarbeitung einer gemeinsamen Kaukasuspolitik der EU besteht darin, dass eine solche mit den Beziehungen zu Russland und der Türkei abgestimmt werden muss. Schließlich stellen Moskau und Ankara die wichtigsten Regionalmächte im Gebiet zwischen Schwarzem und Kaspischen Meer dar.28 Als Konfliktpartei und Patronagemacht sind sie zudem direkt in die kaukasischen Konflikte verwickelt. So unterstützt die türkische Regierung im Karabach-Konflikt das ihm in Sprache, Kultur und Religion eng verwandte Aserbaidschan. Zusammen mit diesem führt Ankara seit mehr als zehn Jahren eine Landblockade gegen Armenien durch. Die türkisch-armenischen Beziehungen sind des Weiteren durch den Genozid von 1915 schwer belastet. Moskau wiederum versteht sich als Schutzmacht Armeniens.29 Militärisch ist es in allen drei Kaukasusrepubliken präsent.30 Um seinen Einfluss in Georgien aufrechtzuerhalten, verfuhr Russland nach der schon zu Zaren- und Sowjetzeiten angewandten „divide et impera“-Strategie und unterstützte die Separatismusbestrebungen von Südossetien und Abchasien. Diese „ProtoStaaten“ erhalten von Russland (in)direkte wirtschaftliche, militärische und politischdiplomatische Hilfe. Als besonderen Schachzug gewährte Moskau der Hälfte der dort lebenden Bevölkerung mittlerweile russische Pässe, wodurch es seine Involvierung in die Konflikte als Schutz der eigenen Staatsbürger rechtfertigen kann (FAZ vom 18.08.2004). Des Weiteren ist zu bedenken, dass die Konfliktlagen im Süd- und Nordkaukasus eng miteinander verwoben sind. Spillover-Effekte aus den russischen Unruhe-Republiken Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan machen sich im angrenzenden Georgien und Aserbaidschan bemerkbar. Die Schwäche der georgischen Zentralmacht wiederum ermöglichte tschetschenischen Terroristen und Kämpfern lange Zeit, die georgisch-tschetschenische Grenzregion, allen voran das Pankisi-Tal, als Rückzugsgebiet zu nutzen. Die Erarbeitung einer gemeinsamen Kaukasuspolitik muss diesen Umständen Rechnung tragen. Da die Lösung der „frozen conflicts“ nur unter Einbeziehung Ankaras und Moskaus zu leisten ist, muss Brüssel in einer ersten Stufe seine dahin gehenden Ansprüche klar formulieren und in den relevanten Dokumenten verankern. In einer zweiten Stufe könnte Brüssel, wie bereits erwähnt, selbst im Bereich der Konfliktlösung aktiv werden. Für die EU stellt beides einen schwierigen Balanceakt dar. Schließlich sind Moskau und Ankara aus ökonomischen und politischen Gründen die wesentlich wichtigeren Partner Brüssels. Allein 20% der europäischen Erdölimporte stammen aus Russland, das zudem Platz fünf der wichtigsten Handelspartner der Union einnimmt. Die Türkei steht auf Platz sieben und ist im Rahmen der NATO ein wichtiger sicherheitspolitischer Partner31. Zudem verbindet die meisten europäischen Staaten mit Russland und der Türkei – anders als mit den kaukasischen Staaten – eine lange Tradition intensiver Beziehungen. In der Folge be28
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Zu den Regionalmächten im Kaukasus gehören zudem der Iran sowie die USA. Da Teheran und Washington allerdings keine direkten Konfliktparteien in den „frozen conflicts“ sind und der Kaukasus in den europäisch-iranischen sowie europäisch-amerikanischen Beziehungen kaum eine Rolle spielt, wird dieses Beziehungsgeflecht in der Untersuchung außen vor gelassen. Im August 1997 schlossen Moskau und Erivan einen Freundschaftsvertrag, der eine weitreichende militärische Kooperation vorsieht. Russland unterhält eine Militärpräsenz im armenischen Erivan und Gyumri. Zudem stellen russische Truppen den Großteil der Grenztruppen an der armenisch-türkischen und armenisch-iranischen Grenze. Im aserbaidschanischen Gabala unterhält Russland ein Frühwarnsystem. In Georgien verfügt Russland über Militärbasen in Batumi und Achalkalaki.. Nach langwierigen und schwierigen Verhandlungen einigten sich beide Seiten im Mai 2005 darauf, dass diese Basen bis zum Jahr 2006 von Moskau geräumt werden. http://europa.eu.int/comm/trade/issues/bilateral/data.htm
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sitzen beide Länder wichtige Fürsprecher innerhalb der Union. Vor diesem Hintergrund ist nicht zu erwarten, dass der europäische Druck auf Russland und die Türkei eine Grenze überschreitet, die die beiderseitigen Beziehungen ernsthaft belasten könnte. Dies bedeutet aber nicht, dass Brüssel zur Passivität verurteilt ist. Seine Einflussmöglichkeiten auf die beiden Regionalmächte sind jedoch unterschiedlich ausgeprägt. Hinsichtlich der Türkei besitzt die EU mit den Beitrittsverhandlungen einen nicht zu unterschätzenden Hebel. Zudem ist Ankara prinzipiell an einem europäischen Engagement im Kaukasus interessiert, möchte es doch den starken russischen Einfluss zurückdrängen. Die EU kann diese Situation nutzen, um auf ein Ende der Landblockade sowie eine Aussöhnungspolitik mit Erivan zu pochen. Dazu gehört auch eine offene Debatte über die Ereignisse von 1915. Bisher ist die EU aber zurückhaltend. Zwar übt sie durchaus Kritik an der türkischen Armenienpolitik. Dies zeigte sich beispielsweise im Sommer 2005, als eine internationale Konferenz zur historischen Aufarbeitung der „Armenier-Frage“ in Istanbul per Gerichtsbeschluss verboten wurde. Dass Premierminister Erdogan sie dennoch stattfinden ließ, war in erster Linie dem Druck aus Brüssel geschuldet (Die Welt vom 26.09.2005). Die EU versäumte es bisher aber, die Verbesserung der Beziehungen zu Armenien – ähnlich der Lösung der Zypern-Frage – explizit als Priorität in den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei festzuschreiben. Stattdessen begnügt sie sich mit der allgemeinen Formulierung, „gut nachbarschaftliche Beziehungen“ sowie die „Lösung offener Grenzstreitigkeiten“ mit friedlichen Mitteln zu fordern32. Dies zeigt, dass die EU ihre ohnehin komplizierten Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht durch einen weiteren Stolperstein „Kaukasus“ belasten will. In Bezug auf die dominante Regionalmacht, Russland, sind die Einflusshebel der EU wesentlich geringer ausgeprägt. Dies liegt zum einen daran, dass Moskau keine Mitgliedschaft in der Union anstrebt. Zum anderen ist seine wirtschaftliche und politische Position gegenüber Brüssel stärker als die der Türkei. Es besitzt darüber hinaus mit Deutschland, Italien und Frankreich wichtige Fürsprecher innerhalb der EU. Wie stark die europäische Kaukasuspolitik bis heute im Schatten der europäischen Russlandpolitik liegt, illustriert der Streit um die Grenzbeobachtungsmission an der georgisch-russischen Grenze. Bis Ende 2004 hatte die OSZE das sensible Gebiet überwacht. Nachdem sie die „farbigen Revolutionen“ im GUS-Raum unterstützt hatte, weigerte sich Moskau, das Ende 2004 auslaufende Grenzbeobachtungs-Mandat der OSZE zu verlängern.33 Die neue georgische Regierung, aufgeschreckt von russischen Drohungen, tschetschenische Kämpfer notfalls bis in georgisches Gebiet hinein zu verfolgen, bat daraufhin die EU, dieses zu übernehmen. Nach mehrmonatiger Überlegung lehnte Brüssel auf Druck der Anhänger einer „Russia-First“Politik ab. Sie fürchteten, die Entsendung einer europäischen Militärmission in den „Hinterhof“ Moskaus würde die europäisch-russischen Beziehungen unnötig belasten. Letztlich erklärte sich die EU lediglich bereit, Georgien bei der Reform seines Grenzschutzes zu unterstützen (SZ vom 18.03.2005). Dass die EU ihre Beziehungen zu Armenien, Aserbaidschan und Georgien bislang nur unzureichend mit ihrer Türkei- und Russlandpolitik abstimmte, ist sowohl Ursache, als 32
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Beschluss des Rates über die Grundsätze, Prioritäten und Bedingungen der Beitrittspartnerschaft mit der Türkei vom 9. 11. 2005, in: www.eu.int/comm/enlargement/docs/pdf/st20002_en05_TR_framedoc.pdf Offiziell erklärte Moskau seine Haltung damit, dass das georgische Grenzgebiet immer wieder von tschetschenischen Terroristen als Rückzugsraum genutzt und dies von der OSZE-Mission nicht verhindert worden sei.
Die Beziehungen der EU zum Kaukasus: neue Dynamik ohne klare Strategie
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auch Folge des Fehlens einer ausgearbeiteten Strategie. Solange diese Koordinierungsleistung nicht erbracht wird, besteht fortwährend die Gefahr, dass die Kaukasus-Politik Brüssels zu sensibel auf externen Druck reagiert. Vor dem Hintergrund rivalisierender Regionalmächte mit widersprüchlichen Interessen und Agenden ist es für die EU daher unumgänglich, ihre eigenen Prioritäten zu definieren. Ansonsten wird sie auch in Zukunft nur reagieren, aber nicht als selbständiger Akteur mit eigenem Handlungsspielraum in Erscheinung treten. 7
Regionaler versus bilateraler Ansatz
Koordinierungsbedarf bei der Erarbeitung einer gemeinsamen EU-Politik ergibt sich darüber hinaus hinsichtlich des Kaukasusraums selbst. Das zentrale Problem besteht dabei darin, eine Balance zwischen regionaler Kohärenz und länderspezifischer Flexibilität zu finden. Dieses Spannungsverhältnis ergibt sich zum einen daraus, dass die Konflikt- und Problemlagen der drei kaukasischen Staaten eng miteinander verzahnt sind und daher nicht isoliert voneinander betrachtet werden können. Gerade aus der Außenperspektive der EU mit ihrem Fokus auf sicherheits- und energiepolitischen Interessen erscheint der Kaukasus als regionale Einheit. Mit einem primär bilateralen Ansatz ließen sich weder die transnationalen Sicherheitsrisiken effektiv bekämpfen, noch die zwischenstaatlichen Transportvorhaben verwirklichen. Andererseits muss die Kaukasuspolitik der EU aber auch eine flexible, d.h. diversifizierte Herangehensweise an die einzelnen Länder ermöglichen. Denn aus der Innenperspektive der kaukasischen Länder lösen sich die Gemeinsamkeiten der Region schnell auf. Hier erscheint das Gebiet zwischen Schwarzem und Kaspischen Meer als regelrecht „atomisiert“ in drei Staaten, ebenso viele „Proto-Staaten“, zwei Religionen, zahlreichen Konfessionen und bis zu Hundert Völker und Sprachen. Zudem unterscheiden sich die kaukasischen Länder in ihrer Interessenausprägung gegenüber der EU sowie in ihrer außenpolitischen Handlungsfreiheit. Dementsprechend sind die Einflusshebel Brüssels je nach Land unterschiedlich ausgeprägt. Am stärksten wirbt Georgien um ein engeres Verhältnis zur EU. Schon unter Präsident Eduard Schewardnadse war die Mitgliedschaft in der Union als langfristiges außenpolitisches Ziel proklamiert worden. Priorität wurde diesem aber erst unter der neuen Führung zugesprochen, die die bisherige „multivektorale“ Praxis des Lavierens zwischen Moskau und dem Westen zugunsten einer klar pro-westlichen Positionierung beendete. Während Schewardnadse 1999 noch von einer Perspektive von 40 Jahren bis zur Mitgliedschaft in der EU gesprochen hatte, setzt die Regierung seines Nachfolgers die Zeitspanne mit ca. 15 Jahren wesentlich kürzer an. Tiflis Annäherung an Brüssel entspringt – anders als die seiner Nachbarn Armenien und Aserbaidschan – nicht allein ökonomischen Motiven. Natürlich ist auch Georgien an einer Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen interessiert. Schließlich stellt die EU den wichtigsten Handelspartner des Landes dar. 26% der georgischen Importe stammen aus der EU und 43% der Exporte des Landes gehen nach Europa34. Die neue georgische Führung drängt daher - ebenso wie ihre Gegenparts in Erivan und Baku – Brüssel dazu, seine Finanzhilfen und Investitionen deutlich auszubauen sowie Zollerleichterungen, die Anerkennung des Marktwirtschaftsstatus35 und Zugang zum europäischen Binnenmarkt
34 35
http://europa.eu.int/comm/external_relations/georgia/intro/index.htm Bislang wurde Armenien und Georgien der Status eines Schwellenlandes zugesprochen.
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zu gewähren. Darüber hinaus ist Tiflis aber an einer Zusammenarbeit in weiteren Politikbereichen interessiert. Um den dominanten Einfluss Russlands zurückzudrängen, strebt es ein Engagement der EU im Bereich der regionalen Konfliktlösung an. Zudem steht es einer Kooperation auf der normativen Ebene wesentlich offener gegenüber, als dies bei Armenien und Aserbaidschan der Fall ist. Der Wunsch nach einer Mitgliedschaft bzw. einer auf breiter Basis beruhenden Intensivierung der Beziehungen schafft zusammen mit dem Ziel, außen- und sicherheitspolitische Unabhängigkeit von Russland zu erhalten, eine für die EU vorteilhafte Situation. In dieser verfügt sie über mehr als nur wirtschaftliche Anreize. Sie kann daher effektiver auf die Verwirklichung demokratischer, ökonomischer und sicherheitspolitischer Reformen drängen, als dies bei Armenien oder Aserbaidschan der Fall ist. Auch die armenische Führung proklamiert das Ziel, der EU beitreten zu wollen. Wegen seiner militärischen Abhängigkeit von Moskau ist sein außenpolitischer Handlungsspielraum aber eng begrenzt. Eine Kooperation mit Brüssel in Fällen, die russischen Vorstellungen widersprechen – beispielsweise im Karabach-Konflikt –, ist daher kaum wahrscheinlich. Daran ändert auch das stark ausgeprägte wirtschaftliche Interesse an Europa nichts. Am schwächsten sind die Einflusshebel Brüssels auf Aserbaidschan ausgebildet. Das liegt in erster Linie daran, dass hier eine gewisse Ausgeglichenheit der ökonomischen Bedürfnisse besteht. Zwar stellt die EU den wichtigsten Handelspartner Bakus dar36, während umgekehrt Aserbaidschan für Brüssel abgeschlagen nur auf Platz 61 steht. Die vermeintlich hohe Differenz trügt aber insofern, als das Land am Kaspischen Meer als Produzent von Erdöl und Erdgas selbst über ein nicht zu verachtendes Drohpotential verfügt. Darüber hinaus ist die Außenpolitik Bakus insgesamt stärker auf die Türkei als die EU ausgerichtet. Eine Mitgliedschaft in der Union wird von Aserbaidschan bislang nicht angestrebt. Die Möglichkeiten Brüssels, über wirtschaftliche Anreize den politischen Reformprozess im Land zu beeinflussen, sind daher gering. Der autoritäre Herrscher Ilham Aliev lehnt ebenso wie sein Gegenpart Robert Kotscharjan aus Armenien ein diesbezügliches Engagement Brüssels als Einmischung in innere Belange strikt ab. Das vergleichsweise geringe Interesse der aserbaidschanischen Führung an der EU zeigte sich deutlich im Herbst 2005, als sie wegen eines bizarren Freundschaftsdienstes gegenüber der Türkei die Ausarbeitung ihres Aktionsplans riskierte. Um die türkische Position im Zypern-Konflikt symbolisch zu unterstützen, hatte Baku der „Turkish Cypriotic Airline“ erlaubt, auf dem Flughafen Baku zu landen. Damit verstieß es aber gegen das Embargo der internationalen Luftfahrtbehörde, wodurch die Arbeit am Aktionsplan verzögert wurde (International Herald Tribune vom 1.07.2005). Die EU ist also gefordert, eine Kaukasuspolitik zu entwickeln, die sowohl eine starke regionale Komponente besitzt, als auch die besonderen Rahmenbedingungen der einzelnen Länder berücksichtigt. Bei beidem befindet sich Brüssel erst am Anfang. Stärker ausgeprägt ist bislang allerdings der regionale Ansatz, für den die EU bis zum Jahr 2003 eine klare Präferenz zeigte. Dieser spiegelt sich in Bemühungen wider, Projekte zu fördern, die eine Zusammenarbeit der kaukasischen Länder erfordern. Darauf verweisen die Infrastrukturvorhaben im Rahmen von TRACECA und INOGATE. Sie sollen explizit nicht nur den Bau von Pipelines, sondern auch von grenzüberschreitenden Bahnverbindungen und Brücken fördern. Die EU erhofft sich hieraus einen vertrauensbildenden Nebeneffekt ihrer Maßnahmen (Wolter 1999: 36). Darüber hinaus macht sich der regionale Ansatz in dem Versuch 36
Im Jahr 2004 stammten 34% der Importe Aserbaidschans aus EU-Ländern und 72% der aserbaidschanischen Exporte gingen an die EU-Länder.
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bemerkbar, allen drei Kaukasusrepubliken die gleichen Ausgangsbedingungen zur Entwicklung ihrer Beziehungen mit der EU zu gewähren. Dementsprechend wurden die Partnerschafts- und Kooperationsabkommen 1996 auf einem gemeinsamen Gipfeltreffen mit allen drei kaukasischen Staaten unterzeichnet. Zwar hätten die Abkommen in ihrem Inhalt Differenzen zwischen den Ländern zugelassen. In der Praxis machte die EU von dieser Möglichkeit aber kaum Gebrauch. Zu gering waren die europäischen Interessen ausgeprägt und zu ähnlich erschienen die Kaukasusstaaten in ihrem politischen Entwicklungsstand. Dass Armenien, Aserbaidschan und Georgien gleichzeitig in die Europäische Nachbarschaftspolitik aufgenommen wurden, spiegelt ebenfalls den auf dem Gedanken der Chancengleichheit beruhenden regionalen Ansatz wider. Der Impuls hierfür war schließlich allein von Georgien ausgegangen. Dennoch lässt sich seit dem Jahr 2003 ein erstes zaghaftes Herantasten an länderspezifische Differenzierungen erkennen. Das zeigt sich daran, dass die EU den Schwerpunkt ihrer gemeinsamen Aktionen sowie ihres eingesetzten diplomatischen und finanziellen Kapitals seitdem klar auf Georgien legt. Mit dem Instrument der Aktionspläne wird es in Zukunft einfacher sein, den Weg der Differenzierung weiter zu beschreiten. Denn in den Aktionsplänen legen die Partnerländer individuell mit der EU den Umfang ihrer künftigen Kooperation fest. Es ist daher möglich, die Anforderungen und Angebote an die einzelnen Staaten je nach deren politischen und wirtschaftlichen Entwicklungsgrad und -wünschen zu formulieren. Brüssel sollte diesen Spielraum nutzen, und in der ersten Runde der Aktionspläne den Schwerpunkt auf Georgien legen. Falls beide Seiten diese Chance ergreifen, könnte sich aus dem Präzedenzfall ein Dominoeffekt auf die beiden anderen kaukasischen Republiken ergeben. Insgesamt stärken die Aktionspläne also die bilaterale Komponente der europäisch-kaukasischen Beziehungen. In ihrem Rahmen ist es zugleich aber auch möglich, den regionalen Ansatz weiter zu entwickeln. Denn bei der Festlegung der konkreten Ziele können neben internen Reformen, die nur das einzelne Land betreffen, als zweiter Pfeiler auch Forderungen aufgestellt werden, die eine länderübergreifende Kooperation erforderlich machen. Wichtig ist dabei lediglich, dass diese Ziele so konkret wie möglich formuliert werden. Nur so lässt sich vermeiden, dass die Führungen der einzelnen Länder ihr eigenes Scheitern nicht mit vermeintlicher Kooperationsverweigerung der anderen Seite rechtfertigen. 8
Ausblick
Obwohl seit dem Jahr 2003 eine neue Dynamik im Verhältnis Brüssels zu den kaukasischen Staaten beobachtet werden kann, führte diese bislang nicht zu qualitativ neuen Beziehungen. Die gemeinsamen Aktionen der EU in der Region und die Einbeziehung Armeniens, Aserbaidschans und Georgiens in die Europäische Nachbarschaftspolitik stellen lediglich eine quantitative Ausweitung der bisherigen Beziehungen dar. Eine qualitativ neue Stufe wird die europäische Kaukasuspolitik aber nicht durch eine Häufung von Einzelinitiativen, sondern erst im Rahmen einer ausgearbeiteten Strategie erreichen. Nur auf diesem Weg kann Brüssel der Sprung von einer reaktiven ad-hoc-Politik zu einer aktiven und effektiven Gestaltung seiner Beziehungen zu den kaukasischen Staaten gelingen. Wie bereits erwähnt, bedarf die Entwicklung einer Strategie dreier grundsätzlicher Leistungen. Erstens müssen die Interessen klar definiert und Prioritäten festgelegt werden. Darauf aufbauend ist das passende Instrumentarium zu entwickeln, das eine möglichst effektive Durchsetzung der aufgestellten Ziele ermöglicht. Drittens sind die Ziele und Mit-
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tel mit konkurrierenden Ansprüchen anderer Strategien abzustimmen. Die EU hat in den vergangenen Jahren durchaus erste Anstrengungen in diese Richtung unternommen. Auf der ersten Ebene ließ sich eine Prioritätensetzung innerhalb der normativen und sicherheitspolitischen Interessen beobachten, nämlich die Förderung der Rechtstaatlichkeit und die Lösung der Regionalkonflikte. Mit der Aufnahme in die Europäische Nachbarschaftspolitik steht auf der zweiten Ebene nun auch für Armenien, Aserbaidschan und Georgien das Instrument der Aktionspläne zur Verfügung, durch das die Forderungen der EU klarer formuliert und zugleich die Angebote Brüssels interessanter als in den Partnerschafts- und Kooperationsabkommen gestaltet werden können. Diese Schritte reichen aber keineswegs aus. Insgesamt sind die Interessen der EU noch zu unbestimmt; die Aktionspläne wiederum sind als alleiniges Instrumentarium ungenügend, um die Ziele der EU effektiv umzusetzen. Sie müssen durch diplomatische und finanzielle Initiativen ergänzt werden. Bis 2003 betrugen die Finanzhilfen, die die EU den drei kaukasischen Staaten im Rahmen nationaler TACISProgramme gewährte, lediglich 279.400 Euro.37 Russland erhielt dagegen bis heute 2.6 Milliarden Euro im Rahmen des TACIS-Programms. Dazu kommt noch, dass die finanziellen Hilfen der EU im Vergleich zu den Leistungen privater Investoren gering sind. Große Firmen wie British Petroleum geben in der Region ähnliche Beträge wie die EU aus. Um die wirtschaftlichen und politischen Prozesse in den kaukasischen Staaten zu beeinflussen, muss Brüssel Veränderungen auf der Ressourcenseite vornehmen. Zum einen erscheint eine Bündelung der finanziellen Hilfen angebracht. Bislang wird die europäische Hilfe eher nach dem Gießkannenprinzip verteilt. Eine klare Schwerpunktsetzung ist daher angebracht. Zu denken wäre dabei zum Beispiel an ein verstärktes europäisches Engagement bei der Ausbildung von „Schlüsselpersonal“ in Verwaltung, Justiz und rechtsschützenden Organen. Zum anderen wird die EU ihre Finanzhilfen aber auch insgesamt aufstocken müssen. Die Ausarbeitung einer gemeinsamen Kaukasusstrategie ist also mit deutlichen finanziellen, personellen und diplomatischen Kosten verbunden. Das erklärt, weshalb es auf der dritten Ebene bislang kaum Fortschritte bei der Ausarbeitung einer gemeinsamen Kaukasusstrategie gibt. Schließlich sieht sich Brüssel hier „multipler Ansprüche“ (MacFarlane 2005: 132) ausgesetzt. Dies betrifft zum einen die Wechselwirkungen mit anderen Länderstrategien. So müsste eine effektive gemeinsame EU-Politik gegenüber den kaukasischen Staaten mit der Russland- und Türkeipolitik abgestimmt werden. Die damit verbundenen „Kosten“ – im Sinne einer möglichen Belastung der Beziehungen mit den für die EU wichtigen Regionalmächten Ankara und Moskau – erscheinen vielen, vor allem „alten“ europäischen Mitgliedstaaten zu hoch. Des Weiteren haben sich nach der letzten Erweiterungsrunde neue Prioritäten herauskristallisiert. Diese betreffen erstens interne Strukturreformen, die mit dem Begriff der „Vertiefung“ umschrieben werden. Zweitens bildete sich innerhalb der Nachbarschaftsregion ein Gebiet verstärkten europäischen Interesses heraus: die Ukraine. Seit der „orangen Revolution“ versucht die EU hektisch, eine adäquate Politik gegenüber dem Land an seiner Ostgrenze zu entwickeln und bündelt ihr Engagement dort. Die Erarbeitung einer Strategie gegenüber dem Kaukasus, einem Gebiet das mittelfristig keinerlei Chancen auf Aufnahme in die Union besitzt, erscheint vor diesem Hintergrund von nachrangiger Bedeutung. 37
Eigene Berechnung der Autorin auf der Grundlage der auf der Homepage der EU abrufbaren Zahlen. Die gesamten finanziellen Leistungen der EU (ECHO, Nahrungsmittelhilfen usw.) an die drei kaukasischen Staaten beliefen sich bis zum Jahr 2004 auf ca. eine Milliarde Euro (http://europa.eu.int/comm/external_relations).
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Im Moment ist also nicht davon auszugehen, dass die EU in nächster Zukunft die nötigen Anstrengungen zur Erarbeitung einer kohärenten Kaukasuspolitik unternimmt. Eine solche wäre für Brüssel mittelfristig aber von Vorteil. Denn der Kaukasus wird im Zuge eines Türkeibeitritts sowie aus energiepolitischen Gründen in den nächsten Jahrzehnten für die europäischen Staaten an Bedeutung gewinnen. Eine kohärente Herangehensweise könnte den Handlungsspielraum der EU in diesem strategisch wichtigen Gebiet deutlich ausweiten. Dazu kommt noch, dass die EU gegenüber der Region zwischen Schwarzem und Kaspischen Meer über einen Vorteil verfügt, der nur gegenüber wenigen Regionen besteht: Während die Beziehungen zu den meisten Nachbarschaftsstaaten durch nationale Interessendivergenzen der europäischen Staaten überschatten werden, sind die Ziele gegenüber den Kaukasusstaaten primär gesamteuropäischer Natur. Brüssel könnte dieses „window of opportunity“ nutzen, um seine Fähigkeit als politisch handlungsfähige Einheit zu demonstrieren. Die Entwicklung der europäisch-kaukasischen Beziehungen hängt selbstverständlich nicht nur von der EU, sondern ebenso von Armenien, Aserbaidschan und Georgien ab. Diese Länder sind aufgefordert, ihre Zugehörigkeit zu Europa nicht nur zu deklarieren, sondern auch zu beweisen – durch politische und wirtschaftliche Reformen. Dass die Interessen der kaukasischen Staaten nur bedingt mit denen der EU kompatibel sind, erschwert die Ausarbeitung einer gemeinsamen Kaukasuspolitik, macht sie aber nicht unmöglich. Will die EU nicht bloß reagieren, darf sie nicht auf Impulse aus der Region warten, sondern muss ihrer eigenen Agenda folgen. Literatur Ehrhart, Hans-Georg/Thränert, Oliver, 1998: Die Rolle von NATO, EU und OSZE in der Kaspischen Region, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, S. 37-46 Freitag-Wirminghaus, Rainer, 1999: Politische Konstellationen im Südkaukasus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, S. 21-31 Halbach, Uwe/Kappeler, Andreas (Hrsg), 1995: Krisenherd Kaukasus, Baden-Baden Halbach, Uwe/Müller, Friedemann, 2001: Persischer Golf, Kaspisches Meer und Kaukasus – entsteht eine Region vitalen europäischen Interesses?, in: SWP-Studie S01, Berlin Heusgen, Christoph, 2004: Die Nachbarschaftspolitik der EU, in: Weidenfeld, Werner (Hrsg.): Die Europäische Union. Politisches System und Politikbereiche, Bonn/Berlin, S. 694-703 MacFarlane, S. Neil, 2005: The Caucasus and Central Asia. Towards a non-strategy, in: Dannreuther, Roland (Hrsg.): European Union foreign and security policy towards a neighbourhood strategy, London u.a., S. 118-134 Mangott, Gerhard, 1999: Brennpunkt Südkaukasus, Wien Pietzonka, Barbara, 1995: Ethnisch-territoriale Konflikte in Kaukasien. Eine politisch-geographische Systematisierung, Baden-Baden Schneckener, Ulrich, 2004: States at Risk – Zur Analyse fragiler Staatlichkeit, in: Schneckener, Ulrich (Hrsg.): States at Risk. Fragile Staaten als Sicherheits- und Entwicklungsproblem, Berlin, in: SWP-Studie 43, S. 5-27 Warkotsch, Alexander, 2004: Ressourcenkonflikt im Kaukasus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, S. 69-75 Wiest, Margarete, 2006: Georgien – demokratischer Neuanfang unter Michail Saakaschwili?, in: Bos, Ellen/Helmerich, Antje (Hrsg.): Zwischen Diktatur und Demokratie: Staatspräsidenten als Kapitäne des Systemwechsels, Münster (i.E.) Wolter, Detlev, 1999: Die Kaukasus-Politik der Europäischen Union, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, S. 32-39
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Dokumente Ein sicheres Europa in einer besseren Welt. Europäische Sicherheitsstrategie, Brüssel, 12. Dezember 2003, in: http://ue.eu.int/uedocs/cmsUpload/0131208BESSIIDE.pdf Gemeinsames Kommunique EU-Troika – Südlicher Kaukasus in Luxemburg am 29. Oktober 2001, in: http://ue.eu.int/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/er/13297.d1.hmtl Gemeinsame Erklärung der Europäischen Union und der Republik Armenien, der Aserbaidschanischen Republik und Georgiens vom 22. Juni 1999 , in:
http://ue.eu.int/ueDocs/cmc_Data/docs/pressdata/de/er/ACF5D.html Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 2004: Europäische Nachbarschaftspolitik. Strategiepapier, in: KOM 373 vom 12. Mai 2005 Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Länderbericht Armenien, in: KOM 72 vom 2. März 2005. Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Länderbericht Aserbaidschan, in: KOM 72 vom 2. März 2005. Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Länderbericht Georgien, in: KOM 72 vom 2. März 2005.
Der westliche Balkan vor den Toren der Europäischen Union Antje Helmerich
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Einleitung
Die Zugehörigkeit des westlichen Balkans1 zu Europa ist in den letzten Jahren in offiziellen Dokumenten und Äußerungen von EU-Politikern immer wieder untermauert worden. So wurde bereits im Juni 2000 auf dem Europäischen Rat im portugiesischen Santa Maria da Feira feierlich verkündet, alle Länder des westlichen Balkans seien „potenzielle Bewerber für den Beitritt zur EU“.2 Am 10. Juli 2001 betonte der damalige EU-Kommissar für Außenbeziehungen Chris Patten in einer Rede in Brüssel: „The Balkans are part of Europe!“ (http://europa.eu.int). Und auf dem EU-Balkan-Gipfel im Juni 2003 im griechischen Thessaloniki wurde feierlich erklärt: „Die Zukunft der Balkanstaaten liegt in der Europäischen Union: die derzeitige Erweiterung und die Unterzeichnung des Vertrages von Athen sind für die westlichen Balkanstaaten Anreiz und Ermutigung, denselben erfolgreichen Weg zu beschreiten. Sie müssen sich auf die Integration in die europäischen Strukturen, an deren Ende der Beitritt zur Europäischen Union steht, vorbereiten, indem sie die europäischen Normen übernehmen. (...) Die Länder der Region haben es in der Hand, wie schnell sie dabei voranschreiten“ (Altmann 2003).3
Besonders pointiert brachte der damalige EU-Kommissionspräsident Romano Prodi die Zugehörigkeit des westlichen Balkans zu Europa auf den Punkt, als er versicherte, der europäische Einigungsprozess sei erst abgeschlossen, wenn der westliche Balkan ebenfalls fest zur „EU-Familie“ gehöre (Cyrus 2003: 8). Spätestens seit dem Ende des Kosovo-Krieges im Juni 1999 scheint sich die EU der Notwendigkeit einer kohärenten Balkanpolitik bewusst zu sein, die über die Verhinderung erneuter kriegerischer Auseinandersetzungen hinausgeht und den westlichen Balkanstaaten sowohl Stabilität und wirtschaftlichen Aufschwung als auch eine – wenn auch erst mitteloder gar langfristige – Perspektive der Annäherung und schließlich des Beitritts zur Europäischen Union bietet. Diese gewaltige Herausforderung wird die europäischen Institutionen mutmaßlich noch zehn, 15 oder gar 20 Jahre lang beschäftigen.
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Zum westlichen Balkan gehören nach EU-Definition Bosnien-Herzegowina, Makedonien, SerbienMontenegro, Kroatien sowie Albanien. In diesem Aufsatz werden im Folgenden die vier zum westlichen Balkan gehörenden Nachfolgestaaten Jugoslawiens behandelt. Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat, Santa Maria da Feira, 19./20.06.2000; http://www.europarl.eu.int/summits/fei1_de.htm#V. In Thessaloniki kamen erstmals seit dem Gipfel von Zagreb 2000 die EU-Mitgliedstaaten, die zehn damaligen Beitrittskandidaten, Bulgarien, Rumänien, die Türkei sowie die Staaten des westlichen Balkans zusammen. Verabschiedet wurden eine politische Erklärung („EU-Western Balkans Summit – Declaration“); http://www.eu2003.gr/en/articles/2003/6/23/3135/print.asp sowie ein vom Europäischen Rat beschlossener Maßnahmenkatalog für den westlichen Balkan („The Thessaloniki Agenda for the Western Balkans“); http://europa.eu.int/comm/external_relations/see/gacthess.htm.
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Antje Helmerich
Im Folgenden sind erstens die Grundzüge der bisherigen EU-Politik gegenüber dem westlichen Balkan grob zu skizzieren und hinsichtlich ihrer Wirksamkeit bzw. Angemessenheit zu bewerten. Zweitens soll der aktuelle, höchst unterschiedliche Stand der Beziehungen zwischen Bosnien-Herzegowina, Makedonien, Kroatien sowie Serbien-Montenegro und der Europäischen Union nachgezeichnet werden. Hierbei sind folgende Fragen zu betrachten: Wo befinden sich die westlichen Balkanländer heute, welche konkreten Schritte haben sie bereits bewältigt? Wo sieht die EU die Hauptprobleme für die weitere Annäherung der westlichen Balkanregion und wie geht sie mit ihnen um? Und wie hängen die „Rückkehr nach Europa“ und die (innen)politische Entwicklung in den zu betrachtenden Ländern zusammen? 2
Die Politik der EU gegenüber dem Westlichen Balkan
2.1 Zielsetzungen und Prinzipien Bis 1995 war die EU vor allem mit der Eindämmung des Krieges auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien beschäftigt. Erst mit dem Friedensvertrag von Dayton, der die kriegerischen Auseinandersetzungen in Bosnien-Herzegowina militärisch beendete, ergab sich eine ernsthafte Perspektive für eine konstruktive Politik der Europäischen Union gegenüber dem westlichen Balkanraum. Seither bemüht sich die EU zum einen um die Stabilisierung der Region, zum anderen um ihre Heranführung an die europäischen Institutionen (Axt 2003: 18). Diese beiden Zielsetzungen stehen – auch wenn es auf den ersten Blick nicht so erscheint – in einer gewissen Spannung zueinander. Insbesondere unterschieden sich die Adressaten: Maßnahmen zur Stabilisierung orientieren sich in der Regel an den eher instabilen Ländern in der Region, Maßnahmen zur EU-Heranführung hingegen an den weiter fortgeschrittenen. Zudem tut sich die EU seit Jahren schwer, die für eine grundlegende Stabilisierung notwendigen Zeiträume zu konzipieren sowie Kriterien festzulegen, nach denen konkrete Stabilisierungsfort- und -rückschritte zu beurteilen sind. Neben den Zielsetzungen kann zwischen zwei Prinzipien unterschieden werden, nach denen sich die EU-Politik gegenüber dem Balkanraum seit Mitte der 90er Jahre orientiert. Der so genannte Regionalansatz („Regional Approach“) wurde nach dem Abschluss des Vertrages von Dayton am 27. Februar 1996 als Teil des Royaumont-Prozesses4 nicht nur für die Staaten des westlichen Balkanraums, sondern für ganz Südosteuropa formuliert. Im Kern betont er die Bereitschaft der Europäischen Union zur Unterstützung regionaler Kooperation nach dem Grundsatz, dass Länder, die eine engere Zusammenarbeit mit den europäischen Strukturen anstreben, zunächst ihre eigene Kooperation mit ihren Nachbarstaaten in der Region entwickeln bzw. verbessern müssen (Altmann 1998: 504). Die EU geht hierbei von der Voraussetzung aus, dass für die Bewahrung des Friedens in der Region die gegenseitige Anerkennung der Staaten und insbesondere die Beseitigung der Hindernisse für die Rückkehr der Flüchtlinge unverzichtbar seien. Das zweite leitende Prinzip, das Konzept der Konditionalität, wurde am 29. April 1997 vom Europäischen Rat konkret für die fünf Staaten des westlichen Balkanraums formuliert
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Der Royaumont-Prozess war im Dezember 1995 durch eine von der EU organisierte Konferenz ins Leben gerufen worden. Auf dieser wurde eine durch 27 Staaten unterzeichnete Deklaration über die Förderung von Stabilität und gutnachbarschaftlichen Beziehungen verabschiedet; Ehrhart 1999: 177-195.
Der westliche Balkan vor den Toren der Europäischen Union
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(Anastasakis/Bechev 2003; Papadimitriou 2001: 72). Es folgt dem Grundsatz, dass die EU ihre Beziehungen zu den westlichen Balkanstaaten in dem Maße verbessert, wie sich Fortschritte bei der Erfüllung der aufgestellten Bedingungen abzeichnen. Hierbei wird zwischen allgemeinen Konditionen, die für alle betroffenen Länder in gleicher Weise zur Anwendung kommen, und besonderen Bedingungen, die von Land zu Land variieren, unterschieden. Die allgemeinen Bedingungen beinhalten u.a. die Inkraftsetzung von Rückkehrmöglichkeiten für Flüchtlinge und Vertriebene, die Erfüllung der im Abkommen von Dayton festgehaltenen Verpflichtungen, den glaubhaften Einsatz für demokratische Reformen, die Abhaltung freier und fairer Wahlen, die Nicht-Diskriminierung von Minderheiten, die Inkraftsetzung erster wirtschaftlicher Reformen sowie die Bereitschaft zu gutnachbarlicher Zusammenarbeit (Altmann 1998: 707ff). 2.2 Der Stabilitätspakt für Südosteuropa Der im Juni 1999 unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft vorgestellte Stabilitätspakt für Südosteuropa ist kein reines EU-Instrument, und doch spielt die Europäische Union eine zentrale Rolle als Akteur innerhalb des Paktes. Gleichzeitig nimmt der Stabilitätspakt innerhalb der EU-Konzepte für den westlichen Balkan eine wichtige Stellung ein (Biermann 1999 und 2002 a und b).5 Die Idee, ein Programm zur Stabilisierung Südosteuropas aufzulegen, reicht bis in die Zeit vor dem Kosovo-Krieg 1999 zurück. So hatte bereits der Europäische Rat von Wien im Dezember 1998 beschlossen, eine Geberkonferenz für den Wiederaufbau des Kosovo einzuberufen und zudem im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) eine gemeinsame europäische Strategie für den westlichen Balkan zu entwickeln (Axt 1999). Nach Ausbruch des Krieges im Kosovo legte der damalige bundesdeutsche Außenminister Joschka Fischer einen Plan vor, der am 8. April 1999 auf einem Sonderrat der europäischen Außenminister beraten wurde. Dieser Plan beschränkte sich nicht auf die Unterstützung des Wiederaufbaus des westlichen Balkans, sondern stellte den Staaten in der Region zum ersten Mal ausdrücklich auch die Möglichkeit einer Integration in die euroatlantischen Strukturen in Aussicht. Außerdem wurde die Eigenverantwortung der Staaten zur Beilegung der Konflikte angemahnt und das Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen betont. Der Rat der Außenminister griff den Fischer-Plan auf und formulierte am 17. Mai 1999 in Brüssel einen Gemeinsamen Standpunkt zum Stabilitätspakt für Südosteuropa. Hierbei verwies er explizit auch auf die Kopenhagener Kriterien aus dem Jahr 1993.6 Auf der Vorbereitungskonferenz zum Stabilitätspakt für Südosteuropa am 27. Mai 1999 in Bonn betonte Fischer, es gehe darum, „eine vorausschauende Strategie (zu entwickeln), die den Menschen in ganz Südosteuropa Hoffnung auf eine bessere Zukunft und eine konkrete Perspektive für den Weg nach Europa bietet“. Weiter führte er aus:
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So heißt es im Gründungsdokument des Stabilitätspakts u.a.: „We welcome the European Union´s initiative in launching the Stability Pact and the leading role the EU is playing (...) (Art 18 StabP) und weiter: „The EU will draw the region closer to the perspective of full integration of these countries into its structures“ (Art. 20 StabP); http://www.stabilitypact.org/constituent/990610-cologne.asp. 2177. Council Meeting General Affairs, 17 May 1999; http://www.auswaertiges.amt.de/4%5Feuropa/15/4152%2D175.htm.
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Antje Helmerich „Dem Stabilitätspakt liegt ein integrativer Ansatz zugrunde, sein Ziel ist die langfristige Integration aller Staaten Südosteuropas in das Europa der Moderne. (...) es geht darum, einen wirksamen, langfristig angelegten Prozess in Gang zu setzen, nicht um den Versuch, die äußerst komplizierten, miteinander verflochtenen und vielfach jahrhundertealten Konflikte des Balkans in einem großen Wurf zu lösen“ (http://sicherheitspolitik.bundeswehr.de/2/11/37.php).
Am 10. Juni 1999 in Köln verpflichteten sich dann unter der Schirmherrschaft der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) über 40 Staaten und internationale Organisationen darauf, Frieden, Menschenrechte, Demokratie und wirtschaftlichen Aufschwung in den südosteuropäischen Staaten zu fördern (Art. 9 StabP). Auch dem Abschluss von bi- und multilateralen Abkommen guter Nachbarschaft wurde besondere Bedeutung beigemessen (Art. 6 StabP). Außerdem betonte das Gründungsdokument des Stabilitätspaktes, der Schutz der Menschenrechte werde nicht mehr nur als „innere Angelegenheit“ angesehen, sondern gehe alle Mitgliedsstaaten an (Art. 7 StabP). Auch der Minderheitenschutz und die anzustrebende Bewahrung multiethnischer Gebilde wurden ausdrücklich festgehalten (Art. 10 Punkt 4 StabP). Tabelle 5: Mitglieder im Stabilitätspakt Staaten
Organisationen
Regionale Initiativen
Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Kroatien, Makedonien, Moldowa, Rumänien, Serbien-Montenegro, alle EU-Mitgliedstaaten, Japan, Kanada, Norwegen, Russland, Schweiz, Türkei, USA Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), Europäische Investitionsbank (EIB), Europäische Kommission, Europarat, Hoher Kommissar für Flüchtlinge der UNO (UNHCR), Internationaler Währungsfonds, NATO, OECD, OSZE-Präsidentschaft, UNO, Weltbank, WEU Schwarzmeer-Kooperation (BSEC), Südosteuropäische Kooperationsinitiative (SECI), Südosteuropäischer Kooperationsprozess (SEECP), Zentraleuropäische Initiative (CEI)
Eigene Zusammenstellung, u.a. http://www.stabilitypact.org; Calic 2001: 10.
Am 30. Juli 1999 kamen die Staats- und Regierungschefs der beteiligten Länder im bosnischen Sarajewo zusammen, um den Stabilitätspakt für Südosteuropa feierlich zu bestätigen und Bodo Hombach, den ehemaligen Staatsminister im Bundeskanzleramt, als Sonderbeauftragten einzusetzen.7 In der in Sarajewo verabschiedeten Deklaration heißt es u.a., die internationale Gemeinschaft erneuere die „gemeinsame Verantwortung, ein ungeteiltes, demokratisches und friedliches Europa zu errichten.“ Es gehe für die Zukunft darum, Südosteuropa in einen Kontinent zu integrieren, „in dem Grenzen unantastbar sind und in dem vielfältige Möglichkeiten zu Kontakten und Kooperation bereitgestellt werden“.8 Der Stabilitätspakt ist keine internationale Organisation und somit kein eigenständiger Akteur, sondern lediglich ein politisch-konzeptioneller Rahmen für einen langfristigen Prozess. Ende März 2000 fand in Brüssel die erste Finanzierungskonferenz statt, auf der 2,4
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Bodo Hombach wurde am 1.01.2002 durch den ehemaligen österreichischen Vizekanzler und Außenminister Erhard Busek abgelöst. Sarajevo Summit Declaration, 30 July 1999; http://stabilitypact.org/constituent/990730-sarajevo.asp.
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Mrd. Euro für so genannte Schnellstartprojekte („Quick-Start-Projects“) zugesagt wurden (Ehrhart 2001). Die Struktur des Stabilitätspaktes ist dem KSZE- bzw. OSZE-Prozess nachempfunden. So existieren drei Arbeitstische, die sich mit „Demokratisierung und Menschenrechten“ (I)9, „wirtschaftlichem Wiederaufbau“ und „Förderung des Wohlstandes“ (II) sowie „Sicherheitsfragen“ (III) beschäftigen (Art. 14 StabP). Außerdem fungiert als oberstes Organ ein jährlich tagender so genannter Regionaltisch (Art. 13 StabP). Tabelle 6: Die Organisationsstruktur des Stabilitätspaktes für Südosteuropa Büro des Sonderkoordinators für den Stabilitätspakt Erhard Busek Regionaltisch Alle Akteure des Stabilitätspaktes Arbeitstisch I Arbeitstisch II Demokratisierung und Wirtschaftlicher WiederaufMenschenrechte bau, Entwicklung und Kooperation Sektoren und Initiativen Task Forces Intra-regionaler Handel Menschenrechte und MinRegionale Infrastruktur derheiten Wirtschaftsreformen und Good Governance Entwicklung Gender-Fragen Business Advisory Council Medien Umweltfragen Bildung und Jugend Parlamentarische Koopera- Human Ressources Informationstechnologie tion Soziale Kohäsion Flüchtlingsrückkehr Szeged-Prozess
Arbeitstisch III Sicherheit
Untertische Verteidigung und Sicherheitsfragen Recht und innere Angelegenheiten
Eigene Darstellung, u.a. nach Deimel 2001: 178.
Sowohl an den Arbeitstischen als auch am Regionaltisch sind die Repräsentanten aus den südosteuropäischen Staaten gleichberechtigt beteiligt. Ein Schwerpunkt liegt nach dem Wunsch der Initiatoren auf dem Austausch von Bürgern, Unternehmern, Betrieben sowie Nichtregierungsorganisationen in der Region. Zur Förderung der regionalen Kooperation arbeitet der Stabilitätspakt eng mit dem „South East European Cooperation Process“ (SEECP) zusammen, in dem seit Juni 1996 Makedonien, Albanien, Bulgarien, Türkei, Griechenland, Serbien-Montenegro, Kroatien und Rumänien zusammengeschlossen sind.10 Auf der 4. Tagung des Regionaltisches in Thessaloniki vom 16. Dezember 2002 wurden die Aufgaben für die Zukunft in Form von sechs Kernzielen formuliert. Sie betreffen 9
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Im Annex des Stabilitätspaktes vom 10. Juni 1999 heißt es in Bezug auf den ersten Arbeitstisch, er sei zuständig für „(...) democratisation and human rights, including rights of persons belonging to national minorities; free and independent media; civil society building; rule of law and law enforcement; institution building; efficient administration and good governance; development of common rules of conduct on border related questions; other related questions of interest to the participants; (...) refugee issues, including protection and return of refugees and displaced persons“ (Punkt C, Annex StabP). Ausführlich siehe http://www.mae.ro/seecp/history.html.
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(1) die Förderung unabhängiger Medien und die Annäherung der legislativen Standards des Journalismus in Südosteuropa an die der EU; (2) die Förderung der Zusammenarbeit kommunaler Regierungen, gesellschaftlicher Akteure und Unternehmen auf lokaler Ebene; (3) die Stärkung des regionalen Handels u.a. durch Errichtung einer Freihandelszone; (4) die Verbesserung der regionalen Infrastruktur; (5) die Bekämpfung der organisierten Kriminalität sowie (6) Verbesserungen im Bereich der Migration, der Asyl- und Flüchtlingspolitik.11 Seit seiner Gründung ist der Stabilitätspakt überaus kontrovers beurteilt worden. Kritik wird beispielsweise an den Reibungsverlusten durch strukturelle Mängel sowie an lähmenden Konflikten zwischen den Sonderkoordinatoren und Akteuren der EU geübt (Deimel 2001: 197). Bereits Ende März 2000 erkannte der Europäische Rat selbstkritisch, das Engagement der EU sei so komplex, dass sich daraus zwangsläufig operative Schwierigkeiten ergeben müssten. Aus diesem Grund übertrug er dem Hohen Beauftragten für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, sowie dem damaligen Kommissar für Außenbeziehungen, Chris Patten, die Aufgabe, die Kohärenz der europäischen Politik auf dem Balkan sicherzustellen. Zugleich wurde jedoch auch die zentrale Rolle des Sonderkoordinators Hombach bestätigt (Ehrhart 1999). Auch Bodo Hombach selbst forderte im Jahr 2001, „Europa (müsse) erwachsen werden. Konkurrenzdenken, intransparente Verfahren und institutionelle Konkurrenz in der EU bremsen die Entwicklungen einer effektiven Südosteuropa-Strategie“ (Tagesspiegel v. 15.11.2001). Aus den Ländern der Europäischen Union wurde und wird hingegen zuweilen die Befürchtung geäußert, der Stabilitätspakt könne eventuell überzogene Erwartungen hinsichtlich einer Beitrittsperspektive wecken. Auch sei – so wird des öfteren kritisiert – nie ausreichend klar formuliert worden, welche Zwischenschritte und vor allem welche Zeithorizonte bis zu einem EU-Beitritt der südosteuropäischen Staaten angedacht seien (Axt 1999: 415). Als insgesamt positiv werden hingegen die Anstrengungen bewertet, multilaterale Hilfsprogramme ernsthaft und konsequent abzustimmen. Als ein weiterer Vorteil wird die Flexibilität der Struktur des Stabilitätspaktes bezeichnet, die es möglicht mache, relativ rasch auf sich verändernde Herausforderungen in der südosteuropäischen Region zu reagieren (Ehrhart 2001). Auch die Methode der so genannten „sticks and carrots“, d.h. der Belohung von Kooperationswilligen und der Bestrafung von -unwilligen, wird in der Regel als angemessen gelobt. 2.3 Der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess Der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess wurde im Mai 1999 von der EUKommission initiiert. Er basiert auf dem Regionalansatz und umfasst anders als der Stabilitätspakt nur die westliche Balkanregion. Bereits der Europäische Rat von Lissabon äußerte am 24. März 2000, der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess sei ohne jeden Zweifel das „Kernstück“ der europäischen Balkanpolitik. Auf dem Gipfel von Zagreb im November 2000 wurde dies bekräftigt und zudem eine „Charta für gute Nachbarschaft, Stabilität, Sicherheit und Zusammenarbeit in Südosteuropa“ verabschiedet.12 Der Stabilisierungs- und 11
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Agenda, Presseverlautbarungen und Abschlussbericht siehe Homepage des Stabilitätspaktes für Südosteuropa; http://www.stabilitypact.org. Im Schlussdokument heißt es, „(t)his stabilisation and association process is at the heart of the Union´s policy towards the five countries concerned“; http://www.mvp.hr/summit/index_eng.html.
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Assoziierungsprozess unterstützt Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Makedonien und Serbien-Montenegro dabei, europäische Werte, Prinzipien und Standards in der westlichen Balkanregion zu verankern und folgt hierbei zwei Zielen, der kurz- oder mittelfristigen regionalen Stabilisierung und der mittel- oder langfristigen europäischen Assoziierung. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch das klare Bekenntnis zu den Kopenhagener Beitrittskriterien von 1993. Hierzu heißt es im Schlussdokument des Zagreber Gipfels: „The prospect of accession is offered on the basis of the provisions of the Treaty on European Union (and) respect for the criteria defined at the Copenhagen European Council in June 1993 (...)“. Konkret beinhaltet der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess u.a. verstärkten politischen Dialog, den Ausbau regionaler Kooperation, die Freizügigkeit von Arbeit und Kapital, die Einrichtung von Freihandelszonen, die Rechtsangleichung an die EU-Standards sowie die Errichtung eines Stabilisierungs- und Assoziierungsrates und eines parlamentarischen Stabilisierungs- und Assoziierungskomitees. In jedem der fünf betroffenen Länder gilt eine individuelle Länderstrategie nach dem so genannten „Regatta-Prinzip“, d.h. jedes Land wird nach den jeweils eigenen Möglichkeiten und dem daraus folgenden Reformtempo individuell unterstützt bzw. bewertet. Dies war von Beginn an insbesondere für relativ fortgeschrittene Staaten wie Kroatien wichtig, die wiederholt ihrer Sorge Ausdruck verliehen, die EU könne eine „Paketlösung“ im Auge haben und dies würde zwangsläufig eine Verzögerung der eigenen Annäherung nach sich ziehen. Allerdings wird auch die regionale Komponente betont: ähnlich wie im Rahmen des Stabilitätspaktes für Südosteuropa spielen auch innerhalb des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses bi- und multilaterale Kooperationsbeziehungen sowie gutnachbarschaftliche Beziehungen zwischen den westlichen Balkanstaaten eine wichtige Rolle (Calic 2005 a: 7). Das Hauptinstrument innerhalb des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses ist eine vertragliche Beziehung in Form der so genannten Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA), für die sich jeder einzelne Staat qualifizieren muss. Diese sind den Europaabkommen nachempfunden, die die Europäische Union in den 90er Jahren mit den damaligen ostmitteleuropäischen Beitrittskandidaten abschloss. Im Rahmen des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses erhalten die fünf Länder des westlichen Balkans zudem finanzielle Unterstützung durch das so genannte CARDSProgramm („Community Assistance for Reconstruction, Development and Stabilisation”), das vom Allgemeinen Rat am 20. November 2000 beschlossen und wenige Tage später auf dem Zagreber Gipfel offiziell vorgestellt wurde. Dieses Programm gewährt finanzielle Unterstützung zum Aufbau öffentlicher Institutionen und Verwaltungen, zum Wiederaufbau und zur Entwicklung von Wirtschaftsstrukturen sowie zur regionalen Zusammenarbeit. Die CARDS-Mittel werden dekonzentriert eingesetzt und dezentral verwaltet. Im Spätherbst 2001 wurde für die Zeitspanne von 2000 bis 2006 eine Ausstattung von 4,65 Mrd. Euro beschlossen (http://europa.eu.int/comm/enlargement/cards/index_en.htm). Zur Bewertung der Fortschritte der westlichen Balkanstaaten auf dem „Weg nach Europa“ gibt die Europäische Kommission jährlich einen Bericht heraus. In ihrem ersten Jahresbericht vom 3. April 2002 nannte die Kommission als Herausforderungen für die Zukunft u.a. die Stärkung der Demokratie sowie der Funktionsfähigkeit der Staaten, die Bekämpfung von Armut und Elend sowie die Verbesserung regionaler Kooperation.13 Im zweiten Jahresbericht vom 26. März 2003 wurden Fortschritte in der Region konstatiert. 13
Ebda., deutsche Version siehe http://europa.eu.int/scadplus/printversion/de/lvb/r18004.htm
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Mängel bestünden jedoch nach wie vor „im Hinblick auf das Funktionieren der Institutionen und die politische Kultur; ein Beispiel ist die immer noch praktizierte politische Einflussnahme auf Justiz und Medien“. Außerdem wurde festgehalten, der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess habe den Balkan zwar stabilisiert, dieser müsse jedoch weiter konsolidiert werden. Außerdem sei insbesondere die Kommunikation zu verbessern, „um den Bürgern der Region die Vorteile der Annäherung an die Union aufzuzeigen“.14 Im dritten Jahresbericht vom 30. März 2004 machte die Kommission u.a. die Reform der öffentlichen Verwaltung als eine der größten Herausforderungen für die Region aus.15 Insgesamt bietet der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess, insbesondere die Perspektive der EU-Vollmitgliedschaft, zweifelsohne einen wirkungsvollen Anreiz für Reformen in der westlichen Balkanregion. Auch ein disziplinierender und modernisierender Effekt auf national orientierte Akteure ist zu erkennen, wie sich in besonderer Deutlichkeit am Beispiel der kroatischen Regierungspartei HDZ (Hrvatska Demokratska Zajednica, Kroatische Demokratische Gemeinschaft) zeigt. Während die HDZ unter dem autoritären Präsidenten Franjo Tuñman (1990-1999) einen zutiefst nationalistischen politischen Kurs verfolgte, hat sie im Zuge der Annäherung an die EU unter Ivo Sanader seit 2000 einen Prozess der „Entnationalisierung“ und „Europäisierung“ durchlaufen. Darüber hinaus könnte es für die Nachzügler in der Region auch in Zukunft anspornend sein, die Fortschritte anderer Staaten des westlichen Balkans bei der Erfüllung der Kriterien und der schrittweisen Einbindung in die europäischen Strukturen zu beobachten (Calic 2005 a: 21). Mängel werden dem Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess hingegen allgemein in der wirtschaftlichen Dimension attestiert. Dies könnte daran liegen, dass die EU zu schnell von klassischen Stabilisierungsaufgaben zur prioritären Förderung von Europafähigkeit übergegangen ist. So ist beispielsweise die stets geforderte legislative Harmonisierung langfristig nur möglich, wenn auch Fortschritte bei der Wohlstandsentwicklung zu verzeichnen sind (ebda.: 31). 3
Die Beziehungen zwischen der EU und Bosnien-Herzegowina
Im Januar 2006 begann die EU auch mit Bosnien-Herzegowina als letztem Staat des westlichen Balkans Verhandlungen über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen. Bereits 1998 war eine gemeinsame Task-Force der EU und bosnischer Vertreter ins Leben gerufen worden. Am 9. März 2000 überreichte Chris Patten dem damaligen bosnischen Außenminister Jadranko Prlic eine so genannte „Road Map“ für Bosnien mit 14 konkreten Aufgaben, nach deren Erfüllung die Europäische Union über die Aufnahme von Gesprächen über ein Abkommen beraten wollte. Als politische Aufgaben wurden u.a. die Verabschiedung eines Wahlgesetzes und die Bereitstellung eines einheitlichen Ausweises genannt (http://www.esiweb.org/bridges/bosnia/EURoadMap.pdf). Drei Jahre später, im November 2003, veröffentlichte die EU-Kommission ihre Machbarkeitsstudie für BosnienHerzegowina.16 Diese bescheinigte dem Land graduelle Fortschritte bei der Einrichtung 14 15 16
Zweiter Jahresbericht KOM (2003) 139; http://europa.eu.int/scadplus/printversion/de/lvb/r18005.htm Dritter Jahresbericht KOM (2004) 202; http://europa.eu.int/scadplus/printversion/de/lvb/r18007.htm Report from the Commission to the Council on the preparedness of Bosnia and Herzegovina to negotiate a Stabilisation and Association agreement with the European Union, 18.11.2003; http://www.eusrbih.org/policy-docs/pdf/ec-feasibility-study-report-692.pdf.
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demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen, gleichzeitig jedoch erhebliche Schwächen sowohl auf dem politischen als auch dem wirtschaftlichen Sektor.17 Auch sah die EU die Implementierung des Vertrages von Dayton aus dem Jahr 1995 als noch nicht abgeschlossen an. Der Dayton-Vertrag hatte die Präsidenten Kroatiens, Serbiens und BosnienHerzegowinas, Franjo Tuñman, Slobodan Milošević und Alija Izetbegović, auf die UNCharta sowie die Helsinki-Prinzipien verpflichtet. Ferner waren die dauerhafte Einstellung der Feindseligkeiten, Maßnahmen zur Schaffung von Vertrauen und Sicherheit, die Regelung des Grenzverlaufs zwischen den zwei Entitäten18, die Organisation von Wahlen, die Wahrung der Menschenrechte sowie die Einführung des Amtes des von der internationalen Staatengemeinschaft entsandten Hohen Repräsentanten festgeschrieben worden. Außerdem enthält der Annex 4 des Dayton-Vertrages die bis heute gültige Verfassung für BosnienHerzegowina (http://www.yale.edu/lawweb/avalon/intdip/bosnia/day01.htm). Gut zehn Jahre nach dem Zustandekommen von Dayton steht die Europäische Union – in den damaligen Verhandlungen nur „Juniorpartnerin“ der Vereinigten Staaten – vor zwei eng miteinander verknüpften Fragestellungen Wie ist der bisherige Prozess des externen state-building zu beurteilen? Welche weiteren Reformschritte sind notwendig, um das „internationale Protektorat“ Bosnien-Herzegowina zu einem vollends unabhängigen und vor allem „europafähigen“ Staat zu machen? Der Vertrag von Dayton schuf ein höchst komplexes politisches System nach der Formel „One state, two entities, three nations“ mit einem schwachen Zentralstaat und erheblichen Zugeständnissen an die drei Volksgruppen – Serben, Kroaten und muslimische Bosnier bzw. Bosnjaken –, die es zu befrieden galt (Oschlies 2004: 750ff). Dass das politische System bis heute als weitestgehend inneffektiv bezeichnet werden muss, liegt v.a. daran, dass es den Volksgruppen bislang am Willen fehlt, den bosnischen Gesamtstaat, seine Institutionen und das ihm zugrunde liegenden Proporzsystem zu akzeptieren. Auch gesamtbosnische Parteien hatten bisher nur einmal kurz – bei den Wahlen 2000 – eine Chance, sich gegen die von den Volksgemeinschaften gestellten ethnischen Parteien SDA (Stranka Demokratska Akcije, Partei der Demokratischen Aktion), SDS (Srpska Demokratska Stranka, Serbische Demokratische Partei) und HDZ (Hrvatska Demokratska Zajednica, Kroatische Demokratische Gemeinschaft) durchzusetzen. Des Weiteren leidet Bosnien-Herzegowina unter einer maroden Wirtschaft, einem aufgeblähten, ineffizienten Verwaltungsapparat und der Zersplitterung von Polizei und Armee. Ebenso ist es trotz massiver internationaler Finanzhilfe bis heute nur ansatzweise gelungen, ein Netzwerk von gesamtbosnischen Nichtregierungsorganisationen aufzubauen (Dzihic/Solioz 2005). Am Beispiel Bosnien-Herzegowina wird deutlich, wie kompliziert externes statebuilding gerade in Nach-Bürgerkriegsgesellschaften ist. Generell sind nach Bürgerkriegen drei Herausforderungen zu meistern, die Erhaltung des Friedens auf militärischer Ebene, der Aufbau und die Stärkung von Verfahren für die gewaltlose Konfliktregelung und die Entwicklung von Fähigkeiten zur Problembearbeitung, damit sich weitere Konflikte erst gar nicht zuspitzen.
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Zu ähnlichen Einschätzungen gelangen auch die jährlich durchgeführten Berichte von Freedom House; http://www.freedomhouse.org sowie der Bertelsmann Stiftung; http://www.bertelsmann-transformationindex.de. Unterteilt ist Bosnien seit Dayton in zwei substaatliche Einheiten, die so genannten Entitäten, konkret die Republika Srpska und die muslimisch-kroatische Föderation.
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Thorsten Gromes (2004) unterscheidet konkret zwischen drei Lösungsmustern, dem Kontrollregime einer der früheren Kriegsparteien, der Teilung des Staates und der Einführung von Machtteilungsmechanismen. Ein Kontrollregime bedeutet letztlich die Dominanz einer der ethnischen Gruppen über die andere(n) und war für Bosnien-Herzegowina von Beginn an nicht denkbar, da die Verhandlungspartner in Dayton, von denen ja keiner eine militärische Niederlage erlitten hatte, einer solchen Regelung unter keinerlei Umständen zugestimmt hätten. Die Teilung eines Staates zur Trennung verfeindeter Volksgruppen voneinander wird allgemein kontrovers beurteilt. Befürworter dieses Ansatzes beurteilen ihn v.a. dann als geeignet, wenn die Volksgruppen in ethnisch homogenen und kompakten Siedlungsgebieten leben. Kritiker sehen hingegen die Gefahr weiterer Sezessionsbestrebungen. Teilungsplänen, wie sie während der 90er Jahre durch die serbischen und kroatischen Akteure in Bosnien bzw. durch die Präsidenten Serbiens und Kroatiens vertreten wurden, erteilte die internationale Staatengemeinschaft von Beginn an eine deutliche Absage. Machtteilungsmechanismen hingegen sollen die in Mehrheitsdemokratien übliche Strukturierung des politischen Prozesses nach dem „winner takes it all“-Prinzip durchbrechen. Die Gefahr, in einer Mehrheitsdemokratie auf Dauer als Minderheit von der Regierungsmacht ausgeschlossen zu bleiben, ist gerade in Nach-Bürgerkriegsgesellschaften überaus problematisch. Machtteilung mutet hingegen keinem der früheren Gegner den Ausschluss aus der Regierungsmacht zu und mindert so die Furcht der (ehemaligen) Konfliktparteien, die jeweils andere Gruppe könnte versuchen, die Herrschaftsordnung zu ihren Ungunsten umzugestalten (Nordlinger 1972, Horowitz 1985). „Power sharing“ heißt, dass die Konfliktparteien entweder eine gemeinsame politische Entscheidungsfindung anstreben, oder aber dass sie getrennt voneinander in politischen Einheiten unterhalb der Ebene des Gesamtstaates entscheiden. Als konkordanzdemokratische Elemente gelten u.a. die Partizipation aller wichtigen Gruppen an der Regierung, ein Vetorecht für die Vertreter der Konfliktparteien im Gesetzgebungsprozess, eine vorab festgelegte Proportionalität für die Besetzung von Institutionen und Gremien sowie Autonomieregelungen für die ethnischen Gruppen. Allerdings verlangt „power sharing“ zumindest einen minimalen Willen zur Kooperation, sonst besteht die Gefahr, dass beispielsweise Vetorechte zur dauerhaften Blockade des politischen Entscheidungsprozesses missbraucht werden. Diese Kooperationsbereitschaft ist aber gerade in Nach-Bürgerkriegsgesellschaften wie der bosnischen oftmals nicht gegeben. Außerdem besteht in Systemen mit Machtteilung immer die Gefahr, dass jede Politik zu einer ethnisch definierten wird: wenn der Zutritt zu politischen Entscheidungen und Institutionen nur noch über die Zugehörigkeit zu ethnisch definierten Gruppen erfolgt, dann „formt“ der ethnische Konflikt das gesamte politische System und behindert die Entstehung eines „normalen“ Pluralismus der Kräfte. In einer solchen Konstellation ist letztlich auch nicht zu erwarten, dass ethnisch definierte Parteien ein ernsthaftes Interesse daran haben könnten, den Konflikt beizulegen, hängen doch ihre Macht und ihr Status von der dauerhaften Dominanz der ethnischen Konfliktlinie ab (Gromes 2004: 11ff). 1995 war die Einrichtung von „power-sharing“-Mechanismen in BosnienHerzegowina mutmaßlich der einzige realistische Ausweg aus dem Bürgerkrieg. Dennoch müssen sich die internationale Staatengemeinschaft und vor allem die EU angesichts der bis heute bestehenden Defizite, der ständigen Blockierung des politischen Prozesses durch die ethnischen Gruppen sowie der Existenz von nur schwer aufzulösenden ethnischen Parallel-
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strukturen bei insgesamt ineffizienten Gesamtinstitutionen fragen, welche Reformschritte in der nächsten Zukunft absolviert werden müssen. Bisher hat sich die Europäische Union in Bosnien-Herzegowina durch verschiedene Maßnahmen engagiert: am 2. Dezember 2004 begann unter EU-Führung die rund 7000 Mann starke EUFOR-Althea-Mission, welche die durch die NATO geführte SFOR-Mission (Stabilization Force for Bosnia and Hercegovina) ersetzte und zu deren Hauptaufgaben die weitere Implementierung von Dayton sowie die Gewährleistung von Sicherheit und Schutz zählen.19 Zudem leitet die EU bereits seit dem 1. Januar 2003 eine Polizeiaktion (European Union Police Mission, EUPM), die u.a. darauf ausgerichtet ist, die organisierte Kriminalität zu bekämpfen und lokale Polizeikräfte auszubilden.20 Darüber hinaus ist die Europäische Union mit rund 2,5 Mrd. Euro seit 1991 der größte Finanzgeber des Stabilisierungs- und Reformprozesses in Bosnien-Herzegowina.21 In der bereits erwähnten Machbarkeitsstudie von 2003 wurde eine Reihe von Handlungsprioritäten und Reformen formuliert.22 Eines der zentralen Reformvorhaben, die für den Herbst 2005 geplante Polizeireform, welche die bisher in die drei Volksgruppen aufgeteilte Polizei vereinheitlichen und unter ein gesamtbosnisches Zentralkommando stellen sollte, ist jedoch an der geringen Kooperationsbereitschaft der Volksgruppen gescheitert (ICG 2005). Heute, gut zehn Jahre nach der Unterzeichnung des Vertrages von Dayton, stehen mehr denn je die institutionellen Grundlagen des bosnischen Staates auf dem Prüfstand. So mehren sich seit 2005 die Stimmen, die in der Vereinfachung der Verfassungsstruktur sowie der schrittweisen Reduzierung externen Einflusses die einzige Möglichkeit sehen, Bosnien-Herzegowina überhaupt eine ernsthafte EU-Mitgliedschafts-Perspektive zu bieten (Calic 2005 b). Gerade der externe Einfluss ist bis heute enorm und offenbart sich v.a. in der Person des Hohen Repräsentanten.23 Insbesondere Paddy Ashdown, der das Amt zwischen 2002 und Ende 2005 innehatte, war wegen der extensiven Auslegung seiner Handlungsbefugnisse immer wieder in die Kritik geraten. Unbestreitbar wäre eine schrittweise Übertragung der Kompetenzen des Hohen Kommissars auf lokale Politiker wichtig, um Verantwortungsbewusstsein für das eigene Gemeinwesen zu entwickeln. Im September 2005 zeigte sich Erweiterungskommissar Olli Rehn noch bitter enttäuscht über das Scheitern der Polizeireform. Die Chance, zehn Jahre nach Dayton eine neue Phase in Bosniens europäischer Zukunft zu öffnen, sei damit leider zunächst einmal vertan worden, so Rehn (http://www.serbianna.com/news/2005/01820.html). Dennoch empfahl die Europäische Kommission dem Rat nur einen Monat später, Verhandlungen 19 20
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Detaillierter zur EUFOR-Althea-Mission siehe http://www.euforbih.org/mission/mission.htm. Zu den Zielsetzungen und Aufgabenbereichen der EUPM siehe http://www.eupm.org/FactSheet.asp?lang=eng. Zu den verschiedenen Programmen siehe http://www.delbih.cec.eu.int/en/eu_and_country/cooperation.htm. U.a. wurden folgende Themenbereiche angesprochen: die Erfüllung der festgelegten Konditionen und internationalen Verpflichtungen, eine effizientere Regierung und öffentliche Verwaltung, die Reform der Gerichtsbarkeit, ein entschiedenes Vorgehen gegen die organisierte Kriminalität, Reformen in den Bereichen Asyl und Migration, ein neues Haushaltsrecht, eine konsistente Handelspolitik, etc.; siehe auch Fickenscher/Kasch 2005: 35ff. Eingerichtet wurde das Amt 1995 durch die UN Resolution S/RES/1031 (1995), UN Security Council, 3607th Meeting, December 15, 1995. Der Hohe Repräsentant überwacht das Friedensabkommen von Dayton und dessen Umsetzung durch die drei Vertragsparteien, fungiert als Gesetzgeber und ist befugt, Politiker abzusetzen, die sich nicht an die Absprachen von Dayton halten. Rechenschaftspflichtig ist der Hohe Repräsentant lediglich gegenüber dem Sicherheitsrat der UN und der EU.
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über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen zu eröffnen (Altmann 2005 b: 3). Im November 2005 gab dann auch der Europäische Rat grünes Licht für den Beginn der Gespräche Ende Januar 2006. Bereits drei Monate später haben die bosnischen Integrationsbemühungen jedoch einen erneuten herben Rückschlag erlitten: am 27. April 2006 scheiterte die von der EU und den USA befürwortete Verfassungsreform an der fehlenden ZweiDrittel-Mehrheit im bosnischen Parlament. Nur 26 der 42 Abgeordneten stimmten für die Vorlage. Der entscheidenden Abstimmung waren zehnmonatige Verhandlungen der Parteien vorausgegangen. Unter anderem hätten Kompetenzen von den Entitäten an die zentralen Institutionen in Sarajewo abgegeben und das dreiköpfige Staatspräsidium durch ein monistisches Präsidentenamt ersetzt werden sollen. Christian Schwarz-Schilling, der neue Hohe Repräsentant, sprach daraufhin von einem „schlechten Tag für Bosnien“ (taz v. 28.04.2006; FAZ v. 28.04.2006; SETimes v. 5.05.2006). Ob das Scheitern der Reform den Annäherungsprozess an die EU nur verlangsamen oder aber dauerhaft verhindern wird, werden erst die nächsten Gesprächsrunden zwischen den maßgeblichen Akteuren der EU und Bosniens in den kommenden Wochen und Monaten zeigen. 4
Die Beziehungen zwischen der EU und Makedonien
Makedonien24 gehört anders als Bosnien-Herzegowina zu den Ländern des westlichen Balkans, denen bereits frühzeitig eine Annäherung an die Europäische Union gelang: so wurden schon Anfang 1998 mehrere Kooperationsabkommen mit der EU unterzeichnet. Als erster Staat in der westlichen Balkanregion begann Makedonien Anfang 2000 Verhandlungen über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen, am 24. November 2000 wurden die Gespräche erfolgreich abgeschlossen und am 9. April 2001 erfolgte die feierliche Unterzeichnung des Abkommens in Luxemburg.25 Am 1. April 2004 trat das Stabilisierungsund Assoziierungsabkommen mit Makedonien nach der Ratifizierung durch die EUMitgliedstaaten in Kraft und am 22. April 2004 beantragte Makedonien offiziell die EUMitgliedschaft.26 Diese rasche vertragliche Anbindung Makedoniens an die EU wurde oftmals als „Belohnung“ für die trotz ökonomischer Rückständigkeit, ethnischer Heterogenität und eines schwierigen internationalen Umfeldes erfolgreichen Prozesse der Staatsgründung und des Aufbaus demokratischer Institutionen seit Beginn der 90er Jahre bewertet. In der Tat war Makedonien der einzige Nachfolgestaat Jugoslawiens, der einen friedlichen Systemübergang erlebte, was nicht zuletzt dem geschickten Agieren des damaligen Staatspräsidenten Kiro Gligorov (1991-1999) zu verdanken war (Willemsen 2004:772). Dennoch zeigte sich 2001, knapp zehn Jahre nach der Unabhängigkeit Makedoniens, dass gerade die „ethnische Frage“ eine enorme Belastung sowohl für den Frieden und die territoriale Integrität des Landes als auch für den Demokratisierungs- und Konsolidierungsprozess bedeutet. Die damals eskalierende Krise zwischen den ethnischen Makedoniern und der albanischen Bevölkerungsgruppe verzögerte zudem die weitere Anbindung Makedo24
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Im vorliegenden Aufsatz wird die Bezeichnung „Makedonien“ verwendet. Offiziell heißt das Land, das sich seit Jahren in einem Namensstreit mit Griechenland befindet, immer noch „Former Yugoslavian Republic of Macedonia“ (FYROM). Siehe hierzu http://www.delmkd.cec.eu.int/en/eu_and_fyrom/pdf/saa03_01.pdf. Der ausgefüllte Fragebogen, der die Grundlage für die Entscheidung über den offiziellen EUKandidatenstatus bildet, wurde am 14. Februar 2005 in Brüssel überreicht.
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niens an die Europäische Union. Gleichzeitig bot sie der EU eine bisher einmalige Chance, sich als Krisenpräventionskraft zu profilieren. Ohne jeden Zweifel hat das Eingreifen der Europäischen Union erheblich zur Stabilisierung der Situation in Makedonien beigetragen. Bereits in den 90er Jahren war auch in Makedonien die Dominanz der ethnischen Konfliktlinie offensichtlich geworden. Ähnlich wie in Bosnien-Herzegowina waren sowohl die Parteienbildung als auch das Wahlverhalten weitgehend monoethnisch. Zwar existierten immer wieder Koalitionsregierungen unter Einbeziehung albanischer Parteien, auf (zivil)gesellschaftlicher Ebene fand jedoch kaum Annäherung zwischen den Volksgruppen, sondern im Gegenteil die schrittweise Festigung ethnisch definierter Parallelgesellschaften statt (Pettifer 2001: 6). Als enorme Belastung erwies sich auch der Kosovo-Konflikt, in dessen Verlauf Makedonien mehr als 300.000 albanische Flüchtlinge aufnahm. Seit dem Frühjahr 2001 kam es dann immer wieder zu gewaltsamen Ausschreitungen zwischen den Volksgruppen. In dieser angespannten Situation entwickelten Javier Solana als EU-Repräsentant sowie der NATO-Generalsekretär Lord Robertson eine intensive diplomatische Offensive, im Juni 2001 ernannte die EU zudem Francois Léotard zum Sonderbeauftragten für Makedonien. Einen Monat später gelang es, die Kämpfe zwischen den ethnischen Gruppen beizulegen. An den Waffenstillstand schlossen sich wochenlange Verhandlungen unter der Beteiligung der internationalen Vermittler von EU und USA an, die zwar immer wieder durch gewaltsame Auseinandersetzungen zurückgeworfen wurden, am 13. August jedoch in die Unterzeichnung des „Rahmenabkommens von Ohrid“ mündeten (Jakobsson Hatay 2005: 17, ICG 2002 b: 9).27 Dieses ist Friedensvertrag und Reformpaket zugleich. Es enthält u.a. die Forderung nach Dezentralisierung, nach Gleichbehandlung beider Volksgruppen vor dem Gesetz sowie nach proportionaler Vertretung der Minderheiten in staatlichen und lokalen Institutionen und deklariert die albanische Sprache in denjenigen Kreisen und Gemeinden, in denen mindestens 20 % Albanisch sprechen, zur offizielle Sprache neben dem Makedonischen (Risser/Paes 2004). Auch nach dem erfolgreichen Vertragsschluss von Ohrid hat die Europäische Union – gemeinsam mit der NATO – ihr Engagement als Krisenpräventionskraft in Makedonien weiter aufrechterhalten. So übernahm sie am 31. März 2003 mit der Militärmission „Concordia“ die Nachfolge der NATO-Missionen „Essential Harvest“ (August bis September 2001) und „Allied Harmony“ (Dezember 2002 bis März 2003). Im Mittelpunkt der Aufgaben dieser Mission standen die militärische Überwachung des Ohrid-Vertrages, die militärische Absicherung der internationalen Beobachter von EU und OSZE sowie die Sicherung der Grenze zum Kosovo. Die Mission „Concordia“ war die erste Militärmission in der Geschichte der EU und bedeutete für diese das Erreichen einer neuen Stufe sicherheitspolitischer Handlungsfähigkeit. Ihr folgte ab dem 15. Dezember 2003 die ebenfalls durch die Europäische Union geleitete Polizeimission „Proxima“ nach. Sie war zuständig für die Konsolidierung von Recht und Ordnung sowie den Kampf gegen die organisierte Kriminalität, die Implementierung der umfassenden Reform des Innenministeriums sowie der Polizei, die Ausbildung von Grenzschützern, die Umsetzung von Maßnahmen zur Vertrauensbildung der lokalen Polizei gegenüber der Bevölkerung sowie die Verstärkung der Kooperation mit den Nachbarstaaten in Polizeiaufgaben.28 27
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http://www.usip.org/library/pa/macedonia/pa_mac_08132001.html; siehe auch Volle/Weidenfeld 2002: 164-175. Zur Council Joint Action 2003/681/CFSP vom 29. September 2003 siehe http://www.euoplproxima.org/1%20Mission/Jointaction2003681.htm. Die Mission lief am 15. Dezember 2005 aus;
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Allerdings ist die Umsetzung des Ohrid-Abkommens noch längst nicht abgeschlossen. So mahnte die EU-Kommission in ihrem Fortschrittsbericht für Makedonien aus dem Jahr 2003 noch erhebliche Defizite bei der Implementierung an. Auch auf dem zweiten Treffen des Stabilisierungs- und Assoziierungskomitees zwischen Vertretern der EU und Makedoniens am 10. Juni 2005 in Brüssel wurde dem Vertrag von Ohrid und seiner Umsetzung erhebliche Aufmerksamkeit zuteil. Als besonders dringlich wurden Verbesserungen bezüglich der Organisation von Wahlen und der Reform der Polizei, der Justiz sowie der öffentlichen Verwaltung bezeichnet. So scheint der Vertrag von Ohrid nur ein erster – wenn auch wichtiger – Schritt auf dem Weg zu demokratischer Konsolidierung und Integration in die europäischen Strukturen zu sein. Am 17. Dezember 2005 wurde Makedonien auf Empfehlung der EU-Kommission vom 9. November der Rang eines offiziellen Beitrittskandidaten zugesprochen, ein offizielles Datum für den Beginn der Verhandlungen steht indes noch aus (Europolitan, Nr. 43 v. 9.01.2006). Auch für Makedoniens weiteren Weg in Richtung EU wird es entscheidend darauf ankommen, ob es gelingt, dauerhafte institutionelle Effizienz zu gewährleisten, die immer noch fragile Staatlichkeit zu konsolidieren, die ökonomische Rückständigkeit zu überwinden und sowohl auf politischer als auch insbesondere auf gesellschaftlicher Ebene die ethnische Blockbildung aufzubrechen. 5
Die Beziehungen zwischen der EU und Kroatien
Unter der Präsidentschaft von Franjo Tuñman (1990-99) war Kroatiens viel beschworene Zugehörigkeit zu Europa letztlich nur als rhetorische Floskel zu verstehen, mit der sich die nationalistische kroatische Führung vom Nachbarn Serbien abzugrenzen versuchte. Erst nach Tuñmans Tod Ende 1999 gelang es der neuen sozialliberalen Regierungskoalition unter Ivica Račan, die Intensivierung der Kontakte Kroatiens zur Europäischen Union voranzutreiben. Bereits in seiner Regierungserklärung machte Račan deutlich, die EUIntegration sei eindeutig Kroatiens wichtigstes außenpolitisches Ziel (Klimpel 2003). Im Februar 2000 wurde eine gemeinsame Task Force der EU und Kroatiens gebildet, am 24. Mai 2000 verabschiedete die EU-Kommission eine positive Machbarkeitsstudie für Kroatien. Am 29. Oktober 2001 unterzeichneten Ministerpräsident Račan, die Außenminister der EU-Staaten sowie der außenpolitische Beauftragte der Europäischen Kommission das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Kroatien (Večernji List v. 30.10.2001; HINA v. 29.10.2001; SETimes v. 30.10.2001), das bereits am 5. Dezember 2001 in einem Schnellverfahren durch das kroatische Parlament ratifiziert wurde (Buric 2002: 253). Die Ratifizierung des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens durch die Mitglieder der EU gestaltete sich jedoch als schwierig, insbesondere Großbritannien und die Niederlande begründeten ihre zögerliche Haltung mit der mangelhaften Zusammenarbeit der kroatischen Regierung mit dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. So trat das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Kroatien letztlich erst am 1. Februar 2005 in Kraft.29
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Deutsche Welle v. 2.11.2005. Press Release, European Union, Delegation of the European Commission to the Republic of Croatia, Zagreb, 21.12.2004; http://www.delhrv.cec.eu.int/files2004/pr_21122004.pdf.
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Dennoch hatte Zagreb bereits im Jahr 2002 mit der Umsetzung eines ehrgeizigen „nationalen Programms“ zur Vorbereitung des EU-Beitritts begonnen (Rožić 2004: 572). Im Dezember 2002 verabschiedete das kroatische Parlament einstimmig eine „Resolution über die Aufnahme der Republik Kroatien in die Europäische Union“, die als Grundlage für den Beitrittsantrag diente, den Ivica Račan am 21. Februar 2003 in Athen dem damaligen EURatspräsidenten Costas Simitis überreichte (EU.observer.com v. 24.02.2003, SETimes v. 24.03.2003). Nur einen Monat später stellte die Europäische Kommission in ihrem Bericht für das Jahr 2003 fest, die Stabilisierung der demokratischen Verhältnisse sei insgesamt befriedigend. Gelobt wurde u.a. der Elan, mit dem die kroatische Regierung an der Umsetzung des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens arbeite. Als „Sorgenkind“ wurde jedoch insbesondere der Zustand der Justiz genannt.30 Im Juli übergab Kommissionspräsident Prodi Račan den EU-Fragenkatalog, den Kroatien bis zum Herbst 2003 umfassend bearbeitete (Klimpel 2003: 55). Nach den vorgezogenen Parlamentswahlen vom November 2003 kehrte die ehemalige Tuñman-Partei HDZ mit Ivo Sanader an der Spitze an die Regierung zurück. Während Ivica Račan Anfang 2000 von der internationalen Staatengemeinschaft mit offenen Armen empfangen worden war, wurde Sanader trotz seiner Beteuerungen, die HDZ habe sich grundlegend gewandelt, zunächst skeptisch und misstrauisch begrüßt. Ausländische Beobachter fürchteten eine Abkehr von der proeuropäischen Politik Račans (Kušić 2003: 381385; Kušić/Grupe 2005: 228; Oschlies 2003). Allerdings gelang es dem neuen Regierungschef schon bald, auch Kritiker von der Fortsetzung des EU-Kurses zu überzeugen (so Javier Solana in Vjesnik v. 17.02.2004). Belohnt wurde dies am 20. April 2004 durch die Veröffentlichung eines positiven Avis der EU für Kroatien (Hanns-Seidel-Stiftung, Monatsbericht April 2004; NZZ v. 22.04.2004). Erneut wurden dem Land erhebliche Erfolge bei der Stabilisierung der demokratischen Institutionen sowie Fortschritte bei der Verwirklichung von Medienfreiheit und Rechtsstaatlichkeit bescheinigt. Allerdings habe Kroatien in manchen Bereichen immer noch deutlichen Aufholbedarf, beispielsweise bei der Bekämpfung der Korruption sowie der Implementierung des Minderheitenschutzes.31 Am 18. Juni 2004 folgte die Erteilung des offiziellen EU-Kandidatenstatus für Kroatien und im Dezember 2004 legte die Europäische Union den Beginn der Beitrittsverhandlungen auf den 17. März 2005 fest.32 In der Schlussfolgerung des Rates heißt es, man nehme die „Fortschritte Kroatiens bei der Vorbereitung auf die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen mit Befriedigung zur Kenntnis“, rufe die kroatische Regierung aber dringend auf, insbesondere „die notwendigen Maßnahmen für eine uneingeschränkte Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (...) zu ergreifen“. Ferner wies der Rat darauf hin, „dass der letzte Angeklagte so bald wie möglich ausfindig gemacht und nach Den Haag überstellt werden“ müsse. Gemeint war der ehemalige General Ante Gotovina, der bereits seit 2001 flüchtig war und von dem die kroatische Regierung
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Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess Jahresbericht 2003, Kroatien, Brüssel, 26.03.2003, COM (2003) 139 final; www.uni-mannheim.de/edz/pdf/sek/2003/sek-2003-0341.pdf. Communication from the Commission. Opinion on Croatia´s Application for membership of the European Union, Brussels, 20.04.2004, COM (2004) 257 final, http://www.mei.hr/Download/2004/05/31/cr_croat.pdf. Schlussfolgerungen des Vorsitzes zur Tagung des Europäischen Rates vom 16./17. Dezember 2004, (OR en) 16238/04, CONCL 4, DOC 04/06, http://ue.eu.int/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/83221.pdf.
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wiederholt versichert hatte, er befinde sich längst nicht mehr auf kroatischem Hoheitsgebiet. Das positives Votum wurde in Kroatien mit erheblicher Genugtuung aufgenommen (Transition Online v. 20.12.2004). Allerdings gelang es Kroatien bis März 2005 letztlich nicht, seine Bereitschaft zur uneingeschränkten Zusammenarbeit mit dem Kriegsverbrechertribunal unter Beweis zu stellen. Gotovina blieb unauffindbar und so verschob die EU erstmals in ihrer Geschichte bereits terminlich anberaumte Beitrittsverhandlungen auf unbestimmte Zeit (Richter 2005: 7f). Um die Gespräche dennoch nicht abreißen zu lassen, wurde auf besondere Initiative Österreichs und der Slowakei die Einsetzung einer speziellen Task-Force aus Vertretern Kroatiens, der EU und des Haager Tribunals gebilligt (Der Standard v. 23.03.2005; Die Zeit v. 23.03.2005).33 Auf deren erstem Treffen am 26. April 2005 legte der kroatische Ministerpräsident Sanader einen 6-Punkte-Plan seiner Regierung vor. Dieser sah u.a. eine Umstrukturierung der Sicherheitskräfte sowie eine Kampagne vor, um für eine bessere Akzeptanz des Kriegsverbrechertribunals in Kroatien zu werben (http://www.vlada.hr). Der Umgang mit der eigenen Rolle im so genannten „Vaterländischen Krieg“ zu Beginn der 90er Jahre entpuppte sich, so wurde im Frühjahr 2005 deutlich, als „Stolperstein“ (Kušić/Grupe 2005: 230) für die kroatischen EU-Ambitionen. Und das, obwohl herausgehobene politische Akteure – besonders Tuñmans Nachfolger im Präsidentenamt, Stipe Mesić – bereits seit 2000 immer wieder auf die enorme Bedeutung der Einhaltung der Verpflichtungen gegenüber dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal hingewiesen hatten. Dennoch ist bis heute der notwendige öffentliche Dialog über den Umgang mit der Kriegsschuld kaum in Gang gekommen. Schon im Sommer 2001 war die damalige Sechsparteien-Regierungskoalition von Ivica Račan beinahe an der Kriegsverbrecher-Problematik zerbrochen. Während die Partei des Regierungschefs eine Auslieferung der beiden ehemaligen kroatischen Generäle Rahim Ademi und Ante Gotovina befürwortet hatte, war der Koalitionspartner HSLS (Hrvatska Socijalno Liberalna Stranka, Kroatische Sozialliberale Partei) unter Drazen Budiša aus Protest aus der Regierung ausgetreten. Damals hatte sich gezeigt, dass längst nicht nur die extreme Rechte sowie die zahlreichen Veteranenverbände, sondern weite Teile der Bevölkerung der Auffassung anhingen, Kroatien sei im Krieg gegen die jugoslawischen Truppen ab 1991 eindeutig Opfer und nicht Aggressor gewesen und könne für die legitime Verteidigung seiner jungen Staatlichkeit nicht auch noch bestraft werden (Brcic 2003). Nur ein Jahr später stand die Kriegsverbrecherfrage erneut auf der innenpolitischen Agenda. Im September 2002 wurde der ehemalige General Janko Bobetko von Den Haag wegen Kriegsverbrechen gegen die Serben im Jahr 1993 während der Operation „Meñak“ angeklagt. Bobetko, der sogleich öffentlich äußerte, er werde niemals lebend nach Den Haag gehen (Jutarnji List v. 20.09.2002; RFE/RL Newsline v. 25.09.2002), genoss in weiten Teilen des Landes und auch über Parteigrenzen hinweg hohes Ansehen. Diesmal weigerte sich die Račan-Regierung aus Angst vor einem endgültigen Auseinanderbrechen der fragilen Regierungskoalition, dem Ersuchen des Tribunals nachzukommen. Einzig Präsident Mesić forderte unverdrossen, auch in diesem Fall die Verpflichtungen zur vollständigen Kooperation einzuhalten, um die europäische Integration nicht aufs Spiel zusetzen 33
Konkret nahmen seitens der Europäischen Union der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn, der britische Außenminister Jack Straw, die österreichische Außenministerin Ursula Plassnik, der EUAußenbeauftragte Javier Solana sowie Erweiterungskommissar Olli Rehn teil; Kušić/Grupe 2005: 235
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(Buric 2002: 260f; Klimpel 2003: 49): „Die einzige Ausnahme im meinungs`gleichgeschalteten´ Kroatien stellt Präsident Stjepan Mesić dar. Er spielt wieder einmal die Rolle des guten Gewissens seines Landes und fordert fast gebetsmühlenartig zur bedingungslosen Zusammenarbeit mit dem Tribunal auf“ (Altmann/Kasch 2002: 3). Doch auch für Račans Nachfolger Sanader ist der Umgang mit der Frage der Vergangenheitsbewältigung schwierig und mit erheblichen politischen Risiken behaftet. Zwar verfügt er im Gegensatz zu seinem Vorgänger über eine stabilere Regierung, allerdings sitzt er einer Partei vor, die – wie bereits angesprochen – zwar in den letzten Jahren unter seiner Federführung einen erheblichen europäischen „Schwenk“ vollzogen hat, jedoch immer noch auf nationalistisch orientierte Mitglieder- und Wählerschichten angewiesen ist. Eine allzu enge Kooperationsbereitschaft mit dem Den Haager Tribunal könnte ihn somit in der eigenen Partei in Erklärungsnot bringen und letztlich sogar die politischen Kräfte rechts von der HDZ stärken.34 Rund sieben Monate nach der Aussetzung des Verhandlungsbeginns beschloss die Europäische Union am 3. Oktober 2005 letztlich doch die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Kroatien, nur wenige Stunden später kam die von Ministerpräsident Sanader angeführte kroatische Delegation erstmals mit den Außenministern der EU zusammen. Den Weg zu dieser Entscheidung hatte ein Bericht der UN-Chefanklägerin Carla Del Ponte vom gleichen Tag geebnet, in dem Kroatien bescheinigt wurde, „seit einigen Wochen“ uneingeschränkt mit dem Kriegsverbrecher-Tribunal zusammen zu arbeiten, auch wenn die Verhaftung von Gotovina zu diesem Zeitpunkt nach wie vor ausstand.35 Der Verhandlungsbeginn wurde in Zagreb von allen im Parlament vertretenen Parteien ohne Einschränkungen begrüßt und gilt insbesondere als persönlicher Erfolg für Ministerpräsident Sanader, der trotz zwischenzeitlich stark gesunkener Zustimmung zu seiner Partei HDZ und erheblicher innerparteilicher Kritik unbeirrt an seinem proeuropäischen Kurs festgehalten hat (Schmitz 2005 b). 6
Die Beziehungen zwischen der EU und der Bundesrepublik Jugoslawien bzw. Serbien-Montenegro
Bis zum Sturz von Slobodan Milošević im Oktober 2000 hatte sich Serbien bzw. die damalige Bundesrepublik Jugoslawien gegenüber Europa in einer Situation der völligen Isolation befunden. So war Serbien nicht in den Stabilitätspakt für Südosteuropa eingebunden gewesen, während die Teilrepublik Montenegro bereits seit 1998, als der damalige Präsident und heutige Ministerpräsident Milo ðukanović mit der Milošević-Politik brach, von Hilfen der internationalen Staatengemeinschaft profitiert hatte. Gleichzeitig hatten die verantwortlichen Politiker der EU jedoch immer wieder betont, auf Dauer sei ohne die Einbindung der gesamten Bundesrepublik Jugoslawien in die euro34
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Bei den Lokalwahlen vom Mai 2005 ist dies bereits in gewissem Umfang geschehen: dort büßte die regierende HDZ an Stimmen ein, während die rechtsnationalistische Partei HSP (Hrvatska Stranka Prava; Kroatische Partei des Rechts) ihre Mandate im Vergleich zur Wahl von 2001 verdreifachen konnte (Deutsche Welle Fokus Ost-Südost v. 18.05.2005). Rat der Europäischen Union: Schlussfolgerungen des Rates zu Kroatien – Beratungsergebnis, Brüssel, 4.10.2005, 12877/05; http://register.consilium.eu.int/pdf/de/05/st12/st12877.de05.pdf. Anfang Dezember 2005 wurde der flüchtige Gotovina schließlich auf Tenerife/Spanien verhaftet und kurz darauf nach Den Haag überstellt (NZZ v. 9.12.2005).
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päischen Strukturen die Stabilisierung der Balkanregion kaum möglich. So äußerte der Stabilitätspakt-Koordinator Bodo Hombach am 3. Juli 2000 in einer Rede in der Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin: „Wir warten ungeduldig, bis Serbien sein politisches Problem gelöst hat. Der Stabilitätspakt steht einer demokratischen BR Jugoslawien offen, die die Prinzipien und Ziele des Paktes anerkennt. (...) Solange die BRJ kein Teilnehmer des Stabilitätspaktes sein kann, muss dieser die Stabilitätsinseln in der Region stärken und miteinander verbinden. Er muss Leuchttürme um die BRJ herum setzen (...)“.36
Das gelang insbesondere durch den so genannten Szeged-Prozess zur Unterstützung der oppositionsgeführten Kommunen in Serbien. Diese erhielten seit September 1999 u.a. Benzinlieferungen, medizinische Versorgungsleistungen sowie Hilfe bei der Schulung von lokalen Beamten. Zudem wurden Städtepartnerschaften eingerichtet (Schmidt 2000: 36).37 Auf den Sturz von Milošević im Herbst 2000 reagierte die internationale Staatengemeinschaft nahezu euphorisch und bereits am 9. Oktober 2000 einigten sich die EUAußenminister in Luxemburg darauf, die internationalen Sanktionen gegenüber der Bundesrepublik Jugoslawien aufzuheben.38 Um den Wunsch nach einer raschen Anbindung Serbiens an Europa zu demonstrieren lud die französische Regierung den Nachfolger Miloševićs im jugoslawischen Präsidentenamt, Vojislav Koštunica, zum EU-Gipfel am 13./14. Oktober 2000 nach Biarritz ein (Financial Times Deutschland v. 6.10.2000; cnn.com v. 14. 10.2000). Die Präsidentin des Europäischen Parlaments, Nicole Fontaine, begrüßte in ihrer Rede in Biarritz die „Rückkehr Jugoslawiens nach Europa“ und lobte Koštunica, „der mit der Unterstützung der gesamten Nation den letzten Diktator Europas bezwungen habe“.39 Am 25. November 2000 wurde in Belgrad im Zuge eines Besuchs des damaligen EUKommissionspräsidenten Romano Prodi ein Rahmenabkommen über die Regelung der gegenseitigen Beziehungen zwischen der EU und der Bundesrepublik Jugoslawien unterzeichnet, das am 31. März 2003 ratifiziert wurde. Zudem sicherte der Stabilitätspakt Serbien als politisches Signal der Unterstützung für den erwarteten Reformprozess rund 200 Mio. Euro an Soforthilfe zu (http://www.eudelyug.org/en/eu_and_fry/sap/index.htm). Im Juli 2003 wurde auf Vorschlag der EU-Kommission zur Beschleunigung des Reformprozesses und zur weiteren Vertiefung der von der EU angeratenen Reformen ein verstärkter politischer Dialog eingerichtet. Im September 2003 beschloss die Kommission die Ausarbeitung eines Machbarkeitsberichts über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit Serbien-Montenegro. Im März 2004 schloss die Europäische Union zudem eine so genannte Europäische Partnerschaft mit Serbien-Montenegro (Beschluss 2004/520/EG des Rates). Der Stabilisierungs- und Assoziierungsbericht der EU-Kommission für das Jahr 2004 machte jedoch deutlich, dass in etlichen Bereichen noch erhebliche Reformanstrengungen notwendig sein würden: während sich die Institutionen in Serbien auch nach der Ermor36 37
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Wortlaut siehe http://www.dgap.org. Zum Szeged-Prozess siehe http://www.bmz.de/de/service/infothek/fach/spezial/spezial072/spezial072_27.html. Wirtschaftssanktionen waren erstmals 1992 verhängt worden. Seit der Kosovo-Krise 1999 galten u.a. ein Waffen-, ein Investitions- sowie ein Erdölembargo; Mappes-Niedik 2000. European Council, 13 and 14 October 2000, Biarritz, 03/S-2000; http://www.europarl.eu.int.
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dung des damaligen Premierministers Zoran ðinñić im Frühjahr 2003 „robust und stabil“ gezeigt hätten, sei vor allem das Thema Vergangenheitsbewältigung nach wie vor eine „offene Herausforderung“. Aufgrund der bestehenden Mängel werde, so die Kommission, die Fertigstellung des Machbarkeitsberichts verschoben, um „den serbischen Behörden mehr Zeit einzuräumen, sich den verbleibenden zentralen Fragen zu widmen“.40 Schließlich wurde die Machbarkeitsstudie der EU-Kommission am 12. April 2005 beschlossen und am 25. April durch den Europäischen Rat gebilligt. Sie bescheinigt SerbienMontenegro den notwendigen Entwicklungsstand für den Beginn von Verhandlungen über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union. Betont wurden Fortschritte bezüglich des Funktionierens der demokratischen Institutionen sowie der Achtung der Rechtsstaatlichkeit sowie der Menschen- und Minderheitenrechte. Weiter hieß es: „Die Staatenunion Serbien und Montenegro hat unlängst Fortschritte bei der Erfüllung ihrer internationalen Verpflichtungen hinsichtlich einer Zusammenarbeit mit dem ICTY erzielt (...).“ Als zukünftige Schwerpunktaufgaben mahnte die EU in der Machbarkeitsstudie neben der weiteren Kooperation mit dem Kriegsverbrechertribunal vor allem die konsequente Umsetzung der Kompetenzverteilung zwischen der Staatenunion und den Teilrepubliken, die Stärkung von Parlamenten und Exekutiven, Verbesserungen für Binnenvertriebene und Flüchtlinge sowie die konsequente Reform der öffentlichen Verwaltung an. Der serbische Präsident Boris Tadić äußerte bereits am Tag der Veröffentlichung der Studie, die Entscheidung der EU sei „ein großer Vertrauensvorschuss“. Nun sei es an der Regierung in Belgrad, dieses Vertrauen nicht zu enttäuschen (Deutsche Welle v. 13.04.2005, Fokus Ost-Südost). Insgesamt scheint es, als habe die EU erhebliche Eile, Serbien-Montenegro so rasch wie möglich an die europäischen Strukturen heranzuführen. Dieses Bestreben könnte in einem direkten Zusammenhang mit zwei in nächster Zeit anstehenden Herausforderungen stehen. Zum einen wird 2006 eine Entscheidung über die von Beginn an unsichere Zukunft des Staatenbundes Serbien-Montenegro fallen. Er war am 14. März 2002 mit der Unterzeichnung des Belgrader Abkommens gegründet worden. Der Unterzeichnung vorausgegangen waren erhebliche Anstrengungen der EU, insbesondere von Javier Solana, das durch die montenegrinische Regierung für Mai 2002 angekündigte Unabhängigkeitsreferendum zu verhindern (ICG 2002 b). Das Belgrader Abkommen sowie die im Frühjahr 2003 verabschiedete Verfassungscharta sehen die lose Verbindung beider Teile des Staatenbundes vor, die erhebliche eigene Kompetenzen erhalten. Die gemeinsamen Institutionen sind indes bisher äußerst schwach und ineffektiv geblieben. Zudem beinhaltet das Abkommen zwar einen gemeinsamen Markt, bis heute jedoch verfügen Serbien und Montenegro über völlig getrennte Wirtschaftssysteme. Auch zu der in Art. 51 und 56 der Verfassungscharta geforderten Harmonisierung der Verfassungen des Staatenbundes und beider Einzelstaaten ist es bisher nicht gekommen. Art. 60 regelt, dass nach drei Jahren, also im Frühjahr 2006 über das Fortbestehen der Union per Referendum neu entschieden wird. Auch wenn die EU noch am 10. November 2005 forderte, die Entscheidung noch einmal aufzuschieben (RFE/RL Newsline v. 10.11.2005), hat die montenegrinische Regierung mittlerweile das Referendum auf den 21. Mai 2006 festgelegt. Im Vorfeld waren auf Druck der EU überaus strenge Kriterien für den Erfolg der Abstimmung festgeschrieben worden. 40
Comission of the European Communities: Serbia and Montenegro Stabilisation and Association Report 2004, http://www.eudelyug.org/en/eu_and_fry/key_documents/documents/2004_SAP_report_com04_376_en.pdf
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Nun müssen bei einer Mindestbeteiligung von 50 % der Abstimmungsberechtigten über 55 % der Abstimmenden für die Unabhängigkeit votieren.41 Die zweite, zweifelsohne noch größere Herausforderung, der sich sowohl Serbien als auch die EU in der nächsten Zeit stellen müssen, ist die Lösung der Kosovo-Frage. Auch 25 Jahre nach den ersten Unruhen im Kosovo im Jahr 1981, 19 Jahre nach der Rede von Slobodan Milošević auf dem Amselfeld (Kosovo Polje), in der er verkündete, der Kosovo werde immer zu Serbien gehören (Politika v. 26.04.1987; Bieber 2005: 177), sowie sieben Jahre nach der Intervention der NATO im Rahmen der Aktion „Allied Forces“ und der UNSicherheitsrats-Resolution 1244 ist der endgültige Status des Kosovo weiter ungeklärt. Den Forderungen nach staatlicher Unabhängigkeit seitens der Kosovo-Albaner steht der wenig eindeutige Vorschlag „mehr als Autonomie, weniger als Unabhängigkeit“ der serbischen Seite zurzeit noch unvereinbar gegenüber. Anfang November 2005 nahm der UNOChefverhandler, der finnische Ex-Präsident Martti Ahtisaari, in Brüssel erste Gespräche auf. Als Verhandlungsrichtlinien gelten bisher die drei Grundsätze, auf die sich die aus den USA, Russland, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien bestehende so genannte „Kontaktgruppe“ bereits geeinigt hat. Demnach werden sowohl eine Rückkehr zur Situation vor 1999 als auch eine Teilung des Kosovo oder seine Angliederung an ein Nachbarland ausgeschlossen. Auch wenn offiziell betont wird, das Verhandlungsergebnis sei völlig offen, so verfestigt sich jedoch inzwischen der Eindruck, dass die westlichen Staaten eine „konditionierte Unabhängigkeit“ für die beste Lösung halten. Dies bedeutet, der Kosovo würde erst nach einer Übergangszeit in die Eigenstaatlichkeit entlassen. Einen entsprechenden Vorschlag präsentierte auch die Internationale Balkankommission bereits im Frühjahr 2005 (International Commission on the Balkans 2005). Im Oktober 2005 gab die Europäische Union endgültig „grünes Licht“ für die Verhandlungen mit Belgrad über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen. Anfang November 2005 startete unter dem Vorsitz von Reinhard Priebe und dem serbischmontenegrinischen Außenminister Vuk Drašković die erste der drei bis November 2006 geplanten Verhandlungsrunden (Der Standard v. 7.10.2005). Diesbezüglich äußerte der serbische Ministerpräsident Koštunica, die Entscheidung sei ein großer Erfolg der serbischen Regierung, aller Bürger und des gesamten Staates. Vorsichtiger gab sich Serbiens Präsident Boris Tadić, der im Verhandlungsbeginn lediglich einen ersten, wenn auch einen wichtigen Schritt in Richtung vollständiger Integration in die europäischen sowie die euroatlantischen Strukturen erkannte (Deutsche Welle v. 4.10.2005, Fokus Ost-Südost). Gleichzeitig machte EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn unmissverständlich deutlich, dass für die unmittelbare Zukunft vor allem die verbesserte Zusammenarbeit mit dem Internationalen Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag die entscheidende Voraussetzung für die weitere Annäherung an die EU sei (Deutsche Welle v. 11.10.2005, Fokus OstSüdost). Es bestehe kein Zweifel daran, dass Serbien letztlich nur dann „die Tür nach Europa“ offen stehe, wenn insbesondere Ratko Mladić, der als Verantwortlicher für das Massaker von Srebrenica (1995) gilt, in Kürze an das Kriegsverbrechertribunal ausgeliefert würde (www.tagesschau.de/aktuell/meldungen v. 12.03.2006). Im Frühjahr 2006 verschärfte Brüssel die Gangart, indem es am 2. Mai die zweite Verhandlungsrunde über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen aussetzte, um Belgrad zu mehr Engagement in der „Mladić-Frage“ zu zwingen. Olli Rehn rief die serbi41
Einer Umfrage vom Januar 2006 zufolge sind zurzeit knapp über 40 % der Montenegriner für die Unabhängigkeit, 32 % dagegen und 25 % noch unentschieden (SETimes v. 31.03.2006).
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sche Regierung dazu auf, endlich „demokratische Reife“ zu zeigen (Deutsche Welle v. 3.05.2006, Fokus Ost-Südost). Während der serbische Ministerpräsident Koštunica die Verantwortung der Behörden vehement zurückwies, trat sein Stellvertreter Miroljub Labus noch am selben Tag zurück. Die Belgrader Regierung – so Labus – habe „die wichtigsten Interessen des Landes und der serbischen Bevölkerung“ verraten, indem sie es nicht bewerkstelligt habe, Mladić auszuliefern (Spiegel Online v. 3.05.2006) 7
Schlussbetrachtungen
Die Europäische Union hat sich – im deutlichen Gegensatz zu ihrer Rolle in den 90er Jahren – längst zum zentralen internationalen Akteur in der westlichen Balkanregion entwickelt. Sowohl durch den Stabilitätspakt als auch ganz besonders durch den Stabilisierungsund Assoziierungsprozess ist es der EU auch durchaus gelungen, zur Stabilisierung der jugoslawischen Nachfolgestaaten Bosnien-Herzegowina, Makedonien, Kroatien und Serbien-Montenegro beizutragen. Die Aussicht, in absehbarer Zeit Anschluss an die europäische Integration zu erlangen, war und ist für die postjugoslawischen Staaten offensichtlich der wichtigste Ansporn, nicht nur wirtschaftliche, sondern v.a. auch politische Reformen durchzuführen. Allerdings war die Balkan-Politik der EU während der letzten Jahre oftmals weniger von einer kohärenten und stringenten politischen Strategie als vielmehr von Inkonsistenz, Rat- und Ideenlosigkeit, offensichtlicher Uneinigkeit und unzähligen Lippenbekenntnissen geprägt, denen längst nicht immer Taten folgten. Bosnien-Herzegowina gilt als Musterfall für den Versuch des externen state-building. Der Vertrag von Dayton installierte eine Nachkriegs-Ordnung, durch die es zumindest gelang, ein erneutes Aufbrechen von gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den ethnischen Gruppen zu verhindern. Allerdings ist gerade in den letzten Jahren deutlich geworden, dass die durch den Dayton-Vertrag geschaffenen Strukturen nicht geeignet sind, Bosnien dauerhafte Stabilität und Effizienz zu sichern und das Land – bis heute ein „internationales Protektorat“ – in die Europäische Union zu integrieren. Die im April 2006 zunächst gescheiterten Gespräche über Verfassungsänderungen haben zudem nachhaltig vor Augen geführt, wie viele nur schwer überbrückbare Gräben zwischen den Volksgruppen nach wie vor offen sind. An der makedonischen Entwicklung wird deutlich, dass externe Stabilisierungsbemühungen, wenn sie rechtzeitig erfolgen, durchaus erfolgreich sein können. In Makedonien bewies die Europäische Union, dass es ihr in den letzten Jahren gelungen ist, ihre sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit konsequent weiterzuentwickeln. Allerdings wird der Beitritt des v.a. ökonomisch weiterhin rückständigen Makedonien zur EU mit Sicherheit nicht ohne erhebliche weitere makedonische Reformanstrengungen gelingen. Kroatien, bis heute trotz seines mehr als holprigen EU-Annäherungsprozesses ein Vorreiter in der westlichen Balkanregion, hat nach einem Dreivierteljahr Verzögerung im Herbst 2005 die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen erreicht. Aus der Perspektive der EU war es durchaus nachzuvollziehen, dass sie auf der Einhaltung der kroatischen Zusage, vollständig mit dem Den Haager Tribunal zu kooperieren, beharrte. Auch ist insbesondere das Anliegen der EU, sich als Wertegemeinschaft darzustellen, nicht zu kritisieren. Darüber hinaus war die Signalwirkung auf die Nachbarländer von großer Bedeutung, die von Brüssel und Den Haag formulierten Anforderungen auch wirklich ernst zu nehmen (Batt 2005). Ob es jedoch durch die „Warteschleife“, in der sich Kroatien 2005 befand, gelungen ist,
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tatsächlich die längst überfällige öffentliche Debatte über die eigene Vergangenheit im Land selbst anzustoßen, ist mehr als fraglich. Außerdem muss sich die EU die kritische Frage gefallen lassen, ob es wirklich sinnvoll war, die „Europafähigkeit“ Kroatiens v.a. anhand der Bereitschaft zur Auslieferung eines einzigen Kriegsverbrechers zu messen (Schmitz 2005 a). Mitunter schien es, als seien der EU durch die Fokussierung auf die Kriegsverbrecher-Frage andere Themen, zum Beispiel die nach wie vor bestehenden strukturellen Mängel, aus dem Blick geraten (Richter 2005: 12f). Serbien hat nach jahrelanger internationaler Isolation unter Milošević seit 2000 bedeutende Schritte auf dem Weg zu einer engeren Anbindung an die europäischen Strukturen gemacht. Die Aufnahme von Gesprächen über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen im Frühjahr 2005 ist ohne Zweifel als Unterstützung für den bisherigen Reformweg zu sehen. Für die nahe Zukunft wäre die EU gut beraten, ihr bisheriges Festhalten an der ineffektiven Staatenunion Serbien-Montenegro zu überdenken. Darüber hinaus muss sich die Europäische Union um eine konstruktive Rolle bei der in der nächsten Zeit anstehenden Lösung der Kosovo-Frage bemühen. Dass die Europäische Union gewillt ist, auch im serbischen Fall an strengen, konsequenten Auflagen, insbesondere was die Zusammenarbeit mit dem Kriegsverbrechertribunal angeht, festzuhalten, zeigt die Aussetzung der Verhandlungen über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen Anfang Mai 2006 eindrucksvoll. Ob jedoch dieser Rückschlag für Serbiens EU-Ambitionen, wie ausländische Kommentatoren in den Tagen danach zuweilen hofften, letztlich die proeuropäischen Kräfte im Lande stärken wird, ist zurzeit noch nicht abzusehen, zumal der Rücktritt des „westliche(n) Aushängeschild(s)“ (Deutschlandfunk v. 6.05.2006) Labus zunächst einmal die ohnehin instabile Regierung Koštunica weiter geschwächt hat (NZZ v. 5.05.2006). Deren innen- wie außenpolitische Handlungsfähigkeit wird in den nächsten Wochen und Monaten jedoch wichtiger sein denn je, um die Annäherung an die europäischen Strukturen allen Rückschlägen zum Trotz voranzutreiben. Insgesamt ist für die nächsten Jahre zu hoffen, dass es der EU gelingt, stärker als bisher eine in sich konsistente, transparente und berechenbare Strategie für die Nachfolgestaaten Jugoslawiens und für die gesamte Balkan-Region zu verfolgen. Für alle Länder scheint es unbedingt notwendig, eine ernsthafte kurz-, mittel- oder langfristige EU-Perspektive aufrecht zu erhalten, denn nur sie allein ist geeignet, die nach wie vor dringend notwendigen Reformprozesse weiter voranzutreiben.42 Allerdings darf die Europäische Union – nicht zuletzt um ihres eigenen internen Gleichgewichts Willen – die inhaltlichen Konditionen für einen Beitritt der Balkanländer nicht allzu sehr aufweichen. D.h. letztlich muss die EU für den westlichen Balkan ein Prozedere entwickeln – auch wenn dies wie die Quadratur des Kreises erscheinen mag – das einerseits den unterschiedlichen Entwicklungsstadien und somit Geschwindigkeiten der nach wie vor überaus heterogenen Staatengruppe Rechnung trägt und andererseits unbedingt darauf achtet, nachvollziehbare und v.a. vergleichbare Maßstäbe bei der Beurteilung der „Europareife“ anzulegen. Alles andere würde letztlich wieder einmal Misstrauen und Zwist zwischen den Staaten der Region sähen. Und wozu das führen kann, haben die 90er Jahre – mit fatalen, bis heute sichtbaren Folgen für den gesamten westlichen Balkanraum – in aller Deutlichkeit gezeigt.
42
Insofern wird hier in aller Deutlichkeit den Befürwortern einer Assoziierung ohne Mitgliedschaftsperspektive nach dem Vorbild des Barcelona-Prozesses für die südlichen Mittelmeeranrainer widersprochen, vgl. Altmann 2005: 194ff.
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Anhang Die Beziehungen zwischen der EU und den jugoslawischen Nachfolgestaaten BosnienHerzegowina, Makedonien, Serbien-Montenegro und Kroatien (Stand Mai 2006) Land BosnienHerzegowina Makedonien
Kroatien
Serbien-Montenegro
29.04.1997 Mai 1999
17.05.1999
10.06.1999
21.06.1999
30.07.1999
10./11.12 1999
24.03.2000 30.03 2000
24.05.2000 9.10.2000
Status Machbarkeitsstudie angenommen Beginn der Verhandlungen über ein SAA SAA unterzeichnet SAA in Kraft EU-Mitgliedschaftsantrag eingereicht Kandidatenstatus SAA unterzeichnet SAA in Kraft EU-Mitgliedschaftsantrag eingereicht Kandidatenstatus Beginn der Beitrittsverhandlungen beschlossen Machbarkeitsstudie angenommen Beginn der Verhandlungen über ein SAA beschlossen
Datum 18.11.2003 25.01.2006 9.04.2001 1.04.2004 22.04.2004 17.12.2005 29.10.2001 1.02.2005 21.02.2003 18.06.2004 3.10.2005 25.04.2005 3.10.2005
Europäischer Rat formuliert das Konzept der Konditionalität Europäische Kommission legt erstes Dokument über Strategie gegenüber dem westlichen Balkan vor (Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess) Außenminister der EU mit Gemeinsamem Standpunkt zur Notwendigkeit eines Stabilitätspaktes für Südosteuropa Stabilitätspakt für Südosteuropa unter deutscher EURatspräsidentschaft in Köln verabschiedet EU-Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess (SAP) für die Staaten Südosteuropas verabschiedet Stabilitätspakt von Staats- und Regierungschefs in Sarajewo bestätigt und Bodo Hombach als Koordinator des Stabilitätspaktes eingesetzt Gemeinsamer Bericht an den Helsinki-Rat zur Unterstützung des Stabilitätspaktes verabschiedet: Betonung, dass es der EU darum geht, die Region an Europa heranzuführen und zu stabilisieren. Europäischer Rat von Lissabon zur Balkanpolitik der EU Geberkonferenz im Rahmen des Stabilitätspaktes in Brüssel, Beginn von Quickstart-Projekten (2,4 Mrd. Euro vorgesehen) Positive SAP-Machbarkeitsstudie für Kroatien Aufhebung der Sanktionen gegenüber der BR Jugoslawien durch die EU-Außenminister beschlossen
376 26.10.2000
November 2000
20.11.2000
8.11.2000
12.12.2000 Anfang April 2001 9.04.2001 1.06.2001 13.08.2001 25.10.2001 29.10.2001
1.01.2002 4.03.2002
14.-16.10.2002
1.01.2003
21.02.2003 31.03.2003 21.05.2003
21.06.2003
10.07.2003
November 2003
Antje Helmerich Offizielle Aufnahme der Bundesrepublik Jugoslawien als Mitglied des Stabilitätspaktes Gipfel in Zagreb: „Charta für gute Nachbarschaft, Stabilität, Sicherheit und Zusammenarbeit in Südosteuropa“ verabschiedet Außerdem: Beginn des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses EU-Rat verabschiedet die Verordnung für das CARDSProgramm innerhalb der Westbalkanhilfe (Laufzeit bis 2006; 4.65 Mrd. Euro) Strategiepapier der EU-Kommission zur EU-Erweiterung verabschiedet: Wiederholung des Ratsbeschlusses von Feira (Juni 2000), demzufolge alle Länder der Westbalkan-Region als „potenzielle Kandidaten“ gelten Geber-Koordinierungskonferenz von EU-Kommission und Weltbank einberufen Chris Patten in Kroatien, bezeichnet Kroatien als „stabilisierender Faktor in der Region“ Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit Makedonien in Luxemburg unterzeichnet Interimsabkommen mit Makedonien bezüglich Handel unterzeichnet Ohrid-Abkommen für Makedonien unterzeichnet Regionalkonferenz für Südosteuropa in Bukarest Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit Kroatien unterzeichnet Erhard Busek wird neuer Koordinator des Stabilitätspaktes Belgrader Abkommen unterzeichnet: Gründung des Staatenbundes Serbien und Montenegro Europarat, Europäisches Parlament und OSZE kommen in Tirana zur 3. Konferenz über den Stabilitätspakt zusammen Beginn der „European Union Police Mission“ (EUPM) in Bosnien-Herzegowina Kroatien stellt Antrag auf Mitgliedschaft in der EU Beginn der EU-Militärmission „Concordia“ in Makedonien Kommission verabschiedet Mitteilung an Rat und Europäisches Parlament: Ergänzung der Beziehungen um Elemente des Erweiterungsprozesses vorgeschlagen → Einführung von Partnerschaften Gipfel von Thessaloniki: Westbalkanstaaten als „potenzielle EU-Kandidaten“ bezeichnet Romano Prodi überreicht der kroatischen Regierung in Zagreb den Fragebogen über die Bedingungen der EU-Kommission Kommission legt SAP-Machbarkeitsstudie über BosnienHerzegowina vor: diese enthält 16 prioritäre Bereiche, in denen innerhalb eines Jahres Fortschritte vorliegen müssen
Der westliche Balkan vor den Toren der Europäischen Union 4./5.12.2003 15.12.2003 1.04.2004 20.04.2004 22.04.2004 18.06.2004 6.10.2004 2.12.2004 16./17.12.2004
1.02.2005 14.02.2005
12.04.2005
3.10 2005
21.10.2005
9.11.2005
17.12.2005 25.01.2006 2.05.2006
21.05.2006
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Treffen im Rahmen des Stabilitätspaktes in Tirana Beginn der EU-Polizeimission „Proxima“ in Makedonien SAA mit Makedonien tritt in Kraft Positiver Avis der EU-Kommission für Kroatien verabschiedet Makedonien stellt Antrag auf Mitgliedschaft in der EU Kroatien erhält EU-Kandidatenstatus EU-Kommission legt Heranführungsstrategie für Kroatien vor Beginn der „EUFOR-Althea“-Mission in Bosnien-Herzegowina Tagung des Europäischen Rates zu den Ländern Bulgarien, Rumänien, Kroatien und der Türkei in Brüssel: Aufnahme der Beitrittsverhandlungen für 17. März 2005 festgelegt, sofern Kroatien vollständig mit dem ICTY kooperiert. SAA mit Kroatien tritt in Kraft Makedonien überreicht in Brüssel den ausgefüllten EUFragebogen Positive SAP-Machbarkeitsstudie der EU-Kommission für Serbien-Montenegro → wird am 25.04.2005 durch den Europäischen Rat gebilligt EU-Rat beschließt die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Kroatien und von Verhandlungen über ein SAA mit Serbien-Montenegro EU-Kommission empfiehlt den Verhandlungsbeginn über ein SAA mit Bosnien-Herzegowina Fortschrittsberichte für Bosnien und Herzegowina und SerbienMontenegro veröffentlicht EU-Kommission empfiehlt, Makedonien den Status eines Beitrittskandidaten zu verleihen Makedonien erhält Kandidatenstatus SAA-Gespräche mit Bosnien-Herzegowina offiziell eröffnet EU setzt Verhandlungen über ein SAA mit Serbien-Montenegro wegen mangelhafter Zusammenarbeit mit dem ICTY aus Referendum über die Unabhängigkeit Montenegros
Eigene Zusammenstellung u.a. nach Altmann 2005 a; Altmann 2005 b; Euractiv: Beziehungen zwischen der EU und den Westbalkan-Ländern; http://www.euractiv.com.
IV. Außen- und Europapolitik neuer Mitgliedstaaten
Polnische Europapolitik, polnische Nachbarschaftspolitik Dieter Bingen
Über die Grundfragen der Europa- und Nachbarschaftspolitik herrschte in den politischen Eliten der 3. Republik Polens seit 1990 ein breiter Konsens. Dieser reichte von den bis 1993 regierenden Parteien aus dem "Solidarność"-Lager bis zu den Vertretern der Nachfolgeparteien des alten Regimes (SLD/SdRP, PSL)1, die vom Herbst 1993 mit einer Unterbrechung von 1997-2001 das Land bis zum Herbst 2005 regierten. Wenn es einen Bereich der polnischen Politik gab, der nach 1989 durch den Begriff "Kontinuität" zutreffend charakterisiert werden kann, dann ist es die Außenpolitik der 3. Republik mit ihren europapolitischen und nachbarschaftspolitischen Feldern. Erst in der jüngsten Zeit kristallisiert sich heraus, dass sowohl bezüglich der Kontinuität als auch der Konsensualität der außenpolitischen Prioritäten zumindest graduelle Verschiebungen nicht ausgeschlossen sind bzw. schon eingetreten sind, die von national(istisch)-katholischen und Mitte-Rechts-Parteien angestoßen werden. 1
Neue außenpolitische Prioritäten nach 1990
Polen stellt die einzige politische Mittelmacht unter den Staaten Ostmitteleuropas dar. Es bildet die geographische Brücke zwischen den europäischen Großmächten Rußland und Deutschland, ist damit geostrategisch und historisch-politisch von allen Staaten Ostmittelund Südosteuropas am exponiertesten gelegen (Loew 2004). Polen war als strategisches Schlüsselland von dem sicherheitspolitischen Vakuum nach dem Ende des Kalten Krieges am meisten betroffen. Die neue Ausrichtung der polnischen Außenpolitik war schon unmittelbar nach der Wende von dem ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki und seinem Außenminister, dem Posener Völkerrechtler Krzysztof Skubiszewski, formuliert worden. In einer Erklärung vor dem Sejm im Mai 1992 legte Skubiszewski die neuen außenpolitischen Prioritäten der Republik Polen dar, darunter:
Festigung der europäischen Orientierung Polens durch seine stufenweise Einbeziehung in die EG, WEU und NATO; Entwicklung guter Beziehungen mit allen Nachbarn; Entwicklung der bilateralen Zusammenarbeit auf allen Gebieten mit den Ländern Westeuropas sowie den Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada.
In der europäischen Aufbruchphase zu Beginn der 90er Jahre konnte der historische Optimismus berechtigt erscheinen, dass die neuen außenpolitischen Ziele harmonisch und kom1
Allianz der Demokratischen Linken (Sojusz lewicy Demokratycznej/SLD); Sozialdemokratie der Republik Polen (Socjaldemokracja Rzeczypospolitej Polskiej/SdRP); Polnische Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe/PSL)
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Dieter Bingen
plementär erreichbar seien. Die allgemeine Anerkennung der demokratischen Werte durch alle außenpolitischen Akteure in Europa schien das zu bestätigen. Ein erster Riss entstand aber schon vor der Mitte der 90er Jahre, nachdem in Russland Außenminister Kosyrew die Regierung verlassen hatte und die Europapolitik Moskaus einer Korrektur unterworfen wurde, in der Ukraine die Demokratisierung unter den Präsidenten Krawtschuk und Kutschma ins Stocken geriet und in Belarus unter dem 1994 gewählten Präsidenten Lukaschenka rückgängig gemacht wurde. Der Weg in die EU gestaltete sich für Polen mühsamer und dauerte länger als erwartet, wobei die weitgehend acquis-bedingte Zähigkeit vermehrt als eine bewusste Verzögerungstaktik Frankreichs gewertet wurde und die Enttäuschung gegenüber dem Anwalt Deutschland wuchs, der der vermeintlichen französischen Blockade zu wenig entgegensetzte. Eine Veränderung außenpolitischer Prioritäten und verstärkter Unilateralismus in den USA mit Folgen für die Europäer kündigten sich schon vor dem Sieg der „Neocons“ in Washington und vor 9/11 an. Die Korrekturen jenseits des Atlantiks setzten auch die Warschauer Regierung unter Druck, Position zu beziehen: entweder europapolitsche Prioritätenbestätigung oder Prioritätenkorrektur angesichts sich ankündigender dauerhafter Veränderungen im transatlantischen Verhältnis stand auf der Tagesordnung außenpolitischer Entscheidungen in Warschau. Die europapolitischen und nachbarschaftspolitischen Positionen Polens wurden also schon lange vor dem 1. Mai 2004, dem Tag des EU-Beitritts, Prüfungen unterzogen. Das Beitrittsdatum ist in diesem Zusammenhang nur eine Art Durchlaufposten. Die Krise europäischer außenpolitischer Gemeinsamkeit entstand Anfang des Jahrhunderts in der Irakkise und in der europäischen Verfassungsdebatte. Die USA wurden zum Lackmustest europäischer Handlungsfähigkeit und forderten von Polen schmerzhafte Entscheidungen. Die Verfassungs- und Konventsdebatte beherrschte nach dem Nizza-Kompromiss im Jahr 2003 die europäische Agenda. Es kam zu einer Infragestellung bisheriger Selbstverständlichkeiten der polnischen Europapolitik, die zum einen durch Veränderungen in der innenpolitischen Landschaft in Polen, das Erstarken einer integrationsskeptischen Rechten ausgelöst wurden. Zum anderen wurde sie durch die veränderte Politik des Tandems Frankreich-Deutschland gegenüber den USA provoziert. In der europäischen Verfassungsdebatte war man in Deutschland und anderen Mitgliedsstaaten zunächst davon ausgegangen, dass viele der Kandidatenländer und insbesondere Polen eine europaskeptische, antiföderalistische Haltung einnehmen würden, weil es ihnen – nach dieser These – schwer fallen müsste, so kurz nach der Wiedererlangung der staatlichen Eigenständigkeit Souveränitätsrechte an supranationale Einrichtungen abzutreten. Tatsächlich gehörten die polnischen Delegierten aber nicht nur zu den aktivsten Teilnehmern im Konvent, sondern vertraten dabei auch integrationsfreundliche und z. T. stärker föderalistische Konzepte als viele Vertreter der Mitgliedsstaaten. Dies wurde kaum wahrgenommen, und wo es wahrgenommen wurde, wurde es durch die starre polnische Haltung auf dem Gipfel von Brüssel (13.12.2003) wieder verwischt. In dieser Schlussphase der EU-Reformdebatte wurde der Verfassungskonvent vom politischen Establishment in Warschau allein als Austragungsort eines Kampfes um nationale Interessen verstanden. Die polnische Regierung hatte nicht erkannt, dass es im Konvent weniger um die Durchsetzung nationaler Maximalinteressen als um das gegenseitige Überzeugen, Argumentieren und die Schaffung eines Verfassungskonsenses ging. Zeitweise isolierte sie sich in dieser Frage auf europäischer Bühne. Dieser Prozess wurde ungewollt noch verstärkt durch die Haltung der Bundesregierung, die unter Hinweis auf die eigene,
Polnische Europapolitik, polnische Nachbarschaftspolitik
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primär an europäischen Interessen orientierte Haltung auf eine Einbindung Polens (anders als auf dem Gipfel von Kopenhagen) durch geduldige und demonstrative Überzeugungsarbeit über informelle Kanäle verzichtete. Deutschland fiel seine proeuropäische Haltung leicht, berücksichtigte das Konventsergebnis doch zahlreiche wesentliche deutsche Vorstellungen, während es aus polnischer Sicht vor allem als Verzicht auf „historische Errungenschaften“ (die Aufwertung und Privilegierung Polens gemeinsam mit Spanien im Vertrag von Nizza) aufgefasst wurde. Eine Renationalisierung europäischer Strategien der Mitgliedsländer und das Verweilen in rein nationalstaatlichen Mustern bei Neumitgliedern musste aber über kurz oder lang die Handlungsfähigkeit einer EU von 25 oder mehr Staaten dramatisch einschränken. Die polnische Haltung zur Stimmengewichtung in der EU der 25 war Ausdruck einer in der polnischen politischen Elite weitgehend ungebrochenen Zentriertheit auf die Fiktion des souveränen Nationalstaats und seines Interesses – ein Konstrukt, in dem Kompromisse in der europäischen Staatenwelt weiterhin mit dem Odium des Gesichtsverlusts behaftet sind und somit keinen positiv besetzten Wert haben. In dieser Perspektive gibt es nur Sieg oder Niederlage, ist Politik zwischen Staaten in Europa ein Nullsummenspiel, der Gewinn des einen ist der Verlust des anderen. Sollte Polen sich in der Verfassungsdebatte als underdog, newcomer und kleines EULand in Abwehrposition definieren oder als potenzielle Mittelmacht in der erweiterten EU, die den Anschluss an die Großen Deutschland und Frankreich suchte (Neuauflage des Weimarer Dreiecks)? Wäre letzteres der Fall gewesen, hätte die polnische Position eher pro Konventsentwurf sein müssen. Wollte man sich als Petent und als Teil einer die Großen blockierenden Minderheit definieren, dann musste Warschau „für Nizza sterben“ wollen. Die innenpolitische Schwäche der SLD-Regierung unter Ministerpräsident Miller in der letzten Phase der Konventsdebatte 2003/2004 mutierte zu einer außenpolitischen Schwäche mit der Gefahr der Selbstmarginalisierung (Wilkiewicz 2004: 10). Es ist nicht zu verkennen, dass diese Wahrnehmung der europäischen Umwelt durch die Angst vor einer Renationalisierung der Außenpolitiken der alten EU-Staaten verstärkt wurde, nicht zuletzt vor einem Auftrumpfen Deutschlands. Die „alten“ Europäer vermittelten vor und während der Regierungskonferenz nicht den Eindruck, als ob sie den „Neuen“ eine positive Lektion über den Wert der Kompromisssuche im europäischen Geist des Verstehens und Verstehenwollens der Befürchtungen und Ängste von Schwächeren und Kleineren erteilen wollten. Die fatale Ungleichzeitigkeit außenpolitischer Kulturen und Erfahrungen in Europa, in dieser Hinsicht eine Art clash of civilizations, ist mit der Ausarbeitung eines Kompromisses über die Europäische Verfassung nicht verschwunden. Sie hat das Ergebnis der polnischen Parlamentswahlen im September 2005 und der Präsidentenwahlen im Oktober 2005 mitgeprägt. Die politischen und mentalen Codes der neuen Regierenden in Warschau verstärken noch die Erwartungen einer Ära neuer Irritationen. Darüber hinaus fehlt es insbesondere den beiden Schlüsselländern in der Mitte der EU und an der Grenze zwischen Alt- und Neu-EU, Deutschland und Polen, an einer Strategie für eine über den 1. Mai 2004 hinausgehende bilaterale politische Interessengemeinschaft in der Europäischen Union. Der Vorwurf zunehmender Unberechenbarkeit und Unzuverlässigkeit ging und geht dabei in beide Richtungen. Die Gefahr einer Renationalisierung und konfrontativen Europapolitik insbesondere im Verhältnis zu Deutschland ist nur mit Mühen aufzuhalten. Sie wäre Ausdruck einer in
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den letzten vier Jahren stärker werdenden Tendenz in der politischen Publizistik und in der Warschauer politischen Klasse, die von der unter Druck geratenenen und in Auflösung begriffenen postkommunistischen sogenannten Sozialdemokratie in der Regierung mühsam unterdrückt worden war. Premier Miller und seine Linksallianz hatten sich in der Verfassungsdebatte aus Verzeiflung selbst noch auf den populistischen Zug gesetzt. Als vorläufige Position führte die praktisch nur noch die Geschäfte ausübende Regierung Belka die schwierigen Finanzverhandlungen über den EU-Haushalt 2007-2013 nach den gescheiterten Verfassungsvertragsreferenden in Frankreich und in den Niederlanden mit Zähigkeit und erheblichem pragmatischem Geschick. Da ein Scheitern katastrophal auch für Polen gewesen wäre, zeigte sie sich kompromissbereit und akzeptierte den luxemburgischen Vorschlag, die Transferzahlungen auf den immer noch hohen Anteil von 3,9% des polnischen Bruttosozialprodukts zu beschränken. Wichtig waren der Regierung allerdings günstigere Bedingungen bei der Kofinanzierung von Projekten, eine um ein Jahr längere Frist zum Einsatz der Mittel und Sonderhilfen für die ärmsten Regionen (Picht: 2005: 19). Da forderte die als „europafreundlich“ geltende Oppositionspartei „Bürgerplattform“ (Platforma Obywatelska/PO) eine härtere Haltung: „Dies ist kein Kompromiss, sondern die Hinnahme der deutschen und französischen Position. Wir müssen zu diesen Versuchen, die EU zu unterhöhlen, Nein sagen“, forderte der EU-Experte der PO, Jacek Saryiusz-Wolski (Gazeta Wyborcza, 8.6.2005). Die neue polnische Regierung unter der Federführung der integrationsskeptischeren „Recht und Gerechtigkeit“ (Prawo i Sprawiedliwość/PiS) positionierte sich ohne das Korrektiv der nach gescheiterten Koalitionsverhandlungen weiterhin in der Opposition verbleibenden PO in den EUVerhandlungen kompromissloser. Die Infragestellung des kooperativen europapolitischen Kurses der letzten 15 Jahre, die Entfremdung von Deutschland, die Wiederbelebung eines Frankreich-skeptischen Bildes und die kritiklose Übernahme US-amerikanischer Positionen im transatlantischen sicherheitspolitischen Disput nähren sich aus mehreren Quellen und sind nicht allein Ausdruck neuer Phobien und alter Komplexe, sondern auch Resultante europapolitscher Positionsverschiebungen der Partner im Weimarer Dreieck, Frankreich und Deutschland, die sich in deren Haltung gegenüber der Bush-Administration, vor allem aber auch in der Haltung gegenüber Putins Russland, seiner repressiven Innenpolitik und seiner Außen- und Energiepolitik äußerte. 2
Die Macht der Geschichte
Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf aktuelle europapolitische Positionen in Polen hat der Faktor Geschichte. Die Gegenwart der Vergangenheit, historische Debatten in Polen und historische Debatten in Deutschland seit der Jahrtausendwende strahlen auf die Wahrnehmung der bilateralen Beziehungen und die Standortbestimmung Polens in Europa aus. Die so genannte Jedwabne-Debatte Anfang des Jahrtausends stellte erstmals in einer größeren polnischen Öffentlichkeit die Opferrolle Polens im Zweiten Weltkrieg, den polnischen Opfermythos in Frage. Lebhaft und zum Teil erbittert wurde in Wissenschaft und Medien über das Ausmaß der Mitschuld polnischer Christen und der erfolgreichen Instrumentalisierung des christlichen Antijudaismus und des Antisemitismus bei der Ermordung der Juden durch die Nazibesatzung diskutiert. Etwa zur gleichen Zeit entspann sich in Deutschland ein medialer und politischer Diskurs über den Ort von Flucht und Vertreibung im nationa-
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len Narrativ. Polen als Hilfswillige beim von den Deutschen angezettelten und durchgeführten Judenmord – Deutsche als Opfer polnischer Vertreibungspolitik, Restitutionsansprüche Vertriebener an den polnischen Staat (die Preußische Treuhand), die sich sozusagen auf eine Ebene mit der Jewish Claims Conference stellen. Ein traditionelles polnisches Eigen- und Fremdbild kam völlig durcheinander. In publizistischen und politischen Attacken mit einem von vielen auch langjährigen Beobachtern unerwarteten Instrumentalisierungspotenzial und mit bedenklichen Vereinfachungen (angeblicher deutscher Geschichtsrevisionismus) wurde eine dauerhafte polnische Irritation veranschaulicht, die auf das aktuelle Deutschlandbild abfärbte und die grundsätzlichen Intentionen deutscher Europapolitik und die Vertrauenswürdigkeit des jungen deutschen Verbündeten in Zweifel zog. Eine merkwürdige französisch-deutsch-russische Achse nicht nur im Irakkonflikt, sondern auch danach, vermeintlicher Antiamerkanismus bei den Partnern im „Weimarer Dreieck“ und demonstrative Zurschaustellung deutsch-russischer Interessenkonvergenz vor dem Hintergrund eines zunehmenden innenpolitischen Autoritarismus in Russland, unakzeptabler russischer Konfliktbeilegungsstrategien und Hegemonialansprüche im postsowjetischen Raum und die russische Weigerung, die Geschichtspolitik zu entstalinisieren (Stichwort: Molotow-Ribbentrop-Pakt, die Annexion der Baltischen Staaten u.a.) gaben der Frage: Wo sind unsere wirklichen Freunde? neue Nahrung. Das Verhältnis der Europäischen Union und der westlichen Verbündeten Polens zu Russland und den anderen östlichen Nachbarn (Ukraine, Belarus) ist für die polnische Außenpolitik nach 1990 zu einem Test für die Gültigkeit neuer Normen in der internationalen Politik in Europa geworden. Waren die alten Blockstrukturen und das alte Denken über Einflusssphären mit dem Ende der herkömmlichen Teilung Europas verschwunden? Diese Frage richtete sich sowohl an die Führer des neuen Russland als auch an die großen Staaten des westlichen Europa. Aktzeptierten sie, die Chirac, Schröder, Blair, Berlusconi den postsowjetischen Raum als russische Einflusszone? Nahmen sie das Selbstbestimmungsrecht der europäischen Nationen östlich von Polens Grenzen ernst? Ist es möglich, eine gemeinsame europäische Nachbarschaftspolitik mit Deutschen und Franzosen, mit der EU zu formulieren? 3
Polen, Deutschland und die Union
Seit dem 1. Mai 2004 stehen sich Deutschland und Polen als gleichberechtigte Partner in der erweiterten EU gegenüber. Damit hat eine neue Phase in den deutsch-polnischen Beziehungen begonnen. Spätestens damit wurde die Tatsache offenbar, dass beide Staaten sich in einer instabilen Übergangsphase befinden, in der sie ihre jeweilige Rolle als europäische und internationale Akteure neu definieren, ohne bisher ihr neues Selbstverständnis austariert zu haben. Dieser Prozess hat bereits zu starken Missverständnissen und Fehlinterpretationen geführt. Deutschland will als global player ernst genommen werden, Polen versucht, seine europäische Rolle stärker zu profilieren. In dieser Situation kommt man nicht an der gemeinsamen Verantwortung von Deutschen und Polen für die europäische Integration vorbei. Die Vorstellung, dass die stärksten – Frankreich und Deutschland – die Gestalt Europas allein definieren könnten, stößt in Polen auf Misstrauen und provoziert die Frage, wie die europäische Integration verstanden werden sollte. Sie verursacht in Polen unabhängig von ihrer Berechtigung eine Infragestellung der Loyalität des deutschen Partners. Aber ungeachtet der starken Irritationen und Infragestellungen der letzten Jahre kann man in Berlin und Warschau von einem Grundbestand gemeinsamer Interessen ausgehen,
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der einen Neuanfang nasch den Regierungswechseln in Berlin und Warschau im Herbst 2005 erleichtern sollte:
einem gemeinsamen Interesse an einer solidarischen EU, wobei Solidarität strategisch und nicht allein normativ oder finanziell verstanden werden soll. Gerade die Attentate von Istanbul und Madrid haben gezeigt, dass in der zukünftigen EU allen Mitgliedern an umfassenden Solidaritätsmechanismen gelegen sein muss; einem gemeinsamen Interesse an einer handlungsfähigen Union. Eine noch so starke Vertretung Polens in den entscheidenden EU-Gremien geht auf Dauer auch zu Lasten polnischer Interessen, wenn sie auf Kosten der Entscheidungsfähigkeit der gesamten EU geht. Die deutsche Seite muss aber intensiver lernen, dass ihre östlichen Nachbarn gleichrangige Partner sind und ihre Interessen früh in öffentlichen Debatten berücksichtigt werden müssen; einem gemeinsamen Interesse an einer schnellen und umfassenden Integration Polens in die Innen- und Justizpolitik der EU und der vollen Ausschöpfung der bilateralen Möglichkeiten der Zusammenarbeit in diesem Bereich (grenzüberschreitende Überwachung, Verfolgung, Nacheile, Datenaustausch). Dies kommt sowohl dem deutschen Sicherheitsinteresse als auch dem polnischen Interesse nach einer möglichst schnellen Schengen-Integration und der psychologisch gerade in der Beitrittsphase wichtigen Aufhebung der Personenkontrollen an der polnischen Westgrenze entgegen; einem gemeinsamen Interesse an einem Gelingen der ersten Beitrittsphase, das durch die administrativen Probleme Polens gefährdet wird. So besteht die Gefahr, dass Polen zu einem faktischen Nettozahler wird, weil es nicht in der Lage ist, die zur Verfügung gestellten Fördergelder abzurufen oder mitzufinanzieren, und damit die Legitimation der EU-Mitgliedschaft in der polnischen Bevölkerung unter starken Druck gerät; einem gemeinsamen Interesse an der maximalen Ausschöpfung der wirtschaftlichen Wachstumschancen, die sich aus der Osterweiterung der EU für die polnische und deutsche Wirtschaft, insbesondere für die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Klein- und Mittelbetriebe ergeben; einem gemeinsamen Interesse an der Koordinierung der effektiven Nutzung der Strukturgelder der Europäischen Union für die Verbesserung der grenzüberschreitenden Verkehrsinfrastruktur sowie der stärkeren Einbindung der so genannten LissabonZiele in die deutsch-polnischen Projekte, die aus EU-Mitteln finanziert werden; einem gemeinsamen Interesse an der Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich der Verwaltung, sowohl auf Regierungs- als auch auf der regionalen Ebene; einem gemeinsamen Interesse an der Definition gemeinsamer Ziele und Positionen im Bereich der europäischen Agrar- und Regionalpolitik; einem gemeinsamen Interesse an einer Gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Union. Zu diesem Zweck ist die Initiativrolle eines „Kerns“ unerlässlich, dem sich anzuschließen ausdrücklich jedem EU-Mitgliedsstaat freistehen muss. Ohne eine Gemeinsamkeit von Deutschland, Frankreich und Großbritannien in den Grundfragen einer GASVP lässt sich die Kohärenz der EU nicht verstärken. Polen sollte als größtes neues EU-Mitglied seinen Platz in dem „Kern“ sehen und in diesen „Kern“ aufgenommen werden. Damit würde der trilateralen Zusammenarbeit ParisBerlin-Warschau („Weimarer Dreieck“) eine Stabilisierung durch Ausweitung zuteil;
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einem gemeinsamen Interesse an einer stabilen Nachbarschaftspolitik der EU. Polen und Deutsche stellen die stärksten Befürworter einer nachhaltigen Einbindung der Ukraine, von Belarus, Moldawien und Russland dar (Arbeitspapier VIII, 2004).
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Polen und der Osten
Ausgangspunkt für die polnische Nachbarschaftspolitik ist die außenpolitische Souveränisierung seit 1989/90. Vor 1989 waren die Beziehungen der Volksrepublik zu ihren sozialistischen Bruderstaaten durch die Hegemonialrolle der Sowjetunion weitgehend vorbestimmt. Wenn man den bisherigen Verlauf, den Stand und die Perspektiven der Nachbarschaftspolitik Polens angemessen einzuschätzen sucht, darf man nicht die Ausgangsbedingungen für diese Politik außer Acht lassen. Sie stehen den Belastungen im deutschosteuropäischen Verhältnis nach dem Zweiten Weltkrieg kaum nach. Und noch ein Vergleich: Wie im Verhältnis zwischen Deutschen und den Völkern und Nationen Ostmittelund Osteuropas bildeten im Verhältnis Polens zu seinen östlichen Nachbarn die endgültige Bestätigung der Nachkriegsgrenzen und eine befriedigende Minderheitenregelung beiderseits der Grenzen notwendige Ausgangsbedingungen für die weitere Entwicklung der bilateralen Beziehungen (Gerhardt 2004). Seit dem Beginn der Einbindung Polens in die europäische Integrationsgemeinschaft sollte seine strategische Rolle für die gemeinsame Nachbarschaftspolitik der EU perspektivisch nicht unterschätzt werden. Das Land ist historisch und kulturell mit seinen östlichen Nachbarn verbunden. Die längste Zeit der neuzeitlichen Geschichte gehörten Belarus und weite Teile der Ukraine zur Rzeczpospolita. Aufgrund dieser historischen, kulturellen und politischen Ausgangsbedingungen geht es nach den konzeptionellen Vorstellungen der Warschauer ostpolitischen Think Tanks weniger um eine individuelle „Ostpolitik“ Polens als vielmehr um eine koordinierte europäische Ostpolitik, zu der Polen einen eigenen wichtigen Beitrag leisten kann. Tatsächlich bringt Polen mehr Expertise und Sensibilität für die Entwicklung östlich seiner Grenzen mit in die Gemeinschaft als die meisten alten und neuen EU-Mitgliedsstaaten. Polen kann seinen östlichen Nachbarn besser als andere neue EU-Staaten die Prämissen einer Osterweiterung vermitteln und selbst als gelingendes Beispiel europäischer Integration gelten. Nach dem Ende der Sowjetunion bedeutete Ostpolitik das Bemühen um gute Nachbarschaft mit Russland, an das Polen mit der Oblast Kaliningrad direkt angrenzt, und demonstrative Unterstützung der direkt benachbarten, nunmehr unabhängigen Staaten Litauen, Belarus und der Ukraine. Im einzelnen lässt sich die außenpolitische Prioritätensetzung im Osten nicht nur mehr an den ersten Grundsatzerklärungen der Regierungen des freien Polen 1990-92 ablesen, sondern auch an der konkreten Entwicklung der letzten 15 Jahre mit deutlicher werdenden potenziellen Konfliktlinien. Zur neuen polnischen Ostpolitik gab Außenminister Skubiszewski im September 1990 im Senat eine Grundsatzerklärung ab, die eine angesichts des rasanten Ablaufs der Ereignisse nur kurze Zeit gültige Politik der Zweigleisigkeit (polityka dwutorowa) begründete, also zum einen die Pflege der Beziehungen zu der auseinander fallenden Sowjetunion, zum anderen zu den sich emanzipierenden Republiken einschließlich Russland, je nach dem Grad ihrer faktischen Unabhängigkeit. Nach dem Ende der Sowjetunion (AugustDezember 1991) bedeutete Nachbarschaftspolitik bei Bestätigung des Grundprinzips guter Nachbarschaft mit Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion demonstratives Bemühen um die Stützung der direkt benachbarten, nunmehr unabhängigen Staaten. Bis heute
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vollzieht die polnische Nachbarschaftspolitik einen Drahtseilakt, wobei die oberste Priorität der Politik gegenüber Moskau einerseits und Minsk und Kiew andererseits die Absicherung der eigenen Westintegrationspolitik ist, die von allen demokratischen politischen Kräften in Polen als neue Staatsräson der Dritten Republik (seit 1990) galt. Dabei kristalliert sich nach den Erfahrungen seit 1990 folgende Prioritätensetzung heraus:
Verhinderung der Durchsetzung neoimperialer Tendenzen jenseits der polnischen Ostgrenze mittels Unterstützung souveräner und westorientierter Staaten in der Region; Interesse an Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Menschen- und Minderheitenrechten und politische und wirtschaftliche Stabilität der östlichen Nachbarn; dauerhafte Unterstützung der demokratischen Transformation und strategischen Westorientierung der Ukraine als Lakmustest westeuropäischer Ost- und Russlandpolitik und als Gegengewicht gegen russische Dominanzpolitik im postsowjetischen Raum; Vermeidung neuer Trennlinien an der EU-Außengrenze durch grenzpolizeiliche Sicherung der Außengrenze einerseits und Liberalisierung des Grenzregimes andererseits sowie durch Verminderung des Wohlstandsgefälles; Erschließung des Potenzials der östlichen Märkte; Verminderung der übermäßigen Abhängigkeit im Energiebereich von Russland durch Diversifizierung des Erdöl- und Erdgasbezugs und auf Interdependenz abzielende Pipelinepolitik. (Lang 2005: 1-2)
4.1 Russland Zur Absicherung ihrer Westpolitik bemühte sich die polnische Regierung zu Beginn der 90er Jahre um die Stabilisierung einer neuen politischen Partnerschaft und Intensivierung der wirtschaftlichen Beziehungen mit Russland. Am 22. Mai 1992 schloss Polen mit Russland einen Vertrag über freundschaftliche und gutnachbarschaftliche Zusammenarbeit. Mit der Ende Oktober 1992 erfolgten Rückführung aller Kampftruppen der ehemals 60.000 Mann umfassenden Nordgruppe sowie dem Abzug des restlichen Militärpersonals am 17. September 1993 – das war zugleich der 54. Jahrestag des sowjetischen Einmarschs in Ostpolen – ging die beinahe fünfzigjährige Präsenz der Roten Armee in Polen zu Ende. In den Beziehungen zu Russland spielt das Königsberger Gebiet (Kaliningradskaya oblast’) eine besondere Rolle, da es die einzige direkte Nachbarschaft mit Russland und nach dem EU-Beitritt Polens (und Litauens) eine russländische Exklave im EU-Gebiet begründet. Das Sicherheitsinteresse Polens und der EU muss hier mit dem kollidierenden polnischen Interesse an einer weitgehenden wirtschaftlichen Offenheit der Grenze und dem russischen Interesse an einer für Polen und die EU unakzeptablen Sonderregelung für Kaliningrad harmonisiert werden. Die polnische Regierung bemühte sich in den 90er Jahren darum, die russische Führung von ihrem Widerstand gegen den NATO-Beitritt Polens abzubringen, indem sie darauf hinwies, dass die NATO ein Baustein der neuen, Russland einbeziehenden, europäischen Sicherheitsarchitektur sei. Tatsächlich war die atmosphärische Trübung des Verhältnisses zwischen Polen und Russland wegen der am 11. März 1999 erfolgten NATO-Aufnahme Polens von kurzer Dauer. Nach dem Regierungsantritt von Präsident Wladimir Putin kam es zu einer klimatischen Entspannung und deutlichen Intensivierung politischer Kontakte
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auf höchster Ebene (Putin-Besuch in Warschau Januar 2002), die inzwischen von Störungen im polnisch-russischen Verhältnis auf mehreren Ebenen abgelöst wurde. Da sind die unterschiedliche Bewertung der Geschichte, Polens Einsatz in und für die Ukraine, energiepolitische Fragen sowie Polens Kritik an der russischen Tschetschenienpolitik. Die polnisch-russischen Differenzen bei der Einschätzung wichtiger Ereignisse der jüngeren Geschichte zeigen sich bei den Moskauer Fragen nach dem Schicksal Zehntausender toter russischer Kriegsgefangener im Jahr 1920, bei der ambivalenten Haltung Russlands zum Ribbentrop-Molotov-Pakt, dem Zögern Moskaus, eine uneingeschränkte Aufklärung der Massenerschießungen in Katyn und deren strafrechtliche Verfolgung zu ermöglichen, bei der demonstrativen Idealisierung der in Jalta fixierten Nachkriegsordnung in Europa, die anlässlich der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Beendigung des 2. Weltkriegs in Moskau mit einem Affront gegenüber dem polnischen Staatspräsidenten Aleksander Kwaśniewski verbunden wurde, bis zu der Einführung eines neuen Nationalfeiertags am 4. November durch Präsident Putin in Erinnerung an die Befreiung Moskaus von der polnischen Besetzung im Jahre 1612, der im Jahr 2005 erstmals begangen wurde und den nicht mehr begangenen Revolutionsfeiertag am 7. November ablöst. Polens Engagement in der Ukraine ist die zweite große Quelle für Konflikte mit Russland. Die Unterstützung der „orangenen Revolution“ durch zahlreiche polnische NGO und die erfolgreiche Vermittlung von Präsident Kwaśniewski gemeinsam mit dem litauischen Präsidenten Adamkus und dem Hohen EU-Vertreter Javier Solana in Kiew zugunsten der demokratischen Kräfte um Wiktor Juschtschenko im Winter 2004 hat in Moskau zu starker Verstimmung geführt (Krzemiński 2005: 260) und zu der korrekten Rezeption des polnischen Interesses an einer innen und außen souveränen Ukraine, die die freie Wahl ihrer Bündnisse in Europa haben sollte – in der Erwartung, dass die demokratischen, zivilgesellschaftlichen Kräfte die Integration in die nordatlantischen (NATO) und europäischen Strukturen (EU) anstreben. Die energiewirtschaftliche Abhängigkeit von Russland ruft in Polen Nervosität hervor. Kurzfristige Engpässe wie im Februar 2004, als Gasprom die belarussische Beltransgas durch einen Lieferungsstopp in die Knie zwingen wollte, verstärkten nur das Interesse am Bau einer sogenannten Amber (Bernstein)-Leitung gemeinsam mit Lettland und Litauen, die Belarus umgehen und über die beiden baltischen Staaten, Kaliningrad und Polen nach Westen verlaufen würde. Daraus erklärt sich der politische Unmut gegenüber dem von Präsident Putin und Bundeskanzler Schröder durch ihre Beteiligung an der Unterzeichnungszeremonie symbolisch überhöhten Projekt der Ostseepipeline, die an den baltischen Staaten und Polen vorbeiführt. Die polnische Kritik am Zustand der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Russland sorgt zusätzlich zu Friktionen im bilateralen Verhältnis. Regelmäßige Wortgefechte löst insbesondere Polens Haltung zum Tschetschenienkonflikt aus. Die Tötung des Tschetschenenführers Maschadov im März 2005 nannte ein Sprecher des ponischen Außenministeriums ein „Verbrechen“ und eine „politische Dummheit“, was grimmige Kommentare in Moskau hervorrief (Lang 2005: 4). 4.2 Belarus Seit der Unabhängigkeit von Belarus und der Ukraine lag den wechselnden polnischen Regierungen an der Stabilisierung des Unabhängigkeitskurses der beiden östlichen Nach-
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barn und der Durchführung demokratischer und marktwirtschaftlicher Reformen. Im Fall von Belarus sind die Bemühungen um die Entwicklung intensiverer Beziehungen wegen des Fehlens der notwendigen Träger der Unabhängigkeit und eines demokratischen Transformationsprozesses seit der Machtübernahme von Präsident Alexandr Lukaschenka 1994 weitgehend fehlgeschlagen. Die polnische Außenpolitik verfolgte angesichts des autoritären spätsowjetischen Kurses des Lukaschenka-Regimes bisher offiziell einen zweigleisigen Kurs: Einfrierung der politischen Beziehungen auf höchstem Niveau im Einklang mit der Haltung der EU, zugleich aber Pflege von eingeschränkten Kontakten zu offiziellen Stellen auf Arbeitsebene (Infrastruktur, Zoll, Grenzschutz) und vorsichtige Unterstützung der Zivilgesellschaft auf NGO-Ebene. Nicht zuletzt wegen der polnischen Minderheit in Belarus vermeidet Warschau einen totalen Boykott des Regimes. 4.3 Ukraine Mehr Erfolg ist der polnischen Politik der Einbindung der Ukraine in die mitteleuropäischen Regionalbeziehungen beschieden. Die neue demokratische Elite in Polen machte demonstrativ deutlich, dass sie in den konfliktreichen Beziehungen zur Ukraine ein neues Kapitel aufzuschlagen gedachte. Polen vollzog als erster Staat die Anerkennung der Ukraine nach deren Unabhängigkeitserklärung. Ein Nachbarschaftsvertrag (1992) wurde zum wichtigsten Grundlagendokument für die weitere Ausgestaltung der bilateralen Beziehungen. Der polnisch-ukrainischen Partnerschaft, von beiden Seiten bisweilen als „strategische Partnerschaft“ deklariert, wird eine vergleichbare historische Bedeutung wie der polnischdeutschen Partnerschaft zugemessen. Aus diesem Grunde lag Polen auch besonders daran, dass die NATO im Juli 1997 ein Grundlagendokument mit der Ukraine unterzeichnete. Vor allem möchte Polen verhindern, dass nach seinem Beitritt zur EU die Annäherung der Ukraine an das integrierte Europa abgebrochen und Polen zur östlichen „Schengen-Festung“ wird. Die unvollständige demokratische und marktwirtschaftliche Transformation der Ukraine brachte die polnischen Akteure freilich in Argumentations- und Handlungsnöte, da sie einerseits viele Sympathien mit der ukrainischen Demokratiebewegung hegten, andererseits realpolitisch darauf angewiesen waren, in Kooperation mit den existierenden Machtstrukturen in der Ukraine zur internen und internationalen Stabilisierung des Landes beizutragen. Im Herbst des Jahres 2004 war der polnischen Nachbarschaftspolitik ein triumphaler Erfolg beschieden war. Der Warschauer Publizist Adam Krzemiński kam zu dem Resümee: „Dass ein Pole und ein Litauer eine entscheidende Rolle bei dieser Vermittlung spielten, hatte mehr als nur symbolische Bedeutung, es war eine Wiederkehr der Geschichte. ... Polen, seit der Irakkrise und dem Streit um die EU-Verfassung in ‚Kerneuropa‘ oft zum ‚trojanischen Pferd‘ der Amerikaner und zum europäischen Buhmann stilisiert, hat an Statur gewonnen. Le Monde stellte fest, Polen sei aus der ukrainischen Krise in der EU gestärkt hervorgegangen, weil es sowohl einen Zornesausbruch in Moskau als auch Irritationen in Brüssel riskiert habe“ (Krzemiński 2005: 261) Nach der „orangenen Revolution“ scheint auch eine Debatte zwischen Vertretern einer eher etatistisch-minimalistischen und einer romantisch-visionären Auffassung von der polnischen Ostpolitik entschieden worden zu sein. Diese Diskussion hatte sich entspannen
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können, nachdem Polen aufgrund des Zusammenbruchs der Sowjetunion und des äußeren Imperiums daran gehen konnte, neue Prinzipien für die Ordnung seiner Beziehungen zum Osten umzusetzen, die bereits Jahrzehnte zuvor in intellektuellen Kreisen der Emigration, namentlich im Kreis um die von Jerzy Giedroyć in Paris herausgegebene „Kultura“, entwickelt worden waren. 5
Die historische Begründung der neuen Nachbarschaftspolitik: Der Einfluss der Pariser „Kultura“ auf die polnische Ostpolitik
Ungeachtet der „Mühen der Ebene“ nach der Aufbruchstimmung zu Beginn der 90er Jahre und einiger auch schwerwiegender Rückschläge in den Jahren nach 1990 kann man im großen und ganzen von einem Erfolg der Konzeption polnischer „Ostpolitik“ sprechen, die seit den 50er Jahren Jerzy Giedroyć, jahrzehntelang der Herausgeber der legendären Pariser Zeitschrift „Kultura“ vertreten hat und die entgegen der Tradition der antiukrainischen und prorussischen Konzeption der polnischen Nationaldemokraten (Endecja) die Bedeutung der Souveränität der Ukraine, aber auch Belarus‘ und Litauens für die innere und äußere Souveränität Polens zwischen Russland und Deutschland herausgestrichen hatte, ohne einen antirussischen Akzent zu haben (Chwalba 2005). Nachdem die Unabhängigkeit der Ukraine, von Belarus und Litauen erreicht worden war und Polen seinen Beitrag zur Stabilisierung des Unabhängigkeitskurses der östlichen Nachbarn geleistet hatte, sein eigenes Schicksal erfolgreich von den Unwägbarkeiten der ukrainischen Entwicklung abgekoppelt hatte, also mit dem 1999 erfolgten NATO-Beitritt die These von Anfang der 90er Jahre verworfen hatte, dass eine unabhängige Ukraine Voraussetzung für die Stabilität Polens sei, und zugleich feststellen musste, dass sich die politisch-kulturelle und zivilisatorische Entwicklung der östlichen Nachbarn von der Polens doch stärker unterschied als viele dies am Anfang der 90er Jahre vorausgesehen hatten, kamen Mitte der 90er Jahre in der politischen Diskussion über die polnische Ostpolitik verstärkt unterschiedliche Prioritätensetzungen zum Vorschein. Es handelte sich dabei um eine Debatte zwischen Vertretern einer eher etatistischminimalistischen und einer romantisch-visionären Auffassung von der polnischen Ostpolitik. Erstere Kreise verbanden „Ostpolitik“ vor allem mit Überlegungen über nationale Interessen, Ziele und Mittel der klassischen Außenpolitik. Letztere sahen dagegen in der Ostpolitik vor allem die gesellschaftliche Dimension und mit Blick auf die noch unterentwickelten Demokratievorstellungen und Strukturen einer zivilen Gesellschaft im Osten Europas eine „Bürgerdiplomatie“, also die Kontakte zwischen NGOs, Medien, Wissenschaft und Kultur, die für die „Minimalisten“ allenfalls eine zusätzliche Komponente der Außenpolitik sein konnte. Andererseits räumten auch die Vertreter einer romantisch-visionären Konzeption polnischer Ostpolitik ein, dass der Schlüssel zur Modernisierung im umfassenden Sinne zunächst einmal bei Belarussen und Ukrainern selbst liege. Freilich könne Polen Entwicklungen fördern und Hilfe zur Selbsthilfe leisten: beispielsweise Stipendien für Belarussische und ukrainische Studenten, offene Grenzen und grenzüberschreitenden Handel, Kulturaustausch. Und wenn auch ein überwiegender Teil der ukrainischen und belarussischen Gesellschaft Polen nicht als alternatives historisches und zivilisatorisch-politisches Zentrum wahrnahm oder akzeptierte, so stand doch die Zusammenarbeit mit alternativen Eliten in
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Belarus und in der Ukraine gegen einen politisch-kulturellen Fatalismus, der das Huntington’sche Verdikt (clash of civilizations) über die östlichen Nachbarn Polens verhängte. Dagegen betonten die Vertreter des Minimalismus vorrangig die politischen Interessen Polens aufgrund seiner geographischen Lage, und das waren seinerzeit die zweite Runde der NATO-Osterweiterung, die EU-Osterweiterung und die Kaliningrad-Frage. Aus dieser Perspektive waren die Beziehungen Polens mit Russland und Litauen von Schlüsselbedeutung, und nicht die Versuche, von Polen aus eine Bürgergesellschaft in der Ukraine oder in Belarus aufzubauen. Glücklicherweise gab es aber auch die Erfahrungen mit „Zweigleisigkeit“ und Rollenverteilung, so dass eine staatstragende Politik zivilgesellschaftliches Engagement überhaupt nicht ausschließen musste, wie die Beispiele Ukraine vor der „orangenen Revolution“ und Belarus bis heute zeigen. Aufgrund der geographischen, historischen und kulturellen Nähe und Verbindungen stellen sich für die polnische Ostpolitik die Fragen zivilgesellschaftlichen Engagements naturgemäß stärker als in Deutschland. Bei alledem ist es sicher nicht falsch, darauf hinzuweisen, dass es gerade „Träumer“ im Osten (Vaclav Havel, Adam Michnik, György Konrad u.v.a) und im Westen (Jerzy Giedroyć) waren, die auf jeden Fall auch recht hatten und bekamen, und nicht nur die Realpolitiker der klassischen Ostpolitik der 70er Jahre. Unabhängig von minimalistischen oder visionären Politikansätzen wird die polnische Ostpolitik zunehmend durch die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der Europäischen Union mitbestimmt. Die polnische Außenpolitik bringt unmissverständlich zum Ausdruck, dass sie ihre Ost- und Nachbarschaftspolitik als Teil einer europäischen Nachbarschaftspolitik verstanden wissen will und in europäischem Auftrag aktiv ist. Dies wurde bei der Vermittlungaktion in der Ukraine im November 2004 zur Grundlage des Erfolgs der Mission, und umgekehrt bemüht sich Warschau, seine ostpolitischen Prioritäten in die EU-Ostpolitik einfließen zu lassen. Das polnische Außenministerium hat zahlreiche Anregungen zur Konkretisierung der Europäischen Nachbarschaftspolitik geliefert (z.B. non-paper 2003) und im Hinblick auf die jüngsten Entwicklungen in Belarus seinen Einfluss geltend gemacht, um eine entschiedene Haltung der EU gegenüber dem LukaschenkaRegime im November 2005 zu formulieren. Der Ostmitteleuropaexperte Kai-Olaf Lang formulierte es so: „Über den ‚Osten‘ hat Polen die GASP für sich entdeckt. Polnische Vorschläge für die Kommission, im Rat und nicht zuletzt die Aktivitäten der polnischen Abgeordneten im Straßburger Parlament haben der Europäischen Nachbarschaftspolitik ihren Stempel aufgedrückt – und Polen hat einen Beweis, dass es auf die Formulierung der EUAußenpolitik einwirken kann.“ (Lang 2005: 5) Was die Beziehungen zu Russland anbetrifft, stellt sich die Situation schwieriger dar. Eine gemeinsame EU-Russlandpolitik steht noch ganz am Anfang. Die Beziehungen der EU-Staaten zu Russland sind noch stark von den bilateralen Interessen beeinflusst, die die größeren EU-Staaten mit Russland verbinden. Besonders die intensiven Zweierbeziehungen von Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Italien u.a. werden von Warschau misstrauisch beäugt. Dort ist der Argwohn groß, dass Russland daran liegt, Polen in der EU als russophob und als Störenfried geregelter EU-russischer Beziehungen hinzustellen. Offenbar ist dies Moskau im Zusammenhang mit dem deutsch-russischen Erdgasröhrengeschäft auch gelungen. Damit soll den alten EU-Mitgliedstaaten bedeutet werden, dass man Polen bei der Ausgestaltung der Beziehungen mit Russland eher außen vor lassen sollte. Angesichts des Misstrauens gegenüber der Russlandpolitik der großen EU-Staaten ist Polen daran ge-
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legen, dass bei der Gestaltung der Kooperationsbeziehungen mit Russland die transatlantische Komponente ihren Einfluss gewinnt bzw. erhält. Den USA wird von Polen ein realistischerer Umgang mit Russland attestiert als den neuen Verbündeten Deutschland und Frankreich. 6
Ostpolitische Divergenzen und Gemeinsamkeiten am Beispiel deutscher und polnischer Ukraine-Politik
Gerade unter diesem Gesichtpunkt der potenziellen Gefahr von strategischen Interessendivergenzen zwischen Deutschland und Polen in der EU-Ostpolitik, insbesondere hinsichtlich der Russlandpolitik, scheint es den politischen Entscheidungsträgern geboten zu sein, vorzubeugen und die „Ostpolitik” Berlins und Warschaus auf die Gemeinsamkeiten hin zu überprüfen. Ausgangspunkt weitergehender Überlegungen muss die Beschreibung der jeweiligen Perzeption des Osteuropabildes des Nachbarn bei „den Deutschen” und „den Polen” sein: Es scheint eine Tatsache zu sein, dass in Deutschland die in Polen vorhandene historische und wissenschaftliche Kompetenz hinsichtlich der östlichen Nachbarn generell unterschätzt wird, ebenso der mögliche Beitrag Polens zu einer aktiven Ostpolitik der EU. Umgekehrt ist in Polen die Meinung weit verbreitet, Deutschland sei zu stark auf Russland fixiert und diese Konzentration auf Moskau korrespondiere mit einem mangelhaften Verständnis der historisch-kulturellen Prozesse, Interessen und Intentionen der Akteure in Russland, in der Ukraine und in Belarus. Voraussetzung für die Erarbeitung einer gemeinsamen Politik gegenüber und mit den osteuropäischen Nachbarn der erweiterten Europäischen Union ist jedoch eine Verständigung zwischen Polen und Deutschen (und Westeuropäern) über die inneren Transformationsprozesse, die sich im letzten Jahrzehnt in Russland, in der Ukraine und in Belarus vollzogen haben, und über die außen- und europapolitischen Vorstellungen, die von den Eliten und Machtzentren der östlichen Nachbarn entwickelt wurden. Die Diagnose des Diskurses deutscher und polnischer Osteuropaexperten lässt sich soweit zusammenfassen, dass bei der Beschreibung und Beurteilung der Situation in den osteuropäischen Nachbarstaaten keine ernst zu nehmenden Differenzen feststellbar sind unterschiedliche Akzentsetzungen und einen anderen Sprachduktus unbenommen. Der Gewinn eines verstetigten wissenschaftlichen Diskurses liegt nicht zuletzt darin, dass sich die auch bei den Wissenschaftlern vorhandenen Stereotype und Vorurteile über Wahrnehmung und Fremdwahrnehmung durchaus abbauen lassen. Deshalb sollte man es vielleicht schon als einen großen Fortschritt preisen, dass sich die Planungsstäbe des Auswärtigen Amtes und des polnischen Außenministeriums die Aufgabe stellten, die Rolle der EU mit 25 und mehr Mitgliedern im 21. Jahrhundert zu diskutieren und ein gesondertes Kapitel den „Neuen Nachbarschaften, neuen Partnerschaften einer nach Osten erweiterten EU“ zu widmen, dem sie den Untertitel „Konzeptioneller Rahmen für eine östliche Dimension“ (Auswärtiges Amt, Departament Strategii 2003) gaben. Die dort auf zwei Seiten zusammengefassten Vorschläge für eine praktische Umsetzung übergeordneter Ziele von individuell unter einem kohärenten Schirm zu entwickelnden Beziehungen zu den östlichen Nachbarn der erweiterten Union können die adressierten Staaten Russland, Ukraine, Belarus kaum zufrieden stellen. Aber ein deutsch-polnischer Anfang wurde gemacht.
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Der neue ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko hat sein strategisches Ziel klar formuliert: Er plant die Beantragung der EU-Mitgliedschaft und erhofft sich den baldigen Beginn von Beitrittsverhandlungen. Deutschland und Polen haben sich bereits in der Vergangenheit darum bemüht, zur Demokratisierung und Stabilisierung in der Ukraine beizutragen. Aber nicht erst in der Folge der ukrainischen Revolution zeigte sich, dass die Motive einer EU-Ostpolitik in Deutschland und Polen erheblich divergieren. Aus polnischer Perspektive spielen nach wie vor geopolitisch-strategische Überlegungen eine beachtliche Rolle (die amerikanische Position): Die Existenz einer unabhängigen und westorientierten Ukraine wird als Gewähr gegenüber neoimperialen Tendenzen jenseits der polnischen Ostgrenze betrachtet. Zum anderen will Polen vermeiden, auf unabsehbare Zeit das östliche Grenzland der EU zu bleiben. Polen möchte die europäische Zone der Stabilität und des Wohlstands weiter nach Osten verschieben. Um diesen Zielen näherzukommen, fordert Warschau eine eindeutige EU-Mitgliedschaftsperspektive für die Ukraine. In der Gesamtheit der EU einschließlich der meisten Neumitglieder von 2004 spielt die Ukraine keine vergleichbare Rolle. Es gab lange Zeit keinen außenpolitischen Diskurs über die Ukraine und ihre Stellung in Europa. Aus deutscher Sicht waren Überlegungen eines ukrainischen EU-Beitritts daher lange ein Tabu. Während Polen traditionell einen „Ukraine first“-Kurs fährt, ist die deutsche Außenpolitik stärker Russland-lastig. Zudem macht sich in der deutschen Europapolitik eine zunehmende Erweiterungsmüdigkeit breit. Eingedenk der jüngst erfolgten Aufnahme Rumäniens und Bulgariens, der Beitrittsversprechen an weitere südosteuropäische Staaten sowie des kontroversen Türkei-Themas will man der EU zumindest eine „Verschnaufpause“ gönnen, bevor neue Beitrittsoptionen ausgesprochen werden. Verstärkt wird diese Zurückhaltung durch das ungewisse Schicksal des Verfassungsvertrags für Europa. Folglich wird auch die sog. Europäische Nachbarschaftspolitik, also die Konzeption, mit der die EU die Beziehungen zu ihren Partnern im unmittelbaren Umfeld gestalten will, in Deutschland und Polen unterschiedlich verstanden: Für Polen soll die Nachbarschaftspolitik (zumindest die Ukraine) auf eine spätere Mitgliedschaft vorbereiten. Für Deutschland stellt sie eine Alternative zur EU-Mitgliedschaft dar (Arbeitspapier X: 2005). Trotz solcher Differenzen besitzen Deutschland und Polen auch gemeinsame Interessen gegenüber der Ukraine. Beide Länder sind daran interessiert, in der Ukraine ein demokratisches und stabiles Nachbarland der EU zu haben. Eine sich erfolgreich reformierende und westlichen Werten verpflichtete Ukraine könnte als Vorbild der Transformation und Demokratisierung für andere Länder Osteuropas bzw. der GUS wirken. Diese Bestandsaufnahme vor Augen, entwickelte die „Kopernikus-Gruppe“, ein Vordenkerkreis anerkannter deutscher und polnischer Experten, im Frühjahr 2005 folgende gemeinsame strategische Handlungsperspektiven: 1.
2. 3.
Kurzfristig muss eine gemeinsame Priorität darin bestehen, die weitere Demokratisierung der Ukraine zu unterstützen, wobei sich der Blick zunächst auf eine erfolgreiche Durchführung der ukrainischen Parlamentswahl 2006 richtete. Deutschland und Polen sollten ihre Anstrengungen darauf richten, dass der zwischen der EU und der Ukraine ausgehandelte Aktionsplan zügig in die Tat umgesetzt wird. Sinnvoll ist der gemeinsame Einsatz für die Perspektive eines Assoziierungsvertrages nach Auslaufen des derzeitigen Partnerschafts- und Kooperationsabkommens 2008.
Polnische Europapolitik, polnische Nachbarschaftspolitik
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Über Formen und Inhalte eines solchen Abkommens muss frühzeitig nachgedacht werden. 4. Die Frage, ob der Ukraine eine Mitgliedschaftsperspektive eingeräumt werden soll, kann gegenwärtig nicht abschließend geklärt werden. Zwar ist ein klares Ja in der EU momentan nicht konsensfähig, gleichzeitig sollte aber vermieden werden, der Ukraine ein definitives Nein zu signalisieren, da dies die Reformkräfte in Kiew schwächen würde. Über die Beitrittsperspektiven der Ukraine kann erst dann ernsthaft diskutiert werden, wenn die EU hierfür „reif“ ist und wenn die Ukraine ihren Reformverpflichtungen nachkommt. 5. Deutschland und Polen sollten innerhalb der EU, andere Mitgliedsländer für die „östliche Dimension“ der EU sensibilisieren und für eine enge Heranführung der Ukraine an die EU mobilisieren. 6. Grundsätzlich sollte die europäische Ukrainepolitik aus deutsch-polnischer Perspektive nicht in Abhängigkeit einer EU-Russlandpolitik verhandelt werden. Gleichzeitig sollte die Einbeziehung Russlands in die Europäische Nachbarschaftspolitik im Sinne der Herausbildung einer regionalen Agenda an der östlichen Peripherie verfolgt werden. 7. Deutschland und Polen sollten sich um eine möglichst enge Heranführung der Ukraine an die NATO bemühen. Ein Schritt wäre eine Intensivierung der Bemühungen zur weiteren Umsetzung des NATO-Ukraine-Aktionsplans. 8. Neben dem Engagement der EU im Rahmen der Nachbarschaftspolitik werden auch bilaterale Hilfestellungen zur Stützung des Transformationsprozesses der Ukraine zukünftig Bedeutung haben. Daher wäre eine Bündelung deutscher und polnischer Initiativen sinnvoll. 9. Neben Hilfen für Demokratisierung und Zivilgesellschaft sollten sich deutsche und polnische Aktivitäten insbesondere auf den Bereich der Wirtschaftsreform und die Innere Sicherheit konzentrieren. Der Marktwirtschaftsstatus und ein baldiger Beitritt zur WTO wären sowohl wichtige Voraussetzungen als auch erste Erfolge der Ukraine auf ihrem Weg nach Europa. 10. Deutschland und Polen sollten sich darüber Gedanken machen, wie die Zusammenarbeit mit der Ukraine auf dem Gebiet Inneres und Justiz vertieft werden kann. Langfristig wird es darum gehen, eine Balance zwischen den legitimen Sicherheitsinteressen der EU-Mitgliedstaaten, den Erfordernissen des Schengen-Acquis und dem Gebot der freundlichen Durchlässigkeit der EU-Außengrenzen zu finden Polen wird sich um eine sensible und möglichst bilateral oder multilateral abgestimmte Position bei der Erfüllung einer Anwaltsfunktion für seine östlichen Nachbarn bemühen müssen, wenn es der Gefahr entgehen will, mit einem steten ceterum censeo als Störenfried in Brüssel zu erscheinen. Es bedarf eines intelligenten Lobbying polnischer Beamten und Experten in den Brüsseler Sitzungssälen und eines ständigen Konsultationsmechanismus in den europäischen Hauptstädten, um aus der eigenen Sache mit Überzeugungskraft eine europäische Sache zu machen. Gerade in der Russlandpolitik ist besondere Sensibilität und Inklusion Polens von Seiten der informellen Kernstaaten der EU gefragt. Europapolitik und Nachbarschaftspolitik lassen sich nicht auseinander dividieren. Dies gilt für die Europaund Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union ebenso wie für die Polens.
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Literaturverzeichnis Arbeitspapier VIII der Kopernikus-Gruppe, 2004: Notwendigkeit der Neubegründung einer deutschpolnischen Partnerschaft in der EU der 25, Darmstadt, Stettin (www.deutsches-poleninstitut.de/projekte) Arbeitspapier X der Kopernikus-Gruppe, 2005: Die Ostpolitik der EU. Deutsche und polnische Beiträge zur Strategie gegenüber der Ukraine, Darmstadt, Stettin (www.deutsches-poleninstitut.de/projekte) Auswärtiges Amt. Planungsstab, und Departament Strategii i Planowania Polityki Zagranicznej. Ministerstwo Spraw Zagranicznych (Hrsg.), 2003: Die Rolle der EU mit 25 und mehr Mitgliedern im 21. Jahrhundert. Beiträge für eine neue Weltordnung. Gemeinsame deutsch-polnische Studien (Juni 2001 – Mai 2003), Berlin Gerhardt, Sebastian, 2004: Polska polityka wschodnia. Die Außenpolitik der polnischen Regierung seit 1989 gegenüber den östlichen Nachbarstaaten (Russland, Litauen, Weißrussland, Ukraine), Trier (http://ub-dok.uni-trier.de/diss/diss38/20040310/20040310/htm) Chwalba, Andrzej (Hrsg.), 2005: Polen und der Osten. Beiträge zu einem spannungsreichen Verhältnis, Frankfurt/Main (Denken und Wissen. Eine Polnische Bibliothek, Bd. 7) Krzemiński, Adam, 2005: Die europäische Außenpolitik entsteht im Osten, in: Merkur, 3, S. 256-262. Lang, Kai-Olaf, 2005: Polen und der Osten. Polens Beziehungen zu Rußland, Belarus und der Ukraine im Kontext europäischer „Ostpolitik“. SWP-Aktuell 22 Loew, Peter Oliver (Hrsg.), 2004: Polen denkt Europa. Politische Texte aus zwei Jahrhunderten, Frankfurt/Main (Denken und Wissen. Eine Polnische Bibliothek, Bd. 5) Non-paper 2003: Ministry of Foreign Affairs of the Republic of Poland (o.O. u. o.D.) (zur EUNachbarschaftspolitik) Picht, Robert, 2005: Die mutige Republik. Polen und die europäische Krise, in: Internationale Politik, 7, S. 17-21 Wilkiewicz, Zbigniew, 2004: „Neues“ versus „altes“ Europa: Polen zwischen den USA und der EU, in: Aktuelle Ostinformationen, 3 / 4, S. 3-15)
Integration, Nation und Modernisierung – Ungarns Außenpolitik am Anfang des 21. Jahrhunderts Ungarns Außenpolitik am Anfang des 21. Jahrhunderts
László J. Kiss
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Ungarn als policy maker und policy taker
Die ungarische Außenpolitik ist traditionell durch Begriffe wie „Anpassung” und „Befolgung”, „zwangsläufige Bahn”, Unterordnung unter die divide et impera-Politik der jeweiligen Großmächte und das Dilemma „wer beschützt uns vor unserem Beschützer”, kurz: durch die Merkmale einer policy taker-Politik gekennzeichnet. Die mangelnde Macht und die geostrategische Lage haben das Land direkt und indirekt von seinem Umfeld und den Gegebenheiten abhängig gemacht, auf die es nicht oder nur eingeschränkt einwirken konnte. Das auf die internationale Politik als Ganze und das eigene Schicksal bezogene (mit)gestaltende policy maker-Merkmal der ungarischen Außenpolitik kam nur sehr selten und eher im Ausnahmefall als dramatische Episode in der Nachkriegszeit zum Ausdruck. Einmal setzte sich diese Außenpolitik im Jahr 1956 der Haupttendenz des internationalen Systems entgegen, die immer stärker auf die Konsolidierung als auf die Veränderung des Status quo hindeutete. Ein anderes Mal erfolgte sie im Einklang mit dem Mainstream der internationalen Politik, als Ungarn im Jahr 1989 seine Westgrenze für die Touristen der ehemaligen DDR öffnete und dadurch die zur deutschen Einigung und damit zur europäischen Neuordnung führende „geopolitische Revolution” beschleunigte. 2004 trat Ungarn der EU unter anderem von der Idee geleitet bei, als Teil eines kollektiven policy makers zur „Mit-Entscheidungsmacht“ in einer Union zu werden, die nicht nur Schutz vor der Globalisierung, sondern auch Mittel zur Modernisierung und Vereinigung der ungarischen Nation bietet. 2
Außenpolitik und Identität
Die ungarische Außenpolitik wird durch Probleme der nationalen Identität bzw. der nationalen Minderheiten wesentlich mitbestimmt. Einerseits wird die nationale Identität mit häufigen politischen Kurswechseln in der ungarischen Politik- und Sozialgeschichte verbunden, die unter gegensätzlichen Vorzeichen stattfanden. Im 20. Jahrhundert erlebte – in den meisten Fällen überlebte – man mindestens sieben Systemwechsel in Ungarn, die in relativ kurzen Zeitperioden unterschiedliche, einander widersprechende Anforderungen an die ungarische Gesellschaft stellten. Andererseits markierten die Vorortverträge von Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine macht- und minderheitenpolitische Umkehrung der Verhältnisse zu Ungunsten der ungarischen Politik sowohl im demographischen, als auch im territorialen Sinn. Eine aus ungarischer Sicht traumatische Nicht-Übereinstimmung von Nation und Staat – ein „verstümmeltes Ungarn” – bildete sich heraus. Die Identität der neu etablierten Nachfolgestaaten als Nachbarländer lag in der Negierung der historischen Kontinuität Ungarns, in der „Entmagyarisierung” ihrer Geschichte. Zahlreiche Elemente der ungarischen Regionalgeschichte wurden zum Bestandteil der konkurrierenden Identitätsbil-
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dungsprozesse der angrenzenden neu etablierten Staaten, und trotz der Inkongruenz von Staat, Nation und Sprache wurden ein ethnisch geprägtes Nationalbewusstsein und eine nationalstaatliche Politik in Ungarns Nachbarstaaten vorherrschend (Kiss 1993: 570). Es ist leicht einzusehen, dass diese Entwicklung kaum die Herausbildung stabiler Interessen nach sich zog, sondern eine strategische Kultur der willigen Befolgung der jeweiligen Großmachtinteressen. Ferner hat sich seit dem Ende des Ersten Weltkrieges immer wieder die Frage gestellt, wie die jeweilige Außenpolitik Ungarns mit der geopolitischen und ethnopolitischen Lage umgehen kann, dass Ungarn „an sich selbst”, an seine Minderheiten grenzt. Mit anderen Worten ging es mindestens bis zum EU-Beitritt darum, wie Ungarn die Doppelbeziehungen zu den Nachbarstaaten und seinen Minderheiten über die Grenzen hinweg gestalten kann, ohne den Verdacht des direkten oder indirekten Revisionismus zu erwecken und die regionale Stabilität zu gefährden. Das mit dieser geopolitischen Situation eng verknüpfte Trianon-Syndrom hat Ungarns außenpolitische Agenda bis heute bestimmt, namentlich im Hinblick auf das Dreiecksverhältnis zwischen Ungarn, den ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern und den staatlichen Beziehungen Ungarns zu ihnen. Aber das Dreiecksverhältnis ist durch die doppelten Beitrittsprozesse und die institutionellen Mitgliedschaften zu einem qualitativ neuen Vierecksverhältnis geworden. Darüber hinaus bedeutet die euro-atlantische Doppelintegration für Ungarn und auch seine Nachbarstaaten nicht nur die Vollendung des Systemwechsels, sondern auch die Verstärkung der neuen demokratischen Identitätsstiftung, die zur institutionellen Homogenisierung und Stabilisierung in einem erweiterten europäischen Raum beiträgt. Nach 1989 war es kaum überraschend, dass die Diskontinuität und damit die Diskussionen im außenpolitischen Bereich viel mehr die Neuformulierung der nationalen Interessen gegenüber den Nachbarstaaten betraf als die Westpolitik, in der eine relative Kontinuität der euro-atlantischen Umorientierung zu beobachten war. Die außenpolitischen Brüche hingen damit zusammen, dass die erste demokratisch gewählte Antall-Regierung nicht vor der Aufgabe zurückscheute, die nationalen Eigeninteressen neu zu definieren und das Dilemma des außenpolitischen „Dualismus“ von Staat und Nation in seinen praktischen Konsequenzen in den Griff zu bekommen. Wenn sich auch die von der Antall-Regierung konzipierte außenpolitische Zielstruktur, die „Triade“ – westliche Doppelintegration, kooperative Nachbarschaftsverhältnisse und die Durchsetzung der Minderheitenrechte – in der Gewichtung und Ausgestaltung ihrer Einzelelemente änderte und die Grundlage für Diskussionen bildete, wurde sie doch in ihren Grundzügen durch alle Regierungen nach dem Systemwechsel geteilt (Zellner /Dunay 1998: 446). Die strukturelle Kontinuität bei den Zielen ergibt sich aus dem Umstand, dass sich diese größtenteils aus den außen- und innenpolitischen sowie historisch-geopolitischen Rahmenbedingungen ableiten und in den vergangenen drei Legislaturperioden bis zur Vollendung der Doppelintegration Ungarns von keiner neuen Regierung ohne weiteres neu definiert werden konnten. 3
Nation und Integration oder außenpolitischer „Dualismus“ und seine Folgen
Die konservative Regierung Antall war bestrebt, die historisch entstandene Inkongruenz zwischen Nation und Staat aufzulösen, indem sie neben der (staatlichen) Außenpolitik auch das Konzept der auf die ganze ungarische Nation bezogenen „Nationalpolitik“ (nemzetpolitika) und „nationalpolitischen Strategie“, d.h. die Dimension der „Nationalpolitik als Au-
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ßenpolitik“ in ihr politisches Vokabular aufnahm. In der Tat ist die auf die ganze (grenzüberschreitende) ungarische Nation bezogene „Nationalpolitik“ eine multidimensionale Politik. Sie ist eine zwischenstaatliche Außenpolitik, aber auch ein Stück ungarische Innenpolitik, einerseits in dem Sinne, dass sie die in der ungarischen Verfassung verankerte praktische Verantwortung für die ungarischen Minderheiten umsetzt. Sie ist die Suche nach den besten und legitimen Methoden der ungarischen Gesellschaft und Politik, die dazu beitragen sollen, dass die Ungarn als Gemeinschaften in ihrem Heimatland über die Grenzen hinweg fortbestehen können. Anderseits hat die „Nationalpolitik“ auch eine zwischengesellschaftliche, transnationale Dimension, weil nichtstaatliche, gesellschaftliche und wirtschaftliche Akteure (Privatwirtschaft, Stiftungen, Kirchen, zivilgesellschaftliche Gruppen usw.) grenzüberschreitend bestrebt sind, Verbindungswege und Modernisierungsprojekte zwischen den internen und externen ungarischen Gemeinschaften zu initiieren. Nach Ungarns Beitritt zur Union wurde diese Nationalpolitik außerdem durch die neue Nachbarschaftspolitik ergänzt. Es geht hier vornehmlich um Staaten wie die Ukraine und Serbien, die zwar mit einer (baldigen) Mitgliedschaft in der EU nicht rechnen können, in denen aber ungarische Minderheiten leben. Kurz gesagt: diese auf die ungarische Nation als Ganze bezogene Politik kann als gleichzeitige Außen- und Innen- sowie auch Europapolitik eingeordnet werden. Immerhin liegt einer der wichtigsten Unterschiede zwischen der national-konservativen und der sozialliberalen Politik im Verständnis des Nationenbegriffs. Das sozialliberale Konzept geht von der „politischen Nation“ aus, wonach sich die ungarische Nation auf das in Ungarn lebende Staatsvolk beschränkt, während die Konservativen die Existenz einer unauflöslichen „ungarischen Kulturnation“ über die Grenzen hinweg in den Vordergrund stellen. Daraus folgt, dass die Minderheiten im ungarischen Staat zwar staatsbildenden Charakter haben, aber nicht der ungarischen Kulturnation zugehörig sind. Auch die zweite konservative Regierung unter Viktor Orbán agierte unter diesen außenpolitischen Vorzeichen. Sie legte besonderen Nachdruck auf den „dualen“ Charakter der ungarischen Außenpolitik, wonach die Außenpolitik Ungarns „duale Interessen“, d.h. staatliche und nationale (nationalpolitische) Interessen vertreten muss. Diese beiden Ziele sollten weder voneinander entkoppelt noch gegenüber gestellt werden („Wahl der Zukunft“ 1998: 5-7). Darüber hinaus war diese Außenpolitik darauf gerichtet, den „ungarischungarischen“ Beziehungen institutionellen und rechtlichen Charakter zu verleihen. Das zielte insbesondere in Richtung einer positiven Diskriminierung der Minderheiten und der Verstärkung ihrer kulturellen Beziehungen zu ihrem externen Heimatland Ungarn (Statusgesetz). Es ist nicht überraschend, dass die Außenpolitik Ungarns durch ein Spannungsverhältnis zwischen der westlich orientierten Doppelintegrationspolitik, der Nachbarschaftspolitik und der „Außen-Minderheitenpolitik“ für die im Ausland lebenden Ungarn gekennzeichnet war. Die sozialistischen bzw. die sozialliberalen Regierungen waren gegenüber der konservativ geprägten Praxis der Nationalpolitik immer kritisch eingestellt, wenn auch das Statusgesetz durch fast alle Parteien – mit Ausnahme des Bundes der Freidemokraten – im ungarischen Parlament verabschiedet wurde. Immerhin verwandelte die sozialliberale Medgyessy-Regierung (2002-2004) das Statusgesetz in ein „Begünstigungsgesetz“ im Einklang mit Anforderungen der Union und der Nachbarländer und strich auch den Begriff der „Einheit der ungarischen Nation“ aus dem Text aus. Als der ungarische Ministerpräsident am 16. April 2003 den Beitrittsvertrag in Athen unterzeichnete, erklärte er in seiner Rede, dass Ungarn immer von sich hören lassen wird, wenn es um die europäischen Minderheiten und die Sache der Ungarn in den Nachbarländern geht. Außerdem setzte er sich für die Einbin-
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dung von auf die Minderheiten bezogenen konkreten Kollektivrechten in den europäischen Verfassungsvertrag ein. Im Oktober 2003 brachte Medgyessy im Europarat zum Ausdruck, dass alle Hilfeleistungen für die ungarischen Minderheiten aufgrund der Kooperation mit den Regierungen der Nachbarstaaten stattfinden und alle Hilfeleistungen den europäischen Standards sowie den Bestimmungen des Europarates, der OSZE und der EU gerecht werden müssen (Szabó 2003: 4-6). Nach 1989 ist ersichtlich geworden, dass die Herangehensweisen der konservativen und sozialliberalen Außenpolitik trotz der gemeinsamen strategischen Zielsetzungen voneinander abweichende Methoden und Konzepte beinhaltet haben. Die nationalkonservative Außenpolitik hat die Anforderungen der grenzüberschreitenden ungarischen Einheitsnation und die regionale Bündnisbildung unter das Motto „Wagen wir groß zu sein!” in den Vordergrund gestellt und die Gestaltung der Außenpolitik eher im Sinne des politischen Realismus formuliert und praktiziert. Die viel mehr universalistisch konzipierte sozialliberale Außenpolitik steht unter dem Vorzeichen des Slogans „Wagen wir klein zu sein!” Diese eher dem Neoliberalismus zuzuordnende Politik bevorzugt die Vorteile einer normengeleiteten Außenpolitik gegenüber einer direkten Durchsetzung der nationalen Eigeninteressen. Aus dieser idealtypisch gemeinten Unterscheidung folgt auch die gegenseitige Kritik, die die zwei „Lager” in den innenpolitischen Diskursen formuliert haben. Von einem konservativen Standpunkt aus war die sozialliberale Außenpolitik „übermäßig gefügig” gegenüber den oftmals nationalistisch geprägten außenpolitischen Zielen und Handlungen der Nachbarstaaten sowie den mit der unterschiedlichen politischen Praxis gleichgesetzten „europäischen Normen”, die sich vielmals als ungenügend bezüglich der Minderheitenrechte erwiesen hätten. Nach diesem Verständnis beziehen sich die „europäischen Werte“ oder „europäischen Normen“ vorwiegend auf Anforderungen einer allgemeinen europäischen Konfliktkultur im Sinne der Konfliktbewältigung und Konfliktprävention, die die Koexistenz der unterschiedlichen politischen Praktiken im Bereich des Minderheitenschutzes gar nicht ausschließen. Daraus folgte – so die konservative Auffassung – dass die sozialliberale Außenpolitik gegenüber den Anforderungen der Nachbarstaaten und der EU auf Kosten der ungarischen Eigeninteressen „übermäßig” entgegenkommend war, anstatt „zusätzliche Lösungen“ zu suchen oder „Ausnahmen” als Präzedenzfälle im Sinne der positiven Diskriminierung zur Geltendmachung der nationalen Eigeninteressen zu schaffen. Im Gegensatz dazu hat die sozialliberale Außenpolitik in diesen Schritten zunehmendes Potential für Interessenkonflikte gesehen, das den Prozess der Doppelintegration erschwert und sich unvorteilhaft auf eine stabilitätsorientierte Nachbarschafts- und Regionalpolitik auswirkt. Die Frage der kulturellen und territorialen Autonomie und die Vergabe der Doppelstaatsbürgerschaft an die Auslandsungarn konstituieren einen zusätzlichen Konfliktbereich zwischen beiden politischen Lagern. Die konservative Politik betont, dass die Autonomie als Bündel konkreter, auf das Alltagsleben bezogener Maßnahmen ein vorrangiges Ziel und nichts anderes als die Geltendmachung der auch durch die EU in den Vordergrund gestellten Prinzipien der Subsidiarität und des Selbstverwaltungswesens ist. Von diesem konservativen Standpunkt aus ist es inakzeptabel, wenn die Union ein „doppeltes Maß“ bezüglich der Gemeinschaften der Minderheiten anlegt. Wenn es im „alten“ Europa möglich geworden ist, die Lage der nationalen Gemeinschaften der Minderheiten im Rahmen einer kulturellen und territorialen Autonomie zu regeln, dann stehe das Recht auf Autonomie auch den „neuen“ europäischen ungarischen Minderheiten zu. Dementsprechend sei es im ureigensten Interesse Ungarns, die Union davon zu überzeugen, dass die Stabilisierung der Region
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Mittel-, Ost- und Südosteuopa ohne Fortschritte im Bereich der kulturellen und territorialen Autonomien der Gemeinschaften der nationalen Minderheiten nicht denkbar ist (Kövér/Németh 2005: 6). Im Gegensatz zu diesem Verständnis betont die sozialistische Außenpolitik eher die Überzeugung, dass zwar gewisse Autonomien in der EU erzielt werden können, aber die Zukunft Europas viel mehr in der Herausbildung der Makroregionen wie Mittelmeer, Mitteleuropa, baltischer Region oder der Gemeinschaft der Donaustaaten und nicht in der „Absonderung“ oder „Isolierung“ liegt (Baráth 2005: 21). Ein weiteres vieldiskutiertes Thema der ungarischen Außenpolitik ist die Vergabe der doppelten Staatsbürgerschaft an die Auslandsungarn in den Nachbarländern. Obwohl Meinungsumfragen ergeben hatten, dass das Schicksal der Auslandsmagyaren den meisten Ungarn egal ist, unterstützte der FIDESZ das vom Weltverband der Ungarn initiierte Referendum zur Schaffung einer doppelten Staatsbürgerschaft für alle Magyaren. Am 5. Dezember 2004 stimmten jedoch nur 18,8 Prozent der Wahlberechtigten für eine doppelte Staatsbürgerschaft und 17,7 Prozent dagegen. Das Referendum scheiterte somit an der geringen Wahlbeteiligung von 37,4 Prozent. Von der möglichen doppelten Staatsbürgerschaft wären rund 2,5 Millionen Auslandsungarn betroffen gewesen. Die sozialliberale Regierung in Budapest befürchtete, dass die Verleihung einer Doppelstaatsbürgerschaft zu einer massenhaften Einwanderung von Auslandsungarn führen könnte. Auch die sozialliberale Wahlkampagne war – analog zu den populistisch gefärbten Parlamentswahlen 2002 – darauf gerichtet, die öffentliche Meinung auf die Überforderung des ungarischen Sozialsystems durch Masseneinwanderung aufmerksam zu machen. Es stellte sich heraus, dass diese Frage die ungarische Gesellschaft und damit auch die ungarische Nation nicht einen konnte, sondern eher gespalten hat. Immerhin bemühen sich beide Lager darum, eine Lösung zu finden. Nach dem konservativen Verständnis gibt es keine andere Wahl als die Ausdehnung der ungarischen Staatsbürgerschaft auch auf die Auslandsungarn, die nicht beabsichtigen einzuwandern. Zu diesem Zweck werden die Revision und die Umgestaltung des ungarischen Einbürgerungsgesetzes gefordert. Nach dieser Logik steht jedem Auslandsungarn ohne Rücksicht auf den Wohnort die einheitliche und unteilbare Staatsbürgerschaft zu. Die Bedeutung dieser Möglichkeit bezieht sich in erster Linie auf die Periode nach 2007, wenn das Schengener-Abkommen im vollen Umfang für Ungarn gelten wird. Auf diese Weise können auch diejenigen Auslandsungarn ihre Beziehungen zu Ungarn ungestört unterhalten, deren Staat bis zu diesem Zeitpunkt nicht der EU beigetreten sein wird. Unter der Perspektive guter Beziehungen zu den Auslandsungarn halten die Experten der konservativen Bürgerpartei FIDESZ die durch die sozialliberale Regierung gemachten Vorschläge wie die Einführung eines Systems des kleinen Grenzverkehrs der Union oder eines ungarischen Ausweises nach griechischem Vorbild – trotz aller guten Absichten – für unzureichend (Kövér/Németh 2005: 6). Trotz der Unterschiede im politischen Vokabular sowie der parteipolitischen Auseinandersetzungen übt die EU gleichermaßen Druck auf ihre politischen Akteure aus. Aufgrund gleicher, aber auch unterschiedlicher Interessen stimmten die Regierungsparteien und die Opposition im ungarischen Parlament 2005 für den Beitritt Rumäniens zur EU, obwohl die rumänischen Vorbereitungen auf den EU-Beitritt noch einiges zu wünschen übrig lassen. Darüber hinaus bietet die EU einen funktionalen Rahmen für die Vereinigung der ungarischen Nation als Ganze in Integrationsstrukturen, wenn auch nicht jedes Nachbarland gleichzeitig Mitglied der Union sein wird. Es spricht alles dafür, dass 2007 oder 2008 auch Rumänien der Union beitreten und damit die Mehrheit der ungarischen Nation zur „integ-
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rierten Minderheit der Union” gehören wird. Mit diesem Prozess geht einher, dass sich auch die ehemaligen äußeren „Trianon-Grenzen” in innereuropäische Grenzen verwandeln werden und die konkreten Möglichkeiten für eine regionale (europäische) Entwicklungspolitik eröffnet werden. Eine Vereinigung der ungarischen Nation in der EU bietet für Ungarn auch eine Vergrößerung seines kooperativen Wirtschaftsraums sowie einen Zuwachs an Humankapital. Diese Entwicklung zeigt, wie das Minderheitenproblem d.h. die Inkongruenz von Staat und Nation – ein äußerst empfindliches Thema in Mittel- und Osteuropa – durch erweiterte und erweiternde Integration entschärft werden kann. 4
Souveränität und geteilte Nation – geteilte Souveränität und vereinigte Nation.
Auch das Verhältnis zwischen Nation und Souveränität wird durch Integration neu definiert, wodurch das alte Spannungsverhältnis gelockert werden kann. Ein mehrstufiger historisch geprägter Prozess scheint abgeschlossen zu werden. In der Donaumonarchie war eine ungeteilte ungarische Nation mit geteilter Souveränität, im Trianon-Ungarn eine vollständige Souveränität mit einer geteilten Nation verbunden (Bozóki 2004: 44). Die kommunistische Nachkriegszeit war durch fehlende Souveränität und eine geteilte Nation geprägt, während die Periode nach 1989 durch die wiedergewonnene Souveränität und die geteilte Nation gekennzeichnet ist. Mit dem Beitritt zur Union und der „Erweiterung der Erweiterung“ wird die Möglichkeit geboten, die Vereinigung der ungarischen Nation unter der Bedingung der Teilung der Souveränität in einem entgrenzenden europäischen Raum zu fördern und zu verwirklichen. Es geht aber nicht nur darum, dass die Erweiterung Ungarn die Chance bietet, die ungarische Nation als Ganze im europäischen Raum integrierend einzubinden, sondern auch darum, dass die EU auch eine „Gemeinschaft der Gemeinschaften” oder sogar eine „Gemeinschaft der Minderheiten” (Prodi) ist. Das Individuum ist nicht mehr „Gefangener” des territorial verfassten jakobinischen Staates westfälischer Herkunft, sondern es hat das Recht, sich gleichzeitig mehreren frei wählbaren Gemeinschaften (EU, Nation, Region, Minderheit) zugehörig zu fühlen. Dementsprechend hat jede Gemeinschaft das Recht, die unterschiedlichen Kulturen und Sprachen der Individuen zu fördern (Martonyi: 1993: 231). Die Geschichte der Union zeigt, dass die Integration zu keinem Ende des Staates oder der Nation führt. Sie verwandelt den traditionellen (National)Staat vielmehr in einen europäischen und integrierten (National)Staat, der in der Geschichte in dieser Form nicht existierte. Daraus ergibt sich die Aufgabe, die Union künftig zu einer wirklichen Gemeinschaft, d.h. zu einer „Gemeinschaft der Gemeinschaften” als Teil der globalen Gemeinschaften zu machen, die vor den unabsehbaren und unberechenbaren globalen Prozessen Schutz bieten kann. Darüber hinaus eröffnet die Integration neue Möglichkeiten, durch die sich ein Teil der ethnopolitischen Fragen in funktionale Entwicklungsfragen wandeln kann, im Rahmen funktionaler Zusammenhänge der politischen und wirtschaftlichen Kooperation. Ferner wird das historisch geprägte Problem der ungarischen Außenpolitik, unter anderem das der gleichzeitigen Gestaltung der Beziehungen zu den Nachbarstaaten und den ungarischen Minderheiten, in einem europäischen Raum nicht mehr prekär sein. So entbehrt auch das durch einzelne politische Kräfte in den Nachbarstaaten historisch benutzte und manipulierte Bild des „revisionistischen Ungarns“ jeder Grundlage.
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Das Programm von FIDESZ, als europäischer Volkspartei, machte vor den Wahlen des Europäischen Parlaments 2004 darauf aufmerksam, dass die Mitgliedschaften Ungarns, der Slowakei, Sloweniens und sogar Rumäniens die Etablierung einer ungarischen kulturell-sprachlichen Makroregion ebenso wie grenzüberschreitende ungarisch-ungarische Projekte und Ausschreibungen innerhalb der EU ermöglichen. Die Tatsache, dass Ungarn teilweise direkt an seine Minderheiten grenzt, wird durch grenzüberschreitende EUProjekte, d.h. gemeinsame Entwicklungsprojekte, einen neuen Stellenwert bekommen. Daraus folgt, dass eine Transformation vor sich gehen wird, die den wirtschaftlichen, geopolitischen und geographischen Gegebenheiten entsprechend stattgefunden hätte, wenn die Landesgrenzen nicht durch die Machpolitik neu gezeichnet und zementiert geworden wären (Európa-Program 2004: 37-38). Zu dieser Entwicklung gehört auch, dass ein Forum der ungarischsprachigen Abgeordneten im Karpaten-Becken als möglicher Lobbyist im Europäischen Parlament gebildet wurde. Unter der Medgyessy- und Gyurcsány-Regierung reflektiert auch die sozialliberale Außenpolitik die Minderheiteninteressen im europäischen Rahmen. Nach Ungarns Beitritt zur EU benutzt die Gyurcsány-Regierung den früher kritisch diskutierten Begriff der auf die ungarische Nation als Ganze bezogenen Nationalpolitik unter Berücksichtigung des „Koordinierungsgebotes” mit der EU und den zuständigen Nachbarstaaten. Einiges scheint also dafür zu sprechen, dass die Sozialisten nach dem Beitritt zur EU keine Berührungsangst mehr mit dem Begriff „Nationalpolitik“ (nemzetpolitika) haben, obwohl die Unterschiede zum konservativen Konzept sofort ins Auge fallen. Nach dem gescheiterten Referendum über die Doppelstaatsbürgerschaft, fühlten sich auch die Sozialisten veranlasst, ein neues Programm und neue Argumente gegen das konservative Konzept – besonders im Vorfeld der Parlamentswahlen 2006 – ins Feld zu führen. So hat die sozialliberale Regierung das so genannte „Geburtsland-Programm” (szülıföldprogram) zur Entwicklung der von ungarischen Minderheiten bewohnten Gebiete ins Leben gerufen, ohne es aber umgesetzt oder das erforderliche Geld bereitgestellt zu haben. Auch scheint es eine gemeinsame Erkenntnis der Parteien zu geben, dass die Struktur und das Volumen der Hilfsleistungen für die Auslandsungarn verändert werden müssen. Dementsprechend müsste die bisherige auf einseitiger Hilfe basierende Unterstützung abgelöst werden, was sich vorteilhaft auf die Minderheiten, den ungarischen Staat und auch die Mehrheitsnation auswirken würde. Ungarns Beziehungen zu den Nachbarstaaten sind ziemlich kompliziert. Von dem äußerst widersprüchlichen Charakter der bilateralen Beziehungen zwischen Ungarn und Rumänien zeugt z.B. die erste gemeinsame ungarisch-rumänische Regierungssitzung im Oktober 2005. Auf dieser wurden zwar mehr als 10 Verträge – unter anderem in Bezug auf gemeinsame Entwicklungsprojekte in der EU zur grenzüberschreitenden Regionalförderung – unterzeichnet, aber am darauf folgenden Tag wurde das Minderheitengesetz im rumänischen Senat zurückgewiesen. Außerdem ist die seit Jahren beschlossene Rückgabe der konfiszierten Immobilien an die ungarischen Kirchen in Rumänien kaum vorangekommen. Es ist angebracht, darauf hinzuweisen, dass die Minderheitenprobleme durch Integration nicht automatisch und in all ihren Facetten in kurzer Zeit gelöst werden können. Es ist kaum zu erwarten, dass sich ein Minderheiten-Acquis als Teil des europäischen Rechtsbestandes herausbilden wird. Allerdings können der Binnenmarkt und ein europäischer Verfassungsvertrag zur Schaffung rechtlicher und institutioneller Rahmenbedingungen beitragen, von denen auch die Minderheiten Gebrauch machen könnten. Im Laufe des Verfassungskonvents wurden die ungarischen Erwartungen hinsichtlich der Minderheitenrechte
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etwas zurückgeschraubt. Die nationalen Verfassungen und die „Verfassungswirklichkeiten” boten für Minderheitenrechte als Kollektivrechte in einem europäischen Verfassungsvertrag wenig Spielraum. Der auf dem Konvent eingereichte ungarische Vorschlag, der – nach dem Vorbild der schon existierenden beratenden Organe des Wirtschaftlichen und Sozialen Ausschusses sowie des Ausschusses der Regionen – auf die Etablierung eines Ausschusses für nationale und ethnische Minderheiten als neues Gremium der Union abzielte, stieß auf relativ wenig Resonanz. Budapest plädierte für eine EU als einheitliches Völkerrechtssubjekt und die Integrierung der grundlegenden Rechte in den vereinheitlichten Verfassungsvertrag. Dabei setzte sich Ungarn auch dafür ein, dass die EU nicht nur die Gleichberechtigung der Mitgliedsstaaten, sondern auch die der Völker und Bürger garantiert. Das historische Erbe der ostmitteleuropäischen Region ließ die Sicherung der Menschen- und Minderheitenrechte als zwingend notwendig erscheinen. Aus diesem Grunde schlug Budapest auf dem Konvent vor, dass die Kopenhagen-Kriterien in den Verfassungsvertrag eingebunden werden. Ungarn hat sich eindeutig gegen das „Doppelmaß“ („double standard“) ausgesprochen. Folglich ist es mehr als wünschenswert, die gleichen Normen bezüglich der Minderheitenrechte sowohl innerhalb, als auch außerhalb der EU – als Beitritts- und Mitgliedschaftskriterien zugleich – anzuwenden, wobei es als Erfolg Ungarns zu verbuchen war, dass auf ungarischen Vorschlag hin das Wort „Minderheit“ Teil des Verfassungsvertrages wurde. Nach dem Beitritt scheint auch die durch das Trianon-Syndrom geprägte Diskussion über Ungarns „Größe” bzw. „Kleinheit” an Bedeutung zu verlieren. Ungarn ist in der EU der 25 das zehntgrößte Land, keine Großmacht, aber Ungarn ist wie andere Mitgliedsstaaten imstande, aufgrund gut formulierter Zielsetzungen und konzentrierter Arbeit in funktionalen Politikbereichen Einfluss auf die europäische (Innen)Politik auszuüben (Navracsics 2005: 15). Der neu gewählte Staatspräsident Sólyom hat sich in seiner ersten öffentlichen Rede im August 2005 so geäußert, dass Ungarn im europäischen Vergleich eine „Mittelmacht“ sei, weshalb sich das Land in internationalen Fragen nicht nur anpassen würde, sondern auch zu Eigenleistungen fähig sei (Pester Llyod v. 7.9.2005). 5
Mitgliedschaft in der EU-Krise
Die Osterweiterung der EU war ein historisch einmaliger Prozess im Hinblick auf ihre Größe und Vielfalt, aber sie wurde von Ungarn und den anderen neuen Mitgliedsländern in Mittel- und Osteuropa auch als die „billigste“ wahrgenommen. Damit ist die Gefahr der Wahrnehmung einer „zweitklassigen“ oder „nicht vollständigen Mitgliedschaft“ verbunden. Diese ist auf die reduzierten Finanz- und Förderungsmittel – z. B. der direkten Beihilfe im Agrarbereich – und den daraus resultierenden, im Vergleich zu den früheren Erweiterungen ungleichen Wettbewerbsbedingungen zurückzuführen. Hinzu kommt, dass die neuen Mitgliedsländer noch außerhalb der Eurozone sind, und besonders Ungarn große Schwierigkeiten in diesem Bereich zu bewältigen hat. Außerdem wird diese Erweiterung von einer zwangsläufigen Anpassung der „alten“ EU an die Globalisierung begleitet, die auch als „Erweiterungskrise“ zum Ausdruck gekommen ist. Die Osterweiterung bedeutet Erweiterung der Sicherheit nach außen, aber auch die Veränderung der Natur von EU und NATO, was wiederum mit neuen Interessenkonflikten innerhalb der EU verknüpft ist. Das Scheitern de Verfassungsreferenden in Frank-
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reich und den Niederlanden zeigte, dass die „alten“ Mitglieder – in dem „Europe de Charlemagne“ – die neuen Mitgliedstaaten gerne als „Sündenbock“ hernehmen. Die Erweiterungsfrage wurde mit der Globalisierungsdebatte auf vielfältige Weise verknüpft. Die Osterweiterung wird mit der „finanziellen Überdehnung“ und Arbeitslosigkeit mindestens in solchem Ausmaß in Verbindung gebracht wie mit dem Umkippen des institutionellen Gleichgewichts und dem Verlust des institutionellen Gewichts der großen Staaten wie beispielsweise Frankreichs. Diese Entwicklung hat die Krise der EU heraufbeschworen. Einige soziale Gruppen und auch Politiker der neuen und der alten Mitgliedstaaten fühlen sich in einer Art Vertrauenskrise, in der die EU – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – nicht mehr als win-win-Projekt oder Lösung betrachtet wird. Diese Wahrnehmung entwickelte sich, obwohl die europäische Integration die früher vorherrschenden Nationalismen erfolgreich in prosperierende Kooperation verwandelte und die alte Gleichgewichtspolitik von einem Gleichgewicht der Institutionen abgelöst wurde. Dies ist eine Entwicklung, die nach 1989 in beschleunigtem Tempo vorangeschritten war. Außerhalb der institutionellen Anpassung zeichnen sich mindestens drei Konfliktbereiche in der erweiterten Union ab: erstens die wirtschaftliche Disparität mit all ihren Konsequenzen für finanzielle Umverteilung, besonders in der Regionalpolitik, zweitens die neue Konkurrenz zwischen den „alten“ und „neuen“ Mitgliedstaaten z.B. bezüglich des Lohngefälles und drittens schließlich die geographische Ausdehnung, d.h. die Tatsache, dass die erweiterte EU an real oder potentiell instabile Regionen grenzt, die zusätzliche Probleme für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) mit sich bringen. Damit ist auch die erhöhte strukturelle Vielfalt in der EU verknüpft, die die Unterschiede zwischen „Schwergewichtlern“ und „Leichtgewichtlern“ verstärkt und die Herausbildung einer kollektiven Identität erschwert (Fröhlich 2005: 5). Das Scheitern der Verfassungsreferenden hat diese Schwierigkeiten sowohl bezüglich der institutionellen Finalität“, d.h. der inneren „Grenzen“ (Kompetenzen), als auch im Hinblick auf die mit der Frage einer türkischen Mitgliedschaft eng verknüpfte „territoriale Finalität“ verdeutlicht. Darüber hinaus haben die Erfolglosigkeit des Lissabonner Programms nach der Halbzeit, das Scheitern des Haushaltsplans im Sommer 2005 sowie die ungewissen Wirtschaftsaussichten nach den vorgezogenen Parlamentswahlen im wirtschaftsstärksten Mitgliedsland Deutschland auf die Gefahr einer negativen Synergie der Krisen innerhalb der EU aufmerksam gemacht. Auch wenn sich die Krisen in der Geschichte der EU bisher als Geschichte einer sich erneuernden Kultur der Kompromisse und damit als Modus Operandi der Integration erwiesen haben, spricht doch vieles dafür, dass die gegenwärtige Lage nicht bloß als crisis as usual eingeordnet werden kann. Nach der Osterweiterung ist die EU in einer Vertrauenskrise und es findet ein tiefgreifender Umverteilungsprozess der wirtschaftlichen, politischen und strategischen Positionen statt, der sich mit der strategischen Redistribution in der erweiterten NATO vergleichen lässt. Diese Entwicklung wurde auch in der ungarischen politischen Elite mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Es wurde darauf hingewiesen, dass die Union an einem Scheideweg ist, an dem es sich wieder einmal herausgestellt hat, dass die Entwicklung der Integration durch die nationalen Eigeninteressen geprägt wird, und es noch immer nicht gelungen ist, der gelegentlich kleinlichen und engstirnigen Interessenkonflikte der Nationalstaaten Herr zu werden (Navracsics 2005: 15). In Expertenkreisen wurde darauf verwiesen, dass der „osteuropäische Wettbewerb“ in einigen der alten Mitgliedsstaaten „kriminalisiert“ und
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der Verfassungsvertrag als verfehlter Kompromiss zwischen den Eliten in einer Lage aus der Taufe gehoben wurde, in der eher die innere Spaltung als das vereinigende Gefühl eines europäischen Grundvertrages kennzeichnend war. Der ungarische Ministerpräsident Gyurcsány sprach darüber, dass die Solidarität in Europa zerbrechlicher geworden sei (Die Welt v. 30.07.2005). Der ehemalige konservative Wirtschaftsminister hat ein neues europäisches Paradoxon formuliert: auf dem Höhepunk der Erfolge sind die Verunsicherung und Vertrauenskrise eingetreten, während früher die tiefste Krise die Erneuerung und den Erfolg mit sich brachte (Matolcsy 2005: 6). Péter Balázs, früheres Kommissionsmitglied, hat alle Probleme der Union darauf reduziert, dass sie ständig in Erweiterung begriffen sei. Mit anderen Worten: es drohe die Gefahr, dass die nächsten Betrittsländer und Kandidaten alle Nettoempfänger werden, während die Zahl der Nettozahler unverändert bleibe (Balázs 2005: 4). Staatspräsident Sólyom betonte, dass Ungarn das Recht habe, darüber mitzureden, was in der EU geschehen soll, wenn auch die Entscheidungsfindung innerhalb der EU nicht ausreichend demokratisch sei (Sólyom 2005: 6). Für das Fiasko der Referenden machten auch die neuen Mitgliedsstaaten eher den sozialen Kontext in Frankreich und den Niederlanden als den Inhalt des Verfassungsvertrages verantwortlich. Die Ablehnung oder der „erfolgreiche Missbrauch“ des Verfassungsvertrages wurde als Ersatz für die nicht ausdiskutierten sozialen Probleme wahrgenommen. In den ersten Europawahlen 2004 stellte sich auch in Ungarn heraus, dass das gemeinsame Europa für die meisten Ungarn nach wie vor etwas Abstraktes ist und kein echter Dialog zustande kommen kann, wenn die zur Verfügung stehenden Mittel einseitig aufgeteilt sind. Verantwortlich für die Wissensdefizite und die nicht „ausdiskutierten“ Probleme war die politische Klasse sowie die Tatsache, dass das Land seit dem Wahlkampf 2002 politisch extrem polarisiert ist. Die ersten Europawahlen 2004 haben sich in Ungarn eher als Verlängerung der innenpolitischen Auseinandersetzung denn als Diskussion über die EU erwiesen. In erster Linie war die amtierende sozialliberale Regierung auf dem kritischen Prüfstand. Die Wahlniederlage der Sozialisten führte dann einen Generationswechsel innerhalb der Sozialistischen Partei herbei und leitete damit eine neue Politik ein. 6
Effektive Mitgliedschaft – im Spannungsverhältnis zwischen Innen- und Integrationspolitik
Ungarn ist schon im Laufe der neunziger Jahre – inmitten eines dynamischen Transformationsprozesses – aufgrund des hohen Verflechtungsgrades (asymmetrische Interdependenz) der ungarischen Wirtschaft mit dem Integrationsraum ein de facto Mitglied der EU geworden. Von dieser de facto Mitgliedschaft zeugte die Tatsache, dass vier Fünftel der ungarischen Ausfuhren und drei Viertel der Einfuhren in der zweiten Hälfte der 90er mit dem Verflechtungsraum der EU verbunden waren. Mit dem Beitritt zur EU ist am 1. Mai 2004 die Periode der der de jure Mitgliedschaft in Kraft getreten, aber der Transformationsprozess ist damit nicht zu Ende gegangen, sondern er setzt sich im institutionellen Rahmen und europäischen Raum fort. Darüber hinaus werden mit der de jure Mitgliedschaft auch die Anforderungen einer effektiven Mitgliedschaft an Ungarn gestellt. Diese macht eine Reihe von Anpassungsleistungen erforderlich: unter anderem ist das institutionelle Gewicht durch Erfüllung der eigenen Verpflichtungen und Koalitionsbildungen in der EU zu verstärken, ferner muss die Integration von innen her im Einklang mit nationalen Eigeninteressen mit-
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gestaltet werden, und schließlich sind die spezifischen Rollen, die Nischen-Funktionen in einem europäischen Raum und im internationalen Umfeld der erweiterten EU zu definieren. Die ersten anderthalb Jahre der ungarischen Mitgliedschaft haben das Spannungsverhältnis zwischen Innenpolitik und integrationspolitischen Verpflichtungen – in der stark polarisierten Innenpolitik und im Vorfeld der Parlamentswahlen – besonders ins Blickfeld gerückt. Die parteipolitische Logik ist darauf gerichtet, das Prinzip der Stimmenmaximierung innerhalb des vierjährigen Wahlzyklus durchzusetzen, während die Finanzplanung der EU in Sieben-Jahres-Zyklen stattfindet. Das Spannungsverhältnis zwischen der parteipolitischen Logik und der zyklenübergreifenden Integrationslogik schien vor den Parlamentswahlen 2006 in Ungarn besonders brisant zu sein. Das nationale Entwicklungsprogramm erfordert einen so großen überparteilichen Konsens wie möglich, um den mehrere Wahlzyklen übergreifenden Entwicklungsplan effektiv umsetzen zu können. Die durch Spaltung und Zerrissenheit gekennzeichnete Innenpolitik Ungarns erschwert nicht nur die Konsensbildung, sondern auch die Bemühungen, die nationalen Interessen im europäischen Raum effektiv geltend zu machen. Das gleiche Spannungsverhältnis hat sich zwischen der kurzfristigen innenpolitischen Agenda (Steuersenkung, Sozialpolitik) und den mit dem Ziel des ungarischen Beitritts zur Eurozone (Haushaltsdisziplin) verbundenen Anforderungen herausgebildet. Das Zieldatum der Einführung des Euro wurde unter der sozialliberalen Medgyessy- und GyurcsányRegierung in einer einzigen Legislaturperiode dreimal neu angesetzt. Die sozialliberale Koalition befindet sich in einem Dilemma, wobei sich eine fundamentale Frage für die jeweiligen Regierungen stellt: müssen die schmerzhaften Reformen (die Umgestaltung der Ausgabenstruktur des akut defizitären Haushalts durch Abbau der Regierungs- und Verwaltungsbürokratie, Reform des Gesundheitswesens usw.) auch auf Kosten einer Wahlniederlage, aber im Interesse der zunehmenden Absorptionsfähigkeit und des Modernisierungsbedarfes umgesetzt werden, oder lohnt es sich eher, wenn die Reformbereitschaft im Interesse der Popularität zurückgenommen und ein erfolgreicher Wahlausgang nicht aufs Spiel gesetzt wird? Ferner stellt sich auch die Frage, wie es möglich ist, den Anforderungen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und denen der sozialen Gerechtigkeit gleichzeitig gerecht zu werden, ohne der Verführung des Populismus von jeglicher Couleur nachzugeben. Im Prinzip müssten der Neuverschuldung entsprechend den Maastrichter Kriterien auch auf Kosten der Sozialpolitik enge Schranken gesetzt werden, aber die sozialliberale Regierung tendierte im Vorfeld der Parlamentswahlen dazu, den sozialpolitischen Zielen die Haushaltsdisziplin fördernde Stabilitätspolitik entgegenzusetzen. In der Tat wurde versucht, die Gesellschaft vor die falsche Alternative zwischen finanzieller Stabilisierung (haushaltspolitischen Einschränkungen) einerseits und der sinkenden Wachstumsrate bzw. den notwendig werdenden sozialpolitischen Einschnitten anderseits zu stellen. Im Gegensatz dazu erbringen viele Mitgliedsländer einen Beweis dafür, dass die haushaltspolitischen Einschränkungen nicht unbedingt Wachstumsschwierigkeiten, sondern viel mehr zusätzliche Wachstumsimpulse mit sich gebracht haben (Benczes 2005: 15). Ferenc Gyurcsány erklärte, er werde für die wichtige Euro-Einführung nicht den sozialen Zusammenhalt und die Wirtschaftsentwicklung aufs Spiel setzen. Statt der notwendigen Haushaltskonsolidierung wurden in Ungarn Defizite bis über sechs Prozent des Bruttoinlandsproduktes in den Jahren 2005 und 2006 erwartet. Überdies ist es äußerst fraglich, ob Ungarn sein Defizit bis 2008 unter die Drei-Prozent-Marke des Stabilitätspaktes senken kann, um wie geplant 2010 der Währungsunion beitreten zu können.
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Es war kaum verwunderlich, dass die sozialliberale Regierung auch die Möglichkeit der „Aufweichung“ der Maastrichter Kriterien zur Sprache gebracht hat. Sie war von der Idee geleitet, dass sich die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen der mittel- und osteuropäischen Staaten von denen der Gründungsstaaten der Eurozone radikal unterscheiden, und auch die historischen Bedingungen nicht mehr gegeben sind, die bei der Etablierung der Eurozone erforderlich waren. Als Nicht-Euro-Land ist Ungarn vor Sanktionen im EU Defizitverfahren sicher, wie sie etwa Deutschland bei fortgesetzten Verstößen gegen den Stabilitätspakt drohen. Möglich ist allerdings, dass die EU ihre Regionalförderung aus dem Kohäsionsfonds vorübergehend aussetzt, um Druck auszuüben. Viel riskanter ist die mit dem ungewissen Zieldatum der Einführung des Euro verknüpfte Reihe von Herausforderungen. Es ist an und für sich ein struktureller Verlust, wenn das Auslandskapital die Haushaltslöcher stopft, anstatt produktiv die Strukturveränderung zu fördern und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Ferner gibt es auch ein zusätzliches Problem, wenn die ungarische Defizitfinanzierung in Folge eines Vertrauensverlustes ins Wanken geriete und damit die Einführung des Euro verzögern würde. Dadurch hätte Ungarn gegenüber seinen direkten Konkurrenten in Mittel- und Osteuropa ernsthafte Wettbewerbsnachteile zu verbuchen. Laut den konstruktivistischen Ansätzen ist davon auszugehen, dass die langfristige Europäisierung der einzelnen Politikbereiche in den Mitgliedsstaaten auch zu Änderungen der nationalen Interessen und der Identitäten führen kann. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die EU nicht nur ein Wirtschafts- und Rechtsraum, sondern auch ein Raum für Normen und Regime ist, der eine transnationale Sozialisierung fördert. Damit ist auch gemeint, dass die EU als Mehrebenensystem des Regierens die Grenze zwischen Innen- und Außenpolitik abbaut und eine „europäische Politik“ konstituiert, wobei diese „europäische Politik“ auch einen sozialisierenden Einfluss auf die Innenpolitik der einzelnen Mitgliedsländer ausübt. Ferner machen die politischen Eliten strategisch von den Institutionen Gebrauch, um der demokratischen Kontrolle, aber auch der polarisierten Innenpolitik entkommen zu können. Hieraus folgt, dass die EU für die innenpolitischen Akteure die Möglichkeit bietet, transnationale Vereinbarungen zu treffen, die auch die innenpolitischen Koalitionen, Institutionen und Politiken verändern können (Katzenstein 1996: 518). Es ist offensichtlich, dass eine erweiterte und heterogener gewordene Union diesen Anforderungen unter den gegenwärtigen Bedingungen viel schwerer als je zuvor gerecht werden kann und unter Bedingungen einer Vertrauenskrise auch der „Sozialisierungsprozess“ in Frage gestellt wird bzw. viel mehr Zeit bräuchte. 7
Effektive Mitgliedschaft durch Koalitionen – Die Visegrád 4 in der EU
Die „effektive Mitgliedschaft“ erfordert eine erhöhte Fähigkeit zur Koalitionsbildung und einen zusätzlichen Koordinationsbedarf unter anderem im Ministerrat. Dabei stellt sich die Frage, ob Ungarn innerhalb der EU überhaupt einen „strategischen Partner“ braucht oder eine Politik der „variablen Geometrie“ auf der Grundlage von wechselnden ad hoc Koalitionen verfolgen sollte. Nach Ungarns Beitritt zur Union ist keine feste strategische Partnerwahl, sondern eher die wechselnde Partnerwahl zwischen London und Paris sowie Washington und Berlin, ferner eine globale Wirtschaftsdiplomatie zwischen Moskau und Peking usw. zu beobachten. Im Hinblick auf die Bewahrung der den ungarischen Interessen dienenden Elemente der Gemeinsamen Agrarpolitik – und die Mitgestaltung einer neuen Agrarstrategie nach 2013 – ist Ungarn bis zu einem gewissen Grad mit Frankreich, dem
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größten Nutznießer der Agrarordnung, verbunden. Angesichts der Liberalisierung des Dienstleistungssektors geraten Ungarn und andere neue Mitglieder in erster Linie mit Frankreich und Deutschland in Konflikt. Das Scheitern des Finanzgipfels im Juni 2005 und die Verzögerung der Einigung über den Haushalt 2007-2013 haben die Solidarität und Kompromissbereitschaft der britischen Politik in Frage gestellt, obwohl die GyurcsányRegierung mit Blair’s Politik sympathisiert. Trotz der Tatsache, dass die Visafreiheit zwischen der EU und China nicht auf der Tagesordnung der EU steht, hat der ungarische Außenminister 2005 dieses Problem zur Sprache gebracht, als China Bereitschaft zeigte, das Import-Verbot für ungarischen Weizen aufzuheben. Die Europäische Union arbeitet vorwiegend im Sinne der funktionalen und nicht der geographischen (territorialen) Logik, aber es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass sich die funktionalen und geographischen Komponenten in bestimmten subregionalen und politischen Bereichen gegenseitig verstärken. Mit der Osterweiterung haben die subregionalen Kooperationsformen als „Übungsgelände der Vor-Integration“ (fitness centers) wie beispielsweise die Visegrád-Gruppe viel von ihrer früheren Funktion und Substanz verloren. Die Entscheidungsträger sind vor die Aufgabe gestellt, die subregionalen Kooperationsformen unter neuen Bedingungen zu überdenken. Die ersten Erfahrungen ermahnen bezüglich der hoch gesetzten Erwartungen zur Vorsicht. Auf dem Kopenhagener Gipfel waren die Visegrád-Staaten trotz der vorher abgestimmten Verhandlungsstrategie bestrebt, individuelle Abmachungen über die Beitrittsbedingungen zu treffen. Anfang November 2005 wurde keine Annäherung zwischen dem britischen Regierungschef Tony Blair und seinen Amtskollegen aus den Staaten der mittel-europäischen Visegrád-Gruppe erzielt. Der ungarische Ministerpräsident Gyurcsány als turnusmäßiger Chef der Visegrád-Gruppe wies den Vorschlag des amtierenden britischen EU-Vorsitzenden zurück, der das Budget der EU um insgesamt 25 Milliarden. Euro zu senken versuchte, wobei zehn Milliarden aus den Fonds für die neuen EU-Mitglieder gestrichen werden sollten. Trotz der „Einheitsfront“ war die Slowakei in der letzten Verhandlungsrunde in Brüssel aus der Visegrád-Gruppe ausgeschieden, nachdem sich Bratislava die zur Modernisierung der slowakischen Kernkraftwerke erforderliche Hilfe verschafft hatte. Die Kooperation der Visegrád-Staaten war wegen ihrer zyklischen Dynamik wieder im Abstieg begriffen. Gleichzeitig aber bildeten die Abgeordneten der Visegrád-Staaten im Europäischen Parlament sowie die zuständigen Kommissare den so genannten „Visegráder Klub“, der in der Zwischenzeit zu einem informellen Koordinationsforum geworden ist. Auch die Think Tanks der österreichischen und slowenischen Außenpolitik erkannten die mögliche Relevanz dieser informellen Organisation. Beide Staaten haben auf höchster Ebene schon im Herbst 2004 ihre Bereitschaft zum Ausdruck gebracht, sich an einer erweiterten Visegrád-Kooperation zu beteiligen. Die ermutigenden Äußerungen des ungarischen Regierungschefs bei seinem Besuch in Wien in Oktober 2004 wurden von österreichischen und slowenischen Regierungskreisen eher beifällig aufgenommen, während die tschechische Regierung sofort ihr Missfallen ausdrückte. Seit dem vergangenen Jahr ist auch der Begriff „Visegrád Plus“ in das politische Vokabular eingegangen, und trotz der anhaltenden Diskussionen unter den vier Visegrád-Staaten werden auch die österreichischen und slowenischen Regierungschefs zu Begegnungen der Ministerpräsidenten regelmäßig eingeladen. Im Juni 2005 hat Ungarn turnusmäßig den Vorsitz der Visegrád-Kooperation übernommen. Die Bezeichnung „Visegrád Plus“ ist ins Programm der ungarischen Präsidentschaft auch offiziell aufgenommen worden, da der Kooperationsrahmen durch die konsultative Beteiligung von Österreich und
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Slowenien erweitert wird. Dies geschieht nicht zuletzt unter Berücksichtigung des Umstandes, dass Österreich den EU-Vorsitz im ersten Halbjahr 2006 übernahm. Der EU-Vorsitz bot für Österreich eine besondere Gelegenheit, den Interessen der neuen Mitgliedsländer und damit der ostmitteleuropäischen Region in einer sensiblen Phase der EU Ausdruck zu verleihen. Die Tradition der „Sonderbeziehung“ und einer Art von „geopolitischer Intimität“ zwischen Ungarn und Österreich hat während der verschiedenen Legislaturperioden nie aufgehört, ein gewisses gemeinsames Gestaltungspotential zu erschaffen. Es gibt mehrere regionale Versuche, die sich teilweise überlappen. Österreich und Ungarn sind immer ein Teil davon. Das letzte Beispiel der Kooperation war die erste gemeinsame Sitzung der österreichischen und der ungarischen Regierung nach dem Zerfall der Donaumonarchie im Dezember 2005 in Wien. Die Regierungen haben ein Kooperationsabkommen für die diplomatischen Vertretungen getroffen. Dadurch kann ein Land Botschaften und Konsulate des anderen Landes in jenen Staaten mit verwenden, in denen es keine eigene Vertretung hat. Dementsprechend wurde aus logistischen Gründen die erste „gemeinsame“ diplomatische Vertretung der beiden Staaten in Podgorica, Montenegro ins Leben gerufen. Die gemeinsamen Interessen sind auch darin zum Ausdruck gekommen, dass beide Staaten für die Aufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen mit Kroatien eintraten. Anderseits wurden auch bei der grenzüberschreitenden Kooperation Fortschritte erzielt. So wurde die Quote von Praktikanten und Grenzgängern um 150 Personen auf insgesamt 4.000 erhöht. Trotz der restriktiven Arbeitsmarktpolitik sind die meisten ungarischen Arbeitnehmer aufgrund eines zwischenstaatlichen bilateralen Abkommens in Österreich tätig. Darüber hinaus ist Österreich als Vergleichsmaßstab auch aus historischen Gründen Ungarns Referenzland geworden, nicht nur im Hinblick auf die Nachkriegsentwicklung, sondern auch auf die einzigartige historische Erfahrung der Souveränitätsteilung Ungarns im entgrenzten Binnenmarkt und der wirtschaftlichen und ökologischen Einheit der ehemaligen Donaumonarchie. Im Juni 2005, auf dem gescheiterten Finanzgipfel der EU, haben sich die konvergierenden Interessen der Visegrád 4 sowie die der baltischen Staaten in ihrer Solidaritätsbereitschaft gegenüber den alten „Nutznießern“ Großbritannien und Frankreich ausgedrückt. Die neuen Mitgliedstaaten waren sich der Tatsache bewusst, dass sie die größten Opfer der verzögerten Vergabe der Strukturmittel und des ganzen Finanzstreits sein würden. Deswegen war es mehr als symbolisch, dass sich die Visegrád-Staaten sowie Lettland und Litauen in der letzten Phase der scheiternden Konferenz bereit erklärten, auf einen Teil ihren eigenen Fördermittel im Interesse des möglichen Kompromisses zu verzichten. Der Vorschlag hatte keinen Einfluss auf die Verhandlungen, doch war er von psychologischer Bedeutung. Die Reaktionen der großen Mitgliedstaaten machten klar, wie eingeschränkt der Spielraum der neuen Mitglieder bei Fragen von großer Tragweite ist. Der damalige EURatsvorsitzende, der luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker, brachte seine Enttäuschung zum Ausdruck, als er hervorhob, dass – abgesehen von Deutschland – nur die bedürftigsten neuen Mitgliedsländer bereit waren, Opfer für die Befriedigung der finanziellen Bedürfnisse der wohlhabenden Mitglieder zu bringen (Bruxinfo 20.06.2005). Es war nicht verwunderlich, dass der ungarische Ministerpräsident Gyurcsány als „Budapester Kompromiss“ vorschlug, einen provisorischen Haushalt für drei Jahre zu verabschieden, aber die Initiative wurde innerhalb der Visegrád 4 Staaten nicht mehr als ein Impuls verstanden. Im Grunde genommen bevorzugten alle Visegrád-Staaten die endgültige Entschei-
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dung, wonach alles dafür getan werden muss, dass der EU-Haushalt für volle sieben Jahre verabschiedet zu werden. Die institutionelle Macht der Visegrád 4 Staaten ist kaum als hoch einzuschätzen, verfügen sie doch nur über 17,5 Prozent der Mandate im Rat und knapp 16 Prozent der Mandate im Europäischen Parlament. Im Hinblick darauf, dass sie in keinem Fall 25 Prozent der Mandate erreichen, geht es um keine strategische Koalition, aber diese Zahlenverhältnisse sind viel größer als die jeweiligen Mandate der großen Mitgliedstaaten getrennt voneinander. Die Haushaltsdebatte signalisierte, dass der Interessenausgleich der großen Mitgliedstaaten für die Entscheidung in der EU – besonders bei der Verteidigung ihrer „Privilegien“ – mehr als erforderlich ist. Im Gegensatz zur EU der 15, in der die größten Mitgliedsstaaten auch die wirtschaftsstärksten waren, ist die Wirtschaftsleistung des größten Mitgliedstaates Polens unter den neuen Mitgliedern die schwächste. Hieraus folgt, dass Polen zwar zu den sechs größten Mitgliedstaaten gehört, aber nicht in der Lage ist, als einflussreicher Staat aufzutreten, da seine Wirtschaftsleistung die Dänemarks kaum übertrifft und etwa ein Drittel der von Spanien mit ähnlicher Bevölkerungszahl ausmacht. Aus diesem Grund braucht Polen die atlantische Sonderbeziehung, um seine Wirtschaftsschwäche politisch-strategisch zu kompensieren. Ferner sind zwar die Visegrád-Staaten als Nettoempfänger miteinander verbunden, aber Österreich als Nettozahler fällt aus dem Rahmen. Immerhin sind sowohl Österreich – besonders nach seinen Erfahrungen mit der EU-Sanktionspolitik – als auch Slowenien daran interessiert, enger mit einer Staatengruppe verbunden zu sein. Ferner ist klar, dass die vier Visegrád-Staaten im Hinblick auf gewisse Politikbereiche – wie doppelte Beitrittsprozesse, Regionalförderung, Haushalt der EU usw. – zwar gemeinsame, aber in vielen anderen Bereichen – wie die Höhe der Entwicklungsgelder, Auslandsinvestitionen, Agrarbeihilfe usw. – auch konkurrierende Interessen haben, die sich auf ihre eher rivalisierenden als komplementären Wirtschaftsstrukturen zurückführen lassen. Hieraus folgt, dass die Kooperation unter den Visegrád-Staaten auch durch einen Mangel an wirtschaftlicher Komplementarität verhindert wird. 8
Neue Mitgliedschaften - neue Konflikte
Es ist offensichtlich, dass es Unterschiede zwischen NATO- und EU-Erweiterungen gibt, aber auch Analogien im Hinblick darauf, dass die Natur beider Organisationen besonders durch die letzte Erweiterung in Veränderung begriffen ist. Diese Umgestaltung ist mit einer Reihe von neuen Konflikten verbunden. In vielerlei Hinsicht waren und sind sowohl Ungarn als auch die anderen neuen Mitglieder auf diese Konflikte innerhalb des institutionellen Rahmens von EU und NATO nicht vorbereitet. Die Mitgliedschaft in der NATO bedeutet unter anderem, dass die neuen Mitglieder immer öfter in Entscheidungssituationen versetzt werden, die sich weniger aus ihrer geographischen Lage als aus ihrer Bündniszugehörigkeit und aus den damit verknüpften Loyalitätserwartungen ergeben. Es geht darum, dass sich die neuen Mitgliedstaaten öfter als je zuvor in fernen Konflikten verfangen wieder finden, die nichts mit ihren direkten geopolitischen Interessen zu tun haben. Das Spannungsverhältnis zwischen den traditionellen territorialen (nationalen) und funktionalen (transnationalen) Interessen war inmitten der IrakKrise im Jahr 2004 gut zu beobachten. In der Zeit der nationalkonservativen Orbán-Regierung waren kaum zwei Wochen nach Ungarns Beitritt zu der Atlantischen Allianz 1999 verstrichen, als die Loyalität von
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Ungarn, Polen und Tschechischer Republik im Kosovo-Konflikt erprobt wurde. Dies folgte unmittelbar auf die Kampagne für eine NATO-Mitgliedschaft, die mit dem Argument bestritten wurde, dass die Allianz imstande ist, ohne Gewaltanwendung die Sicherheit zu gewährleisten. Aber es ging nicht nur darum, Ungarns Glaubwürdigkeit als Verbündeter unter Beweis zu stellen, sondern auch das Spannungsverhältnis zwischen Integrations- und Nationalpolitik so weit wie möglich zu reduzieren. Der vom konservativen Ministerpräsidenten eingeführte Begriff der „NATO-Minderheit“ – gemeint war die ungarische Minderheit in der Vojvodina – war so auch ein Versuch, das Spannungsverhältnis zwischen Integrations- und Nationalpolitik zu mildern. Dass sich gleichzeitig auch die von der „NATOMinderheit“ bewohnten Gebiete auf der Zielliste des Nato-Bombardements befanden, erschwerte diese Politik. Außerdem war Ungarns Politik darauf ausgerichtet, die Grundlagen der Zusammenarbeit zwischen Serbien und Ungarn nicht zu ruinieren, um auch nach dem Krieg in der Lage zu sein, eine Allianz der ungarischen Minderheiten und der serbischen demokratischen, pro-europäischen Kräfte in die Wege leiten zu können, zwecks europäischer Resozialisierung und Reintegration. In logischer Konsequenz fanden im Herbst 1999 einige Male Treffen der demokratischen serbischen Opposition in Ungarn statt ( Kiss 2000: 294). Mit dem NATO-Beitritt stellte sich ferner heraus, dass die „neue NATO“ nicht so sehr die Allianz des Artikels V in the area, sondern eher die der Krisenbewältigung und Friedenserzwingung out of area ist, die neue Anforderungen an ihre Mitgliedstaaten stellt. Unter der sozialliberalen Medgyessy-Regierung trat Ungarn 2004 zur EU unter den Bedingungen einer „Spaltungsunion“ bei, auf die es gar nicht vorbereitet war. Eine neue ideologische Konfliktlinie von weltpolitischer Bedeutung entstand, welche allerdings nicht wie bei S. Huntington zwischen dem Westen und dem Rest der Welt, sondern innerhalb des Westens, zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika auf der einen und ihren westlichen, insbesondere europäischen Partnern auf der anderen Seite verlief. Der Konflikt spaltete aber ebenso die EU-Mitgliedsstaaten. Der sozialistische und frankophone Ministerpräsident Medgyessy stand an der Seite Amerikas und Großbritanniens und als „Mitglied der Willigen“ unterzeichnete er den „Brief der Acht“, ohne mit der amtierenden griechischen Präsidentschaft oder mit Chirac oder Schröder gesprochen zu haben. Außenminister Kovacs erklärte einen Monat später, dass es ein Fehler gewesen sei, sich der Initiative anzuschließen, ohne vorher die europäischen Verbündeten konsultiert zu haben. Gleichzeitig war es eindeutig, dass die Mehrheit der ungarischen Gesellschaft den Krieg unter den gegebenen Bedingungen ablehnte. Die Anforderung einer effektiven Mitgliedschaft, d.h. größeres politisches Eigengewicht durch die Erfüllung der Verpflichtungen zu erlangen, bezieht sich auch auf Ungarns atlantische Mitgliedschaft. Es war mehr als auffallend, dass die Medgyessy- und die darauf folgende ebenfalls sozialliberale Gyurcsány-Regierung den für die militärische Modernisierung erforderlichen und durch die NATO angeforderten Verteidigungsetat unter Verweis auf die Haushaltslage und Sparpolitik stark reduzierte. Das Verhältnis zwischen Ungarn und der NATO war 2004 und auch früher nicht frei von Spannungen. Das Verteidigungsbündnis wiederholte seine Kritik an Ungarns mangelhafter Bereitschaft und Fähigkeit, den Anforderungen gerecht zu werden. Im November musste Premier Gyurcsány NATOGeneralsekretär Jaan de Hoop Scheffer erklären, wieso das Verteidigungsbudget auf 1,28 Prozent des BSP zurückgeschraubt wurde, obwohl Ungarn sich 1999 verpflichtet hatte, 2 Prozent seines BSP für die Rüstung bereit zu stellen. Der ungarische Regierungschef entschuldigte sich mit dem hohen Staatsdefizit und der Notwendigkeit, die Staatsausgaben
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zurückfahren zu müssen, um 2010 der Eurozone beitreten zu können. Es war kein Zufall, dass Ungarn mit einer free rider Attitüde in Verbindung gebracht wurde. Nach dem Irak-Konflikt waren die neuen Mitgliedstaaten der EU – darunter auch Ungarn – bestrebt, das Gleichgewicht zwischen NATO und EU/GASP wiederherzustellen, oder mindestens der Sache der NATO nicht zu schaden und die Wahl zwischen einer europäischen und einer atlantischen Option möglichst zu vermeiden. Diese Gratwanderung im Sinne eines „Balanceaktes“ scheint ein äußerst widersprüchliches und heikles Manöver zu sein. Auch Ungarns Außenpolitik ist vor die Aufgabe gestellt, die atlantischen, die europäischen und auch die nationalen Interessen miteinander komplementär und integrativ zu gestalten. Zsolt Németh, der Vorsitzende des auswärtigen Ausschusses im ungarischen Parlament und der außenpolitische Kabinettschefs der Bürgerpartei FIDESZ, hat sich so geäußert, dass Ungarn sein atlantisches Engagement im Rahmen der EU geltend machen muss, auch im Interesse der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der EU und den Vereinigten Staaten. Europa und Amerika seien aufeinander angewiesen: ohne das Militärpotential der USA hätte die EU keine Sicherheit, und ohne die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der EU würden die Vereinigten Staaten ihre Isolierung riskieren. Hoffentlich werde es gelingen, den Weg zu einer gleichrangigen Partnerschaft zu finden. In diesem Prozess könne auch die ungarische Außenpolitik ihren Beitrag leisten (Németh 2005: 9). Die nationale Sicherheitsstrategie Ungarns zeugt auf merkwürdige Weise von den Schwierigkeiten dieses Balanceaktes. Sie ist unter atlantischem Vorzeichen formuliert, aber auf schizophrene Weise ausbuchstabiert, das heißt: Budapest versucht, sich gegenüber der NATO als „EUropäer“ und gegenüber der EU auf atlantische Weise als „Atlantiker“ zu präsentieren. Der „Musterknabe“ Ungarn hat eine nationale Sicherheitsstrategie aufgrund der in Dokumenten von EU und NATO verankerten Prioritäten wie Bekämpfung des internationalen Terrorismus und Nichtverbreitung der Massenvernichtungswaffen usw. entwickelt, ohne Bezug auf seine spezifischen geopolitischen Interessen zu nehmen. Das ungarische Außenministerium ist bestrebt, zwischen EU und NATO zu balancieren, während sich das Ministerium für Verteidigung dank seiner vorangeschrittenen Sozialisierung in der Nordatlantischen Allianz eher für die NATO engagiert. Beim Vergleich der ungarischen nationalen Sicherheitsstrategie (No.2073/2004) mit der europäischen Sicherheitsstrategie erweist sich die ungarische „Musterknaben-Attitüde“ als latenter Atlantizismus, außerdem werden das Kleinstaaten-Syndrom sowie der stark akzentuierte regionale Fokus auf Mittel-, Ost- und Südosteuropa (West-Balkan) deutlich (Póti/Takács 2005: 31-32). Ungarn ist bereit, sich an der GASP und der ESVP als Ganzem zu beteiligen, aber diese Verpflichtung wird in der Tat nur dann umgesetzt, wenn Budapest einen Teil der Krisenbewältigung übernimmt und bereit und fähig ist, seine Fähigkeiten in diesem Bereich zu entwickeln. Kritische Stimmen weisen darauf hin, dass der ungarischen Außenpolitik vor allem die Berechenbarkeit und eine von klaren Eigeninteressen bestimmte Langzeitstrategie fehlen. Oft wiederhole Budapest bloß den Standpunkt des Partners, mit dem gerade verhandelt werde (Pester Lyold v. 12.10.2005). Auch in der früheren Legislaturperiode wurde aus amerikanischer Sicht darauf hingewiesen, dass sich der EU-Beitritt Ungarns aus der starken Bündnispartnerschaft mit den USA ergab und Ungarn jetzt als effizientes Mitglied der EU die Allianz mit den Vereinigten Staaten verstärken müsse. Damit ist nicht gemeint, dass Politik von jeglicher Art aus Brüssel oder aus Washington von Budapest durchgewunken wird, aber es geht darum, dass wenn einmal eine Entscheidung getroffen wurde, Budapest seinen Verpflichtungen nach-
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kommen muss, egal ob es sich um eine durch Amerika geführte Mission handelt, oder darum geht, den Anforderungen einer festgelegten Streitkräftereform gewachsen zu sein (Bugajski 2003: 3) Zur gleichen Zeit spricht auch vieles dafür, dass die Allianz langfristig zu einem transatlantischen Clearing House werden könnte, da drei Entwicklungen unübersehbar sind. Zum einen wird die EU eines Tages zu einer glaubwürdigen Macht heranwachsen, die zu einem autonomen Handeln in der Lage ist. Dieses Szenario scheint aber kurz- und mittelfristig nicht wahrscheinlich, angesichts der bestehenden Interessenkonflikte zwischen der EU der 15 und den neuen Mitgliedstaaten sowie der noch nicht ausreichenden Fähigkeiten auf Seiten der EU. Zweitens verstärkt sich in der NATO der Trend hin zu Operationen, an denen sich unterschiedliche Gruppierungen von Mitgliedstaaten beteiligen und die verschiedenen Zwecken dienen. Schließlich wirken schon heute Länder an NATO-Einsätzen mit, die nicht dem Bündnis angehören, ihm aber durch Partnerschaftsabkommen verbunden sind. In der Zukunft, kann man damit rechnen, dass das Bündnis eine sehr viel lockere und flexiblere Gestalt haben wird. Dies bedeutet, dass die Nichtbeteiligung eines Landes an einer Operation nicht mehr ein kritikwürdiger Sonderfall, sondern Normalität wäre. Manche Aktivitäten würden dadurch erleichtert werden, andere aber erschwert (Haftendorn 2002: 49-54). 9
Ungarn als „Grenzland“ der EU als geopolitische Agenda
Nach der Erweiterung ist die EU nicht mehr die gleiche für die Welt, zumal sich die geostrategische Lage und damit die Außen- und Sicherheitspolitik viel mehr wandelt als ihre externen Wirtschaftsbeziehungen. In diesem Bereich zeichnet sich auch ein neuer Interessenkonflikt ab. Aus der Interessenlage der neuen mittel- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten schienen die Proportionen des vorläufig auf Eis gelegten siebenjährigen Haushalts unangemessen zu sein, weil der diskutierte Finanzplan eher die geopolitischen Prioritäten der ehemaligen Kolonialmächte in ihren Beziehungen zu den früheren Kolonien reflektiert als die finanziellen Bedürfnisse der neuen mittel- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten im Hinblick auf ihre Nachbarschaftspolitik. Das ist der Grund, warum Ungarn und die anderen „Frontstaaten“ der Union an der Umstrukturierung des Haushaltsplanes zugunsten ihrer außen- und sicherheitspolitischen Präferenzen mit Blick auf die kurz- und langfristigen Prozesse der „Erweiterung der Erweiterung“ so viel gelegen ist (Szent-Iványi 2005). Es ist außerdem offensichtlich, dass die „alten“ und „neuen“ Peripherien als Nettoempfänger – Barcelona-Prozess versus/und „europäische Ostpolitik“ – zusätzlichen Koordinierungsbedarf erfordern. Auf Ungarns neuer geopolitischer Randlage in der EU gründet auch eine neue außenund sicherheitspolitische Agenda. Durch den Beitritt zur EU ist Ungarn ein strategisches „Grenzland“ der Union geworden. Die nachhaltige Konsolidierung der Region kann ohne die Kooperation mit der euroatlantischen Gemeinschaft nicht gelingen, wobei in dieser Zusammenarbeit den an die Region direkt grenzenden neuen Mitgliedsstaaten – unter ihnen auch Ungarn – die Aufgabe zufällt, zur Erhöhung der Integrationsfähigkeit der Nachbarstaaten beizutragen. Der ehemalige Außenminister Ungarns Somogyi hat die Prioritäten der neuen ungarischen Nachbarschaftspolitik in drei geographischen Richtungen definiert: Förderung des rumänischen Beitritts zur EU, Beitrag zur Schaffung der Stabilität auf dem
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Westbalkan sowie Förderung der demokratischen Transformation in der Region und schließlich Beitrag zur demokratischen Entwicklung in der Ukraine (Somogyi 2005) Die neue Nachbarschaftspolitik steht vor der schwierigen Aufgabe – besonders im Hinblick auf Serbien und die Ukraine – auch ohne Aussicht auf (baldige) Mitgliedschaft die euro-atlantischen Normen und Regime zu vermitteln. Die Aufgabe der neuen Nachbarschaftspolitik heißt zugleich „sichere“ und „offene“ Grenzen zu schaffen, d.h. einerseits dem Schengen-Raum 2007 beizutreten und die spezifischen ungarischen Interessen bezüglich der Minderheiten geltend zu machen, anderseits die wirtschaftliche Entwicklung als ein ungarisches und europäisches Projekt grenzüberschreitend zu fördern. Ungarn grenzt an die äußerst heterogene Balkanregion, unter anderem an das an starker Verarmung und moralischem Bankrott leidende Serbien, in dem Flüchtlinge ein Fünftel der Bevölkerung ausmachen. Die gewalttätigen Attacken gegen die ungarische Minderheit in Serbien-Montenegro standen im Mittelpunkt der bilateralen Beziehungen, auch im Europäischen Parlament wurde eine Untersuchungskommission gebildet. Allerdings ist die „Balkankompetenz“ der ungarischen Außenpolitik „verbesserungsbedürftig“, dementsprechend braucht Ungarn eine konkrete serbische Politik sowie auch eine umfassende Balkanpolitik (Füzes 2005: 5). Von den neuesten Mitgliedsstaaten der EU ist Ungarn besonders daran gelegen, von seiner geopolitischen Lage Gebrauch zu machen und das Finanzzentrum und das logistische Verteilungszentrum der Balkan-Verbindungen zu werden. Von Ungarn wird seitens der EU und der NATO nicht nur wegen seiner geographischen Lage eine aktive Rolle erwartet, sondern auch, weil das Land in keinen der dortigen Konflikte involviert ist, keine Sonderinteressen verfolgt und eine gewisse historische Affinität sowie Erfahrungen aufweist (Pester Llyod Nr. 37 2005). Die aktive Balkanpolitik Ungarns muss im Rahmen der Anstrengungen der EU auch darauf gerichtet sein, die infrastrukturelle Nord-Süd-Verbindung zu verstärken, die regionale Auseinanderentwicklung zu mildern und zur Bildung von grenzüberschreitenden Entwicklungsregionen, nicht zuletzt zur Konsolidierung der fragilen demokratischen Staatlichkeiten beizutragen. In den 1990er Jahren zeugte der Szegediner Prozess davon, dass Ungarn politisch engagiert ist, die Zivilgesellschaft in Serbien zu verstärken und einen Beitrag zur regionalen Stabilisierung zu leisten. Darüber hinaus sind auch die ungarischen wirtschaftlichen Akteure grenzüberschreitend aktiv geworden. Es gibt eine zunehmende Überlappung zwischen den im Rahmen der ungarischen Nachbarschaftspolitik wichtigen Staaten und den Expansionsrichtungen der ungarischen multinationalen Unternehmen. In Mazedonien ist Matáv-Telekom einer der größten Investoren und die ungarische Landessparkasse OTP und die Ölgesellschaft MOL AG sind sowohl in Rumänien als auch in Kroatien mit einem höheren Marktanteil präsent. In Serbien-Montenegro konnte die Telefongesellschaft Hungarian Telecom Fuß fassen, nachdem sie auch die Privatisierung der Telekommunikationsgesellschaft in SerbienMontenegro gewonnen hatte. Es wurden kritische Stimmen laut, dass kein institutionalisiertes Verhältnis zwischen der Regierung und dem Kapital besteht, und die außenpolitische Strategie mit den Marktstrategien der ungarischen Unternehmen nicht abgestimmt ist. Folglich sind die Überlappungen eher den geopolitischen Notwendigkeiten als der bewussten Koordination zu verdanken. Abgesehen von einer kurzen Etappe der Orbán-Regierung zwischen 1998 und 2002 gab es keine Bestrebung der ungarischen Regierung, den ungarischen Unternehmen bei ihrer Expansion in der Region im Rahmen einer unfassenden Strategie zu helfen. Andere Meinungen verweisen darauf, dass die Regierung imstande ist, auf
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indirekte Weise einen gewissen Einfluss auf die Expansionspolitik der ungarischen Unternehmen auszuüben, und dass auch die Expansion der Unternehmen auf die ungarische Außenpolitik bis zu einem gewissen Grad zurückwirken kann (Németh 2005: 6-7). 10 Strategische Zielsetzungen und Außenpolitik Nach Ungarns Doppelintegration ist es mehr als wünschenswert, die Frage der Neuformulierung der ehemaligen außenpolitischen Triade und damit Ungarns neue Staatsraison auf die Tagesordnung zu setzen. Das nationale Interesse Ungarns wird in den neuen Integrationsstrukturen nicht einfach aufgehen. Vielmehr üben die Integrationsstrukturen ständigen Druck auf die Mitgliedsländer aus, ihre Teilinteressen funktional zu bestimmen und mit dem Unionsinteresse abzustimmen, nicht zuletzt um diesen Eigengewicht zu verleihen. Einige der miteinander verknüpften strategischen Ziele Ungarns zeichnen sich ab: Außenpolitik muss der Sache der verstärkten Modernisierung und Wettbewerbsfähigkeit des Landes dienen, aber sie muss auch die Einheit der ungarischen Nation innerhalb der EU fördern und gleichzeitig zur regionalen und globalen Sicherheit beitragen. Zwischen Oktober 2004 und Dezember 2005 hat der Weg der ungarischen Außenpolitik einen seltsamen Bogen gemacht. Der neue Ministerpräsident Gyurcsány hat zwar über keine Erfahrungen im außenpolitischen Bereich verfügt, aber er hat sofort die Steuerung der auswärtigen Angelegenheiten übernommen. Er hat die Aufgabe außer Acht gelassen, die Außenpolitik mit Sicherheits- und Außenwirtschaftspolitik abzustimmen und dementsprechend ist ein wenig übersichtliches Steuerungssystem zustande gekommen. Die Fragen der europäischen Integration und der Wirtschaftsdiplomatie fallen nicht mehr in die Kompetenz des Außenministeriums. Außerdem hat der ungarische Premier den damaligen Außenminister Ferenc Somogyi zu einem „vollziehenden Staatssekretär“ gemacht. Es geht also nicht nur um einen Anpassungskonflikt der ungarischen Außenpolitik im europäischen Raum. Gyurcsány hat sich offen für die Rolle des „sicherheitspolitischen Trittbrettfahrers“ entschieden und die „reagierenden Improvisationen“ sind zur Alltagspraxis im außenpolitischen Bereich geworden. Während der ungarische Premier die Lage der ungarischen Minderheiten im Rahmen der Nachbarschaftspolitik betrachtet, wünschen sich die Politiker der ungarischen Minderheiten und auch die oppositionelle Bürgerpartei FIDESZ eine Außenpolitik herbei, die auf die Umsetzung der Autonomiebestrebungen abzielt. Zwischen beiden Herangehensweisen scheint es keine Synthese zu geben (Füzes 2005: 10). Es fehlt auch an einem klaren außenpolitischen Konzept, wodurch Ungarns außenpolitischer Spielraum noch mehr eingeschränkt wurde und damit Ungarns Fähigkeit, seine Interessen geltend zu machen (Németh 2005: 9). Unter Bedingungen der Abwesenheit eines außenpolitischen Konsenses haben sich auch die Bestrebungen verstärkt, aus außenpolitischen Fragen innenpolitisches Kapital zu schlagen. Die Veröffentlichung der geheimen diplomatischen Schriften aus der vorherigen Regierungszeit führte zu einer Vertrauenskrise. Auch wurden die Ergebnisse des sonst erfolgreichen Besuches des ungarischen Regierungschefs in Washington in Frage gestellt. Es wird viel diskutiert über eine offene und dienstleistungsorientierte Außenpolitik. Dies geschieht besonders im Hinblick auf einen verstärkten Dialog mit wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren, aber auch in Bezug auf Konsulartätigkeit, Rechtshilfe und Interessenschutz sowie die wirtschaftszentrierte Diplomatie. Die wirklichen Diskurse über Ungarns Außenpolitik und die außenpolitische Kultur fehlen jedoch, und das in einem
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Land, das historisch so sehr von seiner Außenwelt abhängig ist. Die Außenpolitik aber bräuchte Konsens und Besonnenheit und Innovationen. Literatur Európai Unió: Válságok és sikerek. Beszélgetés Baráth Etele uniós ügyekért felelıs tárca nélküli miniszterrel (Europäische Union: Krisen und Erfolge. Gespräch mit Etele Baráth Minister für europäische Angelegenheiten ohne Portefeuille) (2005) Európai Utas 2 58/59. Balázs Péter (2005): Európa elınye? (Vorteil Europas?) Népszabadság 2. Juli Balkankonferenz in Budapest Pester Llyod Nr.37-2005 www.pesterlloyd.net/Archiv/2005_37/Balkankonferenz_Budapest Benczes István (2005): Egy álvita margójára (Zur Randnotiz einer Pseudodiskussion) Népszabadság 4.November 2005 Bozóki András (2004): Lernprozess in Ungarn. Europäische Rundschau. 32. Jahrgang 2004/3 Bugajski, Janusz (2003): Hungarian-American Coalition. Hungary_ Politics, Polity, Priority Center for Strategic and International Studies Washington D.C., 5.Dezember 2003 www.csis.org./ee/Presentations Bugajski031205.pdf Európa-Program (2004) Csak együtt sikerülhet! (Nur gemeinsam kann es gelingen!) A FIDESZ – Magyar Polgári Szövetség. „Euro in Ungarn erst nach 2010?“ Frankfurt Allgemein Zeitung (2005) 2005. 11.Oktober www.faz.net/s/Rub99C3EECA6ö/Doc Füzes Oszkár (2005); Brávók (Bravos) Népszabadság 5.Oktober 2005. Füzes Oszkár (2005): (Reagierende Improvisierungen) Népszabadság 3.Dezember 2005 Siehe: Haftendorn, Helga, 2002: Das Ende der alten NATO (2002), in: Internationale Politik 57: 4, S. 49-54. Inteview mit Zsolt Németh, Vorsitzende des auswärtigen Ausschusses im ungarischen Parlament, Chef des außenpolitischen Kabinetts der Bürgerpartei FIDESZ „Tőzoltás helyett, aktív diplomácia“ („ Anselle von Feuerlöschen aktive Diplomatie“) Népszabadság 27.Dezember 2005 „Jövı választása. A FIDESZ-Magyar Polgári Párt Külpolitikai Programja 1998 (Wahl der Zukunft. Außenpolitisches Programm der FIDESZ-Ungarischen Bürgerpartei ) Katzenstein ,Peter.J.(1996): The Culture of National Sercurity.Norms and Identity in World Politics Columbia University Press New York Kiss, J. László (1993): Historischer Rahmen und Gegenwart ungarischer Außenpolitik. In :Osteuropa 43:6, S. 570. Kiss J. László (2000): Der Kosovo-Krieg und Ungarn In: Reuter,Jens/ Clewing, Konrad (2000): Der Kosovo Konflikt. Ursachen- Verlauf – Perspektiven Wieser Verlag Klagenfurt-Wien-Tuzla Kövér László / Németh Zsolt (2005): Válságban a hivatalos magyar nemzetpolitika (In Krise der offiziellen ungarischen Nationalpolitik („nemzetpolitika“) Magyar Nemzet 16. September 2005 Martonyi János (1993) : Európa válaszúton (Europa am Scheideweg) Magyar Szemle XII.No 11-12 Dezember S. 231 Matolcsy György (2005): Európai Unió: válság és megújulás (Europäische Union: Krise und Erneuerung) Magyar Nemzet 7. Juli Németh Bencze (2005/5): A magyar multinacionális cégek terjeszkedése és a Magyar külpolitika (Expansion der ungarischen multinationalen Firmen und die ungarische Außenpolitik) ZMNE Stratégiai Védelmi Kutatóközpont (Zrinyi Miklós Vertedigungsuniversität, Forschungszentrum für Strategie und Verteidigung) Póti László/Takács Judit (2005): The Case of the Schizophrenic Musterknabe: Comparing the Hungarian and the European Security Strategy www.bmlv.gv.at/wissenforschung/publikationen/beitrag.php? Id=1295
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Autorenverzeichnis Prof. Dr. Attila ÁGH
Corvinus Universität Budapest
Prof. Dr. Klaus BECKMANN
Universität der Bundeswehr Hamburg
Dr. Petra BENDEL
Universität Erlangen
Prof. Dr. Dieter BINGEN
Deutsches Polen-Institut Darmstadt
Prof. Dr. Ellen BOS
Andrássy-Universität Budapest
Dr. Jürgen DIERINGER
Andrássy-Universität Budapest
Dr. Antje HELMERICH
LMU München
Prof. Dr. Ulrich HUFELD
Andrássy-Universität Budapest
Dr. Martin GROSSE HÜTTMANN
Universität Tübingen
Prof. Dr. László J. KISS
Andrássy-Universität Budapest
Dr. Margarethe KLEIN
Universität Regensburg
Johannes KLEIS, M.A.
Graduate der Andrássy Universität
Kai-Sebastian MELZER, M.A.
Andrássy-Universität Budapest
Dr. Galina MIHALEVA
Universität Moskau
Prof. Dr. Margareta MOMMSEN
LMU München
Dr. Markus M. MÜLLER
Universität Erlangen
Prof. Dr. Gisela MÜLLER-
Universität Würzburg
BRANDECK-BOCQUET
Dr. Zoltán POGÁTSA
Universität Szombathely
Dr. Uwe PUETTER
Central European University Budapest
Dipl. Pol. Andrej STUCHLÍK
Andrássy Universität Budapest
Prof. Dr. Roland STURM
Universität Erlangen
Michaela WILLERT, M.A.
Freie Universität Berlin
Micha WIRTZ, M.A.
Andrássy-Universität Budapest