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Kate Morton
Die fernen Stunden
Roman
Au s d e m Eng lis ch en von Char lo tte Br euer und Norb er t Mö lleman n
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Kate Morton
Die fernen Stunden
Roman
Au s d e m Eng lis ch en von Char lo tte Br euer und Norb er t Mö lleman n
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Schsch! Hörst du ihn? Die Bäume hören ihn. Sie wissen als Erste, dass er kommt. Horch! Im tiefen , dunklen Wald erzittern die Bäume, ih re Blätter rascheln wie Silb erfolie, ein verstohlen er Wind geistert und schlängelt sich g litzernd durch ihre Kronen und flü stert, dass es bald an fangen wird . Die Bäume wissen es, denn sie sind alt u nd haben es schon vielmals erleb t.
Es ist Neumond.
Es ist Neumond, wenn der Modermann kommt. Die Nacht hat sich weiche Lederhandschuh e ü bergezogen und ein schwarzes Laken über dem Land au sg eb reitet, eine List, ein e Verk leid ung , ein Bann, damit alles in süßem Schlaf schlummert. Und urchd ring lich es Dunk el. Doch auch die Du nkelheit hat ih re Nuan cen , ih re Konturen. Schau: Der dichte Wald ist ein rau er Pelz, die Feld er sind eine Flickendecke, d as Wasser i m Schlossgraben glänzt wie Siru p. Und d ennoch . Wenn du nicht ganz großes Pech hast, siehst du nicht, dass sich etwas b eweg t hat, dort, wo sich nichts regen dürfte. Und du kan nst di ch g lück lich schätzen, d enn niemand, der gesehen h at, wie der Modermann sich erhebt, lebt lang e gen ug, u m später davon zu b erichten . Da - sieh st du? Der stille, schwarze Schlo ssg rab en, der sch lammig e Schlo ssg raben liegt nich t meh r spiegelglatt da. Eine Blase hat sich geb ild et, wo er am b reitesten ist, eine große Blase, ein leichtes Kräu seln rundheru m, eine Ah nun g... Aber du hast dich abgewende t! Und das war klug. Ein solcher Anblick ist nichts für deinesgleichen. Wenden wir unse3
re Aufmerksamkeit lieber dem Schloss zu, denn auch dort regt sich etwas. Ho ch ob en im Tu rm. Sch au hin, und du wirst es seh en. Ein kleines Mäd chen sch läg t seine Decke zu rück. Man hat es Stund en zuvor zu Bett gebracht; im Nebenzimmer sch narch t seine Kin derfrau leise, träu mt von Seife u nd Lilien und hoh en Gläsern mit war mer, frischer Milch. Aber irgendetwas hat das Mädchen geweckt. Vorsichtig setzt es sich au f, rutscht üb er d as saubere weiße Lak en, stellt die blassen, sch malen Füße auf den Holzboden. Kein Mond steh t am Himmel, den es an schauen od er der ihm Licht spenden könnte, und doch füh lt es sich zu m Fen ster hingezogen. Das b lasige Glas ist kalt; das Mädchen spü rt das Flirren der eisk alten Nachtluft, als es auf das halbhohe Bücherregal mit den au srangierten Kin derbüchern klettert, den Opfern seiner Ungeduld, erwach sen und flügge zu wer den. Es zieht das Nachth emd über d ie blassen Bein e und legt das Kinn in die Mulde, die sich zwischen den Knien bildet. Die Welt ist da draußen, Menschen bewegen sich darin wie Au fziehp uppen. Das alles will es sich demn ächst mit eigenen Augen an sehen. Zwar sind alle Tü ren in diesem Schloss mit schweren Schlössern und die Fen ster mit Rieg eln v erseh en, aber sie dienen dazu , d en do rt d rau ßen nicht hereinzulassen , nicht dazu, das Mädch en festzuhalten . Der do rt d rau ßen . Das Mädchen hat Gesch ich ten über ihn gehö rt. Er ist eine Geschichte. Er ist eine alte Legen de, u nd die Riegel und Schlösser sind Überreste einer Zeit, als die Menschen noch an solche Dinge glaubten. An Gerü chte über Un geheuer in Sch lo ssg räben, d ie auf der Lauer lagen, um Jagd auf schöne Jungfrauen zu machen . Über einen Mann, dem vor langer Zeit ein Unrecht g etan wu rd e und der immer und immer wieder auf Rache sinnt. Aber das kleine Mädchen - es wü rd e fin ster d reinblicken, wenn es wüsste, dass man es so bezeichnet - fü rchtet sich nicht mehr vor den Ungeheuern und Märchen seiner Kindheit. Es ist u n ruhig. Es ist ein Kind der mo dern en Zeit und
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es ist au ch nicht meh r klein und es will en dlich fo rt. Dieses Fen ster, diese Bu rg können ihm nichts mehr bieten, aber vo rerst mu ss es sich damit begnügen, und so schaut es niedergeschlagen hinau s. Da draußen, in der Fern e, im Tal zwischen den Hügeln, sinkt d as Do rf in den Sch laf. Ein du mp f ru mpelnder Zug , d er letzte an diesem Abend , künd igt seine Ank un ft an: ein ein samer Ru f, der unb ean two rtet bleibt. Der Bahnh o fswärter mit Schirmmü tze stolpert heraus, um die Kelle zu heben. Im nahe gelegenen Wald begutachtet ein Wild erer seine frisch erlegte Beu te un d träu mt davon , nach Hau se in s Bett zu ko mmen, während am Dorfrand, in einer Hü tte, wo die Farbe von den Wän den abb lättert, ein Neugebo renes wein t. Vollko mme n g ewöhnlich e Vo rkommn isse in einer Welt, wo alles einen Sinn ergibt. Wo ma n Ding e sieht, wenn sie d a sind , und Din ge, d ie nicht da sind, allenfalls vermisst. Eine ganz andere Welt als die, in der das Mäd chen erwacht ist. Denn do rt un ten , ganz n ahe bei dem Mäd chen , d as seinen Blick in die Ferne schweifen lässt, geschieht etwas. Der Graben hat angefang en zu atmen . Tief, tief unten i m Sch lamm schlägt das nasse Herz des begrabenen Mannes. Ein leises Geräu sch wie das Stöhnen d es Wind es steigt au s den Tiefen au f und v ib riert dicht über der Oberfläche. Das Mäd chen hört es, nein, es spü rt es, d enn die Fund amente des Schlosses sind eins mit dem Schlamm, und das Stöhn en dringt durch die Steine, d ie Mauern emp o r, Stock werk fü r Sto ck werk und u nmer klich du rch das Bü cherreg al, au f de m es sitzt. Ein ein st heiß g eliebtes Buch fällt u m, un d das Mädchen im Turm erschrickt. Der Modermann öffnet ein Auge. Versch lagen blickt es hin und her. Denkt er in diesem Au genblick an seine verlo rene Familie? An die hübsche, zierliche Frau und die beiden kleinen, wohlgen äh rten Kind er, die er zurückgelassen hat? Oder gehen seine Gedanken noch weiter zurück, zu den Tagen seiner Kindheit, als er mit seinem Bru der über d ie Wiesen , du rch das hoh e Gras lief? Oder denk t er v ielleicht an d ie an dere Frau , die ihn vo r sein em Tod liebte? An ih re Schmei cheleien und Aufmerksamk eiten, an ih re Weigerung , seine
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Weigerung hinzun eh men, was den Mo dermann am En d e alles geko stet hat ... Etwas veränd ert sich. Das Mädchen spürt es und fröstelt. Legt eine Hand an d ie eisige Fensterscheibe, wo sie auf dem feuchten Film einen sternförmigen Abdruck hinterlässt. Die Geisterstunde ist angeb ro chen , auch wenn das Mädchen nicht weiß, dass man sie so nennt. Jetzt ist niemand mehr da, der ih m h elfen kann . Der Zu g ist fort, der Wilddieb kusch elt sich an seine Frau, und selb st das Neu gebo ren e schläft un d hat es aufgegeben, der Welt mitzuteilen, was es weiß . Im Schloss ist nur das Mädchen am Fenster wach. Die Kinderfrau hat aufgehört zu schnarchen, und sie atmet so leicht, dass man meinen kön nte, sie sei erfro ren . Auch die Vög el im Wald sind still, sie haben die Köpfchen unter die zitternden Flü gel gesteckt u nd die Augen zu dü nnen , g rau en Linien g eschlossen, um nicht sehen zu müssen, was sich da nähert. Nu r das Mädchen ist wach. Und der Mann, der im Schlam m erwacht ist. Sein Herz pu mp t jetzt schneller, denn seine Zeit ist gekommen, und sie ist kurz bemessen . Er bewegt seine Hand - und Fu ßgelenke und steigt au s seinem sch lammig en Bett. Sieh nich t hin. In Gottes Namen , schau dir nicht an , wie er du rch die Ob erfläche b richt, wie er au s dem Graben steigt, wie er sich auf d em sch warzen, nassen Ufer au frichtet, die Arme streckt und Lu ft holt. Wie er sich erinnert, wie es sich an fühlt zu atmen, zu lieb en, zu leiden. Sch au dir lieber die Gewitterwolken an. Selbst in der Dun kelheit kann st du sie ko mmen sehen. Wütende, wie Fäuste geballte Wolken , die sich übereinanderwälzen und miteinander ringen, b is sie sich direkt üb er d em Tu rm v ereinen. Bringt d er Mo dermann das Ge witter oder das Gewitter den Mo dermann? Nieman d weiß es. In sein em Zimmer neigt das Mädchen den Kopf, als die ersten, zögernden Tropfen gegen die Fensterscheibe un d seine Hand klatsch en. Es war ein schöner Tag, nich t zu heiß, der Abend war kühl. Nichts d eutete au f mitternäch tlichen Reg en hin. Am n ächsten Morgen we rd en die Leute sich über d ie feuchte Erde wundern, sie werden sich am K op f k ratzen, ei-
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nander anlächeln und sagen: Das ist ja ein Ding ! Und wir sind nicht einmal wach gewo rd en ! Ab er sieh nu r! Was ist d as? Eine unförmige Gestalt klettert an der Tu rmmauer hoch. Sie klettert schn ell und g eschickt, wie es eigentlich unmöglich ist. So ein Kunststück kann doch k ein Mensch vollb ringen ! Die Gestalt erreicht das Fenster des Mädch ens. Zwei Augen vor seinen Augen. Das Mädchen sieht sie du rch das blasige Glas, du rch den Reg en, d er jetzt in Strö men fällt, sieht ein schlammb edecktes, ab scheuliches Geschöpf. Das Mädchen öffn et den Mu nd, um zu schreien, um Hilfe zu rufen, ab er genau in diesem Mo ment verwandelt sich d ie Szene. Er v erwandelt sich. Durch die Schlammschichten, durch Ge nerationen vo n Fin stern is und Wut und Trauer sieht das Mädchen das menschliche Gesicht. Das Gesicht eines ju ngen Mannes. Ein vergessenes Gesicht. Ein Gesicht voller Sehnsuch t und Trau rig keit und Schönheit. Und ohne nachzudenken öffnet es das Fenster. Um ihn einzulassen, damit er vor dem Regen geschützt ist. Raymond Blythe, Die wahre Geschichte vom Modermann, Prolog
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Teil eins Ein verlorener Brief findet seinen Bestimmungsort 1992 Es b egann mit einem Brief. Ein Brief, der lan ge v erschollen war, der ein h albes Jah rh undert überd auert h atte, heiß e Sommer und kalte Winter, in einem vergessenen Po stbeutel auf d em dämmrigen Dachbod en ein es un schein baren Hau ses in Bermondsey. Ich mu ss man ch mal d aran denk en, an diesen Po stb eutel, an die Hund erte von Liebesb riefen , Leb ens mittelrechnungen , Gebu rtstagsk arten, Kinderbriefen an die Eltern, d ie do rt b eieinand erlag en, bebten und seu fzten , währen d ih re nie angeko mmen en Botsch aften im Du nkeln flü sterten. Wie sie darauf warteten und warteten , dass jeman d sie fand . Denn es heißt, dass ein Brief immer einen Leser sucht, dass Worte, ob es einem gefällt oder nicht, es an sich haben , d en Weg an s Licht zu finden, ihre Geheimnisse preiszu geben. Aber ich werde sentimen tal - eine Ang ewohnh eit au s der Zeit, als ich mit einer Taschenlamp e Ro mane au s dem neun zehnten Jahrhundert las, wäh rend meine Eltern glau bten , ich sch liefe. Eigentlich wollte ich sagen : Merk würdig - h ätte Arthur Tyrell an jenem Heilig abend 1 9 4 1 nicht einen od er zwei Grog zu viel getrunk en un d wäre er nich t nach Hau se gegang en und b etrunken eingeschlafen, anstatt d ie Po st au szutrag en, hätte der Postb eutel nicht all die Jah re unbemerk t auf seinem Dachboden g eleg en, bis Arthur Tyrell fün fzig Jah re später starb und eine seiner Töch ter den Beutel fan d und bei der Daily Mail anrief, dann wäre vielleicht alles ganz an ders geko mmen . Für meine Mutter, für mich und vor alle m fü r Ju niper Blyth e. In allen Zeitung en und in den Fern sehnach richten wu rd e darüber berichtet. Channel 4 h at sog ar ein e Sondersendung g eb racht, in der einig e der Emp fänger über ihren Brief sprechen sollten, über die Stimme aus der Vergangenheit, die so unerwartet zu ihnen sprach. Da war eine Frau , d eren Verlo b-
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ter damals bei der Royal Air Fo rce g ewe sen war, und dann dieser Mann mit der Gebu rtstagskarte von seinem So hn, d er ev akuiert wo rd en und eine Woche später von einem Bo mbensplitter getötet wo rden war. Es war ein e gute Sen dung , fand ich - teilweise sehr rührend, mit manchmal ku riosen, manchmal trau rigen Geschichten, das Ganze an gereichert mit Originalaufnahmen aus dem Krieg. Ein paarmal mu sste ich sogar weinen, was allerd ing s nicht viel heißen will, denn ich habe ziemlich nah am Wasser gebau t. Meine Mutter hat b ei der Sendung nicht mitgemacht. Man hatte sie ang eru fen und gefragt, ob in ih rem Brief etwas stand, was sie gern mitteilen wollte, aber sie hatte Nein gesag t, es habe sich nu r u m ein e gan z gewöhnlich e Bestellbestätigung von einem Bekleidungsgeschäft geh andelt, das es läng st nicht meh r g ebe. Aber das stimmte nicht. Das weiß ich, weil ich zu fällig da war, als der Brief kam. Ich habe ihre Reaktion auf den Brief miterl ebt, und die war alles and ere als gewöhnlich. Es war an einem Morgen Ende Februar, der Winter mach te un s no ch o rdentlich zu schaffen, die Blumenbeete waren gefroren, und ich war gek o mmen , um meiner Mutter bei der Zubereitung des Sonntagsmahls zu helfen . Ich mache das hin und wieder, weil meine Eltern sich darüber freuen - obwohl es fü r g ewöhn lich Hühn chen g ibt und ich Vegetarierin bin und genau weiß, dass mein e Mu tter irgend wan n im Lauf der Mahlzeit ein so rg envolles Gesicht aufsetzt, bis sie es nicht meh r aushalten kann und an fän gt, mir Vo rträg e über Pro teinmangel und Anämi e zu halten . Ich stand gerade an der Spüle und schälte Kartoffeln , als der Brief du rch den Sch litz in der Haustür fiel. No rmalerweise ko mmt so nntags kein e Po st, und das hätte u ns gleich au ffallen sollen , aber das tat es nicht. Ich selbst war viel zu sehr damit beschäftigt, mir zu überlegen , wie ich mein en Eltern beibringen sollte, dass Jamie und ich un s getrennt h at ten. Seitd em waren schon zwei Mo nate vergangen , und irgendwann würde ich ihn en reinen Wein einschenken mü ssen, ab er je länger ich es vor mir herschob, desto schwerer fiel es mir. Un d ich h atte meine Gründe, waru m ich n ich ts sag te: Meine Eltern waren Jamie g egenüb er von An fang an skep -
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tisch gewesen. Außerdem k ö nnen sie nicht gut mit Problemen u mgehen, und mein e Mutter würd e sich no ch mehr Sorgen machen , wenn sie hörte, dass ich jetzt allein in unserer Wohnung lebte. Aber vo r allem f ü rchtete ich mich vo r d em un au sweichlichen, pein lichen Gesp räch, das au f meine Eröffnung folgen würde. Zu sehen, wie sich im Ge sicht meiner Mutter zuerst Verwund erung, d ann En tgeisterun g und schließlich Resignation sp ieg eln wü rd e, wenn sie feststellte, dass von ihr als Mutter jetzt irgend eine Art von Tro st erwartet würde ... Aber zurück zu dem Brief. Das Geräusch von etwas, das du rch den Briefschlitz geschob en wurde und leise zu Boden fiel. »Edie, kannst du mal nach sehen? «, sagte meine Mutter. Sie d eutete mit ein er Kin nbewegung in Richtung Flu r und gestikulierte mit der Hand, die sich nich t im Innern des Hüh nchens befand . Ich legte die Kartoffel weg, wischte mir die Hände an einem Geschirrtuch ab und ging d ie Post holen. Es war nur ein einzelner Brief, der au f der Fußmatte lag: ein offizieller U mschlag der Post, dessen In halt als »Nachsend ung « dek lariert wurde. Ich las mein er Mutter die Aufschrift vor, als ich in die Kü che kam. Sie h atte das Hühnchen fertig g efüllt und war g erad e d abei, sich die Hände abzutrocknen. Stirn runzelnd , eh er aus Gewoh nheit als au s Beso rgnis, nahm sie den Brief entgegen und klaubte ih re Leseb rille von d em Kü rb is in d er Ob stsch ale. Sie b etrachtete den Po stau fd ruck und beg ann , d en äußeren U mschlag zu öffnen. Ich hatte mich wieder dem Kartoffelschälen zugewandt, ei ne Aufgabe, die mir im Mo ment d ring licher erschien , als meine Mu tter beim Öffnen der Post zu beobachten, deswegen habe ich leider ihr Gesicht nicht gesehen , als sie d en kleineren Umschlag hervorzog , das dünn e Notp apier sah und die alte Briefmarke, als sie den Brief umdreh te und den Absender auf der Rückseite las. Aber seitdem habe ich mir oft vorgestellt, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich, wie ih re Finger zu zittern beg annen, sod ass es meh rere Min uten dauerte, ehe sie in der Lage war, den Umschlag au fzureißen .
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Was ich mi r nich t vo rzu stellen brau che, ist das Geräu sch . Das entsetzte, kehlige Keuch en, gefolgt von heisere m Sch luchzen, das so p lötzlich k am, dass mir das Schälmesser ab rutschte und in den Fin ger schnitt. »Mu m? « Ich ging zu ih r und legte ih r ein en Arm u m die Schultern, wobei ich darauf achtete, dass kein Blut auf ih r Kleid trop fte. Aber sie sag te nichts. Sie konn te es nicht, erzählte sie mir sp äter, nicht in diesem Au g enb lick . Sie stand stocksteif da, und Trän en lie fen ih r über die Wangen , wäh rend sie sich den Umschlag an die Brust drückte, einen seltsamen kleinen Umsch lag aus so dünn em Papier, d ass ich den gefalteten Brief d arin erkennen kon nte. Dann , n achd em sie ein paar wirre Anweisung en zu dem Hü h nchen, dem Ofen und den Kartoffeln erteilt hatte, gin g sie n ach oben un d versch wand in ih rem Sch lafzimmer. In der Küche wurde es bedrückend still, nachdem meine Mu tter fo rt war, und ich schlich nur noch auf Zehenspitzen herum. Meine Mutter weint nicht leicht, aber dieser Augen blick - ih r Sch reck und der Schock , den er bei mir au slö ste kam mir vage bekannt vo r, als hätte ich dasselbe schon ein mal erlebt. Nach ein er Viertelstunde, in de r ich d ie Karto ffeln zu End e geschält hatte, d ie Mög lich keiten du rchgegan gen war, wer der Absender des Briefs sein kö nnte, und mi ch gefragt hatte, wie ich mich v erhalten sollte, klopfte ich schließlich an ihre Tür und fragte sie, ob sie eine Tasse Tee wolle. Sie hatte in zwischen die Fassu ng wiedergewonnen, und wir setzten uns einand er g egenüber an den kleinen Resopaltisch in der Küch e. Während ich so tat, als wü rde ich nicht bemerken , dass sie geweint hatte, beg ann sie zu sprechen . »Ein Brief«, sagte sie, »von jeman dem, d en ich vo r lang er Zeit mal gek annt habe. Als ich zwölf, d reizeh n Jahre alt war.« Ein Bild fiel mir ein, an das ich mich dunkel erin nerte, ein Foto, das au f d em Nach ttisch mein er Groß mutter gestanden hatte, als sie im Sterben lag . Drei Kin der, das jüng ste mein e Mu tter, ein Mäd chen mit ku rzem, du nklen Haar, das im Vo rderg rund auf etwas hock te. Seltsam, ich hatte Gott weiß wie o ft am Bett meiner Groß mu tter gesessen und ko nnte mich
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do ch nich t an d as Gesicht des Mädchen s erinnern. Vielleicht in teressieren sich Kinder ja erst dan n d afü r, wer ih re Eltern vo r ih rer Gebu rt waren , wenn etwas passiert, das mit der Verg angenheit zu tun hat. Ich trank meinen Tee und wartete darau f, dass meine Mutter fo rtfuhr. »Ich glaube, ich habe dir nicht viel über diese Zeit erzäh lt, nicht wahr? Über die Zeit im Krieg, im Zweiten Weltk rieg. Es war eine sch recklich e Zeit, all die Au freg ung u nd d ie Zerstörung . Es schien ...« Sie seufzte. »Na ja, es schien , als würd e die Welt nie wieder normal werden. Als wäre sie aus dem Gleichgewicht ge raten und n ich ts k önnte sie wieder in s Lot b rin gen.« Sie legte ih re Händ e u m ih re damp fen de Tasse und sch aute hinein. »Meine Familie - Mum, Dad, Rita, Ed und ich -, wir wohnten in einem kleinen Reih enhaus in der Barlow Street, im Stadtteil Elephan t and Castle, und am Tag nach dem d er Krieg au sgeb rochen war, wu rd en wir Kinder in Sch ulen g esammelt, zu m Bahnhof gebracht und in d en Zug g esetzt. Das werd e ich nie vergessen, wie wir in Reih und Glied zu m Bahnho f marschierten, mit Namen sschildern un d Gasmask en und unseren Taschen, und wie d ie Mütter, denen es nicht geheuer war, dass wir fortgeschickt wurden , die Straße herun tergerannt kamen und dem Wachman n zu riefen , er solle ih re Kin der freilassen , und wie sie dann den älteren Gesch wistern zu riefen , sie sollten auf die jüngeren achtgeben und sie nicht au s den Augen lassen.« Eine Weile kaute sie au f ih rer Unterlip pe, während sie d as alles in ih rer Erinnerung noch einmal du rchlebte. »Du hast bestimmt g roß e An gst gehabt«, sagte ich . In unserer Familie berührte man sich nie viel, so nst hätte ich vielleich t ihre Hand g enommen . »Anfangs ja.« Sie blick te au f und schau te mich an , dann nah m sie die Brille ab und rieb sich die Augen. Ohne ihre Brille wirkte sie v erletzlich, ungeschützt, wie ein kleines, nachtaktives Tier, das vom Tageslicht verwirrt ist. Ich war froh , als sie d ie Brille wieder aufsetzte und fortfuhr. »Ich war noch nie von zu Hause weg gewesen, hatte noch nie eine Nacht getrennt von mein er Mutter v erb rach t. Ab er meine älteren Geschwister waren ja bei mir, und als wir im Zug sa -
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ßen und eine der Lehrerinnen Sch okoladenriegel verteilte, wu rd e d ie Stimmu n g gelö ster, und wir kamen un s beinah e vo r wie au f einer Abenteuerreise. Kannst du dir d as v o rstellen? Es war Krieg, aber wir sangen Lieder und aßen Birnen aus Dosen und spielten >Ich seh e was, was du n icht sieh st<. Kinder sind sehr belastbar, man che reg elrecht gefühllo s. Irgend wann kamen wir in einer Stadt namens Cranbrook an. Dort wurden wir in kleineren Grupp en auf Busse verteilt. Der Bu s, in dem meine Geschwister und ich saßen, brachte un s zu einem Do rf n amens Milderhurst, wo wir in Zweierreihen zu einem Haus mit einem großen Saal marschierten. Ein paar Frau en au s dem Dorf erwarteten uns bereits mit einem eingefrorenen Lächeln u nd mit Listen in der Hand . Wir mussten uns in Reihen au fstellen, wäh rend die Leu te umh erliefen und ihre Wahl trafen. Die Kleinen gingen schnell weg, vor allem die hüb schen. Ich neh me an , die Leute d achten, dass sie mit denen weniger Arbeit h aben wü rd en, dass sie nicht so stark den Geruch von London an sich h ätten.« Sie läch elte schief. »Die hab en ih ren Irrtu m schn ell eingesehen . Mein Bruder wu rde gleich zu Anfang ausgewählt. Er war groß und kräftig für sein Alter, und die Bauern b rauchten dringend Helfer. Kurz darau f wurde Rita zusammen mit ihrer Schulfreundin mitgeno mmen .« Ich konnte nicht meh r an mich halten . Ich nah m d ie Hand meiner Mutter. »Ach , Mu m.« »Schon gut«, sagte sie, zog ihre Hand weg und gab mir einen Klap s au f die Finger. »Ich war nicht d ie Letzte. Es waren noch andere da. Zum Beispi el ein kleiner Jung e mit fürchterlichem Hautau sschlag. Ich weiß nicht, was aus ihm gewo rd en ist, aber er stan d immer noch in dem Saal, als ich ging. Weißt du, später habe ich noch jahrelang angeschlagenes Obst gekauft, wenn ich es im Geschäft in die Hand genommen h atte. Ich k onnte mich nicht dazu überwinden, es erst von allen Seiten zu prü fen und dan n wied er zu rü ckzu legen, wenn ich sah, dass es Stellen h atte.« »Ab er irg end wann wurdest du mitg eno mmen .«
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»Ja, irgendwann wu rde ich mitg eno mmen .« Sie sp rach plötzlich ganz leise und nestelte an etwas in ihrem Schoß herum. »Sie kam ziemlich spät. Der Saal war schon fast leer, die meisten Kind er waren fo rt, und d ie freiwillig en Helferinnen waren schon dabei, die Teetassen wegzuräu men. Ich hatte angefangen zu weinen , aber so, dass es niemand merk te. Dann plötzlich rausch te sie herein, un d der g anze Saal, selbst die Luft wirk te wie v erwandelt.« »Verwand elt? « Ich zo g die Nase krau s un d dach te an d iese Szene in Carrie, wo d ie Elek trik exp lod iert. »Es ist schwer zu erklären. Hast du es schon mal erleb t, dass jemand so fo rt eine bestimmte At mo sph äre v erbreitet, woh in er auch ko mmt? « Vielleich t. Ich ho b d ie Schu ltern . Meine Freund in Sarah ist eine Frau, nach d er sich alle umdrehen, wenn sie auftaucht, nicht u nbedingt ein atmosphärisch es Phänomen , ab er den no ch ... »Nein, natürlich kenn st du das n ich t. Es k ling t ja auch albern ... Was ich meine, ist, dass sie anders war, so ... Ach, ich weiß nich t. Ein fach anders. Sch ön auf eigenartige Weise, langes Haar, g roße Aug en, mit denen sie sich wild umsah. Ab er nicht nur das mach te sie au ffällig . Sie war damals erst siebzeh n, im Sep temb er 1 9 3 9 , aber die anderen Frauen wirkten wie eingeschüch tert.« »Ehrfu rchtsvoll? « »Ja, ich glau be, so kann man es sagen, ehrfurchtsvoll. Sie waren überrascht, sie zu sehen , und unsicher, wie sie sich verh alten sollten. Irg endwann hat eine der Frauen ihre Sprach e wiedergefunden und gefragt, o b sie behilflich sein k ön ne, aber die junge Frau wedelte nur mit ih ren langen Fingern und sagte, sie sei geko mmen , u m ih re Evak uierte ab zuholen. Genau das hat sie gesag t — nicht eine Evaku ierte, sondern ihre Evakuierte. Ich saß au f dem Boden, und sie ist direkt auf mich zugekommen. >Wie h eißt du? <, wo llte sie wissen , u nd als ich ih r mein en Namen nannte, hat sie mich angelächelt und gemeint, ich mü sste doch bestimmt müde sein nach der langen Fahrt. >Möchtest du gern mitko mmen un d b ei mir wohnen?<, fragte sie dann, und ich habe genick t, das nehme ich jed enfalls an, denn d arau fhin hat sie sich zu der Frau
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umgedreht, die vorher so resolu t au fg etreten war, der mit der Liste, und hat ihr erklärt, si e wü rde mich mi tn eh men .« »Wie hieß sie? « »Blyth e«, sagte meine Mu tter, einen kaum wahrnehmbaren Sch auder unterd rück end. »Juniper Blythe.« »Un d d er Brief war von ihr? « Meine Mutter nickte. »Sie hat mich zu ih rem Auto geführt, einem Luxusgefäh rt, wie ich es no ch nie geseh en hatte, und ist mit mir zu dem Ha us gefahren, wo sie zusammen mit ih ren beiden älteren Schwestern lebte, Zwillingen. Es ging du rch ein schmiedeeisern es To r über eine gewundene Zu fahrt zu einem riesigen, präch tig en Bau, der sich mitten in einem Wald befand . Schloss Milderhurst.« Es war ein Na me wie au s einem Schau erroman , un d mich befiel ein leichtes Frö steln bei der Erinn erung an das Schluchzen meiner Mutter, als sie den Namen d er Frau au f der Rückseite des Briefs gelese n hatte. Ich hatte schon alle möglichen Geschichten über evaku ierte Kind er u nd merk wü rd ige Vorfälle g ehö rt, und ich fragte mit tonloser Stimme: »War es unheimlich? « »Nein, überhaupt nich t. Kein bissch en unheimlich. Ganz i m Gegenteil.« »Aber der Brief - du hast doch ...« »Ich war einfach überrascht, mehr nicht. Eine Erinnerung an eine Zeit, d ie ich läng st verg essen hatte.« Sie schwieg. Ich dachte darü ber nach, wie einschneiden d die Evakuierung gewesen war, wie ang stein flö ßend und v erwirrend es für sie als Kind gewesen sein mu sste, an einen unbekannten Ort geschickt zu werd en, wo alles and ers war als zu Hause. Meine eigen en Kindh eitserinnerungen waren mir noch sehr präsent, der Schrecken, den es bedeutet hatte, wenn man sich vorüberg ehen d in ein er fremd en Umg eb ung befand, an die verzweifelten Bindung en, d ie man no tgedrun gen einging - an Gebäu de, an verstän dnisvolle Erwachsen e, an Freunde -, u m d ie Zeit zu überstehen. Der Gedanke an die Freundschaften brachte mich auf eine Id ee: »Bist du nach dem Krieg jemals wieder hingefahren, Mu m? Nach Milderhurst? «
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Sie blickte erschrocken au f. »Natürlich nicht. Waru m hätte ich das tun sollen?« »Ich weiß nicht. Um zu seh en, was sich verändert hatte, u m die Leute wiederzusehen . Deine Freu ndin zu besu chen .« »Nein «, erwid erte sie mit Bestimmth eit. »Ich hatte mein e eigen e Familie hier in London, mein e Mutter b rauchte mich. Außerdem hatten wir viel zu tun, die Au fräumarbeiten nach dem Krieg ... Das Leb en ist weiterg egan gen .« Und damit senkte sich der vertraute Sch leier wieder zwischen u ns, und ich wu sste, dass das Gespräch vorbei war. A m En de gab es doch kein fe stliches Sonntag smahl. Mein e Mu tter meinte, ihr sei nicht danach, und fragte, ob es mi r etwas au smachen würde, wenn wir das Hühnchen diesmal ausfallen ließen. Es schien mir lieblos, sie daran zu erin nern, d ass ich sowieso kein Fleisch esse und eig entlich nu r gekommen war, um mein e To chterp flichten zu erfüllen . Also erklärte ich mich einverstanden und riet ih r, sich ein bissch en hin zulegen . Gute Idee, sagte sie, und wäh rend ich mein e Sachen zu sammenpackte, war sie bereits dabei, zwei Aspirin zu sch luck en, und ermahnte mich , meine Mütze aufzu setzen b ei dem k alten Wind. Mein Vater hat die ganze Angelegenheit versch lafen. Er ist älter als meine Mutter und seit einig en Monaten in Ren te. Das Rentnerleben beko mmt ih m nicht. Währen d der Woche streift er durchs Haus au f der Such e nach Din gen , d ie rep ariert werden mü ssen, und treibt mein e Mutter in den Wahn sinn , und die Sonn tage verbringt er in seinem Sessel. Das gottgegebene Recht des Hausherrn, erklärt er jedem, der es hören will. Ich gab ihm einen Kuss au f die Wang e und ging du rch die eisige Kälte zu r U-Bahn , mü de und do ch aufgewühlt und ein bissch en nied ergeschlagen bei dem Gedanken, allein in die hö llisch teu re Woh nung zu rück zuk eh ren , die ich b is vo r Ku rzem mi t Jamie geteilt h atte. Erst irgend wo zwisch en Kensingto n High Street und Notting Hill Gate fiel mir au f, dass meine Mutter mir g ar nicht gesagt hatte, was in de m Brief stand.
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Eine Erinnerung bringt Klarheit Während ich dies niederschreibe, bin ich ein bisschen von mir selb st en ttäuscht. Ab er h interher ist man immer k lüger, und jetzt, wo ich weiß , was es zu finden gab, frage ich mich natürlich, warum ich mich nicht gleich auf d ie Su che gemacht habe. Und ich bin nicht ganz du mm. Meine Mu tter und ich trafen un s ein paar Tage sp äter zu m Tee. Auch d iesmal traute ich mich nich t, ih r v on den Veränderung en in meinem Leben zu erzählen, aber ich habe sie wenigstens nach dem In halt d es Briefs gefrag t. Sie wink te ab und sagte, es sei nichts v on Bedeu tung gewesen , nu r ein knapp er Gruß ; d ass ih re Reaktion allein der Überraschung geschuldet war. Da wusste ich noch nicht, dass mein e Mutter eine gute Lügnerin ist, sonst hätte ich ihre Wo rte angezweifelt, hätte n achgehakt od er gen auer au f ih re Kö rp ersprach e geach tet. Aber so etwas macht man halt nicht. Instinktiv neigt man dazu zu glauben, was die Leute einem sag en, vo r allem in der Familie, bei Menschen, die man gut k ennt, denen man vertraut. Zumin dest ging es mir so. Bis dahin jedenfalls. Und so vergaß ich d as alles: Milderhu rst und die Ev akuierung meiner Mu tter und sogar den eigenartigen Umstand, dass sie mir vorher noch nie davon erzählt hatte. Es ließ sich leicht erklären, wie die meisten Din ge, wenn man sich Mü he gibt: Mein e Mutter und ich kamen gut miteinander au s, aber wir h atten un s n ie sehr nahgestanden und waren nich t unb edingt erpicht darauf, un s vertraulich über die Vergangenheit au szutauschen. Über die Gegen wart üb rig en s au ch nich t. Erst recht nicht üb er d ie Zukunft. Anscheinend war die Evakuierung für meine Mutter eine angeneh me, aber unb edeu ten de Erfah rung gewesen , und so gab es keinen Grund, mir davon zu erzählen. Ich erzähle ih r weiß Gott auch nicht alles. Schwerer zu erklären war das seltsame und zu gleich heftig e Gefühl, das ihre Reaktio n au f d en Brief in mir au slö ste, die unerklärliche Gewissheit, d ass es da eine Erinnerung gab , die ich einfach nicht zu fassen bekam. Etwas, das ich gesehen oder gehört und dann v ergessen h atte und das jetzt du rch die d unklen Windun gen meines Gehirn s g eisterte, oh ne ir17
gendwo zu verharren, sodass ich es h ätte benennen k önnen. Und so zerbrach ich mir den Kopf, ob vielleicht vo r Jahren, irgendwann ein mal ein Brief eingetro ffen war, der sie auch zu m Weinen g eb racht hatte. Aber es war zwecklos, das verschwomme ne Bild wurde nicht scharf, und schließlich sagte ich mir, dass wah rscheinlich meine Fantasie mit mir durchging, meine blüh ende Fantasie, von der me in e Eltern scho n immer g esagt h atten, sie wü rd e mich no ch ein es Tages in Sch wierigkeiten b rin gen , wenn ich nicht au fpasste. Zudem drückten mich ganz andere, größ ere Sorgen. Nämlich die Frage, wo ich wohnen würde, wenn die Miete für die Wohnu ng fällig werden wü rd e. Die Mietvorau szahlu ng fü r sechs Monate war Jamies Abschied sgeschenk g ewesen , eine Art Wiedergutmachung fü r sein miserables Verh alten. Ab er im Ju ni war Sch luss. Ich h atte in den Zeitungen und in den Schaufen stern von Immobilienbü ro s nach Ein-ZimmerAp artments gesu cht, aber bei meinem bescheidenen Gehalt erwies es sich als äußerst sch wierig , etwas zu finden , das halb weg s in der Nähe mein es Arbeitsplatzes lag. Ich arbeite als Lek to rin b ei Billing & Bro wn , einer kleinen Verlag sd ruck erei in Notting Hill, die Herbert Billing un d Michael Brown Ende der Vierzigerjah re geg rün det h atten, um ihre eigenen Theaterstücke und Gedichte herauszubringen. Ich glaube, anfang s geno ss der Verlag hoh es An sehen, ab er seit der Markt zunehmend von den Großv erlagen beherrscht wird und das Interesse der Leser an Nischentiteln immer meh r zu rückg eht, d ru cken wir nu r noch Sachen, die wir un ter un s wohlwollend als »Spezialität des Hau ses« od er weniger wohlwollend als »Machwerk« bezeichnen. Mr. Billing - Herbert - ist mein Chef, und er ist außerd e m mein Mentor und mein bester Freu nd. Ich habe n icht viele Freunde, jedenfalls nich t von der leb enden, atmenden So rte. Das heißt nicht, d ass ich traurig und einsam bin, ich gehöre einfach nicht zu den Menschen, die gern eine Menge Leute um sich h aben. Ich k ann mich gut mit Wo rten au sd rü cken, allerd ing s nicht mit gesprochen en , und ich h abe schon o ft gedach t, wie wun derbar es doch wäre, wenn ich Beziehung en au f dem Papier füh ren kö nnte. In gewisser Weise tue ich das sogar, denn ich habe zig Freun de der anderen So rte, Freund e
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zwischen Buchd eckeln, au f Hund erten von Seiten, gefüllt mit g roßartig en Geschichten, die nie ihre Faszination für mich verlieren, die mich an die Hand nehmen und in Welten von abgrundtiefem Sch recken oder überwältig ender Freu de führen. Faszinierende, verehrung swü rd ige, treu e Wegbegleiter - ein ige davo n vo ller Weish eit -, die mir ab er leid er kein Gästezimmer fü r einen oder zwei Mo nate an bieten könn en . Denn ob wohl ich k eine Erfahrung mit Trennungen hatte Jamie war der erste Freu nd, mit dem ich mir eine Zukunft hatte vorstellen können —, war mir irgend wie klar, dass dies der Mo ment war, in dem man Fr eu nde u m e in e Gefälligk eit bat. Weswegen ich mich an Sarah wand te. Wir waren Nach barskinder und sind zusammen aufgewach sen, und Sarah flü chtete immer zu uns, wenn ihre vier jüngeren Geschwister sich in kleine Monster verwandelten. Es schmeichelte mir, dass ein Mädchen wie Sarah un ser biederes Reihenhaus als Zufluchtsort erwählte, und wir blieb en b este Freund innen während der ganzen Schulzeit, bis Sarah mal wied er beim Rauchen hinter den Toiletten erwischt wu rde u nd den Math ematikunterricht gegen ein e Ausbildung zur Ko smetikerin eintauschte. Inzwischen arbeitet sie freiberuflich für Zeitsch riften und beim Film. Ich freute mich für sie, dass sie solchen Erfolg hatte, aber leider bed eutete das auch, dass sie in der Stunde mein er Not gerade in Hollywood weilte, wo sie Sch au spieler in Zo mb ies v erwandelte, und ih re Wohnun g samt Gästezimmer an einen österreichischen Architekten untervermietet hatte. Eine Zeit lang war ich seh r b eun ruh igt und malte mir d etailreich ein Leben als Obd achlose aus, bis Mr. Billing Herb ert - mir, wie ein ech ter Kavalier, das Sofa in seiner kleinen Wohnung über dem Verlag anbo t. »Nach allem, was du fü r mich getan hast? «, rief er au s, als ich ihn fragte, ob er sich auch ganz sich er sei. »Du hast mich vo m Bod en au fgelesen ! Du h ast mich gerettet!« Er übertrieb. Ich habe ihn nie am Boden liegend vorgefunden, aber ich wu sste, was er meinte. Ich war schon seit ein paar Jahren im Verlag und war g erad e d abei, mich nach einer etwas an spruchsvolleren Stelle umzu sehen, als Mr. Bro wn starb. Der Tod sein es Partners war ein solcher Schick sals-
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schlag fü r Mr. Billing, dass ich ihn in dem Mo ment unmöglich alleinlassen konnte. Er h atte nieman den außer sein e m verfressenen , üb ergewichtigen Hund, und auch wenn er nie darüber gespro chen hat, so wu rd e mir d och du rch das Au smaß und die In tensität sein er Trauer klar, dass Mr. Brown und er mehr als Geschäftspartner gewesen waren. Er aß nichts mehr, wu sch sich nich t meh r und betrank sich , als eingefleischter Ab stinen zler, eines Mo rgen s mit Gin . Mir blieb eigentlich keine Wahl: Ich beg ann fü r ihn zu ko chen, konfiszierte den Gin, und wenn wir in die roten Zahlen gerieten und ich se in Interesse nicht wecken konn te, üb ernah m ich es, Klinken zu pu tzen, um uns Aufträge zu besorgen. Seitdem drucken wir Pro spekte für ortsansässige Unterneh men. Als Mr. Billing davon erfuh r, war er so g lücklich, dass er meinen Einsatz reichlich überbewertete. Er fing an, mich als sein en Pro tegé zu bezeichnen und sprach auf einmal wieder voller Zuv ersich t übe r die Zuku n ft von Billing & Bro wn, darüb er, wie er und ich den Verlag zu Eh ren von Mr. Brown wieder auf die Beine stellen wü rden. Seine Augen begannen wieder zu leuchten, und ich schob mein e Suche nach ein em anderen Job vo rerst au f. Und seitd em sind acht Jahre vergangen. Was Sarah ziemlich amüsiert. Es ist schwierig, jemandem wie Sarah, einer kreativen, klugen Frau, die au ssch ließ lich nach ih ren eigenen Beding ungen arbeitet, zu erklären , d ass and ere Mensch en andere Kriterien für ih r Wohlbe finden im Leben haben. Ich arb eite mit Menschen zusammen , die ich bewundere, ich verdien e g enug Geld, um mein en Lebensu nterhalt zu b estreiten (wenn auch nicht in einer Drei-Zimmer- Wohnung in Notting Hill), ich verb ringe meine Tage damit, mit Wö rtern und Sätzen zu spielen , u nd helfe dadu rch anderen Leuten, ih re Ideen zum Ausdruck zu b ring en und sich den Trau m zu erfü llen, ein gedrucktes Buch zu veröffentlichen. Außerdem i st es nicht so , d ass ich keine Au fstiegsch ancen h ätte. Erst im vergangenen Jahr hat Herbert mich zur stellvertretenden Verlag sleiterin befö rdert - au ch wen n wir zwei die einzigen Vollzeitkräfte im Verlag sind. Es gab sog ar eine klein e Zeremonie mit allem Drum und Dran . Su san, un sere Teil zeitk raft, hat ein en Trockenku chen geback en und ist an ih -
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rem freien Tag in s Büro geko mmen , und wir haben mit alko ho lfreiem Wein angesto ßen , de n wir aus Teetassen tranken. Ang esich ts der d roh end en Räu mung n ah m ich Mr. Billin gs Angebot an. Es war eine au sgesp rochen rüh ren de Geste, vo r allem, da seine Wohnung wirklich sehr klein ist, aber es war meine einzige Option. Herb ert freute sich riesig . »Wun derbar! Das wird Jess gefallen, sie ist immer ganz aus dem Häusch en, wenn Besu ch ko mmt.« Und so war ich in jenem Mai gerade dabei, die Wohnung, die ich mit Jamie geteilt hatte, leer zu räumen und die letzte, leere Seite un serer Geschichte umzublättern, um allein eine neue zu b eginnen . Ich h atte meine Arbeit, meine Gesundheit und jede Men ge Bü cher; nun mu sste ich tap fer den grauen , einsamen Tagen entgegensehen, die sich en dlos vor mir erstreckten. Alles in allem kam ich ganz gut zu recht. Nu r hin und wieder gestattete ich es mir, in d en Tümp el mein er Gefühlsduselei zu tau chen . Dan n such te ich mir eine stille, dunkle Ecke wo ich mich besond ers gu t meiner Fantasie hingeb en konn te - und malte mir in allen Einzelheiten die traurigen Tage aus, an denen ich durch unsere Straße schleichen, vor unsere m Haus steh en bleiben und zu dem Fen ster hochb lick en wü rd e, wo ich meine Kräuter gezogen hatte un d wo jetzt d ie Sil houette eines Fremden ersch einen wü rd e. Stellte mir vo r, wie ich einen Blick au f die unsichtbare Gren ze zwisch en Verg angenheit und Gegen wart zu werfen versuch te und den körp erlichen Schmerz der Gewissheit spüren würde, dass es keinen Weg zurück gab ... Als Kind war ich eine Träu merin und hab e meine arme Mu tter damit zu r Verzweiflu ng gebrach t. Wenn ich mal wied er du rch eine Pfütze stapfte oder wenn sie mich aus dem Rin n stein zerren mu sste, um mich vo r dem 2 0 9 e r -Bu s zu retten, sagte sie jedes Mal kop fschüttelnd: »Es ist gefährlich, am helllichten Tag zu träu men !« oder »So passieren Unfälle, Edie! Du musst aufpassen !« Meine Mutter hatte gut reden, sie war die pragmatischste Frau , die je g ebo ren wu rd e. Aber was nützten ih re Ermah nung en einem Mäd chen , d as g anz in sein er eig enen Welt leb -
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te, seit es sich die Frage stellen konn te: »Was wäre, wenn ... ?« Natü rlich hörte ich nich t auf zu träumen, ich lernte nur, es besser zu verbergen. Aber in gewisser Weise behielt sie recht, denn mein Hang, mich in Gedanken ausschließlich mit der trübseligen, freudlo sen Nach -Jamie-Zukun ft zu beschäftigen, führte dazu, dass ich vo llkommen unvo rb ereitet war auf das, was dann geschah. Ende Mai rief ein Mann im Verlag an, der sich selbst zu m Medium ernannt hatte und ein Man usk ript über seine Erfah rungen mit der Geisterwelt in der Romney Marsh veröffentlich en wollte. Wenn ein potenzieller neuer Kunde uns kontaktiert, tun wir, wa s wir können, u m ih n zu frieden zustellen, und so k am es, d ass ich in Herberts altem Peug eot nach Essex fuh r, um mich mit dem Mann zu treffen und wenn mö g lich einen Vertrag mit ihm abzuschließen. Da ich nur selten Auto fahre und volle Autobahnen verabscheue, machte ich mich v o r Tag esanb ru ch au f den Weg , in der Ho ffnung, d ass ich auf diese Weise unb eschad et au s Londo n herau sko mmen würd e. Ich war um neun Uh r dort, das Gespräch verl ief gut - wir wurden uns einig, es kam zu m Ve rtrag -, und um Mittag war ich schon wieder auf dem Heimweg. In zwisch en herrsch te wesentlich meh r Verkeh r, dem He rberts Auto, mit d em man nicht schneller als neunzig fah ren konn te, o hne zu riskieren , dass man ein Rad verlor, nicht gewach sen war. Ob wohl ich, wenn mö glich, au f der Kriechspur fuhr, wurde ich ständig an gehup t und mit fin steren Blicken bedacht. Es tut der Seele nicht gut, als Ärgernis betrachtet zu werden , vo r allem, wenn man keine Wahl hat. Also verließ ich in Ash fo rd die Autobahn und fu h r weiter über Land straßen und Dörfer. Mit meinem Orientierungssinn ist es nicht weit her, ab er im Handschuh fach lag ein Straß enatlas, und ich stellte mich darau f ein, regelmäß ig anzuh alten und die Route im Atlas nachzu schlag en. Nach einer halben Stund e hatte ich mich hoffnungslos verfahren. Ich weiß immer noch nicht, wie es dazu gekommen ist, aber wahrscheinlich lag es unter anderem daran, dass der Atlas schon ziemlich üb erholt war. Und daran, dass ich gedankenv erlo ren die Lan dschaft bewundert hatte - die mit
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Schlüsselblumen gesprenkelten Felder, die Wildblumen am Straßenrand -, anstatt au f die Straß e zu achten. Wie au ch immer, ich wusste nicht mehr, wo ich war, und fuh r gerade durch eine schmale, schattige Allee, als ich mir eing esteh en musste, dass ich keinen blassen Sch immer hatte, in welche Himmelsrichtung ich überhaup t unterweg s war. Aber noch machte ich mir keine Sorg en. Früher oder später wü rd e ich au f eine Kreuzung stoß en oder zu einer Sehenswü rd igkeit ko mmen oder den St and eines Gemü sebauern finden, wo man mir netterweise ein g roß es, rotes X in meine Karte malen würde. Ich mu sste am Nachmittag nich t mehr in s Bü ro , alle Straß en füh rten schließ lich irgend wohin, ich b rauchte ein fach nu r die Augen offenzuhalten. Und so entdeckte ich es. In ein em Gestrüpp au s wild wu ch erndem Efeu. Es war einer von diesen alten, weiß gestrich enen Weg weisern au s Holz, in d ie die Ortsn amen geschnitzt sind. Milderhurst, stand darau f, 3 Meilen. Als ich anhielt un d das Sch ild noch ein mal las, sträubten sich mir d ie Nackenhaare. Ein e seltsame Ahnu ng überka m mich , und die verschwo mmen e Erinnerung, die ich seit Feb ruar, seit dem Eintreffen des Briefs bei meiner Mutter, nicht zu fassen bek am, nah m au f ein mal Kontu ren an . Ich stieg au s wie in Trance und folgte dem Wegweiser. Mir war, als würde ich mich selbst von außen beobachten, ja, als wü sste ich i m Vo raus, was ich vo rfinden wü rd e. Und vielleich t war es au ch so. Denn nach einem k n appen Kilo me ter, genau do rt, wo ich es erwartet hatte, stand es. Au s einem dich ten Brombeergestrüpp erhob sich ein g roß es, eisern es To r, das einmal herrschaftlich gewesen war, dessen Flü gel jetzt jedoch schief in den Angeln hingen . Sie lehn ten geg eneinander, als wü rden sie gemeinsam eine schwere Last tragen. An dem kleinen To rhäu schen hing ein verrostetes Schild mit d er Au fsch rift »Schloss Milderhurst«. Mein Herz po chte wie wild geg en mein e Rippen , als ich die Straße überqu erte und au f das Tor zuging. Ich pack te mit jeder Hand eine Stange, spü rte kaltes, raues, rostig es Eisen an den Hand flächen . Lang sam b eugte ich mich vo r und d rückte
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die Stirn an das To r. Mein Blick folgte dem Schotterweg, der in einem Bogen den Hügel hinauf und über eine Brücke führte, bis er sich in einem dich ten Wald v erlo r. Alles sah wun derschön und überwuchert und romantisch au s. Aber es war nicht der Anblick, der mir den Atem raubte. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag, die ab so lute Gewissheit, dass ich schon einmal hier gewesen war. Dass ich scho n ein mal vo r diesem Tor gestanden, zwischen seinen eisern en Stang en hin durchgelugt und die Vögel beobachtet hatte, die wie Fetzen des Nachthimmels über dem dich ten Wald umherflatterten. Einzelheiten gewannen an Schärfe, und es war, als träte ich in einen Traum ein, als wäre ich wieder das Kind von damals. Meine Finger umklammerten die Eisenstangen, irgend wo tief in meinem Körper erkannte ich die Geste wieder. Genau so hatte ich es sc hon ein mal gemacht. Die Haut an meinen Handflächen erinnerte sich. Ich erinnerte mich. Ein sonniger Tag, eine warme Brise sp ielte mit meine m Kleid , meinem So nntag sk leid , am Rand meines Blickfelds der große Schatten meiner Mutter. Aus dem Augenwinkel schaute ich zu ih r hinüb er und sah, wie sie das Schlo ss b etrachtete, die dunkle, ferne Silhouette am Ho rizont. Ich hatte Durst, ich schwitzte, ich wollte in dem See planschen, dessen gl itzernde Oberfläche ich durch das To r sehen konnte. Ich wollte mit d en Enten und d en Reihern u nd den Lib ellen, d ie zwischen dem Schilf am Ufer herumschossen, im Wasser schwimmen. »Mu m«, sagte ich, aber sie antwortete nicht. »Mum? « Sie wandte sich mir zu und schaute mich an , und fü r einen ku rzen Moment schien sie mich n icht zu erkenn en . In ih rem Gesicht lag ein Ausdruck, den ich nich t verstand . Sie war eine Fremde, eine Erwach sene, deren Augen Geheimnisse bargen. Heute kann ich diese seltsame Gefü hlsmischung mit Worten besch reiben: Reue, Lieb e, Trauer, Sehnsucht. Aber damals war ich ratlos. Erst recht, als sie sagte: »Ich habe einen Fehler gemacht. Ich hätte nicht herkommen sollen. Es ist zu spät.« Ich glaube nicht, dass ich etwas darauf erwidert habe. Jedenfalls nicht gleich. Ich hatte kein e Ahn ung, was sie mein -
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te, u nd ehe ich dazu kam, sie zu frag en, packte sie mich an der Hand und zog mich so ruppig, dass mir die Schulter weh tat, vo n dem To r weg und über die Straße zu unserem Auto. Vage roch ich ihr Parfüm, das sich mit der warmen Luft, mit den un gewohnten Landg erüch en mi sch te. Sie ließ den Mo to r an , und wir fuh ren lo s. Ich beob achtete gerade zwei Spatzen durch das Seitenfenster, als ich es hö rte. Es war d er kehlige Schluchzer, der gleiche kehlige Schluchzer, den sie ausgestoßen hatte, als der Brief von Juniper Blythe eintraf.
Die Bücher und die Birds Das Tor zum Schloss war verriegelt und viel zu hoch, um hinüberzuklettern - n icht dass ich es versu cht hätte, wenn es nied riger gewesen wäre. Ich bin scho n immer ziemlich un sportlich gewesen, und jetzt, n ach dem d ie Erin nerung zu rückgek eh rt war, hatte ich Pudding in den Knien. Ich fühlte mich sond erbar verlo ren und hilflos. Ich ging zu meinem Wagen zurück und saß ein e Weile da und überleg te, wie ich weiter vo rgeh en so llte. Viele Möglichkeiten hatte ich nicht. Ich war viel zu aufgewüh lt, u m A uto zu fah ren , erst recht d ie lange Strecke bis London , und so ließ ich sch ließ lich den Mo to r an und fuh r im Sch ritttemp o in s Do rf Milderh u rst. Auf den ersten Blick sah es genauso aus wie all die an deren Dörfer, du rch die ich an dem Tag geko mmen war: eine einzige Straße mit einem klein en Rasenp latz am En de, dan eben eine Kirche und geg enüb er eine Schule. Als ich vo r dem Gemeindehaus parkte, sah ich plötzlich all die müden Londoner Schulkinder vor mir, ruß versch miert nach d er endlo sen Zug fah rt Richtun g Osten. Ein geisterhaftes Bild von meiner Mutter, vor vielen Jah ren, lang e, bev o r sie meine Mutter wu rd e, wie sie sich mit d en anderen Kin dern in Reih und Glied aufstellt und auf ein e ung ewisse Zuk un ft wartet. Ich schlen derte die Hauptstraße entlang und versuchte vergeblich, meine au fg esch euch ten Gedank en im Zau m zu halten. Also gut, meine Mu tter war n och ein mal n ach Mild erhurst zurückgekommen , und ich war bei ihr gewesen. Wir 25
hatten vor dem großen To r ge stan den , und sie war völlig du rcheinander gewesen . Ich konnte mich wied er daran erin nern. Es war passiert. Aber mit der einen Antwort, die ich gefunden hatte, waren nu r lauter neue Fragen au fgetauch t und schwirrten um meinen Kopf wie Motten ums Licht. Warum waren wir hier gewesen? Warum hatte sie gewein t? Was hatte sie gemein t, als sie zu mir gesagt hatte, sie h abe einen Fehler gemacht, es sei zu spät? Und warum hatte sie mich vor drei Monaten angelogen , als sie gesagt h atte, der Brie f von Juniper Blythe habe keine Bedeu tung? Die Fragen k reisten noch in meinem Ko p f, als ich mich un verho fft vor der offenen Tür eines Buchladen s wiederfan d. Ich glau be, es ist etwas g anz Natü rlich es, dass man sich in Zeiten g roßer Verwirrung d em Vertrauten zuwendet. Die hohen Reg ale und d ie zahllo sen säuberlich au fgereih ten Buch rücken übten eine ungemein beruh igend e Wirku ng auf mich au s. Umg eben von dem Geru ch nach Druckerschwärze und Leim, d en Staubflöckchen , die im streifigen Sonn enlich t tanzten, d er warmen , stillen Lu ft, konnte ich wieder freier atmen. Ich spü rte, wie mein Puls sich beruhigte und meine Gedanken die Flügel anlegten. Es war sch u mmrig in dem Laden, was mir nur rech t war. Ich suchte nach mein en Lieb lingsautoren wie eine Lehrerin, die ih re Schüler aufruft. Brome - alle drei anwesend, Dickens - anwesend, Shelley mehrere hübsche Ausgab en. Ich b rauchte sie g ar nich t au s dem Regal zu nehmen, um zu wissen, dass sie da waren; sie leicht mit den Fingern zu berühren reichte mir. Ich ging an den Regalen vorbei, las die Titel au f den Buch rücken , stellte h ier und d a ein Buch, das an den falsch en Platz g eraten war, wieder richtig zu rück , bis ich in den hinteren Teil des Ladens g elangte, der nicht mit Regalen vollgestellt war. Au f ein em Tisch in der Mitte stand ein Sch ild mit der Aufschrift: »Heimatg eschichten «. Dan eben stapelten sich Heimatkundeb ücher, Bildbände und Bücher von Auto ren aus der Gegend. Geschichten von Mordbrennern, Landfahrern, Vagabunden; Die Abenteuer der Schmuggler von Hawkhurst; Eine kleine Geschichte des Hopfenanbaus. In der Mitte, au f einem h ölzern en Ständer, entdeckte ich einen Titel, der mir ve rtraut war: Die wahre Geschichte vom Modermann.
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»Ach !«, rief ich, n ahm es vo m Tisch un d d rü ckte es an mich . »Mögen Sie die Geschichte? « Wie aus d em Nich ts war die Verkäuferin aufgetaucht und schüttelte ih r Stau btuch aus. »Ja«, sagte ich. »Natü rlich. Wer mag sie nicht? « Als ich Die wahre Geschichte vom Modermann zu m ersten Mal las, war ich zehn Jahre alt und lag krank im Bett. Ich glaube, ich hatte Mu mps - eine von diesen Kin derk rankheiten , die ein en fü r Woch en ans Bett fesseln, und ich mu ss ziemlich quengelig gewesen sein , denn das mitfühlende Lächeln meiner Mutter war immer verkn iffener gewo rden . Ein es Nach mittag s, als sie sich eine ku rze Atemp au se au f der High Street gegön nt hatte, kam sie mit frisch em Op timis mu s zu rück und d rückte mir ein zerlesenes Buch au s der Bücherei in die Hand. »Vielleicht mu ntert dich das ein bissch en au f«, sagte sie vo rsichtig. »Es ist eigen tlich fü r etwas ältere Kin der, ab er du bist ja ein kluges Mädch en, und wenn du d ir Mühe gibst, wirst du es schon verstehen. Es ist zwar dicker als die Bücher, die du sonst liest, aber v ersuch mal, es zu Ende zu lesen.« Wah rscheinlich habe ich , anstatt ih r zu antworten, nur voller Selbstmitleid gehustet, ahnte ich doch nich t, dass ich ku rz dav o rstand, ein e Sch welle in ein e Welt zu übersch reiten, aus der es kein Zu rü ck geben würde, dass ich etwas in den Händen hielt, dessen b escheiden es Erschein ung sbild seine Macht Lügen strafte. Jeder wahre Leser hat ein Buch, hat einen Moment wie den erlebt, wie ich ihn hier beschreibe, und als mein e Mu tter mir d as Buch au s der Bücherei mitb rachte, war mein entscheiden der Mo men t geko mmen . Damals wusste ich es noch nicht, aber nach dem ich tief in die Welt vo m Modermann eingetauch t war, konn te d ie Wirk lichk eit nie wieder mit d er Welt der Roman e konk urrieren . Seitd em b in ich Miss Perry unendlich d ankbar, denn als sie diesen Roman über den Tresen schob und meiner gestressten Mu tter zu redete, ihn mir zu m Lesen zu geben, hatte sie mich entwed er mit ein em viel älteren Mädchen verwech selt, oder sie hatte tief in meine Seele g esch aut und do rt ein Vakuu m en tdeck t, das gefü llt werden mu sste. Ich gehe von Letzterem au s. Schließlich besteht die eigentliche Aufgabe einer Bibliothe-
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karin darin, ein Bu ch mit seinem wahren Leser zusammen zub ringen . Ich schlug das v ergilbte Buch auf, und vo m ersten Ab satz an , in dem besch rieben wird, wie der Modermann in dem tiefen , dunklen Schlossgrab en au fwacht, vo n dem fu rchtbaren Mo men t an, in dem s ein Herz zu schlagen beginnt, ließ es mich n icht meh r lo s. Mein Herz klop fte, ich bekam ein e Gänsehau t, meine Finger zitterten in Erwartung, Seite um Seite umblättern zu dü rfen , die schon vo ller Eselsoh ren waren v on den zahllo sen Lesern , d ie die Reise vo r mir angetre ten hatten. Ich besuchte präch tige und fu rchterregend e Orte, ohne das mit Papiertasch entü chern üb ersäte So fa im Reih en haus meiner Eltern jema ls zu verlassen. Der Modermann hielt mich tagelang gefangen, meine Mutter begann wieder zu läch eln, mein geschwollenes Gesicht sah wieder no rmal aus, und mein neu es Ich war gebo ren. No ch ein mal fiel mein Blick auf das handgeschriebene Schild -»Heimatgeschich ten« -, und ich sagte zu der strahlenden Verkäu ferin : »Raymond Blythe war also h ier aus der Gegend? « »Aber ja.« Sie schob sich feine Haarsträhnen hinter die Ohren. »Er hat oben in Schloss Milderh u rst gelebt und geschrieben, und er ist auch do rt gestorben. Das ist das prächtige Anwesen ein paar Kilo meter außerhalb des Dorfs.« Ihre Stimme nahm einen wehmütigen Ton an. »Zumindest war es mal prächtig.« Raymond Blythe. Schloss Milderhurst. Mein Herz klopfte inzwischen ziemlich heftig. »Hatte er v ielleicht ein e Toch ter? « »Er hatte sogar d rei.« »Hieß eine dav on Jun iper? « »Genau . Das ist die jüngste.« Ich dachte an mein e Mu tter, ihre Erinnerung an die Sieb zehnjäh rig e, d ie die Lu ft elek trisch au fgeladen h atte, als sie den Gemeindesaal betrat, u m »ih re Evak uierte« ab zuholen; die 1 9 4 1 einen Brief geschrieben hatte, der meine Mutter hatte in Tränen ausbrechen lassen, als er fün fzig Jah re später eintraf. Plötzlich hatte ich d as dringende Bedürfnis, mich irgendwo zu stützen.
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»Die wo hnen alle d rei n och da oben«, fuhr die Verkäuferin fort. »Es mu ss was mit dem Wasser im Schloss zu tun haben, sagt meine Mutter immer; sie sind jeden falls noch sehr rü stig. Außer der Jüngsten natürlich.« »Was ist denn mit der Jüng sten? « »Demenz. Ich glaube, das liegt in d er Familie. Eine traurig e Geschich te - sie mu ss mal ein e au sneh mende Schönh eit g ewesen sein und klug dazu, als Schriftstellerin ein vielversp rechend es Talent. Aber dann hat ih r Verlob ter sie verlassen, damals im Krieg, und davon hat sie sich nie wieder erho lt. Ist verrückt gewo rden. Sie hat immer darau f gewartet, dass er zu ihr zurückkommt, ab er er ist nicht geko mmen .« Ich öffnete den Mund , um zu fragen, was au s dem Verlobten geworden sei, aber sie war in ih rem Element und offenbar nicht bereit, Frag en aus dem Publikum zu beantworten. »Zum Glück hatte sie ih re beid en Schwestern , die sich um sie kümmer n konnten - d ie zwei geh ö ren ein er aussterbend en Rasse an; haben sich früher für alle möglichen wohltätigen Zwecke engagiert —, sonst wäre sie in einer Irrenanstalt gelandet.« Sie warf einen kurzen Blick hinter sich, u m sich zu vergewissern , dass wir allein waren, dann beugte sie sich vor. »Als ich klein war, ist Juniper immer durch das Dorf und die Felder gestreift, das weiß ich no ch. Sie hat niemanden belästigt, das nicht, ist einfach nur ziellos umherg ewandert. Uns Kindern hat sie eine Heiden ang st eingejagt. Aber Kin der gruseln sich ja gern, nich t wahr? « Ich nick te eifrig, und sie fuhr fort: »Sie war wirk lich harmlos. Sie hat sich nie in Sch wierigkeiten g eb racht, aus den en sie nicht wieder allein h erau skam. Außerd em b rauch t jedes o rdentliche Dorf seinen Son derling .« Ein Läch eln u msp ielte ih re Lippen. »Jemand en, der den Geistern Gesellschaft leistet. Hier drin können Sie meh r üb er sie lesen, wenn Sie mö ch ten .« Sie zeig te mir ein Buch mit dem Titel Raymond Blythe in Milderhurst. »Ich n eh me es«, sagte ich und gab ihr zehn Pfund. »Und den Modermann.« Ich war mit meiner brau nen Papiertüte schon fast aus der Tür, als sie mir nachrief: »Wenn Sie das so sehr interessiert, sollten Sie vielleicht ein e Besich tig ung machen .«
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»I m Schloss? « Ich schau te zu rück in den schu mmrigen Laden. »A m b esten , Sie wenden sich an Mrs. Bird. In der >Ho me Farm<, der Pension in der Tenterden Ro ad.« Ich mu sste ein paar Kilo meter in die Rich tung fahren , aus der ich geko mmen war, u m zu der Pension zu gelangen , einem schindelverkleideten Bauernhaus mit einem g roß en, üp pig blühenden Garten, in dessen h interem Teil sich weitere Gebäude erahnen ließen . Zwei klein e Gauben ragten au s de m Dach, und u m d en hohen Backsteinkamin flattert en ein paar weiße Tauben. Die bleiverglasten Fenster standen offen, um die warme Lu ft h ereinzulassen, und die rautenförmigen Sch eib en b lin zelten in der Nach mittag ssonne. Ich parkte un ter ein er gewaltig en Esch e, deren ausladend e Äste ein er Seite des Hau ses Schatten spen deten , d ann stap fte ich du rch ein sonn enverwöhntes Blu men gewirr: du ftend er Jasmin, Rittersporn und Glockenblumen, die sich über den Rand des mit Backsteinen gep flasterten Wegs ergossen . Zwei fette weiß e Gänse watsch elten vorbei, ohne mich au ch nu r eines Blickes zu würdigen, als ich au s dem g leißend en Lich t in einen sch u mmrig en Rau m trat. An den Wänd en hin gen Sch warz-Weiß -Fotog rafien vo m S ch lo ss und d en dazugeh ö ren den Ländereien, al le, laut Bildun tersch rift, aufgeno mmen für die Zeitschrift Country Life i m Jah r 1 9 1 0 . An der hinteren Wand erwarteten mich ein Tresen mit einem go ldglänzend en Sch ild , das »Rezeption « v erkündete, u nd eine kleine, füllig e Frau in einem k önig sblauen Leinenkostüm. »Ah , Sie mü ssen die jung e Frau au s Lon don sein.« Sie blin zelte hinter einer Hornb rille u nd läch elte, als sie meine Verwirrung bemerkte. »Alice aus dem Buchladen hat an geru fen un d mir Bescheid gesagt, dass Sie kommen würden. Sie haben sich ja rich tig beeilt. Bird mein te, Sie wü rd en mind esten s eine Stund e b rauchen.« Ich warf einen Blick au f den gelben Kanarienvo gel in de m p run kvollen Käfig , d er hinter ih r von der Deck e h ing. »Er wollte schon zu Mittag essen , aber ich hab e zu ih m gesagt, Sie würden wahrscheinlich genau in dem Moment hier ankommen, wenn ich die Tü r zumach e un d das Schild rau s-
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hänge.« Sie lachte ein heiseres Rauch erlachen, das tief au s ihrer Kehle kam. Ich hatte sie au f Ende fünfzig geschätzt, ab er dieses Lachen gehörte einer viel jüngeren, viel durchtriebeneren Frau, als der erste Eindruck vermittelte. »Alice sag t, Sie interessieren sich fü r das Schlo ss.« »Richtig. Ich habe erwähnt, dass ich das Schloss gern be sichtig en wü rd e, und da hat si e mich hierhergeschickt. Mu ss ich mich irgendwo anmeld en? « »Meine Güte, nein. So offiziell ist das alles nicht, ich mach e die Führung en selbst.« Ih r sto lzg esch wellter Bu sen bebte im Leinenjackett. »Das h eißt, früher.« »Früh er? « »Aber ja, und zwar mit Begeisterung. Anfan gs haben die Damen Blythe das natü rlich selbst gemacht. In den Fünfzigerjahren haben sie damit angefangen , um die In standh altu ng sko sten aufzub ringen und sich vo r d er Übern ah me durch den National Trust zu schützen - mit denen will Miss Percy nichts zu tun haben, das kann ich Ihnen versichern —, aber vor ein paar Jahren wurde es dan n alles ein bissch en zu viel. Jeder hat seine Grenzen, und als Miss Percy nicht meh r konnte, war es mir eine g roß e Freud e, fü r sie ein zu sp ringen. Eine Zeit lang habe ich pro Woche fünf Führungen gemacht, ab er heutzutage gibt es kaum noch Besucher. Anscheinend ist der alte Kasten in Verg essenheit g eraten.« Sie sah mich frag end an , als kö nnte ich ih r die Laun en des Men scheng esch lech ts erklären . »Also , ich wü rd e mir das Schlo ss seh r g ern von innen an seh en «, sagte ich freudig , ho ffnung svo ll, vielleich t so gar ein bissch en ungeduld ig. Mrs. Bird blinzelte hinter ihrer runden Brille. »Selbstverständlich, mein e Liebe, und ich wü rd e es Ihn en au ch gern zeigen, aber ich fürch te, es gib t k ein e Besich tigungen meh r.« Ich war so enttäuscht, dass es mir einen Moment lang di e Sprache verschlug. »Oh «, b rachte ich mit Mühe herau s. »Ach so.« »Es ist wirklich eine Sch ande, aber Miss Percys Entschluss steht fest. Sie sagt, sie ist es leid , ih r Haus zu öffn en, nur damit rücksichtslo se Tou risten üb erall ih ren Ab fall vertei-
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len. Tut mir leid, dass Alice Ihnen eine falsch e In fo rmation gegeben hat.« Sie h ob ratlo s die Sch ultern. Es entstand ein verleg enes Sch weig en. Ich wollte mich schon hö flich in mein Schick sal fügen , ab er jetzt, wo ich die Au ssich t dahinschwinden sah, Schloss Milderh u rst von innen zu sehen, gab es plötzlich nichts meh r, was ich mir d ring ender wünschte. »Es ist nur ... ich bin ein e so g roße Bewunderin von Raymo nd Blythe«, h ö rte ich mich sag en. »Ich g laub e, wenn ich nicht als Kind den Modermann gelesen hätte, wäre ich nie in einem Verlag gelandet. Wäre es nicht möglich ... ich meine, könnten Sie nicht ein gutes Wo rt fü r mich einlegen und den Besitzerinnen versichern, dass ich nicht zu den Leuten gehö re, die Ab fall in ih rem Hau s v erteilen? « »Na ja ...« Sie runzelte die Stirn und überlegte. »Das Schloss ist eine Augenweide, und Miss Percy ist äußerst stolz au f ihren Familien sitz ... Sie arb eiten in einem Verlag, sagten Sie?« Unbeabsichtigt hatte ich das Zauberwort ausgesprochen. Mrs. Bird gehö rte zu einer Generatio n, für die das Wo rt »Verlag« eine Eh rfurcht gebieten de Aura besaß . Mein winziger, mit Papier übersäter Arbeitsplatz und mein besch eiden es Gehalt taten nichts zur Sache. Ich klammerte mich an diese Gelegenheit wie eine Ertrin kende an ein Flo ß: »Billing & Bro wn, Verlag und Druckerei, Notting Hill.« Plö tzlich fielen mir die Visitenkarten ein, die Herb ert mir anlässlich der klein en Befö rd erung sparty üb erreicht hatte. Ich hatte nie welche b ei mir, jed en falls n icht au s beru flichen Gründ en, aber sie waren praktisch als Lesezeich en, u nd so konn te ich schn ell eine au s Jane Eyre h erau szu pfen , dem Buch, das ich immer in d er Tasche habe fü r d en Fall, dass ich mal irgend wo Schlange stehen muss. Ich überreichte die Karte wie einen Hauptgewinn. »Stellvertretende Ve rlag sleiterin «, las Mrs. Bird und mu sterte mich über ih re Brille hin weg . »Na so was.« Ich glaube nicht, dass ich mir den eh rfürchtig en Ton eingebildet habe, der jetzt in ih rer Stimme mitschwang. Sie spielte mit de m Dau men an einer Ecke d er Karte, p resste d ie Lipp en zusammen und nickte schließlich entschlossen. »Also gut. Geben
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Sie mir ein paar Minuten, dann rufe ich bei den alten Damen an . Vielleich t kann ich sie ja dazu überreden, mich heute Nachmittag für Sie eine kleine Füh run g machen zu lassen .« Wäh rend Mrs. Bird leise in ein en altmo d ischen Telefonhö rer sprach, setzte ich mich in einen Sessel mit tiefer Knopfpolsterung und öffnete d as b rau ne Päckchen mit mein en n eu en Büch ern. Ich zog den Modermann h ervo r un d strich mit den Händen über den glänzen den Umsch lag . Es stimmte, was ich gesagt hatte - au f d ie eine oder an dere Weise hatte die Begegnung mit Raymo nd Blythes Ge schich te mein gan zes Leben bestimmt. Als ich das Buch in d en Händen hie lt, l ief mi r ein Schau er über den Rücken, und ich wusste g anz gen au, wer ich war. Das Bild auf dem Deckel war dasselbe wie bei der Au sgab e der West-Barnes-Bücherei, die meine Mu tter vor fast zwanzig Jahren mitgebracht hatte. Ich lächelte und nah m mir fest vor, es ihr zu schicken, sob ald ich nach Hau se k am. Endlich wü rd e eine zwanzig Jahre alte Schuld beglichen. Denn als ich wieder g esund war und den Modermann in die Bücherei hätte zurückbringen mü ssen, war das Buch nicht meh r da. Mein e Mutter suchte wie verrückt, während ich beteuerte, es sei mir ein Rätsel, ab er es blieb sp urlo s versch wu nden , es befand sich auch n icht in dem Ch ao s un ter meinem Bett, wo sich sonst fast alles fand, was vermisst wurde. Nachdem wir alle Eck en und Winkel ergebnislo s durchstöbert hatten, wu rd e ich zu r Bücherei abgeführt, u m mein Geständnis abzu legen. Meine arme Mutter erntete einen vernichtenden Blick von Miss Perry und wäre vor Scham fast gesto rben , ab er ich war zu seh r erfü llt von dem k ö stlich en Gefü hl des Besitzes, u m Schuld zu emp finden. Es war der erste u nd ein zig e Diebstahl, den ich je b egangen h abe, aber daran ließ sich n ichts änd ern; das Bu ch und ich g ehö rten ein fach zu sammen . Mrs. Birds Telefonhö rer landete mit einem lau ten Knall au f der Gab el, und ich zuck te zu sammen . Au s ih rem Gesichtsau sd ruck schloss ich, dass sie schlech te Nach richten fü r
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mich hatte. Ich stand au f und humpelte zu m Tresen - mein linker Fuß war eingeschlafen. »Ein e d er Sch western ist leider nicht woh lau f«, sagte Mrs. Bird. »Ach? « »Die jüngste, sie hat einen Rückfall erlitten, der Arzt ist unterwegs, um nach ihr zu sehen.« Ich bemü h te mich , mir meine Enttäu schung nicht an merken zu lassen. Es geh örte sich n icht, ung ehalten zu reagieren, wenn eine alte Dame erk rankt war. »Wie b edauerlich. Es ist hoffentlich nichts Ernstes.« Mrs. Bird wischte meine Bedenken fort wie eine harmlose, wenn auch lästige Fliege. »Es geht ih r bestimmt bald wied er gut. Das ist nicht das erste Mal. Sie hat diese Anfälle seit ih rer Kindheit.« »Anfälle? « »Verlorene Zeit, so hat man das d amals genannt. Zeit, an die sie sich nich t erinn ern ko nnte, meistens, wenn sie sich sehr au fgereg t hat. Es hat etwas mit dem Herzrh ythmus zu tu n - zu schn ell, zu lang sam, g enau weiß ich es n icht meh r, ab er sie wird ohn mächtig u nd kann sich hin terher nicht meh r erinnern , was sie getan hat.« Noch etwas schien ih r auf d er Zunge zu lieg en, doch sie presste die Lippen zusammen und sprach es nicht aus. »Ih re älteren Sch western werden heu te alle Hände vo ll zu tu n hab en und wollen nicht g estö rt werden, ab er sie mö chten Sie nu r ung ern ab weisen. Das Haus braucht Besucher, sagen sie. Sind schon sond erbar, die beiden. Denn normalerweise sind sie nicht gerade erpicht au f Besuch. Aber wahrscheinlich wird es wohl doch ziemlich eintön ig, wenn sie immer nur allein dort herumgeistern. Sie schlagen stattdessen morgen am späten Vormittag vor.« Ein An flug v on Un ruhe überkam mich . Ich hatte eigentlich nicht v or, üb er Nach t zu bleiben, aber d er Gedank e, wieder abzufahren, ohne das Sch lo ss von innen geseh en zu hab en, mach te mich p lötzlich kreuzunglücklich. Vor Enttäuschung hatte ich einen Kloß im Hals. »Wir haben ein Zimmer frei, wenn Sie mö chten«, sagte Mrs. Bird. »Das Abendessen ist im Preis in beg riffen .« Ich mu sste a m Wo chen ende einig es au farbeiten , Herbert b rauchte sein Auto , um a m nächsten Nachmittag nach Wind -
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so r zu fah ren , und ich gehöre nicht zu d en Menschen , die sich aus einer Laun e herau s entsch ließen, an einem fremd en Ort zu übernachten.
Raymond Blythe in Milderhurst Während Mrs. Bird die Formalitäten erledigt und die Ang aben von meiner Visitenkarte ab schrieb, entfernte ich mich, ein paar Floskeln murmelnd, und ging zu r Hintertü r, u m ein en Blick nach d raußen zu werfen . Das Haus und ein ige Nebeng ebäu de umschlossen einen Hof: eine Scheune, ein Taubenhaus und ein Bau mit einem konischen Dach , von dem ich später erfuh r, d ass es sich u m ein Malzhaus handelte. In der Mitte befand sich ein runder Teich. Die beiden groß en Gänse glitten majestätisch üb er das von de r Sonn e gewärmte Wasser, wäh rend die kleinen Wellen, die sie machten, einander zu den mäch tig en Ufersteinen jagten. Auf der anderen Seite inspizierte ein Pfau den Rand eines saub er getrimmten Rasen s, hinter dem sich eine von Wildblumen g esp renk elte Wiese bis zu einer in der Ferne sichtbaren Gartenlandschaft erstreckte. Eing erah mt von d er Tür, in der ich stand, wirkte die sonn en beschienene Landschaft wie ein Schnapp schu ss von ein em längst vergangenen Früh ling stag, der wieder zu m Leben erwacht war. »Großartig, nicht wahr?«, sagte Mrs. Bird plötzlich hinter mir. Ich hatte sie gar nicht komme n hören. »Haben Sie schon mal von Oliver Syk es geh ö rt? « Als ich den Kopf schüttelte, n ickte sie, erfreu t, mich au fklären zu können: »Das war ein Architekt, er war zu seiner Zeit sehr berühmt. Und ziemlich exzentrisch. Er hatte ein Haus oben in Sussex, Pemb roke Farm, aber An fang des zwanzigsten Jahrhu nderts, ku rz nachdem Raymond Blythe zu m ersten Mal geheiratet hatte und mit seiner Frau von London hierhergezog en war, h at er ein p aar U mb auarbeiten am Schloss vorgenommen. Es war einer seiner letzten Aufträge, bevor er zu seiner Kavalierreise au f den Kontinent aufgebrochen ist. Er hat ein en rund en Teich an legen lassen,
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wie u nseren hier, nu r größer, und er hat d en Sch lossg rab en komplett umgestaltet und d arau s ein riesiges, ring fö rmig es Schwimmb ad für Mrs. Blythe gemacht. Sie war eine au sgezeichnete Schwimmerin, heißt es, sehr sportlich. Dem Wasser hat man eine Chemik alie beigeg eben ...« Sie legte ein en Fin ger an die Wang e und runzelte die Stirn. »Gott, wie hieß die n och? « Sie ließ die Hand sinken und rief: »Bird? « »Ku pfersulfat«, antwo rtete eine geisterhafte män nliche Stimme. Ich sch aute wied er n ach dem Kanarienvogel, der in seine m Käfig nach Körnern suchte, dann betrachtete ich die Bilder an den Wänden. »Ja, ja, natü rlich «, fuh r Mrs. Bird unbeirrt fort. »Kupfersulfat, damit es azu rblau aussah.« Ein Seu fzer. »Ab er d as ist scho n lange her. Leider hat man Mr. Sykes' Schlossgraben scho n vo r Jah rzehn ten au fgefüllt. Der Teich gehö rt nu r no ch den Gän sen, er ist völlig veralgt und verd reckt.« Sie gab mi r einen schweren Messingschlü ssel und tätsch elte mir die Hand. »Morgen g ehen wir zu samme n zum Schloss. Es ist gutes Wetter vorh ergesagt, und von d er zweiten Brück e au s h at man eine fantastisch e Au ssicht. Wollen wir un s hier um zeh n Uhr treffen? « »Du hast mo rg en früh einen Te rmin beim Vi kar, Lieb ling .« Wieder ertönte diese geduldige, warme Stimme, aber diesmal entdeckte ich, wo sie herkam. Au s einer kleinen, kau m sichtbaren Tür hinter dem Empfangstresen. Mrs. Bird sch ü rzte d ie Lippen und dachte über diese rätselhafte Än derung ih rer Pläne n ach. Sch ließlich n ickte sie lan g sam. »Bird hat recht. Wie schade aber auch.« Dann h ellte sich ih re Miene wieder au f. »Mach t nichts. Ich lasse Ih nen eine Wegbesch reibu ng da, sehe zu , dass ich meinen Termin so schn ell wie mö glich hinter mich b rin ge, und dan n treffen wir un s am Sch lo ss. Wir werd en nu r eine St unde b leiben. Meh r mö chte ich d en Damen nicht zu mu ten, sie sind schon sehr alt.« »Eine Stunde ist mir recht.« So kon nte ich mittags schon wieder unterweg s nach London sein.
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Das Zimme r war winzig, mit einem Vierp fostenbett, das raumg reifend in der Mitte prangte, einem s ch malen Sch reib tisch unter dem Bleiglasfenster und sonst wenig Komfort. Aber die Au ssicht war umwerfend . Das Zimmer befand sich im n ach hinten g eleg enen Teil des Hauses, und vo m Fen ster au s sah man die Wiese, die ich durch die Hintertü r erspäh t hatte. Ab er v o r allem hatte man von hier aus einen wesen tlich besseren Blick auf den Hügel, der sich zum Schloss hin erh ob, u nd üb er dem Wald konn te ich so gerad e den in d en Himmel aufragenden Tu rm erkennen . Auf dem Schreibtisch lag eine säuberlich gefaltete karierte Picknickdecke, und dan eben stand ein mit Ob st gefüllter Korb. Plötzlich überkam mich Heißhu nger. Es war ein mild er Tag, die Umg ebung war wunderschön, und so nahm ich mir eine Banane, klemmte mir die Decke un ter den Arm un d ging mit mein em n euen Buch, Raymond Blythe in Milderhurst, wieder nach un ten . I m Hof du ftete es nach Jasmin , dessen weiße Blütenp racht sich über das Dach einer hölzernen Laube am Rand des Rasens ergoss. Riesige Goldfische schwammen träge in de m rund en Teich und neigten ih re dicken Kö rper hin und h er, u m d ie Nach mittagssonn e zu g rüß en. Die Stimmu n g war himmlisch, ab er ich blieb nicht im Ho f, den n eine kleine Bau mg ruppe lockte mi ch an , un d so stap fte ich du rch hoh es Gras und Butterblumen über die Wiese. Es war zwar no ch kein So mmer, ab er d er Tag wa r warm, d ie Luft trock en, und als ich die Bäume erreichte, hatten sich au f meinem Scheitel Schweißperlen gebildet. Ich breitete die Deck e an eine r Stelle aus, wo das Sonnenlicht den Boden sprenkelte, und streifte die Schuh e ab. Irgendwo in der Nähe plätsch erte ein Bach, und Bien ensu mmen lag in der Luft. Die Decke du ftete angeneh m n ach Waschmittel und zerdrücktem Gras, und als ich mich daraufsetzte, bildeten die lang en Halme einen g rünen Paravent u m mich herum, sodass ich mich ganz allein füh lte. Ich lehnte Raymond Blythe in Milderhurst gegen meine aufgestellten Knie und strich mit der Hand ü ber den Bu chdeckel. Meh rere Schwarz-Weiß -Fotos waren so arrangiert, als wären sie jeman d em aus der Hand gefallen und d ann fotog rafiert worden.
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Hübsche Kinder in altmodischer Kleidun g, Picknicks an einem glitzernden Teich, ein paar Sch wimmer , die vo r dem Sch lo ssg raben n eben ein ander posierten , ern ste Blicke von Men schen, fü r die es noch an Zauberei g ren zte, dass man ih re Gesichter au f Papier bann en konn te. Ich schlug die erste Seite auf und begann zu lesen.
Kapitel 1: Der Mann aus Kent Manche behaupteten, der Modermann sei nie geboren worden, sondern immer da gewesen, so wie der Wind und die Bäume und die Erde; aber sie irrten sich. Alle Lebewesen werden geboren, alle Lebewesen haben ein Zuhause, und das war beim Modermann nicht anders. Es g ibt Au to ren, fü r die d ie Literatu r eine Gelegenh eit darstellt, unsich tbare Berge zu erklimmen und herrliche Fantasiereich e zu beschreiben. Fü r Raymond Blythe jedo ch stellte die eig ene häuslich e Umg eb ung die wichtigste und d auerhafteste Quelle d er In sp iration dar, so wo hl in sein em Leb en als au ch in seinem Werk. Die Briefe und Artikel, die er im Lau f von siebzig Jah ren verfasste, kreisen stets um ein und dasselbe Thema: Raymond Blythe war zweifello s ein heimatverbun dener Men sch, fü r den d as Land , das seine Vorfah ren seit Generationen ih r Eigen nannten, einen Ort darstellte, wo er Ruhe, Zu flucht und letztlich seinen Glauben fand. Selten wurden die eigenen vier Wände eines Auto rs so eind eutig fü r fiktive Zweck e verwendet wie in Blythes Schauerroman für ju nge Mensch en Die wahre Geschichte vom Modermann. Doch schon lange bevo r er sein wichtigstes Werk schrieb, hatte das Schloss, das sich mitten in der Grafschaft Kent stolz au f sein e m fruchtbaren Hüg el erhob , u mg eben von urbaren Feldern, dun klen , wisp ernden Wäldern und d en Lustgärten , über d enen das Schloss heute n och th ront, d azu beigetragen , aus Raymond Blythe den Mann zu mach en , der er später sein sollte. Raymond Blythe wu rde am heißesten Tag des Sommers 1 8 6 6 in einem Zimmer im zweiten Stock von Schloss Milderhu rst gebo ren. Er war da s erste Kind von Rob ert und Ath ena Blyth e und wu rd e n ach seinem Großv ater v äterli38
ch erseits ben annt, der seinen Reichtum auf den Goldfeldern Kanadas erwo rb en ha tte. Raymond war de r älteste von vier Brü dern , von den en der jüngste, Timo th y, währen d eines heftig en Gewitters im Jahr 1 8 7 6 auf tragische Weise ums Leben kam. Athena Blythe, die sich als Lyrikerin einen g ewissen Ruf erwarb, war untröstlich über den Tod ihres jüng sten So hnes und versank , so h ieß es, ku rz nach der Beerd igun g des Kin des in eine tiefe Depression, von der sie sich nie wieder erholte. Sie nahm sich das Leb en, in dem sie vo m Turm von Schloss Mild erhu rst sp rang, und ließ ih ren Mann, ih re Dichtung und ih re d rei kleinen Söhne zu rück. Au f der g egenüberliegen den Seite b efand sich ein Foto von einer schö nen Frau mit kunstvoll arrangiertem dunklen Haar, die sich aus ein em Fenster lehnt und vier kleine, der Größe nach au fgereihte Ju ngen betrachtet. Das Foto war auf das Jah r 1 8 7 5 datiert und besaß die Un sch arfe, die so typisch ist für viele frühe Amateurfotos. Der kleinste Junge, Timothy, mu ss sich bewegt haben, als die Aufn ah me gemacht wu rd e, denn sein lächelndes Gesicht war v ersch wommen . Der ar me Kleine, er ahn te nicht, dass er nur noch wenige Monate leben würd e. Ich überflog die näch sten Absätze - unnahbarer v ikto rian isch er Vater, Schulzeit in Eton , ein Stipend ium fü r Ox ford -, bis Raymond Blythe das Erwachsenenalter erreicht. Nachdem er 1 8 8 7 sein Stud iu m in Ox fo rd ab gesch lossen hatte, zog Raymo nd Blythe nach London , wo er zu näch st als Autor fü r das Magazin Punch arbeitete. Im Lauf des folg enden Jahrzehnts veröffentlichte er zwölf Theaterstücke, zwei Romane und eine Sammlu ng mit Kindergedichten , ab er au s seinen Briefen geht hervor, dass er trotz seines literarischen Erfolg s in London unglücklich war und sich n ach der grün en Land sch aft seiner Kindheit zu rücksehn te. Es ist anzunehmen, dass das Stadtleben fü r Raymond Blythe erträglicher wurde, nach dem er 1 8 9 5 Miss Mu riel Palmerston geheiratet hatte, eine allseits bewunderte junge Frau, von der es hieß, sie sei »die h üb scheste Debütantin des Jahres«, und in der Tat lassen seine Briefe aus jener Zeit au f ein en
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deutlichen Sinneswandel schließen. Raymond Blythe wu rd e Miss Palmerston von ein em g emeinsamen Bekannten vorgestellt, und nach allem, was man d arüber weiß, passten d ie beiden g ut zu sammen . Sie teilten dieselb en Interessen , Aktivitäten an der frischen Lu ft, Wortspiele und Fotografie, und gaben ein au sneh mend hüb sches Paar ab, das regelmäßig die Klatsch spalten d er Tageszeitungen zierte. Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1 8 9 8 erbte Raymond Blyth e Schlo ss Milderhu rst und kehrte mit Mu riel nach Kent zu rück , u m sich d o rt niederzulassen . Viele Berich te aus jener Zeit lassen vermuten, dass die beiden sich schon lange Kin der wün sch ten , und als sie nach Milderhu rst zog en, brachte Raymond Blythe in seinen Briefen recht offen seine Bekü mmern is darüb er zum Ausdruck, dass er immer noch nicht Vater gewo rd en war. Da s Elterng lück sollte jedo ch no ch ein ige Jah re auf sich warten lassen. Noch 1 9 0 5 äu ßerte Mu riel Blythe in ein em Brief an ihre Mutter die Sorge, dass ih r und Ray mo nd letztlich der »Kindersegen verwehrt bleiben« könnte. Es muss sie mit g roßer Freude erfüllt haben und sicherlich auch mit Erleich terung , als sie nu r vier Monate nach diesem Brief ern eut an ih re Mutter schrieb, um ihr mitzuteilen, dass sie en dlich »guter Hoffnung« war. Nach einer schwierigen Schwangerschaft, während der sie über längere Zeit an s Bett gefesselt war, brachte Mu riel im Januar 1 9 0 6 Zwillin gstöch ter zu r Welt. In Briefen an seine beid en Brüder beschreibt Raymond Blythe diesen Augenblick als den glücklich sten seines Leben s, und d ie zahlreichen Fotos im Fa milienalbu m legen Zeugn is ab von seinem Vaterstolz. Au f den n äch sten beiden Seiten befanden sich lauter Foto s von zwei klein en Mädchen . Sie sahen sich n atü rlich zu m Verwechseln ähnlich, ab er ein s der beiden Mädch en war klein er u nd zarter als das ande re und schien etwas weniger selbstbewusst zu lächeln. Au f dem letzten Foto saß ein Mann mit welligem Haar und einem freu nd lich en Gesicht in eine m Sessel, auf jedem Knie ein Kleinkind im Sp itzen kleidchen. Etwas an ih m - d as Funk eln in seinen Au gen v ielleicht od er die Art, wie er zärtlich jedem Kind eine Hand au f d en Ar m geleg t hatte - d rü ckte seine tiefe Liebe zu den b eiden au s, und als ich das Foto näher betrachtete, fiel mir auf, dass es
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au s dieser Zeit kaum Aufn ahmen gibt, au f denen ein Vater in einer so simplen häuslichen Situation zu sehen ist, wo er ein fach nu r sein e kleinen Tö ch ter vergö ttert. Ich hatte Raymond Blythe bereits ins Herz geschlossen, als ich weiterlas. Aber das Glück sollte nicht von Dauer sein. Mu riel Blyth e starb an einem Winterab end des Jahres 1 9 1 0 , als ein Stück roter Glut aus dem offenen Kamin sp rang, an dem sie saß, und in ihrem Schoß land ete. Ih r Reifrock fing so fo rt Feuer, und sie stand lichterloh in Flammen , bevo r jeman d ihr zu Hilfe eilen ko nnte. Der Brand vern ichtete den Osttu rm des Schlosses und die große Biblioth ek der Familie Blythe. Mrs. Blythe erlitt schwerste Verb rennung en, und o b wohl sie in feu chte Tüch er gewickelt und von den besten Ärzten behandelt wurde, erlag sie einen Monat später ih ren schreck lichen Verletzungen . Raymo nd Blythes Trauer u m seine Frau war so g roß , dass er nach ih rem Tod jahrelang kein en einzigen Text veröffentlichte. Ein ige Quellen b ehaup ten, er h abe an Sch reibhemmung gelitten, an dere glauben, dass er sein Arbeitszimme r verriegelte, das er erst wieder betrat, als er mit der Arbeit an seinem bis heute berühmten Ro man Die wahre Geschichte vom Modermann begann, entstanden 1 9 1 7 in einer Phase inten siver Schreibtätigkeit. Ob wohl das Buch gemeinhin als Jugend lektü re gilt, seh en ein ige Kritiker in der Gesch ich te eine Allegorie des Ersten Weltk rieg s, dem so v iele junge Leb en au f den schlammigen Schlachtfeldern in Frank reich zu m Op fer gefallen sind; vo r allem werd en Parallelen gezog en zwisch en dem Modermann und den Scharen von Soldaten , die nach dem grauenhaften Gemetzel versuch en, in die Heimat und zu ihren Familien zurückzukehren . Raymond Blythe selb st wurde 1 9 1 6 in Flandern verwunde t und als Invalide nach Milderhu rst zu rü ckgeb rach t, wo er n och lange au f die Hilfe meh rerer Pflegerin nen angewiesen war. Die unbekannte Identität des Moderma nn s und d ie Suche des Erzäh lers nach dessen u rsprüng lich em Namen und seinen Lebensdaten, nach seinem Platz in der Gesch ichte, werd en häu fig als Allego rie auf die vielen unbekannten Gefallen en d es Ersten Weltk rieg s
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gedeutet und auf da s Gefühl der Heimatlosigk eit, an d em Raymond Blythe mö glicherweise nach seiner Heimkehr litt. Trotz zahlreicher wissen sch aftlich er Abhand lungen üb er das Thema bleibt die Wah rh eit über die En tstehung v om Modermann ein Rätsel. Raymond Blythe hat sich bekanntlich nur sehr zurückhaltend dazu geäußert, was ihn zu dem Roman inspiriert hat, und sagte nu r, es sei ein »Geschenk « gewesen , dass »die Mu se« ih n »gekü sst« habe und dass die Geschichte ih m plötzlich als Ganzes vo r Augen g estanden h abe. Vielleicht ist gerade das der Gru nd, wieso der Modermann b is heute nichts von seiner Faszination verloren hat, ja geradezu zu einer mo d ernen Legende wu rde. Üb er die Entstehung und die Vorgeschichte des Roman s wird in literaturwissen schaftlich en Kreisen n ach wie vo r lebhaft disku tiert, aber was die Geschichte inspiriert hat, gehö rt immer n o ch zu den literarisch en Rätseln des zwanzig sten Jahrhun derts. Ein literarisch es Rätsel. Ein Sch aud er k roch mir üb er den Rücken, als ich die Wo rte atemlo s wied erho lte. Ich lieb te den Modermann wegen der Geschichte und wegen der Gefühle, die die Wo rte und Wendun gen in mir au slö sten , wenn ich sie las, aber zu wissen, dass die En tstehung der Geschichte geheimnisumwittert war, machte die ganze Sache noch besser. Raymo nd Blythe hatte als Auto r bereits in hohem An sehen gestanden, aber der ungeheu re literarische und ko mmer zielle Erfolg von Die wahre Geschichte vom Modermann stellte sein bisheriges Werk in den Schatten, und von da an war er nur noch bekannt als der Auto r eines der Lieb ling sbücher der Nation. Die Au fführung des Modermann als Theaterstück im Londoner West End im Jah r 1 9 2 4 bescherte ih m ein noch g rößeres Pub liku m, ab er ob wohl sein e Leser ihn immer wieder daru m baten , weigerte sich Raymo n d Blythe beh arrlich, eine Fo rtsetzung zu schreiben. Ursprünglich war der Ro man Blythes Töch tern Persephone und Seraphin a gewid met, aber in späteren Au sgaben wu rden in einer zweiten Zeile die Initialen seiner b eiden Ehefrauen hinzug efüg t: MB und OS. Denn parallel zu seinem beruflichen Erfolg war Raymon d Blyth e auch in p rivater Hin sicht ein neues Glück beschieden.
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1 9 1 9 hatte er wied er geheiratet, eine Frau namens Odette Silverman, die er in Bloomsb u ry au f einer Party bei Lady London derry k enn engelernt hatte. Miss Silverman stammte au s sehr einfachen Verhältnissen, aber ihr Talent als Harfenistin verschaffte ihr Zugan g zu gesellschaftlich en Kreisen, die ihr andernfalls unzugänglich gewesen wären. Die Verlobun gszeit war seh r ku rz, und die Heirat veru rsachte einen kleinen Skandal wegen des fortgeschrittenen Alters des Bräutigams und der Jugend der Braut - er war über fünfzig und sie erst achtzehn und d amit nu r fün f Jah re älter als seine Töch ter aus erster Ehe - und aufgrund ihrer unterschiedlich en Herkun ft. Es ging das Gerüch t, Odette Silverman h abe Raymo nd Blythe mit ih rer Jug end un d Schönh eit d en Kop f verdreht. Das Paar wurde feierlich in der Kapelle von Milderhurst getraut, die seit der Beerdigung von Mu riel Blythe zum ersten Mal wieder geöffnet wu rd e. 1 9 2 2 brachte Odette ein e To chter zu r Welt. Das Kin d wu rde au f den Namen Juniper getauft, und au f den zah lreichen Fotos, die au s jen er Zeit existieren , ist zu seh en, wie blo nd und hellhäutig d ie k leine Jun iper war. Trotz sch erzhafter Bemerkungen darüb er, d ass imme r no ch k ein Stammh alter da war, sp richt au s Raymond Blythes Briefen seine große Freude über den Familienzu wach s. Leider war auch d iesmal das Glück nur kurzlebig, Gewitterwolk en ballten sich bereits am Horizont. Im Dezember 1 9 2 4 starb Odette an Ko mp likatio nen im frühen Stadium einer zweiten Schwangerschaft. Erwartun gsvo ll blätterte ich weiter, um mir die Fotos anzu sehen. Auf dem ersten war Juniper Blythe v ielleicht v ier Jah re alt. Sie saß mit au sg estreck ten Beinen d a, die Füße über Kreuz. Ihre Füße waren n ackt, un d an ih rem Gesich tsau sd ruck ließ sich erken nen , dass man sie in einem Au gen blick stiller Nachdenklichkeit überrascht hatte - und dass sie sich nicht darüber freute. Sie schaute mit ihren mandelför migen Augen, die ein ganz klein wenig zu weit auseinanderstanden , in die Kamera. Zusammen mit ihrem feinen, blonden Haar, den Sommerspro ssen auf ih rer Stupsnase und dem kleinen Schmollmund
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erzeug ten diese Aug en ein e Au ra zu frü h erwo rb enen Wissens. Au f d em n äch sten Foto war Ju niper als junge Frau zu sehen, so als wäre d azwischen k eine Zeit v ergan gen , und d ieselben katzenartigen Aug en schau ten jetzt au s ein em Erwach senengesicht in die Kamera. Es war ein Gesicht von großer, wenn auch eigen williger Schö nheit. Ich erinnerte mich an die Beschreibung meiner Mutter, wie die anderen Frauen Platz gemacht hatten, als Juniper d en Ge mein desaal betrat, die Atmo sphäre, die sie um sich her verbreitete. Als ich jetzt das Foto b etrachtete, konn te ich mir d as gut vo rstellen . Sie wirkte neug ierig und geh eimn isvoll, zerstreu t und wachsam zugleich. Ih re Züge, die Andeutu ng von Emo tionalität und Intelligenz, ergaben ein faszinierendes Gesamtbild. Ich suchte in der Bilduntersch rift nach dem D atu m: Ap ril 1 9 3 9 . Das Jahr, in dem me in e zwölfjäh rige Mutter sie kennen lernen sollte. Nach dem Tod sein er zweiten Frau verg rub Raymond Blythe sich angeb lich in seine Arb eit, aber abgesehen von einigen wenigen Kolu mn en für d ie Times verö ffentlichte er nie wieder eine Zeile von Bedeutung . Ku rz vo r seinem To d arbeitete Blythe noch einmal an einem Buchprojekt. Dabei handelte es sich jedoch nicht, wie viele g eho fft hatten , um ein e Fo rtsetzu ng v o m Modermann, sond ern um eine umfängliche wissen sch aftliche Abhan dlung über die nicht-lineare Beschaffenheit der Zeit, in der er sich über seine den Lesern vom Modermann bekannte Theorie au sließ , dass die Vergangenh eit die Gegen wart du rchd ringen kan n. Die Abhandlung wu rde nie vo llen det. In seinen letzten Lebensjahren verschlechterte sich Blythes Gesundheitszustand zuseh end s, auch men tal, denn er war davon überzeug t, d ass der Modermann aus seiner berühmten Geschichte auferstanden sei, um ih n zu verfo lgen und zu qu älen. Wenn man an die Tragödien denkt, d enen so viele seiner Lieb en zu m Op fer g efallen waren, war der Gedanke, mochte er au ch ab stru s sein , so unb eg reiflich nicht, und n icht wenige Besu cher des Schlosses teilt en Blythes An sicht. Natü rlich en tspricht es der allgemeinen Vorstellung, dass ein histori-
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sches Schloss von einem Spuk heimgesucht wird , und es ist begreiflich, dass ein so beliebter Roman wie Die wahre Geschichte vom Modermann, der sich innerhalb d er Mauern von Schlo ss Milderhurst abspielt, dieser Vo rstellung reichlich Nah rung bietet. End e der Dreiß igerjahre konv ertierte Raymo nd Blyth e zum Katholizismus, und in sein en letzten Lebensjah ren war der Priester der einzige Besucher, den Blythe auf seinem Schloss noch empfin g. Er starb am 4 . April 1 9 4 1 , nach einem Stu rz vo m Bu rgtur m, wo mit er d asselbe Sch ick sal erlitt wie seine Mutter fünfund sechzig Jah re zu vo r. A m En de des Kapitels war ein weiteres Foto von Raymo n d Blythe abgedruckt. Es war gan z anders als das erste - der läch elnd e ju nge Vater mit den Zwillingen auf den Knien -, und während ich es betrachtete, fiel mir mein Gespräch mit Alice im Buchladen wieder ein. Vo r allem ih re Bemerk ung, dass die psychischen Störungen, unter denen Juniper Blythe litt, in der Familie lagen. Denn dieser Raymond Blythe hatte nichts mehr von der zu friedenen Gelassenheit, die mich au f dem ersten Foto so berührt hatte. Im Gegenteil, er schien von Äng sten geplag t: In seinen Augen lag Argwohn, der Mu nd war an gespan nt, d as Kinn verkrampft. Das Foto war au f das Jahr 1 9 3 9 datiert, da war Raymond zweiund siebzig, ab er es war n ich t allein das Alter, das die tiefen Furchen in sein Gesicht gegrab en hatte. Je läng er ich das Foto betrachtete, umso mehr war ich davon überzeugt. Beim Lesen hatte ich den Eind ru ck, dass die Auto rin es metapho risch gemeint hatte, als sie Raymond Blythes Verfolgungswahn beschrieb, ab er jetzt wurd e mir klar, dass das n icht der Fall war. Der Mann au f dem Foto trug die angstverzerrte Maske anhaltender innerer Qualen. Die Abenddämmerung senk te sich üb er das Land u m mich heru m, fü llte die Senken zwischen den Hügeln und Wäldern von Milderhurst, glitt über d ie Wiesen und schluckte alles Lich t. Das Foto von Raymond Blythe versch wamm in der Dunkelheit, und ich schlug das Buch zu . Aber ich machte mich nicht auf den Rück weg. No ch nicht. Ich gön nte mir noch einen Blick durch die Lück e zwischen den Bäumen auf
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das Schloss, das au f dem Hügel thronte, eine schwarze Masse unter einem tintenblau en Himmel. Mit k lop fendem H erzen stellte ich mir vor, wie ich am näch sten Mo rgen seine Sch welle übertreten würde. Die Figuren im Schloss waren an jenem Nachmittag für mich zum Leben erwach t, beim Lesen waren sie mir un ter die Haut gekrochen, sod ass ich das Gefü hl hatte, sie schon immer g ekannt zu hab en . Ob wohl mich der pu re Zu fall nach Milderhurst geführt hatte, fühlte es sich richtig an , dass ich hier war. Dasselbe hatte ich emp fund en, als ich zu m ersten Mal Sturmhöhe und Jane Eyre und Bleak House g elesen hatte. Als wü rde ich die Geschichte schon ken nen, als wü rd e sie etwas üb er die Welt bestätigen, das ich schon immer geahnt hatte, als hätte das Buch d ie g anze Zeit au f mich gewartet.
Verklungene Stimmen eines Gartens Wenn ich die Augen schließe, sehe ich immer noch den g litzernden Himmel vor mir: das klare, st rahlende Blau, das sich über der früh sommerlichen Morgensonne wölbt. Wahrscheinlich ist mir d ieses Detail in Erinn erung geblieb en , weil bei meinem nächsten Besuch in Milderhu rst Gärten, Wald und Felder in metallisch en Herb sttönen leuch teten. Ab er nicht an jenem Tag. An jenem Tag wu rd e alles neu geboren . Die Luft war erfüllt von Vogelg ezwitscher und Bienen gesu mm, un d die wunderbar warme Sonne zog mich den Hügel hinauf zum Schloss. Ich g ing und gin g, bis ich, als ich schon fü rchtete, mich in dem en dlo sen Wald zu verlaufen, durch ein verrostetes Tor trat und einen verwahrlosten Badeteich vo r mir sah . Er war k reisru nd und hatte einen Du rchmesser vo n min destens zehn Metern. Das musste der Teich sein , von dem Mrs. Bird mir erzählt hatte, entworfen von Oliver Sykes, als Raymond Blyth e seine erste Frau mit in s Sch lo ss geb racht hatte. Natürlich äh nelte er seinem k leinen Bru der u nten am Bauernh au s, und 46
doch sprangen mir sofo rt die Unterschiede in s Auge. Wäh ren d Mrs. Bird s Teich munter in der So nne glitzerte und d er Rasen bis an d ie Rand steine heran so rg fältig geschnitten war, hatte man diesen Teich hier schon lang e sich selb st überlassen. Die Randsteine waren von Moos üb erzogen, einige waren sogar h erausgebrochen, und in den Lücken hatten sich Su mp fdo tterb lu men un d Ma rgeriten angesiedelt, die gelb en un d weißen Köp fch en zu r Sonn e geneig t. Au f dem Wasser schob en sich wuch ernde Seerosenblätter üb erein and er, die von einer Brise au fg efäch ert wurden, sodass der Teich au ssah wie ein gigantischer schupp iger Fisch . Ein riesen wüchsiges Tier, eine exotische Anomalie. Ich ko nnte nicht bis auf den Grund des Teichs sehen, jedo ch sein e Tiefe erahnen , denn am gegenüberliegenden Ende befand sich ein Sp rungb rett. Das hö lzern e Brett war v erwittert und g ebo rsten, d ie Federn waren verro stet, und es gren zte an ein Wunder, dass das Ding n och n icht in sich zu sammen g eb rochen war. Vo m Ast eines au sladenden Bau ms hing eine hölzerne Schaukel an zwei Seilen, erstarrt in der Umklammerung von Dornen ranken, die bis in die Krone g eklettert waren. Die Rank en hatten sich n ich t mit den Seilen b egnüg t: Sie hatten sich munter und un gehi ndert auf dieser seltsamen, verlassenen Lichtung au sgeb reitet. Durch das unbezähmbare Gestrüpp hindurch erspähte ich einen kleinen gemau erten Pav illon — wah rsch einlich ein Umk leidehäusch en —, dessen kupp elfö rmig er Dachau fb au üb er dem Grü n emp o rragte. Die Tür war mit einem verrosteten Vo rh ängeschloss gesichert, und d ie Fen ster, so weit sichtbar, waren mit einer dicken Sch mu tzschicht überzogen, die sich nicht wegwischen ließ. Auf der Rückseite jedoch war eine Scheibe eingeschlagen, und zwischen den Scherb en h indurch , an deren spitzester ein g raues Pelzb üschel au fg espieß t war, konnte ich in s Inn ere lu gen . Was ich mir natü rlich nicht entg ehen ließ . Staub, so dick, d ass ich ih n riechen k onnte, jah rzehntealter Staub, der den Boden und alles andere bedeck te. Der Raum war ungleich mäß ig beleuch tet, was d en Fenstern der Dach kuppel zu verdanken war, d eren Läden sch ief an den Sch arnieren hingen o der abgerissen waren un d au f dem Bod en la-
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gen. In den Lü cken schwebten Staubfäden, die sich in sch malen Lichtstreifen zu Bändern wan den. In einem Reg al lagen o rdentlich gefaltete Hand tücher, deren Farbe unmö g lich zu erraten war, und an der g egenübe rliegenden Wand trug eine stilvolle Tü r ein Schild mit der Au fsch rift: »U mkleid erau m«. Ein hau chdü nner, rosafarb ener Vo rh ang flatterte gegen einen Stapel Lieg estühle, ein seit Gott weiß wie langer Zeit von niemandem beobachtetes Schauspiel. Als ich vom Fenster wegtrat, nahm ich plötzlich das Geräu sch meiner Schu he au f d em trockenen Lau b wahr. Eine unheimliche Stille lag über der Lichtung, nur unterbrochen vo m sanften Rascheln der Seerosenblätter, und einen flüchtigen Mo ment lang ko nnte ich mir vorstellen, wie es hier au sgesehen haben musste, als alles noch neu war. Die allgemeine Verwilderu ng wich einem exquisiten Anblick : lachen d e Menschen in altmodisch en Badekostümen, die auf ih ren Handtüchern lagen, an Erfrischungsgetränken nippten, erwartungsvoll auf dem Sp rungb rett fed erten , u m schließlich ins kühle Nass zu tauchen ... Und d ann war das Bild versch wund en. Ein Blinzeln und ich stand wieder allein vor dem überwucherten Pavillon. Der Ort strahlte eine Atmosphäre un sagbarer Trauer aus. Warum, fragte ich mich, hatte man den Badeteich sich selbst überlassen? Warum h atten die letzten Besitzer ihn au fgegeben, da s U mkleidehäuschen versch lossen und sich nie wieder d aru m gekümmert? Die drei Schwestern Blythe waren zwar mittlerweile alte Damen, aber das waren sie ja nicht immer gewesen . In all d en Jahren hatte es sicherlich man ch heiß en Sommer gegeben, id eal, um in dem Teich zu schwimmen ... Ich sollte Antwo rten au f meine Frag en finden, wen n au ch no ch n icht so b ald . Auch andere Dinge würde ich erfahren, geheime Dinge, Antwo rten au f Frag en, von denen ich mi r no ch nich t die gerin gsten Vo rstellu ngen machte. All d as lag noch vor mir. Als ich an jen e m Mo rgen in dem ab seits gele genen Garten von Schlo ss Mild erhu rst stan d, schü ttelte ich diese Ged ank en ein fach ab und konzentrierte mich auf die Aufgabe, die vor mir lag. Abgesehen davon, dass mich die Erforschung des Badeteich s meinem Besuch bei den Schwestern Blythe kein en Schritt näher brachte, hatte ich auch das
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unangen ehme Gefühl, d ass ich hier au f der Lichtung üb erhaupt nich ts zu suchen hatte. Ich las Mrs. Birds Wegb esch reibung no ch ein mal gründlich durch. Genau wie ich angen ommen hatte. Da stand nichts von einem Teich . Eigentlich h ätte ich längst die Vorderfront erreicht und stattliche Säulen passiert hab en mü ssen. Allmählich beschlich mich ein mulmiges Gefühl. Das hier war auf keinen Fall der sü dliche Ra sen. Und Säu len waren auch n irgends zu seh en. Zwar wunderte es mich nicht, d ass ich mich verirrt h atte das gelingt mir sogar im Hyde Park -, aber es war au sg esproch en ärg erlich. Die Zeit d räng te, und wenn ich nich t zurück gehen und noch einmal von vo rn an fangen wollte, b lieb mi r kau m etwas and eres übrig , als au f gut Glü ck weiter den Hü gel hinaufzug ehen . Auf der and eren Seite des Teichs gab es ein Tor und dahinter eine steile Steintreppe, die in d en üb erwuch erten Hüg el gehauen war. Mind esten s hu ndert Stu fen, die ineinanderzusinken schienen wie nach einem gewaltigen Seufzer. Aber die Richtung stimmte, also mach te ich mich auf den Weg. Es war eine simp le Frage der Logik. Das Schloss und die Schwestern Blythe b efand en sich irg end wo da ob en: Wenn ich immer weiter hochstieg, würde ich irgend wan n an s Ziel g elang en. Die Sch western Blythe, so nannte ich sie in zwischen wohl scho n au tomatisch; es war bereits zu ein em stehend en Begriff fü r mich gewo rden wie »die Brüder Grimm«. Merkwürdig, wie schn ell sich man che Ding e so erg eben. Bis zu dem Tag, als Junipers Brief eintraf, hatte ich noch nie etwas von Schloss Milderhurst gehört, und jetzt zog es mich do rthin wie eine kleine Motte in eine g roße, helle Flamme. An gefan gen hatte alles mit meiner Mutter, mit der üb erraschend en Nach richt von ih rer Evaku ierung , dem geheimn isvollen Sch lo ss mi t dem schauerlichen Namen. Dann war die Verbindung zu Raymo nd Blyth e dazug eko mmen - d er Ort, an dem d er Modermann entstanden war, unfassb ar! Aber jetzt, als ich mich der Flamme langsam näherte, wurde mir bewusst, dass etwas Neues meinen Puls besch leun igte und mich erreg te. Vielleicht lag es ja an dem, was ich gelesen h atte, od er
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daran, was Mrs. Bird mir a m Mo rgen beim Früh stü ck erzählt hatte, auf jeden Fall waren es irgendwann vo r allem die Sch western Blythe selb st, die mich faszin ierten . Das Th ema Geschwister hat mich eigentlich schon imme r interessiert. Die Nähe, die zwischen ih nen herrscht, ich finde sie faszinierend und verstörend zugleich. Die gemeinsamen Gen e, die zu fällige und manch mal so ungerech te Verteilung des Erbguts, die Unen trinnbarkeit d er Familienban de. Meine eigenen Erfahrungen in dieser Hinsicht sind gering. Ab er auch ich hatte ein mal ein en Bruder, allerding s n ur fü r seh r ku rze Zeit. Bevo r ich ihn richtig kennenlernen konnte, war er schon begraben, und bis ich genug beg riffen hatte, u m ihn vermissen zu können , waren seine Spu ren läng st so rgfältig beseitigt worden. Zwei Urku nden , ein e über sein e Gebu rt, eine über seinen Tod, in einem schmalen Ordner in eine m Aktensch rank, ein klein es Foto in d er Brieftasche mein es Vaters und eins im Schmuckkästchen meiner Mutter waren alles, was no ch sagen kon nte: »Ich wa r hier!« Abgesehen davon gibt es noch die Erin ne rungen und die Trauer in den Köpfen meiner Eltern, ab er sie teilen sie nicht mit mir. Auch wenn es fast nichts Greifb ares oder Erin nerung swü rdiges gibt, womit ich ein Bild von Daniel heraufbeschwören kön nte, so habe ich doch mein Leben lang dieses Band gespürt. Ein unsichtbarer Faden verbindet un s so selb stverständlich wie Tag und Nacht. So war es schon , als ich no ch klein war. Ich war in meinem Elternhaus anwesend, er war abwesend. Unausgesprochene Sätze, die immer mitschwangen, wenn wir glü cklich waren: Wäre er doch auch bei uns; u nd wenn ich sie enttäuschte: Er hätte das nicht getan; und wenn ein neues Sch uljah r beg ann: Da drüben, die Jungs, das wären seine Klassenkameraden. Der entrückte Blick, der manchmal in den Augen meiner Eltern lag, wenn sie sich allein wähn ten. Ich behaupte nicht, dass meine Neugier au f die Schwestern Blyth e v iel, wenn überhaupt etwas, mit Daniel zu tun gehabt hätte. Jedenfalls nicht direkt. Aber ih re Geschich te war so schön: Zwei ältere Sch western entsagen ih rem eigenen Leben, um sich ganz der Pflege ihrer jüngeren Schwester zu widmen. Ein gebrochenes Herz, ein verwirrter Verstand, eine unerwiderte Liebe. All das füh rte dazu, dass ich mich fragte,
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wie alles hätte sein könn en u nd ob Daniel jeman d g ewesen wäre, für den ich mein Leben geop fert h ätte. Sie gin gen mir nicht mehr au s dem Kopf, diese drei Schwestern , die derart miteinander verbunden waren. Sie wu rden gemeinsam älter und verbrachten ihren Leb en sabend in ih rem alten Familien stammsitz, die letzten Überlebenden ein er angesehen en, ge heimnisu mwobenen Familie. Vo rsichtig stieg ich höher und höher, vorbei an einer verwitterten Sonn enuh r, vo rb ei an einer Reih e ged uldiger Urnen auf stumme n Sockeln, vo rb ei an zwei steinern en Hirsch en, die sich über ung ep flegte Hecken hin weg in die Augen sahen, b is ich d ie letzte Stu fe erreichte und der Boden sich vor mir ebnete. Knorrige Obstbäume mit in einand er verflochtenen Kronen bildeten einen Laubengang, der mich vorwärtszog. Es war, als läge dem Garten ein geheimer Plan zug ru n de, dachte ich; als gäbe es eine für mich bestimmte Ord nung , die auf mich wartete und nicht zuließ, d ass ich mich v erirrte, sond ern vo rsah , d ass ich den Weg zu m Schloss fand. Romantische Flausen, natü rlich, was so nst. Ich kann nur vermuten, dass der steile An stieg mich schwin dlig gemach t und mir die Sinne verneb elt hatte. Wie auch immer, es hatte mich gepackt. Ich kam mir verwegen vo r (wenn auch verschwitzt), eine Aben teurerin , die Raum und Zeit überwand, um ungeahnte Entdeckun gen zu mach en . Nun ja. Es spielte keine Rolle, dass diese spezielle Mission nu r dem B esu ch bei d rei alten Damen und einer Füh ru ng durch ein Landg ut galt; vielleicht hatte ich ja Glück und man bot mir ein e Tasse Tee an. Dieser Teil des Garten s war ebenso v erwildert wie die Lichtung um d en Badeteich, un d als ich un ter d en Baumk ro nen entlangging, die sich wie zu ein em Tunn eld ach bog en, kam ich mir vo r wie im Skelett eines prähisto rischen Monsters. Riesige Rippen wölbten sich über mir, während lange Schatten die Illusion erzeugten, als wü rden sie sich auch un ter mir krümmen. Ich beeilte mich, das Ende des Tunnels zu erreich en. Do rt angeko mmen , blieb ich wie an gewu rzelt stehen.
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Vo r mir, in dü stere Schatten g etaucht, ob wohl es ein warmer Tag war, stand Schloss Milderhurst. Allerd ings war ich au f der Rück seite d es Gebäudes gelandet, wie ich stirnrunzelnd feststellte, als ich die Nebengebäude und die außen liegenden Wasserrohre sah und nirg endwo Säulen , einen Rasen oder eine Au ffah rt entd eckte. Und d ann plötzlich dämmerte es mir. Ich mu sste eine Ab zweigun g verp asst haben und war d en Hügel auf der No rd seite hinaufgewandert, anstatt mich dem Schloss von Süden her zu näh ern . Ende gut, alles g ut: Ich war heil an gekomme n und bestimmt nicht allzu spät dran. Irgend wann war mir ein eben er Streifen mit hohem Gras au fgefallen, d er sich am u mmau erten Sch lo ssg arten en tlang zog. Diesem folgte ich, bis ich schließlich - Tusch! - über Mrs. Bird s Säulen stolperte. Und am En de der Rasenfläche erhob sich, wie es sich gehörte, die Fassade von Schloss Milderhu rst bis hoch in den Himmel. Das Gefühl, eine Zeitreise ang etreten zu haben, d as mich beim Au fstieg befallen h atte, v erstärk te sich n ur noch. Das Gebäude strahlte eine theatralische Würde aus und nah m meine Anwesenheit üb erhaup t nicht zu r Kenntnis. Die Sch ieb efenster sch auten g elangweilt du rch mich hindu rch Richtung Är melkanal, und ih r Ausd ruck träger Beständ igk eit verstärkte mein Gefühl, unbedeutend und vergänglich zu sein und dass das großartige alte Bau werk schon zu v iel erlebt hatte, u m sich von mir in sein er Ruh e stö ren zu lassen. Ein Schwarm Stare stob von den Scho rn steinen au f, ließ sich in den Himmel trag en und ku rv te dan n hinunter ins Tal, wo Mrs. Bird s Hau s stan d. Das Geräu sch und die plö tzliche Bewegu ng verwirrten mich. Ich sah den Vög eln nach, als sie über die Baumwipfel glitten und k rächzend auf die winzigen roten Ziegeldächer zuflo gen. Mrs. Bird s Haus schien so weit weg, dass ich p lötzlich überwältigt wurde von der ab strusen Vo rstellun g, ich hätte auf meinem Weg den Hüg el herau f irgen dein e unsichtb are Linie überschritten . Ich war dort gewesen, und jetzt war ich hier, also mu sste etwas weitaus Ko mp lizierteres gesch ehen sein als ein simp ler Ortswech sel.
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Als ich mich wieder zu m Schloss umdrehte, sah ich, dass unter dem To rbogen des Turms e in e g roße sch warze Tür o ffen stand. Seltsamerweise war sie mir vorher gar nicht aufgefallen. Ich überquerte den Rasen, aber an den steinernen Stufen zö gerte ich . Neben ein em Win dhund au s v erwittertem, g rau em Marmor saß dessen Abbild au s Fleisch und Blut, ein schwar zer Hund der So rte, die ich später als »Lu rcher« kenn enlernen sollte. Er hatte mich offenbar die ganze Zeit beobachtet. Jetzt sprang er auf und versperrte mir den Weg, während er mich mit seinen dun klen Augen mu sterte. Ich b rachte es nicht fertig weiterz ugeh en. Mein Atem g ing flach, u nd ich fröstelte. Ich empfand jedoch keine Angst. Es ist schwer zu erklären . Als wäre er der Fährmann od er ein altmodisch er Butler, jemand, dessen Erlaubnis ich b rauchte, bevo r ich mein en Weg fo rtsetzen konnte. Er trottete geräuschlos auf mich zu , ohn e den Blick von mi r ab zu wenden . Als er mit seinem F ell leicht meine Fin gerspitzen berührte, lief mir ein Schauer über den Rück en. Dann drehte er sich um und trabte davon. Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen , verschwand er du rch die offene Tür. Als würde er mich auffordern, ihm zu folgen.
Drei verblühte Schwestern Wenn das Verg ehen der Zeit einen Geruch hat, d ann den von Schlo ss Mild erhurst. Es roch nach Schimmel un d Ammo n iak, einem Hau ch vo n Lavendel und jeder Meng e Staub, nach dem Zerfall v on massenhaft altem Pa pier. Doch unter alldem lag noch ein an derer Geruch, nach etwas, das halb verfault oder vergoren ist. Ich b rau chte eine g anze Weile, um herauszu finden, was fü r ein Geru ch das war, aber ich glaube, jetzt weiß ich es. Es ist die Vergan genh eit selb st. Gedanken und Träume, Ho ffnungen und Verletzungen, zu einem Gemisch gebraut, das lang sam in der abgestanden en Lu ft fermentiert und sich n ie ganz au flöst.
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»Hallo? «, rief ich und verharrte au f der obersten Stu fe. Ich wartete eine Weile, und als kein e Antwo rt kam, rief ich no ch einmal, dies mal lauter: »Hallo? Ist jemand zu Hause? « Mrs. Bird hatte mir gesagt, ich solle einfach hineingehen, dass die Sch western Blythe un s erwarteten und wir un s im Haus treffen wü rden . Sie hatte mir ein geschärft, n u r ja nicht zu klopfen od er d ie Glo cke zu läuten oder mein e Ankun ft son st wie an zukün digen . Ich hatte mein e Zweifel gehab t da, wo ich herk o mme, gilt unaufgefordertes Eintreten schon fast als Hausfriedensbruch -, aber ich tat, wie mir geheißen: Ich trat durch d en Torbog en in ein en runden Rau m. Es gab keine Fenster, und es war ziemlich dü ster, ob wo hl die Decke über eine Lichtkuppel verfügt e. Ein Geräu sch lenkte mein e Aufmerksamkeit nach oben, wo ein weißer Vogel, der zwischen den Dach sparren hereingeflogen war, in einem Streifen staubigen Lichts flatterte. »Ah, da sind Sie ja.« Die Stimme kam von links, und als ich mich hastig umdrehte, sah ich eine sehr alte Frau in einem Türrahmen d rei Meter von mir en tfernt, den Lu rcher neben sich . Sie war g roß und hager, trug einen Tweedanzug und eine hochgeschlossene Bluse mit Kragen, was sie männlich wirken ließ . Überh aupt war jede Weiblichk eit län gst verwelk t. Das ku rze weiße Haar, d as au f dem Ko p f sch on schütter wurde, wuchs üb er d en Oh ren in stö rrischen Bü sch eln. Ih r ov ales Gesich t hatte einen wach samen un d intelligen ten Au sd ru ck. Mir fiel au f, dass sie sich die Augen brauen vollständig ausgezup ft und in der Farbe geronnen en Bluts nachgezogen h atte. Es hatte etwas von Th eatersch min ke und wirkte ein wenig grimmi g. Sie stand leicht vorgebeugt und stü tzte sich auf einen eleganten Stock mit Schildpattg riff. »Sie mü ssen Edith sein .« »Ja.« Ich trat näher, streckte ihr meine Hand entgegen, plötzlich atemlos. »Edith Bu rchill. Guten Tag.« Ihre kühlen Finger berüh rten meine Hand, und ih r ledernes Uhrarmband rutschte geräuschlo s au f ih r Handg elen k. »Marilyn Bird hat Sie schon angekündig t. Mein Name ist Persepho ne Blythe.«
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»Vielen herzlich en Dan k, dass Sie mich emp fan gen. Seit ich von Schloss Milderh u rst gehö rt hab e, bin ich gan z v ersessen darau f, es von inn en zu sehen .« »Tatsächlich? « Sie v erzo g die sch malen Lippen zu einem Lächeln so schief wie eine Haarnadel. »Und waru m, wenn ich frag en darf? « Das wäre natürlich der Augenblick gewesen, ih r vo n meiner Mutter zu erzählen, von d em Brief, von ihrer Evak uierung als kleines Mädchen. Die Erinneru ng h ätte Percy Blythes Gesicht aufleuch ten lassen, wir wären spazieren gegangen und hätten Neuig keiten und alte Geschichten au sg etau sch t. Es wäre das Natürlichste auf der Welt gewesen, weshalb ich selbst überrascht war, als ich mich sagen hö rte: »Ich habe in einem Buch darüber gelesen.« Sie gab ein gelangweil tes »Aha« von sich . »Ich lese seh r viel«, fügte ich h astig h inzu , als könn te diese Wahrheit meine Lüge mildern. »Ich liebe Büch er. Ich arbeite mit Büchern. Bücher sind mein Leben.« Der Au sd ruck ih res runzligen Gesichts erschlaffte angesichts einer d erart h armlo sen Antwo rt, was nicht v erwunderlich war. Meine erste Lüge war schon öde genug gewesen, ab er d ie zusätzlichen biog rafischen In fo rmationen waren sch lich tweg d ämlich. Ich konnte mir nicht erklären, warum ich nicht einfach die Wahrheit gesagt hatte, die erheblich in teressan ter g ewesen wäre. Wahrsch einlich war es das un bewusste, kindische Bedü rfn is, mein en Besuch als etwas Ei genes zu betrachten, etwas, das von der Zeit, die meine Mu tter vo r fün fzig Jah ren hier verb racht hatte, n icht berüh rt wurde. Was auch immer es sein mo chte, als ich den Mund au fmachte, u m eine Kehrtwendung zu machen, war es zu spät: Miss Percy ha tte mir bereits b edeutet, ih r und dem Lu rcher durch den düsteren Flur zu folgen. Sie ging zügig und leichtfüßig, der Sto ck schien nu r ein weiteres theatralisches Accessoire zu sein. »Schön, dass Sie pünktlich sind «, sagte sie über die Schul ter zu mir. »Wen n ich etwas v erabsch eue, dann Unpünk tlich keit.« Wir g ingen sch weig end weiter. Mit jedem Schritt blieben die Geräu sch e von d rau ßen weiter zu rück: das Rau schen d er
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Bäume, das Vogelg ezwitscher, das entfernte Plätschern eines Bachs. Geräusche, die ich gar nich t wahrgeno mmen hatte, bis sie verstu mmten und ein eigenartiges Vakuum hinterließen, so in tensiv , dass meine Ohren zu summe n begannen und ih re eigen en Fantasiegebild e herau fbesch woren : Flü stergeräu sche, wie von Kind ern, wenn sie spielen, sie wären Schlangen. Es war etwas, das mir bald ve rtraut werd en sollte, d iese sond erbare Abg eschiedenheit im Inn ern des Schlosses. Geräu sche, Gerü che und Anblicke, die außerhalb der Mauern ganz deu tlich waren , sch ienen irgend wie in dem alten Gemäu er stecken zu bleiben, unfähig, sich den Weg ins Innere zu b ahnen . Es war, als hätte der po rö se Sand stein über die Jah rh underte ung ezäh lte Eind rü cke au fgesogen, die in ih m gefangen waren wie die gepressten Blumen , die zwischen den Seiten von Büchern au s dem n eunzehnten Jah rhund ert aufbewahrt und vergessen wu rd en und eine Barriere zwischen drinnen und draußen bild eten . In der Luft draußen lag vielleich t no ch eine Ahnung von Butterblumen und frisch gemähtem Gras, aber im Innern des Schlosses ro ch es nur nach angehäufter Zeit, d em mo d rigen Atem v on Jah rhunder ten. Wir gingen vo rb ei an einer Reihe verlockender verschlossener Tü ren, die ich am liebsten geöffnet hätte, bis wir schließlich am Ende des Korridors, ku rz bevor er um eine Ecke bog und im Dü steren v erschwand, zu einer Tü r kamen , die einen Spaltb reit offen stand. Ein Streifen Licht lächelte von innen und dehn te sich zu einem Grinsen aus, als Percy Blyth e die Tü r mit ih rem Stock aufschob. Sie trat zu rück u nd gab mir mit ein em d eutlich en Nick en zu verstehen, ich solle vorausgehen. Ich betrat einen Salon, der in verb lü ffendem Kontrast zu dem düsteren holzgetäfelten Korridor stand, au s dem wir gekommen waren: Die ehemals leuchtend gelbe Tapete war mit der Zeit verb lasst, sodass da s lebhafte Mu ster n u r no ch sch wach zu erkenn en war, und ein riesiger, rosa und blau und weiß gemusterter Tepp ich, mittlerweile verscho ssen un d fadensch einig, reichte bis fast an die Fuß leisten. Gegenüb er
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dem mit kunstvollen Ornamenten versehen en offenen Kamin stand ein So fa, merkwürdig lang und niedrig, das von häufiger Benutzung zeugte und trotzdem au sg esprochen einladend wirkte, und daneben ein e Singer-Näh maschine, in d ie ein Stück blauer Stoff eingesp annt war. Der Lurcher trottete an mir vo rbei und machte es sich au f einem platt getretenen Schafsfell bequem, das unter eine m min d esten s zweihundert Jahre alten, großen Gemälde lag: eine Szen e mit Hunden und Hähnen , die Oliv- und Brauntöne im Vordergrund verb lasst wie zu einem stummen Einerlei, während der Himmel im Hintergrund auf ewig dämmerte. Die Tapete an der Wand hinter dem Lurcher war fa st vo llständ ig durchgescheu ert. An einem rund en Tisch saß eine Frau im Alter von Percy, den Kopf tief über ein Blatt Papi er gebeugt, wie eine Insel in einem Meer aus Scrabblebuch staben. Als sie mich bemerkte, nahm sie ihre riesige Leseb rille ab , ließ sie in eine v erbo rgene Tasche ih res langen Seidenkleids gleiten und stand au f. Ihre Augen waren grau blau , die Brauen unau ffällig. Ih re Fin gernägel jedoch waren passend zu m Lippen stift und zu m g roß en Blumen mu ster au f ih rem Kleid ro safarben lackiert. Zwar war sie anders gekleidet, sch ien jedoch eb enso wie Percy au f eine p erfekte äuß ere Erschein ung zu ach ten , die irg end wie altmo disch war, auch wen n die Kleider selb st nicht alt zu sein schienen . »Das ist meine Sch wester Seraphin a«, sagte Percy und trat zu ih r. »Saffy«, sagte sie mit üb ertrieben lauter Stimme, »das ist Ed ith .« Saffy tipp te sich ans Ohr. »Du brauchst nicht so zu schreien , Percy, meine Liebe«, erwiderte sie leise in einem singenden Ton fall, »mein Hö rg erät ist eing esch altet.« Sie läch elte mich zurü ckhaltend an und blinzelte, weil ih r die Brille fehlte, die sie au s lauter Eitelk eit abgen o mmen hatte. Sie war eben so g ro ß wie ih re Zwillin gsschwester, ab er au fgrund einer optischen Täu schu ng, d ie du rch ih re Kleidung od er das Licht od er du rch ih re Haltung v eru rsacht wu rd e, wirk te sie klein er. »Alte Gewo hnheiten ändern sich nicht«, sagte sie, »Percy war immer die Bestimmende. Ich bin Saffy
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Blyth e, und es ist mir wirklich ein großes Vergnügen, Sie kennen zulernen.« Ich trat auf sie zu und schüttelte ihr die Hand. Sie war das Abbild ihrer Schwester oder war es zu mind est früher einmal gewesen . Die v ergang enen achtzig Jah re hatten un terschied liche Linien in die Gesichter der Schwestern gegraben, ab er bei Saffy war das Ergebn is irgendwie weicher, freundlicher. Sie sah genauso aus, wie man sich eine alte Dame in einem Herrenhaus vorstellt, und sie war mir auf Anhieb symp ath isch. Percy flößte einem Respekt ein, aber bei Saffy muss te ich an Haferplätzchen und h andg eschöp ftes, mit Tinte be schriebenes Papier denken. Erstaunlich, wie der Charakter die Menschen p rägt, wenn sie älter werd en, indem er sich von innen seinen Weg such t un d seine Spu ren hinterlässt. »Wir hab en einen An ruf v on Mrs. Bird erhalten «, sagte Saffy. »Ich fü rchte, sie ist im Dorf aufgehalten wo rd en.« »Oh .« »Sie hat sich mächtig aufgereg t«, ergänzte Percy tonlos. »Aber ich habe ihr gesag t, da ss es mir ein Verg nügen sein wü rd e, Sie heru mzu führen.« »Meh r als ein Vergnüg en «, fügte Saffy lächelnd h inzu. »Mein e Sch wester liebt dieses Haus wie andere Leute ihren Ehep artner. Sie freut sich über die Gelegenheit, damit anzugeben . Und das zu Rech t. Dieses alte Hau s mach t ih r alle Eh re: Allein ih rer jahrelang en unermü d lichen Arb eit ist es zu verdanken, dass es immer noch in einem guten Zu stand ist.« »Ich habe nur getan, was no twendig war, u m zu verhin dern , dass die Mauern u m u ns h eru m einstü rzen. Meh r nich t.« »Meine Schwester neigt zur Bescheidenheit.« »Und meine zu r Starrköp figkeit.« Die Frotzelei war o ffenb ar Te il ihrer norma len Konversation. Sie hielten in ne und wandten sich mir lächelnd zu. Ei nen Aug enblick lang war ich völlig k on sterniert, denn ich musste unwillkürlich an das Foto in Raymond Blythe in Milderhurst denken un d fragte mich , welche dieser beiden Damen welcher Zwilling gewesen sein mo chte. Dann n ah m Saffy P ercys Hand. »Meine Sch wester kü mmert sich schon ihr ganzes Leben lang um u n s«, sagte sie, und als sie ih re Zwilling s-
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sch wester vo ller Bew und erung ansch aute, wu sste ich, dass sie das kleinere, zartere der beiden Mädchen au f dem Foto gewesen war, das so unsicher in d ie Kamera lächelte. Dieses zusätzliche Lob schien Percy gar nicht zu behagen. Sie nestelte an ihrem Uh ren armband herum u nd mu rmelte: »Lass es gut sein . Wer weiß, wie lange noch.« Es ist immer schwierig zu wissen , was man sagen soll, wenn sehr alte Leute üb er den Tod und sein n ahes Bevo rstehen sp rech en , also tat ich , was ich jedes Mal tu e, wenn Herbert andeutet, ich könnte Billing & Bro wn »ein es Tages« übernehmen: Ich lächelte, als hätte ich etwas falsch verstanden, und betrachtete den sonnend urch fluteten Erker. Und da bemerkte ich die dritte Schwester; das mu sste Juniper sein. Sie saß stocksteif in einem verschlissenen grünen Samtsessel und schaute du rch das offene Fenster au f die Parklandschaft hinaus. Dü nne Sch waden von Zigaretten qualm stiegen aus einem Kristallasch enbecher au f und ließ en ih re Umrisse un scharf ersche inen . Im Geg en satz zu ih ren Schwestern war an ihrer Kleidung n ich ts Gepflegtes. Sie trug die in ternatio nale Tracht des ewigen Patienten: ein e schlecht sitzend e hoch gesch lossen e Blu se, die in eine un fö rmig e Ho se gestopft war. Außerdem war ih re Kleid ung v oller Fettfleck en, als hätte sie sich beim Essen bekleck ert. Vielleich t spürte Juniper meinen Blick, denn sie drehte den Kopf ein wenig zu mir. Ih r Blick war glasig und unstet, was auf starke Medikamente schließen ließ , und als ich ih r zu läch elte, zeigte sie keine Reaktion , sond ern starrte mi ch an, als wollte sie mich mit ih rem Blick du rch bohren . Während ich sie anschaute, nahm ich ein leises Geräusch wahr, das mir vorher nicht au fgefallen war. Ein kleiner Fern seher stand au f einem Beistelltisch unter dem Fenster. Gerade lief ein e amerikanisch e Sitco m mit diesen penetran ten Dauerdialogen , unterb rochen von Lachkonserv en, d ie wie Stö rrau schen klangen . Die Situatio n k am mir vertraut vo r, der lau fende Fernseher, der warme, sonn ige Tag draußen, die sch lech te, ab gestandene Luft drinn en: eine weh mü tig e Erin nerung an mein e Besuch e wäh rend der Sch ulferien bei meiner Großmutter, bei der ich tagsüber fernsehen durfte. »Was willst du h ier? «
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Der plötzlich e eiskalte Schlag mach te d ie angen eh men Erinnerungen an meine Gro ß mu tter zunichte. Jun iper Blythe starrte mich immer noch an , aber ih r Gesich tsau sd ruck war jetzt alles and ere als leer. Er war entschied en ab weisen d. »Ich, äh ... hallo«, sag te ich, »ich ...« »Was hast du hier zu suchen? « Der Lu rcher stieß ein klägliches Jaulen aus. »Juniper!« Saffy eilte zu ihrer Sch wester. »Liebes. Edith ist unser Gast.« Sie nahm das Gesicht ih rer Sch wester san ft in beide Hände. »June, das h abe ich dir doch erzählt, erinnerst du dich nicht? Ich habe es dir alles erklärt: Edith ist hier, weil sie sich das Haus ein bisschen an sehen mö chte. Percy macht eine kleine Füh run g mit ih r. Du b rau ch st dir keine Sorgen zu ma chen, Lieb es, es ist alles in Ordnun g.« Während ich nur noch den dringenden Wunsch verspürte, mich in Lu ft au fzulö sen, tauschten die Zwillinge einen Blick aus, der so selbstverständlich auf ihre verwitterten Gesichtszüg e trat, dass sie ihn zweifello s schon u nzählig e Male zu vo r ausgetau scht haben mu ssten. Percy nickte Saffy sch mallip pig zu, un d dan n verschwand der Au sd ru ck wied er, eh e ich begriff, waru m dieser Blick mir ein derartig es Unbehagen bereitete. »Also d ann«, sagte sie mit g esp ielter Fröhlichk eit, die mich zu sammenzucken ließ. »Die Zeit wird k napp . Wollen wir, Miss Burchill? « Erleichtert folgte ich ihr aus dem Zimmer um eine Ecke und in einen weiteren küh len, dämmri gen Korridor. »Ich zeige Ihnen zuerst die hinteren Zimmer«, sagte sie, »aber dort werden wi r un s nicht lan ge au fh alten. Da gibt es nicht v iel zu seh en. Schon seit Jah ren ist alles mit Tüchern ab gedeckt.« »Warum das? « »Weil die Zimmer nach Norden liegen.« Percy hatte einen schneidenden Tonfall, wie ihn früh er die Sprecher beim Rundfunk hatten, als die BBC noch bei allem, was eine Nachricht wert war, das letzte Wo rt hatte. Ku rze Sätze, perfekte Diktion, und ein Punk t war ein Punkt. »I m Winter alles zu heizen ist unmöglich«, sagte sie. »Aber wir
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sind ja nur zu dritt und b rauchen nicht viel Platz. Es war einfacher, einige Tü ren fü r immer zu verriegeln. Meine Schwestern und ich haben un s im Westflügel eingerichtet, in der Nähe des gelben Salon s.« »Klingt v ernün ftig «, sag te ich. »In einem Hau s dieser Grö ße muss es ja Hunderte vo n Zimmern geben. All die Stockwerke. Ich würd e mich wahrscheinlich andauernd verlaufen.« Ich merk te selbst, dass ich nu r noch d rau flo splapperte, ab er ich konnte nichts dagegen tun. Meine Unfäh igkeit, S mall Talk zu betreiben, d ie Au fregu ng , en dlich im In nern d es Schlosses zu sein, die Beklommenheit nach der Szene mit Juniper ... wie au ch immer, es war eine tödliche Ko mb ination . Ich holte tief Lu ft und fuhr zu meinem Entsetzen fort: »Ab er Sie woh nen ja schon Ihr Leben lang hier und haben bestimmt kein Prob lem d amit ...« »Tut mir leid «, erwiderte sie sch arf und d rehte sich zu mi r u m. Selb st im Dä mmerlich t konnte ich erken nen , dass sie bleich gewo rd en war. Sie wird mich auffordern zu gehen, dachte ich; mein Besuch ist zu viel für sie, sie ist alt und müde, und ihrer Schwester geht es nicht gut. »Unserer Schwester geht es nicht gut«, sagte sie, und mich verließ d er Mut. »Es hat n ich ts mit Ihnen zu tun. Sie kann manchmal sehr grob sein , ab er sie meint es nicht so. Sie hat eine sch were Enttäu schung erlebt. Eine schlimme Sache. Vo r langer Zeit.« »Sie mü ssen sich do ch nicht rechtfertig en «, sagte ich. Bitte schicken Sie mich nicht fort. »Seh r freundlich , ab er es ist mir ein Bedürfnis. Diese Takt losigkeit. Sie kommt nicht gut zurecht mit Fremden. Es ist eine g roße Belastung fü r u ns. Un ser Hau sarzt ist vo r zeh n Jah ren g esto rb en, und wir haben immer n och k einen neuen gefunden , mit dem wir zu frieden sind . Sie ist man ch mal völlig verwirrt. Ich ho ffe, Sie glauben n ich t, unwillko mme n zu sein.« »Ganz und gar nicht, ich kann d as vollk o mme n verstehen.« »Das hoffe ich. Denn wir freuen uns sehr üb er Ih ren Besuch.« Wieder dieses schmale Haarnadel-Lächeln. »Das Schloss mag Besucher; es braucht Besucher.«
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Hausgeister Am Morgen meines zehnten Geburtstag fuhren meine Eltern mit mir ins Beth nal-Green-Mu seum, wo wir uns die Pupp enhäuser an sehen wollten. Ich weiß nicht mehr, wie sie auf die Puppenhäuser geko mmen waren , ob ich mich dafür in teressiert hatte oder ob mein e Eltern in der Zeitung etwas üb er die Sammlung gelesen hatten, ab er ich erinnere mich sehr genau an den Tag. Es ist eine dieser wenigen frühen Erinnerungen, die ewig bleiben; rund und in sich g eschlossen , wie eine schön e Seifenblase, die nie gep latzt ist. Wir sind mit dem Taxi hing efah ren, was ich sehr schick fand, und dan ach waren wir in ein em f einen Café in Mayfair. Ich weiß sogar no ch, was ich anhatte: ein Minikleid mit Rauten mu ster, d as ich mir mon atelang gewün scht und an diesem Mo rgen zum Geburtstag beko mmen hatte. Und dann erinnere ich mich au ch no ch sehr deutlich daran, dass wir meine Mutter verloren haben. Vielleicht ist dieses Erlebnis, und weniger der Besuch d er Pupp enhäu ser, d er Grund , waru m d ieser Tag nich t in dem ch aotischen Sammelsurium mei ner Kindheitserinneru ngen untergega ngen ist. Die Welt stand plötzlich köp f. Erwach sene gingen nicht verloren, nicht in meiner Welt: So etwas passierte Kin dern, klein en Mädchen wie mir, die am liebsten ihren Tagträumen nach hingen und nicht au fpassten , wo sie hintraten, und üb erhaup t viel zu selbstv ergessen waren . Ab er nicht d iesmal. Diesmal, es war un erklärlich, un fassbar, war meine Mutter v ersch wund en. Mein Vater und ich standen in der Sch lange, um ein Souvenir-Heftchen zu kau fen, als es passierte; langsam schob en wir un s vo rwärts, jeder in seine Ged anken vertieft. Erst als wir an der Kasse standen und zu erst die Verkäu ferin , dann ein ander stu m m an blin zelten , wu rd e un s plötzlich bewu sst, dass unser traditionelles Familiensprachrohr fehlte. Ich habe sie schließlich g efunden; sie kn iete v o r eine m Pupp enhaus, an dem wir scho n vo rb eig ekommen waren . Es war g roß und dü ster, mit vielen Treppen und einem Speicher, der das ganze Dachgesch oss einn ahm. Sie erklärte mir nicht, waru m sie no ch ein mal dorthin zu rü ckgek ehrt war, sondern 62
sagte nur: »Solche Häuser gibt es wirklich, Edie. Richtige Häuser mit echten Menschen darin . Kann st du dir das vo rstellen? So viele Zimmer? « Ih re Mund winkel zu ckten, als sie leise in einem langsamen Singsang fortfuhr: »Alte Mauern, die von fernen Stunden singen.« Ich glaube nicht, dass ich etwas geantwo rtet h abe. Ersten s blieb keine Zeit - genau in de m Mo men t kam mein Vater, er war ganz aufgeregt und wirkte irgend wie persönlich getroffen - und zweitens wusste ich einfach nicht, was ich sagen sollte. Obwoh l wir nie wieder d arüb er sp rachen , dauerte es ziemlich lange, bis ich die Vo rstellung gan z au fgab, dass es d raußen in der g roß en, weiten Welt solche Häu ser gab, mi t echten Mensch en d arin und Mauern , die sin gen konn ten. Ich erwähne das Bethnal-Green -Museu m hier nu r, weil mir, als Percy Blythe mich du rch dun kle Flu re füh rte, d ie Bemerkun g mein er Mu tter wied er einfiel, immer d eutlicher, b is ich ihr Gesicht vor mir sah, ihre Worte hö rte, so klar, als stünd e sie d irekt neben mir. Vielleich t hatte es ja etwas mit d em seltsamen Gefü hl zu tu n, d as auf mir lastete, wäh rend wir das gewaltige Hau s erkund eten, mit dem Eind ruck, irgendwie Opfer ein es Zaubers zu sein, der mich auf Miniaturgröße gesch ru mp ft und in ein Pupp enhaus befö rd ert hatte, wenn auch in ein ziemlich heru ntergekomme nes. Eins, dessen Besitzer den Kinderschuhen entwach sen war und sich anderen Obsessionen zugewandt hatte; d er al les einfach sich selbst überlassen hatte, die Zimmer mit ih ren verblassten Tapeten und verschlissenen Seidensto ffen und d en mit Bin sen matten au sgeleg ten Böd en, d ie Vasen und ausgestopften Vögel, die schweren Möbel, die in stu mme r Ho ffnung darau f warteten , wieder benutzt zu werden. Ab er v ielleicht kam das auch alles erst später. Vielleicht kamen mir die Worte meiner Mutter zuerst in den Sinn, den n natürlich hatte sie an Milderhurst gedacht, als sie mir von echten Mensch en in rich tig en Häu sern mit vielen Zimmern erzählt hatte. Was sonst so llte sie dazu g ebracht haben , so etwas zu sagen? Der entrückte Gesichtsau sd ruck war das Ergebnis ih rer Erinneru ngen an di esen Ort gewesen. Sie hatte an Percy, Saffy und Juniper Blythe gedacht und die seltsamen , g eheimn isvo llen Ding e, die ih r als Kin d widerfah ren
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sein mussten, als sie von Sü dlondo n nach Sch lo ss Mild erhurst verpflanzt worden war. Dinge, die noch nach fünfzig Jah ren eine so lche Mach t au f sie au sübten, dass sie weg en eines v erlo ren gegang enen Briefs in Tränen ausb rach. Wie auch immer, jedenfalls war bei Percys Führung an jenem Morgen meine Mutter imme r bei mir. Ich hätte mich nicht dagegen wehren kön nen, selb st wenn ich es gewollt hätte. Egal, wie eifersüchtig ich darauf beharrt hatte, meine Erkundung des Schlosses als etwas Ureigenes zu betrachten, ein Teil meiner Mutter, von dem ich weder etwas geahnt noch gewusst hatte, war g anz offensichtlich untrennbar mit diesem Haus verb unden . Ich war es n ich t gewoh nt, etwas mit ihr gemeinsam zu haben, und allein die Vorstellung ließ die Welt schneller ro tieren, aber nach einer Weile merkte ich, dass ich eigentlich gar nichts dagegen hatte. Im Gegenteil, ich war froh d arüber, dass mir ihre eigen artige Bemerkung im Museum nicht länger ein Rätsel war, ein Mo saik stein, der nirgendwohin passte. Es war ein Frag men t au s d er Vergan genheit meiner Mutter, das irg endwie heller und interessan ter zu sein schien als der Rest. Und so kam es, dass, während Percy mich heru mfü h rte und ich zu hö rte, mich umsah und nickte, ein geisterhaftes London er Kind still n eben mir h er g ing , äng stlich un d mit g ro ßen Augen: Es war auch zu m ersten Mal hier. Und es gefiel mir, dass es da war; am liebsten hätte ich über die Jahrzehn te hinweg seine Hand g eno mmen . Ich fragte mich, wie d as Haus wohl im Jahr 1 9 3 9 gewesen war und wie viel sich in den vergangenen fünfzig Jahren verändert haben mochte. Ob sich Schlo ss Milderhurst schon damals angefühlt hatte wie ein schlafendes Haus, träge, staubig und dämmrig. Ein altes Haus, d as den Zeiten trotzte. Und ich fragte mich, ob ich wohl Gelegenheit bekommen würde, das kleine Mädchen zu frag en, ob es noch hier war. Ob ich es jemals würde finden können . Es ist un mög lich , alles wiederzugeben, was ich an jene m Tag in Milderhu rst zu hö ren u nd zu sehen bek am, und es ist au ch unwichtig fü r den Fo rtgang d ieser Gesch ich te. So v ieles ist seitdem geschehen; Ereignisse, die danach stattgefun-
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den haben, vermischen sich läng st in mein er Erinnerung, so dass es schwierig ist, meine ersten Ein d rücke von dem Haus und seinen Bewohnerinn en herauszu filtern . Ich werde mich also bei meiner Erzählung an die Anblicke u nd Geräusch e halten, die mir am leb haftesten in Erinnerung g eblieb en sind, und auch nur diejenig en Ereig nisse erwäh nen , die einen Bezug zu dem haben, was danach kam u nd was vo rh er gesch ehen war. Ereign isse, d ie niemals in meinem Ged ächtn is verblassen dü rfen - und werden. Zwei wichtige Dinge wu rd en mir wäh rend der Füh rung klar. Ersten s h atte Mrs. Bird reichlich untertrieben, als sie gesagt hatte, Milderhurst sei ein bissch en vernachlässig t. Das Sch lo ss war vö llig herun tergek ommen , und n icht etwa au f schicke, mo rb ide Art. Zweitens, und das war noch bemerkenswerter, Percy Blythe war fü r diese Tatsache völlig blind. Ungeachtet d er dicken Staubsch icht auf den schweren Möbeln, d er stickigen, staub gesch wängerten Lu ft und d er von Gen erationen von Mo tten zerfressen en Vo rh änge sprach sie über das Haus, als stünde es in seiner Blüte, als würden hier eleg ante literarisch e Salons v eran staltet, bei den en Mitglieder der königlich en Familie sich un ter Kün stler u nd Intellektu elle misch ten , und als wü rd e eine Heersch ar v on Bediensteten un sichtbar du rch die Flu re eilen, um d ie Anordnungen der Familie Blyth e au szu füh ren . Ich hätte Mitgefühl fü r sie emp finden könn en, weil sie so seh r in ih rer Fantasiewelt gefangen war, ab er sie war so ganz und gar nicht der Typ Mensch , der Mitgefüh l herv orru ft. Sie war alles an dere als ein Opfertyp, und so verwandelte sich mein Mitleid in Bewunderung , in Respekt vo r ihrer hartnäckigen Weigerung , sich einzugestehen, dass d as Hau s u m sie heru m un au fhaltsam v erfiel. Und noch etwas mö chte ich unbedingt in Bezug au f Percy erwähnen: Für eine Mittachtzigerin mit Stock war sie au sgesprochen gut zu Fuß. Wir besichtigten das Billardzimmer, d en Tanzsaal, den Wintergarten , dan n ging es hinu nter in d ie Dien stboten räu me. Wir eilten du rch das Anrichtezimmer, die Speisekammer, d ie Spülk üch e und gelangten sch ließlich in die Küche: Kupfertöpfe und Kupferp fannen h ingen an Haken an d en
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Wänd en, ein stattlicher AGA-Herd ro stete vo r sich hin, au f dem g efliesten Boden standen au fgereiht leere, bauchig e Keramikgefäße. In der Mitte b efand sich ein gewaltiger Tisch au s Kiefernho lz mit g ed rechselten Beinen , dessen Platte üb ersät war mit den Wund en von zahllosen Messern, in die man an stelle von Salz Mehl g estreut hatte. Die Lu ft hier un ten war kühl und abgestanden, und d ie Dien stb oten räume wirkten noch verlassener als die Zimmer in den oberen Stockwerken. Dies waren d ie ungenutzten Räder einer beeind ruckenden viktorianischen Maschinerie, di e dem Zeiten wandel zum Op fer gefallen und schließ lich zu m Stillstand gekommen war. Ich war nicht die Einzige, die die Trostlosigkeit registrierte. »Kau m zu glauben , dass hier früh er so viel Leben geherrscht hat«, sagte Percy Blythe, wäh rend sie mit den Fin gern ü ber die Kerben in der Tischplatte fuhr. »Meine Großmu tter hatte noch vierzig Hau sangestellte. Vierzig . Man v ergisst, wie seh r das Haus ein mal geglänzt hat.« Der Boden war übersät mit kleinen, brau nen Kügelchen, die ich zu erst fü r Sandkö rner hielt, aber an der Art und Weise, wie sie unter d en Füßen knirschten, erkannte ich, dass es sich um Mäusekötel handelte. Ich nahm mir im Stillen vor, dankend abzu lehn en, falls man mir Kuchen anb ieten sollte. »Als wir Kinder waren, gab es noch etwa zwan zig Bedien stete und außerdem fü nfzehn Gärtner, die d as Grund stück in Ordnung gehalten haben . Der Erste Weltk rieg hat alldem ein Ende gesetzt: Sie haben sich zum Militär gemeldet, bis au f den letzten Mann. Die meisten jungen Männer haben das getan.« »Un d keiner ist zu rückgekehrt? « »Zwei. Zwei sind wieder nach Hause gekommen, aber sie waren nicht mehr dieselben. Wir haben sie natü rlich wied er eingestellt, alles and ere wäre undenkbar g ewesen, ab er sie haben nicht lang e du rchg ehalten .« Ich war mir nicht sicher, ob sie damit die Dauer ih rer Besch äftigu ng o der ih res Lebens meinte, aber sie ließ mir k eine Zeit nachzufrag en.
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»Danach haben wir uns mit Hilfskräften beholfen, aber als dann der Zweite Weltk rieg ausb rach, war k ein Gärtner meh r zu finden, nicht für Geld u nd gu te Wo rte. Welcher ju nge Mann wäre wohl bereit gewesen , Lu stgärten zu p flegen, wenn er in d en Krieg ziehen konnte? Zumindest keiner von der So rte, die wir gern in un sere Dien ste geno mmen h ätten. Haush altsh ilfen waren gen auso rar. Damals waren wir alle mit anderen Dingen beschäftigt.« Sie stand au f ih ren Stock gestützt, und die Haut üb er d en Wan genkn ochen erschlaffte, als sie ih re Gedank en in die Verg angenheit wandern ließ. Ich räusperte mich und sagte leise: »Und jetzt? Haben Sie noch irgendeine Haushaltshilfe? « »Aber ja.« Mit einer weg werfenden Handbewegung wandte sie sich wieder der Gegen wart zu. »Wir haben n och eine alte treue Seele, die uns einmal die Woch e beim Kochen und Putzen hilft, und ein er der Bauern aus der Gegend sorgt dafür, dass die Zäun e nich t umfallen . Dann g ibt es no ch ein en ju n gen Mann, Mrs. Birds Neffen aus dem Dorf, der den Rasen mäh t und versu cht, das Unk raut in Schach zu halten. Er macht seine Sache recht gut, ab er echte Arbeitsmo ral scheint etwas zu sein, das der Verg angenheit an gehört.« Ein kurzes Läch eln blitzte au f. »An son sten mü ssen wir h ier allein zu rechtkommen.« Ich erwid erte ih r Lächeln, als sie auf den engen Dienstbotenaufgang wies und frag te: »Sagten Sie nicht, dass Sie eine leidenschaftlich e Leserin sind? « »Mein e Mutter beh auptet, d ass ich mit einem Bu ch in der Hand au f die Welt geko mmen bin .« »Dann werden Sie sicherlich unsere Bibliothek sehen wollen.« Ich hatte gelesen, dass die Bibliothek von Sch lo ss Mild erhu rst demselben Brand zum Opfer gefallen war, der auch die Mu tter der Zwillinge das Leb en gekostet hatte, und ich bin mir n ich t sich er, was ich eigentlich hinter der schwarzen Tür am Ende des Korridors erwartete; eine reich bestückte Bibliothek jedenfalls nicht. Genau das jedoch lag vo r mir, als ich Percy Blythe in das Zimmer folg te. Raumhoh e Regale an allen vier Wänd en, und selb st im schu mmr ig en Lich t - d ie
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Fen ster wurden von sch weren , bod enlangen Vo rhängen verdun kelt - konn te ich seh en, dass sie mit sehr alten Büchern gefüllt waren, von der Sorte mit marmorierten Vorsatzblättern und Goldschnitt. Es ju ckte mich g ewaltig in den Fin gern, die Buch rücken zu befühlen, ein Buch zu entdecken, dessen Verlo ckung ich nicht würde widerstehen können, es au s dem Regal zu nehmen, es behutsam aufzuschlagen, dann die Augen zu schließen und d en betörenden Duft alten, literarischen Staubs in mich aufzunehmen. Percy Blythe bemerkte mein e Neugier und schien mein e Ge danken zu lesen. »Natü rlich al les Ersatzstücke«, sagte sie. »Der größte Teil der u rsp rünglichen Familien biblioth ek ist in Flammen au fgegangen . Es war kaum etwas zu retten, und die Bücher, die n ich t verb rannten, sin d d em Rauch un d d e m Wasser zum Opfer gefallen.« »All die vielen Bücher«, mu rmelte ich, während ich fast körp erlichen Schmerz empfand. »Ja. Meinen Vater hat es sch wer getro ffen. Er hat danach fast sein g anzes Leben der Wied eran schaffung d er Sammlu ng gewid met. Briefe wu rden in alle Welt verschickt. Häufig such ten uns Händler seltener Bücher auf; andere Besucher waren eigentlich nicht willko mme n. Aber dieses Zimmer hat mein Vater nie wieder benutzt, nicht seit dem To d mein er Mutter.« Vielleich t war es ja nu r d as Produk t mein er üb erbo rdenden Fantasie, aber ich war mir sicher, dass ich den Ruß riechen konnte, der sich au s dem alten Mö rtel d en Weg d u rch d ie neuen Wände und die frisch e Farbe bahnte. Und da war auch ein Geräusch, das ich nicht einordnen konnte; ein Klopfen, das ich unter no rmalen Umstän den nicht wahrgenommen hätte, während es sich mir in diesem merk wü rdigen u nd stillen Haus regelrecht aufdrängte. Ich sah zu Perc y hinüber, die hinter einen alten Ledersessel mit Knop fpolsterung getreten war, aber falls sie es au ch hörte, ließ sie es sich jedenfalls nicht an merken. »Mein Vater war ein leidenschaftlicher Briefeschreiber«, sagte sie, den Blick auf einen Schreibtisch in der Fensternische gerichtet, »mein e Schwester Saffy eben falls.« »Und Sie nicht? «
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Ein sch mallippig es Lächeln. »Ich habe in meinem Leben nu r wenige Briefe geschrieben; nu r dann, wenn es ab solut unu mg änglich war.« Die Antwort überraschte mich , und v ielleicht v erriet mich mein Gesichtsausd ruck, den n sie wartete mit einer Erk läru ng au f. »Das geschrieben e Wort war n ie meine Stärke. In einer Familie von Schriftstellern so llte man seine Unzulänglichkeiten erkennen. Misslung ene Versuche wu rden nicht akzep tiert. Mein Vater u nd sein e beid en überleb enden Brüd er tau schten, als wir noch jung waren , formv ollend ete Briefe aus, die er uns abends vo rlas. Er erwartete von einem Text einen hohen Unterhaltu ng swert und hielt nicht mit seiner Meinung hinter dem Berg, wenn das Geschriebene seinen An sp rü chen n ich t genügte. Die Erfindun g des Telefon s h at ihn zutiefst deprimiert. Er machte es für viele Übel dieser Welt verantwortlich.« Wieder war d as Klo pfen zu vernehmen, dies mal lauter, ein Hinweis, dass sich irgendwo etwas b ewegte. Wie Wind, der du rch Ritzen fu hr und San dkö rner vo r sich her trieb , nur ir gendwie schwerer. Und es kam von oben , da war ich mir sich er. Ich betrachtete die Zimmerd ecke; eine schwache Glühbirn e hing von ein er verstaub ten Rosette herab, daneben war ein gezackter Riss im Putz zu sehen. Plötzlich hatte ich das Gefüh l, d ie Geräu sche könn ten die letzte Warnun g sein, dass die Deck e un mittelbar vo r d em Einsturz stand. »Dieses Geräu sch ...« »Ach, beachten Sie es einfach nich t«, sagte Percy Blythe und winkte mit ih rer dü rren Hand ab . »Das sind bloß die Hausg eister, die in den Adern des Gemäu ers spielen.« Ich schätze, ich habe ziemlich kon sterniert d reingeb lick t, jedenfalls fühlte ich mich so . »Sie sind das bestgeh ütete Geheimnis in einem alten Haus wie diesem.« »Die Hausgeister? « »Die Adern.« Sie legte stirn runzelnd den Kop f in den Na cken und ließ den Blick am Stuck entlangwandern, als folgte sie mit den Augen etwas, d as ich nicht sehen konn te. Als sie
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weitersprach, klang ihre Stimme verändert. Ihre Unerschütterlichkeit hatte ein en winzig en Riss beko mmen , und ein en Aug enblick lang hatte ich das Gefü hl, ich würd e sie erst jetzt richtig sehen und hö ren. »In einem Schrank in einem Zimmer unter dem Dach befindet sich eine verb o rgen e Tü r. Es ist der Eingang zu einem Labyrinth vo n Geheimg ängen. Man k ann darin entlangkriechen, von Zimmer zu Zimmer, vo m Dachbod en b is ins Kellerg ewölbe, wie eine Mau s. Wenn man ganz leise ist, hört man es üb erall flüstern , aber man kann sich auch in den Gängen verirren, wenn man nicht vo rsichtig ist. Das sind die Adern des Hauses.« Ich schüttelte mich bei der Vo rstellung , dass es sich b ei dem Haus um ein gewaltiges kauernd es Leb ewesen hand elte. Ein dunk les und namenloses Geschöpf, das den Atem anhielt; die fette, alte Kröte aus einem Märch en, d ie au f die Gelegenheit wartet, der Jungfrau einen Kuss abzuluchsen. Natürlich dachte ich an den Modermann, die finstere und glitschige Gestalt, die aus dem Schlossgraben au ftauch t wie au s dem Styx , u m sich das Mäd chen h inter dem Dachboden fen ster zu holen. »Als Kinder haben Saffy und ich ein Spiel gesp ielt: Wir haben un s vo rg estellt, dass eine Familie, die vo r u ns hier woh nte, in d iesen Gäng en h au ste und sich weigerte au szu ziehen. Wir haben sie die Hausgeister genann t, und immer, wenn wir ein Geräusch hörten, das wir un s nicht erklären konnten, wussten wir, dass sie es waren.« »Wirk lich?«, flü sterte ich. Sie mu sste üb er meinen Gesichtsau sd ru ck lachen, ein eigen artiges, humorloses Gackern, das so unvermittelt abbrach, wie es begonnen hatte. »In Wirklichkeit gab es sie natürlich nicht. Keine So rg e. Diese Geräu sch e, die Sie hö ren, stammen von Mäu sen . Davon hab en wir hier weiß Gott genug.« Ein leich tes Zuck en in ih rem Au g en win kel , wäh ren d sie mic h betrachtete. »Wollen Sie sich den Schrank mit der verborgenen Tür im Kinderzimmer vielleich t auch no ch an seh en? « Ich glaube, ich h abe tatsächlich g equ iekt. »Ja, unbed ingt.« »Dann kommen Sie mit. Es ist eine ziemliche Kletterpartie.«
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Das leere Dachzimmer und die fernen Stunden Die hatte nicht üb ertrieb en. Die Treppe wollte und wollte nicht end en und wu rde nach jedem Absatz enger und düsterer. Als ich schon glau bte, ich würd e in einen Zustand völliger Blindheit eintauch en, b etätig te Percy Blythe einen Sch alter, und eine nackte Glühbirne, die an ein em Kabel vo n der Decke hoch oben bau melte, spendete schu mmriges Licht. Jeman d h atte n achträglich ein en Handlau f an der Wand an gebracht, damit man den letzten steilen An stieg gefahrlos bewältigen konn te. Irgend wann in den Fünfzigerjahren, schätzte ich; ein Metallroh r, einfach und zweckmäßig. Wer auch immer es wann auch immer ang eb racht hatte, ich dankte ih m von Herzen. Jetzt bei Licht sah ich, dass die Stufen gefährlich ausgetreten waren, und ich war froh, mich an etwas festhalten zu können. Wen iger angenehm wa r, dass ich jetzt auch all die Spinnweben sehen konn te. Hier ob en war schon lange niemand mehr gewesen, was sich die Schlossspinnen zu nutze gemacht hatten. »Un sere Kind erfrau hatte immer ein e Talgkerze d abei, wen n sie uns abends ins Bett geb racht hat«, sagte Percy, wäh rend sie die letzten Stufen erklomm. »Der Lich tsch ein flackerte au f den Wän den , un d sie sang dieses alte Kind erlied. Sie kennen es bestimmt: >Kennt ih r die Geschichte vom Mord i m Schloss<.« Wo das Blut in Strömen die Treppe runterfloss. Natürlich kannte ich es. Ein graues Spinnennetz streifte meine Sch ulter, und plö tzlich sehnte ich mich nach meinem winzigen Zimmer in meinem Elternhaus. Dort gab es kein e Spinnweb en , nur alle zwei Wochen die übliche Putzaktion mein er Mutter und den beru higenden Geru ch nach Reinigungsmitteln. »Damals hatten wir noch keinen Stro m. Der k am erst Mitte der Dreiß igerjah re, und da auch nur mit Halbspannung. Mein Vater konnte d ie vielen Kabel nicht au ssteh en. Er hatte Angst vor einem Brand, verständlich nach dem, was mit meiner Mutter passiert war. Nach dem Unglück hat mein Vater ein System von Feuerschutzübungen entwickelt. Er läutete eine Glock e un ten au f d em Rasen und maß mit seiner alten Stoppuhr die Minuten, die wir brau chten, bis wir d rauße n 71
waren. Und dab ei sch rie er di e gan ze Zeit, das Hau s wü rd e gleich lichterloh b rennen wie ein g igantischer Scheiterhau fen.« Sie ließ wieder ih r glasschn eidendes Gack ern hö ren, dann blieb sie unvermittelt au f der obersten Trep penstu fe stehen. »So«, sagte sie, steck te d en Schlüssel in s Schloss und hielt ihn einen Moment fest, bevor sie ihn drehte. »Wollen wir? « Als sie die Tü r au fstieß , h ätte mich das grelle Licht fast umgeworfen. Ich blinzelte, bis sich mein e Augen an die Helligkeit gewöhnten und d ie Kontu ren im Rau m allmäh lich hervortraten. Nach dem mü h seligen Aufstieg war das Dachzimmer auf den ersten Blick eine En ttäuschun g. Der au sgesp roch en nüchterne Raum hatte n ich ts von ein em v ik to rianisch en Kin derzimmer. Im Gegensatz zu den an deren Zimmern im Haus, die liebevoll erhalten waren , als könnten ih re ehemaligen Bewohn er jed en Augenb lick zu rück keh ren, war das Kind erzimmer au f unh eimliche Weise kah l. Als wäre es g ründlich gesch rubbt und sogar frisch geweißt wo rden. Es gab keinen Tepp ich, und die b eiden eisern en Betten, die an d er gegenü berliegend en Wand jeweils link s und rech ts neben dem offenen Kamin län gs in s Zimmer ra gten, waren nicht bezogen. Au ch Vorhän ge gab es kein e, was die Hellig keit erklärte, und in dem Regal unter einem der Fenster standen weder Büch er n och Spielsachen . Das Regal un ter dem Dachzimmerfenster. Mir schlug das Herz bis zu m H als. Un willkü rlich sah ich das Mädchen au s d em Prolog v om Modermann vor mir, wie es nachts au fwachte u nd sich zu m Fen ster hingezogen fühlte; wie es still und leise auf das Reg al k letterte und hinaussch aute und von d en Ab enteu ern träu mte, die es eines Tages erleben wü rde, ohne zu ahnen, welche Schrecken auf es war teten. »Dieses Dachzimmer hat Generationen von Kindern der Familie Blythe beherbergt«, sagte Percy Blythe, während sie sich im Zimmer umsah. Sie sagte nichts zu m kahlen Zu stand des Zimmers oder zu seinem Platz in d er Literaturg eschichte, und ich d rängte sie nicht dazu. Seit dem Aug enblick, als sie den Schlü ssel im
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Schloss gedreht und mich eingelassen hatte, wirkte sie be d rü ckt. Ich war mir nich t sicher, ob es die Au swirk ung des Kinderzimmers war, oder ob das grelle Licht einfach nur die Spuren des Alters in ih rem Gesich t deu tlicher hervo rtreten ließ. Wie auch immer, es schien mir wichtig, sie gewähren zu lassen . »Verzeihen Sie bitte«, sagte sie schließlich. »Ich war ewig n ich t hier oben . Alles wirk t ... k leiner, als ich es in Erinnerung hatte.« Das Gefüh l kann te ich gut. Wenn ich in dem Bett in meinem eh emaligen Kinderzimmer s ch lief, fand ich es immer wieder seltsam festzu stellen, d ass es zu ku rz war, oder das blasse Rechteck au f der Tapete zu seh en, wo ein mal d as Po ster von Blondie gehangen hatte, deren Sän gerin , Debo rah Harry, ich als Teenager verehrt hatte. Aber wie es sich anfühlte, ein Kinderzimmer zu betreten, das man vor achtzig Jahren bewohnt hatte, konnte ich n ur v age erahnen. »Haben Sie alle d rei als Kinder hier oben geschlafen? « »Nicht wir alle, nein. Juniper nicht. Die ist erst sp äter hier herau fgezogen.« Percy v erzog d ie Lipp en, als hätte sie einen bitteren Gesch mack im Mu nd. »Ih re Mutter h atte in ih rer Suite ein Kinderzimmer eingerichtet. Sie war ju ng und nich t mit den Gep flogenh eiten vertraut. Es war nicht ih re Schuld.« Ihre Wortwahl machte mich stu tzig , und ich war mir nich t sicher, ob ich verstanden hatte, was sie meinte. »Nach d er Tradition in diesem Haus bek amen Kinder erst mit dreizehn Jahren ein eigenes Zimmer im unteren Stockwerk. Saffy und ich kamen uns sehr wich tig vo r, als wir nach un ten zieh en d urften , ab er ich mu ss gestehen , dass ich d as Dachzimme r vermisst habe. Saffy und ich waren es gewöhn t, alles miteinander zu teilen.« »Das ist wah rsch einlich no rmal bei Zwillingen .« »Allerdings.« Die Spur ein es Lächelns. »Kommen Sie. Ich zeige Ihnen die Tü r zu den Hausgeistern.« Der Mahagon isch rank stand in einer winzigen Kammer hin ter den Betten. Die Decke war so nied rig, dass ich mich beim Eintreten bücken musste, un d ein süß licher Geruch schlug mir entgegen, der mir fast den Atem raubte.
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Percy schien ih n nich t zu b emerken . Sie b ückte sich eben falls und zog an dem nied rig angebrach ten Griff, wo raufhin sich die v erspiegelte Schranktür quietsch end ö ffn ete. »Da ist sie. In der Rück wand.« Sie sah mich du rchd ringen d an, die Augenbrauenstriche waren streng zusammengezogen. »Ab er vo n do rt au s können Sie sie bestimmt nicht sehen.« Mir die Nase zuzuh alten schien mir n icht sch ick lich , also atmete ich tief ein, hielt die Lu ft an und beug te mich vo r. Sie trat b eiseite und bed eutete mir, noch näher zu kommen. Ich verscheuchte das Bild von Gretel vor dem Ofen der Hexe und kletterte in den Sch rank. Nachdem sich meine Aug en an d ie Dunkelheit gewöhn t hatten, entdeckte ich d ie kleine Tür. »Ah«, sagte ich mit der letzten Luft, die mir blieb. »Da ist sie ja.« »Da ist sie«, kam das Echo von auß en. Notged run gen mu sste ich wieder Lu ft holen, aber der Geruch war gar nicht so schlimm, und vor lauter Aufregung üb er eine verbo rgen e Tü r in der Rück wand eines Sch rank s nah m ich ihn gar nicht meh r wahr. »Du rch diese Tü r könn en also d ie Hau sg eister herein - und wieder hin au sgelangen .« Ich hörte das Echo mein er eigen en Stimme. »Die Hau sgeister, ja«, sag te Percy sarkastisch. »Die Mäuse hingeg en hab en leider keine Tür nötig. Die kleinen Biester ma chen läng st, was sie wollen.« Ich kletterte wied er aus dem Schrank, und als ich mir den Staub von den Kleid ern klo p fte, fiel mein Blick auf das gerahmte Bild an der gegenüberliegenden Wand. Eigentlich kein Bild, sond ern ein Text, etwas Religiöses, wie ich bei m Nähertreten feststellte. Beim Betreten der Kammer war es mir n ich t au fg efallen, weil es sich h inter mir befunden hatte. »Was war das fü r ein Zimmer? « »Hier hat unsere Kinderfrau gewohnt. Als wir noch sehr klein waren«, sagte Percy. »Damals war es für uns der schö nste Ort au f der Welt.« Ein Lächeln d eutete sich an, u m gleich d arau f wieder zu versch wind en. »Es ist wirklich nicht viel mehr als ein Abstellrau m, nich t wah r? «
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»Ein Abstellrau m mit einer herrlichen Aussicht.« Ich ging zu m Fen ster. Hier waren die Vorhänge nicht entfernt worden. Als ich sie beiseite zog , fiel mir die g roße An zah l von schweren Vorhängeschlössern au f, mit denen das Fenster gesichert war. Offenbar stand mir meine Verwund erung in s Gesicht geschrieben, denn Percy sagte: »Mein Vater war imme r sehr um unsere Sich erheit beso rgt. In seiner Jugend gab es einen Vo rfall, den er n ie verwu nden hat.« Ich nickte und schaute au s dem Fen ster; der Anblick k a m mir atemberaubend vertraut v or. Ab er nicht, weil ich das alles schon einmal gesehen hätte, sond ern weil ich darüber gelesen und es mir vorgestellt h atte. Direkt unter mir entlang der Grundmau ern lag ein etwa se ch s Meter b reiter Streifen mit üp pig wach send em Gras, dessen Grün sich von der U mgebung d eutlich abhob. »Da war früher mal ein Wassergraben «, sagte ich . »Ja.« Percy war n eben mich getreten und hielt d en Vo rhang beiseite. »Eine meiner frühesten Kindheitserin nerung en ist, wie ich einmal nicht ein schlafen kon nte, weil ich do rt unten Stimmen hörte. Es war Vollmond, und als ich au f die Fensterbank geklettert b in, habe ich unsere Mutter gesehen, die im silb rigen Mondlicht au f d em Rücken schwamm u nd vergnügt lachte.« »Sie war eine begeisterte Sch wimmerin «, sag te ich, weil ich mich daran erinnerte, was ich in Raymond Blythe in Milderhurst gelesen hatte. Percy nickte k napp . »Den runden Badeteich hat mein Vater als Ho chzeitsg eschenk für sie anlegen lassen, aber sie zog den Schlossgraben vor, und so wurde jemand beau ftragt, ihn herzurichten . Nach ihrem To d hat mein Vater den Grab en auffüllen lassen.« »Er hat ihn sicherlich zu sehr an sie erin nert.« »Ja.« Ih re Lipp en zu ckten, und mir wu rd e b ewu sst, dass meine Kommentare zu ih rer Familientragödie ziemlich taktlos waren. Um das Thema zu wech seln, zeigte ich au f einen Mauervo rsprung , der in d en Graben hin ein rag te. »Was fü r ein Zimmer ist das? «, frag te ich. »Ich kann mich nich t daran erinnern , einen Balkon geseh en zu haben.«
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»Das ist die Bibliothek .« »Und da hinten. Was ist das fü r ein ummauerter Garten? « »Das ist k ein Garten .« Sie ließ den Vo rh ang wieder zu fallen. »Wir sollten un seren Rundgang fortsetzen.« Ih r Ton fall und ih re Bewegung en waren plötzlich steif. Ich mu sste sie irgend wie v erstimmt h aben, hatte jedo ch keine Ahn ung, wo mit. Hastig ließ ich un ser Gespräch Revue p assieren und kam zu dem Sch lu ss, dass es wah rsch einlich b loß die alten Erin nerung en waren, die ihr zu schaffen machten. Leise sagte ich: »Es mu ss ung laublich sein, in einem Sc hloss zu wohnen, das schon so lange im Familienbesitz ist.« »Ja«, erwiderte sie. »Es war nicht immer ein fach u nd hat un s Op fer abv erlan gt. Wir ware n gezwung en, g roße Teile d es Grund stücks zu verkaufen, erst kürzlich den Bauernhof, aber es ist un s gelungen, d as Sch lo ss zu behalten.« Demonstrativ inspizierte sie den Fensterrah men und d rü ckte ein Stückchen abblätternde Farbe an. Als sie weitersp rach , rang sie ganz o ffensichtlich mit der Fassung. »Es stimmt, was meine Schwester sagt. Ich liebe dieses Haus, wie andere einen Menschen lieben. Das war schon immer so.« Ein kurzer Blick von der Seite. »Das ko mmt Ih n en sicher sonderb ar vo r.« Ich schü ttelte d en Kop f. »Nein, eigen tlich n icht.« Sie zog zweifeln d die Brau en ho ch; aber ich mein te es ernst. Ich fand es absolu t nicht sonderbar. Meinem Vater hat es das Herz gebrochen, als er sich von seinem Elternhaus trennen musste. Die Geschich te ist relativ einfach: Ein klei ner Junge, fasziniert vo m Gesch wätz üb er die g rand io se Gesch ichte seiner Familie, ein vereh rter und reicher On kel, der Versp rechung en macht, ein Sin neswandel au f dem To tenbett. »Alte Häuser und alte Familien gehören zusammen«, fuhr Percy fo rt. »So war es schon immer. Meine Vorfahren leben fort im Gemäuer von Sch lo ss Mild erhu rst, und es ist meine Pflicht, das Haus zu erhalten. Das ist keine Aufg abe für Außensteh ende.« Ihr Tonfall war schneid end und du ldete k eine Wid errede. »Wah rscheinlich ist es fü r Sie, als wären sie alle immer n och um Sie herum ...«, als ich die Worte aussprach, sah ich
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plötzlich meine Mutter, wie sie vor dem Puppenhaus kniete, »... als wü rden d ie Mauern singen.« Sie ho b eine Braue. »Wie bitte? « Mir war gar nicht bewusst, dass ich laut gesp rochen hatte. »Das mit den Mauern«, stieß sie hervo r. »Sie h aben eben etwas über die Mauern gesagt, die singen.« »Das hat meine Mu tter einmal zu mir gesagt«, ich schluckte demütig . »Sie hat von alten Mau ern gesp ro chen , die von fernen Stunden singen .« Percys finstere Miene hellte sich unversehe ns au f. »Das hat mein Vater gesch rieb en. Ih re Mutter mu ss seine Ged ich te gelesen h aben.« Daran hatte ich allerdings meine Zweifel. Meine Mutter hatte noch nie viel fü rs Le sen übriggehabt und schon gar nicht fü r Ged ich te. »Möglich.« »Als wir klein waren, h at er un s immer Ge sch ichten über die Verg ang enheit erzählt. Er sagte, wenn er mit de m Schloss nicht pfleglich umginge, würden die fernen Stunden manchmal verg essen, sich zu verbergen .« Wäh rend sie in der Erinnerung schwelgte, hob sie ih re Hand wie d as Segel eines Schiffs. Es war eine seltsam theatralische Geste, d ie so ganz und gar nicht zu ihrer kn appen , effizien ten Art passte. Auch ihre Sprechweise hatte sich g eändert: Die kurzen Sätze wu rden länger, der Tonfall war weich er. »Er beg egnete ihnen, wenn sie in d en dunklen, v erlassen en Flu ren h eru mg eisterten. Stellt euch all die Menschen vor, die in diesen Mauern gelebt haben, sagte er, die ihre Geheimnisse geflüstert und ihre Intrigen gesponnen hab en ...« »Hö ren Sie sie au ch? Die fern en Stund en? « Einen Moment lang schaute sie mich ernst an. »Dummes Zeug«, sagte sie und setzte ih r schiefes Lächeln auf. »Das hier ist ein sehr altes Gemäuer, aber es besteh t nur aus Stei nen. Sie haben zweifello s eine Meng e geseh en , aber sie verstehen es sehr gut, ihre Geheimnisse zu wahren .« Etwas spiegelte sich in ihrem Gesicht, etwas wie Schmerz: Wah rscheinlich d ach te sie an ih ren Vater u nd ih re Mu tter, an den Tun nel der Zeit und an Stimmen , die au s der Vergangen heit zu ih r sp rachen. »Wie auch immer«, sagte sie meh r zu sich selb st. »Es füh rt zu nichts, üb er die Verg angenheit zu
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grübeln. Wer zu viel üb er die Toten n achden kt, kann sich schn ell sehr ein sam fü hlen.« »Sie sind bestimmt froh, Ihre Schwestern zu haben .« »Natü rlich.« »Ich habe mir i mmer vo rg estellt, dass es seh r trö stlich sein mu ss, Geschwister zu haben.« Sie sch wieg ein en Momen t lang. »Haben Sie kein e? « »Nein«, erwiderte ich lächelnd und zuckte leichthin die Sch ultern. »Ich bin ein ein sames Einzelkind.« »Ist man als Ein zelk ind wirklich ein sam? « Sie mu sterte mich, als wäre ich eine seltene Spezies. »Das habe ich mich schon imme r gefragt.« Ich dachte an das große Abwesende in meinem Leben und dann an die seltenen Nächte, die ich b ei meinen schlafenden, schn arch enden, mu r melnden Kusinen verbracht hatte, an meine schuldbewussten Fantasien, dass ich eine von ihn en wäre, d ass ich zu irgendjeman dem g ehö rte. »Man ch mal«, sag te ich. »Manch mal ist man als Einzelkind seh r ein sam.« »Aber auch sehr frei, könn te man an neh men .« Zum ersten Mal fiel mir ein e kleine Ader auf, die an ihre m Hals pulsierte. »Frei? « »Niemand kann ein en besser an alte Sünden erinnern als eine Schwester.« Sie läch elte zwar, aber in ihren Augen lag kein Humor. Sie musste es gemer kt hab en, den n das Läch eln versch wand wieder, und sie nickte zu m Trepp enhau s. »Ko mmen Sie«, sagte sie. »Gehen wir wieder nach unten. Seien Sie vo rsichtig . Halten Sie sich gut am Geländer fest. Mein Onkel ist hier auf dieser Trep pe g esto rben, als er no ch ein Jung e war.« »O Go tt.« Es kam mir v öllig u npassen d vo r, aber was soll man da sagen? »Wie sch reck lich .« »An dem Abend war ein schweres Gewitter aufgezogen, und er hat sich gefü rchtet, so h ieß es jeden falls. Ein Blitz h at den Himme l au fgerissen u nd is t direkt in den See eing esch lagen. Der Junge schrie vor Ang st, aber bevo r die Kinderfrau zu ihm eilen k onn te, war er schon au s dem Bett gesp rung en und au s dem Zimmer g elau fen . Dummer Ju nge: Er ist ausgerutscht, g estürzt und wie eine Sto ffpup pe am Fuß der Trep pe geland et. Manch mal, wenn das Wetter b esond ers
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schlecht war, haben wir un s vorg estellt, wir wü rden ihn nachts schreien hö ren. Er versteck t sich unter der dritten Stu fe, wissen Sie. Do rt wartet er darau f, jeman den zu m Sto lpern zu bringen, weil er ho fft, auf diese Weise Gesellschaft zu bekommen.« Sie dreh te sich au f der Stufe unter mir um, der vierten . »Glau ben Sie an Gespenster, Miss Bu rchill?« »Ich weiß nicht. Irg endwie schon.« Meine Groß mu tter hatte Gespenster gesehen. Zu mindest ein s: meinen Onkel, nach dem er in Au stralien mit d em Moto rrad u ms Leben geko mmen war. Er wusste nicht, dass er tot ist, hatte sie mir erzählt: Mein armes Lämmchen. Ich habe ihm meine Hand gereicht und ihm gesagt, dass alles gut ist, dass er nach Hause gekommen ist und wir ihn alle lieben. Ich schü ttelte mi ch bei d er Erin nerung und bekam gerad e no ch mit, wie sich auf Percy Blyth es Gesicht, ku rz bevor sie sich abwandte, ein Ausdruck g rimmig er Genugtuu ng zeigte.
Der Modermann, das Familienarchiv und eine verschlossene Tür Ich fo lgte Percy Blythe üb er ein en Treppenab satz nach de m an deren , durch düstere Flu re, dann no ch weiter nach unten. No ch weiter n ach unten als zu dem Sto ck werk , in dem wir mit dem A ufstieg begonn en h atten? Wie alle Geb äude, die mit der Zeit gewachsen sind, war Schloss Milderhurst ein einziges Lab yrinth . Flügel wa ren an - od er umgebaut wo rd en, eingestü rzt und wieder errichtet wo rd en. Das Resu ltat war meh r als verwirrend, vo r allem für jeman den ohne eingebau ten Ko mp ass. Es war, als fächerte sich das Schloss nach innen auf, wie eine dieser Zeichnung en von Escher, wo ma n ewig über Treppen gehen kan n, immer i m K reis, ohn e jemals das Ende zu erreichen. Es gab keine Fenster - zumindest, seit wir den Dachboden verlassen hatten -, und es war schrecklich dunkel. Irgend wan n hätte ich sch wö ren könn en, eine Melodie am Gemäu er entlang streich en zu h ören - ro mantisch, melancholisch , irgendwie vertraut -, ab er als wir um die nächste Ecke bog en, war sie schon wieder fo rt, und vielleicht war sie auch nie d a gewesen. Aber ein s bildete ich mir g anz bestimmt n icht ein, und das war der eigen artig e Ge-
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ruch, der stärker wu rde, je tiefer wir stiegen , un d der nu r deswegen nicht unang eneh m wu rde, weil er so erdig war. Au ch wenn Percy die Vorstellungen ih res Vaters v on den fernen Stunden als unsin nig abgetan hatte, konn te ich nich t umhin, mit der Hand üb er d ie küh len Steine zu fah ren und mich zu fragen, welche Sp u ren mein e Mutter hinterlassen haben mochte, als sie von Milderhu rst weg gegangen war. Das kleine Mädchen lief immer n och neben mir her, sprach ab er nicht viel. Ich dach te d aran, Percy nach ih r zu frag en, ab er nachdem ich jetzt schon so lange hier war, o hne mein e Verb indun g zu dem H aus offenbart zu h aben , wü rd e alles, das ich jetzt dazu sagen wü rde, nu r un glaubwürdig wirken. Sch ließlich entschied ich mich für die klassische List. »Wurde das Schloss eigen tlich während des Krieg es beschlagnahmt? « »Nein. Großer Go tt. Das hätte ich nicht ertragen. Wenn man sich überlegt, wie viel Schaden in einigen der angesehensten Häuser des Land es angerich tet wu rd e! Nein.« Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Gott sei Dank ist es dazu nicht geko mmen . Aber wir haben unseren Anteil geleistet. Ich war eine Zeit lang Lazarettsch wester, d rüb en in Folkstone; Saffy hat Kleider und Verbandsmaterial genäht und Schals g estrickt; selb st Junip er hat eine Weile gearbeitet, bei der Feu erweh r in London . Wir haben auch eine Evaku ierte au fgeno mmen in den ersten Krieg sjahren .« »Ach ja?« Meine Stimme überschlug sich fast. Neben mi r begann das klein e Mädch en zu h üp fen. »Auf Junipers Drängen hin. Ein Mädch en au s Londo n. Herr je, ich habe ih ren Namen vergessen. Das ist das Alter. En tschu ldig en Sie d en Gestank hier unten.« Irgendetwas in mir v erk ramp fte sich au s Mitleid fü r d as verg essene Mädch en. »Das ist der Sch lamm«, fuh r Percy fort. »Von dort, wo früher der Graben war. Das Grundwasser steigt im Sommer an, dringt in die Kellerräu me ein und bringt den Gestank nach verfaultem Fisch mit sich. Zum Glück gibt es hier unten nichts, was besonders ko stbar wäre. Nu r d as Arch iv, und d as ist wasserdicht. Die Wänd e und der Bod en sind mit Kup fer
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au sg eschlagen, d ie Tü r ist au s Blei gefertigt. Da ko mmt nichts rein und nichts rau s.« »Das Archiv «, wiederholte ich ersch audernd, »g enau wie i m Modermann.« Der b esondere Rau m, tief u nten im Hau s d es On kels, der Raum, in dem alle Dokumente der Familie au fb ewahrt werden , wo er das versch immelte alte Tagebu ch entdeckt, in dem d ie Vergangenh eit des Modermanns enträtselt wird. Der Raum der Geheimnisse im Herzen des Hauses. Percy blieb steh en, stützte sich auf ih ren Stock un d mu sterte mich. »Sie haben es also gelesen.« Es war eigentlich kein e Frag e, d enno ch an two rtete ich. »Als Kind habe ich es v ers chlu ngen.« Kaum h atte ich die Worte au sgesprochen, spürte ich wieder diese alte Un fähigkeit, meiner Lieb e zu d em Buch angemessen Au sd ru ck zu verleihen. »Es war mein Liebling sbu ch «, füg te ich hinzu, und der Satz schwebte ho ffn ung sfroh in der Lu ft, bis er zerstäubte wie Puder von einer Puderqu aste. »Es war sehr populär zu seiner Zeit«, sagte Percy und ging weiter den Flu r hinunter. Zweifello s hatte sie das alles sch on gehört. »Und das ist es immer noch. Im näch sten Jahr ist es fün fu ndsiebzig Jah re her, dass es zu m ersten Mal erschien .« »Wirk lich?« »Fün fund sieb zig Jah re«, sagte sie noch einmal, öffnete eine Tür und lotste mich in ein weiteres Treppenhaus. »Es ko mmt mir vor, als wäre es gestern gewesen.« »Es mu ss seh r au fregend gewesen sein, als d as Buch he rauskam.« »Wir hab en un s g efreut, dass un ser Vater so glü cklich war.« Habe ich damals schon das winzig e Zögern b emerkt, od er färb en Dinge, die ich später erfah ren hab e, meinen ersten Eindruck? Irgendwo sch lug eine Uh r mü de die Stund e, und ich stellte mit Bed auern fest, dass meine Zeit um war. Es schien mir unmöglich, ich hätte Stein und Bein geschworen , dass ich gerade erst angeko mmen war, aber Zeit ist ein seltsam flüchtiges Phänomen. Die Stu nde zwisch en d em Früh stück und meinem Aufbruch nach Milderhurst war mir wie eine Ewigkeit vorgekommen, aber die sechzig Minu ten , die
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mir in den Mauern des Schlo s ses zu gestanden wu rden , waren wie ein Schwarm au fgeschreckter Vögel davongeflogen. Percy Blythe warf einen Blick au f ih re Armb an duh r. »Ich habe die Zeit vergessen «, sagte sie leich t üb errascht. »Tu t mir leid. Die Standuh r geht zehn Minuten vor, ab er wir mü ssen un s b eeilen . Mrs. Bird wird Sie pünktlich zur Stunde hier abho len , und bis zur Eingangshalle haben wir noch ein Stück Weg vor uns. Ich fü rchte, un s bleibt keine Zeit meh r, den Tu rm zu besichtigen.« Ich stieß einen Laut au s, als hätte mich etwas gestochen, do ch ich gewann schnell mein e Fassung wieder: »Mrs. Bird findet es bestimmt nicht so schlimm, wenn ich ein bissch en später komme.« »Ich d achte, Sie mü ssten zu rück nach Londo n? « »Ja«, erwiderte ich. Unvorstellbar, aber ich hatte es tatsächlich vergessen: Herbert, sein en Wagen und sein e Verab red ung in Wind so r. »Ja, das stimmt.« »Mach en Sie sich n ichts d rau s«, sagte Percy Blythe u nd eilte ih rem Stock hin terher. »Sie werden den Tu rm beim näch sten Mal zu sehen b ekommen. Wenn Sie uns wieder besuch en.« Sie sch ien es als selbstverständlich zu betrachten, aber ich fragte nicht nach, zu mi nd est n ich t in diesem Mo men t. Tatsächlich ma ß ich ih ren Worten kein e son derliche Bedeu tung bei, den n als wir au s dem Treppenhau s traten , wurd e ich von einem raschelnden Geräusch abgelenkt. Das Rascheln war ebenso leise wie die Hau sgeister, und ich frag te mich schon , ob ich es mir nu r eingeb ild et hatte, nach all dem Gerede von fern en Stunden und Men schen , die in dem Ge mäuer gefangen waren, ab er als Percy Blythe sich ebenfalls suchend umsah, wu sste ich, dass ich richtig gehö rt hatte. Ku rz vo r un s, wo ein an derer Flur abging, kam der Lurcher um die Ecke getrottet. »Bruno «, sagte Percy überrasch t, »was mach st du denn hier un ten, alter Jun ge?« Der Hund blieb vor mir stehen und schaute mich an, die schweren Lider halb geschlossen. Percy bückte sich, um ih n hin ter den Oh ren zu k raulen. »Wissen Sie, was das Wort >Lu rch er< b edeutet? Es kommt au s dem Roman i u nd bed eutet Dieb . Nicht wah r, mein Jung e?
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Ein schrecklicher Name für so einen braven Hund wie dich.« Eine Hand in den Rücken g estützt, richtete sie sich mü hsa m wieder au f. »Sie wu rden ursp rünglich v on Zigeunern gezü ch tet und von Wild erern benutzt: fü r die Jagd au f Kaninchen und Hasen und an deres Kleintier. Die Zucht reinrassiger Hunde war dem Adel vorb ehalten, Verstöße wurd en hart bestraft; die Herausforderu ng b estan d also darin, Hunde zu züchten, die einerseits g ute Jäger waren, ande rerseits keine eindeutig e Rassemerkmale aufwiesen. Er gehört meiner Sch wester Juniper. Schon als kleines Mädchen war sie in Tiere vernarrt; u nd sie schienen sie auch zu mögen. Wir haben schon immer einen Hund für sie gehalten, erst recht seit ih rem Nerven zu sammenbruch. Es heißt, jeder brau cht etwas, das er lieben kann.« Als wüsste er, dass wir über ihn redeten, verzog Bruno sich. Dann war das sch wache Rascheln wieder zu hö ren, wu rd e jedoch üb ertönt, als in der Nähe ein Telefon klingelte. Percy stan d g anz still und lau schte wie jemand, der darauf wartet, d ass jemand ande rs den Hö rer abnimmt. Aber es klingelte immer weiter, bis der letzte Ton in trostloser Stille verklang. »Ko mmen Sie«, sagte Percy, und ihr knapper Tonfall verriet An sp annun g. »Wir neh men eine Abkü rzung .« In dem Flu r war es nicht dun kler als in den and eren; im Gegenteil, jetzt, wo wir den Keller verlassen hatten , fielen einige Streifen Licht au f die Steinfliesen. Wir hatten zwei Drittel des Wegs zurückgelegt, als das Telefon erneut klin gelte. Diesmal wartete Percy nicht. »Tut mir leid «, sagte sie nervös. »Ich verstehe nich t, wo Saffy ist. Ich erwarte einen wichtigen An ru f. Wü rden Sie mich bitte einen Mo ment en tschu ldig en? Es d auert nicht lange.« »Selbstverständlich.« Sie verschwand mit einem Nicken , bog am Ende des Flu rs ab und ließ mich allein zu rück. Was als Nächstes geschah, daran war die Tü r schuld. Die Tür auf der anderen Seite des Flurs. Ich liebe Tü ren. Ohne Au snahme. Tü ren führen irgen d wohin, und es h at noch keine
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gegeben, die ich nicht hätte öffnen wollen . Wenn diese Tü r jedenfalls nicht so alt und schön gewesen wäre, so entsch ieden verschlossen, wenn nicht ein Lichtstrahl derart verlo ck end genau au f das Schlüsselloch gefallen wäre, hätte ich ih r vielleicht widerstehen könn en; h ätte Däumch en ged reh t und g ewartet, bis Percy zurü ckkäme. Aber ich konnte nichts dagegen tun, ich war machtlo s. Manchen Tü ren sieht man sofo rt an , d ass sich d ahinter etwas Interessantes b efind et. Der Griff war schwarz und glatt, gefo rmt wie ein Knochen, und fühlte sich kühl an . Tatsächlich schien eine allg emeine Küh le du rch die Tür zu sickern, ob wo hl ich nicht hätte sag en können, wie. Meine Finger spannten sich u m d en Griff, ich begann, ihn zu d rehen, dann ... »Da gehen wir nicht rein .« Es war wie ein Schlag in die Mageng ru be. Ich wirbelte herum und versuchte, in d em Dämmerlicht hin ter mir etwas zu erkennen. Ich sah nichts, aber ich war ein deutig n icht allein. Jeman d hatte mit mir g esp ro chen , mu sste also in der Nähe sein . Und selbst wenn sie nich ts g esagt hät te, hätte ich es gewusst. Ich spürte ih re An wesenheit, wie sie sich bewegte und sich i m Du nkeln versteckte. Das Rasch eln war auch wieder da: lauter, näher, ich bildete es mir nicht ein, und es kam ein deutig n icht von Mäu sen. »Es tut mi r leid«, sagte ich in den dü steren Flur hinein, »ich ...« »Da gehen wir nicht rein .« Ich v ersuchte, den Anflug von Panik zu unterd rü cken . »Ich wusste nicht...« »Das ist das g ute Zimmer.« Dann sah ich sie, Juniper Blythe, wie sie aus den Schatten trat, den Flu r du rchq uerte und langsam auf mich zukam. Sag, dass du zum Tanz kommst Ihr Kleid war umwerfend, eins von der Art, wie man sie in Filmen aus der Vorkrieg szeit über Töchter au s vo rneh men Familien sieht, die sich fü r ih ren ersten Ball h erau sgeputzt haben, oder versteckt an den überfüllten Kleiderständern ex84
klusiver Seco ndhan dläden find et. Es war au s Org anza, i m blassesten Rosa - zumindest war es rosa gewesen, bevor die Zeit ih re sch mu d deligen Finger danach ausgestreckt hatte. Mehrere Lagen Tüll bau sch ten den lang en Rock , d er sich von ih rer sch malen Taille bis zum Boden so weit ausbreitete, dass der spitzen besetzte Sau m d ie Wände streifte, wenn sie du rch d en Flu r gin g. Wir standen einan der gegenüber, eine Ewigkeit, wie mi r schien. Endlich bewegte sie sich . Ein bisschen. Ih re Arme hingen herun ter, sodass die Hände au f d em Ro ck ruhten, doch dann hob sie ein e Han d leicht an, Hand fläche n ach oben, eine anmutige Bewegu ng, als h ätte jemand von der Decke hin ter mir an ein em un sichtbaren Faden g ezog en , d er an ih rem Han dgelenk befestig t war. »Hallo «, sagte ich und h offte, es klang lieb en swü rd ig. »Ich bin Edie. Edie Burchill. Wir wu rden un s eb en vo rgestellt. I m gelben Salon.« Sie blinzelte und legte den Kopf schief. Silbrig schimmern des Haar fiel ih r au f die Sch ultern , lang u nd u ngek ämmt; die vo rd eren Sträh nen waren ziemlich au fs Geratewohl mit zwei barocken Haarkämme n zu rückgesteck t. Die üb errasch end du rchscheinende Haut, ih re spindeldü rre Figu r und das elegante Kleid ließen sie au f d en ersten Blick au sseh en wie ein junges Mädchen, das nicht so recht weiß , was es mit seinen langen , dünn en Gliedmaß en an fang en so ll. Ab er anders als ein unsicheres ju nges Mädch en wirkte sie nicht schüchtern, ganz und gar nicht: Ihr Blick war fragend, neugierig, als sie einen kleinen Schritt näher kam und in einen Streifen Son nenlicht trat. Und d ann war die Neug ier au f mein er Seite, denn obwoh l Juniper mindesten s siebzig Jahre alt sein mu sste, war ihr Gesicht wundersam falten frei. Das kan n n atürlich gar nicht sein, siebzigjäh rige Damen haben kein faltenfreies Gesicht, und sie war kein e Ausnahme - als ich ihr später wiederbegegnete, sah ich es selb st -, aber in dem Lich t, d em K leid, du rch eine op tisch e Täu schu ng, einen so nderbaren Zau ber erschien sie so . Blass und ebenmäßig, schimmernd wie das Innere einer Perlen mu schel, als wären die vergangenen Jahre so seh r damit beschäftigt gewesen, ih re Sch western zu
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zeichnen, dass sie überseh en wo rden war. Und do ch wirkte sie n icht zeitlo s; sie hatte etwas an sich, das unverkennbar au s alten Zeiten stammte und dort verhaftet war. Wie ein altes Foto, das man du rch ein schützend es Blatt Seiden papier betrachtet, wie man es in diesen Alben mit den sepiag etönten Seiten findet. Wieder mu sste ich an die gep ressten Früh lingsblu men denken, die v ikto rian ische Damen in ih re Poesiealb en zu legen p flegten. Hübsche Blüten, auf liebevolle Weise getötet, in eine an dere Zeit und an einen anderen Ort, in eine andere Jah reszeit befö rd ert, die n icht meh r d ie ih re ist. Dann begann die Schimäre zu sprechen , und d er Bann war geb roch en. »Ich gehe jetzt zu m Aben dessen .« Eine hoh e, ätherische Stimme, bei deren Klang sich mir die Nackenh aare au frichteten. »Ko mmst d u mit?« Ich schüttelte den Kopf und räusperte mich gegen das Kratzen im Hals. »Nein. Nein danke. Ich mu ss bald nach Hause.« Meine Stimme ersch ien mir selbst fremd, und mir fiel auf, dass ich stocksteif dastan d, als hätte ich Angst. Was vermutlich so gar der Fall war, auch wen n ich nicht wu sste, wo vor. Juniper schien mein Unb ehag en nicht zu bemerk en . »Ich habe ein neues Kleid «, sagte sie und zupfte an ih rem Rock, sodass die ob ere Lage Organza sich an b eiden Seiten hob wie Mottenflügel, weiß und pud rig. »Nein, nicht gan z n eu, das stimmt nicht, aber geänd ert. Es hat früher meiner Mutter g ehört.« »Es ist schön.« »Ich glaube nicht, dass d u sie gekan nt h ast.« »Ih re Mutter? Nein.« »Sie war hüb sch, so hüb sch. No ch ein junges Mädchen, als sie starb, ein junges Mädch en. Das war ihr bestes Kleid.« Kokett drehte sie sich hin u nd her, d ie Lider scheu niedergeschlagen. Der glasige Blick war versch wunden , jetzt schau te sie mich mit wachen blauen Augen an , irgend wie wissen d, derselbe Blick wie auf dem Fo to von ih r als kleines aufgewecktes Mädchen, wo sie in die Kamera schaut, als hätte man sie au s ih ren Gedanken gerissen. »Gefällt es dir? « »Ja. Sehr.«
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»Saffy h at es fü r mich geände rt. Sie vo llb ring t Wund er mit der Nähma schine. Wenn man ihr ein Bild von einem Kleid zeigt, das einem gefällt, kriegt sie heraus, wie es gemacht ist, selb st bei den neuesten Modellen aus Paris, au f Bild ern in der Vogue. Sie arbeitet schon seit Woch en an meinem Kleid, ab er es ist ein Geheimnis. Percy würde das gar nicht gefallen, weil Krieg ist und weil sie eben so ist, wie sie ist. Aber ich weiß, dass du nicht petzt.« Dann lächelte sie so hinterg rün dig, dass ich d en Atem an hielt. »Ich sag e kein Wo rt.« Einen Mo men t lang mu sterten wir einand er. Meine Ang st war verflogen, darüber war ich froh. Die Reaktion war völlig unbegründet gewesen, rein in stin ktiv, und sie war mir pein lich. Was hatte ich denn zu b efü rchten? Diese v erwirrte Frau in dem einsamen Flur war Juniper Blyth e, die Frau, die vo r langer Zeit meine Mutter aus einem Haufen verängstigter Kinder ausgesucht und ih r ein Zuhau se g egeben hatte, als Bo mb en auf Lond on fielen , eine Frau , die nie au fgehö rt hatte zu warten und zu ho ffen, dass ihr Liebster endlich kam. Sie hob das Kinn , während ich sie an sch aute, und atmete nachdenklich aus. Offen bar h atte sie sich eben falls ih re Ge danken gemacht. Ich lächelte, wo raufhin sie eine Entsch eidun g zu treffen schien . Sie straffte sich und k am au f mich zu , langsam, ab er entschlossen. Katzenhaft. Jede ihrer Bewegungen d rü ckte d iese Mischung au s Vo rsicht, Selbstsicherheit und Trägheit au s, die eine zug runde liegende Ab sicht zu verbergen sucht. Sie b lieb erst stehen, als sie mir so n ah war, dass ich das Napthalin an ih rem Kleid und den schalen Zigarettenrauch in ih rem Atem riechen konnte. Ihre Augen suchten meinen Blick, ih re Stimme war kaum hö rb ar. »Kannst du ein Ge heimn is fü r dich beh alten? « Ich nickte, und jetzt läch elte sie auch; d ie Lück e zwischen ihren Schneid ezähnen verlieh ihr etwas Kindliches. Sie nahm mein e Hände, als wären wir zwei Freundinnen au f dem Sch ulho f, ih re Hand flächen füh lten sich weich u nd kühl an. »Ich habe ein Geheimnis, ab er ich darf es niemandem verraten.« »Okay.« 87
Wie ein k lein es Mädchen legte sie ein e Hand an den Mund und b eugte sich vo r bis dicht an mein Oh r. Ihr Atem k itzelte. »Ich habe einen Verehrer.« Und als sie sich wieder zu rü ck zog, drückten ihre alten Lipp en eine Wollust au s, d ie zu gleich g rotesk und traurig und schön war. »Er heißt Tom. Thomas Cavill, und er hat mir einen Heiratsantrag g emach t.« Plötzlich überkam mich eine fast un erträg liche Trau rigkeit, als ich begriff, wie unerbittlich sie no ch imme r dem Moment ihrer größten Enttäuschung verhaftet war. Ich betete, dass Percy zurückkommen u nd un sere m Gesp räch ein Ende setzen möge. »Versp richst du mir, dass d u keiner Menschen seele was davon erzählst? « »Ich verspreche es.« »Ich habe Ja gesagt, ab er schsch ...« Sie legte sich einen Fing er an die Lippen. »Mein e Schwestern wissen es noch nicht. Bald kommt er zum Abendessen.« Sie grin ste, AlteFrau en -Zähne in ein em p uderg latten Gesicht. »Dann geb en wir un sere Verlobung bekann t.« Da fiel mir au f, dass sie etwas an ih rem Finger trug . Keinen Ring, jedenfalls keinen richtigen . Es war ein g robes Imitat, silbern, aber stumpf, wie ein Stück zusammengerollte und in Form gedrückte Aluminiumfolie. »Un d dan n werden wir tanzen und tanzen und tanzen ...« Sie begann sich zu wieg en und die Melodie zu su mmen , d ie in ih rem K op f erklang. Es war dieselbe Melodie, die ich zu vo r in den küh len Nischen der Flure gehört hatte. Ich kam nicht au f den Titel, dab ei lag er mir auf der Zunge ... Die Sch allplatte, denn u m was so nst sollte es sich h andeln, war schon vor einer Weile ab gelaufen , ab er Juniper lauschte no ch immer , die Augen geschlossen, die Wangen gerötet von der freud igen Erwartung einer jungen Frau. Ich habe einmal zwei älteren Eh eleuten dabei geholfen, ih re Lebenserinnerungen au fzuschreiben , d ie sie in Bu ch fo rm h erausbringen wollten. Bei der Frau war Alzheimer d iagno sti ziert wo rden , aber die Kran kheit war no ch nicht weit fortg eschritten, und sie hatten sich entsch lo ssen, die Erinnerung en au f Tonb and au fzun ehmen , bev or sie davon flo gen wie bleich es Herb stlaub von einem Bau m.
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Bis das Projekt beendet war, verg ing ein halbes Jah r, in dem ich h ilflos miterleb en mu sste, wie au s Verg esslichkeit vo llko mme ne Leere wurde, wie aus dem Ehemann »der Mann da« wu rd e und die leb hafte, lustig e Frau mit dem lo sen Mu nd werk sch ließ lich verstu mmte. Nein, Demen z hatte ich erlebt, und Juniper war nich t d ement. Was auch immer in ih r vo rgehen mo chte, leer war sie nicht, und vergessen hatte sie ansch ein end auch nich t. Ab er irgendetwas stimmte nicht mit ih r, daran bestand kein Zweifel. Jede alte Frau, die ich b i sher näher k ennen gelernt hab e, hat mir irgen d wann meh r o der wen iger wehmü tig anvertraut, dass sie sich innerlich immer n och wie ach tzehn fühle. Aber das stimmt nicht. Ich bin zwar erst dreißig, aber ich weiß es. Die Zeit hinterlässt bei jedem ihre Spuren: Das selige Gefü hl ju gend lich er Unv erwundb arkeit versch wind et, und die Last der Verantwo rtung wird immer größer. Ab er so war Jun iper nicht. Sie wusste tatsächlich nicht, dass sie alt war. In ihrem Kopf wütete immer n och der Krieg, und nach dem zu u rteilen, wie sie sich im Takt zu der imaginären Musik wieg te, tobten in ih rem Kö rp er immer no ch d ie Ho rmo n e. Sie war eine unglaubliche Mischung aus alt un d jung , schön und grotesk , jetzt und d amals. Sie zu erleben war so atemberau bend und u nheimlich , dass ich mich mit einem Mal abgestoß en fühlte und mich im selb en Aug en blick zutiefst für meine Gefühle schämte ... Juniper packte mich am Han dgelenk, die Augen weit aufgerissen. »Aber ja!«, sagte sie und schlug sich die lang en, bleichen Fing er vo r d en Mund, um ein Kichern zu unterdrück en. »Du weißt doch über To m Bescheid ! Wenn du nicht gewesen wärst, hätten wir un s n ie kenneng elernt!« Was auch immer ich hätte darauf an tworten kön nen, wurde üb ertönt, denn in dem Augenblick schlugen sämtliche Uhren im Haus die volle Stund e. Was für eine gespenstisch e Symphon ie, als Zimmer um Zimmer die Uh ren einand er riefen und das Verg ehen d er Zeit v erkün deten. Ich spü rte die Schläge tief in meinem In n ern, und ein e Eisesk älte legte sich üb er meine Haut. Ich hielt es nicht mehr länger aus. »Ich mu ss jetzt wirklich gehen, Juniper«, sagte ich, als die Uh ren endlich sch wiegen . Mein e Stimme klang heiser.
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Ein leises Geräusch hinter mir, und ich drehte mich um in der Hoffnung, dass Percy zu rü ck war. »Gehen? « Jun ipers Gesichtszüg e erschlafften . »Aber du bist do ch g erade erst gekommen . Wo willst du d enn hin? « »Ich fah re nach Lond on zu rü ck.« »Londo n? « »Da wohne ich.« »London.« Plötzlich kam ein e Veränderu ng übe r sie, so schnell u nd dunkel wie eine Gewitterwolk e. Als sie mich mit erstaunlicher Kraft am Ar m packte, sah ich etwas, das mir vorher nicht aufgefallen war. Spinn web fein e Narb en an ih ren bleichen Handgelenken, üb er die Jahre silb rig gewo rden. »Nimm mich mit.« »Das ... das geht nicht.« »Ab er es ist meine einzige Ch ance. Dann such en wir To m. Vielleich t sitzt er in seiner kleinen Wohnung am Fenster ...« »Jun iper ...« »Du hast gesagt, du würdest mir helfen.« Ihre Stimme klang gep resst, hasserfü llt. »Waru m h ast du mir nich t g eholfen? « »Es tut mir leid«, sag te ich . »Ich bin nicht ...« »Du bist doch mein e Freu ndin , du hast g esagt, du wü rdest mir h elfen. Waru m b ist du nicht gekommen? « »Juniper, Sie verwech seln mich ...« »Ach, Mered ith «, flü sterte sie, ih r Atem roch nach Rauch und Alter. »Ich h abe etwas Schreck liches getan.« Meredith. Ich fühlte mich, als wären mir die Eing eweid e umged reht worden. Plötzlich waren eilige Sch ritte zu h ö ren, dann tau chte der Hund auf, gefolgt von Saffy. »Juniper! Gott, da bist du ja.« Sie wirkte zutiefst erleichtert, als sie au f Juniper zug ing . Sie nah m ih re Sch wester zärtlich in die Arme, lö ste sich dann wieder von ih r, u m ih r Gesicht zu mustern. »Du darfst nicht einfach weglau fen. Ich habe mir solche Sorgen gemacht und dich überall g esu cht. Woher so llte ich denn wissen , wo du steck st, mein e Klein e?« Juniper zitterte, und ich wah rscheinlich eben falls. Meredith ... Das Wo rt su mmte in meinen Oh ren wie eine Mücke. Ich sagte mir, es sei nichts, reiner Zu fall, das b edeutung slose Gerede einer verrückten Alten, aber ich war n och nie eine gu te
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Lügnerin, und es war zwecklo s, mir etwas vo rmachen zu wollen. Während Saffy Juniper ein paar Strähnen au s der Stirn strich, kam Percy dazu. Sie blieb abrupt stehen und betrachtete au f ihren Stock gestützt die Szene, d ie sich ih r b ot. Die Zwillinge tauschten einen Blick au s, ähnlich dem, d en ich anfangs im gelben Salon b eobachtet und d er mich so stutzig gemacht hatte, aber diesmal wandte Saffy sich als Erste ab . Sie hatte es irgendwie geschafft, mich aus Junipers Griff zu befreien , und hielt ihre kleine Schwester fest an der Hand. »Danke, dass Sie sich u m sie gekü mmert h ab en «, sagte sie mit beb ender Stimme. »Seh r freu ndlich von Ihn en, Ed ith.« »Edith«, wiederholte Juniper, aber sie schaute mich nicht an . »Manchmal ist sie ganz v erwirrt und läu ft üb erall h eru m. Wir versuchen, sie im Au g e zu beh alten, aber ...« Saffy schüttelte kurz den Kop f, wie u m an zudeuten, wie un mö glich es war, sein Leben ganz und g ar einem anderen Menschen zu widmen. Ich nickte, mir fehlten die Wo rte für eine Antwort. Meredith. Der Name meiner Mutter. Meine Gedan ken sch wärmten zu Hunderten aus gegen den Zeitstrom, su ch ten die verg angen en Mo nate nach Bedeutung ab, b is sie alle im Haus meiner Eltern landeten . Ein kalter Februarnachmittag, ein Huhn, das nicht geb raten wu rd e, d ie Ankunft ein es Briefs, d er meine Mutter zum Weinen brachte. »Edith «, sagte Jun iper wi eder. »Edith, Ed ith ...« »Ja, Liebes«, sagte Saffy. »Das ist Edith . Sie ist zu Besuch gek o mmen .« Und da wusste ich, was ich die ganze Zeit geahnt hatte. Meine Mutter hatte gelog en, als sie sagte, der Brief von Juniper habe kaum mehr als einen Gruß en thalten, genauso, wie sie mich in Bezug auf unseren Besuch in Milderhurst an gelo gen hatte. Ab er waru m? Was war zwischen meiner Mutter und Juniper Bl ythe v o rgefallen? Wenn ich Junip er glaubte, hatte meine Mutter ih r ein Versp rechen g egeb en und nicht geh alten, etwas, d as mit Jun ipers Verlo btem zu tun hatte, mit Tho mas Cavill. Wenn das so war und wenn die Wahrheit wirklich so grausam aussah, wie Juniper angedeu-
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tet hatte, könnte der Brief Vo rwü rfe enthalten haben. War es das? Waren es un terd rückte Schuldg efühle, die mein e Mutter zu m Wein en geb racht hatten? Zu m ersten Mal seit mein er Ankun ft in Milderhu rst wollte ich nu r noch rau s au s diesem Hau s und seinem alten Ku mmer, wollte die Sonne sehen u nd den Wind im Gesicht spüren und etwas and eres riechen als faulen Schlamm und Mottenkug eln. Wollte allein sein mit diesem neuen Rätsel, damit ich an fang en konn te, es zu entwirren . »Ich ho ffe, sie hat Sie nicht belästig t ...« Saffy redete immer n o ch. Ich hö rte sie durch mein Gedankengewirr wie aus weiter Ferne, wie von jenseits einer schweren Tü r. »Was auch immer sie gesagt h at, sie h at es nicht so g emein t. Sie sagt manchmal seltsame Dinge, redet sin nlo ses Zeug ...« Sie ließ den Satz un vollend et, aber die Stille, die darauf folgte, war an gespan nt. Sie beob achtete mich, in ih rem Blick lagen unausgesp ro chene Gefühle, und ich spürte, dass es nicht nur Besorgnis war, was sie bedrückte. In ih ren Zügen verbarg sich noch etwas anderes, vo r allem, als sie wieder zu Percy h inübersah. Angst, sch oss es mir d u rch den Kop f. Sie hatten Angst, alle beide. Ich schaute Juniper an, d ie sich hin ter ih ren versch ränk ten Ar men versch anzt h atte. Bild ete ich mir das ein, oder stan d sie wirklich besonders still, gespannt darauf, was ich antwo rten, was ich ihnen sag en wü rde? Ich rang mir ein Lächeln ab und hoffte inständig, dass es lässig wirkte. »Sie hat gar nichts gesagt.« Fü r alle Fälle zu ckte ich au ch noch die Schultern . »Ich habe n u r ih r schö nes Kleid bewu ndert.« Die Erleichterung der Schwestern war spürbar. Junipers Profil zeigte keine Veränderu ng, und mich besch lich ein seltsames Gefü hl, eine Ahnun g, d ass ich einen Fehler gemach t h atte. Dass ich hätte eh rlich sein, d en Zwillin gen alles erzählen sollen, was Juniper gesagt hatte, was d er Grund fü r ihre Erregung war. Aber da ich b isher immer no ch nichts von meiner Mutter und ih rer Evaku ierung erwähnt hatte, wusste ich nicht, wie ich die rich tig en Worte fin den sollte ... »Marilyn Bird ist da«, sag te Percy unvermittelt.
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»Gott, dass aber auch immer alles gleichzeitig kommen muss«, bemerkte Saffy. »Sie nimmt Sie mit zurück zu r Pensio n. Sie sagt, Sie mü ssen nach Lond on zu rück.« »Ja«, sagte ich. Gott sei Dank . »Wie schade«, sagte Saffy. Mit eiserner Disziplin u nd, so nehme ich an, jahrelanger Übung gelang es ih r, vollkommen no rmal zu klingen. »Wir hätt en Sie gern noch zu m Tee ein gelad en. Wir beko mme n so selten Besuch .« »Näch stes Mal«, sagte Percy. »Ja«, p flichtete Saffy ihr bei. »Nächstes Mal.« Was mir, gelind e gesagt, äußerst unwahrscheinlich erschien. »Nochmals vielen Dank fü r die Führung ...« Als Percy mich au f verschlung enen Wegen zu Mrs. Bird und zurück in eine Welt der No rmalität führte, zo gen Saffy und Jun iper sich in die entg egengesetzte Rich tung zu rück. Ih re Stimmen hallten von den küh len Wänd en wid er. »Tut mir leid, Saffy. Es tut mir so leid, so leid. Ich habe einfach ... ich hatte vergessen ...« Die Wo rte gingen in Schluchzen über. Ein Weinen , so bitterlich, dass ich mir a m lieb sten die Oh ren zugeh alten h ätte. »Komm, Lieb es, es ist alles gut.« »Ich h abe etwas Schreckliches getan , Saffy! Etwas ganz, ganz Schreckliches.« »Un sinn, meine Kleine, den k nicht meh r d ran . Wir trinken jetzt schön unseren Tee, ein verstanden? « Die Geduld , die Liebenswürdigkeit in Saffys Stimme leg ten sich wie Blei au f meine Brust. Ich glaube, in diesem Augenblick wurde mir zu m ersten Mal klar, wie unendlich lange sie und Percy schon solche Beschwichtigungen aussprachen , um ihre verwirrte kleine Schwester zu be ruhigen , so verständn isvo ll, wie Eltern die Ängste eines Kinds zu zerstreuen suchen, allerdings ohne die Ho ffnun g, d ass ih nen d ie Last irgen d wann genommen werden würde. »Jetzt ziehen wir dir erst einmal etwas Bequemes an, und dann trinken wir Tee. Du und Percy und ich. Nach einer Tasse g ute m, starken Tee sieht die Welt gleich wieder gan z anders au s.« Mrs. Bird wartete unter d em Kupp eldach in der Eing ang shalle und sprudelte über v o r En tsch uldigungen . Unter theat-
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ralischen Gebärden biederte sie sich b ei Percy Blythe an, indem sie über die armen Dö rfler herzog, die sie mit ih rer u mständlichen Art aufgehalten hätten. »Es ist schon gut, Mrs. Bird «, sagte Percy in dem g ebieterischen Tonfall, den eine viktorianische Kinderfrau einem Kin d geg enüb er ang eschlagen hätte. »Es war mir ein Ver gnü gen , die jung e Da me heru mzu füh ren.« »Selb stverständlich. Wie in alten Zeiten. Es mu ss wu nderbar für Sie sein zu ...« »Gewiss.« »Was fü r eine Schand e, dass die Führungen eingestellt wurden. Andererseits vo llko mmen v erstän dlich, wir könn en Ih nen und Miss Saffy dan kbar sein , dass es die Füh rung en üb erhaup t so lan ge g egeb en hat, vo r allem, wo Sie so viel...« »Gewiss, gewiss.« Perc y Blythe straffte sich , und d a wurde mir p lötzlich klar, dass sie Mrs. Bird n icht leid en konn te. »Wen n Sie mich jetzt entschuldigen wollen .« Sie neig te den Kop f in Rich tung der o ffenen Tü r, vo r der d ie Außenwelt heller, lau ter un d schneller zu sein schien als zu dem Zeitpunkt, als ich sie verlassen hatte. »Vielen Dank «, sagte ich, eh e sie v erschwin den konn te, »d ass Sie mir Ih r sch önes Hau s g ezeigt haben.« Sie musterte mich länger als nö tig , d ann ging sie den Flu r hin unter, leise hö rte man das Geräusch ihres Stocks au f dem Boden . Nach einigen Sch ritten blieb sie stehen und d reh te sich um, kaum noch erkennbar in dem schummrigen Licht. »Es war einmal schön, wissen Sie. Früher. Vorher.«
1 29. Oktober 1941 Eins war sicher: Es würd e kein Mond scheinen in dieser Nacht. Der Himmel war sch wer, au sg edehnte Fläch en au s Grau , Weiß u nd Gelb, wild in ein and ergerüh rt wie au f der Palette eines Malers. Percy ro llte die Zigarette zwischen den Fin gern hin und her und leckte das Blättchen an , u m es zu zu kleben . Ein Flug zeug dröhn te am Himmel, ein s der ihren , ein 94
Aufklärer unterwegs nach Süd en, zu r Küste. Natü rlich mu ss ten sie einen Aufklärer lo ssch icken, aber er würd e nichts zu berichten haben, nicht in eine r so lch en Nach t, nich t jetzt. Von d o rt, wo sie an den Amb u lanzwagen gelehnt stand, ver folgte Percy das Flug zeu g mit zu sammen g ekniffenen Augen ein b raunes In sekt, das kleiner und kleiner wurde. Vom anstrengenden Hinsehen mu sste sie gähnen, und sie rieb sich die Aug en, b is sie angeneh m b ran nten . Als sie sie wied er ö ffn ete, war das Flu gzeu g v erschwun den. »He! Beschmier mir nich t meine po lierte Kühlerhau be und den Kotflügel, du Faulenzerin!« Percy d reh te sich u m und leg te den Ellbog en au f das Wagendach. Es war Dot, die g rin send aus der Tür des Lazaretts trat. »Du so lltest mir d ankbar sein«, rief Percy. »So brauchst du in deiner näch sten Schicht keine Däumchen zu drehen.« »Stimmt auch wied er. Oder der Chef lässt mich schon wieder Gesch irrtü cher waschen.« »Oder du darfst den Sanitätern noch mal den Umgang mit Kran kentragen erklären .« Percy hob eine Brau e. »Kö nnte es etwas Besseres geb en?« »Zu m Beispiel die Verdunkelungsvorhänge flicken.« Percy verzog das Gesicht. »Wie entsetzlich.« »Wenn du lange genug h ierb leib st, hast du früh er od er spä ter eine Nähn adel in der Han d «, p rop hezeite Dot und lehn te sich neben Percy an den Wag en. »Viel meh r gibt's hier nicht zu tu n.« »Er h at also schon Nach rich t erhalten? « »Die Jungs von der Air Fo rce haben sich eben gemeldet. Nichts am Horizont, nicht heute Nacht.« »Das hab ich mir scho n gedacht.« »Aber es ist nicht nur d as Wetter. Der Offizier sagt, d ie verfluch ten Deutsch en sin d in zwischen zu seh r mit ih re m Marsch nach Mosk au beschäftigt, u m sich noch fü r uns zu in teressieren .« »Die müssen schön dumm sein «, bemerkte Percy, während sie ihre Zigarette betrach tete. »Der Win ter ist läng st vo r denen d a.«
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»Ich neh me an, du hast trotzdem vo r zu bleiben, die Nervensäge zu spielen und darau f zu ho ffen, d ass sich d och no ch ein deu tscher Bo mb er hierherverirrt und au s Verseh en eine Ladung in der Nähe ab wirft?« »Ich hatte es in Erwägung gezo gen «, erwid erte Percy, steckte die Zigarette ein und sc hlang sich ih re Tasche üb er die Sch ulter. »Aber ich hab 's mir anders üb erleg t. Heute Nacht k önnte mich nicht mal eine Invasion dazu bringen, dass ich hierbleib e.« Dots Au gen weiteten sich . »Was hat das den n zu bedeuten? Hat dich ein gut aussehender junger Mann zum Tanz eingeladen? « »Leider n icht. Ab er trotzdem g ute Neuigkeiten .« »Ach? « Der Bu s kam, und Percy mu sste schreien, um den Motor zu übertönen, als sie einstieg. »Meine kleine Schwester kommt heute Abend nach Hause.« Percy war genau so wenig fü r Kr ieg wie alle anderen - sie hatte sogar häu figer als die meisten Gelegenheit g ehabt, Zeug in der Sch recken zu werden, d ie er mit sich b rachte -, und deswegen hatte sie selb stv erständlich nie zu jemand em üb er die seltsame En ttäu schung gesp ro chen , die sie in sich spürte, seit die nächtlichen Bo mbenangriffe aufgehört hatten. Natü rlich war es vo llkomme n absurd, sich nach Bedrohun g und Zerstö rung zurückzusehnen; alles andere als vorsichtig er Optimismu s war schon fast ein Sak rileg , und do ch brachte sie seit Monaten eine fürchterliche Gereiztheit um den Schlaf, wenn sie mit g eübten Oh ren in den stillen Nachth immel lauschte. Wenn es etwas g ab, worauf Perc y sto lz war, dann war es ih re Fähigkeit, in jeder Lebenssituation prag matisch vo rzug ehen - irgendjemand mu sste es schließlich tun -, und so hatte sie sich entschlossen, d en Ding en au f den Grund zu geh en. Eine Mö glich keit zu fin den , d ie klein e Uh r zu m Sch weig en zu bringen, die in ihr tickte, ohne je schlagen zu dü rfen . Über einen Zeitraum von meh reren Wochen, in d enen sie so rg fältig darau f g each tet hatte, sich ih ren labilen inneren Zustand n icht an merken zu lassen, h atte Percy ih re Situation überdacht, ih re Gefühle au s allen Blick winkeln du rch leuch -
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tet und war schließlich zu der Erkenntnis gelang t, dass sie ziemlich eind eutig verrückt war. Es war zu erwarten gewesen; Wah nsinn lag eben so in d er Familie wie künstlerisches Talent und lange Gliedmaß en. Percy hatte geho fft, dav on verschon t zu b leib en, aber jetzt war es so weit. Die Gene waren gnad enlos. Und wenn sie eh rlich war, war sie nicht schon immer d avon au sg egang en, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sich bei ihr eine Sch raube lock ern würde? Natü rlich war ih r Vater schu ld, v or allem d ie g ruselig en Geschich ten, die er ihnen erzählt hatte, als sie no ch klein waren, so klein, dass er sie noch herumtragen und auf seine Knie setzen ko nnte, so klein, dass sie sich noch auf seine m b reiten, warmen Schoß eink uscheln ko nnten . Er hatte ihnen Geschich ten erzählt von der Verg angenheit ih rer Familie, von dem Land, auf dem Milderhurst en tstanden war, das im Lauf der Jahrhunderte Dü rreperiod en un d fruchtbare Zeiten erlebt hatte, das überflutet und urbar gemacht worden war und um das sich im Laufe der Zeit viele Sagen gerank t hatten. Er hatte von Geb äud en erzählt, die abg eb rannt un d wieder au fgebau t wo rden waren, die v erfallen waren, die g eplündert, dem Erd boden gleichgemach t und vergessen wo rden waren; von Menschen, die vor ihnen im Sch lo ss gewoh nt hatten; v on Epo chen der Ero berung und der Un terwerfung , au s deren Sch ich ten der Boden England s und der ih res g eliebten Milderhurst bestand. In d en Wo rten eines Erzählers entwickelten die geschichtlich en Ereignisse eine g roß e Faszin ation, und ein en ganzen So mmer lang , als Percy acht oder neu n Jah re alt gewesen und ih r Vater in den Krieg gezogen war, hatte sie von Inv asoren geträumt, die über die Felder au f sie zugestürmt kamen . Sie hatte v on Saffy v erlangt, dass sie ih r half, in den Bäumen im Cardarker-Wald Festungen zu bauen, Waffenlager anzu legen und Schösslinge zu köpfen, die ihr missfielen. Sie hatten alles unterno mmen , damit sie, wenn der Tag kam, an d em sie ih re Pflicht erfü llen und das Sch lo ss g egen die an stü rmenden Ho rden verteidigen mu ssten , gewappn et waren ...
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Der Bus rumpelte um eine Eck e, und Percy verd rehte die Augen angesichts ih rer Erinnerung en. Vollko mmen läch erlich. Die Fantasien eines kleinen Mäd chen s waren eine Sache, aber dass die Stimmu n gen ein er erwach sen en Frau immer noch davon beeinflu sst wurden? Das war wirklich trau rig. Mit einem verächtlichen Schnau ben zeigte sie sich selb st die k alte Schu lter. Die Fah rt dau erte lange, viel länger als gewöhn lich , und sie konnte von Glück reden , wenn sie es rechtzeitig zu m Pud ding sch affte. Wo raus au ch immer d er bestehen mo chte. Gewitterwolken zogen sich zusammen , die Dunk elheit wü rd e bald einsetzen, und d er Bus, der ohnehin nur ganz schwache Scheinwerfer besaß, hielt sich vo rsichtshalber dicht am Straßen rand. Sie warf ein en Blick au f ihre Ar mb anduh r: Schon halb fünf. Juniper wu rd e um halb sieben erwartet, der junge Mann um sieben, un d Percy hatte versprochen , u m vier zu Hause zu sein. Die Jung s vo m Zivilschutz h atten sich erlich ih re Befehle geh abt, als sie den Bus für eine Ro utin eüb erp rü fung ang ehalten hatten, aber au sgerechn et heute Ab end hatte sie Wich tig eres zu tun . Zu m B eispiel dafü r zu so rgen, dass die Vo rbereitungen in Milderhurst ohne allzu große Aufregung vonstattenging en . Wie wahrscheinlich war es, dass Saffy sich im Lauf des Tages nich t in einen nervö sen Zustan d hin einges teig e rt hatte? Nicht sehr, dachte Percy. Im Gegenteil. Nieman d ließ sich so bereitwillig v on einem b esonde ren Ereignis in hek tische Betriebsamkeit versetzen wie Saffy, und seit Ju niper ihn en mitg eteilt hatte, d ass sie einen g eheimn isvollen Gast eingeladen h atte, war klar gewesen, dass dem Ereignis, wie es fortan genannt wurde, die komplette Seraphina-BlytheBehan dlung zuteilwerden wü rde. Saffy war sogar au f die Idee g eko mmen , d as Krönungsbriefpapier ihrer Großmutter, od er was dav on noch üb rig war, auszupacken und Tischkärtch en daraus zu b asteln , aber Percy hatte sie d avon überzeugen können, dass bei vier Person en, von d enen d rei Schwestern waren, ein derartig er Au fwand überflü ssig war. Jemand berührte sie am Unterarm, und als sie hinschau te, sah sie, dass die kleine alte Dame, die neben ih r saß, ih r eine o ffene Kon servendose hinhielt und sie mit Blicken auf-
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fo rd erte zuzu g reifen. »Mein eigenes Rezept«, sagte sie gu t gelaunt. »Kaum Butter, aber gar nicht so schlech t, mu ss ich sagen.« »Oh«, sagte Percy. »Nein danke. Behalten Sie die lieber für sich selbst.« »Nehmen Sie nur.« Die Frau hielt ih r die Dose ein bisschen dichter unter die Nase, während sie an erkenn end ih re Un iform betrachtete. »Also gut.« Percy nahm einen Keks und biss hinein. »Köstlich «, sagte sie und dachte wehmütig an die herrliche Zeit zurück, als sie noch Butter g ehab t hatten. »Sie sind beim Sanitätsdienst? « »Ich bin Fahrerin. Das heißt, ich war Fahrerin. Während der Bombardements. In letzter Zeit bin ich aber meisten s damit beschäftigt, die Wagen zu waschen .« »Sie finden bestimmt eine and ere Mö glichkeit, u nserem Land zu dienen. Ihr jung en Leute seid doch nicht zu bremsen .« Dann schien ih r eine Idee zu ko mmen , und ih re Aug en weiteten sich. »Aber ja, Sie könnten sich einem Nähk rän z ch en anschließen! Meine Enkelin ist Mitglied bei den >Stitch ing Su sans<, bei uns zu Hause in Cranbrook, Sie glauben ja nicht, was d iese Mädels leisten .« Abg esehen davon, dass sie fü r Nadel u nd Faden n ichts üb righ atte, fand Percy d ie Idee, sich nach einer and eren Tätig keit umzusehen, grund sätzlich gar nich t so ü bel. Vielleich t sollte sie ih re Energien au f ein and eres Ziel lenken - Fah rerin fü r irg endeinen Politik er, oder sie könn te lernen , Bo mben zu entsch ärfen , ein Flugzeug zu fliegen, Verwundete zu bergen , irgen d so etwas. Dann wü rd e sich ihre schreckliche in nere Unruhe vielleicht legen. Sosehr es ih r au ch widerstrebte, es sich einzugestehen, hatte sie doch allmählich das Gefühl, d ass Saffy die ganzen Jahre üb er recht g ehab t hatte: Sie war d er gebo rene Flick sch u ster. Ein Kleid n ähen konnte sie nicht, das Kreative lag ih r nicht. Ab er dafü r b esaß sie ein au sg esp rochenes Geschick im Reparieren von allem M ög lich en, und sie war am glücklich sten, wenn man ih r irgend etwas gab, das in Ordnung geb racht werden mu sste. Was fü r ein d ep rimierender Gedanke.
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Der Bu s rump elte u m die n äch ste Ku rve, und end lich kam das Dorf in Sicht. Schon bald konn te Percy ih r Fah rrad se hen, das an d er alten Eiche vor der Post lehnte, wo sie es a m Mo rgen abgestellt hatte. Nachdem sie sich no ch ein mal fü r den Keks b edan kt und feierlich versprochen hatte, sich nach dem örtlichen Nähk ränzch en zu erkund igen, stieg sie au s und win kte d er alten Dame zu , als der Bu s Rich tung Cran b rook weiterfuh r. Der Wind hatte zugeno mmen , seit sie in Fo lkestone lo sgefahren waren, und Percy schob die Hände in die Ho sen taschen. Sie lächelte den mü rrischen Damen Blethem zu, die beide gleichzeitig tief Lu ft ho lten , ih re Eink au fsnetze an sich drückten , ih r kn app zu m Gruß zunickten und sich eilig au f den Heimweg machten. Zwei Jahre Krieg, und immer n o ch gab es Leute, für die der Anblick einer Frau in Hosen das Nahen der Apokalyp se signalisierte. Die Gräueltaten in der Heimat und an derswo waren nichts dagegen. Percy fühlte sich ang enehm au fgemu ntert und frag te sich, was daran falsch sein sollte, stolz auf ihre Uniform zu sein, allein schon wegen der Wirkung, die sie au f die Miss Blethems dieser Welt hatte. Es war schon spät am Tag, aber es bestand du rchaus die Möglichkeit, dass Mr. Potts die Post noch nicht im Schloss abg eliefert hatte. Es gab nu r wenig e Männer im Do rf - und im ganzen Land , darauf würde sie wetten -, die ihren Dienst an der Heimatfront mit derartigem Enthusiasmus versahen wie Mr. Potts. Er war so unermüdlich in seinem Bestreben, die Nation zu schützen, dass man sich regelrecht missachtet füh lte, wenn man nicht min destens ein mal im Mo nat von ih m zu r Überprüfung der Papiere angehalten wu rd e. Dass das Dorf wegen seines Übereifers nicht mehr über einen zuverlässigen Postdien st verfügte, sch ien Mr. Po tts als bed auerlich es, aber no twend iges Op fer zu betrachten . Die Glocke über der Tü r bimmelte, als sie eintrat, und Mrs. Potts blickte ab rup t von einem Stap el Papiere und Briefsen dungen auf. Sie wirk te wie ein Kaninch en, das im Gemü sebeet erwischt wurde, ein Eindruck, den sie durch ein kurzes Schniefen noch unterstrich. Percy verbarg ih re Belu stigung
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hinter einer liebenswürdig ernsten Miene, was schließlich au ch ein e Kun st war. »Sieh mal einer an«, sagte die Po stmeisterin, die sich als geü bte Heuch lerin so fo rt wied er im Griff h atte. »Wenn d as nicht un sere Miss Blythe ist.« »Gu ten Tag, Mrs. Potts. Irgen d welch e Po st für uns? « »Tja, d a werde ich wohl mal nachseh en mü ssen .« Die Vo rstellung, dass Mrs. Potts n icht über jede ein - und au sg ehen de Sendu ng besten s in fo rmiert war, war wirklich lachhaft, aber Percy spielte mit. »Vielen Dank«, sagte sie, als die Postmeisterin sich die Kisten au f d em h interen Sch reibtisch vo rnah m. Nachdem s ie die Po st üb ertrieben g ründlich du rchgesehen hatte, zog sie ein kleines Bündel Briefe heraus und hielt sie ho ch. »So, d a hätten wir sie«, verkündete sie u nd keh rte triu mp hierend an d en Tresen zu rück . »Außerdem ist fü r Miss Juniper ein Päckch en eingetro ffen - vo n Ihrer kleinen Londonerin, wie es aussieht; unsere Meredith ist also wied er glücklich zu Hause angeko mmen?« Percy nickte un geduldig, und Mrs. Potts fuhr fo rt: »Ein handschriftlich ad ressierter Brief für Sie und einer für Miss Saffy, mit Schreibmaschine getipp t.« »Sehr schön. Lohnt sich kau m, d ie zu lesen.« Mrs. Potts legte die Briefe säuberlich nebeneinander auf den Tresen und stützte sich mit d en Händen darau f. »Ich nehme an, im Schloss ist alles in Ordnun g?«, sag te sie mit meh r An teiln ah me, als man bei so einer harmlo sen Frag e erwarten wü rde. »Seh r gu t, danke. Wenn ich jetzt ...« »Wie ich hö re, k ann man g ratulieren .« Percy atmete ung ehalten au s. »Gratu lieren? « »Hochzeitsglocken «, sag te Mrs. Potts auf diese ärgerliche Art, die sie p erfektioniert hatte, über ihr unrechtmäßig erwo rb enes Wissen zu frohlocken und im selben Atemzug nach mehr zu bohren. »Oben im Schlo ss«, wiederholte sie. »Vielen Dank , Mrs. Potts, aber ich bin heute eb en so wenig verlobt, wie ich es gestern war.« Einen Mo men t lang überlegte die Postmeisterin, dann brach sie in schallendes Geläch ter au s. »Also , Sie sind mir ja eine,
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Miss Blythe! Ebenso wenig v erlob t wie gestern - d as mu ss ich mir merken.« Nachd em sie gen ug gelacht hatte, zup fte sie ein spitzenbesetztes Taschen tüch lein au s ih rem Ro ck und trocknete sich die tränen den Augen. »Aber«, sagte sie, währen d sie weitertup fte, »ich habe doch n icht Sie gemeint.« Percy tat überrascht. »Nicht? « »Meine Güte, nein , weder Sie noch Miss Saffy. Ich weiß, dass Sie beide nicht vo rh aben , un s zu v erlassen, Gott segn e Sie beide.« Noch einmal wischte sie sich die Wangen . »Ich habe von Miss Juniper gesp rochen.« Percy konnte nicht umh in , das Knistern zu spü ren, das in der Lu ft lag . Die Worte waren wie elektrisch au fgeladen, und Mrs. Potts war ein natü rlicher Stro mleiter. Es war scho n immer viel über Juniper geredet word en, vor allem, als sie no ch klein gewesen war. Und ih re kleine Schwester hatte in der Tat reichlich Anlass dazu gegeben; ein Kin d, d as reg el mäßig in Ohnmacht fiel, wenn es sich au fregte, brachte die Leute zu m Tuscheln, und ü ber ku rz o der lang fin gen sie an , ihr übersinnliche Fähigk eiten anzu dich ten . Und so sicher, wie die Bienen die Blumen bestäubten, wurde schließlich alles Seltsame und Un erklärliche, das im Dorf passierte - das mysteriöse Versch winden von Mrs. Flemings frisch gewaschener Wäsche, die Tatsach e, d ass die Vogelscheu che d es Bauern Jacob plötzlich eine lange Damenu nterho se trug , der Au sb ru ch ein er Mu mp sepidemie -, Juniper zugeschrieben. »Miss Jun iper und ein g ewisser jung er Mann? «, boh rte Mrs. Potts weiter. »Ich habe gehört, dass im Schloss bereits die nö tigen Vorbereitu ngen getroffen werden. Ein junger Mann, den sie in Lond on k ennen gelernt hat? « Die Vorstellung war ab su rd . Ju niper war nicht fü r die Eh e bestimmt: Es war die Poesie, die das Herz ih rer kleinen Schwester höherschlagen ließ. Percy war versucht, sich noch ein bisschen au f Ko sten der neugierigen Mrs. Potts zu amüsieren, aber ein Blick au f die Wan duh r ließ sie davon Ab stand nehmen. Eine vern ün ftig e Entsch eidung : Das Letzte, was sie gebrauchen konn te, war ein Gesp räch üb er Junipers Aufenthalt in London. Die Gefahr wäre viel zu groß, dass sie un ab sich tlich verriet, was fü r Prob leme Junipers Eskap ade im Schloss verursacht hatte. Ih r Stolz wü rde es niemals zu -
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lassen, dass darüber etwas nach außen drang. »Es stimmt, dass wir einen Gast zum Abendessen erwarten, Mrs. Potts, aber auch wenn es sich u m einen Mann hand elt, es ist kein Vereh rer. Nu r ein Bekann ter au s Lond on.« »Ein Bek annter? « »Ganz recht.« Mrs. Po tts' Augen wurden sc h mal. »Also kein e Hoch zeit? « »Nein.« »Ich habe nämlich aus zuverlässiger Quelle gehört, dass es einen Antrag und ein e Zusage gegeb en hat.« Es war kein Geheimnis, dass es sich b ei Mrs. Potts' »zu verlässiger Quelle« u m g eö ffnete Briefe und belau sch te Telefong esp räche han delte, deren Inhalt mit Querv erweisen au f den reichhaltig en ö rtlichen Klatsch versehen wu rd e. Percy ging zwar nicht so weit, die Frau zu verd äch tig en, d ass sie in der Po ststelle Briefe über Wasserdamp f öffnete, bevor sie sie auf ih re Reise schick te, ab er es gab andere im Dorf, die das sehr wohl vermuteten . In diesem Fall allerdings hatte es nu r sehr wenige Briefe gegeben (vor allem nich t von der So rte, die Mrs. Potts hätte interessieren können, da Junip er ausschließlich mit Mered ith korrespondierte), sodass das Gerücht jeglicher Grundlag e en tbeh rte. »Ich glau be, wenn d as der Fall wäre, wüsste ich davon, Mrs. Potts«, sagte sie. »Seien Sie versichert, es h andelt sich nu r um ein Abend es sen.« »Ein besonderes Abendessen? « »Ist in diesen Zeiten nicht jedes Ab endessen etwas Beson deres? «, sagte Percy leichthin. »Man weiß nie, ob es das letzte ist.« Sie nahm d er Po stmeisterin die Briefe au s d er Hand. Dabei fiel ih r Blick au f die Glasgefäß e, d ie früh er au f dem Tresen gestanden hatten. Die sauren Drop s und Karamellbonbons waren läng st alle, aber am Bo den ein es Gefäß es lagen ein paar zu ein em trau rigen Hau fen gesch mo lzen e Zu ckerstangen. Percy hatte n ichts üb rig fü r Zuck erstangen, aber Juniper war ganz verrückt danach. »Ich kau fe den Rest Ih rer Zu ckerstan gen .« Mit verd rieß licher Miene löste Mrs. Potts den klebrigen Klumpen vom Boden des Glasgefäß es und tat ihn in eine Papiertüte. »Das macht sechs Pence.«
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»Also wirklich, Mrs. Potts«, sagte Percy, während sie den Inh alt der kleinen Tüte begutach tete, »wenn wir nicht so gu te Freundinnen wären , wü rde ich glatt denken , Sie wollten mich übers Ohr hauen.« Vor Empörung stotternd wies die Postmeisterin den Verdacht von sich. »Das war doch nu r ein Scherz, Mrs. Po tts«, sag te Percy und reichte ihr das Geld. Sie steck te die Briefe und d ie Tüte mit den Zu ckerstangen in ih re Tasche und schenkte der Postmeisterin ein kn appes Läch eln. »Dann auf Wiedersehen. Ich werd e mich in Ih rem Namen nach Jun ipers Plänen erkund igen, ab er ich vermu te, wenn es irgendetwas Wissen swertes gibt, erfahren Sie es sowieso als Erste.«
2 Zwiebeln waren natürlich wichtig , aber d as änderte nichts an der Tatsache, dass ih r Grün zeu g fü r ein Blu menarran gement einfach nicht taugte. Saffy betrachtete die dünnen, grünen Triebe, die sie gerade abgeschnitten hatte, d rehte sie mal so , mal so , kniff die Aug en zu sammen und b rach te all ih re Fantasie au f, u m sie sich als Tischschmuck vorzustellen. In der französischen Kristallvase, einem Erbstück ih rer Großmutter, hätten sie ein e geringe Ch ance, v ielleicht wenn man etwas Buntes dazwischen st ellte, u m ih re Herkunft zu verschleiern? Oder - allmählich geriet sie in Fah rt, und sie biss sich auf die Lippe, wie immer , wenn sich eine gute Idee an kündigte - sie g riff das Th ema au f, k reierte ein Gebinde au s Zwiebellaub , Fenchelblättern und Kürbisblüten und betrachtete das Ganze als ironischen Komme ntar zum kriegsbeding ten Mangel. Sie seu fzte und ließ den Arm sinken, das schlaffe Zwiebelg rün imme r no ch in der Hand . Trau rig schü ttelte sie den Kopf. Was für absurde Gedank en einem d o ch du rch den Kop f gingen , wenn man verzweifelt war. Das Zwiebellaub war wirklich nicht zu g ebrau chen : Es war n icht nu r vö llig unp assend fü r den Zweck, sein Geruch erinnerte auch , je län ger sie es in der Hand hielt, eind eutig an alte Socken . Ein Ge104
ruch, der Saffy durch den Krieg un d vo r allem durch den Kriegseinsatz ihrer Zwillin gsschwester sehr vertraut war. Nein. Nach vier Monaten in London, wo sie zweifellos in den elegantesten Bloomsb u ry-Kreisen verkehrt hatte, wo sie tap fer die Lu ftan g riffe üb erstanden u nd man che Nacht in Lu ftschu tzkellern v erb racht hatte, hatte Junipe r etwas Besseres verdient als ein Eau de »Sch weißfu ß «. Ganz zu schweigen von dem geheimnisv ollen Gast, den sie eingeladen hatte. Junip er hatte nie Freun de gehabt - d ie kleine Meredith war die einzige üb erraschend e Au snahme - , ab er Saffy wu sste zwischen den Zeilen zu lesen, und auch wenn Jun iper die Angewohnheit hatte, sich seh r verschnö rkelt au szudrücken , hatte sie ihren Briefen entnommen, dass der junge Mann irgendetwas Ed el mü tiges getan hatte, um Ju nipers Herz zu erobern . Die Einladung zu m Abendessen diente also dazu, die Dankbarkeit der Familie Blythe zu m Au sd ru ck zu b ringen, und de swegen mu sste alles perfekt sein. Das Zwiebelgrün, beschloss sie nach einem letzten Blick darauf, war alles andere als perfek t. Aber jetzt, wo es scho n mal geschnitten war, du rfte es nicht verg eudet werd en - ein Sakrileg! Der Ernährung sminister, Lo rd Wo olton, wäre en tsetzt - Saffy wü rd e sie für irgendein Gericht verwenden, nu r nich t heu te Abend. Zwiebeln und deren Nach wirkung en kon nten jeden geselligen Abend verd erben . Untröstlich stieß sie einen Seu fzer au s und dann , weil es so gu ttat, gleich noch einen und g ing zu m Hau s zu rück, froh wie immer, dass sie nicht du rch den groß en Garten mu sste. Sie k önnte es n ich t ertragen ; der Garten war ein mal so prachtvoll gewesen. Es war eine Tragöd ie, dass so viele Blu meng ärten in Englan d vernachlässigt oder gar fü r den Gemüseanbau ben utzt wu rd en. Wie Juniper in ihrem letzten Brief berichtete, waren die Blumen im Hyde Park nicht nu r unter bergeweise Holz und Eisen und Ziegeln zerquetsch t Sch utt von Gott weiß wie viel en zerbo mb ten Wohnh äusern -, sondern auf der gesamten Südseite du rch Gemü sebeete ersetzt wo rden . Eine No twendigkeit, das sah Saffy ja ein, aber dennoch tragisch. Wenn es keine Kartoffeln gab, knu rrte den Leuten der Magen , aber wenn es keine Sch önh eit meh r gab, verhärtete das die Seele.
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Vor ihr flatterte ein Sch metterling , seine Flüg el bewegten sich wie die geg enüberlieg enden Seiten eines Blasebalg s. Dass derartig e Vollkommen h eit und natü rliche Gelassenh eit existieren konnten, wäh rend die Men schh eit ru ndheru m d as Dach der Welt zu m Ein stu rz b rachte - ein Wunder! Saffys Gesicht hellte sich auf; sie streckte einen Finger aus, ab er der Schmetterling schen kte ihm keine Beachtung, flatterte au f und ab u nd inspizierte die verfaulenden Früchte eines Misp elb aums. Ganz und gar selbstv ergessen — ung laublich ! Läch elnd setzte Saffy ih ren Weg fo rt, bü ckte sich un ter d er von d em kno tigen Glyzinienbaum ü b erwu cherten Pergo la, darauf bedacht, n icht mit d en Haaren an den Blüten hän gen zu bleiben. Mr. Churchill wäre gut beraten, sich daran zu erinnern , dass Kriege nicht nur mit Kugeln g ewonnen wu rd en , und diejenigen zu belohnen , denen es gelang, Schönheit zu erhalten, während die Welt um sie herum in Schutt und Asche gelegt wurde. »Der Chu rchill -Orden fü r d ie Erhaltung von Englands Schönheit«, das klang do ch n ich t schlecht, fan d Saffy. Als sie das am Morgen beim Frühstück erwähnte, hatte Percy nur gegrinst, selb stg efällig , wie nu r jemand sein kon nte, der mo n atelang in Bo mb en k rater geklettert war u nd sich damit einen Tapferkeitso rd en verdient hatte, aber Saffy hatte sich davon nicht b eeind rucken lassen. Im Geg enteil, sie arb eitete bereits an ein em Brief an die Times über das Thema. Über die Wirkung , die das hab en würde: dass Sch ön heit wich tig war, genau so wi e Kun st und Literatu r und Mu sik, vo r allem in Zeiten, in denen zivilisierte Nationen es darauf anzulegen schien en, ein ander zu immer b arbarisch eren Taten anzustacheln. Saffy war begeistert von London , war es sch on imme r gewesen. Ih re Zukun ftsp län e hi n gen vo m Üb erleb en der Stad t ab , und sie nah m jeden Bo mb enang riff persön lich . Als die Bo mb enan griffe ohne Unterlass kamen und p au senlos das Kn attern der Flak und das Heulen der Sirenen und die sch recklichen nächtlichen Explosionen zu hören gewesen waren, hatte sie ih re Fin gernägel blutig gek aut - eine fürch terliche Ang ewohnh eit, fü r die sie Hitler verantwortlich mach te - und sich gefrag t, ob sie, die sie d ie Stadt so seh r
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liebte, u mso sch recklicher unter der Zerstörung litt, weil sie nicht dort war, als die Katastrophe h ereinbrach, so ähnlich wie eine Mutter, deren So rge u m den verwundeten So hn da du rch v erstärk t wu rde, dass sie nicht an sein er Seite sein kon nte. Schon als Mädch en hatte Saffy g eahnt, dass ih re Zu kun ft nicht in den sumpfigen Wiesen oder innerhalb des alten Gemäuers von Milderh u rst lag, sondern in den Parks und Cafés und den lite rarisch en Zirkeln Londons. Als sie und Percy noch klein ware n, nach dem Tod ih rer Mutter, ab er noch vor Junipers Gebu rt, als sie also noch zu dritt gewesen waren, da hatte ih r Vater die Zwilling e jed es Jah r mit nach London geno mmen , wo sie eine Zeit lang in dem Hau s in Chelsea gewohnt hatten . Sie waren jung, die Zeit hatte noch keine Gelegenheit gehabt, ih nen au f so un terschiedliche Weise ih ren Stempel au fzud rück en , noch glichen sie sich äu ßerlich wie innerlich und wu rden enstp rechend von d en an deren beh and elt. Aber wenn sie sich in London aufhielten, hatte Saffy jedes Mal tief in ih rem In n ern ihr And erssein g espü rt. Währen d Percy sich wi e ih r Vater nach den au sgedehnten Wäldern von Mild erhu rst sehnte, füh lte Saffy sich von der Stadt in sp iriert. Hin ter ih r ertönte fernes Donn erg ro llen , und Saffy stöhn te. Sie wollte sich nicht u md rehen und die sch warzen Wolken seh en, die sich am Himmel zusammenzogen. Von allen Entbehrungen, die der Krieg mit sich b rach te, war d as Feh len der regelmäß igen Wettervo rh ersag e im R ad io b esonders sch wer zu ertragen . Dass sie weitgeh end au f ih r Lesevergnü gen verzichten mu sste, hatte sie gelassen hingeno mmen und sich damit ab gefund en, dass Percy ihr aus der Bücherei nur no ch ein Buch pro Woche mitbrachte anstatt der üblichen vier. Dass sie ihre Seidenkleider gegen p raktische Trägerrö ck e ein tau sch en mu sste, darüber hatte sie nur gelacht. Als die Bediensteten sie verlassen hatten wie die sp rich wö rtlich en Ratten das sin ken de Schiff u nd sie die Rollen d er Oberköchin, Putzfrau, Waschfrau und des Gärtners in Personalunion hatte überneh men mü ssen, war ih r das nicht sch wergefallen. Aber die Launen des englischen Wetters zu durchschauen, damit war sie einfach überfo rdert. Obwohl sie schon ihr Leben lang in Kent lebte, fehlte ih r der Instinkt
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der Landfrau für das Wetter: Immer wieder geschah es, dass sie ausgerechnet an Tag en, an denen Reg en in der Lu ft lag, Wäsche zum Trocknen aufhängte oder sich in die Gartenarbeit stü rzte. Saffy ging schn eller, beinah e im Laufschritt, bemüht, den Geru ch des Zwiebellaubs zu igno rieren , der mit jedem ihrer Sch ritte inten siver zu werden schien. Eins stand jetzt schon fest: Wenn d er Krieg vo rü ber war, wü rde sie das Lan dleben en dgültig hin ter sich lassen. Percy wu sste noch n ichts davon , man mu sste den rechten Moment abpassen, um eine solch e Neuigkeit zu v erkünden, aber Saffy würde nach London geh en . Do rt wü rde sie sich eine kleine Wohnung suchen, für sich allein . Sie besaß keine eigenen Möbel, ab er das stellte kein Hindernis dar; in so lche n Dingen vertraute Saffy auf die Vo rsehung . Es stand jed och auß er Frag e, d ass sie n ich ts von Mild erhurst mitneh men würde. Sie würde sich komplett neu einrichten; es wäre ein Neuanfang, fast zwanzig Jahre später als geplan t, aber daran ließ sich nichts ändern. Sie war jetzt älter, zäher, und diesmal wü rd e sie sich n ich t au f halten lassen , eg al, was sich ih r in den Weg stellen wü rde. Zwar waren ih re Pläne ein wohlgehütetes Geheimnis, aber sie hatte sich an gewöhnt, jeden Samstag d ie Vermietungsan zeigen in der Times zu lesen, u m so fo rt h andeln zu könn en , sobald sich ein e Gelegenheit bot. Anfangs hatte sie Ch elsea und Ken sington in Erwägung gezo gen , sich jedoch d ann fü r eines der georgianischen Viertel von Bloo msbu ry entschieden, die in Fu ßnäh e zum British Museum und den Läden in der Oxford Street lagen. Sie hoffte, d ass Ju niper eb en falls in London b leib en und in ih rer Nä he wohn en wü rd e, und Percy würd e n atürlich hin und wied er zu Besuch kommen . Aber ih re Zwillingsschwester würd e nie länger als eine Nacht bleiben, da sie größten Wert darauf legte, im eigenen Bett zu sch lafen und das Schlo ss notfa lls eigenhändig zu stü tzen, falls es zusammenzufallen drohte. In Gedanken war Saffy h äu fig in ih rer kleinen Wohn ung, vor allem, wenn Percy mal wied er du rch die Flu re des Schlosses stampfte, üb er die abblätternde Farbe und die durchhängenden Balken schimp fte und jeden neuen Riss in den Wänden beklagte. Dan n schlo ss Saffy die Augen und
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ö ffn ete die Tü r zu ihrer eig enen Wo hnung . Sie wäre klein und schlicht und seh r saub er - d afü r wü rde sie scho n sorgen -, und es wü rd e nach Bien en wach s u nd Essig du ften. Saffy ballte die Hand mit dem Zwiebelg rün zu r Faust und g ing no ch schneller. Ein Schreibtisch unter dem Fenster, darauf in der Mitte ih re Olivetti-Schreibmaschin e und an einer Eck e ein e klein e Glasv ase — ein e alte, hüb sch e Flasche wü rd e es zur Not auch tun - mit einer ein zig en, voll erb lühten Blu me, d ie sie täglich ersetzen würde. Nu r das Radiogerät wü rde ihr Gesellschaft leisten , u nd sie wü rde im Lauf des Tages ihre Tipp arbeit mehrmals unterbrechen, um den Wetterbericht zu hören, wü rde die Welt, die sie auf dem Papier erschuf, kurz verlassen und durch das Fen ster den k laren , rauch freien London er Himmel b etrachten. Sonn enlicht wü rd e ih ren Arm streifen, in ih re winzige Wohn ung fallen u nd das Bienen wachs auf den Möbeln zu m Glänzen b rin gen. Abend s wü rd e sie ihre au s der Bü cherei entliehenen Bücher lesen, noch ein wenig an ih rem Text schreiben und im Radio Gracie Fields hören, und niemand würd e au s dem anderen Sessel mu rren, das seien sentimen tale Schnu lzen . Saffy b lieb steh en, legte die Hände an ih re warmen Wangen und seufzte zufrieden. Ihre Träume von London, von ihrer Zukunft, hatten sie bis au f d ie Rückseite d es Schlo sses g efüh rt, u nd sie h atte es sogar noch vo r dem Regen g eschafft. Ein Blick zu m Hühnerhaus, und ih re Freude wurd e getrüb t. Wie sie ohne ih r geliebtes Federv ieh leb en sollte, wu sste sie no ch nich t; ob es ein e Möglichkeit gab, die Tiere mitzunehmen? In dem kleinen Garten hinter dem Hau s wäre do ch sich er Platz genug fü r ein en kleinen Hühn erauslauf - sie wü rd e die Bed ingung ein fach in ihre Liste aufnehmen müssen. Saffy öffnete das Törchen un d streckte die Arme au s. »Hallo, mein e Sü ßen ! Wie geht's euch heu te? « Helen -Melon plu sterte ih re Fed ern, rüh rte sich jedo ch nich t von d er Stang e, und Madame geruhte nicht einmal, zu Saffy aufzublicken. »Ko pf ho ch, Mädels, noch bin ich nicht weg. Erst müssen wir noch den Krieg gewin nen .«
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Als ih re Wo rte nich t den ge wünschten aufmunternden Ef fek t h atten, versch wand Saffys Läch eln . Schon seit d rei Tagen war Helen nied ergeschlagen, und Madame machte normalerweise lautstark au f sich au fmerk sam. Die jüng eren Hennen richteten sich in d er Regel nach den beiden älteren, und so war die Stimmung im ganzen Hühnerstall getrübt. Während der Bombenangriffe hatte Saffy sich an solche Stimmungstiefs gewohnt; Hü hner waren genauso empfindsam wie Menschen, genauso äng stlich , und die Bo mb er waren gn aden lo s gewesen . A m End e hatte sie alle ach t Hen nen abends mit in den Luftschutzkeller geno mmen . Sicher, die Luft da un ten war daraufhin noch schlechter gewo rden, aber letztlich hatten do ch alle Beteiligten dav on p ro fitiert: Die Hennen hatten wieder angefangen zu legen, und d a Percy meistens nachts im Einsatz war, war Saffy froh gewesen, nicht allein im Keller zu hocken. »Ko mm schon «, gu rrte sie und nahm Madame in die Arme. »Sei nicht so g ran tig , mein e Klein e. Es ist do ch bloß ein Gewitter, das da au fzieh t, meh r nicht.« Der wa rme, federb edeckte Körper entspann te sich , ab er nu r einen Augenblick lang, dann ergriff die Henne unbeholfen flügelschlagend die Flu cht und ließ sich wied er au f dem Bo den n ied er, wo sie in der Erde gescharrt hatte. Saffy sch lug sich den Dreck von den Händen und stemmte sie in die Hüften. »So schlimm steht's also? Dann hilft wohl nur eins.« Abendessen. Das Einzige, was Saffy einfiel, um ihre Mädels au fzuheitern. Sie waren nämlich une rsättlich, und das war gu t so . Ließen sich doch nur alle Probleme der Welt mit einer leckeren Mahlzeit lösen. Eigentlich war es noch ein bisschen früh, aber sie befand sich in einer Notsituation: Der Tisch im S peisezimmer war n och nicht ged eckt, d er Vo rleg elö ffel fehlte, Juniper und ih r Gast würden jeden Mo ment vo r der Tür stehen - und da sie b ereits Percys schlech te Laune zu ertragen hatte, waren eine Hand voll übel gelaunter Henn en das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. So. Es war eine p raktisch e Entsch eidung , es ging allein d aru m, d ie Mäd els wieder aufzuheitern, und es hatte nich ts damit zu tun, dass Saffy eine hoffnungslo se Ro man tik erin war.
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Die Kü che war erfüllt von den Dämp fen des Abendessen s, das sie aus dem gezau bert hatte, was die Vo rratskammer noch hergab und was sie von den Bauern in der Nachbarsch aft hatte erb etteln können, und Saffy zup fte an ih rer Blu se, um sich Kühlung zu verschaffen. »So«, stöhnte sie, »wo war ich stehengeb lieben? « Sie hob d en Deckel der Kassero lle an, um sich zu vergewissern , dass die Soße in ih rer Abwesenh eit nicht verko cht war, und sch lo ss au s dem Sch naub en des Ofens, dass die Pastete noch darin garte. Dann fiel ihr Blick au f eine alte Holzkiste, die ih ren ursp rünglichen Zweck n icht meh r erfüllte, aber fü r etwas anderes d u rchau s no ch zu g eb rauchen war. Saffy zog die Kiste in die hinterste Eck e der Vo rratskammer, stieg darauf und reckte sich au f Zehenspitzen . Sie tastete d as oberste Regalb rett ab, bis ih re Finger g anz hinten eine kleine Konservendo se berührten. Sie bekam die Do se zu fassen, nahm sie läch elnd vo m Regal und stieg von der Kiste. Der Staub von Monaten hatte sich darauf gesammelt, fettiger Dampf hatte sie mit einer kleb rigen Schicht üb erzogen, und sie mu sste sie erst mit d em Dau men abwischen , um d a s Etik ett lesen zu könn en: Sard inen. Perfekt! Sie u mk lammerte die Dose ganz fest, und der Reiz des Verbotenen ließ ih r Herz hö hersch lagen. »Keine So rge, Dad d y«, sang sie vo r sich hin , wäh ren d sie den Do senö ffn er au s der Schub lad e mit d en Kü chen uten silien k ramte u nd sie mit d er Hü fte schwun gvoll wieder sch loss. »Die sind nicht fü r mich.« Es war einer der unumstö ßlichen Glauben ssätze ih res Vaters gewesen: Konserven waren Teil einer Versch wö ru ng, und sie sollten eh er v erhun gern, als sich auch nur einen Lö ffel vo m In halt einer Kon serv endo se einzuv erleiben. Wer und aus welchem Grund ein Komplott gegen ihn schmiedete, war Saffy immer ein Rätsel geblieben, aber in dieser Sache war ih r Vater unn achgiebig gewesen , und das hatte gereicht. Er duld ete es n icht, dass man sich ihm widersetzte, und üb er lange Jahre hatte sie au ch kein Bedü rfnis dazu ve rspü rt. Während ihrer Kindh eit war er tagsüb er ih re Sonne gewesen und nachts ihr Mond; die Vorstellung, dass er sie je mals enttäu schen kö nnte, ge hö rte in d as Reich d er Dämo n en und Alb träume.
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Saffy kippte die Sardinen in eine Po rzellan sch üssel, die einen feinen Sp run g hatte, was ih r jedo ch erst au ffiel, nach dem sie den Fisch bereits zu einem undefinierbaren Brei zerstamp ft hatte. Den Hühn ern wäre d er Riss in der Schüssel gleichgültig, aber sie hatte eben erst festgestellt, dass sich die Tapete über dem Kamin im Speisezimmer v on der Wand lö ste, und damit waren es in nerhalb kürzester Zeit schon zwei Anzeich en des Niederg angs. Sie nahm sich v o r, die Teller, die sie fü r den heutig en Aben d b ereitgestellt hatte, genauestens unter die Lupe zu neh men und diejenigen zu versteck en, die ebenfalls ein en Sp run g au fwiesen; solche Verschleißersch einungen b rachten Percy n ur au f die Palme, und obwohl Saffy ih re Zwillingsschwester für die Hingabe bewunderte, mit der sie sich Schlo ss Milderhu rst u nd seiner Erhaltung wid mete, wäre Percys Missstimmung einem geselligen Abend in festlicher Stimmu ng , wie Saffy ihn sich vo rstellte, nicht gerade fö rderlich. Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Die Tür sch wang quietsch end au f, Saffy zu ckte zu sammen , und ein Stückchen Sard inen gräte fiel von der Gabel au f d ie Fußb o denfliesen. »Miss Saffy!« »Ach, Lucy! Du bist es!« Saffy schlug sich die Hand, in der sie die Gabel hielt, an s pochende Herz. »Du hast mich zu Tode ersch reckt!« »Tut mir leid. Ich dach te, Sie wären draußen, um Blumen fürs Speisezimmer zu pflücken ... Ich wollte nur ... Ich ...« Die Hau shälterin b rach mitten im Satz ab , als sie n äher ka m und den Fischb rei und die o ffene Do se gewah rte. Sie ließ ih ren u rsp rünglich en Gedankengang fallen, als sie Saffys Blick begegnete. Ihre schönen, veilchenblauen Augen weiteten sich. »Miss Saffy!«, stieß sie hervo r. »Ich hätte nie gedacht ...« »O nein, nein, nein!« Saffy b rachte sie mit einer Handb ewegung zum Schweigen und legte lächelnd einen Finger an ihre Lippen. »Schsch, Lu cy, meine Liebe. Die sind do ch nicht fü r mich, auf gar keinen Fall. Die sind fü rs Federvieh.«
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»Ach so .« Lucy war sichtlich erleichtert. »Das ist n atü rlich etwas anderes. Nicht auszudenken, wenn er«, ihr Blick wanderte ehrfurchtsvoll nach ob en, »sich au fregen wü rde.« Saffy gab ihr recht. »Dass mein Vater sich im Grab u md reht, ist wirk lich das Letzte, was wir heu te geb rauchen können.« Mit einer Kop fb ewegung wies sie auf den ErsteHilfe-Kasten. »Würdest du mir ein paar Aspirin herausnehmen? « Lucy runzelte sorgenvoll d ie Stirn . »Füh len Sie sich nicht gu t? « »Die sind für die Hühner. Sie sind g anz du rch ein ander, d ie Är msten , und n ichts beruhigt die Nerven so gut wie Aspirin, außer vielleicht ein ordentliches Glas Gin, aber das wäre do ch ziemlich unverantwo rtlich.« Mit einem Lö ffel zerdrückte Saffy die Tabletten. »So niedergeschlagen habe ich sie nicht mehr erlebt seit dem Bombenangriff am zehnten Mai.« Lucy erbleichte. »Wollen Sie damit sagen, sie spüren, dass die Bo mb enan g riffe wied er losgehen? « »Nein, d as glaube ich nicht. Adolf Hitler ist viel zu seh r damit beschäftigt, in den Winter zu marschieren, als sich u m un s zu kü mmern . Das sag t Percy jeden falls. Sie meint, dass wir mind esten s bis Weihnachten nichts zu befürchten haben; sie ist furchtbar enttäu sch t.« Saffy, die immer noch in de m Fischbrei rührte, hatte g erade Luft geholt, um fortzufahren, als sie sah, dass Lucy an den Herd getreten war. Die Haushälterin sah nich t so aus, als würde sie ihr noch zuhören, und au f einmal k am Saffy sich so albern vor wie ihre Hühner, wenn sie Lu st hatten zu gackern und niemand zuhö rte außer dem Gartentor. Nach einem v erlegenen Hü steln sag te sie: »Ach, ich p lapp ere nu r du mmes Zeu g. Du bist bestimmt nicht in d ie Küch e geko mmen , um d ir Geschichten üb er d ie Hühner anzuhören, und ich halte dich nu r von d er Arbeit ab.« »Ganz u nd g ar nicht.« Lucy schloss die Ofen klap pe u nd richtete sich au f. Ih re Wan gen waren gerötet, woran nicht nur die Ofen hitze schuld war. Offenbar hatte sie sich das Unbehagen der Haushälterin nicht eingebildet, dachte Saffy. Irgendetwas, was sie gesagt oder g etan hatte, h atte Lucy die
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Laun e verdorben, und das war ihr sehr unangenehm. »Ich bin geko mmen, um nach der Kaninchenpastete zu sehen«, sagte Lucy, »was ich jetzt getan h abe, und u m I hn en zu sagen, dass ich den silb ernen Vorlegelöffel, den Sie heute Abend benutzen wollten, n icht gefun den habe, ab er ich h abe einen anderen auf den Tisch gelegt, der eb en so gu t ist. Außerdem habe ich ein paar von den Schallplatten mit heruntergebracht, die Miss Ju niper au s London geschickt hat.« »Hast du sie in den blauen Salon geb rach t? « »Selbstverständlich.« »Perfekt.« Der blaue Salon war das gu te Zimmer, un d deswegen würden sie Mr. Cavill do rt empfangen. Percy war dagegen gewesen, aber das war nich t anders zu erwarten . Sie war seit Wochen schlech t gelaunt, stampfte du rch die Flure, prop hezeite Schreckensszen arien für den kommenden Winter, mu rrte ü ber den Brennstoffmangel und schimpfte über die Extravag anz, ein weiteres Zimmer zu heizen , wo doch der gelb e Salon täglich geheizt wurde. Aber sie würde sich scho n wieder beruhigen , wie immer. Entschlossen klopfte Saffy mit der Gabel auf den Schü sselrand. »Die Soße ist sehr gut gewo rd en. Schö n dick und cremig , au ch ohne Milch.« Lucy lugte gerad e unter den Deck el der Kassero lle. »Ach, Lu cy, du bist ein Schatz. Ich habe sie schließlich mit Wasser gemacht und ein bissch en Hon ig zum Sü ßen zugegeben, um den Zucker für Marmelade au fzuheben . Ich hätte nie gedach t, d ass ich d em Krieg einmal fü r etwas d ankbar sein wü rd e, aber ohne ih n hätte ich n ie gelernt, wie man ein e per fekte milchfreie Soße herstellt!« »In Lond on wären Ihnen ein ige Leu te d ankbar fü r das Rezept. Meine Kusine sch reib t, dass sie do rt neu erdings n u r no ch einen Liter Milch pro Woche bekommen. Können Sie sich das vorstellen? Sie sollten Ihr Soßenrezept aufschreiben und an den Daily Telegraph s chicken. Die drucken so etwas.« »Ach, das wusste ich gar n icht«, sagte Saffy nachdenklich. Es wäre eine weitere Verö ffentlich ung in ih rer klein en Sammlu n g. Keine besond ers bedeu tend e, aber immerh in . Alles wü rd e von Nutzen sein, wenn sie so weit war und ihr Manu sk rip t ab sch ickte, un d wer konn te schon sag en, was
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sich daraus noch alles erg eben würd e? Eine regelmäßige kleine Kolumn e zu schreiben wäre gar nicht so übel. »Saffys Nähkästchen - Nützliche Ratschläge im Alltag « oder so äh n lich, eine kleine Vignette in der Ecke — ih re Sin ger 2 0 1 K , od er noch besser: eine vo n ih ren Hennen ! Sie lächelte, so zu frieden und verg nügt über ih re Fantasie, als wäre sie bereits Realität. Lucy erzählte derweil immer noch von ih rer Ku sine in Pimlico und von dem ein zigen Ei, das sie dort alle vierzehn Tage zugeteilt bekamen. »Vergangene Woch e hat sie eins bekommen, das faul war, man denke nu r! Und man hat ih r kein neues d afü r gegeben.« »Also , das ist wirklich eine Schand e!«, rief Saffy entgeistert au s. In ih rer Kolumne würde sie eine Menge zu sagen haben zu diesen Themen , und sie wü rde nich t mit k lug en Gegenvo rschlagen g eizen . »Du mu sst ih r ein paar von meinen Eiern schicken. Und nimm auch gleich ein halb es Dutzend für dich selbst.« Lucy schaute sie so dankbar an, als hätte sie ih r Goldklumpen geschenk t. Saffy wurd e au f einmal ganz verlegen und verscheuchte hastig das Bild von ih rer Doppelgän gerin b ei der Zeitung. Beinahe entschuld igend sagte sie: »Wir haben mehr Eier, als wir essen könn en, Lucy, u nd ich hatte sch on überlegt, wie ich mich erkenntlich zeigen könn te - d u hast mir schon so oft geholfen , seit der Krieg angefangen hat.« »Ach, Miss Saffy.« »Ich wü rd e ja immer noch Pu derzu cker in s Wasch wasser schü tten , wen n du nicht gewesen wärst!« Lucy lach te. »Herzlichen Dank . Ich n eh me Ihr Ang ebot gerne an .« Wäh rend sie d ie alten Zeitu ngen , die neb en dem Herd gestapelt lagen, in kleine Quad rate rissen und d ie Eier darin einwickelten , d achte Saffy zum hundertsten Mal an diese m Tag, wie sehr sie die Gesellschaft ihrer ehemaligen Haushälterin immer g eno ssen hatte und wie schade es war, dass sie sie hatten gehen lassen mü ssen. Wenn Saffy in ih re kleine Wohnu ng zog , wü rd e sie Lu cy die Ad resse g eben und sie einladen, sie zu m Tee zu besuchen , wenn sie in London zu tu n hatte. Percy wü rde zweifello s ih re Meinung d azu h aben -
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sie hatte ziemlich traditionelle Ansichten in Bezug au f die Klassen und deren Vermischung -, aber Saffy wusste es besser: Freunde mu sste man wertschätzen, egal, wo man sie fand. Wieder war ein bed rohliches Donnerg rollen d raußen zu h ö ren, und Lucy lugte du rch das schmutzige Fenster üb er der klein en Spüle. Sie betrachtete den düsteren Himmel und runzelte die Stirn. »Wen n Sie sonst nichts mehr für mich zu tun haben , Miss Saffy, d ecke ich den Tisch im Salon fertig und ma che mich auf den Weg. Sieht so aus, als wü rd e das Gewitter gleich lo sgehen , und ich muss zu einer Versammlung.« »Freiwilliger Frauendien st? « »Heute Abend wird geko cht. Wir mü ssen dafü r so rg en, dass unsere tapferen Soldaten genug zu essen krieg en.« »Da hast du recht«, sagte Saffy. »Ich h abe üb rigen s ein paar Puppen für die Versteigerung g enäh t. Die k ann st du gleich mitnehmen, wenn es dir nich ts ausmacht. Sie sind oben, dort ist auch ...« - eine k leine theatralisch e Pause »... das Kleid.« Lucy sah sie mit g roßen Au gen an , d ann flüsterte sie, ob wohl sie allein waren: »Sie h aben es fertig? « »Gerade rechtzeitig, damit Ju niper es h eute Abend tragen kann. Ich habe es ins Dachzimme r geh ängt, damit es d as Erste ist, was sie sieh t.« »Dann lau fe ich au f jeden Fall noch schnell nach ob en, bevo r ich gehe. Un d, ist es schön gewo rd en? « »Es ist traumhaft.« »Ich freue mich ja so.« Nach kurzem Zögern nahm Lucy Saffys Hand. »Es wird alles perfek t, warten Sie's nu r ab. Was für ein Segen, dass Miss Jun iper endlich aus Londo n zu rückko mmt.« »Ich ho ffe bloß, d ass das Wetter den Zug nicht allzu lange au fhält.« Lucy lächelte. »Sie werd en erleich tert au fatmen , wenn sie erst gesund und mu n ter hier angekommen ist.« »Ich h abe nicht eine Nacht ruhig geschlafen , seit sie weg ist.« »Das sin d die So rgen.« Lucy schüttelte mitfühlend den Kopf. »Sie sind immer wie eine Mu tter fü r sie gewesen , und
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eine Mutter schläft nie ruhig , wenn sie sich u m ih r Kind sorgt.« »Ach Lu cy!« Saffys Augen wurden feucht. »Ich habe mir wirk lich ernsth aft So rgen gemacht. Mir ist, als hätte ich monatelang den Atem angeh alten.« »Ab er sie hat do ch k eine An fälle gehabt, oder? « »Zum Glück nicht, sie hätte es un s bestimmt gesagt. Selb st Juniper würde bei einer so ern sten Sach e nich t die Unwahr heit sagen ...« Die Tü r flog mit einem Kn all auf, und sie fuh ren beide zu sammen. Lucy stieß einen spitzen Schrei aus, und Saffy kon nte ihn nu r knap p unterdrücken, aber dies mal dachte sie noch rechtzeitig daran, d ie Sardinen do se h inter ih rem R ück en zu verbergen. Es war nur der Win d, der heftiger gewo rden war, u nd doch h atte der Sch reck die traute Atmo sphäre in der Küche weggefegt und Lucys Läch eln mitg enommen. Und da wu sste Saffy plö tzlich, was Lucy auf der Seele lag. Sie zog in Erwägung, nich ts d azu zu sagen, der Tag war fast vorüber, und manchmal war Schweigen wirk lich Gold, aber sie hatten einen so an genehmen Nachmittag verbracht, während sie in der Küch e und im Salon Seite an Seite gearbeitet hatten, und Saffy h ätte g ern Klarheit ge schaffen. Sie hatte schließlich ein Rech t darau f, Freunde zu hab en - sie brauchte Freunde -, eg al, was Percy darüber dachte. Leise räu sperte sie sich. »Wie alt warst du , als du hier ang efang en hast, Lucy?« Die Antwort kam wie au s der Pistole geschossen, als hätte sie mit der Frage gerechn et. »Sechzehn.« »Und das ist jetzt zweiund zwan zig Jah re her, nicht wah r?« »Vierundzwanzig. Das war 1 9 1 7 . « »Mein Vater hat dich immer sehr gemo cht.« Die Pastetenfüllung im Ofen hatte an gefan gen zu blubbern . Die eh emalig e Haushälterin richtete sich auf, dann seufzte sie lang sam und b edächtig. »Er war gut zu mir.« »Du sollst wissen , dass Percy und ich dich au ch sehr mö gen.« Nachdem die Eier alle ordentlich eingewickelt waren , hatte Lucy an der Anrichte nichts mehr zu tu n. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sagte leise: »Es ist sehr nett von
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Ihnen, dass Sie das sagen, Miss Saffy, aber es ist nicht nötig.« »Es ist nur - falls du es dir irgendwann anders überleg st, wenn die Zeiten sich änd ern, falls du wieder o ffiziell h ier...« »Nein «, sagte sie. »Nein dank e.« »Ich b ringe d ich in Verlegenheit«, sagte Saffy. »Verzeih mir, Lu cy. Ich hätte kein Wo rt davon erwähnt, aber ich wollte nicht, dass du das missverstehst. Percy den kt sich nichts dabei. Es ist einfach ihre Art.« »Sie brauchen sich wirklich nicht zu ...« »Sie k ann Veränderu ngen nicht leiden . Das kon nte sie no ch nie. Als sie als Kind Scharlach hatte und deswegen in s Kran kenhaus musste, ist sie vo r Kummer fast gesto rb en.« Saffy machte einen schwachen Versuch, die Stimmung au fzuh eitern: »Manch mal denke ich, ihr wäre es am liebsten, wenn wir drei Schwestern fü r immer h ier in Milderhurst bleiben würden. Kannst du dir das vo rstellen? Wir drei als alte Schachteln mit weißen Haaren , so lang, d ass wir d rau f sitzen könnten? « »Ich glaube, da h ätte Miss Jun iper ein Wö rtchen mitzu reden.« »Allerding s.« Und Saffy eb en fa lls. Am liebsten hätte sie Lucy von ihrer kleinen Wo hnung in London erzählt, von dem Sch reibtisch unterm F en ster, doch sie beherrschte sich. Es war nicht der richtige Aug enblick. Stattdessen sagte sie: »Es hat uns beiden leidgetan, dich nach so vielen Jahren gehen zu lassen.« »Es ist der Krieg, Miss Saffy, ich wollte meinen Beitrag leisten, und als dann meine Mu tter gestorben ist und Harry ...« Saffy winkte ab. »Du b rau ch st mir n ichts zu erklären, ich verstehe d ich seh r gut. Herzensang eleg enheiten und so weiter. Wir mü ssen alle un ser Leben leben, Lucy, vor allem in sch weren Zeiten wie diesen. Der Krieg lehrt einen, was wirk lich wich tig ist, nich t wah r? « »Ich mu ss jetzt geh en.« »Ja. Sicher. Wir sehen un s bald wieder. Vielleicht näch ste Woch e, um Senfgurken fü r die Versteigerung einzulegen? Meine Kü rbisse ...«
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»Nein «, sagte Lucy, und ihre Stimme k lang plö tzlich an ders. »Nein , nicht noch ein mal. Und ich hätte auch heute nicht herkommen sollen, aber Sie haben am Telefon so du rcheinander geklungen.« »Aber Lucy ...« »Bitte, fragen Sie mich nich t wieder. Es ist nich t recht.« Saffy fehlten die Wo rte. Wieder fegte ein wütender Wind herein, der Donner war jetzt lauter zu hö ren. Lucy nahm das Geschirrtuch mit den Eiern . »Ich mu ss gehen «, wied erho lte sie etwas sanfter, was irgendwie noch schlimmer war und Saffy d ie Trän en in die Augen trieb. »Ich hole die Puppen , seh e mir Junipers Kleid an und mache mich au f den Weg.« Und dann war sie fort. Die Tü r fiel in s Schloss, und Saffy war wieder allein in d er dampfenden Küche, hielt ein e Sch üssel mit Fischb rei u mklammert und zerbrach sich den Kopf darüber, was ihre Freu ndin vertrieb en hatte.
3 Percy ließ sich die abschü ssig e Tenterdon Road h inunterrollen, über die holprigen Steine vor der Zu fahrt zu m Schloss, dann sprang sie vo m Fahrrad. »Home again, home again, jiggityjig«, sang sie vo r sich hin, während d er Kies unter ih ren Stiefeln knirschte. Sie waren noch klein gewesen , als ih re Kin derfrau ihnen diesen Reim beigebracht hatte, und doch kam er ihr auch nach Jahrzeh nten jedes Mal in den Sinn , sobald sie von der Straße in die Zu fah rt einbog . Man che Melodien, man che Reime, b lieb en ein fach häng en und ließ en sich nicht meh r ab schütteln, egal, wie seh r man sich an strengte. Nicht dass Percy den »Jiggity Jig « gern lo sg eworden wäre. Die gute Kinderfrau mit ihren kleinen, ro safarbenen Händen , die stets so viel Zuversicht ausgestrahlt hatte, die abends am Kamin gesessen und sie mit dem Klappern ihrer Stricknadeln in den Schlaf gelullt hatte. Wie hatten sie gewein t, als sie ih ren neu nzig sten Gebu rtstag gefeiert und verkündet hatte, sie werde zu ein er Großn ich te n ach Co rn wall ziehen . Saffy hatte so gar g ed roht, sich aus dem Fenster d es Dachzimmers 119
zu stü rzen, aber die Drohu ng h atte du rch häu fige Wiederh o lu ng längst an Schärfe eing ebüßt, und die Kin derfrau hatte sich nicht erweichen lassen. Ob wo hl sie sp ät d ran war, schob Percy ih r Fah rrad gemütlich die Zufah rt ho ch und ließ sich von den Wiesen beg rü ßen, die sich zu beiden Seiten au sb reiteten . Zu ih rer Linken lag das Bauernhaus mit seinen Malzd arren , dah inter die Mühle und rechts etwas weiter entfernt der Wald. Die Erin nerungen an tau send Kin dertage verbargen sich in d en Bäu men d es Cardarker-Wald s und b linzelten ih r au s dem k ühlen Schatten zu. Wie herrlich Fu rcht einflößend es doch gewesen war, sich vor den weißen Sk lav enjägern zu versteck en, wie aufregend, Drachenknoch en au szubud deln und mit dem Vater auf der Such e nach uralten römisch en Straßen das Gelände zu du rchstreifen ... Die Zufahrt war nicht besonders steil, und Percy schob ih r Fahrrad nicht au s Mangel an Kraft, sond ern weil sie es geno ss, zu Fuß zu gehen. Ih r Vater war au ch ein begeisterter Wand erer gewesen , vo r allem s eit dem E nd e des Ersten Weltk riegs. Bevo r er das Buch v erö ffen tlicht h atte, bevo r er nach London g egang en war u nd sie h ier allein zu rückg elassen hatte, bevo r er Odette kennengelernt und geheiratet und nie wieder ganz ihnen g ehö rt hatte. Der Arzt hatte ihm ge sagt, ein täglicher Sp aziergang täte seinem Bein gut, und er hatte angefangen, mit dem Sto ck, den Mr. Morris nach einem Besuch mit ih rer Großmu tter vergessen h atte, du rch die Wiesen und Felder zu wandern. »Seht ihr, wie die Spitze bei jedem Sch ritt nach vo rne sch wingt? «, hatte er gefragt, als sie eines Nachmittags im Herbst zusammen am Bach entlanggegangen waren. »So mu ss es sein. Robu st und zuverlässig. Der Stock ist eine Erinnerung.« »Wo ran, Dadd y? « Stirn runzelnd hatte er d as schlammig e Ufer b etrachtet, als läge die Antwort zwischen dem Schilf v erbo rgen. »Nun ja ... daran, dass ich auch robust bin.« Damals h atte sie nicht verstanden, was er meinte, sondern nu r angen ommen , dass das Gewicht des Stock s ih m Freud e bereitete. Jedenfalls hatte sie n icht nachgehak t. Percys Po sition als Wandergefährtin war unsicher, und die mit dieser
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Rolle verbund enen Regeln waren stren g. Das Wand ern war, laut Raymo nd Blythes Doktrin, eine Zeit der Kon temp lation und in selten en Fällen, wenn beide Beteiligten dafür empfän glich waren , eine Zeit fü r Gesp räche über d ie Geschich te oder die Poesie oder die Natu r. Plappermäuler wurden nicht geduldet, und wer das Etik ett einmal b eko mmen h atte, wu rd e es nie wieder lo s, wie die arme Saffy zu ihrem großen Kummer hatte erfahren müssen. Viele Male schon hatte Percy sich zum Schloss umgedreht, wenn sie sich mit ihrem Vater au f Wand erschaft begab, und Saffy missmu tig am Kinderzimmerfenster stehen sehen. Ihre Schwester hatte ihr jedes Mal leidgetan , aber nie genug, um b ei ih r zu bleib en. Sie fan d, es war ein gerechter Ausgleich zu den zahllosen Situationen , in denen Saffy die volle Aufmerksamkeit ih res Vaters genoss und ih m sogar hin und wieder ein Lächeln entlo ckte, wenn sie ih m die lustigen kleinen Geschichten vorlas, die sie immer schrieb. Und es war eine Entschädigung für die Monate, die ihr Vater mit Saffy allein verbracht hatte, nachdem er au s dem Krieg zu rü ckgek ehrt war un d man Percy mit Scharlach ins Krankenhau s geb racht hatte ... An der ersten Brücke blieb Percy stehen und lehn te ih r Fahrrad ans Geländer. Von hier aus konnte sie das Haus nicht sehen, noch nich t; es wurde von dem u mg eben den Wald verdeckt und würde erst zu sehen sein, wenn sie die zweite, klein ere Brücke erreich te. Sie beugte sich ü ber das Geländer und betrachtete den seichten Bach unter sich. Dort, wo die Ufer weiter au seinandertraten, bildete das Wasser klein e Strudel, flüsterte und zögerte au f dem Weg in den Wald. Percys Spiegelbild, d as sich d unkel gegen den weiß en Himmel abhob , wab erte in der g latten Ob erfläche in der Mitte des Bachs. Au f der anderen Seite lag das Hop fen feld , wo sie ih re erste Zigarette gerauch t h atte. Saffy und sie hatten sich wegg eschlichen und sich kichernd üb er das Zigarettenetui herg emach t, das sie ein em der wich tig tuerischen Freun de ih res Vaters geklaut hatten, wäh rend der sich an einem b rütend heißen Sommertag am Seeufer die fleisch igen Knö chel vo n der Sonne rösten ließ. Eine Zigarette ...
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Percy fasste an ihre Brusttasche, spürte das feste Röhrchen an den Fingerspitzen. Wo sie sich d as v erdammte Ding scho n ged reht hatte, so llte sie es auch genieß en, oder? Wen n sie erst einmal in den Trub el im Ha u s eingetauch t war, wü rd e sie bestimmt keine Gelegenheit meh r dazu fin den . Sie drehte sich um, lehn te sich gegen das Geländ er, riss ein Streichholz an, inhalierte tief und beh ielt den Rauch ein en Momen t in der Lung e, ehe sie ihn ausatmete. Gott, wie sie das Rauchen genoss. Manch mal dachte Percy, es wü rde ih r gefallen, allein zu leben, nie wieder mit einer Menschenseele ein Wo rt zu wech seln , un ter d er Bedingung , dass sie hier in Mild erhu rst wohn en würde, mit einem lebenslang en Vo rrat an Zigaretten . Sie war nicht immer so ein Einzelgänger gewesen. Lind au ch jetzt wusste sie, d ass ih r Tag trau m n ich ts and eres war als eben d as, ein Tagtrau m - wen n au ch manch mal trö stlich . Ohn e Saffy wü rde sie es nicht au sh alten, jeden falls nicht lange. Und au ch nicht ohn e Ju niper. Ih re kleine Sch wester hatte sich vier Mon ate lang in Lond on au fgeh alten, und sie beiden Daheimg eblieben en hatten sich in der Zeit au fgefüh rt wie zwei überreizte alte Jungfern: Ständig hatten sie sich gesorgt, ob Juniper auch g enug warme So cken hatte, und jedem, d er nach Lo ndon fuh r, frisch e Eier für die Sch wester mitg egeben; hatten einander beim Früh stück Junipers Briefe vorg elesen und zu ergründ en versucht, wie es um ihre Stimmung, ih re Gesundheit, ih re Gemü tsverfassu ng stand. Briefe, in denen mit k ein em Wort - auch nicht zwischen den Zeilen etwas v on der Au ssicht au f eine Hoch zeit erwähnt wu rd e. Von wegen, Mrs. Potts! Fü r jed en , d er Juniper kannte, war allein die Vorstellung lachhaft. Es gab Frauen, die geschaffen waren fü r die Ehe und Kinderbettchen auf dem Flur, und es gab solche, für die das n ich t zu traf. Ih r Vater hatte das gewusst, und desh alb hatte er alles so gereg elt, dass nach seinem Tod für Junip er gesorgt war. Percy schnau bte veräch tlich und trat ih re Kip pe mit d e m Ab satz au s. Der Ged anke an Mrs. Potts hatte sie an die Post erinnert, die sie abgeholt hatte, und sie nahm sie au s der Tasche. Ein willkommener Vorwand, noch ein bissch en das Allein sein zu genieß en.
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Es h andelte sich u m drei Sendun gen , gen au wie Mrs. Potts gesagt h atte: ein Päckchen von Meredith an Juniper, einen an Saffy adressierten, getip pten Brief und einen U mschlag, au f dem handschriftlich ihr eigener Name stand. Die schnörkelige Sch rift kon nte zu niemand anderem g ehören als zu ih rer Ku sin e Emily. Begierig riss Percy den Umsch lag au f un d hielt d en Brief in s schwächer we rdende Licht, damit sie ihn lesen k onnte. Mit Ausnahme des Debakels, als Emily Saffys Haare blau gefärbt hatte, war der Kusine im Leben der Blyth e-Zwilling e stets d er eh renhafte Titel Lieblin gskusine sicher gewesen. Dass ihre einzigen Konku rrentinnen die au fgeb lasen en Ku sinen au s Camb ridge waren, diese seltsamen , spin deldü rren Weiber au s dem No rden , und ih re jü ngere Sch wester Pipp a, deren Neigung , bei jedem n o ch so geringen Anlass in Trän en auszubrechen, sie von vo rn eherein disqualifizierte, tat der Eh re kein en Abb ruch . Jeder Besuch von Emily in Mild erhu rst wu rde g ebüh rend gefeiert, und o hne sie wäre die Kind heit der Zwillinge eine rech t trüb e Zeit g ewesen. Percy und Saffy standen sich sehr nahe, wie das eben so ist bei Zwillingen , ab er sie p fleg ten nicht die Art eng e Beziehung, die alle anderen ausschloss. Im Geg enteil, sie füh lten sich einander umso näher, wenn sie jemand Drittes in den Bund au fnah men . Als sie heran wuch sen , g ab es im Do rf zah lreiche Kin der, mit d enen sie hätten spielen kön nen , hätte ih r Vater nicht eine so tiefe Abneigung g egen Außen stehend e gehabt. Der gute Dad d y war au f seine Art ein ziemlich er Sno b gewesen , auch wenn es ihn scho ckiert h ätte, als solch er bezeich net zu werden. Was er b ewunderte, war wed er Geld no ch Status, sondern Intelligenz; Talent war die einzige Wäh rung , die fü r ihn zählte. Emily, die so woh l Intellig enz als au ch Talent b esaß, hatte von Raymo nd Blyth e den Unbed enklichk eitsstemp el erh alten und damit die Erlau bnis, jeden So mmer in Mild erhu rst zu verbringen. Ihr war sogar die Eh re zuteilgeworden , an d en berühmten Familienabenden teilzunehmen, ein mehr oder weniger reg elmäß ig stattfindend er Wettkamp f, den die Groß mu tter eing efüh rt h atte, als der Vater no ch ein Jung e war. Dann ertönte schon mo rg ens der verheißungsvolle Ruf
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»Familienabend!«, und die Vorfreude sp ornte die Familie den g anzen Tag üb er an. Wö rterbü cher wurden h erausgesuch t, Bleistifte gespitzt und der Verstand wurd e geschärft, bis sich sch ließlich nach d em Ab endessen alle im g uten Zimmer versammelten. Die Kandidaten nahmen am Tisch od er in ih rem Liebling ssessel Platz, und zum Schluss betrat der Vater das Zimmer. Am Wettkamp ftag zog er sich jed es Mal in den Turm zurück , u m eine Liste von Au fg aben zu erstellen, und deren Verkün digun g hatte imme r den Ch arakter einer Zeremonie. Die Details des Spiels variierten, aber generell wurden ein Ort, ein Charak tertyp und ein Wort vo rgegeben, die größte Eieruhr au s der Kü che umgedreht, und dann g ing es d aru m, die best e Gesch ich te zu erfinden . Percy, die zwar klug, ab er nicht geistreich war, die lieber zuh ö rte als erzäh lte, die lang sam u nd so rg fältig schrieb, wenn sie nervös war, und sich ex trem gestelzt au sd rückte, hatte diese Abend e gefü rchtet und verab scheut, bis sie i m Alter von zwölf Jahren zu fällig entd eck t hatte, d ass d em o ffiziellen Punktezähler Nach sicht g ewäh rt wu rd e. Wäh rend Emily und Saffy - deren innige Zuneigung fü reinand er ih re Konkurrenz noch anfeuerte - über ih ren Texten sch witzten, die Stirn in Falten legten, sich au f die Lippen b issen, die Bleistifte über die Seiten fliegen ließen und um Dadd ys Lob wetteiferten , blick te Percy g elassen dem V erg nügen entge gen. Im sch riftlichen Au sd ru ck waren die Ku sin en einander eb enbü rtig; Saffy besaß vielleicht einen etwas größeren Wortschatz, Emily war jedoch aufgrund ih res schelmischen Hu mo rs eindeutig im Vo rteil, und ein e Zeit lang war es o ffen sichtlich, dass der Vater d as Familien talen t vo r allem i n ihr heranreifen sah. Das war natü rlich , b evo r Junip er gebo ren wu rde, die mit ihrer frühreifen Beg abung d ie b isherige Ordnu ng ü ber den Hau fen warf. Falls Emily den Kälteschauer gespürt hatte, als Raymond Blythe ih r seine Au fmerksamkeit entzog, so erholte sie sich immerhin schnell davon . Über viele Jah re hin weg kam si e weiterh in fröh lich jeden So mmer zu Besu ch, lange über die Kindheit hinaus, bis zu jenem So mmer 1 9 2 5 , dem letzten , bevo r sie heiratete und alles endete. Emily hatte d as groß e Glü ck, so glaubte Pe rcy, dass sie zwar talentiert war, ab er
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nie die labile Gemü tsverfassung einer Künstlerin gehabt hatte. Sie war viel zu ausgeg lich en, zu sp o rtlich , zu gesellig und liebenswürdig, um den Weg der Schriftstellerin einzusch lagen. Nicht d ie Spu r einer Neurose. Das Schick sal, das ihr beschieden war, nachdem ih r Onk el das Interesse an ih r verloren hatte, war viel besser fü r sie: ein anständiger Ehemann , ein e Sch ar sommersp ro ssig er Söhne, eine Villa mit Blick au fs Meer und jetzt, wie aus ihrem Brief hervorging, au ch noch zwei verliebte Sch weine. Der ganze Brief enth ielt eigentlich nur eine Sammlung von Anekdoten aus ihrem Dorf in Dev on, Neuigkeiten über ihren Mann und ih re Jungs, über die Aben teuer der örtlichen Zivilschutztruppe und die Begeisterung ihrer alten Nachbarin fü r ih re Spritzpu mp e, und do ch h atte Percy b eim Lesen herzlich lach en mü ssen. Sie lächelte immer noch, als sie den Brief wieder zu sammen faltete und in den U mschlag zu rü ck steckte. Dann zerriss sie ihn einmal längs und einmal quer, stopfte ihn tief in die Hosentasche und setzte ih ren Weg zu m Haus fort. Sie nahm sich vor, die Schnipsel in den Papierkorb zu werfen, b evo r ih re Uniform in die Wäsche wanderte. Oder noch besser, sie würde sie n och an d iesem Nach mittag verb rennen , ohne dass Saffy es mitbekam.
4 D a s s Juniper, die einzig e Blythe, die ih re Kindh eit nicht im Kin derzimmer v erb rach t h atte, am Mo rgen ih res d reizehn ten Gebu rtstag s au fstand, ein p aar Gegen ständ e, die ih r lieb und teuer waren, in einen Kissen bezug stopfte und dann schnurs tracks nach oben marsch ierte, u m ihren Platz im Dachzimmer zu beanspruchen, hatte niemanden gewundert. Dieses Ereignis, das völlig im Widerspruch zur Tradition im Schloss stand, passte so seh r zu der Jun iper, die sie alle kann ten und liebten, dass die Episode, wenn in den fo lgend en Jah ren die Rede darauf kam, allen vollkommen selbstverständlich ersch ien und sogar Disku ssion en darüber en tstanden , ob sie das alles wo mö g lich im Vo rau s gep lan t h atte. Ju niper selb st äu ßerte sich kaum zu dem Thema, weder damals noch später: 125
Ih re ganze Kindheit üb er hatte sie in d em k lein en Neb en rau m i m ersten Stock geschlafen, und an ih rem d reizehnten Gebu rtstag hatte sie das Zimmer im Dachboden in Besitz genommen. Was sollte man no ch d azu sagen? Au fsch lu ssreicher als Junipers Umzu g in s Kin derzimmer , fand Saffy, war die eigenartige glanzvo lle Au ra, d ie Juniper seitdem zu umgeben schien. Das Dachzimmer, ein Au ßenpo sten des Schlosses, das Zimmer, in das Kinder traditionell verbann t wu rd en, b is sie au fg rund eines bestimmten Alters oder bestimmter Eigensch aften der Aufmerksamkeit der Erwach senen fü r wert befund en wu rden, ein Zimmer mit n ied riger Decke, voller Mäuse, eiskalt im Winter und brütend heiß im S ommer, an d em alle Kamin schäch te des Hau ses vo rb eiführten, schien plötzlich vo r Leben zu su mmen . Leute, die überhaupt keinen Grund hatten, sich die Kletterpartie zu zu mu ten, suchten das Kinderzimmer auf. »Ich will nur kurz vo rb eisch auen «, sagten sie, bev or sie im Trep penh au s versch wanden und un gefäh r eine Stund e sp äter verleg en wied er herunterkamen. Saffy und Percy warfen einander amüsierte Blick e zu und v ertrieben sich die Zeit d amit zu sp ekulieren, was in aller Welt der ah nung slose Gast da oben gemacht haben kön nte - d enn eins war klar: Jun iper war kein e zuvo rko mmende Gastgeberin. Nicht dass ih re klein e Schwester unh ö flich war, aber sie war n icht besonders gesellig und a m liebsten mit sich allein . Un d d as war au ch gut so, da sie wenig Gelegenheit gehabt hatte, andere Menschen kennenzulernen. Es gab keine Ku sinen in ih rem Alter, keine Freu nde der Familie, und d er Vater hatte darauf bestanden, dass sie ihren Schulunterrich t zu Hau se erhielt. Saffy und Percy konnten sich nur vo rstellen, dass Juniper ihre Besu cher ignorierte, sie ungehind ert in dem Ch ao s ih res Zimmers heru mschlend ern ließ , bis sie dessen üb erd rü ssig wu rden und von allein wieder gingen. Es war eins vo n Junipers erstaun lichsten Talenten, das sie seit ihrer Geb urt besaß: die üb erwältigende Anziehung sk raft, die sie au f alle ausübte, ein Phäno men , d as einer wissen sc haftlich en Untersu chung wert gewesen wäre. Selbst Leute, die Junip er nich t leiden kon n ten, wollten von ih r gemocht werden.
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Aber als Saffy an jenem Tag im Ok tober zu m zweiten Mal die Treppe hochstieg, war die Enträtselung des geh eimn isvo llen Char mes ih rer klein en Sch wester das Letzte, was ih r au f den Nägeln b rannte. Das Gewitter zog sich schn eller zu sammen als Mr. Potts' Heimweh r, und die Fen ster des Dach zimmers stan den weit o ffen . Es war ih r au fgefallen, als sie bei den Hühnern war und Helen-Melon s Federn gestreich elt und sich um Lucys finstere Stimmung geso rgt hatte. In einem Fen ster war das Lich t a ngegangen , u nd als sie hoch blick te, sah sie Lu cy, die die Krank enh au spupp en au s de m Nähzimmer holte. Sie war dem Weg der Haushälterin mit Blicken gefolgt, ein Schatten, der an den Fenstern im ersten Sto ck vo rbeihu schte, das sch wache Tageslich t, als sie die Tü r zu m Flu r ö ffnete, dann eine oder zwei Minu ten nichts, bis d as Licht im o beren Trepp enhau s anging , das zu m Dach boden führte. Da waren ihr die Fenster eingefallen. Sie selbst hatte sie am Morgen geö ffnet in der Ho ffnung , d ass die frische Luft den Mief der letzten Mon ate vertreib en wü rde. Diese Hoffnung wü rd e sich wohl kaum erfüllen, aber es war doch sicher besser, etwas vergeblich zu versuchen, als von vo rnherein au fzugeb en, o der? Doch jetzt, wo Reg en in der Luft lag, musste sie die Fenster schließen . Sie hatte gewartet, bis das Lich t im Treppen hau s au sging, d ann no ch ein mal fü n f Minuten, und als sie sich ganz sicher war, dass sie Lucy auf dem Weg nach oben nicht begegnen wü rde, war sie in s Haus g egan gen. Nachdem sie so rg fältig d arau f geach tet hatte, n ich t au f die drittletzte Stufe zu treten - das feh lte ih r no ch, dass der Geist des kleinen Onkels ausgerechnet heute Aben d sein Unwesen trieb -, öffnete sie die Kinderzimmertür und schaltete das Lich t ein . Es leuchtete ganz schwach, wie alle Birnen im Haus, und Saffy blieb in der Tü r stehen. Das tat sie, abgesehen von dem schwachen Licht, aus Gewohnheit, wenn sie sich in Junipers Reich vorwagte. Es gab wah rscheinlich nu r wenige Zimmer auf der Welt, dachte Saffy, d ie vo r de m Betreten einen genauen Plan erfo rd erten. Das Zimmer als Saustall zu bezeichnen war vielleicht übertrieben , ab er nu r ein b isschen .
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Der Mief war nicht verflogen; gegen den Gestan k nach schalem Zigaretten rauch, Tinte, nassem Hu nd und Mäu sedreck konnten ein paar Stunden frisch e Lu ft n ichts au srich ten. Der Hund egeru ch ließ sich leicht erk lären — Junipers klein er Hund Po e war während ihrer Ab wesenh eit un tröstlich gewesen und h atte ab wech seln d am En de der Zu fah rt und a m Fußende ihres Betts Trüb sal geblasen. Was die Mäuse an ging, war Saffy sich nich t sicher, ob Junip er sie wo mö glich fütterte oder ob die klein en Biester nu r von dem Du rch einander in dem Zimmer p rofitierten . Beid es war mö glich. Und au ch wenn sie es nicht u nbed ingt zugeb en wü rde, mochte Saffy den Mäusegeruch; er erinnerte sie an Clementina, die sie sich am Mo rgen ihres achten Gebu rtstag s b ei Harrods in der Hau stierab teilung gekau ft hatte. Tina war ih r eine liebe klein e Freund in gewesen , bis zu dem u n glücklich en Zusammentreffen mit Percys Schlange Cyrrus. Ratten waren zwar eine übel verleumdete Spezies, aber reinlicher als gemeinh in angenomme n und sehr g esellig, das Adelsgeschlecht unter den Nagern. Nachdem S affy einen halb weg s begehbaren Pfad zu m Fenster au sgemacht hatte - eine Hin terlassenschaft vo n ih rer letzten Exped ition —, durch querte sie eilig d as Ch ao s. Gott, wenn ih re Kin derfrau das Zi mmer seh en könnte! Läng st v er gessen waren die sauberen, ordentlichen Zeiten ihrer Herrschaft, die unter ihrer Au fsicht g elö ffelte Milchsuppe a m Abend, der k leine Handfeger, der nach dem Essen hervorgeholt wu rde, um alle Krümel au fzufegen , die beiden kleinen Schreibtische an der Wand , der Du ft nach Bien en wach s und Seife. Nein, diese Epoche war lang e vo rbei, und an ih rer Stelle war, so schien es Saffy, d ie Anarchie ein gezo gen . Papier, überall Papier, vollgek ritzelt mit seltsamen Anweisungen, Zeichnung en und Fragen, die Ju niper sich notiert hatte, en tlang den Fußleisten hatten sich Staub flock en au fg ereiht wie Anstandsdamen bei einem Debütantinn enball. Alles Mö gliche hin g an d en Wänd en: Fotos von Men schen und Orten und eigenartige Wortgebilde, die aus unerfindlichen Gründ en Junipers Fan tasie anregten; und der Fußboden war ein Meer au s Büchern, Kleidung sstü cken , benu tzten Tassen , beh elfsmäßig en Aschenb echern, Lieb ling spupp en mit beweg -
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lichen Augen , alten Busfahrscheinen mit an den Rand gekritzelten No tizen . Das Ganze machte Saffy beno mmen u nd drehte ihr den Magen u m. War das etwa ein Brotk anten da unter der Flickendecke? Wen n ja, war er inzwischen versteinert und museumsreif. Hinter Juniper her aufzuräu men war eine schlechte Angewohnheit, die Saffy schon vor langer Zeit erfolg reich bekämp ft hatte, aber d iesmal konnte sie dem I mp u ls ein fach nicht widerstehen. Uno rdn ung war eine Sache, Essensreste eine andere. Angewidert wick elte sie den Brotk anten mit allen Krü meln in die Steppdecke, eilte ans näch ste Fenster, schüttelte die Decke au s und wartete, bis sie hörte, wie das steinharte Brot dump f im Gras land ete. Mit einem Sch aud ern schüttelte sie die Decke ab ermals aus, schloss das Fenster und zo g den Verdun kelu ng svo rhang zu . Die schmuddelig e Deck e mu sste gewaschen und geflickt werd en, aber das kon nte warten . Fü rs Erste wü rd e Saffy sich damit begnügen, sie wenig stens o rd entlich zusammen zu falten. Natü rlich nicht allzu ordentlich - obwohl Juniper das sowieso nicht merken und sich noch weniger daru m scheren wü rd e -, aber so, d ass ih r wieder ein bisschen Wü rde zuteilwu rd e. Die Deck e, dach te Saffy, wäh ren d sie d ie End en au f Ar meslänge hielt, h atte etwas Besseres verdient, als vier Mo nate lang au f d em Boden als Leichen tuch fü r ein v ersch immelndes Stück Brot zu di enen . Sie war ein Geschenk gewesen , ein e der Bauersfrauen au f d em A n wesen hatte sie vo r Jahren für Juniper genäht, einer der typisc hen un erbetenen Liebesdienste, die ih r stän dig entg egengeb rach t wurden. Die meisten Mensch en wären gerührt von einer solchen Geste und würden ein so ko stbares Geschenk in Eh ren halten, nicht so Juniper. Sie maß den Werk en anderer nicht mehr Wert bei als ihren eigenen. Das, dachte Saffy seufzend , wäh rend sie all das Papier betrachtete, das d en Boden wie ein Laub teppich bedeck te, war einer der Charak terzüge ih rer klein en Schwester, den si e am wenigsten verstand. Sie sah sich n ach einer Stelle u m, wo sie d ie gefaltete Steppdecke ab leg en konnte, und entschied sich für einen Stuhl. Ein aufgeschlagen es Buch lag ob en au f ein em Bücherstapel, un d Saffy, eine unermü d liche Leserin , k lappte es zu,
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u m zu sehen , u m was es sich handelte. Old Possums Katzenbuch, in das T. S. Eliot eine Widmung fü r Juniper geschrieben hatte, als er einmal zu Besuch da gewesen war und der Vater ih m ein paar von Junipers Gedich ten gezeigt h atte. Saffy wu sste nicht so recht, was sie von Tho mas Eliot h alten so llte; natü rlich b ewunderte sie ihn als Sch riftsteller, aber in seiner Seele schlu mmerte ein Pessimismu s, seine An schauungen waren so düster, dass ihr mehr als früher die bed rü ckend e Seite seiner Ged ich te au ffiel. Nicht so seh r in den Katzen versen , die ja no ch recht lau nig waren, aber in seinen anderen Gedichten. Seine Obsessio n fü r tickende Uhren und die Vergänglichkeit war das beste Rezept, um schwer mü tig zu werden, so schien es Saffy, und d arau f ko nnte sie gut u nd gern verzichten . Wie Jun iper darü ber dachte, wa r nicht g anz eindeu tig , und das wund erte Saffy n ich t. Wenn Juniper eine Ro man fig ur wäre, d achte Saffy o ft, ließe sie sich eig entlich n ur anhand der Reaktionen der anderen Figuren au f sie beschreiben, wobei natü rlich die Gefahr bestand, dass Deutungen den Anstrich von Wahrheiten erhielten. Worte wie »entwaffnend «, »ätherisch « und »b etörend« wären von unschätzbarem Wert für den Autor, ebenso wie »leiden schaftlich « und »verwegen « und hin und wieder sog ar - au ch wen n Saffy d as niemals laut au ssp rechen wü rd e - »gewalttätig«. Bei TS. Elio t hieße sie wahrscheinlich »Jun iper - d ie undu rch sch aub are Katze«. Saffy lächelte bei d em Gedank en und wischte sich den Staub von den Händen; Juniper hatte tatsäch lich etwas Katzenhaftes: die weit auseinanderstehenden Augen, der intensive Blick, die Leichtfüßigkeit, die Unempfänglichkeit für unerbetene Aufmerk samk eit. Saffy watete du rch das Papiermeer zu den anderen Fenstern und erlaubte sich einen kleinen Umweg am Schrank vo rb ei, an dem das Kleid hing. Sie hatte es am Morgen , nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Percy aus dem Haus war, aus seinem Versteck geholt und sich üb er d ie Ar me g elegt wie das schlafende Dornrösch en. Sie h atte einen Kleid erbüg el extra verbiegen müssen, damit die Seide sich so um die Schrankecke legte, dass sie von der Tü r aus zu sehen war. Das Kleid musste das Erste sein, was Junip er erblickte, wenn
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sie am Ab end d ie Tür zu ih rem Zimmer ö ffnete und das Lich t anknip ste. Ach, das Kleid — ein perfektes Beispiel für die undu rchsch aubare Juniper. Als der Brief au s London kam, h atte er Saffy dermaßen überrascht, dass sie ihn, wenn sie nicht zahllo se Male Zeug in der unerwarteten Keh rtwen dungen ih rer Schwester geworden wäre, fü r einen Scherz gehalten hätte. Wenn es etwas gab, wo rau f si e Geld verwetten wü rde, dann dies: Juniper Blythe interessierte sich nicht d ie Bohne fü r schöne Kleider. Sie hatte ih re Kindh eit in ein fachen weiß en Bau mwo llkleidchen verbracht, war stets barfuß gelaufen und besaß ein seltsames Talent dafü r, jedes neue Kleid, egal wie raffiniert es gesch nitten war, innerhalb von zwei Stunden in eine sackartige Hü lle zu ve rwandeln. Und entgegen Saffys heimlicher Ho ffnu ng hatte sich das au ch n icht g eänd ert, als Juniper erwach sen wu rd e. Wäh ren d andere siebzehnjäh rige Mädch en es n icht erwarten konnten, zu ihrem ersten Ball nach London zu fah ren, hatte Juniper kein Wort darüber verloren und Saffy, als sie das Thema an sp rach, mit einem vernichtenden Blick bedacht, von dem sie sich erst nach Wochen erholt hatte. Andererseits war das auch wied er gut so gewesen, da ih r Vater ohnehin niemals seine Zustimmung gegeben hätte. Juniper war sein »Burgfräulein«, wie er zu sagen pflegte, und es gab keinen Grund für sie, das Schloss zu v erlassen . Welch en Nutzen sollte ein junges Mädchen wie sie von einem Debü tantinnen ball haben? Die hastig hingewo rfene Nach schrift in Junipers Brief, in der sie Saffy fragte, ob sie ihr nicht irgend wie ein Kleid nähen k önnte, das sich als Ballkleid eignete - ob sie nicht irgend wo noch ein Kleid vo n Junipers Mutter hätten? Etwas, das sie vor ihrem Tod in London getragen hatte, etwas, das man vielleich t ändern kön ne? -, hatte sie zutiefst verwirrt. Der Brief war ausdrücklich nur an Saffy adressiert, und so hatte sie, ob wohl sie sich normalerweise mit Percy beriet, wenn es um Ju n iper ging, im stillen Kämmerlein üb er Ju nipers Bitte nachgedacht. Nach einigem Hin und Her war sie zu dem Schluss g ekommen, dass das Stadtleb en ih re kleine Schwester einfach verändert hatte, und sie frag te sich , ob es sie v ielleicht n och in an derer Hin sicht veränd ert hatte. Wo -
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möglich hatte Juniper vo r, n ach dem Krieg fü r immer nach London zu ziehen, fo rt von Milderhurst, ganz gleich, was der Vater für sie vorgesehen hatte. Auch wenn sie nicht wusste, warum Juniper sie um den Gefallen gebeten hatte, war es Saffy eine große Freude, ihr behilflich zu sein. Neben der Schreibmaschine war ihre Singer 2 0 1 K - zweifellos das beste Modell, das je hergestellt worden war - ih r gan zer Sto lz, und seit Krieg sbeginn hatte sie mit großem Fleiß genäht, allerdings ausschließlich praktische Dinge. Eine Zeit lan g mal nicht stapelweise Decken und Kran kenh ausschlafanzüge an fertigen zu mü ssen , sondern stattdessen etwas Modisches zu kreieren , war eine aufregende Herau sfo rd erung. Und Saffy hatte so fo rt g ewu sst, welches Kleid ih re Sch wester meinte, sie hatte es schon damals sehr bewundert, an jenem unv ergesslich en Abend , als ih re Stiefmu tter es in Lo ndon zu r Premiere von Vaters Stück getrag en hatte. Seitdem lag es sorgfältig verpackt im Familienarchiv, einem luftdicht abgesch lossenen Rau m, d em einzigen i m Schloss, wo es vo r Motten geschützt war. Saffy fuhr mit den Fing erspitzen über den seidenen Stoff. Die Farbe war exquisit. Eine schimmern d e And eutu ng von Rosa, wie die Un terseite der Pilze, die bei der Mühle wuchsen , eine Farb e, die ein flüchtiger Blick für Creme h alten kon nte, die sich erst bei näh erem Hin sehen erschlo ss. Saffy hatte wochen lang an d en Änderungen gearbeitet, imme r heimlich, aber das falsch e Spiel war die Sache wert gewesen. Sie hob den Saum an, um die feine Handarbeit noch einmal zu überprüfen , dann glättete sie ihn zufried en . Sie trat einen klein en Sch ritt zu rück , u m ihr Werk zu bewundern. Ja, es war wu nderschö n; au s einem Kleid, das schön, aber altmodisch gewesen war, hatte sie mithilfe der Lieblingshefte au s ih rer Vogel-Sammlung ein Kunstwerk geschaffen. Wenn das unb escheiden klan g, bitte seh r. Saffy wusste sehr wohl, dass dies wo mö glich ih re letzte Gelegenheit war, d as Kleid in seiner ganzen Pracht zu betrach ten (die trau rige Wah rheit war, dass man nicht wissen konn te, welches g rau same Schick sal es erwartete, wenn Juniper es erst einmal in Besitz genommen hatte), und sie wollte sich diesen g roß artig en Au genblick n ich t mit falsch er Bescheidenh eit verd erben .
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Sie warf einen verstohlenen Blick hinter sich, dann nah m sie das blassrosafarbene Kleid vo m Bügel, um sein Gewicht noch einmal in den Händ en zu spüren. Alle beso nders schönen Kleid er hatten ein angenehmes Gewicht. Sie schob die Zeig efinger unter die Träger, hielt sich das Kleid an und trat vo r den Sp ieg el. Sie biss sich au f die Lippe. So wie sie dastand, den Kopf leicht zu r Seite geneig t, eine Angewohnh eit au s der Kindh eit, die sie nie h atte ablegen könn en, in de m ab gedun kelten Zimme r, ein paar Sch ritte vo m Sp iegel entfern t, hätte man meinen kö nnen , dass die Jah re nie vergan gen waren . Wenn sie die Augen ein bissch en zu sammen kniff, ein bisschen b reiter läch elte, hätte man sie fü r die Achtzehn jäh rig e halten könn en, die bei der Premiere von Vaters Stück in London neben ih rer Stiefmu tter stand , sie u m d as blassro sa Kleid beneidete und sich schwo r, d ass auch sie ein es Tages so ein wun dervolles Kleid trag en wü rde, v ielleicht ja zu ihrer eigenen Hochzeit. Als Saffy das Kleid wieder auf den Bü gel hängte, trat sie au s Versehen au f ein Trinkg las, ein s aus einer Garnitur, die die Familie Asquith ihren Eltern zu r Hoch zeit geschenkt hatte. Sie seufzte; Junipers Respektlosigkeit kannte wirklich keine Grenzen. Saffy kon nte das Glas b eim b esten Willen nicht so auf dem Boden lieg en lassen . Sie b ück te sich, um es au fzuheben, und als sie sich gerade wieder au frichten wollte, en tdeckte sie eine Tasse aus Limoges-Porzellan unter einer alten Zeitung ; eh e sie wusste, wie ihr geschah, hatte sie ihre eigen e go ldene Reg el übertreten und war dabei, auf allen vieren d as Zimmer in Ordnu ng zu b ringen . Innerhalb weniger als einer Minute hatte sie eine kleine Samml ung Gläser und Geschirrteile ang ehäu ft, ab er dadu rch hatte sich an dem allgemeinen Chao s nichts geändert . All das Papier, all die beschriebenen Zettel. Das Du rcheinander, Junipers Unfäh igkeit, irgendeine Ord nung herzustellen, einen Gedanken festzuhalten, bereiteten Saffy beinahe körperliche Sch merzen . Juniper und Saffy waren beide Schriftstellerinnen, aber ih re Meth oden ko nnten nicht g egensätzlicher sein. Saffy hatte sich an gewöh nt, täg lich einige kostbare Stunden auf das Schreiben zu verwenden, in denen sie still an ih rem Sc h reibtisch saß , vo r sich ein
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Notizheft, den Federhalter, d en ihr Vater ihr zum sechzehnten Gebu rtstag gesch enkt hatte, und eine Kanne mit frisch au fgeb rüh tem, starken Tee. So rg fältig und lan gsam b rach te sie ih re Worte in ein e gefällige Ordnung, schrieb, formulierte um, korrigierte und perfek tionierte, las sich ih re Texte laut vo r und gen oss es, die Geschichte ihrer Heldin Adele mit Leben zu füllen. Erst wenn sie v oll und ganz mit dem Ergebn is zufrieden war, zog sie ihre Olivetti heran und tip p te den nächsten Absatz ab. Juniper dagegen schrieb wie jeman d , der versu chte, sich von einem inneren Ballast zu be freien . Sie sch rieb an jede m Ort, wo sie sich in spiriert fühlte, sie schrieb, wo sie ging und stand, verstreute au f ihrem Weg Gedichtentwü rfe, Skizzen, deplatzierte und daher umso ausdruck sstärkere Adjektive, verstreute ihre Wo rte im g anzen Hau s wie Brotk ru men , die den Weg wiesen zu ihrem Lebkuchenzimmer unter dem Dach. Manchmal fand Saffy solche Zettel beim Pu tzen, vo llgekritzelte Seiten hinter dem So fa, u nter dem Tepp ich , u nd dann verlor sie sich in der Geschich te um ein altes römisches Kriegsschiff, das mit geblähten Segeln dahinb rau ste, während zwei Liebende sich u nter Deck versteckten, bis ein Befehl gesch rien wu rde und es so au ssah , als würden sie en tdeckt ... Und dann hörte die Erzählung mittendrin auf, weil Jun iper das Interesse an ihr verloren hatte. Dann gab es Geschichten, die in einem Anfall von Arbeitswut angefangen und beendet wurden, der b lan ke Wahnsinn , dachte Saffy manch mal, auch we nn dieses Wort in der Familie Blythe nicht leich tfertig benutzt wu rde, erst recht nicht in Bezug au f Juniper. Häufig erschien die jüngste Schweste r nicht zum Abendessen, und unter der Tür des Kinderzimmers war ein heller Lich tstreifen zu sehen. Der Vater wies den Rest der Familie an , sie nicht zu stören, die Bedürfnisse des Körpers seien zweitrang ig gegenüb er d en An sp rü chen des Geistes, aber Saffy hatte jedes Mal heimlich einen Teller mit Essen hinau fg eb racht. Nicht dass Juniper je etwas davon angerührt hätte. Sie schrieb pausenlos, die ganze Nacht hindu rch. Es überkam sie plötzlich und heftig, wie ein Tropen fieber, das k urz au fflammte und am n äch sten Tag v erschwunden war. Wenn sie am Mo rgen nach un ten kam, war
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sie erschö pft, wie benommen, ausgelaugt. Dan n rek elte sie sich au f dem So fa und g ähnte au f ih re katzenh afte Art, u nd der Dämon war ausgetrieben und vergessen. Und das war das Seltsamste fü r Saffy, die ihre eigenen Gesch ichten - Entwü rfe und En dfassung en - in g leich g roß en Schachteln sammelte und hü bsch und sauber gestapelt im Familienarchiv au fbewahrte, die beim Schreiben von der erregenden Aussicht angetrieben wu rde, ih r Werk eines Tages zu einem Bu ch bin den lassen und einem Leser in die Hand d rü ck en zu könn en. Juniper in teressierte es n icht im Gerin gsten, ob das, was sie sch rieb, von irgendjemandem gelesen wu rd e. Dass sie ihre Texte niemandem zeigen wollte, hatte nich ts mit falscher Bescheidenheit zu tun; es war ihr schlichtweg eg al. Wenn sie ein mal etwas aufgeschrieben hatte, interessierte es sie nicht mehr. Wenn Saffy dies Percy g egenüb er erwähnt hatte, war diese jedes Mal v öllig v erblü fft g ewesen , aber das war auch nicht anders zu erwarten . Die arme Percy, die n icht die Spu r ein er künstlerischen Ader besaß ... Sieh mal einer an! Saffy h ielt inne, immer no ch au f allen vieren. Was kam denn da unter dem Pap ierg estrüpp zu m Vo rschein? Großmu tters silberner Vorlegelöffel, nach dem Saffy den h alb en Tag gesucht hatte! Sie setzte sich au f die Fersen und stützte sich mit den Händen au f d ie Schen kel, u m sich zu strecken und die Schmerzen in ihrem Rücken zu lindern. Sie und Lucy hatten sämtlich e Sch ubladen im Hau s du rch wühlt, dabei hatte der Lö ffel die ganze Zeit in Junipers Zimmer u nter einem Stap el Pa p ier gelegen, ein fach unglaub lich. Saffy wollte den Löffel gerade an sich n eh men - au f dem Griff en tdeckte sie ein en seltsamen Fleck , den sie sich würd e vorneh men mü ssen -, als sie feststellte, dass er als eine Art Lesezeichen diente. In einem Notizheft, das mit Junipers unleserlicher Handschrift vollgekritzelt war. Aber die gekenn zeichn ete Seite trug ein Datum. Saffys Augen, geschu lt du rch lebenslanges unersättliches Lesen, waren schneller als ihre guten Manieren, und in dem Bru chteil einer Sekunde, die sie brau chte, um zu b linzeln, h atte sie erfasst, dass es sich um ein Tag ebuch hand elte und dass der Eintrag neueren Datu ms war. Mai 1 9 4 1 , ku rz bev o r Jun iper nach London abgereist war.
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Es war ein fach ung eheuerlich, in einem fre mden Tagebuch zu lesen , und Saffy selbst wäre zutiefst gekränkt, würde jemand ihre Privatsphäre derart v erletzen, aber Junip er hatte sich noch nie für Verhaltensregeln interessiert, und Saffy fan d, au ch wenn sie nich t mit Worten hätte erklären können, waru m, dass diese Tatsache es ihr erlaubte, einen Blick in das Heft zu werfen . Junip ers Ang ewohnh eit, p ersönlich e Au fzeichnung en o ffen h eru mliegen zu lassen , war doch wie eine Au ffo rderung an ih re ältere Sch weste r, ih re Ersatzmu tter, sich zu vergewissern , d ass alles in Ordnung war. Junip er war fast neu nzeh n, aber sie war ein Spezialfall. Sie war nicht wie and ere Erwach sene fü r sich selb st verantwo rtlich. Wie sollten Saffy und Percy ih re Rolle als Jun ipers Vormü n der erfüllen, wenn sie nicht dafür so rgten, dass sie üb er die Ang eleg enheiten ih rer kleinen Schwester im Bilde waren? Ih re Kinderfrau hätte k eine Sekund e gezögert, die Tagebü ch er und Briefe zu lesen , d ie ihre Schutzbefohlenen offen herumliegen ließen, weshalb die Zwillinge sich immer neue Versteck e hatten such en müssen. Dass Juniper sich gar nicht erst die Mühe machte, war fü r Saffy Beweis genug, dass ihre kleine Schwester ih r mü tterliches Interesse geradezu beg rüß te. Und jetzt lag Junipers Tagebuch vo r ih r, au fgesch lag en an einer Seite neueren Datums. Also , d a wäre es doch beinahe gefühllos, n icht wenigsten s einen ku rzen Blick darauf zu werfen.
5 An den Eingangstufen, wo Percy immer ihr Fahrrad a b stellte, wenn sie zu müde, zu faul oder zu sehr in Eile war, um es in den Stall zu schieb en, was häufig vo rkam, stand schon ein Fah rrad . Das war ung ewöhn lich - Saffy hatte keinen weiteren Gast erwähnt au ßer Juniper und diese m Thomas Cavill, die auf k ein en Fall mit dem Fah rrad, sond ern mit dem Bus kommen wü rd en. Percy stieg die Stufen hoch und k ramte in ih rem Beu tel nach dem Schlüssel. Saffy, überzeugt davon , d ass Mild erhu rst au f Hitlers Englandkarte rot eingekreist war und die 136
Nazis die Sch western Blythe in s Gefängnis werfen wollten , hatte sich seit Krieg sbeg inn ang ewöh nt, die Eing ang stür ab zu schließen, was Percy eigentlich in Ordnung fand, auß er dass ih r Hau sschlü ssel d azu neigte, stets un au ffindbar zu sein. Enten schnatterten au f d em Teich, die d unklen Wip fel des Cardarker-Walds wogten , der Donn er ro llte immer n äh er heran, und ihre Suche schien kein End e zu n ehmen . Als sie es gerade aufgeben und sich mithilfe ihrer Fäuste bemerkbar mach en wollte, ging die Tü r auf, und Lucy Middleton stand vor ih r, das Haar unter einem Ko pftu ch verborgen und in d er Hand eine schwach leuchtende Fahrradlampe. »Mein e Güte!« Die ehemalige Haushälterin fasste sich mit der freien Hand an die Bru st. »Hab en Sie mi ch ersch reckt!« Percy öffnete den Mund , fan d jedoch keine Worte und machte ih n wieder zu. Sie warf sich ih ren Beutel über die Schulter. »Ich - ich habe im Hau s au sgeholfen «, fuh r Lucy mit hoch rotem Gesicht fo rt. »Miss Saffy hat mich an geru fen. Heute Nachmittag. Ihre Haushaltshilfen hatten heute beide keine Zeit.« Percy räusperte sich u nd b ereute es au f d er Stelle. Ih r Krächzen verriet ih re Nervos ität, und Lu cy Midd leto n war die Letzte, vo r der sie sich eine Blöße geb en wollte. »Dann ist also alles fertig für heute Abend? « »Das Kaninchen ist im Ofen , und ich habe Miss Saffy An weisungen dagelassen.« »Verstehe.« »Das Essen muss lang sam g aren. Ich fürchte, dass Mis s Saffy zu erst überk ocht.« Es war ein klein er Scherz, ab er Percy zög erte zu lan ge mit dem Lachen . Sie überlegte, was sie sagen sollte, aber es gab zu wenig und zugleich zu viel, und Lucy Middleton, die erwartung svoll vo r ih r stand, mu sste gespü rt hab en, d ass nichts mehr kommen würd e, denn sie schob sich verlegen um Percy herum und ging zu ih rem Fahrrad. Nein, sie hieß ja g ar nicht meh r Middleton, sie hieß jetzt Rogers. Sie und Harry waren schon über ein Jahr verheiratet. Fast and erthalb.
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»Au f Wiedersehen, Miss Perc y.« Lu cy stieg au f ih r Fah rrad . »Und dein Mann? «, fragte Percy hastig und v erach tete sich sogleich dafür. »Geht es ihm gut? « Lucy schaute sie nicht an . »Ja.« »Und d ir natü rlich au ch? « »Ja.«
»Und dem Baby? « Beinahe ein Flüstern. »Ja.« Ihre Körpersprache war die eines Kindes, das gescholten, ja, das geschlagen wurde, und Percy verspü rte plötzlich große Lust, Lucys Erwartung en zu erfüllen . Natü rlich tat sie es nicht, sondern wählte einen beiläu figen Ton, weniger gereizt, beinahe unbeschwert: »Wü rdest du deinem Mann au srichten, d ass die Standuhr in d er Eing ang shalle immer noch vo rg eht? Gan ze zeh n Minuten? « »Ja, in Ordnun g.« »Die Uh r lag ih m doch stets am Herzen , wenn ich mich recht erinnere? « Lucy wich ih rem Blick weiterhin aus, murme lte jedoch eine unv erständ liche Antwort, bevo r sie sich au fs Rad setzte und lo sfuh r. Das Licht der Lampe zeichnete eine zitternde Botschaft auf den Weg vor ih r. Als Saffy hö rte, wie die Haustü r zug esch lag en wu rd e, klappte sie d as Tag ebu ch zu . Ih re Schläfen und Wan gen po chten, die Haut über ihren Brüsten spannte sich. Ihr Puls sch lug schneller als das Herz eines kleinen Vogels. Tja. Leicht schwankend stan d sie vom Bo den au f, wo sie gesessen hatte. Damit hatte das Rätselraten jeden falls ein Ende, das Geheimnis um den bevorsteh enden Abend, das au fwendig geänderte Kleid , den jungen Gast. Es war also gar kein Fremd er. Nein. Ganz und gar kein Fremd er. »Saffy?« Percys Stimme drang scharf und ärgerlich du rch alle Etagen. Saffy hielt sich d ie Stirn, wappnete sich für d ie Au fgab e, die vor ih r lag. Sie wusste, was sie zu tun hatte: Sie mu sste sich umziehen und nach unten gehen, sie mu sste herausfinden, wie viel gutes Zured en Percy b rauch en wü rd e, u nd d ann mu sste sie dafü r so rgen , dass der Aben d ein vo ller Erfolg wu rd e. Und so eben sch lug die Standuh r sech s, sie mu sste sich also sputen. Juniper und der jung e Mann - dessen Name , 138
da war sie sich ganz sicher, derselbe war wi e der, den sie eb en in dem Tagebuch gelesen hatte - würden in einer Stunde eintreffen; die Heftigkeit, mi t der Percy die Tür zugesch lagen h atte, ließ darau f schließen , dass sie ziemlich übellaunig war; und Saffy war immer no ch so angezogen , als hätte sie den gan zen Tag fü r den Sieg geschu ftet. Der Haufen geretteter Gläser un d Geschirrteile war plötzlich verg essen. Saffy watete durch das Papiermeer, um die restlich en Fen ster zu schließen und die Verdunkelungsvorhänge zuzuziehen. In der Einfah rt bewegte sich etwas - Lucy üb erquerte gerade au f ih rem Fahrrad die erste Brücke -, ab er Saffy schaute in eine an dere Richtung. Ein Vogelschwarm flo g üb er den Hopfen feldern au f, und sie blick te den Vög eln nach. So frei wie ein Vogel, hieß es, dabei waren sie gar nicht frei, jed en falls nich t, soweit Saffy d as beu rteilen konn te: Sie waren aneinandergekettet d urch ih re Gewohnh eiten, ih re Bed ü rfnisse, ih re Biolog ie, ih re Natu r, ih re Gebu rt. Sie waren nicht freier als and ere Lebewesen . Den noch kannten sie das Hochgefühl des Flieg ens. Was wü rde Saffy nicht dafür geben, einmal die Flügel ausbreiten und fliegen zu kön nen, vom F enster über die Wiesen und Wälder zu g leiten und den Flugzeug en n ach London zu folgen. Ein mal, als kleines Mädchen, hatte sie es versucht. Sie war au s dem D achzimmerf en ster gestieg en, h atte sich d en Dach first entlangg ehang elt und war auf den Mauervorsprung unter Vaters Turm geklettert. Vorher hatte sie sich Flügel ge bastelt, prächtige Flügel aus Seide, die sie mit Bindfaden an dün ne Zweige g ebund en hatte. Sie hatte sogar Schlau fen au s Gummi band angenäht, du rch d ie sie d ie Arme stecken konn te. Sie waren wunderschön gewesen — nicht rosa od er rot, nein, zin noberro t, und sie leuch teten in d er So nne wie d ie Fed ern vo n echten Vögeln -, und n achd em sie abg esp rung en war, war sie sog ar ein paar Sekund en lang g eflo gen. Der starke Wind, der vom Tal heraufwehte, hatte sie kurz erfasst und ihr d ie Arme n ach hinten gerissen, un d ein en herrlichen Moment lang hatte sich alles v erlan gsamt, und sie hatte ein e Ahnung davon bekommen , wie himmlisch es war zu fliegen . Dann war plötzlich al les ganz schnell gegangen, sie war ab-
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gestü rzt, und als sie auf dem Boden aufschlug, hatte sie sich die Flügel und die Arme gebrochen. »Saffy!«, ertönte es wieder von unten. »Versteck st du dich etwa vor mir? « Die Vögel versch wanden in den dichten Wolken, Saffy sch loss d as Fen ster und zog die Verd unkelung svo rhänge so dicht zu, dass kein bisschen Licht meh r n ach außen drin gen kon nte. Der Himmel grummelte wie ein voller Magen, wie der g efräßige Bauch ein es feinen Herrn, d er sich nicht mi t dem Mangel in einer rationierten Vo rratsk ammer b egnüg en mu sste. Saffy läch elte, das Bild gefiel ih r, und sie nahm sich vor, es in ihrem Notizheft festzuhalten . Es war still im Haus, seh r still. Viel zu still, d ach te Perc y und p resste beu n ruhigt die Lippen zusammen ; Saffy h atte sich schon immer versteckt, wenn eine Konfrontation ih r erbittertes Haupt erhob. Ih r Leben lang hatte Percy stets die Gefechte ih rer Zwilling ssch wester au sg efoch ten , darin war sie gut, es mach te ihr sogar Spaß , u nd es funktionierte hervorragend, außer wenn es Streitigkeiten zwisch en ih nen beiden g ab und Saffy, die in diesen Din gen völlig ung eübt war, den Kürzeren zo g. Unfähig zu kämp fen, blieben ihr nu r zwei Möglichkeiten: Flucht o der Verleu gnung . Nach d er Totenstille zu urteilen, der Percy jetzt au f der Suche nach ih rer Schwester begegnete, hatte Sa ffy sich diesmal offenbar für Ersteres entschieden. Was frustrierend war, äußerst frustrieren d, d enn in Percys Eing eweiden bildete sich bereits ein Kno ten , der nu r darauf wartete zu platzen. Und da niemand in Reichweite war, den sie mit bö sen Blicken bedenken od er an knu rren kon nte, und da d er Kno ten sich nicht von allein auflösen würde, musste sie sich au f and ere Weise beh elfen. Whisky wäre eine Möglichk eit. Auf jeden Fall konnte ein o rd entlicher Schlu ck nicht schad en . Drau ßen war es längst du nkel, und im Sch lo ss hätte Percy den Weg von der Eingang shalle in den Flur zum gelben Salon nicht gefahrlo s durchqueren können, wenn sie sich nicht im ganzen Haus auch blind zu rechtgefund en hätte. Vo rsichtig ging sie um das Sofa herum zum Erkerfenster, zog die Verd unkelung svo rhänge zu u nd schaltete die Tischlamp e an .
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Das Licht, das sie verb reitete, war kaum der Rede wert. Als Percy ein Streichholz herausnahm, um den Docht der Petroleu mlampe an zuzü nden, stellte sie ü berrascht u nd ärgerlich fest, dass ihre Hand nach der Begegnung mit Lucy so seh r zitterte, dass es ih r nicht gelang , es anzu reißen . Hin terh ältig , wie sie war, wählte die Uhr auf dem K aminsims au sg erechnet diesen Augenblick , u m schn eller zu tick en. Die Uh r hatte ihrer Mutter gehört, und ihr Vater hatte sie immer in Eh ren gehalten, deshalb war ihr Bleiberecht gesichert. Aber sie hatte ein e Art zu ticken , d ie Percy u m den Verstand brachte, es war, als b ereitete es ih r ein e bo shafte Freude, die einem Ge genstand au s Po rzellan nich t zu stand, die v ergeh end en Sekunden wegzuwischen. An diesem N achmittag grenzte Percys Abneigung an Hass. »Sei blo ß still, du d ämliche Uh r«, sagte Percy. Dann warf sie das unben utzte Streichholz in den Papierko rb . Sie wü rde sich ein en Whisky einschenken, eine Zigarette d rehen , d ann , b evo r der Reg en kam, n ach d rauß en gehen und Feuerholz holen. Vielleicht wü rde sie ja au f diese Weise den Knoten in ih rem Magen lo s.
6 Trotz der Au fregung des Tag es hatte Saffy d en Kop f no ch frei genug , um einen Blick in ihren Kleidersch rank zu werfen und in Gedanken ihre Au swahlmöglichkeiten du rchzugehen, damit sie am Abend nicht das Opfer ihrer eigenen Un entsch lossenh eit wu rd e und gezwung en war, eine Entscheidung zu treffen, die ih r die Not au fd rängte. In Wahrheit gehörte d ie Kleiderwahl zu ihren Lieblingsbeschäftigungen, selbst wenn sie keine Gäste zu m Abendessen erwartete: Sie stellte sich erst ein bestimmtes Kleid vo r, die dazu passen den Schuhe und die entsp rechen de Halskette, nu r u m g leich wieder von vorn anzufang en und sich glü ck selig die Verwandlung en auszu malen . Heute hatte sie eine Ko mb ination nach der and eren v erwo rfen, weil keine von ihnen d en entscheidenden Kriterien genügte. Wahrscheinlich hätte sie bei den Kriterien anfangen sollen , aber das hätte ih re Möglich keiten von v o rnherein doch sehr eingeschränkt. Den Sieg 141
trug jedes Mal das Kleid davon , das am besten zu ih ren feinsten Strü mp fen passte - das heiß t, zu dem einzigen Paar, dessen sechs verdammte Löcher sich am besten durch die Wah l d er rich tig en Schuh e u nd die Läng e d es Rock s verbergen ließen. Also das minzg r üne seidene Lib erty-Kleid . Als Saffy in ihrem orden tlichen und saub eren Zimmer ih ren Trägerro ck ab legte und sich mit ihrer Unterwäsche abmü hte, war sie froh , dass sie die sch wierig eren Entsch eidu ngen b ereits getroffen hatte. Denn jetzt hatte sie ganz anderes zu tu n. Als h ätte ih r d ie Entsch lüsselu ng dessen , was Junipers Tagebucheintrag bedeutete, nicht schon gen ug zugesetzt, wartete in zwischen Percy unten au f sie, und zwar voller Zorn. Wie immer verbreitete sich ih re Stimmung so fo rt im ganzen Haus. Der Knall, als sie die Hau stü r zu geschlagen hatte, hatte sich du rch die Adern d es Hau ses und alle vier Stockwerke bis in Saffys Körp er übertragen. Selbst die Lampen - die ohn ehin nicht b esonders hell leuchteten — sch ienen zu schmollen, sodass die Nischen im Schloss noch düsterer wirkten als gewöhn lich . Aus d er h intersten Ecke der obersten Schublade angelte Saffy ih re besten Strü mp fe. Sie befanden sich , u m ein Stück Seidenpap ier gewick elt, in der Originalverpackung. Saffy zo g sie herau s und fuh r mit de m Dau men zärtlich über die Stelle, wo sie sie zuletzt gestopft hatte. Das Problem war, d achte Saffy, dass Percy un emp fänglich war für menschliche Gefü hle und sich viel mehr um die Bedü rfn isse der Mau ern und Bö den von Milderhu rst so rgte als um die der Bewohnerinnen. Sie hatten es beide b edau ert, als Lucy gekündigt hatte, ab er es war vor allem Saffy, die das Fehlen der Haush älterin spürte , wenn sie den ganzen Tag allein im Haus verbrachte, wu sch und sch rubbte und n otdürftige Menüs kreierte, nur mit Clara und der schwachsinnigen Millie, die ih r zu r Hand ging en. Aber im Geg en satz zu Saffy, fü r die außer Frag e stan d, dass ein e Frau, die sich zwisch en ihrer Arbeitsstelle und ih rem Herzen en tsch eid en mu sste, immer Letzteres wählen wü rde, hatte Percy di e Veränderung im Hau shalt überh aupt n icht akzeptieren können. Sie hatte Lucys Heirat als persönliche Kränkun g au fgefasst, u nd wenn jemand nachtragen d sein konnte, dann Percy. Aus d iese m
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Grund waren Junip ers Tageb uch eintrag und das, was er wo mö g lich bedeutete, so beunruhigend. Saffy ließ die Strümp fe sink en. Sie war n icht n aiv, und sie war au ch nicht viktorianisch prüde; sie hatte Third Act in Venice; Cold Comfort Farm u n d The Thinking Reed gelesen und wusste über Sexualität Bescheid. Aber nichts von d em, was sie bisher gelesen hatte, hatte sie darauf vorbereiten kön nen , was Juniper über das Thema dachte. Sie schrieb freimütig, wie es ihre Art war, intu itiv un d po etisch , hin reißen d und scho nung slo s und beän gstigend . Saffys Augen waren über die Seiten geflogen, hatten alles auf einmal aufgenommen, sie hatte sich gefühlt, als hätte ih r jeman d ein Glas Wasser in s Gesicht geschü ttet. Bei dem Tempo, mit dem sie gelesen hatte, bei der Verwirrung angesichts so lebhaft b esch riebener Emp findun gen war es kein Wu nder, dass sie keine einzige Zeile hätte wiederg eben kön nen, dachte Saffy. Sie erinnerte sich nur b ru ch stückhaft an ih re Gefühle, an ungewollte Bilder, an den Schock, den das Lesen verbotener Wörter in ih r au sgelöst hatte. Vielleicht waren es nich t einmal die Wö rter selbst gewesen, die Saffy so verblü fft hatten, sondern eh er, wer sie gesch rieben h atte. Junip er war nicht nu r ih re wesen tlich jüng ere Sch wester, sond ern auch ein e junge Frau, die immer regelrecht geschlechtslos gewirkt hatte. Ih re glühende Schreibleidenschaft, ih re Ablehnun g jeglich er weiblichen Attribu te, ih re nachlässige Kleidung - all das schien Jun iper üb er solche niederen menschlichen In stinkte zu erheben. Mehr noch, und das war v ielleicht das, wa s Saffy den größ ten Stich versetzte, Juniper hatte nie auch nu r im Entferntesten angedeutet, d ass es u m eine Liebesaffäre ging. War der junge Mann, der zu m Aben dessen erwartet wu rde, derjenige welch er? Den Tagebuch eintrag hatte June v o r einem halben Jahr geschrieben, bevo r sie nach London gegangen war, und do ch hatte sie den Namen Thomas bereits darin erwähnt. War es möglich, dass Juniper diesem Mann schon in Mild erhu rst begegnet war? Dass ihre Reise nach Lond on n och einen anderen als den offiziellen Grund gehabt hatte? Und wenn ja, waren die beiden dann nach all der Zeit immer n och ein Liebespaar? Was fü r eine un glau blich e und au fregend e Ent-
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wicklun g im Leben ih rer kleinen Sch wester, über die kein Wo rt gesp rochen wo rden war. Saffy wu sste natü rlich, waru m das so war: Ihr Vater, wenn er noch lebte, wäre rasend vor Zorn - Sex hatte allzu oft zu r Folge, dass Kind er g ezeugt wu rd en, und seine Theo rie von d er Unv ereinbark eit v on Kun st u nd Kind ererziehung war kein Geheimn is. Deshalb du rfte Percy, Vaters selb st ernannte Sachwalterin , nichts davon erfah ren , das h atte Jun iper richtig erkannt. Aber dass sie Saffy n icht in s Vertrauen gezo gen hatte ... Sie beid e stand en sich doch so nah e, und so versch lo ssen Jun iper au ch sein mo chte, so hatten sie doch immer miteinander reden können. Dieses Thema so llte da eigen tlich keine Au snah me sein . Saffy streifte die Strü mp fe von ih rer Hand und nahm sich vor, die Sach e zu klären, sob ald Juniper nach Hau se kam u nd sie Gelegenheit fanden, ein paar Minuten ungestört zu sein. Saffy lächelte. Bei dem Abendessen ging es nicht nur darum, Juniper wied er zu Hau se zu b eg rüß en und jeman dem d en Dank der Familie Blythe zu erweisen. Bei dem Freund, den Juniper eingelad en hatte, h andelte es sich um jemand ganz Besonderen. Nachdem sie sich überzeug t h atte, dass die Strü mp fe i n Ordnu ng waren, legte Saffy sie aufs Bett und nahm sich den Kleiderschrank vor. Herr im Hi mmel! Nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet, blieb sie vo r dem Sp iegel steh en, d reh te sich in die eine, dann in d ie and ere Richtung und reckte den Hals, u m sich von hin ten zu sehen. Entweder hatte der Spiegel sich verzogen , oder sie hatte ein paar Kilo zugeno mmen. Also wirklich , sie sollte sich der Wissen schaft zu r Verfü gun g stellen . Zu zunehmen in Zeiten , wo die Speisekammern Englands so gut wie leer waren? War das ausgesprochen unbritisch oder ein raffinierter Sieg über Hitlers U-Boote? Es würde vielleicht nicht fü r d en neuen »Churchill-Orden für die Erh altung v on England s Schönh eit« reich en, aber den noch war es ein Triumph. Saffy schnitt ih rem Spiegelbild eine Grimasse, zog den Bauch ein und öffnete den Kleidersch rank. Hinter einigen langweiligen Trägerrö cken u nd Strickjacken, die ganz vo rn e hing en, tat sich ein Wunderland aus schimmernden, vern ach lässigten Seidenkleidern auf. Saffy schlug
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sich die Hände an die Wangen. Es war, als würd e man alte Freundinnen wiedersehen. Ih r Kl eiderschrank war ihr ganzer Sto lz, jedes Kleid Mitglied eines versch wo renen Zirk els. Der Schrank stellte einen Katalog ihrer Vergangenheit dar, wie sie einmal in einem Mo ment rührseligen Selb stmitleids gedacht hatte: d ie Kleider, die sie als Deb ütan tin g etrag en hatte, d as Seidenkleid, das sie auf dem Mittsommerb all in Milderhurst im Jahr 1 9 2 3 angehabt hatte, selb st das blaue Kleid, das sie sich im Jah r d arauf fü r die Premiere von Vaters Stü ck genäht h atte. Ihr Vater war der Meinung gewesen, dass Töch ter schö n zu sein hatten , un d solange er leb te, hatten sie sich immer zum Aben dessen fein gemacht. Selb st dann noch, als er an sein en Sessel im Turmzimmer gefesselt war, hatten sie sich bemü h t, ih m zu gefallen . Seit sein e m Tod jedoch sahen sie keinen Sinn mehr darin, einen solchen Aufwand zu betreiben. Eine Zeit lang h atte Saffy noch daran festg ehalten, doch dann hatte Percy sich zum Sanitätsdienst gemeldet, was b edeu tete, dass sie häufig nachts den Kranken wag en fahren mu sste, und sie waren wo rtlo s üb ereingekommen, die Tradition au fzug eben . Ein s nach dem an deren sch ob Saffy die Kleider hin und her, bis sie das au s minzgrüner Seide en tdeckte. Sie hielt die an deren zur Seite und bewunderte das glitzernd e Prachtstü ck: die mit Perlen bestickte Ko rsage, die breite Schärpe, den langen , schmalen, zu m Saum hin glockig ausschwingenden Rock. Sie hatte es seit Jah ren nicht meh r getrag en, konn te sich kau m an das letzte Mal erin nern , aber sie wu sste noch, dass Lu cy ih r geh olfen hatte, es zu flicken. Es war Percys Schuld gewesen; mit ihren Zigaretten und ih rer achtlo sen Art, sie zu rauchen, war sie, wo sie hinkam, eine Gefahr für alle feinen Sto ffe. Ab er Lucy hatte es sauber hinbekommen, sodass Saffy Mühe h atte, die versen gte Stelle an der Ko rsag e üb erhaup t zu finden . Ja, es wa r genau das Richtige für den Ab end. Saffy nah m es au s dem Sch rank, legte es au f die Tagesd eck e und nah m ihre Strü mp fe. Es war ih r ein Rätsel, dachte sie, während sie vorsichtig eine Hand in den ersten Stru mp f schob un d ihn dan n ü ber ih re Zehen streifte, wie eine Frau wie Lucy sich in den Uh rmach er Harry hatte verlieben können . So ein un schein barer,
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kleiner Mann, der nich ts von ein em ro ma ntischen Helden hatte, der mit eingezogenen Schultern über die Flure huschte, das Haar immer ein b isschen län ger, ein bissch en dünn er, ein b isschen weniger gep fleg t, als es an geb rach t wäre ... »O Go tt, n ein !« Saffy blieb mit dem g roß en Zeh hängen und geriet aus dem Gleichgewich t. Sie h ätte sich vielleich t no ch fan gen können, ab er ih r Zehen nagel hatte sich im Gewebe verfangen und d ro hte ein e weitere Lau fmasch e zu reiß en, wenn sie den Fuß ab setzte. So nah m sie den Sturz tapfer in Kauf und schlug sich den Oberschenkel bö se an ih rem Toilettentisch. »Oje!«, jap ste sie. »Oje, oje, oje.« Sie setzte sich auf den gepo lsterten Ho cker und begutach tete d en ko st baren Strump f. Ach, warum hatte sie sich nicht besser konzentriert? Wenn diese Strü mp fe nicht meh r zu retten waren, gab es keinen Ersatz. Mit zitternden Fingern drehte sie den Stru mp f in alle Rich tung en und befü hlte das hauchzarte Gewebe v o rsich tig mit den Fing erspitzen . Es schien alles in Ordnun g zu sein . Das war knap p g ewesen . Saffy stieß einen Seu fzer au s, und doch war sie nich t vö llig erleich tert. Sie betrachtete ih r ro twangig es Gesicht i m Spiegel: Es ging um meh r als das letzte Paar in tak te Strümp fe. Als Kinder hatten sie und Percy reichlich Gelegenh eit gehabt, Erwach sene au s d er Nähe zu beob achten, u nd was sie gesehen hatten, hatte ihn en Rätsel au fgeg eben . Die wunder lichen Alten hatten sich sonderbarerweise aufgeführt, als wäre ih nen nich t im Geringsten bewusst, dass sie alt waren. Das h atte die Zwillinge verblüfft, die sich einig g ewesen waren, dass es nichts Geschmackloseres gab als alte Menschen, die sich weigerten, ih re Gren zen zu akzeptieren , u nd sie hatten damals einen Pakt geschlossen, es bei sich selb st nie so weit kommen zu lassen. Wenn sie einmal alt wären, wü rd en sie sich v oll und ganz damit abfinden. »Aber woran sollen wir es erkennen? «, hatte Saffy verwirrt gefragt. »Vielleicht ist es etwas, das man nicht spürt, bis es zu spät ist, so wie Sonnenbrand.« Percy hatte ih r beigepflichtet, dass es sich um ein kniffliges Prob lem h andelte, hatte die Ar me u m d ie Knie gesch lungen und darüb er nachgeg rüb elt. Prag matisch , wie sie war, hatte sie jedoch als Erste eine Lösung gefunden: »Ich wü rd e sagen , wir mü ssen eine Liste von
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den Dingen aufstellen , die alte Leu te tun. Drei dü rften reichen. Und wenn wir feststellen, dass wir dasselb e tun, dann wissen wir Bescheid.« Die in frage ko mmenden An gewoh nheiten au fzu sch reiben war einfach gewesen - schließlich hatten sie ih ren Vater und ih re Kinderfrau ihr Leben lang beobachtet -, als viel schwierig er erwies es sich, sich auf drei zu beschränken. Nach langem Hin und Her hatten sie sich auf diejenigen Angewohnheiten geeinigt, bei denen ein Irrtum weitgehend ausge schlossen war: Ersten s: häu figes und nachd rü cklich es Äußern der Ansicht, dass unter Königin Victoria in England alles besser gewesen war. Zweitens: mit anderen Menschen als dem Hausarzt über seine Gesun dheit zu reden. Drittens: sich nicht mehr im Stehen die Unterwäsche anziehen zu können. Saffy stöhnte, als sie daran dachte, wie sie am Mo rg en beim Bettenmachen im Gästezimmer v o r Lucy über ih re Rücken schmerzen geklagt hatte. Das Gespräch war unter die Verbotsregel Nummer zwei gefall en, und sie hatte es durchgehen lassen. Aber das jetzt? Zu Fall geb racht von einem Paar Strü mp fe? Die Progn ose war in der Tat niederschmetternd. Percy hatte es beinahe zu r Hintertür geschafft, als Saffy doch noch auftauchte. Sie kam d ie Trepp e herunterg eschwebt, als könnte sie k ein Wässerchen trüben. »Hallo, lie be Sch wester«, sagte sie. »Heu te wieder irgend wen gerettet? « Percy holte tief Luft. Sie b rauch te Zeit, Platz und ein scharfes Beil, um einen klaren Kopf zu beko mmen und ihre Wut loszuwerden, sonst würde sie sie am Ende noch an Saffy auslassen. »Vier Kätzch en au s einem Ab wasserk anal u nd einen Klumpen Zuckerstan gen.« »Wie sch ön! Ein Sieg au f der ganzen Lin ie! Bravo ! Wo llen wir ein e Tasse Tee trinken? « »Ich gehe ein bisschen Holz hacken .« »Ach, meine Liebe«, sag te Saffy und trat einen Sch ritt n ä her. »Ich glaube, das ist nicht nötig .«
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»Lieber früher als später. Es gibt gleich Regen.« »Das versteh e ich ja«, sag te Saffy üb ertrieben gelassen , »aber ich bin mir ziemlich si cher, dass wir im Au g enblick genug Brennho lz h aben. So wie du dich diesen Monat beim Holzhacken in s Zeug geleg t hast, reicht der Vorrat mindesten s bis i 9 6 0 . Du so lltest lieber n ach ob en g ehen u nd dich fü rs Ab endessen u mzieh en ...« Saffy unterbrach sich, als ein lauter Knall das Schloss erb eben ließ. »Na bitte. Der Reg en erspart dir die Arbeit.« An manchen Tagen konn te man si ch darau f verlassen , dass sogar d as Wetter sich gegen einen verschwor. Percy nah m ih ren Tab ak au s d er Tasche und d rehte sich ein e Zigarette. Ohn e au fzublick en, sagte sie: »Warum hast du sie hergebeten? « »Wen? « Ein du rchd rin gend er Blick. »Ach so.« Saffy machte eine wegwerfende Han dbewegung . »Claras Mutter ist krank, Millie ist so ungeschickt wie immer, u nd du hast so viel zu tun - ich ko nnte einfach nicht alles allein bewältigen. Au ßerdem kann niemand so gut mit Agatha umgehen wie Lucy.« »Bisher bist du do ch g anz gut mit d em H erd zu rechtgekommen.« »Es ist nett von dir, dass du das sagst, Percy, meine Lieb e, ab er du kenn st doch un sere al te Ag gie. Ich wü rd e ih r g latt zu trau en, dass sie heute Abend streikt, nur um mich zu ärgern. Seit ich die Milch habe überko chen lassen , ist sie bö se auf mich.« »Sie ist - es ist ein Herd, Seraphin a.« »Ganz genau ! Wer hätte ih r so einen ab scheulichen Ch arak ter zu getraut!« Saffy versuch te, sie zu man ipulieren , Percy spü rte es ganz gen au . Die affektierte Freundlichkeit, mit d er ih re Sch wester sie au f dem Weg nach draußen ab gefan gen hatte und jetzt nach oben schickte, wo , d arau f wü rd e sie wetten, b ereits ein Kleid - irgendetwas grau enhaft Elegan tes - au f d em Bett für sie ausgeb reitet lag: Es war, als fü rchtete Saffy, Percy sei nicht zuzutrauen, sich in Gesellschaft anständig zu benehmen. Darü ber hätte Percy am liebsten laut gelacht, ab er eine
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solche Reaktion wü rde ihre Schwester nur in ihren Befürchtu ngen bestätigen, also unterd rückte sie den Imp u ls, leck te das Blättchen an und drehte ih re Zig arette fertig. »Au ßerdem«, fu h r Saffy fo rt, »ist Lucy ein Sch atz, und da wir nichts An ständig es für eine n Braten haben , b rau chte ich einfach ihre Hilfe.« »Keinen anständigen Braten? «, fragte Percy spitz. »Als ich das letzte Mal nach gesehen habe, g ab es no ch acht fette Kandidatinnen im Hühnerstall.« Saffy zuckte zusamme n . »Du wü rdest es nicht wag en ...« »Ich träume von Hühnchen sch enkeln.« Ein erfreuliches Zittern machte sich in Saffys Stimme bemerk b ar, das sich bis in ih ren Zeig efing er fo rtsetzte, mit dem sie Percy v o r der Nase wedelte. »Meine Mädels sind gu te kleine Ernäh rerinn en, sie sind kein Ab endessen . Ich lasse nicht zu, dass du an Braten so ße d enk st, wen n du sie an siehst. Das ist ... das ist wirklich barb arisch .« Eine Menge Dinge lagen Percy auf der Zung e, aber als sie jetzt in dem düsteren Flur stand, während der Regen auf der an deren Seite des Gemäu ers au f die Erde p rasselte un d ih re Zwilling ssch wester verlegen vo n ein em Fu ß au f den anderen trat - ih r altes g rünes Kleid spannte un schön am Bauch un d an den Hüften -, sah Percy all ih re gemeinsamen Jahre und all d ie Enttäu schung en vor sich aufgereiht, wie Steine einer Mauer, gegen die ih re mo mentane Wut prallte. Sie war der bestimmen de Zwilling, war es immer g ewesen , und egal wie wütend Saffy sie machte, Streitereien brachten die Grund festen ihres gemeinsamen Universu ms in s Wanken . »Perce? « Saffys Stimme zitterte immer noch . »Muss ich meine Mädels bewachen? « »Du hättest es mir sagen sollen «, antwortete Percy mit einem ungehaltenen Seufzer und nahm die Streichh ölzer aus ih rer Ho sentasche. »Das ist alles. Das mit Lucy hättest du mir sagen sollen .« »Ich wünschte, du wü rdest die ganze Sach e einfach vergessen, Perce. Um deinetwillen. Es hat scho n Dien stboten gegeben, d ie ihren Arbeitgeb ern Schlimmeres angetan haben als sie zu verlassen. Schließlich hat sie keine silb ernen Lö ffel gestohlen.«
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»Du hättest es mir sagen sollen .« Percys Stimme klang weich , u nd ih re Kehle sch merzte. Sie fischte ein Streichho lz aus der Schachtel. »Wenn es dir so viel ausmacht, werde ich sie nicht mehr herb itten. Sie wird bestimmt n ichts dag egen haben; mir schien, dass sie dir am liebsten aus dem Weg geht. Ich glau be, d u mach st ih r Angst.« Mit einem Knacken zerb rach das Streichh olz in Percys Fin gern. »Ach, Perce, sieh d ir das an , du blutest ja.« »Es ist nichts.« Sie wischte sich den Finger an der Hose ab. »Nicht an der Hose, d as ist Blut, das k riegt man n ich t wieder raus.« Saffy hielt ein zerknülltes Kleidungsstück hoch, das sie mit herun terg eb racht hatte. »Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, un sere Wäscherinn en haben u ns eb en falls verlassen, und ich b in die Ein zige hier, d ie wäscht und kocht und putzt.« Percy rieb an dem Blutfleck herum, verteilte ihn jedoch nu r. Saffy seufzte. »Lass deine Ho se, ich kümmere mich daru m. Geh nach oben un d mach di ch fein , meine Lieb e.« »Ja.« Percy betrachtete immer noch etwas verwun dert ih ren Finger. »Wäh rend du dir ein festlich es Kleid anzieh st, setze ich den Wasserkessel au f und mache uns eine Tasse Tee. Oder noch besser: Ich mache uns einen Cocktail, was hältst du davon? Sch ließlich haben wir etwas zu feiern.« Das fand Percy reichlich übertrieben, aber ihr Kamp fgeist hatte sie verlassen. »Ja«, sag te sie. »Gute Id ee.« »Bring deine Ho se mit in die Küche, wenn du fertig bist, dann kann ich sie gleich ein weichen .« Percy b allte ih re Hand zur Faust und löste sie wieder, als sie zu r Trepp e gin g. Dann blieb sie steh en un d d reh te sich um. »Beinahe hätte ich's vergessen «, sagte sie und n ah m den ma schinegeschriebenen Brief au s ih rem Beutel. »Post für dich.«
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7 Saffy versteckte sich im Anrich tezimmer, um den Brief zu lesen. Sie hatte so fo rt gewusst, um was es sich h andelte, un d es hatte sie allergrößte Müh e geko stet, ih re Au fregung v or Percy zu verb ergen . Sie hatte den Brief an sich gerissen, dann am F uß der Trepp e Wache gestanden, um sich zu vergewissern, dass ih re Sch wester es sich nicht in letzter Minu te and ers üb erleg te und doch noch zu m H olzhacken nach draußen ging. Erst als sie hö rte, wie Percys Zimmertür in s Sch lo ss fiel, hatte sie sich en tspannt. Sie hatte schon fast die Ho ffnu ng au fg egeb en, jemals eine Antwo rt zu beko mmen , und jetzt, wo sie sie in d er Han d hielt, wün sch te sie beinahe, sie wäre nie eingetroffen . Di e gespan nte Erwartung , die Tyrannei des Unbekannten waren beinahe unerträglich. Du rch die Kü che war sie in das Anrichtezimmer geeilt, wo einst der Furcht erregen de Butler Mr. Bro ad residiert hatte, von dessen Schreckensherrschaft allerd ing s nu r noch d er Sch reibtisch und ein hölzerner Schrank voller alter Kladden mit seiner akribischen Buch fü h rung zeu gten. Saffy zog an der Ko rd el, mit der sich die Glühb irne ein sch alten ließ , un d lehnte sich an den Schreibtisch. Ihre Finger fühlten sich klobig an, als sie sich an dem U msch lag zu sch affen mach te. Ohne ihren Briefö ffner, der ob en au f ih rem Sch reibtisch lag, blieb ih r nichts and eres ü brig , als d en U mschlag au fzu reißen. Weil ih r das jedoch widerstreb te, ging sie mit äu ßerster Vo rsicht zu Werke und genoss beinahe die quälende Verzögerung, die das mit sich brachte. Sie zog den gefalteten Bogen heraus - sehr feines Papier, stellte sie fest, aus Baumwollfaser, geprägt, cremeweiß -, dann holte sie tief Luft und strich ihn glatt. Hastig überflog sie das Schreib en, dann ging sie noch ein mal an den Anfang zu rü ck und zwang sich, es langsam zu lesen, zu g laub en, was sie sah, während eine g roß e, glück selige Leich tigk eit sie erfasste, die sie bis in die Fin gerspitzen spü rte. Sie h atte d ie An zeig e in der Times entdeck t, als sie nach Vermietungsanzeigen gesucht hatte. Weibliche Begleitperson und Gouvernante gesucht, die für die Dauer des Kriegs mit Lady Dartington und ihren drei Kindern nach Amerika 151
gehen will, hatte da gestanden; gebildet, unverheiratet, kultiviert, erfahren im Umgang mit Kindern. Es war, als hätte derjenige, der den Text au fgesetzt hatte, Saffy i m Sin n gehabt. Zwar hatte sie keine eigenen Kinder, aber das lag keinesfalls daran, dass sie sich keine gewünscht hätte. Es hatte ein e Zeit gegeben, in der sich all ih re Zukunftsträu me - wah rscheinlich wie die jeder jung en Frau - u m Kin der gedreht hatten. Aber ohne Ehemann war da nun mal nichts zu machen, un d das war d er Hak en an der Sach e. Was die and eren Kriterien ang ing, so war Saffy der Meinung, dass sie in aller Bescheid enheit b ehaupten konn te, ku ltiv iert und g ebildet zu sein. Sie hatte auf der Stelle ein Bewerbungsschreiben au fgesetzt, in dem sie sich vorgestellt, zwei hervorrag ende Emp feh lungsschreiben beigelegt und einen Brief formuliert hatte, d er Serap hina Blyth e als die ideale Kandidatin au swies. Und dann hatte sie gewartet und versuch t, so gut es g ing, ih re Träume von New York für sich zu behalten. Da sie schon lan ge wusste, dass es zu nichts füh r te, Percy unnötig zu reizen , h atte sie ih rer Zwillin gsschwester geg enüber nichts v on d er Stellenan zeig e erwähnt und sich in sgeheim in lebhaften Farben alle Möglichkeiten ausgemalt. Sie hatte sich die Überfahrt bis ins kleinste Detail vo rg estellt und sich in die Rolle einer zweiten Molly Brown hinein versetzt, die die Dartington -Kinder bei Lau ne hielt, während sie au f dem Weg zu dem großen amerikanischen Hafen den U-Booten trotzten ... Es Percy zu sagen würde das Schwerste sein. Was aus ihr werden würde, wenn sie allein die Flu re du rchquerte, die Wände reparierte und Ho lz hackte und darüb er das Bad en, Waschen oder Backen verg aß, war nich t au szud enken . Dieser Brief jedo ch , dieses Stellenang ebo t, das Saffy in Händ en hielt, war ih re Chan ce, und sie wü rd e sich nicht vo n sentimentalen Gefühlen davon abhalten lassen, sie beim Schopf zu ergreifen. Wie ihre Heldin Adele in ihrem Roman würd e sie »das Leben bei den Hö rn ern packen und es zwing en, ih r in die Augen zu sehen«. Auf diese Formulierung war Saffy beso nders sto lz. Als sie leise die Tür des Anrichtezimmers wieder hinter sich sch lo ss, fiel ih r so fo rt au f, dass der Ofen d amp fte. In all der Au freg ung hatte sie die Pastete vergessen! Um Gottes
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willen. Sie würde von Glück reden könn en, wenn der Teig nicht schwarz verkohlt war. Sie streifte sich die Ofenhand schuh e ü ber, lugte in den Backofen und atmete erleichtert au f, als sie sah, d ass die Ob erseite der Pastete zwar go lden , ab er no ch nich t du nkelb raun war. Sie schob die Pastete in den unteren , weniger heißen Ofen, wo sie nicht verb ren nen konnte, und richtete sich auf. In diesem Moment fiel ih r Blick auf Percys versch mu tzte Uniformhose, die neben ih rem Träg errock au f dem Kü ch en tisch lag. Percy mu sste die Ho se do rt abgelegt haben, während Saffy im Anrichtezimmer gewesen war. Was für ein Glück, dass Percy sie nicht d abei erwischt hatte, wie sie den Brief las. Saffy schüttelte die Hose aus. Der Montag war ihr offizieller Waschtag , aber es konnte nich ts schad en, die Sach en eine Weile einzuweichen, vo r allem P ercys Un ifor mh o se; d ie An zahl der unterschiedlich en Flecken , die sich darauf ang esammelt hatten, hätte man als eind ru ck svoll bezeichnen kön nen, wenn es nicht so schwierig gewesen wäre, sie zu entfernen. Ab er Saffy lieb te die He rau sfo rderung . Ein e nach der anderen ging sie die Hosen tasch en du rch au f der Such e nach vergessenem Kri msk rams, der ihr nur das Waschwasser verderben wü rde. Und d as war ein Glück. Saffy fischte die Papierschnipsel heraus - Gott, was fü r eine Menge! - und leg te sie neben sich au f die Küchenban k. Mü de schüttelte sie den Kopf; sie wusste nicht mehr, wie oft sie - vergeblich - versucht hatte, Percy beizubringen, vor der Wäsche ihre Hosentasch en zu leeren . Seltsam - S affy schob die Schnip sel hin und her. Au f einem klebte eine Briefmarke. Ein Brie f, der zerrissen wo rd en war. Aber warum sollte Percy so etwas tun? Und von wem war der Brief? Ein Knall im ersten Sto ck, und Saffy schaute erschrocken zu r Decke ho ch. Sch ritte, dan n noch ein Kn all. Die Hau stür! Junip er war eingetroffen! Oder sollte er es sein, der junge Mann au s Lond on? Saffy betrachtete die Pap ierschn ip sel und biss sich au f d ie Lipp e. Vor ih r lag ein Rätsel, das sie lö sen mu sste. Ab er
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nicht jetzt, dazu feh lte die Zeit. Sie mu sste nach o ben , u m Juniper und ih ren Gast zu b eg rüßen , d er Himmel allein wu ss te, in welchem Zu stand sich Percy inzwischen befand. Vielleich t wü rde d er zerrissen e Brief die üble Laun e ih rer Schwester erklären? Mit einem en tschlo ssenen Nicken v ersteckte Saffy ih ren eigenen Brief i m Oberteil ih res Kleids und schob die Schnipsel aus Percys Hosentasche unter einen Top fdeckel, d er auf d er Bank lag. Sie würde sich später damit b efassen . Nachdem sie ein letztes Mal nach der Kanin chenpastete gesehen hatte, rückte sie ihr Kleid um den Busen zu recht, lo ck erte es ein b isschen u m d ie Taille h eru m und ging nach oben. Bildete sie sich den fau lig en Gestank v ielleicht nu r ein? , fragte sich Percy. In letzter Zeit passierte ihr das öfter; einen Geru ch , den man ein mal wahrgeno mmen h atte, wu rde man nicht mehr los. Sie hatten das gu te Zimmer seit eine m halben Jah r nicht mehr betreten, seit der Beerd igung ihres Vaters, und trotz aller Mühen , die ih re Schwester au f sich geno mmen hatte, lag immer n och etwas Modriges in der Luft. Der Tisch war in die Mitte des Zimmers gerückt worden, mitten auf den Teppich au s Bessarabien, und war gedeckt mit dem besten Geschirr ihrer Großmutter, vier Gläsern pro Gedeck und einer so rg fältig geschrieben en Speisekarte an jedem Platz. Percy nahm eine davon in die Hand, u m sie zu lesen, stellte fest, dass Gesellsch aftsspiele vorgeseh en waren , und legte sie wieder weg. Plö tzlich fühlte sie sich in einen Luftschutzbunker versetzt, in dem sie wäh rend d er ersten Wo chen d es Blitzk rieg s Schutz gesucht hatte, als ein Besuch beim Rechtsan walt ih res Vaters durch Hitlers Bomb en v ereitelt wo rd en war. Die gezwungene Heiterkeit, die Lieder, der en tsetzliche säuerlich e Gestank nach Angst ... Percy schloss die Augen und sah ih n vo r sich . Der ganz in Sch warz g ekleid ete Man n, d er wäh rend d er Bo mb ardierung hereing ekommen war, sich unb emerk t an die Wand gelehnt und mit niemandem g esp ro chen hatte. Den Kop f mit de m dunklen Hut tief gebeugt. Perc y hatte ihn beob achtet, faszi-
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niert von der Art, wie er irgendwie abseits von den anderen stand. Nu r einmal hatte er au fgeblickt, ku rz bevo r er sein en Mantel fester u m sich gezogen hatte un d in die lodernd e Nacht h inau sgegang en war. Ih re Blicke waren sich ku rz begegnet, und sie hatte in sein en Aug en nich ts geseh en. Kein Mitgefühl, kein e Angst, keine Entsch lossenh eit; nu r kalte Leere. Da hatte sie gewu sst, dass er der Tod war, und seitdem h atte sie o ft an ihn gedacht. Wenn sie in einen Bomb en krater kletterte, um die Leichen herauszu ziehen, mu sste sie an die gespen stische, entrückte Ruhe denken , die ihn b egleitet hatte, als er aus dem Bu nker in d as Chao s hinausgegan gen war. Kurz nach dieser Begegnun g h atte sie sich zum Sanitätsdienst gemeldet, ab er es war kein Helden mu t, d er sie dazu getrieben hatte, ganz und gar nicht. Es war einfach viel leichter, sich dem Tod draußen in dem flammenden In fern o zu stellen, als eingeschlossen unter d er bebend en, stöh nen den Erde au f ihn zu warten, abgelenkt nu r von verzweifeltem Froh sin n und hilflo ser Ang st ... In der Karaffe befanden sich noch ung efähr zwei Finger breit bernsteinfarbene Flüssigkeit, und Percy fragte sich flüchtig, wann sie eing efüllt wo rd en sein mo ch te. Wahrscheinlich schon vor Jahren - denn neuerd ings benutzten sie nu r noch die Flaschen im g elben Salon -, aber das ma ch te nichts, Whisky wurde nur besser, je älter er war. Nach eine m kurzen Blick über die Schu lter schenk te Percy sich ein . Steckte den Kristall stop fen geräusch voll wieder au f d ie Karaffe, während sie einen Schlu ck trank. Und dann noch einen. Sie spürte das angeneh me Brennen in der Brust. Es war intensiv und real, und sie gen oss es. Sch ritte. Das Klappern von hoh en Ab sätzen . Sie waren no ch weit entfernt, k amen jedoch rasch näher. Saffy. Die Beklemmungen von Monaten verdichteten sich zu einer bleiernen Kugel in Percys Magen. Sie mu sste sich zusammen reißen. Sie wü rde nichts damit erreichen, wenn sie Saffy den Abend verdarb - ihre Zwillin gssch wester hatte weiß Gott wen ig Gelegenheit, ih re Freude an Dinnerpartys auszuleben. Ab er es schauderte Percy, wie g roß d ie Versuchung war. Es war so ein ähnliches Gefü hl, wie an einem Abgrund zu stehen und g enau zu wissen, dass man nicht springen darf, und
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dennoch von dem un widersteh lichen Drang zu sp rin gen üb ermannt zu werd en. Gott, sie war ein hoffnun gslo ser Fall. Etwas in ih rem I n nern war grundlegend g estö rt, verd o rben und zutiefst u n sympathisch. Dass sie auch nur eine Sekunde lang in de m Gedanken schwelgen konn te, wie ein fach es wäre, ih re nerv tö tend e, geliebte Schwester um ih r Glück zu bringen. War sie schon immer so pervers gewesen? Percy seu fzte tief. Sie war krank, daran bestand kein Zweifel, und zwar nich t erst seit Ku rzem. Ih r Leben lang ging das schon so: Je meh r Saffy sich fü r einen Mensch en oder ein en Gegenstand o der eine Idee begeisterte, desto weniger konn te Percy au s sich h erausgehen. Es war, als wären sie ein einziges, in zwei Teile geteiltes Leb ewesen , und als gäbe es n u r wenige Gefüh le, die sie gleich zeitig emp finden konn ten . Und Percy h atte sich irg end wann au s irgendeinem Gr und entschlo ssen , für Ausgleich zu so rg en: Wenn Saffy litt, verb reitete Percy Heiterkeit, wenn Saffy freudig erregt war, überschüttete Percy sie mit Sark asmu s. Wie verd ammt freu dlo s sie do ch war. Das Grammofon war geöffnet und gereinigt word en, und daneben lag ein Stap el Schallplatten. Percy nah m ein e davon in die Hand , ein neues Album, das Juniper aus London geschickt hatte. Der Himmel wusste, wo und auf welch e Weise sie es erworb en hatte; Juniper fand Mittel und Wege, kein Zweifel. Mu sik wü rd e jetzt sich erlich helfen. Sie senkte die Nadel, und Billie Holid ays sch machtende Stimme ertönte. Percy atmete au s, vom Wh isk y du rch wärmt. Schon besser: zeitg enössische Mu sik, die keine Asso ziationen au slöste. Vor vielen Jahren hatte eine Au fg abe, die d er Vater sich au sg edacht h atte, das Wo rt »Nostalgie« enth alten. Er h atte die Defin itio n au s dem Wö rterbu ch vo rgelesen: »h eftig e Seh nsucht nach d er Verg angenheit«, und Percy hatte damals mit d em H och mu t der Jugend über eine solch e Vo rstellu ng nur den Kopf geschüttelt. Sie konn te sich nicht vo rstellen, wie jemand sich nach der Vergangenheit sehnte, wo doch die Zukun ft alle verlockenden Geheimnisse bereithielt. Percy trank ihr Glas au s, d reh te es gedankenv erlo ren hin und h er und sah zu , wie die letzten Tropfen am Boden zu einer kleinen Pfü tze zu sammen liefen . Natü rlich war es die Be-
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gegnung mi t Lucy, d ie sie aus d em Ko n zept g eb racht hatte, aber schon der ganze Tag hatte unter einem düsteren Vo rzeich en g estanden, und auf ein mal mu sste Percy wieder an Mrs. Potts von der Poststelle denk en. An ih re Mutmaß ung, ja, Be hauptun g, Jun iper sei verlobt. Es war schon immer v iel üb er Juniper getratscht worden, aber Percy wusste aus Erfahrung, dass Gerüchte stets auch ein Körnchen Wahrheit enthielten. Was in d iesem Fall ab er sicherlich nich t zutraf. Hin ter ih r ö ffn ete sich die Tü r mit einem Seu fzer, und ein kühler Lu ftzu g wehte au s dem Flu r herein. »Nun?«, fragte ih re Schwester atemlos. »Wo ist sie? Ich habe die Tür gehört.« Wenn Juniper sich jeman d em anvertraute, dann nu r Saffy. Nachdenklich klop fte Percy mit dem Fing er au f den Glasrand. »Ist sie schon hier oben? «, wollte Saffy wissen . Dann flü sterte sie: »Od er war er das? Wie ist er? Wo ist er? « Percy straffte die Sch ultern. Wenn sie Saffys Entg egenkommen erreichen wo llte, mu sste sie wo hl ein ein deutiges Friedensangebot mach en. »Sie sin d noch nicht da«, sag te sie und schenkte ihrer Schwester ein, wie sie hoffte, unschuldig es Lächeln . »Sie v erspäten sich.« »Nu r ein bisschen.« Saffy hatte dasselb e durchscheinende, v erun sicherte Gesicht au fgesetzt wie früher, als sie noch Kinder waren und ein Th eaterstück fü r die Freunde des Vaters einstudiert hatten und die Gäste noch nicht eing etro ffen waren, u m d ie Zuschauerplätze zu besetzen. »Bist du dir ganz sicher? «, frag te sie. »Ich könn te sch wö ren, dass ich d ie Tü r gehö rt habe.« »Du kannst ja unter den Stühlen nach sehen «, en tgegnete Percy leichthin. »Außer mir ist nieman d hier. Was du gehö rt hast, war nu r der Fen sterlad en da d rüb en. Er hat sich i m Sturm gelöst, aber ich habe ihn schon wieder repariert.« Mit einer Kopfbewegung deutete sie au f d en Sch rauben schlü ssel, der auf dem Sims lag.
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Saffys Au gen weiteten sich, als sie die nassen Flecken auf Percys Kleid entdeckte. »Es ist ein ganz besond eres Aben d essen, Perce. Juniper wird ...« »... es weder bemerk en noch sich d afü r interessieren «, beendete Percy den Satz für sie. »Denk nicht über mein Kleid nach. Du sieh st so schön aus, dass es fü r un s beid e reicht. Ko mm, setz dich. Ich mache uns einen Drink, während wir warten.«
8 Da weder Juniper noch ih r Gast eingetroffen waren, wäre Saffy am lieb sten wieder nach unten gelaufen, um den zerrissen en Brief zu sammen zu setzen und Percys Geheimn is au f die Sp ur zu kommen. Ihre Zwillingsschwester in einer derart versö hnlichen Stimmu ng vorzufinden war jedoch eine unerwartete Wohltat, und sie wollte sie nicht en ttäu schen . Nich t an diesem Ab end, nicht jetzt, wo Junip er und ih r besonderer Gast jeden Augenblick eintreffen konn ten . In Anbetracht dessen war es zudem ratsam, sich möglichst in der Nähe der Haustü r aufzu halten, denn so bestand die Chance, d ass sie Juniper kurz un ter vier Au gen würde sprechen können. »Danke«, sag te sie, nahm das Glas entgegen , das Percy ihr hinhielt, und trank einen o rdentlich en Schluck , u m ih ren gu ten Willen zu demo n strieren. »Und? «, sagte Percy und lehnte sich wied er an d en Grammo fon sch rank . »Wie war dein Tag? « Ku rioser und ku rio ser, wie Alice im Wu nd erlan d sag en wü rd e. No rmalerweise hatte Percy nichts übrig für zwangloses Geplauder. Saffy tran k einen Schluck, um Zeit zu gewinnen. Sie wü rd e sich extrem vo rseh en mü ssen . Mit ein er weg werfenden Hand bewegung sagte sie: »Ach, ganz gut. Allerdings bin ich gestürzt, als ich mir meine Unterwäsche angezogen h abe.« »Nein!« Percy musste sch allend lachen . »Doch. Ich habe sogar einen b lauen Fleck, der es b eweist. Der wird wohl alle Regenbogen farben annehmen , bis er weg ist.« Saffy berührte vorsich tig ihren Hintern und verlagerte 158
ihr Gewicht auf der Chaiselongue. »Ich sch ätze, das bedeu tet, dass ich allmählich alt werd e.« »Unmöglich.« »Ach? « Saffy sah g eradezu dankbar auf. »Wie meinst du das? « »Ganz ein fach. Ich bin zuerst g ebo ren , also werd e ich immer d ie Ältere von un s beid en sein.« »Ja, gewiss, aber ...« »Und ich kann dir versichern, dass ich beim Anzieh en no ch nie mein Gleichgewicht v erlo ren habe. Nicht mal bei Bo mbenalarm.« »Hmm ...« Saffy runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich verstehe, was du meinst. Wollen wir also mein Missgeschick einem dumme n Zu fall zuschreiben, der nichts mit dem Alter zu tun hat? « »Das werden wir wohl mü ssen; alles andere wü rde bedeu ten, dass wir das Drehbu ch un seres eigenen Abgang s schreiben.« Das war einer der Lieblin gssp rüch e ihres Vaters gewesen , u nd sie mu ssten beide lächeln . »Tut mir leid «, fuh r Percy fo rt, »dass ich eben au f d er Treppe so un au sstehlich war.« Sie riss ein Streichholz an und zündete sich eine Zigarette an. »Ich wollte keinen Streit vo m Zaun b rechen .« »Sagen wir ein fach , der Krieg ist schu ld, einv erstand en? «, sagte Saffy und wandte sich ab, um der Rauchwolke zu entgeh en . »Das tun alle anderen auch. Erzähl - was gibt's Neues au s der g roßen, weiten Welt? « »Nicht viel. Lord Beaverb rook red et von Pan zern fü r die Russen, im ganzen Dorf ist kein Fisch au fzutreiben, und an sch einend ist Mrs. Caraways Tochter sch wanger.« Saffy schn app te au fgereg t n ach Luft. »Nein !« »Do ch.« »Ab er sie ist doch erst - wie alt? Fünfzehn? « »Vierzehn.« Saffy beugte sich vor. »Ein Sold at? « »Ein Pilot.« »Ach du je.« Sie sch üttelte wie ben o mmen den Kop f. »Und Mrs. Caraway, imme r die Tu gend in Person . Wie sch reck lich.« Saffy entg ing nicht, da ss Percy, Zigarette im Mu nd win kel, g rin ste, als hätte sie ih re Sch wester im Verdach t, sich an Mrs. Caraways Unglü ck zu weiden . Was tatsächlich zu traf, wenn au ch nu r ein bisschen und nu r, weil die Frau so eine unverbesserliche Besserwi sserin war, die an allem u nd jedem etwas au szu setzen hatte, sogar an Saffys Näh arbeiten,
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was sich bis zu m Schloss heru mg esprochen hatte. »Was denn? «, sagte sie errötend. »Es ist wirklich sch recklich.« »Aber nicht überraschen d «, sag te Percy, wäh rend sie die Asch e abklop fte. »Die ju ngen Mädch en von h eute haben do ch k ein e Mo ral.« »Seit dem Krieg ist alles anders«, pflichtete Saffy ih r bei. »Das sieht man schon an den Leserb riefen . Jung e Frau en, d ie sich heru mtreiben , währen d ih re Männer im Krieg sind , un d uneheliche Kinder in die Welt setzen. Und die anderen kön nen es nicht erwarten, kaum dass sie einen Mann kennenlernen, ihn zum Traualtar zu schlep pen .« »Ab er un sere Junip er nicht.« Saffy frö stelte. Sie hatte es sich ja ged acht: Percy wusste Bescheid. Irgend wie hatte sie von Jun ipers Lieb esaffäre erfahren. Das erklärte ih re plötzlich e gute Lau ne; sie hatte sich vorgenommen, au f den Bu sch zu klop fen, sie hatte den Do rfk latsch wie einen Kö der ausgeworfen, und Saffy war d rau f reingefallen. Gott, wie demütigen d. »Natü rlich nicht«, sag te sie so g elassen , wie sie konnte. »Juniper ist nicht so eine.« »Selbstverständlich nich t.« Ei ne Weile saßen sie schweigend d a u nd schau ten einand er an, das gleiche Lächeln in ih ren so gleich en Gesichtern, und nippten an ih rem Wh isk y. Saffys Herz klop fte lau ter, als Vaters Liebling suh r tickte, und sie fü rchtete schon , dass Percy es hö ren k onnte; jetzt wusste sie, wie ein In sekt sich fühlte, das in ein Spin nennetz geraten war und au f die groß e Spinn e wartete. »Allerding s«, sag te Percy un d schnippte ih re Asch e in den Kristallaschen becher, »ist mir heute etwas Merk wü rdig es zu Oh ren g ekommen. Im Dorf.« »Ach? « »Ja.« Ein verlegenes Schweigen breitete sich aus, während Percy rauchte und Saffy sich au f d ie Zung e biss. Wie u nerträg lich das war, no ch dazu hinterhältig: Ihre eigene Zwillingssch wester nu tzte ih re Vo rliebe fü r Do rfklatsch au s, um sie auf diese Weise in Versu chung zu b ring en, ihre Geh eimn isse au szuplaudern . Aber das wü rd e sie n icht mit sich machen lassen. Was in teressierte sie Percys Do rfklatsch üb erhau pt?
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Sie k annte die Wah rheit b ereits, sch ließ lich hatte sie Jun ipers Tagebuch gelesen, und sie wü rd e sich du rch k ein e List dazu verleiten lassen, Pe rcy d avon zu erzählen. Mit demo n strativ er Entsch lossenheit stand Saffy au f, strich ihr Kleid glatt und begann, d ie Messer und Gabeln auf d em gedeck ten Tisch mit großer Sorgfalt auszurichten. Sie brachte es sog ar fertig, leise vor sich hin zu summen und ein harmlo ses Läch eln au fzusetzen. Was irgendwie tröstlich war, wenn die Zweifel aus den Sc hatten gekrochen kamen. Dass Jun iper ein en Liebhaber hatte, war allerdings überraschend, und es hatte Saffy getroffen , n ichts d avon gewu sst zu haben , ab er d ie Tatsach e an sich änderte nichts. Od er? Jed enfalls nichts, was Percy wichtig war, nichts, was von Bedeutung war. Es konn te do ch bestimmt n ichts Sch limmes passieren , wenn Saffy d ie Neuig keit fü r sich b ehielt. Juniper hatte eb en einen Liebhab er, das war alles. Sie war eine jung e Frau , das war etwas g anz Natürliches; eine Bagatelle und sich erlich nich ts von Dauer. Wie alles, was Junipers Begeisterung weckte, würde auch dieser Man n bald sein e Faszination verlieren, würde verblassen und sch ließ lich von ein er neu en Laun e davong eweht werden. Der Wind d raußen war stärker geworden , und die Klauen des Kirschbau ms k ratzten an dem lo sen Fen sterlad en. Saffy schüttelte sich, obwohl ihr nicht kalt war; ihre minimale Bewegung wurde vom Sp ieg el über dem Ka min eing efan gen , sie hob den Kopf und blick te in ih r eigen es Gesicht. Es war ein prächtiger Spiegel, mit einem v ergoldeten Rah men , und er hing an einer sch weren Ke tte von der h ohen Decke. Deswegen war er leicht n ach vorn g eneigt, sodass es, als Saffy au fsah, den An schein hatte, als wü rd e er sie von ob en herab zo rnig anblicken und zu einem d icken, g rün en Zwerg schrumpfen lassen. Ein Seufzer en tfuh r ih r unwillkürlich. Sie fühlte sich hilflo s, sie war es leid, sich zu v erstellen. Sie wollte sich gerade abwenden und wieder au f den Tisch kon zentrieren, als sie im Spiegel Percy entd eck te, die rauchend in der Ecke hock te und den g rünen Zwerg in der Mitte beo bachtete. Nicht ein fach nur beobachtete, sond ern mu sterte. Sie suchte nach Indizien , n ach der Bestätigung fü r ein en Verdacht, den sie bereits hatte.
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Das Wissen , d ass sie beobachtet wurde, ließ Saffys Puls schneller sch lag en, und plötzlich versp ürte sie das dringen de Bedü rfnis, etwas zu sagen, den Raum mit Gespräch zu füllen, mit Geräuschen. Sie atmete kurz ein. »Juniper ist natü rlich spät dran, und das sollte un s n icht wun dern; wahr scheinlich ist das Wetter schuld, irgendetwas wird sie unterwegs aufgehalten hab en; sie hätte u m Viertel vo r sech s an ko mmen sollen, und selbst wenn d er Bu s au s d em Do rf nicht imme r pünktlich fährt, mü sste sie eigentlich inzwischen hier sein ... Ich ho ffe bloß, sie hat einen Schirm dabei, ab er d u weißt ja, wie sie in solchen Dingen ist ...« »Juniper ist verlobt«, fiel Percy ih r b arsch in s Wo rt. »Das erzählt man sich im Dorf. Dass sie verlob t ist.« Das Vorspeisenmesser stieß klappernd gegen seinen Nach barn. Saffys Mund öffnete sich. Sie blinzelte. »Wie bitte? « »Verlobt. Jun iper ist verlobt.« »Aber das ist doch läch erlich. Natürlich ist sie das nicht.« Saffy war eh rlich verb lü fft. »Juniper? « Sie b rachte ein schwaches, heiseres Lachen zustande. »Wo hast du das nu r aufgeschnappt? « Percy stieß eine Rau chwolke au s. »Also? Wer verbreitet so einen Unsinn? « Percy k laubte ein Stückchen Tab ak von ih rer Unterlip pe und sagte ein en Mo ment lang nichts. Stirnrunzelnd betrachtete sie das dunkle Fitzelch en an ihrer Fingerspitze. Schließlich schnippte sie es in den Aschenbecher. »Ach, wahrsch einlich hat es nichts zu bedeuten. Ich war nu r auf d er Po ststelle und ...« »Ha!«, sagte Saffy, vielleicht ein b isschen zu triu mphie rend. Und erleichtert, weil Percys Bemerk ung nichts weiter als Klatsch war: Gerede im Dorf, das jeder Wahrheit entbehrte. »Das hätte ich mir d enken k önnen . Diese Mrs. Potts! Wirklich, sie ist eine Gefah r für d ie Allgemeinheit. Wir können nur dankbar sein , d ass sie sich n och nicht das Maul üb er die Politik zerreißt.« »Du glaub st es also nicht? « Percys Stimme klang d ump f, vo llko mme n tonlos. »Natü rlich glaube ich es nich t.« »Juniper hat dir also nich ts gesagt? «
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»Kein Wort.« Saffy ging zu Percy h inüber und legte ih r eine Hand auf den Arm. »Wirk lich , mein e Liebe. Kann st du dir Juniper als Brau t vo rstellen? Ganz in weiß e Spitze gehüllt? Dass sie gelobt, jemand en zu lieben und ihm zu geho rch en bis an ihr Lebensende?« Percys Zigarette lag au sged rückt im Aschenbecher, u nd sie versch ränk te d ie Fing er in einander. Dann deutete sie ein Läch eln an, hob k u rz die Sch ultern und schüttelte den Gedan ken ab . »Du hast recht«, sagte sie. »Dumme s Gerede, mehr nicht. Ich habe mich nu r gefragt ...« Aber was genau sie sich gefragt hatte, b ehielt Percy fü r sich. Obwo hl keine Musik mehr zu hören war, dreh te die Grammo fo nn adel immer n och p flichtsch uldigst ih re Rund en au f der Schallplatte. Saffy erlöste sie von ihrem Elen d und legte den To nabneh mer zu rück au f die Gabel. Sie wollte gerade in die Küche gehen, um nach der Kan inch enpastete zu sehen , als Percy sag te: »Juniper h ätt e es un s gesagt. Wenn es stimmte, hätte sie es un s gesagt.« Saffys Wang en b egannen zu glühen, als sie an das Tag ebuch im D achbodenzimmer d achte, an d en Sch ock , als sie die letzte Eintragung gelesen hatte, an den Stich, den es ih r versetzt hatte, nicht eing eweih t wo rd en zu sein . »Saffy? « »Ganz sicher«, antwortete sie hastig . »Das tu t man doch , nicht wahr? Wichtige Dinge erzäh lt man sich geg en seitig.« »Ja.« »Vo r allem seinen Schwestern.« »Ja.« Und es stimmte. Eine Lieb esaffäre g eheim zu h alten war eine Sach e, aber eine Verlobung — das war etwas g anz and eres. Selb st Juniper, da war sich Saffy ganz sicher, wären die Gefü hle anderer nicht gleich gültig , sie wäre sich über die Auswirkungen im Klaren , die eine solche Entscheidung hätte. »Trotzdem«, sagte Percy. »Wir sollten mit ih r red en. Sie daran erinnern , da ss Vater ...« »... nicht hier ist«, been dete Saffy den Satz sanft. »Er ist nicht hier, Percy. Wir sind alle frei zu tun, was un s g efällt.« Frei, Mild erhu rst zu verlassen, dem Glan z und dem T rub el
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New Yo rks en tgeg enzu seg eln , ohn e ein en Blick zu rück zu werfen. »Nein«, sagte Percy so scharf, dass Saffy einen Moment lang fürchtete, sie hätte ih re Gedan ken lau t au sg esp rochen. »Wir sind nicht frei. Nicht ganz. Wir sin d alle einand er verpflichtet. Juniper weiß das. Sie weiß, dass eine Ehe ...« »Perce -« »Das waren Vaters Wün sch e. Seine Bedingu ngen.« Ihre Blicke begegneten sich , und Saffy hatte zu m ersten Mal seit Monaten Geleg enheit, das Gesich t ih rer Sch wester au s der Nähe zu betrachten. Percy h atte einig e n eue Falten bekommen. Sie rauchte viel und mach te sich viele So rgen, und zweifellos forderte der Krieg seinen Trib ut, aber was au ch immer der Grund sein mo chte, die Frau, die vor ihr saß, war nicht mehr jung. Ab er alt war sie auch n ich t, und Saffy begriff plötzlich - hatte sie das denn nicht immer gewusst? -, dass es einen Bereich dazwisch en gab. Und in diesem befanden sie sich beide. Sie waren k eine ju ngen Frau en meh r, und doch weit davon entfernt, alte Jung fern zu sein . »Vater wusste, was er tat.« »Selbstverständlich, meine Liebe«, sagte Saffy zärtlich. Warum war ihr das bisher nicht au fg efallen? All die Frau en in dem großen Zwischendrin? Sie waren doch nicht unsichtb ar, sie lebten nu r still ihr Leben, taten, was Frauen taten, wenn sie nich t meh r jung, aber noch n ich t alt waren. Hielten Häuser in Ordnu ng, wischten Trän en von den Wang en ih rer Kinder, stopften die Socken ih rer Ehemänner. Un d mit einem Mal begriff Saffy, waru m Percy sich so b enahm, b einahe, als wäre sie n eid isch au f die Möglichk eit, d ass Juniper, die erst neunzehn war, eines Tages heiraten könn te. Dass sie ih r gan zes Erwachsen enleben no ch v or sich hatte. Und sie verstand auch, warum Percy sich au sgerech net an diesem Ab end solchen sentimentalen Gedanken hing ab. Natürlich war sie um Juniper besorgt, und sie mach te sich Gedan ken üb er den Dorfklatsch, aber es war d ie Begeg nung mit Lucy gewesen, die sie in diese Stimmung v ersetzt hatte. Saffy war plötzlich so überwältigt von tiefer Liebe zu ih rer dickköp figen Zwilling ssch wester, dass es ih r be inahe den Atem raubte. »Wir beide hatten kein Glü ck , nicht wahr, Perce? «
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Percy blickte von d er Zigarette auf, die sie sich gerade d rehte. »Wie mein st du das? « »Wir beide. Wir hatten kein Glück in Herzen sangelegen heiten.« Percy schaute sie an . »Ich g laube n ich t, da ss Glück viel damit zu tun h atte. Es war wo hl eh er eine simp le Frage d er Mathema tik, mein st du nicht? « Saffy lächelte; es war genau so , wie d ie Erzieherin, die ih re alte Nanny ersetzt hatte, es ihnen erk lärt hatte, b evor sie nach No rweg en zu rü ckgekehrt war, um ihren verwitweten Vetter zu heiraten. Sie hatte sie mit an den See geno mmen , wie immer, wenn sie nicht in der Stimmung war, ihnen eine Unterrichtsstunde zu geben, aber Mr. Broads fo rschenden Blick en n icht au sgesetzt sein wollte. Sie hatten sich auf d er Wiese gesonnt, und auf einmal hatte die Erzieh erin sie mi t einem schadenfrohen Funk eln in den Augen angesehen und in ihrem trägen norwegischen Sing san g zu ihnen gesag t, sie täten gut daran, sich eine Ehe au s d em Ko p f zu schlagen; dass d er Krieg, d er ihren Vater verwundet hatte, au ch ih re Zukun ftsaussich ten zunichtegema ch t hatte. Die d reizehnjäh rigen Zwillinge hatten sie gleichgü ltig ang eseh en, mit einer Miene, die sie perfektioniert hatten, weil sie wu ssten, dass sie jeden Erwach senen zur Weißglu t b rachte. Was gin g sie das alles an? Verehrer und Ehe waren das Letzte, wo rüber sie d amals nachgedacht h atten. Saffy sag te leise: »Tja, aber das ist doch ein ziemlich unglückliches Schicksal, nicht wahr? Dass alle poten ziellen Ehemän ner au f den fran zö sischen Sch lachtfeldern gefallen sind? « »Wie viele wolltest du denn h aben? « »Wie viele was? « »Ehemän ner. Du hast von allen po tenziellen Eh emännern gesprochen ...« Percy zündete sich ih re Zigarette an und mach te eine weg werfend e Handbewegung. »Egal«, sagte sie, als sie den Rauch ausblies. »Nu r einen.« Saffy war plötzlich ganz sch wind lig. »Es gab nur ein en, den ich wollte.« Es folg te eine qualvolle Stille, bis Percy schließlich geruhte, verlegen zu wirken. Aber si e sag te nich ts, bo t k ein tröstliches oder verständnisvolles Wort
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an , kein e liebevo lle Geste. Sie d rück te ih re Zigarette au s und ging zur Tü r. »Wo geh st du hin? « »Ich habe Kopfschmerzen. Ganz plötzlich .« »Dann setz dich. Ich hole d ir Aspirin.« »Nein.« Percy wich Saffys Blick aus. »Nein, ich hole sie mir selbst aus dem Medizinschränkchen . Die Bewegu ng wird mir g uttu n.«
9 Percy eilte den Flu r hinunter und verfluchte sich fü r ih re Sch usseligkeit. Sie hatte vo rgehabt, Emilys zerrissen en Brief sofort zu verbrennen, ab er stattdessen h atte sie sich von d er Begegnung mit Lucy derart aus dem Ko nzept b ringen lassen , dass sie die Schnipsel in ih rer Ho sentasch e vergessen hatte. Schlimmer noch, sie hatte d ie Hose direkt an Saffy überg eben, au sgerechnet der Person, die den Brief nich t hatte zu Gesicht bekommen sollen. Percy lief die Trep pe hinunter in die mit Koch dünsten gefüllte Küch e. Wann, fragte sie sich, wäre ihr der Brief wohl wieder eing efallen, wenn Saffy n icht diese Anspielung au f Emilys Eh emann gemach t hätte? War es verfrüht, den Verlust ih res zuverlässigen Gedäch tnisses zu beklagen , sich zu frag en, welch e Art von d ämo nischen Trick s sie wü rd e anwenden müssen, um es zurückzubekommen? Abrupt blieb sie vor dem Tisch steh en. Ih re Hose lag nich t mehr da, wo sie sie abgelegt hatte. Ih r Herz hämmerte geg en die Rippen; sie zwang es zu rü ck in ih ren Brustk orb, wo es hingehö rte. Panik wü rde ihr nichts n ützen; auß erdem war das Verschwinden der Hose no ch keine Katastroph e. Percy war sich ziemlich sicher, dass Saffy den Brief noch nicht gelesen hatte: Dafür war sie im Salon viel zu gefasst, viel zu ruh ig gewesen . Denn, bei Gott, wenn Saffy erfahren hätte, dass Percy imme r noch mit ihrer Kusine in Kontakt stand, wäre es ihr nicht gelungen, ihre Emp ö rung darü ber zu verbergen. Was bedeutete, dass noch nich t alles zu spät war. Sie musste
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nur d ie Hose finden, die Beweisstücke versch winden lassen , und alles wü rd e gu t werden. Auf dem Tisch hatte auch ein Kleid gelegen, fiel ih r ein, es musste also irgendwo einen Stapel schmutzige Wäsche geben. Wie sch wer k onnte es sein, den zu finden? Zweifellos wu rd e die Sache d adurch ersch wert, d ass sie kein e Ahnun g hatte, wie das Wäschewaschen vor sich g ing , denn leider hatte sie nie darauf geachtet, wie Saffy den Ha ush alt o rganisierte; ein e Nach lässigkeit, die sie sich zu korrigieren vornahm, sobald sich der Brief wieder in ih rem Besitz befan d. Sie begann bei den Körb en au f dem Regal unter dem Tisch, wühlte sich durch Gesch irrtücher, Kuchenb lech e, Kasserollen u nd Back fo rmen, während sie nach Geräu schen auf d er Treppe lau sch te, fü r d en Fall, dass Saffy auf der Su che nach ihr herunterkam. Was ziemlich unwahrscheinlich war. Da sie Juniper jeden Augenblick erwartete, wü rd e es ih r widerstreben, sich allzu weit von der Haustür zu entfernen. Percy wartete ebenfalls ungedu ldig au f ih re k lein e Sch wester, und sobald sie eintraf, würde sie sie ganz offen au f das Gerücht an sp rech en, das Mrs. Potts in die Welt g esetzt hatte. Denn obwohl Percy so getan h atte, als wü rde sie die Überzeugung ihrer Zwilling ssch wester teilen, dass Juniper es ih nen mitg eteilt h ätte, wenn sie sich tatsächlich verlobt hätte, war sie sich da ganz und g ar nich t sicher. Eine Verlobu ng gehö rte zu den Ding en, die man seinen Angehörigen normalerweise erzählte, wohl wah r, aber Ju nipe r war nicht normal, sie war ihnen lieb und teuer, aber sie war unbestreitbar exzentrisch. Und das nich t nu r wegen ih rer Anfälle und der »v erlo ren en Zeit«; sie war das kleine Mädchen, das Gefallen daran fand, mit Liebling sg egen stän den ih r bloßes Auge zu berühren - einem glatten Stein oder Vaters Füllfederhalter; das zahllose Kinderfrau en verg rault hatte mit seiner Versto cktheit und sein en Fantasiefreu nden , die es sich nicht ausreden ließ; das, wenn man es gezwung en hatte, Schuhe zu tragen , darauf bestanden hatte, sie verkehrt herum anzuziehen. Mit Ex zentrik an sich hatte Percy kein Problem - welch er no rmale Men sch h atte nicht seinen kleinen Tick? , wie man in der Familie gern witzelte. Vater hatte seine Geister gehabt,
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Saffy hatte ih re Pan ikanfälle, Percy selbst war auch nicht ohn e. Nein, Ex zentrik war nicht das Problem, Percy ging es nur darum, ihre Pflicht zu tun, die darin bestand , Junip er vo r sich selb st zu schützen . Ih r Vater hatte ihr diese Aufgabe üb ertrag en. Ju niper sei etwas Besond eres, hatte er gesag t, und sie mü ssten alle dafü r so rg en , d ass ih r nichts zustieß. Und das hatten sie bisher getan, jawohl. Sie waren Ex pertin nen darin, zu erkennen , wann genau die Veran lagu ng, die ih r Talent ausmachte, in Tob such tsan fälle u mzu kipp en droh te. Als ih r Vater noch g eleb t h atte, hatte er sie ohn e Ein sch rän kun g herumtoben lassen. »Das ist Leidenschaft«, hatte er voller Bewunderung gesagt, »ungekünstelte, hemmungslose Leid en schaft.« Dennoch h atte er sich mit seinen An wälten un terhalten. Percy war ü berrascht gewesen, als ih r klar g e wo rd en war, was er getan h atte; sie h atte so fo rt Verrat gewittert und d as un ter Gesch wistern typische Mantra »Das ist ungerecht!« vor sich hin gemu r melt, ab er schon bald hatte sie eingesehen, dass ihr Vater rech t hatte, dass seine Anordnun gen fü r sie alle da s Beste waren . Und sie liebte Juniper, das taten sie alle. Es gab nichts, was Percy nicht fü r ih re klein e Schwester tun wü rd e. Ein Geräu sch vo n o ben . Percy erstarrte und such te die Decke mit den Augen ab . Das Haus war immer voller Geräusch e, man b rau chte also n u r die üblichen Verd äch tig en du rchzug ehen . Fü r die Hausgeister war es zu laut gewesen, od er? Da war es wied er. Sch ritte, vermu tete sie; ab er kame n sie näher? Kam Saffy n ach un ten? Eine Weile hielt Percy den Atem an . Reglos wartete sie, bis sie sich sicher war, dass die Schritte sich en tfernten. Dann richtete sie sich au f und ließ den Blick mit g röß erem Unb ehag en als zu vo r du rch d ie Küche wand ern . Immer no ch keine Spur von der verdammten Wäsche. Besen und ein Mo pp in der Ecke, Gummistiefel neben der Hintertür, im Spü lstein nichts als Sch üsseln, die do rt zu m Ein weichen standen , und au f dem Herd ei ne Kasserolle und ein hoher Topf... Ein Topf! Natü rlich. Hatte sie nicht Saffy des Öfteren von Töpfen reden hören, wenn es ums Wäschewaschen ging? Wenn sie sich über Fleck en bek lagt h atte, die n icht rausgin -
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gen, und über Percys Ach tlo sig keit. Percy eilte an den Herd , hob d en Deck el des riesig en Kochto p fs an und - Bingo ! Was fü r ein e Erleichterung - ih re Hose. Grin send zog Percy die klatschnasse Ho se aus dem Wasser, drehte sie hin und her, u m d ie Tasch en zu find en, u nd schob ihre Finger erst in die eine, dann in die and ere ... Sie erbleichte. Die Taschen waren leer. Der Brief war verschwunden. Wieder ein Geräu sch von oben. Schritte. Saffy ging auf und ab . Percy fluchte leise vo r sich hin, schalt sich erneut fü r ih re Du mmh eit. Dann hielt sie den Atem an und lau schte au f die Sch ritte ih rer Sch wester. Sie kamen näher. Dann ein Poltern. Die Schritte änderten die Richtung . Percy lau sch te an gestren gt. War da jemand an der Tü r? Stille. Und kein Ruf von Saffy. Was b edeutete, dass niemand geklopft hatte. Denn ein s war klar: Wenn die Gäste eintrafen, würde Saffy es nicht hinneh men , dass Percy sich nicht zeigte. Vielleich t war es schon wieder der Fensterladen gewesen; sie hatte ihn nur mithilfe eines kleinen Schraubenschlüssels notdürftig in Position geb rach t - ohn e o rdentliches Werkzeug war nichts zu machen —, und es stürmte immer noch ganz ordentlich . Auch um den Fensterladen würde sie sich am näch sten Tag kü mmer n . Percy holte tief Lu ft und seufzte en tmu tig t. Sie sah zu , wie die Hose wieder im Ein weich wasser v ersank. Es war schon nach ach t, Juniper war i mmer n o ch nicht da, der Brief konn te Go tt weiß wo sein . Vielleich t - ein Ho ffnung sschimmer hatte Saffy ihn in den Müll geworfen? Sch ließ lich waren es nu r Papierschn ip sel; vielleicht war der Brief längst verb rannt, und es war nichts mehr von ihm übrig bis auf ein bissch en Asch e im Herd? Außer das ganze Haus bis in alle Winkel zu du rch kämmen od er Saffy g eradeheraus nach dem Verb leib d es Briefs zu fragen - allein der Gedanke ließ Percy zusammen zucken -, fiel ihr nichts ein, was sie n och tun konnte. Also k onnte sie genauso gut nach oben gehen und auf Juniper warten.
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Ein Donner krachte. So lau t, dass Percy selb st hier unten, im In nersten des Hau ses, erschauderte. Gleich darau f ein leiseres Geräusch, jedoch viel näher. Draußen vielleicht. Als sch lich e jeman d am H au s en tlan g und hämmerte gegen Tü ren und Fen ster au f d er Such e n ach der Hintertü r. Junipers Gast mü sste jeden Aug enblick ein treffen . Es war du rch au s mö glich, dach te Percy, dass jemand, der sich n icht au sk annte und sich abend s, währen d d er Verd un kelung, noch dazu bei so einem Gewitter, dem Haus näherte, an der falsch en Tü r Ein lass suchte. Auch wen n d as ziemlich unwah rschein lich war, entschloss sich Percy nachzusehen. Sie konnte den Mann sch lecht da d raußen heru mstolpern lassen. Mit zu sammen g ep ressten Lippen sah sie sich ein letztes Mal in der Küche u m - Vo rratstüten mit Zutaten fü r das Abendessen auf der Ban k, ein zerknü lltes Geschirrtu ch, ein Topfdeckel: nichts, was auch nur entfernt einem Haufen Papierschnipseln ähnelte -, dann nahm sie die Taschenlampe aus dem Erste-Hilfe-Kasten, zog sich einen Regenman tel über und öffnete die Hin tertü r. Juniper war schon fast zwei Stunden überfällig, u nd Saffy war in großer Sorge. Bestimmt gab es eine Erklärung - der Zug hatte sich verspätet, der Bu s hatte eine Pan ne, eine Straße war gesp errt, irgendetwas ganz No rmales, und sich erlich gab es bei einem solchen Wolkenbruch auch keine feindlichen Flugzeuge, d ie d ie Lage verko mp lizierten . Aber vernün ftige Überlegungen waren kein Kriteriu m, wenn eine g roß e Sch wester sich Sorgen machte. Erst wenn Juniper gesund und wohlbehalten du rch die Haustür kam, würde Saffy sich wieder beruhigen . Und welche Neuig keiten, fragte sie sich, während sie au f ihrer Unterlippe kaute, würde ihre kl eine Schwester wohl mitbringen, wenn sie en dlich über die Sch welle trat? Saffy hatte es g eglaubt, als sie Percy versichert ha tte, Juniper sei nicht verlobt, d as hatte sie wirklich , ab er seit Percy so plötzlich nach unten gegangen war und sie im guten Zimmer allein gelassen h atte, war sie sich d essen immer wen iger sich er. Die ersten Zweifel waren ihr geko mme n , als sie über
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die Vo rstellung von Juniper in weiß er Spitze gescherzt hatte. Noch während Percy zu stimmen d nickte, h atte dieses kitschige Bild angefangen , sich zu verändern, wie ein Spiegelbild einer gekräuselten Wassero berfläch e, und sich in eine viel weniger unwah rscheinliche Vision verwandelt. Eine, die Saffy imme r wieder in den Sinn gekommen war, seit sie mit der Arbeit an dem Kl eid begonnen hatte. Und dann hatten sich die Puzzleteile schnell zu samme ng efüg t. Warum so n st hätte Juniper sie bitten sollen, das Kleid für sie zu ändern? Doch nicht fü r etwas so Gewöhnliches wie ein Ab endessen, sondern für eine Ho chzeit. Fü r ih re eigene Hochzeit, und zwar mit diesem Thomas Cavill, der heute Abend kommen würde, um Saffy und Percy kennen zulernen. Ein Mann, von dem sie b isher noch nie etwas geh ö rt hatten. Ja, alles, was sie über ihn wu ssten, besch ränkte sich au f den Brief, den Jun iper geschick t hatte, um ihnen mitzuteilen, dass sie ihn zum Abend essen eing elad en hatte. Sie hätten sich während eines Bomb enangriffs kenn engelernt, sie hätten eine gemein same Freund in, er sei Leh rer und Sch riftsteller. Saffy zermartete sich das Hirn und v ersuchte, sich an den Rest zu erin nern, die genauen Worte, die Juniper benutzt hatte, was sie geschrieben hatte, d as sie und Percy zu d er Annahme veranlasst hatte, er habe Junip er das Leb en gerettet. Hatten sie sich das womö glich eingebildet? Oder war es eine von Jun ipers k reativen Unwahrh eiten, ein Schnörkel, der ihre Sympathie weck en so llte? In dem Tagebuch hatte ein bisschen mehr über ihn gestan den, allerd ings n ichts, was mit seiner Biog rafie zu tun hatte. Dort wurden die Gefühle, die Gelü ste, d ie Sehnsüchte einer erwach senen Frau beschrieben. Einer Frau, die Saffy nicht kannte, die ihr Befremd en veru rs acht hatte; ein er Frau, die dabei war, weltgewandt zu werden. Es fiel Saffy schon nicht leich t, diese Veränderung en zu akzeptieren , ab er Percy wü rde man sehr gut zu reden müssen . Fü r Percy wü rd e Junip er immer d ie klein e Schwester bleiben, die g ebo ren wu rde, als sie beid e schon fast erwachsen gewesen waren, das kleine Mädch en, das verwöhnt und besch ützt werden wollte. De m man eine Freu de mach en, dessen Lo yalität man gewinnen konnte mit nichts weiter als einer Tüte Süßigkeiten.
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Saffy lächelte vo ller trauriger Zuneigung über ihre von Zwäng en bestimmte Zwillingsschwester, die garantiert schon dabei war, sich auf eine Konfrontation vo rzubereiten, fest en tschlo ssen , dafü r zu sorgen, dass die Wünsche ihres Vaters resp ektiert wu rd en. Arme, liebe Percy: so intelligent, so mutig und lieben swü rdig, zäh wie Leder, und doch unfähig, sich von den unmöglichen Erwartun gen ih res Vaters zu befreien . Saffy war klüger gewesen; sie hatte schon früh au fgehö rt, ih m g efallen zu wollen. Sie frö stelte plötzlich und rieb sich die Hände. Dann ver schränkte sie die Arme, entschlossen, diesmal n icht klein beizug eben. Sie mu sste stark sein für Juniper, jetzt kam es auf sie an. Denn im Gegensatz zu Percy h atte sie Verständn is für die Leiden, die die Liebe schafft ... Die Tü r g ing au f, und Percy stand da. Der Wind schlug die Tü r zu. »Es schüttet wie aus Eimern.« Sie wischte sich das Wasser von Nase und Kin n, sch üttelte das nasse Haar. »Ich hatte hier oben ein Geräu sch g ehört. Vo rh in.« Saffy blinzelte verd attert. Sagte mech anisch: »Das war der Fensterladen . Ich glaube, ich habe ihn festbekommen, ab er ich kann ja nicht gut mit Werkzeug umgehen - Percy, wo in aller Welt bist du gewesen? « Und was hatte sie d a drau ßen gemacht? Saffys Au gen weiteten sich, als sie das nasse, schlammv erdreckte Kleid ihrer Schwester sah, die Blätter war es mö glich? - in ihrem Haar. »Sind die Kopfschmerzen weg? « »Wie bitte? « Percy hatte ih re Gläser g eholt und schenk te ih nen beid en noch einen Whisky ein. »Deine Kopfschmerzen. Hast du die Aspirin gefu nden? « »Ach so. Danke. Ja.« »Du warst ziemlich lang e fo rt.« »Ach ja? « Percy reichte Saffy das Glas. »Kan n sein . Ich dachte, ich h ätte d raußen etwas gehö rt. Wah rsch einlich Poe, der sich vor dem Gewitter fürcht et. Zuerst d ach te ich , es wäre Junip ers Freu nd. Wie hieß er gleich? « »Thomas.« Saffy trank einen kl einen Schlu ck . »Tho mas Cavill.« Bild ete sie sich ein, dass Percy ih rem Blick auswich? »Percy, ich hoffe ...«
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»Keine So rge. Ich werde nett zu ihm sein, wenn er kommt.« Sie ließ ih ren Whisky kreisen. -»Falls er ko mmt. « »Du darfst ih n nicht im Vo raus veru rteilen, bloß weil er zu spät kommt .« »Und warum nicht? « »Der Krieg ist schuld . Nichts läuft meh r nach Plan. Ju nip er ist ja auch noch nicht da.« Percy nahm d ie ungerauch te Zigarette, d ie sie vo rher i m Asch enbecher ausged rückt hatte. »Das ist ja nich ts Ung ewöhnliches.« »Irgendwann wird er kommen.« »Falls er ex istiert.« Wie merk wü rd ig, so etwas zu sagen ; Saffy sch ob sich ein e widerspenstige Strähne hinters Ohr, verwirrt, beso rgt. Sie fragte sich, warum Percy einen solch bösen Scherz machte, einen von der Art, die Saffy imme r wörtlich nahm. Ihr drehte sich der Magen um, doch sie beschloss, das zu igno rieren und den Scherz als Scherz au fzu fassen . »Das ho ffe ich doch. Es wäre eine Schan de zu erfah ren , dass er nu r eine Au sgebu rt der Fantasie ist. Der Ti sch wü rd e gan z un ausgewog en wirk en, wenn wir ein Gedeck en tfern en mü ssten.« Sie setzte sich au f die Kante der Chaiselong ue, aber es gelang ih r nicht, sich zu entspann en. Eine seltsame Nerv osität sch ien sich von Percy au f sie üb ertrag en zu haben. »Du sieh st mü d e au s«, sagte Percy. »Wirk lich?« Saffy bemü h te sich u m einen liebenswürdigen Ton. »Ich glaube, das b in ich auch. Vielleicht werde ich wieder mu nterer, wenn ich nach dem Essen sehe. Ich gehe mal in die Kü che und ...« »Nein.« Saffys Glas fiel zu Bod en. Whisk y b reitete sich au f de m Tepp ich aus, b räun liche Perlen auf dem blau -roten Muster. Percy hob das Glas auf. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich wollte nu r ...« »Wie ungeschickt von mir.« Saffy b etrachtete ein en Fleck au f ih rem Kleid . »Wie ungeschickt ...« Und d ann k lop fte es an d er Tü r. Sie standen g leichzeitig au f. »Juniper«, sag te Percy. Saffy schluckte. »Od er Tho mas Cavill.« »Ja. Od er Thomas Cavill.«
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»Tja«, sagte Saffy mit einem g ezwun genen Läch eln . »Wer auch immer es sein mag , am b esten mach en wir die Tür au f.«
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Teil zwei Das Buch von den nassen Zaubertieren 1 9 9 2 Ich ko nnte an nichts anderes mehr denken als an Thoma s Cavill und Juniper Blythe. Es war so eine trau rige Ge schichte; ich machte sie zu meiner trau rigen Geschich te. Ich keh rte nach Lon don zurück, füh rte mein Leben , aber ein Teil von mir kam n ich t v on diesem Sch lo ss los. Ku rz vo r dem Einschlafen oder beim Tagträu men fanden mich die flüstern den Stimme n. Sobald mir die Augen zufielen, war ich wieder in dem kühlen, düsteren Flur und wartete mit Juniper auf ihren Verlobten. »Sie lebt in der Verg angenheit«, hatte Mrs. Bird mir beim Wegfah ren erzählt, als ich im Rück spiegel zu sah , wie der Wald sich wie dun kle, sch ützende Flü gel u m das Sch lo ss legte. »Sie du rchlebt diesen Oktob erabend 1 9 4 1 immer und immer wieder, wie eine Schallplatte, d ie hakt.« Die Vorstellung war so schrecklich traurig, ein ganzes Leben zerstö rt an ein em einzigen Abend, un d si e warf so viele Frag en au f. Wie war es fü r sie an jenem Ab end g ewesen, als Tho mas Cavill nicht zum Abendessen erschien? Hatten alle drei Schwestern in einem speziell für den Anlass herg erichteten Zimmer gewartet? Wann hatte sie angefangen, sich So rg en zu mach en? Hatte sie an fan gs geglaub t, er wäre verletzt, hätte einen Unfall gehabt? Oder hatte sie so fo rt gewusst, dass sie verlassen worden war? »Er hat eine andere geheiratet«, hatte Mrs. Bird au f mein e Frage gean twortet. »Hat sich mit Juniper verlobt und ist dann mit einer and eren au f und davon. Nichts als ein Brief, u m d ie Beziehung zu beenden.« Ich hielt die Geschich te in Händen , d rehte sie hin un d her, betrachtete sie von allen Seiten. Ich führte mir alles vo r Augen, korrigierte ein paar Fakten, ging sie noch einmal der Reih e nach d u rch. Wah rsch einlich hat die Tatsach e, d ass ich selbst au f äh nliche Weise enttäuscht worden war, eine gewisse Rolle gespielt, ab er es war meh r als Mitg efühl, was meine Obsession schürte - denn ich mu ss gestehen, dass es wirk lich zu einer Obsession wurde. Es waren die letzten Minuten meiner Begegnung mit Jun iper. Die Verwandlu ng, die 175
sich vo r meinen Aug en vollzog , als ich ih r gesagt hatte, ich mü sse zu rück nach Lond on, wie sich die jung e Frau, d ie sehn sü chtig au f ih ren Geliebten wartete, plötzlich in eine todunglückliche Gestalt verwandelt hatte, d ie mich u m Hilfe an fleh te und mich beschimp fte, weil ich ein Versprechen gebrochen hatte. Vor allem wurde ich das Bild nicht mehr los, wie sie mir in die Augen gesehen und mir vorgeworfen hatte, ich hätte sie auf schreck liche Weise im Stich gelassen; wie sie mich Meredith genannt hatte. Juniper Blythe war alt, sie war k ran k, und ihre Sch western waren bemüht gewesen, mir zu erklären , dass sie häufig Dinge sagte, die sie selb st nich t begriff. Aber je länger ich darüber nach dach te, u mso g rößer wu rde die schrecklich e Gewissh eit, dass meine Mutter in irgendeiner Weise b ei dem, was Junip er wid erfah ren war, eine Rolle g espielt hatte. Alles andere ergab für mich einfach kein en Sinn. Es erklärte die Reak tion meiner Mu tter au f den verloren gegangenen Brief, den Au fschrei - denn es war ein Schmerz gewesen, od er nicht? —, als sie den Absender gelesen hatte, d erselbe Au fsch rei, den ich als Kind gehört hatte, als wir von Milderhurst weggefahren waren. Dieser heimliche Besuch vor mehr als zwanzig Jahren, als meine Mu tter mich an der Hand genommen , von dem To r weg gezerrt und un san ft in den Wag en bug siert und mir nich ts weiter erklärt h atte, als dass es ein Fehler gewesen sei, dass es zu sp ät sei. Ab er zu spät wo zu? Vielleicht, um sich zu entschuldigen, eine lange zurück liegende Verfehlung wiedergutzumachen. Waren es Sch uldg efühle gewesen, die sie nach Milderhurst getrieben und dann hatten fliehen lassen, noch ehe wir du rch das Tor gegangen waren? Gut möglich. Und wenn es stimmte, wü rde das ih ren Sch merz erklären. Un d es könnte au ch erklären, warum sie die Geschichte die ganze Zeit über geheim g ehalten hatte. Denn ih re Heimlichtuerei beschäftigte mich genauso wie das Geheimnisvolle an der Sach e selb st. Ich glaube nicht an eine Verp flichtung, seinen Kindern die vo lle Wah rheit zu en thüllen, aber in diesem Fall wurde ich das Gefühl nicht los, d ass ich belogen worden war. Mehr noch, dass ich irgendwie direkt betroffen war. Irgendetwas war d a in der Vergangenheit mein er Mutter, etwas, das zu
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verbergen sie sich alle Mühe g egeben h atte, und es weigerte sich, dort zu bleiben . Eine Tat, eine Entsch eidun g, vielleicht nu r ein Augenblick, als sie ein jung es Mädch en war. Etwas, das seinen langen, dunk len Schatten bis in die Gegen wart meiner Mutter und damit auch in meine eigene warf. Ich mu sste wissen , was da vorgefallen war. Und zwar nicht nur au s Neug ier, nicht n u r, weil ich ein so tiefes Mitgefühl fü r Juniper Blythe empfand , sond ern weil dieses Geheimnis auf eine Weise, die schwer zu erklären ist, die Distanz repräsen tierte, die mein Leben lang zwischen meiner Mutter und mi r geherrscht hatte. »Ja, d a gebe ich dir rech t«, sagte Herbert, als ich ih m das erklärte. Wir hatten den Nach mittag damit verbracht, meine Bücherk isten und son stigen Habseligkeiten auf seinem voll gestellten Dachbod en zu versta uen, und waren danach zu einem k leinen Spaziergang du rch Ken sington Gard en s aufgeb rochen . Die Spaziergänge haben wir uns zur täglichen Angewohnh eit g emacht, eine verdauungsfördernde Maßnahme für Jess, die der Tierarzt uns an s Herz gelegt hatte, wovo n die Hünd in leider alles an dere als begeistert war. »Komm, Jessie«, sagte Herbert u nd g ab ihrem Hin terteil, das am Bo den festgewachsen schien, einen kleinen Sch ub s mit d e m Fuß. »Wir sind gleich bei den Enten, altes Mädchen.« »Aber wie soll ich das alles in Erfah rung b ring en? « Natü rlich konnte ich Tante Rita fragen, aber so ang espann t, wie das Verhältnis meiner Mu tter zu ih rer älteren Sch wester war, kam mir der bloße Ged anke ziemlich h interhältig vo r. Ich schob die Hände tief in meine Ho sen tasch en , als k önnte ich die Antwort zwischen den Flusen finden. »Was so ll ich tun? Wo so ll ich anfan gen?« »Tja, Edie«, er gab mi r d ie Hundelein e, nahm eine Zigarette au s seiner Tasche und zündete sie an . »Ich d enke, das liegt au f der Hand.« »Ach ja? « Er stieß eine imposante Rauchwolke aus. »Das weißt du genauso gu t wie ich, me in e Lieb e - d u mu sst deine Mutter fragen.«
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Dass Herbert seinen Vo rsch lag naheliegend fan d, war abso lut v erständlich , und das hatte ich mir zu m Teil selb st zu zu schreiben. Vielleicht hatte ich ih m einen falschen Eind ru ck von meiner Familie vermittelt, indem ich zunäch st vo n de m verloren gegangenen Brief erzählt hatte. Mit diesem Brief hat die Geschich te zwar angefangen, aber es war nicht meine Geschich te, od er besser g esagt , nicht d ie Geschich te von Meredith und Edie. Jeman d , der un s an jen em Sa mstagnach mittag erlebt hätte, hätte durchaus meinen können, dass wir einen herzlichen Umgang pflegten, dass wir es gewo hnt waren , entspannt mitein ander zu plaudern und un sere Gefüh le au szutauschen. Ab er so schön das auch klingen mag, das war nicht der Fall. Ich erinn ere mich an eine Menge Kindheitserlebnisse, die bestätigen , dass un ser Verh ältnis kein esweg s gep rägt war vo n Gesp rächen und gegen seitigem Verständn is: das un erklärlich e Auftauchen eines panzerartigen BHs in meiner Schublade, als ich gerade d reizehn gewo rd en war, die Tatsache, dass ich auf Sarah angewiesen war, als ich mehr über die Blümchen und die Bienchen erfahren wollte, der geisterhafte Bruder, von dem wi r alle so taten, als würden wir ihn nicht sehen. Ab er Herbert h atte recht: Es war d as Geheimn is meiner Mutter, und wenn ich der Wahrheit au f den Grund gehen wollte, wenn ich mehr über das kleine Mädchen erfahren wollte, das mich wie ein Schatten du rch Schlo ss Mild erhu rst begleitet hatte, dann mu sste ich mich d irekt an sie wend en. Und wie das Glück es wollte, hatten wir uns für die folgende Woche in einer Kondito rei gleich um die Ecke von Billing & Brown zu m Kaffee verabredet. Um elf Uh r machte ich mich au f den Weg, setzte mich an einen Tisch in einer d unk len Ecke und bestellte d as Üb liche. Kaum hatte die Kellnerin eine Tasse dampfenden Darjeeling vo r mich au f den Tisch gestellt, drangen Straßeng eräu sch e ins Café, und als ich au fblickte, sah ich, dass meine Mutter zö gernd in der offenen Tü r stan d, Handtasche un d Mütze in der Hand . In ih rer Miene spiegelte sich misstrauisch e Wachsamk eit, als sie sich in dem sehr modernen Café umsah , und ich schaute weg : au f mein e Hände, den Tisch , fu mmelte am Reißverschlu ss meiner Handtasche herum, alles, n u r u m ih r Mien en spiel nicht
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sehen zu mü ssen . Dieser Ausdruck der Verunsicherung war mir in letzter Zeit öfter an ih r au fg efallen. Ich weiß nich t, ob es daran lag, dass sie älter wu rde oder dass ich älter wurde, oder an der allgemeinen Beschleu nigung des Lebens. Meine Reaktion darauf bestürzte mich , denn sie so schwach zu erleb en hätte eigentlich mein Mitgefühl für sie hervorrufen müssen, sie mir noch liebenswerter machen mü ssen, aber das Gegenteil war der Fall. Es ma ch te mir A ng st, es war wie ein Riss in der Normalität, der d roh te, alles hässlich und un kenntlich werden zu lassen . Mein Leb en lang war mein e Mutter fü r mich eine Auto rität gewesen, unfeh lbar in allem, was sie tat. Sie so verunsichert zu erleben , vo r allem in einer Situation , d er ich lock er g ewach sen war, b rachte meine Welt au s d em Gleichg ewicht und ließ mich den festen Boden un ter den Füßen verlieren. Also wartete ich un d blickte erst nach einer Weile au f, such te ih r Gesicht, das wied er selb stsicherer wirkte, und winkte ih r läch elnd zu , als hätte ich sie gerade erst en tdeckt. Sie bahnte sich ihren Weg du rch das voll besetzte Café, b ein ahe demo n strativ vo rsichtig darau f bedacht, n ieman den mit ih rer Tasche anzu rempeln, als wollte sie ihr Missfallen über die Tischordnu ng zum Au sd ruck b ringen . Wäh renddessen vergewisserte ich mich , dass nieman d au f ih rer Seite des Tisch s Zucker verstreut, Cappuccinoschaum verschüttet oder Kuchenkrümel hinterlassen hatte. Dass wir uns mehr oder weniger regelmäßig im Café v erab redeten, war neu, wir hatten damit angefangen wenige Monate, nachdem mein Vater in Rente gegangen war. Es war fü r un s beide noch ung ewoh nt un d machte uns immer ein bisschen v erlegen, au ch wenn ich nich t g erad e vo rh atte, einen h eiklen Vo rstoß in die Verg angenheit meiner Mutter zu wagen . Ich erhob mich kurz, als sie an den Tisch kam, meine Lipp en berührten die Wange, die sie mir darbo t, dan n setzten wir un s lächelnd , erleich tert, dass die Beg rüß ung in der Öffentlichk eit vorüb er war. »Ziemlich warm draußen, was? « »Ja, sehr«, sagte ich, u nd dann begaben wir uns zunächst einmal auf vertrautes Terrain: die Aufräumwut meines Vaters (diesmal hatte er sich den Dachboden vorgenommen),
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mein e Arbeit (üb ersinnliche Erfahrungen in der Romney Marsh) und der Klatsch au s dem Bridge-Club mein er Mutter. Dann entstand eine Pause. Wir lächelten einander an , bis meine Mutter ihre übliche Frag e nicht länger zu rückhalten kon nte: »Und wie geh t's Jamie? « »Gu t.« »Ich habe die Kritik in der Times gelesen . Das Stück ist o ffenbar gut an geko mmen.« »Ja.« Ich hatte sie auch gelesen. Ich suchte nicht danach , wirklich nicht. Sie war mir ein fach in s Auge gefallen, als ich die Zeitung wegen der Vermietung san zeigen d u rchg eblättert hatte. Es war üb rigen s eine seh r gu te Kritik gewesen. Verdammte Zeitung: In teressante Angebote an Mietwo hnung en hatte ich nich t g efunden . Meine Mu tter un terb rach ih ren Redefluss, als der Cappu ccino g eb racht wu rde, den ich fü r sie bestellt h atte. »Erzähl mal«, sagte sie d ann, während sie eine Papierserv iette zwischen Tasse und Untertasse legte, weil etwas vo m Schau m übergeschwappt war. »Was hat er als Nächstes vor? « »Er arbeitet an ein em Drehbu ch. Sarah hat einen Freund, der Regisseur ist. Der hat versproch en, es zu lesen, wenn es fertig ist.« Ihre Lippen formten ein sarkastisches »Oh«, ehe sie ein paar po sitive Bemerkung en von sich gab, d ie sch ließlich un terging en, als sie einen Schluck Kaffee trank, das Gesicht an gesichts des b itteren Gesch mack s v erzog und zu m Glü ck das Thema wechselte. »Un d eure Wohnu ng? Dein Vater mö ch te wissen , ob der Wasserh ahn in d er Küch e immer no ch tropft. Er meint, er weiß jetzt, wie er das Prob lem en dgültig beheben k ann .« Ich stellte mir d ie kalte, leere Wohnu ng v or, die ich an de m Mo rgen endgü ltig verlassen h atte, an d ie p han to mh aften Erinnerungen in den brau nen Umzu gskarton s, die jetzt mein Leben enthielten und au f Herberts Dachb oden verstaut waren . »Alles in Ordnu ng«, sag te ich. »Die Wohnun g, der Wasserh ahn, alles p erfekt. Sag ih m, er soll sich keine Gedanken mehr daru m machen.« »Es gib t woh l nicht irgendetwas anderes, das reparaturbedürftig ist?« Ein kaum wah rnehmbarer, flehender Un terton hatte sich in ihre Stimme g eschlichen. »Ich h atte g edacht,
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ich k önnte ih n am Samstag vo rbeischicken , u m ein bissch en nach dem Rechten zu seh en.« »Ich h abe dir doch gesag t, es ist alles in Ordnun g.« Sie wirkte überrascht und verletzt, und mir war klar, dass ich zu schroff gewesen war, ab er diese fürchterlichen Gesp räche, b ei denen ich vo rgab, alles sei in Butter, ma ch ten mich mü rbe. Auch wenn ich mich gern in Romane vertiefe, bin ich keine Lügnerin, Täu sch ung smanöv er lieg en mir nicht. Un ter n o rmalen U mständen wäre das vielleicht der id eale Mo men t g ewesen , ih r von un serer Trennu ng zu erzäh len - aber ich b rachte es einfach nicht fertig , nich t an de m Tag, an dem ich mit ih r üb er Milderhu rst und Juniper Blythe sp rechen wollte. Jedenfalls d rehte sich au sgerechnet in de m Mo ment der Mann am Nebentisch um und fragte, ob er un seren Salzstreu er b enutzen könne. Als ich ihm d en Salzstreu er reichte, sagte meine Mutter: »Ich h abe etwas fü r d ich .« Sie zog eine alte M&S-Tüte aus ihrer Tasche, die sie einmal u mg eschlagen hatte, um das zu schützen, was sie enthielt. »Freu dich nicht zu früh «, fü gte sie h inzu , als sie mir d ie Tüte gab . »Es ist nich ts Neues.« Ich öffnete sie, nahm den Inhalt herau s und betrachtete ih n verdutzt. Es passiert häu fig, d ass Leute mir etwas geben, von d em sie anneh men , d ass es sich zu r Verö ffentlichung eignet, aber ich konnte nicht g laub en, dass jemand so danebeng reifen kon nte. »Kenn st du das n icht mehr? « Meine Mutter schaute mich an, als hätte ich meinen eigenen Namen vergessen. Noch einmal betrachtete ich die zusammengetackerten Blätter, die Kin derzeich nung vorne drauf, die unbeholfenen Buchstaben darüber: »Das Buch von den nassen Tieren«, geschrieben und gezeichnet von Edith Burchill. Über dem Wo rt »Tieren « war mithilfe eines Pfeils das Wo rt »Zauber« in einer anderen Farbe eingefügt word en. Meine Mutter sagte: »Das h ast du g esch rieben . Erinnerst du dich nich t meh r? « »Doch«, log ich. Etwas im Gesicht meiner Mutter sagte mir, dass es ih r wichtig war, dass ich mich erinnerte, und auß erdem - ich fuhr mit dem Finger über einen Klecks, wo der
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Stift zu lang e au f dem Pap ier gezögert hatte — wollte ich mich erinnern. »Du warst so stolz darau f.« Sie neigte den Kop f, u m die kleine Geschichte in meinen Händen zu b etrach ten . »Du hast tagelang im Gästezimmer unter der Frisierkommo d e gehockt und daran gearbeitet.« Das k a m mir vertraut vor. Eine köstliche Erinnerung daran, wie ich in dieser warmen , d unklen Höh le hockte, tauchte au s den Tiefen meines Gedächtn isses au f, und ein Kribbeln ging du rch meinen ganzen Körper: der Staubgeruch des runden Tepp ich s, der Sp alt im Putz, d er gerade b reit g enug war, u m do rt einen Stift au fzubewah ren , die h arten hö lzern en Dielen unter meinen Knien, wäh rend ich zu sah, wie das Sonn enlicht über den Boden kroch. »Du hast ständig an irgendeiner Geschich te g esessen, pau senlos im Dunkeln die Seiten vollgesch rieben. Dein Vater hat sich schon So rgen g emach t, du wü rdest mal eine ganz Sch üchterne werd en und nie Freund e finden , aber du warst einfach nicht zu brems en .« Ich konnte mich daran erinnern , dass ich v iel g elesen hatte, ab er ich erin nerte mich nicht daran, geschrieben zu haben. Als meine Mutter jedoch sagte, ich sei n ich t zu bremsen gewesen, klingelte etwas. Vage Bilder von meinem Vater, wie er den Kopf schü ttelte, wenn ich aus der Bücherei nach Hause kam, wie er mich beim Abendessen fragte, waru m ich mir keine Sachbücher au slieh, was ich mit all dem Märchenunsinn an fan gen wolle, waru m ich nicht lieb er etwas über die wirk lich e Welt lernte. »Ich hatte ganz verg essen, dass ich Geschichten geschrieben habe«, sagte ich, wäh rend ich d as Bu ch u md reh te und üb er d as Verlag ssign et lächelte, das ich au f die Rück seite gezeichnet hatte. »Na ja.« Sie fegte einen Krümel vom Tisch. »Jeden falls fan d ich, du solltest es haben . Dein Vater räumt gerade den Speich er auf, und da ist es mir in die Hände gefallen. Es wäre doch zu schade, es den Silberfischen zu überlassen , od er? Wer weiß, vielleicht hast du ja mal eine Tochter, der du es zeigen möchtest.« Sie richtete sich au f, un d das Kan inchen lo ch in die Verg angenheit sch lo ss sich hin ter ih r. »Und? Wie
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war dein Woch enen de? «, fragte sie. »Hast d u irgendetwas Besonderes gemacht? « Da war es. Das perfekte Fenster, weit o ffen. Einen besseren Einstieg hätte ich mir n icht au sden ken k önnen . Und als ich Das Buch von den nassen Zaubertieren in meinen Händen betrachtete, das vergilbte Pap ier, d ie Filzstiftkleck se, die kin dlichen Zeich nun gen , als mir k lar wu rd e, dass mein e Mutter es all d ie Jah re ü ber aufgehoben hatte, trotz ihrer Bedenken gegenüber meinem brotlo sen Beru f, dass sie au sg erechnet diesen Tag gewählt hatte, u m mich an einen Teil meiner selb st zu erin nern, den ich ganz vergessen hatte, verspü rte ich den unb än digen Wun sch , ih r alles zu erzählen, was ich in Schloss Milderhurst erlebt hatte. Plötzlich war ich fest davon überzeu gt, dass alles gut werd en wü rd e. »Ja«, sagte ich. »Das hab e ich tatsächlich.« »Ach? « Sie lächelte erfreu t. »Etwas ganz Besonderes.« Mein Herz beg ann wie wild zu pochen, mir war, als würd e ich mich selbst von außen beobachten, wie ich vo r dem Ab g ru nd wankte, und mich fragen, ob ich den Sprung wagen wü rd e. »Ich habe an ein er Füh rung teilgenommen«, sagte eine schwach e Stimme , die meiner irgend wie ähnlich klang. »Im Schloss Milderh urst.« »Du ... Was? « Die Augen mein er Mu tter weiteten sich. »Du bist nach Milderhurst gefahren?« Sie hielt meinem Blick stand, als ich n ick te, dann schaute sie weg. Sie drehte ihre Tasse an dem win zig en Henkel hin und her, und ich sah ih r mit äng stlich er Neugier zu, unsicher, was als Nächstes passieren wü rde, gespannt und zugleich unwillig, es zu erfahren. Ich hätte mehr Vertrauen haben sollen . Wie ein herrlicher Sonn enau fgan g, d er einen wolkenbedeck ten Ho rizont erhellt, fan d sie ihre Wü rde wieder. Sie hob den Kopf, lächelte mich an un d stellte d ie Tasse ab . »Na so was«, sagte sie. »Schlo ss Milderhurst. Und wie war's? « »Das Schloss war ... g roß .« Es war das Einzige, was mir einfiel, ausgerechnet mir, die ich mit Worten arbeite. Es lag an meiner Verb lü ffung. Über die unglaubliche Verwandlung, deren Zeugin ich gerade g ewo rd en war. »Wie etwas aus einem Märchen .«
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»Ein e Führung, sagtest du? Ich wu sste gar n ich t, d ass es do rt so etwas gibt. Das sind woh l un sere mo dernen Zeiten .« Sie machte eine Handb ewegu ng. »Hauptsach e, es b rin gt Geld.« »Es war inoffiziell«, sag te ich. »Ein e der Eigentü merin nen hat mich herumgeführt. Ein e sehr alte Dame namens Percy Blythe.« »Percy? « Ein leichtes Zittern in ih rer Stimme, der einzige Riss in der Fassade. »Percy Blythe? Wohn t die immer no ch da? « »Sie sind alle no ch da, Mu m. Alle d rei. Sogar Juniper, die dir den Brief gesch ickt hat.« Meine Mu tter ö ffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, ab er es kam nichts, und sie machte ihn wieder zu . Ganz fest. Sie versch ränkte die Finger auf ih rem Schoß und saß bleich und reglo s da wie eine mar mo rne Statue. Au ch ich rüh rte mich nicht, doch irgend wann k onnte ich das Sch weig en nicht länger ertragen. »Es war unheimlich«, sag te ich und hob meine Teetasse an. Mir fiel auf, d ass meine Hände zitterten . »Alles war verstaubt u nd dü ster, und sie dort alle d rei in dem alten Salon sitzen zu sehen, in diesem großen, alten Haus ... Ich kam mir beinah e v or wie in einem Pu p pen ...« »Juniper ... Ed ie ...« Die Stimme meiner Mutter klan g fremd und dün n. Sie räusperte sich . »Wie ging es ih r? Wie kam sie dir vor? « Womit sollte ich anfangen: d ie k ind lich e Freud e, ih re ung epflegte Erscheinung, die verzweifelten Vo rwü rfe ... »Sie war verwirrt«, sagte ich. »Sie trug ein altmodisch es Kleid, und sie hat mir erzählt, sie wartete au f jeman den , einen Man n. Die Frau in der Pensio n, wo ich übernachtet h abe, hat gesagt, es geht ihr nicht gu t, dass ih re Sch western sich um sie kü mmern .« »Sie ist k rank? « »Demen z. Etwas in der Art.« Vorsich tig fuhr ich fo rt: »Ih r Freu nd hat sie vo r Jahren v erlassen , und davon h at sie sich nie wieder erh olt.« »Ihr Freund? «
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»Genau er gesagt, ihr Verlobter. Er hat sie sitzen lassen, und es heißt, darü ber ist sie verrückt geworden. Buchstäblich verrückt.« »Ach, Edie«, sagte meine Mu tte r. Der leicht gequälte Gesichtsau sd ruck v erwand elte sich in eine Art Lächeln, wie man es einem to llp atschigen Kätzch en schenken würde. »Was du dir b loß immer au sdenkst. Das wirkliche Leben ist gar nicht so.« Das ärgerte mich: Es ging mir au f die Nerv en, ewig wie ein klein es Mädchen behand elt zu werden. »Ich habe n u r wied ergegeben, was man sich im Do rf erzählt. Eine Frau mein te, Juniper sei schon immer lab il gewesen , sch on als jung es Mädchen.« »Ich habe sie gekannt, Ed ie. Du b rauch st mir n icht zu erzählen , wie sie als junges Mädch en war«, fauchte sie mich an. Sie war eing eschnappt , darau f war ich nich t vo rbereitet. »Tut mir leid«, sagte ich . »Ich ...« »Nein.« Sie hob eine Hand, d rü ckte sie leicht an die Stirn, sah sich verstohlen um. »Nein, mir tut es leid . Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist.« Sie seufzte und lächelte un sicher. »Es wird d ie Überraschung gewesen sein. Zu erfahren, dass sie alle d rei no ch leben und immer no ch in diese m Schloss wohnen. Gott, sie mü ssen inzwischen steinalt sein.« Sie runzelte die Stirn, tat so , als wü rd e sie ang estreng t nach rechnen. »Die anderen zwei waren ja schon alt, als ich sie kannte, zumindest kamen sie mir so vo r.« Ich war immer noch verblüfft über ih re heftige Reaktio n und an two rtete vo rsichtig: »Du meinst, sie sahen alt aus? Grau haarig und alles? « »Nein, n ein , das nicht. Schwer zu sagen, was es war. Ich nehme an, sie waren erst Mitte dreißig, aber das war damals ja noch etwas anderes. Und ich war sehr jung . Kind er haben eine andere Perspektive, n icht wah r? « Ich antwo rtete nicht, und sie rechnete auch nicht damit. Wir sch auten un s an , ab er ihr Blick ging durch mich hindurch. »Sie benahmen sich mehr wie Eltern als wie Schwestern «, sag te sie. »Juniper gegenüber, meine ich. Sie waren viel älter als sie, und Junipers Mutter war gestorben, als sie noch
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ganz klein war. Der Vater hat noch gelebt, ab er der h at sich kaum eingemischt.« »Er war Schriftsteller. Raymond Blythe«, sagte ich zö gernd, darau f bed ach t, ih r nicht no ch ein mal zu n ahezutreten, in dem ich ih r erklärte, was sie selb st au s erster Hand wusste. Aber diesmal schien es sie nicht zu stören, und ich wartete darauf zu erfahren, ob ihr bewu sst war, was der Name alles beinhaltete, ob sie sich erinnerte, mir damals das Buch aus der Büch erei mitg eb racht zu haben , als ich k rank im Bett lag. Ich hatte geho fft, dass es mir beim Ausräumen mein er Wohnu ng in die Fing er fallen würde, u m es mitb rin gen u nd ih r zeigen zu kön nen , aber ich hatte es nich t g efun den. »Er hat eine Geschichte geschrieben mit dem Titel Die wahre Geschichte vom Modermann.« »Ja«, sagte sie sehr leise. »Bist d u ihm mal b egegnet? « Sie schüttelte d en Kopf. »Ich habe ih n ein paar mal g esehen , ab er nu r von Weitem. Er war damals schon sehr alt und lebte ziemlich zu rü ckgezogen . Die meiste Zeit hat er in sein em Schreibzimmer oben im Turm verbracht, und da du rfte ich nicht raufgehen. Es war eins der ganz wenigen Verbote.« Sie senkte den Blick, und unter jedem Augenlid pulsierte eine violette Vene. »Man chmal haben sie üb er ihn gesp ro chen. Ich glaube, er konnte g anz sc hön sch wierig sein. Ich h abe ihn mir immer wie König Lear vorgestellt, der seine Töch ter gegeneinander au sspielte.« Es war das erste Mal, dass ich hörte, wie me in e Mutter sich auf eine Figur aus der Literatur bezog, un d es b rach te mich völlig aus dem Konzept. Ich hatte meine Examen sarbeit über Shakespeares Tragödien geschrieben, und sie h atte nie au ch nu r ang edeutet, dass sie die Stücke kannte. »Edie? « Mein e Mu tter sah mich p lötzlich du rch d ring end an . »Hast d u ihn en gesagt, wer du bist? Als du in Milderhurst warst? Hast d u mit ihnen über mich gesp ro chen? Mit Percy und den anderen? « »Nein.« Ich überlegte, ob sie das k ränkte, ob sie mich als Näch stes frag en wü rde, waru m ich ihn en n icht die Wahrheit gesagt hatte. »Nein, hab ich n icht.«
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»Gut.« Sie nickte. »Das war eine gu te Entscheidung . Seh r rücksichtsvoll. Du hättest sie nur verwirrt. Das ist alles so lange her, und es war ja nu r ein kurzer Aufenthalt. Wahrscheinlich haben sie läng st vergessen, dass ich bei ihnen gewesen bin .« Das war meine Chance, und ich erg riff sie. »Das ist es ja gerade, Mum. Sie h aben dich nicht vergessen. Junip er jeden falls nicht.« »Was meinst du d amit? « »Sie h at mich fü r dich gehalten.« »Sie ...? « Sie sah mich fo rschend an. »Woh er weißt du das? « »Sie hat mich Meredith genan nt.« Sie legte die Fingerspitzen an ih re Lippen. »Hat sie ... Hat sie sonst noch etwas gesagt?« Eine Weg gab elun g. Eine Entscheidungsmöglichkeit. Und dann auch wieder nich t. Ich musste behut sam v o rgehen: Wenn ich meiner Mutter erzählte, was genau Juniper gesagt hatte, dass sie sie beschuldigt hatte, ein Versprechen gebroch en und ih r Leben ruiniert zu haben , wäre unser Gespräch mit Sicherheit im näch sten Moment beendet. »Eigentlich nicht«, sag te ich. »Habt ihr euch nahegestanden? « In dem Mo men t stand der Mann am Nebentisch au f und stieß mit seinem enormen Gesäß leicht an un seren Tisch, sodass alles, was darauf stand, ins Wank en g eriet. Ich läch elte abwesend, als er sich entschuldigte, d enn ich war voll u nd ganz damit besch äftigt, die wackelnden Tassen und un ser Gesp räch zu retten. »Wart ihr damals eigentlich Freundinnen, du u nd Ju niper? « Sie wandte sich ih rem Kaffee zu, brauchte, wie mir schien, eine Ewigkeit, um mit ihrem Löffel den Schaum von der Innenseite der Tasse zu sch aben . »Weißt du, das ist so lan ge her, d ass es mir sch werfällt, mich an Ein zelh eiten zu erin nern.« Ein metallisches Klapp ern, als sie den Lö ffel au f der Untertasse ablegte. »Wie gesagt, ich war nu r ein gu tes Jah r do rt. An fang 1 9 4 1 h at mein Vater mich ab geholt.« »Un d du bist nie wieder hingefahren? « »Es war das letzte Mal, dass ich Mild erhu rst geseh en ha be.«
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Sie log. Mir wurde heiß und sch win dlig . »Bist du d ir gan z sicher? « Ein ku rzes Lach en. »Edie — was fü r eine komisch e Frage. Natü rlich bin ich mir sicher. So was vergisst man doch nicht, od er? « Ganz gen au . Ich schluckte. »Eben . Mir ist nämlich etwas Merkwürdiges passiert. Als ich zum ersten Mal vor dem Eingang zu Schloss Mild erhu rst stand - v o r dem g ro ßen Tor un ten an der Zufahrt —, da war ich mir auf einmal ganz sich er, dass ich da schon mal gewesen war.« Als sie nichts sagte, fuhr ich fo rt. »Dass ich mit d ir do rt gewesen war.« Ih r Sch weigen war unerträglich. Plö tzlich wu rd en mir die Cafégeräusch e um uns herum bewusst, das dröh nend e Klopfen, wenn das Kaffeesieb geleert wurde, das Kreischen de r Kaffeemühle, schrilles Lach en irgendwo oben auf der Galerie. Ab er es war, als hö rte ich alles zeitversetzt, als säß en mein e Mutter un d ich jeweils unter ein er eigenen Glasglo ck e. Ich kämp fte g egen das Zittern in meiner Stimme an. »Als ich klein war. Da sind wir mal dah ingefah ren , d u und ich , und wir h aben an diesem Tor gestanden. Es war heiß, da war ein See, u nd ich wollte unbedingt d arin sch wimmen , ab er wir sind nicht in den Park gegangen. Du hast gesagt, es sei zu spät.« Meine Mutter betupfte sich den Mu nd mit ih rer Serviette, langsam, grazil, dann schaute sie mich an . Einen Moment lang meinte ich etwas wie Eingeständnis in ihren Augen aufleuchten zu sehen, dann blinzelte sie, und es war fo rt. »Das bildest du dir ein .« Ich schü ttelte lang sam den Kop f. »Diese To re seh en doch alle gleich au s«, fuhr sie fo rt. »Du hast es wahrscheinlich irg end wo au f einem Foto g esehen oder in einem Film -, und jetzt brin gst du alles du rcheinan der.« »Ab er ich erin nere mich gen au ...« »Ich glaube dir, dass es dir so vo rko mmt. Genauso wie da mals, als du b ehaup tet hast, Mr. Watson von nebenan sei ein russischer Spion, oder als du plötzlich d avon überzeug t warst, wir h ätten dich adop tiert - wir mu ssten dir tatsäch lich
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deine Geburtsurkunde zeigen, erinn erst du dich? « In ih rer Stimme lag ein To n, der mir aus mein er Kindh eit nu r allzu vertraut war. Die au freizen de Selb stsicherh eit ein er unan g reifbaren Respektsp erson, die mir einfach nicht zuhörte, egal, wie lau t ich redete. »Dein Vater hat mich mit dir zu m Arzt g eschick t wegen deiner nächtlich en An gstzuständ e.« »Das ist etwas anderes.« Sie lächelte. »Du hast zu v iel Fantasie, Edie. Das war schon immer so. Ich weiß nicht, wo du das her hast, von mir jeden falls n icht. Und erst rech t nich t von deinem Vater.« Sie hob ih re Handtasche vo m Bod en au f. »Wo wir gerade von ih m red en. Ich mu ss nach Hause.« »Aber Mum ...« Ich spürte, wie der Abgrund sich wied er zwischen uns auftat, und mich pack te die Verzweiflun g. »Du hast deinen Kaffee noch gar nich t au sg etrunken .« Sie warf einen Blick au f ih re Tasse, au f den kalten , g rauen Sch au m am Boden. »Den Rest mö ch te ich nicht.« »Ich bestelle dir einen frisch en, ich ...« »Nein «, sagte sie. »Wie v iel sch ulde ich dir fü r den Cappu ccin o? « »Nichts, Mu m. Bi tte bleib noch.« »Nein.« Sie legte eine Fün fp fu ndno te neb en mein e Untertasse. »Ich bin jetzt schon den ganzen Vormittag unterwegs, und dein Vater ist allein zu Hau se. Du kennst ih n ja: Wenn ich nicht bald zurückko mme, n immt er no ch das g anze Haus au seinander.« Sie drückte ihre feuchte Wange an meine, dann war sie ver schwunden.
Ein Striplokal und Pandoras Büchse Am En d e war es Tante Rita, die mich kontaktierte, und nicht u mg ekeh rt. Währen d ich im Du nk eln tappte und v ergeblich versuchte herau szu finden, was zwischen mein er Mu tter und Junip er Blythe vo rgefal len war, beschloss Tante Rita, fü r mein e Ku sine Saman tha eine Junggesellinnen-Ab sch ied sparty zu o rganisieren. Ich wusste nicht, ob ich e mpö rt sein oder mich g esch meich elt fühlen so llte, als sie mich 189
im Verlag an rief und wissen wollte, ob ich ihr ein exklu siv es Männer-Strip lokal nennen könne, entschlo ss mich aber dan n, das Ansin nen amü sant zu finden und ihr, wie es offenbar meine Art ist, zu helfen . Ich erklärte ih r, so au s dem Kopf wüsste ich kein s, würde mich aber schlau machen , und wir vereinbarten , uns am folgenden Sonn tag heimlich in ih rem Salon zu treffen, wo ich ih r die Ergebnisse meiner Recherchen übergeben würde. Das bedeutete allerdings, dass ich das Sonntag smahl bei meinen Eltern schon wieder ausfallen lassen mu sste, ab er Rita konn te an k einem a nd eren Tag. Ich erklärte meiner Mutter, ich wü rde ih rer Schwester bei den Vo rb ereitung en fü r Sams Ho chzeit helfen , un d d agegen kon nte sie nu r schlecht etwas einwenden . Das Classy Cuts verbirgt sich hinter einem winzigen Ein gang au f der Old Kent Road , eingezwängt zwischen eine m In-die-Plattenladen und der b esten Frittenbud e von Sou th wark . Rita ist eben so von der alten Schule wie die MotownPlatten, die sie samme lt, und ih r Friseu rsalon b ru mmt, weil sie sich au f Wasserwellen , Tur mfrisu ren u nd Silb erblau Tönung fü r Bin go -begeis terte ältere Damen spezialisiert hat. Sie ist schon lange genug im Geschäft, u m retro zu sein , oh ne es zu merk en, und sie erzählt jedem, der ihr zuhört, wie sie im Krieg als spindeldürre Sechzehnjäh rige genau in diesem Salon an gefangen hat und wie sie am 8 . Mai 1 9 4 5 aus eb endiesem Schaufen ster geschaut und beobachtet h at, wie Mr. Harvey aus dem Hutmacherladen gegenüber sich die Kleider vom Leib riss und au f der Straße tanzte, nu r noch bekleidet mit seinem besten Hut. Fün fzig Jah re in ein und demselben Laden . Kein Wunder, dass sie in ihrem Viertel in Southwark sehr beliebt ist, wo das geschäftige Treiben in den Markthallen sich krass ab setzt von der elitären Glitzerwelt in den Docklands. Einige ih rer ältesten Kund innen kannten sie schon, als sie als kleines Mäd chen in der Besenkammer hin ter dem Friseu rsalon spielte, und sie lassen niemanden außer ih r an ih ren Kopf, um ihnen eine lavendelfarbene Dauerwelle zu verp assen. »Die Leute sind nich t du mm«, sagt Tante Rita immer, »wenn man nett zu ihnen ist, bleiben sie einem treu.« Außerdem hat
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sie ein u ntrüg lich es Hän dchen dafü r, die n euesten Modefrisu ren anzubieten, und das ist auch nich t schlech t fürs Geschäft. Ich kenne mich mit Geschwistern nicht besond ers gu t au s, ab er ich kann mir nich t vo rstellen, dass es irgend wo zwei geg en sätzlich ere Schwestern gibt. Meine Mu tter ist reserviert, Rita üb erau s k ontaktfreudig; mein e Mutter bevo rzugt blitzb lank e Pu mp s mi t Blockab satz, Rita träg t schon zu m Frühstü ck Pfen nigabsätze; meine Mutter ist ein Bu ch mit sieben Siegeln, was Familienanekdoten angeht, Rita dagegen eine sp rudeln de Quelle d er In formation. Und ich weiß da s aus erster Hand. Als ich n eun war und meine Mutter in s Krankenhaus mu sste, um sich die Gallensteine en tfernen zu lassen, hat mein Vater mir eine Tasche gep ack t und mi ch zu Rita geschick t. Ich weiß nich t, ob meine Tante in tuitiv g espürt hat, dass der Sprö ssling vo r ihrer Tü r keinen Bezug zu seinen Wu rzeln hatte, oder ob ich ihr ein Loch in den Bauch gefragt habe, oder ob sie es einfach nu r als willko mmen e Gelegenheit betrachtete, meine Mutter zu ärgern und in d e m ewig währenden Geschwisterk rieg einen Schlag zu land en, auf jeden Fall hat sie die Woche genutzt, um mich über eini ges aufzuklären. Sie zeigte mir v ergilbte Fotos, die bei ih r an den Wänden hingen , erzäh lte mir lustige Geschichten aus der Zeit, als sie in meinem Alter gewesen war, und malte mir ein lebhaftes Bild mit Farb en und Gerü chen und Stimme n , die mir plötzlich etwas klarmachten , was ich scho n lange unterschwellig gewusst hatte. Das Hau s, in dem ich woh nte, d ie Familie, in der ich aufwuchs, war ein steriler, einsamer Ort. Ich weiß no ch, wie ich bei Rita auf d er klein en Gästematratze lag, während meine vier Ku sinen und Vettern um mich herum leise schnarchten und sich im Schlaf b eweg ten , und ich mir wünschte, Rita wäre meine Mutter. Wie ich mir wünschte, in einem warmen , unaufgeräu mten Haus voller Gesch wister und alter Geschichten zu wohnen. Und ich erinnere mich auch an die Schuldgefühle, die mich im selben Moment überkamen, wie ich die Augen fest zusammen kn iff und mir meinen treu lo sen Wun sch vo rstellte wie ein Stück zerknüllte Seide, das
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ich au sb reitete und v om Wind davon trag en ließ, als h ätte es nie existiert. Aber der Wunsch hatte existiert. Wie auch immer. Es war An fang Juli, u nd an dem Tag, als ich zu der Verabredung mit Rita ging, war es so heiß, dass man kaum Luft bekam. Ich klopfte an die Glastü r und erblickte mein müdes Gesicht in der Scheibe. Eins wurde mir sofort klar: Sich ein So fa mit einem an Blähung en leidend en Hund zu teilen trägt nicht unbedin gt zu einem g esunden Teint bei. Ich lu gte an dem »Geschlo ssen «-Schild v orbei u nd entdeck te Tante Rita, die, eine Zigarette zwischen den Lipp en, im Hinterzimmer an einem K artentisch saß und etwas Kleines, Weißes betrachtete, das sie in den Hän den hielt. Sie bed eutete mir ein zutreten . »Edie, Lieb es«, rief sie gegen das Bimmeln der Tü rglock e und die Musik der Supremes an, »leih mi r do ch mal deine Augen, Sch ätzchen .« Tante Ritas Salon zu betreten ist ein bisschen wie eine Reise in die Vergangenheit. Die Boden fliesen im Sch ach brettmuster, die Kunstledersessel mit den giftg rünen Kissen, di e perlmu tt-farbenen Trock enhauben an au sziehb aren Armen . An den Wänden hinter Glas Poster von Marv in Gaye und Diana Ro ss und den Temptations. Die immergleichen Gerü che nach Wasserstoffperoxid und dem Fritten fett vo n nebenan, in einen ewigen Kamp f um die Vo rh errschaft verstrickt... »Ich versuche die g anze Zeit, das hier einzu fädeln «, sag te Rita, ohn e die Zigarette aus dem Mu nd zu neh men , »aber als wäre es nicht schlimm g enug, dass mein e Finger immer steifer werd en, will mir dieses v erdammte Bän dchen ein fach nicht geho rch en.« Sie hielt mi r das Ding hin, und bei näherem Hinsehen stellte ich fest, dass es sich um einen kleinen Beutel aus weiß er Spitze handelte, an dessen o berem Rand sich Löch er fü r eine Zugschnur befanden. »Das sind Geschenke fü r Sams Freu ndinn en«, sagte Tante Rita mit einer Kinnbewegung zu einem Karton zu ih ren Fü ßen, in d em sich lauter solche Beutelchen befanden. »Also, das werden sie sein, wen n sie fertig und mit Süß igkeiten g e-
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füllt sind .« Als sie mir den Beutel un d das Bän dchen gab , an denen sie sich abgemüht h atte, fiel ih r d ie Asch e von der Zigarette. »Ich hab Teewasser au fgesetzt, aber im Kühlschrank ist auch Limo, falls du lieber was Kaltes mö ch test.« Allein b ei dem Ged anken bekam ich ein en trockenen Hals. »Liebend gern .« Eigentlich assoziiert man das Wort nicht unbedingt mit der Schwester seiner Mu tter, aber es ist zutreffend, also benutze ich es: Meine Tante Rita ist sex y. Als ich ih r zu sah , wie sie zwei Gläser mit Limo nade füllte, d er eng e Rock üb er dem runden Hintern gespannt, ih re trotz v ier Schwangersch aften vo r über d reißig Jah ren immer noch schmale Taille, kamen mir d ie wenigen Anekdo ten , d ie ich meiner Mu tter über die Jahre entlockt hatte, du rchaus glaubh aft vor. Natü rlich waren sie ausnahmslos als absch reckend es Beispiel ged ach t gewesen, für Dinge, die anständi ge Mädch en nich t taten , allerding s hatten sie ein en unb eab si chtigten Effek t geh abt: Sie hatten in mein er Vo rstellung d ie Legende von d er b ewun dernswerten , reb ellischen Tante Rita gesch affen . »Hier, Liebes.« Sie reichte mir ein Martiniglas, in dem lauter Bläschen tanzten, ließ sich mit einem Seu fzer au f ih ren Stuhl fallen und befühlte ih re Tu rmfrisur mit allen zehn Fingern. »Puh«, sagte sie. »Was fü r ein Tag. Gott - du sieh st so müd e aus, wie ich mich fühle.« Ich trank einen großen Schluck Limonade, und die Kohlen säure schien mir die Kehle zu verätzen. Die Temp tations stimmten gerade My Girl an. »Ich wusste gar nicht, dass du sonntags geöffnet hast«, sagte ich. »Hab ich auch nicht, aber eine meiner alten Stammkundinnen brauchte eine frische Tönung fü r ein e Beerd igung - nicht ih re eigene, Gott sei Dank -, und ich hab es nicht übers Herz geb rach t, sie abzu weisen . Man tut, was man kann , nicht wahr? Manch e von denen g ehö ren ja scho n fast zu r Familie.« Sie begutachtete das Beutelch en, in d as ich d as Bändchen eingefädelt hatte, zo g es zu und wieder au f, wobei ih re lan gen, pinkfarbenen Fingernägel leise k lackerten . »Wund erbar. Bleib en nu r noch zwanzig.« Ich salu tierte, als sie mir d en näch sten Beutel gab .
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»Außerdem kann ich hier unge stört v on neu gierigen Augen ein paar Hochzeitsvorbereit ungen treffen.« Wie zu r Erklärung riss sie die Augen weit auf und klappte sie wieder zu wie Fensterläden . »Mein e Samantha ist n ämlich ganz schön neugierig, das war sie schon als Kind. Da hat sie schon die Schränke durchwühlt, bis sie die Weihnachtsgeschenk e gefunden hat, und d ann hat sie ih re Gesch wister v erblü fft, in dem sie geraten hat, was sich in d en Päckch en un ter de m Baum befand .« Sie nahm eine Zigarette au s einem Päckchen au f dem Tisch. »Kleine frech e Gö re.« Sie riss ein Streichholz an. An der Zigarettenspitze lod erte ein Flämmch en au f, sackte in sich zusammen und glüh te friedlich weiter. »Un d du? Eine jung e Frau wie du hat doch sicherlich an einem Sonntag etwas Besseres zu tun? « »Etwas Besseres? « Ich hielt mein zweites weißes Beutelchen mit der eingefädelten Ko rdel h och . »Was kö nnte besser sein? « »Ganz schön frech «, sag te sie. Ihr Läch eln erin nerte mi ch auf eine Weise an me in e Groß mutter, wie es das Lächeln meiner Mutter nie tut. Ich hatte meine Großmutter mit einer Inbrunst geliebt, die meinen kindlich en Verdacht, ich wäre ad optiert wo rd en, Lügen strafte. Solange ich sie k annte, hatte sie allein gelebt u nd hatte es, auch wenn sie über Angebote nicht klagen konnte, wie sie stets b etonte, ab gelehnt, wieder zu heiraten und sich zu r Sklavin ein es alten Mannes zu mach en , da sie sich noch gut d aran erinnerte, wie es war, die Gelieb te eines jungen Mannes zu sein. Jeder Topf findet sei nen Deckel, hatte sie mir häufig mit ernster Miene erklärt, und sie war dem Herr gott dankb ar, d ass sie in mein em Groß vater ihren Deckel gefund en hatte. Den Mann meiner Groß mu tter, den Vater meiner Mutter, h abe ich nie gek annt, zu min d est habe ich keine Erinnerung an ih n, den n er starb , als ich d rei war, und d ie wenigen Male, die ich n ach ih m f rag te, hatte meine Mutter mit ihrer Abn eigun g, alte Geschichten aufzuwärmen, ausweich end geantwo rtet. Da war Rita Gott sei Dank mitteilsamer gewesen. »Also «, sagte sie, »hast du was rau sgefund en? « »Allerding s.« Ich k ramte in meiner Tasche nach dem Zettel, faltete ihn auseinander und la s den Namen vo r, den Sarah
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mir g enannt h atte: »Der Rox y Club . Ich h ab auch die Telefonn u mmer .« Tante Rita streckte ih re Hand au s, und ich gab ih r den Zettel. Sie spitzte die Lippen so fest, dass sie sich kräuselten wie einer ihrer kleinen Beutel. »Roxy Club«, sagte sie. »Und, ein gu ter Laden? Nobel? « »Mein er Quelle zu fo lge ja.« »Gut gemacht, Lieb es.« Sie faltete den Zettel zusammen , steckte ih n in ih ren BH und zwinkerte mir zu. »Als Näch ste bist du dran, Edie.« »Wie bitte?« »Zu m Traualtar.« Ich läch elte zaghaft und zu ckte die Schultern . »Wie lang e seid ihr jetzt schon zu sammen , du u nd dein Freund? Sechs Jahre? « »Sieben.« »Sieben Jahre.« Sie legte den Kopf schief. »Der so llte dich lieber bald ehelich en, son st läufst du ih m am En d e noch weg. Weiß er denn nich t, wa s er für einen guten Fang gemacht hat? Soll ich mal ein ernstes Wö rtch en mit ih m reden? « Selb st wenn ich nicht gerade versucht h ätte, eine Tren nung zu v erheimlichen, wäre das ein beäng stig ender Ged anke gewesen. »Ehrlich g esagt ...« Ich überlegte krampfhaft, wie ich sie v o m Thema ablenken so llte, ohn e mich zu v erplap pern . »Ich glaube, wir sind b eid e nicht besond ers wild darauf zu heiraten.« Sie zog an ih rer Zigarette und kniff ein Au ge halb zu, während sie mich mu sterte. »Ach ja? « »Ich fü rchte ja.« Das war g elogen . Teilweise. Ich selb st würde sehr gern heiraten. Dass ich während der Jahre un serer Beziehung Jamies zyn ische Ablehnun g des ehelich en Glücks ak zeptiert hatte, stand in krassem Widerspruch zu meiner von Natur aus ro man tischen Veranlagun g. Das Einzige, was ich zu meiner Verteidigun g vorbrin gen kann, ist, dass man meiner Erfahrung nach, wenn man jemanden liebt, bereit ist, alles zu tun, u m d iesen Men schen zu halten . Während Rita lang sam ihren Rauch au satmete, spiegelten sich nacheinander Entgeisterun g, Verblüffung und schließ-
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lich Resignation in ih rem Gesicht. »Tja, v ielleich t h abt ih r ja recht. Das Leben geht einfach weiter, weiß t du , oh ne dass man es mer kt. Du lernst jemanden k ennen, du fäh rst bei ih m im Au to mit, du heiratest ihn und k riegst Kind er. Und dann, eines Tages, stellst du fest, dass euch nichts verb indet. Du sagst dir, dass das früher mal anders war, es muss ja anders gewesen sein - waru m hättest du den Kerl sonst heiraten sollen? -, ab er d ie sch laflosen Nächte, die Enttäuschungen, die So rg e. Schockiert erken nst du , dass du meh r Jah re hin ter dir hast, als vor dir liegen. Na ja ...« Sie läch elte mich an, als hätte sie mir gerade ein Backrezept verraten anstatt einen gu ten Grund , d en Ko pf in den näch stbesten Gaso fen zu steck en. »So ist das Leben, nicht wahr? « »Das ist großartig, Tante Rita. Das so lltest du unb edingt in deiner Hochzeitsrede an sp rech en.« »Gan z schön frech.« Während Tante Ritas au fmunternde Worte noch in dem verrau chten Zimmer h ing en , nah men wir d as n äch ste Beu telch en in Angriff. Der Platten spieler lief, Rita su mmte mit, als ein Mann uns mit sa mtener Stimme au fforderte, sein Lächeln an zu sehen . Und schließlich hielt ich es nicht mehr aus. So gern ich Rita besuche, diesmal war ich mit einem Hintergedanken geko mmen . Meine Mutter und ich hatten seit dem Nach mit tag im Café kaum miteinander gesprochen. Ich hatte unsere nächste Verabredung ab gesag t, unter dem V o rwand, v iel Arbeit im Verlag zu haben . Ich ließ sogar den An ru fb ean two rter an und nah m n icht ab , wenn ich hö rte, d ass mein e Mutter sich meldete. Ich fühlte mich einfach verletzt. Vielleicht war das kind isch , ab er ich g laub e es n icht. Dass meine Mutter mir n ie vertraute, d ass sie rundweg bestritt, mit mir an dem Schlosstor gestanden zu haben, dass sie behaup tete, ich hätte die ganze Geschich te erfunden , tat mir weh und bestätigte mich nur in meinem Entsch luss, d ie Wah rheit h erau szu finden. Und jetzt, wo ich mich schon wieder u m un ser sonntäg liches Mittagessen ged rü ckt und mein e Mutter ern eut vo r den Kop f gestoßen hatte und in de r Affenhitze q uer du rch die Stadt gefahren war, wollte, konnte, du rfte ich nicht unverrichteter Ding e wieder ab ziehen . »Tante Rita?«, sag te ich. »H mm? « Sie b etrachtete stirnrunzelnd das Bändchen, das sich in ih ren Fing ern verh eddert hatte.
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»Ich wo llte mit d ir üb er etwas reden .« »H mm? « »Üb er Mu m.« Ein Blick, so scharf, dass er k ratzte. »Geht es ih r g ut? « »Ja, ja, es geht ihr gut. Es ist n ich ts d ergleichen . Ich hab einfach ein bissch en über die Vergan genh eit nachged ach t.« »Ah . Das ist n atü rlich was anderes, die Vergangenh eit. U m welchen Teil der Vergan genh eit geh t es den n? « »Den Krieg.« Sie legte das Beutelch en weg. »Na so was.« Ich sah mich vor. Tante Rita erzählt gern , aber ich wusste, dass es sich um ein heikles Thema h and elte. »Ih r wart doch ev akuiert, du und Mum und Onkel Ed.« »Stimmt. Ku rz. Das war g rauenh aft. Das ganze Gered e von frisch er Luft. Alles du mmes Zeug . Nieman d erzählt dir von dem Gestank auf dem Land , von den Misthaufen an jeder Ecke. Und zu un s h aben sie gesagt, wir wären schmutzig! Seitdem sehe ich Kühe und Mensch en mit an deren Augen. Ich konnte es gar nich t erwarten , wieder nach Hau se zu kommen, Bomben hin od er h er.« »Un d Mu m? Ging es der genauso?« Ein ku rzer, arg wöhnischer Blick . »Waru m? Was hat sie dir erzählt? « »Nichts. Sie hat mir überhaup t nich ts erzählt.« Rita richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das weiße Beutelchen, aber es lag Befangenheit in ih rem n ach unten gerichteten Blick. Ic h kon nte beinah e seh en, wie sie sich au f die Zun ge biss, u m all die Dinge zu rückzuhalten, d ie herau ssprudeln wollten, die sie aber vorsich tshalber fü r sich be hielt. Ich kam mi r vo r wie ein e Verräterin , ab er die Gelegenheit war zu günstig. Jedes mein er Wo rte versetzte mir einen kleinen Stich: »Du weißt ja, wie sie ist.« Tante Rita schn iefte und witterte meine Ein sch meich elei. Sie schü rzte d ie Lippen u nd musterte mich einen Momen t lang au s dem Au genwin kel. Dann neigte sie den Kop f zu mir. »Deine Mutter fand es g roßartig. Die wollte gar nicht wieder nach Hau se.« In ihrem Blick lag so etwas wie Verunsicherung. Offenbar hatte ich einen wund en Pu nkt berüh rt.
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»Welches Kind will nicht bei seinen Eltern , seiner Familie sein? Welches Kind wü rd e lieber bei and eren Leuten b leiben? « Ein Kind, das sich fehl am Platz füh lt, d achte ich u nd mu sste an meine geheimen Wünsche im dunklen Schlafzimme r mein er Ku sin en denken. Ein Kind, das sich nicht zugehörig fühlt. Ab er ich sagte nich ts. Ich hatte den Eind ru ck, dass für jemanden wie meine Tante, die das Glück gehabt hatte, g enau den Platz zu finden , an den sie g ehö rte, keine Erklärung ak zep tabel wäre. »Vielleicht h atte sie Ang st vo r den Bo mben«, sagte ich schließlich. Meine Stimme klang brüchig, und ich räusperte mich. »Vo r dem Blitzk rieg .« »Qu atsch . Sie h atte keine Angst, nicht mehr als wir anderen. Andere Kinder wollten lieb er mittendrin im Geschehen sein. Alle Kin der aus unserer Straße sind wieder nach Hause geko mmen , wir sind zusammen in die Luftschutzkeller gegangen . Und dein Onkel? « Ritas Miene bekam etwas Ehrfü rchtig es bei der Erwähnung me ines gefeierten Onkels Ed. »Der ist aus Kent nach Hau se getramp t, weil er u nbed ing t dabei sein wollte, als es lo sgin g. Mitten in einem Bo mben angriff stand er plötzlich vor der Tür, gerade rechtzeitig, um den armen Depp von neb enan in Sicherheit zu bringen. Aber Merry nicht, o nein. Im Gegenteil. Die hat sich gesträub t, nach Hause zu ko mme n, bis un ser Vater h ingefah ren ist und sie abg eholt hat. Un sere Mutter, deine Großmutter, ist nie darüber h inweggeko mmen . Sie hat es nie au sgesp rochen, das war nicht ihre Art, sie hat immer so getan, als wäre sie froh , Merry au f dem Land in Sicherhe it zu wissen, aber wir wu ssten es besser. Wir wa ren ja nicht blind.« Ich kon nte mein er Tante n icht in die Au gen seh en. Ich hatte das Gefühl, nicht besser zu sein; sch uldig du rch Mittäterschaft. Der Verrat me in er Mu tter an Rita war immer n och real, er hatte eine Feindsch aft zwisch en den Schwestern au sgelö st, die selbst nach fünfzig Jahren noch schwelte. »Wann war d as? «, frag te ich und nahm mir den nächsten weißen, un schuldigen Beutel vo r. »Wie lang e war sie weg? « Tante Rita boh rte ein e pink farbene Kralle in ih re Unterlip pe. »Lass mich überleg en, das mit d en Bo mb ardierung en ging schon eine ganze Weile, aber es war noch nicht Winter,
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denn mein Vater hat Sch lü sselb lumen mitgebracht, als er mit ihr zurückkam; er hat alles getan, um dein e Groß mu tter zu trösten, es ihr so leicht wie möglich zu machen . So war mein Vater.« Der Fing ernag el klop fte einen nachdenklich en Rh yth mu s. »Das mu ss irgendwann einundvierzig gewesen sein. März, April, wü rde ich sagen.« In d em Pu nk t hatte sie also die Wah rheit gesagt. Mein e Mu tter war ein gutes Jah r fo rt g ewesen - und nach Hause geko mmen ein halbes Jah r, b evo r Jun iper Blythe d ie g roße Enttäuschung erlebte, von der sie sich n ie wied er erholte, bevo r Thomas Cavill sich mit Jun iper verlobte und sie dann sitzen ließ. »Hat sie je ...« Ich wu rd e von Hot Shoe Shuffle übertönt. Tante Ritas n agelneu es Hand y in Fo rm eines roten St iletto -Schuh s vib rierte au f de m Tresen hin und her. Geh nicht ran, fleh te ich innerlich, weil ich nicht wo llte, d ass irgendetwas un ser Gespräch un terbrach, jetzt, wo es en dlich in Gang g ekommen war. »Das ist garan tiert Sam«, sagte Rita, »die mir n ach schnü ffelt.« Ich nick te, und wir ließen die letzten b eiden Takte verklin gen. Danach v erlo r ich k eine Zeit und kam g leich wieder zu r Sache: »Hat Mum jemals vo n ih rer Zeit in Milderh u rst erzählt? Von den Leuten, b ei d enen sie gewo hnt hat? Von den Schwestern Blythe? « Rita v erd rehte die Augen. »Am An fang hat sie vo n nich ts anderem geredet. Die ist un s g anz schön damit auf die Nerven geg angen , das kann ich dir sagen. Sie war n u r glü cklich, wenn ein Brief von dort k am. Dann h at sie immer g anz ge heimn isvoll g etan, die Briefe hat sie immer erst au fgema cht, wenn sie allein war.« Ich mu sste daran denken, wie Rita sie in d er Schlange der evakuierten Kinder in Kent alleingelassen hatte. »Ihr beide habt euch als Kinder nicht besonders nahgestanden.« »Wir waren Schwestern - das wäre ja nicht no rmal gewesen, wenn wir uns nicht ab und zu gestritten hätten, so b eeng t, wie wir damals in dem kleinen Haus gewohn t haben ... Ab er wir haben un s eigentlich ganz gut verstanden. Das heißt, bis zum Krieg, bis sie diese Leu te kenn engelern t h at.« Rita
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nah m d ie letzte Zig arette aus d em Päck chen , zünd ete sie an und b lies den Rau ch in Richtung Tür. »Sie hatte sich verändert, als sie zurückkam, und zwar nich t nur in ih rer Art zu sprechen . Die haben ih r da in dem Schloss alle mö glichen Flausen in den Kopf gesetzt.« »Was denn fü r Flau sen? «, fragte ich, ab er ich k annte die Antwort bereits. Etwas Ab weh ren des hatte sich in Ritas Stimme geschlichen, etwas, das mir vertraut war: Es war der Schmerz, der du rch das Gefü hl entsteht, bei einem unfairen Verg leich sch lecht wegg eko mmen zu sein. »Flau sen eben.« Die pink farbenen Fingern ägel einer Hand flatterten zu ih rer Tu rmfrisu r, und ich fü rchtete scho n, sie würde nicht mehr dazu sag en. Sie b etrachtete die Tü r. Ih re Lipp en bewegten sich , wäh rend sie d ie v erschieden en Antwortmöglichk eiten du rchging. Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit erschien , schaute sie mich an . Die Kassette war abgelaufen, und es herrschte eine sonderbare Stille in dem Friseursalon. Es war, als g äbe die Ab wesenheit von Mu sik dem Haus Gelegenheit zu ächzen und zu seufzen und sich erschöp ft über die Hitze, den Geruch und den Tribut zu beklagen , den die Zeit von ih m fo rderte. Tante Rita reckte d as Kin n vo r und sagte lang sam u n d d eutlich: »Sie ist als der reinste Sn ob zu rück geko mmen . So , jetzt ist es raus. Als sie ging, war sie eine von uns, und als sie zurückkam, wollte sie was Besseres sein.« Etwas, das ich immer gespürt hatte, nahm Gestalt an: die abschätzig e Art, wie mein Vater von mein er Tante, meinen Vettern und Ku sinen , ja so gar von meiner Groß mutter sp rach, in gedämp ften Wo rtwech seln zwisch en ih m u nd meiner Mutter, die unterschied liche Art, wie bei uns zu Hause und bei Tante Rita alles g ehandhabt wu rde ... Meine Eltern waren Sn ob s, und ich schämte mich fü r sie un d au ch fü r mich, aber dann war ich seltsame rweise sauer auf Rita, weil sie es ausgesprochen hatte, und schämte mich , weil ich sie dazu ged räng t h atte. Das weiße Beutelchen, das ich gerade in Arbeit hatte, verschwamm vor meinen Augen. Tante Rita dagegen war p lötzlich gu t gelaun t. Die Erleich terung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Die un ausgesprochene Wahrheit war ein Ab szess, d er jah rzehn telang darau f
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gewartet hatte, dass jemand ihn öffnete. »Bücherwissen«, schnaubte Rita, während sie ihre Zigarette au sd rü ckte, »von was anderem hat sie nicht meh r geredet, als sie wieder d a war. Sie hat nur noch die Nase g erü mp ft üb er die kleinen Zimmer in un serem H aus und über Dad s Arbeiterlied er, und dann hat sie sich in der Leihb ücherei einquartiert. Hat sich mit irgendeinem Buch in einer Ecke versteckt, wenn sie eigentlich im Hau s helfen so llte. Und dann hat sie auch no ch an gefan gen ru mzu spinnen, sie wollte fü r die Zeitung sch reiben. Sie hat sogar Sachen eingesch ick t! Kann st du dir da s vo rstellen?« Mir fiel buch stäblich die Kinnlade h erunter. Meredith Bu rch ill schrieb keine Geschich ten, und sie hatte erst rech t nichts an Zeitung en g esch ickt. Zuerst dachte ich, Rita wü rd e üb ertreiben, ab er was sie sagte, war so vollkommen verblüffen d, d ass es n u r wahr sein konnte. »Ist den n irg endetwas davon gedruckt worden? « »Natü rlich nicht! Genau d as meinte ich ja: Das sind die Flausen, die die ihr in d en Ko pf gesetzt haben . Sie hat sich auf einmal für was Besseres gehalten, und wohin so was führt, das weiß man ja.« »Was waren das den n fü r Geschich ten , die sie gesch rieb en hat? Wovon hand elten sie? « »Keine Ahnung . Sie hat sie mir n ie gezeig t. Wah rscheinlich hat sie gedacht, ich wü rd e sie sowieso nicht v erstehen. Ab er ich hätte auch g ar k eine Zeit d azu geh abt, da hatte ich nämlich Bill gerade kennengelern t, und kurz darauf hab ich hier angefangen. Es war sch ließ lich Krieg, nich t wah r.« Rita lachte, aber die Verbitterung ließ die Falten u m ih ren Mu nd sch ärfer h ervo rtreten. Sie waren mir bisher nie aufgefallen. »Hat irgendjemand von der Familie Blythe sie mal in Lon don besu cht? « Rita zuckte die Schultern . »Merry war fu rchtb ar g eheimniskrämerisch, seit sie wied er zu rü ck war. Sie ist dauernd lo sgezogen, ohn e un s zu sag en, wo sie hinwollte. Sie hätte sich mit sonst wem treffen kön nen.« War es d ie Art, wie sie das sagte, eine Andeutung, die in den Wo rten verborgen lag? Oder war es die Art, wie sie plötzlich meinem Blick auswich? Ich bin mir nicht sicher.
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Wie auch immer, ich wusste sofort, d ass hinter ihren Wo rten mehr steckte. »Mit wem d enn, zum Beispiel?« Rita betrachtete mit zu sammengekn iffenen Augen die Beutelch en in dem Karton, den Ko pf sch ief gelegt, als hätte sie no ch nie etwas so In teressantes gesehen wie d iese sauberen weißen und silbern en Reih en. »Tan te Rita? «, sagte ich gedehnt. »Mit wem hätte sie sich treffen so llen? « »Also gut.« Sie verschrän kte d ie Ar me, so dass ih re Brüste zu sammen geq uetscht wu rd en, d ann schaute sie mich an. »Er war Lehrer, das war er zumindest vor dem Krieg gewesen; in der Näh e von Elephant and Castle.« Theatralisch wedelte sie sich Luft zu. »O, lá, lá. Gu t sah der au s. Und sein Bruder auch. Wie Filmstars. So athletisch e, schweigsame Typen. Seine Familie wohnte ein p aar Straßen weiter, und selbst deine Großmu tter h at immer einen Grund g efund en, au s d em Fenster zu schauen, wenn er vo rbeiging. Alle ju ngen Mädchen waren in ihn verkn allt, einsch ließ lich d einer Mutter. Und ein es Tages«, fügte sie schulterzuckend hinzu , »hab ich sie halt zusammen geseh en.« Mir traten die Augen au s dem K op f. »Was?«, sto tterte ich . »Wo? Wie?« »Ich b in ih r nachgegangen.« Sie fühlte sich so sehr im Rech t, dass kein Platz war fü r Verlegenheit oder ein sch lech tes Gewissen. »Sie war meine kleine Schwester, sie benahm sich nicht normal, und das waren gefährliche Zeiten. Ich wollte mich nur verg ewissern , dass alles in Ordnu ng war.« Es war mir vollkommen egal, warum sie meiner Mutter gefolgt war; ich wollte nu r wissen , was sie gesehen hatte. »Wo hast du die beiden gesehen? Und was hab en sie gemacht?« »Ich hab sie nur von Weitem g eseh en, aber das h at g ereicht. Sie saßen au f dem Rasen im Park, nebenein ander, ganz en g. Er redete, und sie hörte ihm zu - richtig aufmerksam, wohlgemerkt -, dann hat sie ih m was gegeben, und er ...« Rita schüttelte das leere Zigarettenpäckch en. »Verd ammte Kip pen. Ich sch wö re d ir, die rauchen sich selbst.« »Rita!«
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Ein ku rzer Seufzer. »Dann haben sie sich gekü sst. Merry und Mr. Cavill, mitten im Park, wo sie jeder seh en k onnte.« Welten ko llidierten, Feu erwerk e ex plodierten , Sternchen flog en du rch die d unklen Eck en meines Verstandes. »Mr. Cavill?« »Ganz genau, Edie, Sch ätzchen: der Leh rer deiner Mutter, To mmy Cavill.« Mir fehlten die Worte, jedenfalls solche, die einen Sinn ergeben hätten . Ich mu ss ein Geräusch von mir gegeben haben, denn Rita hielt sich eine Hand ans Ohr un d sag te: »Wie bitte? «, ab er ich kon nte es nich t wiederho len . Meine Mu tter, ein Teenager, hatte sich v on zu Hause fo rtgeschlichen, u m sich heimlich mit ih rem Lehrer, dem Verlo bten vo n Juniper Blyth e, einem Mann, in d en sie verknallt war, zu treffen . Dabei hatte sie ih m etwas gegeben , und vo r allem, sie hatte ih n gek üsst. Und all das hatte sich in den Monaten ab gespielt, bevor Tho mas Cav ill Junip er sitzen gelassen hatte. »Du bist ja ganz blass u m d i e Nase, Liebes. Möch test du no ch ein Glas Limo? « Ich nickte. Sie füllte mein Glas. Ich trank . »Weißt du, wenn d ich das alles so seh r interessiert, so lltest du die Briefe lesen, die d ein e Mutter aus dem Schloss gesch ickt hat.« »Welche Briefe? « »Die, die sie nach Hause geschrieben hat.« »Das wü rde sie niemals zulassen.« Rita betrachtete einen Farb klecks au f ih rem Hand gelen k. »Sie braucht's ja n icht zu erfahren.« Meine Augen weiteten sich. »Sie waren zwischen den Sach en deiner Groß mu tter.« Rita sch aute mir in die Augen. »Das ganze Zeug ist nach ih re m Tod bei mir geland et. Sie hat die Briefe all die Jahre aufgehoben, sentimental, wie sie war, eg al, wie sehr sie sie verletzt hab en. Sie war abergläubisch, dachte, man darf Briefe nicht weg werfen. Ich such sie für dich raus, wenn du willst.« »Ich ... ich weiß n icht, ich weiß nich t, ob ich ...« »Es sind Briefe«, sag te Rita mit einem so du rchtriebenen Grinsen, dass ich mir ganz dämlich v orkam. »Die sin d dafü r da, g elesen zu werd en, od er? «
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Ich nickte zög ernd. »Vielleicht helfen sie dir ja zu versteh en, was dein er Mutter da ob en in ih rem Schloss du rch den Kop f geg angen ist.« Der Gedanke, die Briefe mein er Mutter ohne ihr Wissen zu lesen, weckte mein schlechtes Gewissen , doch ich b rachte es zu m Sch weig en. Rita hatte recht: Meine Mutter mochte die Briefe geschrieben haben, ab er sie waren an ih re Familie in London g erichtet. Es war Ritas gu tes Recht, sie mir zu geben, und es war mein gutes Recht, sie zu lesen. »Ja«, k rächzte ich . »Gib sie mir.«
Ein Gespräch im Wartezimmer
Und weil das Leben man ch mal so sp ielt, erlitt mein Vater, während ich die Geheimnisse me in er Mutter zusammen mit der Schwester enträtselte, vor der sie sie am dringendsten verbergen wollte, einen Herzin farkt. Herb ert erwartete mich mit der Nach rich t, als ich n ach Hause kam. Er nah m meine Hände und berich tete mir, was passiert war. »Es tut mi r so sch recklich leid«, sagte er, »ich hätte dir eher Bescheid gesagt, ab er ich wusste nicht, wo du bist.« »O Gott ...« Pan ik ü berkam mich. Ich drehte mich zur Tür um, dann wieder zu Herbert. »Ist er ... ? « »Er ist im Krankenhaus, sein Zu stand ist stabil, glaube ich. Deine Mutter hat nicht viel gesagt.« »Ich muss ...« »Ja, ko mm. Ich ru fe d ir ein Taxi.« Die ganze Fahrt über plauderte ich mit dem Fahrer. Ein kleiner Mann mit sehr blauen Augen und b rau nem Haar, d as zu ergrauen begann, Vater von drei kleinen Kindern . Und während er mir erzählte, was sie alles anstellten , und mit der gesp ielten Verzweiflung , die Eltern kleiner Ki nder gern zur Schau stellen, um ihren Stolz zu überspielen, den Kopf schüttelte, lächelte ich u nd stellte Fragen , u nd meine Stimme klang ganz normal, ja sogar unbesch wert. Wir erreich ten d as Kran kenh aus, und erst n ach dem i ch ih m einen Zehnp fund sch ein in die Han d g edrückt und ihm gesagt hatte, er solle das 204
Wechselg eld b ehalten , und ihm viel Spaß bei der Ballettaufführung seiner To chter gewünsch t hatte, bemerk te ich, dass es an gefangen hatte zu regnen und ich ohne Regenschirm vor dem Ha mmersmith-Krank enh au s stand, in dem mein Vater irgendwo mit Versehrtem Herzen lag. Meine Mutter wirkte kleiner als sonst, wie sie dort allein am Ende einer Reihe von Plastikstühlen saß, hinter ihr eine trostlose blaue Krankenhau swand. Meine Mutter ist immer so rgfältig zu rechtg emacht, und ihre Kleidung scheint aus einer anderen Zeit zu stammen : Hüte mit dazu passenden Handschuhen , beq ueme Pumps, die sie in Seidenpap ier gewickelt in den Originalkarton s au fbewah rt, ein ganzes Reg al mit dicht ged rängt au fgereihten Handtaschen, die auf ihren Ein satz warten, u m d as En semb le zu k o mp lettieren. Sie wü rde n ich t im Trau m d aran denken, ohne Puder und Lippenstift das Haus zu verlassen, auch dann nicht, wenn mein Vater scho n im Krankenwagen vo rausgefahren ist. Ich mu ss wirk lich eine schreckliche En ttäu schung fü r mein e Mutter sein, zu groß gewachsen, die Haare zu wu sch elig , au f den Lipp en irgendeinen Gloss, den ich au s dem Sammelsurium au s Münzen, verstaubten Pfefferminzdrops und son stigem Kram fisch e, der sich in d en Tiefen meiner abgenutzten Handtasche an sammelt. »Mu m.« Ich ging zu ih r, k üsste sie au f die von d er Klimaan lag e g eküh lte Wange un d setzte mich neben sie. »Wie geht es ih m? « Sie schüttelte den Kop f, und ich b efü rchtete scho n das Sch limmste. »Sie haben mir noch nichts gesag t. Sie hab en ih n an alle mö glichen Geräte angeschlo ssen, u nd die Ärzte kommen und gehen.« Sie schloss kurz die Augen, schüttelte immer n o ch leicht d en Kop f, eine Angewo hnh eit. »Ich weiß es nich t.« Ich sch luckte sch wer und sagte mir, dass es besser war, nichts zu wissen, als das Sch limmste zu erfahren , war jedo ch geistesgeg en wärtig genug , diese Plattitüde fü r mich zu behalten. Ich hätte g ern etwas Originelles, etwas Beruhigendes gesagt, etwas, das ih r die Angst nah m, ih r die Situ ation erleich terte, ab er meine Mu tter und ich hatten keine Erfahrung
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damit, gemein sam zu leiden und einander zu trösten, und so sag te ich nich ts. Sie ö ffn ete die Aug en, schaute mich an und schob mir eine Lock e h inters Oh r. Vielleicht spielte es ja auch keine Rolle, vielleich t wu sste sie, was ich dachte und dass ich es ern st mein te. Dass k eine Wo rte n ötig waren, weil wir d och Mu tter und Tochter waren und manche Dinge nicht au sgesprochen werd en mü ssen ... »Du siehst schlecht aus«, sagte sie. Ich warf einen verstohlenen Blick zu r Seite und sah mein verschwommenes Spiegelbild in einem gerahmten Poster des Nation al Health Serv ice. »Es regnet.« »So eine groß e Tasche«, sagte sie mit einem wehmütigen Läch eln . »Und kein Platz fü r einen Schirm.« Ich schüttelte den Kop f, dann beg ann ich zu zittern, und plötzlich merkte ich, dass es kalt war. In einem Wartezimmer im Krankenhaus muss man sich besch äftig en, sonst wartet man nu r, un d d as füh rt zu m Nach denken , was nach meiner Erfah run g k eine gute Id ee ist. Während ich still neben meiner Mutter saß, mich um meinen Vater sorgte, mir vornahm, mir einen Schirm zuzulegen, auf das Ticken der Wanduh r lau sch te, k amen jede Men ge Ged an ken über die Wände gekrochen und berührten meine Schultern mit ihren spitzen Fingern . Ehe ich wusste, wie mir g eschah, hatten sie mich b ei der Hand gen o mmen und führten mich an Orte, an denen ich seit Jah ren nicht gewesen war. Ich stand an der Wand in unserem Badezimmer und sah mich als Vierjäh rige au f d em Badewann en rand b alancieren . Das kleine, n ack te Mädchen will mit d en Zigeunern durch b rennen . Es weiß nicht genau, wer sie eigen tlich sind od er wo es sie finden kann, aber es weiß, dass sie ih re beste Chance sind , einen Zirku s zu finden, dem es sich an schließen k ann . Das ist sein Trau m, und deswegen übt es Balancieren . Ku rz bevo r es das ande re Ende d er Wann e erreicht, rutscht es aus. Stürzt nach vorn , dreht sich , landet mit dem Gesicht unter Wasser. Sirenen, grelles Licht, fremd e Gesichter ...
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Ich blinzelte, un d das Bild verschwand, aber schon tauchte das nächste au f. Eine Beerd igung , die meiner Groß mutter. Ich sitze in der ersten Reihe n eben meinen Eltern und hö re nur mit halbem Ohr zu, während der Pfarrer eine andere Frau beschreibt als die, die ich kannte. Ich bin abgelenkt du rch mein e Sch uhe. Sie sind n eu, un d ob wohl ich weiß, d ass ich eigentlich besser zuhö ren, mich au f d en Sarg kon zentrieren und mich ern sten Gedan ken hin geb en mü sste, k ann ich nicht au fhören , mein e Lackschuhe zu betrachten, sie hin und her zu d reh en und ih ren Glanz zu bewundern . Mein Vater b emerkt es, schubst mich sanft mit der Schulter, und ich zwin ge mich aufzupassen. Au f dem S arg stehen zwei Foto s, eins von der Großmu tter, die ich kannte, ein s vo n einer Fremden, einer jungen Frau, die an irg endein em Strand sitzt, h alb von der Kamera abg ewen det, ein schiefes Lächeln im Gesicht, als wollte sie gerade d en Mund öffnen, um sich über den Fotografen lustig zu machen . Dann sagt der Pfarrer etwas, und Tante Rita fän gt an, laut zu weinen, die Wimperntusche läuft ih r über die Wangen, und ich schau e erwartung svo ll zu meiner Mutter hin über, warte au f ein e ähn liche Reak tion . Ih re behand schuhten Hände lieg en in ih rem Sch oß , ih r Blick ist au f den Sarg geheftet, ab er nich ts gesch ieh t. Nichts geschieht, und dann sehe ich meine Kusine Samantha. Auch sie beobachtet mein e Mutter, un d plötzlich schäme ich mich ... Ich stan d entschlo ssen au f und v ersch euchte die sch warzen Gedank en. Meine Ho sentaschen waren ungewöhnlich groß, und ich schob meine Hände tief genug hin ein , u m mich davon zu überzeugen , d ass ich einen Grund h atte, hier zu sein, dann schritt ich den Ko rridor ab , als hand elte es sich um einen Museumssaal, und konzentrierte mich auf die verblassten Po ster mit Impfkalendern , die schon zwei Jahre alt waren; egal, Hauptsache, es h alf mir, in der Gegen wart zu bleiben, weit weg von der Verg angenheit. Ich bog um eine Ecke in eine h ell erleuchtete Nische, wo ein Getränkeautomat stan d. Ein er von diesen Auto maten mit einem Abstellplatz für die Tasse und einer Düse, aus der entweder Kakao- oder Kaffeepulver oder heißes Wasser gescho ssen ko mmt, je nachdem, au f welchen Knop f man d rückt. In einem Plastik kö rbch en lagen Teebeutel. Ich nahm
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zwei un d hän gte sie in Styroporbecher, einen fü r mich u nd einen fü r meine Mutter. Ich sah zu , wie die Beutel eine rostige Farbe ab gaben, ließ mir Zeit, Milchpulver einzurühren, wartete, bis es sich vollständig aufgelö st hatte, ehe ich mich auf den Rückweg machte. Meine Mutter nahm ihren Becher wortlo s en tgegen , fing mit dem Zeigefin ger einen Trop fen auf, der an der Seite herunterlief. Sie h ielt den warmen Bech er mit b eiden Hän den , trank aber nicht. Ich setzte mich neben sie und d achte an gar nichts. Bemühte mich, an nichts zu d enken , während mein Gehirn mir vorauseilte, fragte mich, waru m ich so wenige Erinnerungen an meinen Vater hatte. Ech te Erinnerung en, nicht die au s zweiter Hand von Fotos und Familien anek do ten. »Ich hab e mich über ihn geärgert«, sagte meine Mutter sch ließ lich . »Ich hab e ih n angeschrien. Ich hatte den Braten fertig, und ich hatte ihn au f den Tisch gestellt, um ihn au fzuschneiden , und er wu rd e schon k alt, aber ich dach te, es wü rd e ih m recht gescheh en, sein Fleisch kalt zu essen. Ich wollte nach oben gehen, um ihn zu holen, aber ich hatte es satt, ihn immer vergeb en s zu ru fen. Ich dachte: Wo llen wir doch mal sehen, wie dir d er k alte Braten sch meckt.« Sie schürzte die Lippen au f die Art, wie man es macht, wenn einem die Tränen kommen und man versucht, das zu v erbergen. »Er war den g anzen Nach mittag au f dem Sp eicher gewesen, hatte Kartons aussortiert und den ganzen Flu r vo llgestellt - weiß der Himmel, wie er die wieder da raufschaffen will, dazu hat er bestimmt n icht meh r die Kraft ...« Sie sch aute b lind in ih ren Tee. »Er ist in s Bad geg angen , u m sich die Hände zu waschen, und da ist es passiert. Ich habe ihn neb en der Badewanne gefund en , gen au da, wo du damals geleg en h ast, als du klein warst. Er hatte no ch d ie gan zen Hände voll Seife.« Das darauffolgende Schweigen machte mich un ruhig. Gesp räche haben etwas Beru higendes, ih r g eo rdneter Ablauf ist ein Anker, der einen in der Wirk lichk eit hält: Nich ts Schreckliches oder Unerwartetes kann passieren , wenn ma n ein vernünftiges Gespräch füh rt. »Und dann hast du den
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Kran kenwagen geru fen«, soufflierte ich, als redete ich mit einem Kleinkind. »Die kamen ganz schnell, d as war ein Glück. Ich war no ch dabei, ih m die Seife von den Händen ab zu wisch en, da waren sie schon da. Zwei, ein Mann und eine Frau. Sie mussten ihn reanimieren, mit so einem Elektroscho ckgerät.« »Mit ein em Defib rillator«, sagte ich. »Und sie haben ihm etwas gegeben, ein Medikament, das die Blutgerinnsel au flöst.« Sie betrach tete ih re Hand fläch en. »Er hatte noch sein Unterhemd an, und ich weiß noch, wie ich gedacht habe, ich sollte ih m ein sauberes an ziehen .« Sie schü ttelte den Kop f, und ich fragte mich , ob aus Bedau ern darüber, dass sie es versäu mt h atte, oder aus Verwunderu ng darüber, dass ih r so etwas du rch den Kopf gegangen war, während ihr Mann bewu sstlo s auf d em Bo den lag , do ch d ann sagte ich mir, dass das eigentlich keine Rolle spielte und es mir nicht zustand, darüber zu urteilen. Mir war schmerzlich bewusst, dass ich zu Hause gewesen wäre und hätte helfen können , wenn ich nicht zu Tante Rita gefah ren wäre, um sie über die Vergangenheit meiner Mutter au szuquetschen. Ein Arzt kam den Flur herunter, und meine Mutter versch ränkte ih re Finger ineinan der. Ich wollte schon au fstehen, ab er er ging zügig am Wartezimmer vorbei und verschwand hinter ein er anderen Tür. »Es wird nicht mehr lang e dauern , Mu m.« Die un au sgesp ro chene Entschuldigung mach te meine Wo rte sch wer, und ich füh lte mich vollk o mme n hilflos. Es gib t nu r ein Foto von der Hochzeit mein er Eltern. Also, wahrscheinlich gibt es n och me h r, die in irgendeinem v ergessen en weißen Album v ersta uben, aber ich kenne nur ein Bild , das all die Jah re üb erdau ert hat. Nur die beiden sind darau f zu sehen , es ist kein s von diesen typischen Hochzeitsfotos, auf den en d ie Ang ehö rig en von Braut und Bräutigam rechts un d link s von dem Paar aufgereiht stehen wie zwei u ngleiche Flü gel, sodass man denk t, das Geschöpf wird niemals fliegen könn en. Au f diesem Foto sind keine Verwan dten zu seh en , n ur d ie beiden, und sie schaut ihn völlig hingerissen an. Als wü rde er strah len, was
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er tatsächlich irgendwie tut - wahrscheinlich der Effekt der Beleuchtung, die Fo tografen damals benutzten. Und er ist so u nglaublich ju ng; das sind sie b eid e. Er hat immer n och volles Haar, nichts deutet darau fhin, dass es ih m einmal ausfallen wird. Er ahnt noch nicht, dass er einen Sohn b ekommen und wieder verlieren wird , da ss er ein e Tochter haben wird, deren Inte ressen und Neigung en ihm ein einziges Rätsel bleiben , dass seine Frau irgendwann an fangen wird, ihn zu igno rieren, d ass sein Herz eines Tages aussetzen wird und man ihn in einem Krankenwagen in die Klinik bringen wird , dass dieselbe Ehefrau zu sammen mit der Toch ter, die er nicht versteht, im Wartezimmer sitzen und darau f warten wird , d ass er au fwach t. Nichts von alldem ist auf dem F oto zu erkennen. Das Foto ist ein eingefro rener Aug enblick, die ganze unb ekan nte Zu kun ft der beiden liegt no ch vo r ihnen, so wie es sein sollte. Do ch gleichzeitig lässt d as Foto die Zukunft erahnen, oder zumin dest eine Version d avon . Sie lieg t in ih ren Augen, vo r allem in den Augen der Brau t. Denn der Fotograf hat mehr eingefangen als nur zwei jung e Men schen am Tag ih rer Hochzeit, nämlich eine Sch welle, die übersch ritten wu rd e, eine Meereswelle, k urz bevor sie sich in Schaum verwandelt und gegen die Küste schlägt. Und die jung e Frau, mein e Mu tter, sieht mehr als nur den jung en Mann, der neb en ih r steht, den Mann, den sie liebt, sie sieh t das ganze gemein same Leben, das vo r ihnen liegt... Ab er vielleicht verkläre ich d a auch etwas, vielleicht bewundert sie nur sein Haar od er freut sich auf das Fest oder die Ho chzeitsreise ... Jeder spinnt sein e eigenen Geschich ten um solche Fotos, Bilder, die innerhalb der Familie zu Kultgegenständen werd en, und wäh rend ich do rt im Wartezimmer saß , wu rde mir bewusst, dass es nur eine Möglichkeit gab herauszufinden, was sie damals wirk lich empfunden hatte, was sie sich erho fft hatte, als sie ihn so anschaute; ob ihr Leben komplizierter, ih re Vergangenheit komp lexer war, als der selig e Blick vermuten ließ. Ich brauchte nur zu fragen. Wie seltsam, d ass mir das noch nie in den Sinn gekommen war. Wah rschein lich ist d as Licht im Gesicht mein es Vaters schu ld. Die Art, wie mein e Mutter ihn an sch machtet, len kt
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die Au fmerksamkeit au f ihn, sodass man sie leicht fü r eine ju nge, n aive Frau ohn e nenn en swerte Vergangen heit h ält, deren Leben gerade erst beginnt. Und meine Mutter hatte ihr Bestes getan, diesen Mythos aufrechtzuerhalten, denn wenn sie jemals üb er d ie Zeit vo r ih rer Hoch zeit sp rach, erzählte sie nu r von mein em Vater. Aber als ich, gerade zurück von meinem Besuch bei Rita, an das Bild dach te, sah ich vo r allem d as Gesicht meiner Mu tter, ein bissch en weniger beleuchtet, ein bissch en kleiner als seins. War es möglich , dass die jun ge Frau mit den g ro ßen Augen ein Geheimnis hatte? Dass sie zehn Jahre vor der Ho chzeit mit dem soliden, strahlen den Mann au f dem Fot o eine flüchtige Liebesaffäre mit ih rem Leh rer hatte, mit de m Mann, der mit ihrer älteren Freundin verlobt war? Damals musste sie etwa fünfzeh n gewesen sein, und Mered ith Burch ill war keinesfalls die Frau, zu der das zu passen schien ab er was war mit Meredith Baker? Meine Mu tter hatte mir während meiner Jugend zahllose Vo rträge darü ber gehalten , was an ständige Mädchen taten und nich t taten. War es möglich, dass sie aus Erfah rung gesprochen hatte? Plötzlich überkam mich das bedrückend e Gefü hl, dass ich üb er die Frau , die neben mir saß, alles und nichts wu sste. Die Frau, die mich gebo ren und g roß gezo gen h atte, war mir im Grunde genommen eine Fremde. Im Lauf von dreißig Jahren hatte ich ih r kaum mehr Dimensio nen zugebilligt als den Ank leid epupp en, mit denen ich als Kind gesp ielt hatte, Papierpupp en mit au fgemaltem Läch eln und Pap ierkleidch en zu m An h ängen. Meh r no ch, ich war seit Mo naten dab ei, rücksichtslo s ihre tiefsten Geheimnisse auszug raben, und hatte mir nicht ein mal die Mühe gemacht, sie n ach g anz normalen Dingen zu fragen. Aber als ich jetzt mit ih r im Kran kenh aus saß, währen d mein Vater irgendwo auf der Intensiv station lag, war es mir auf einmal unglau blich wichtig, meh r üb er mein e Eltern zu erfahren. Üb er mein e Mutter. Üb er d ie geheimn isvolle Frau , die Anspielun gen au f Sh akespeare machte, die als Jugendliche Artikel an Zeitungen gesch ickt hatte. »Mu m? « »H mm? «
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»Wie habt ihr euch eigen tlich k ennengelernt, du un d Dad? « Ih re Stimme klang b rüchig nach dem langen Sch weigen, und sie räuspert e sich. »I m Kino. Es lief The Holly and the Ivy. Den kenn st d u doch? « Schweigen. »Ich meine, wie h ab t ih r euch kennen gelernt? Hast du ihn g eseh en? Hat er dich g eseh en? Wer hat wen angesp rochen? « »Daran kann ich mich nicht mehr erinnern . Er. Nein , ich. Ich hab 's verg essen.« Sie bewegte die Finger einer Hand wie ein Puppenspieler, d er ein e Mari on ette b edien t. »Wir waren die einzigen Zuschauer im Kino . Stell dir das mal vo r.« Der Gesichtsausd ruck meiner Mutter hatte sich verändert, sie wirkte beinahe ein bissch en entrückt, aber liebevoll, erleichtert, der verwirrend en Gegenwart einen Mo ment lang zu entkommen, in der ihr Mann in einem nahe gelegenen Zimmer u m sein Leb en rang . »Sah er gu t au s? «, bo h rte ich weiter. »War es Liebe auf den ersten Blick? « »Woh l k aum. Ich hatte ihn erst für einen Mörder gehalten.« »Wie bitte? Dad?« Ich glaube, sie hat mich nicht mal gehört, so sehr war sie in ih re Erinn erung en eingetau cht. »Es ist ziemlich g ru selig , allein in einem Kino zu sitzen. All die leere Sitze, die Dunkelheit, die riesige Lein wand . So ein Kino saal ist fü r viele Leute g edach t, und wen n k eine da sind , beko mmt er etwas Unheimliches. Im Dunkeln kann alles p assieren .« »Saß er direkt neben dir? « »Gott, nein. Er ist höflich auf Abstand geblieben - er ist ein Gentleman, dein Vater -, aber nachher, im Foyer, sind wir ins Gespräch gekommen. Er war mit jemand verabredet gewesen ...« »Mit ein er Frau? « Sie konzentrierte sich au f den Sto ff ih res Rocks un d sag te mit einem vo rwu rfsvollen Unterton : »Ach , Edie.« »Ich frag e ja nur.« »Ich glaube, es war eine Frau, aber sie ist nicht gekommen. Und das«, mein e Mutter stemmte die Hände au f die Kn ie und hob den Kopf mit einem leisen Schn iefen , »war alles. Er h at mich zum Tee eingeladen, un d ich h abe d ie Einladung an genommen. Wir sind in den Lyon s Co rn er Shop am Strand ge-
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gangen . Ich habe ein Stü ck Bi rnento rte gegessen u nd fand das seh r extravag ant.« Ich lächelte. »Und er war dein erster Freund?« Bildete ich mir das ku rze Zögern nu r ein? »Ja.« »Du hast ein er an deren Frau den Mann au sgesp annt.« Es war ein Scherz, der Versuch, es leichthin zu sagen, aber i m selben Moment, als ich die Wo rte au ssprach, mu sste ich an Junip er Blyth e und Tho mas Ca vill denken, und meine Wan gen begannen zu glüh en. Vor lauter Verlegenheit achtete ich gar nicht auf die Reaktion mein er Mu tter, sond ern fügte, ehe sie dazu kam, etwas zu an two rten , hastig hinzu: »Wie alt warst du damals? « »Fün fundzwanzig . Es war 1 9 5 2 , und ich war gerade fün fundzwan zig gewo rd en.« Ich nick te und tat so, als wü rde ich im Kopf nachrechnen, aber in Wirklichkeit lau sch te ich der leisen Stimme, die flü sterte: Wäre das nicht eine gute Gelegenheit, wo wir schon mal beim Thema sind, nach Thomas Cavill zu fragen? Eine hinterhältige Stimme, und ich sollte mich sch ämen, ih r üb erhaupt Gehö r zu sch enken. Ich bin nicht stolz darauf, aber die Gelegenheit war ein fach zu gü nstig . Ich redete mir ein, ich wo llte meine Mu tter nu r von d en So rgen um meinen Vater ab lenk en, und b emerkte: »Fün fund zwanzig. Das ist ab er ziemlich spät fü r d en ersten Freund , od er? « »Eigentlich nicht«, sagte sie. »Das waren andere Zeiten damals. Ich war mit anderen Dingen b eschäftig t.« »Ab er dann hast du Dad kennengelern t.« »Ja.« »Un d hast dich verliebt.« Sie antwortete so leise, dass ich das Wo rt fast v on ihren Lippen ablesen mu sste. »Ja.« »War er deine erste große Lieb e, Mu m? « Sie schnappte nach Lu ft und sah mich an, als hätte ich sie geo h rfeig t. »Edie - n icht!« Aha. Tante Rita hatte recht geh abt. Er war nicht ih re erste g roß e Liebe gewesen. »Sp rich n icht von ih m in der Vergangenheit.« Tränen traten ih r in die Aug en. Und ich fühlte mich so mies, als hätte ich sie tatsäch lich g eoh rfeig t, erst recht, als sie begann , an meiner Schulter zu weinen, das heißt, die Tränen rannen einfach
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so herab, den n meine Mu tter weint n icht. Und ob wohl die Plastikkante der Stuhllehne sich in meinen Ar m bohrte, rührte ich mich nicht. Von drau ßen waren wie aus der Ferne die stetigen Verkeh rsgeräu sch e zu hö ren , hin und wieder übertönt v on Sirenengeh eul. Krankenhausmauern sind etwas Merk wü rdiges. Obwohl sie auch nur au s Ziegelsteinen und Mö rtel besteh en, rücken, wenn man sich innerh alb dieser Mauern befindet, der Lärm und die Wirklichkeit der von Men schen wimmelnd en Stadt in weite Ferne. Die Realität befindet sich direkt v or der Tü r, aber es ist, als handelte es sich um ein weit, weit en tferntes Zaub erland. Wie im S ch lo ss Milderhu rst, dachte ich. Dort hatte ich mich g enau so gefüh lt, als h ätte mich das Haus regelrecht verschlu ckt, nachdem ich durch d ie Tü r getreten war, als hätte die äu ßere Welt sich in San dkö rner au fgelö st. Ich frag te mich flüch tig, was die Sch western Blythe wohl gerade taten, wie sie in den Woch en seit meinem Besuch ihre Tage verbracht hatten, die drei allein in diesem riesigen Haus. Wie eine Serie vo n Sch nappschü ssen tauchten die Bilder vor meinem geistigen Auge au f: Juniper, die in ihrem v ersch lissen en Seidenkleid durch die Flu re hu sch te, Saffy, die wie aus dem Nich ts erschien und sie sanft in den Salon führte, Percy, die am Dach zimmerfenster stand un d ihr Anwesen betrachtete wie ein Schiffskapitän au f Wache ... Es war schon nach Mitternacht, die Krank ensch western hatten Schichtwechsel, neue Gesichter tau chten auf, verrichteten lachen d und schwatzend ih re Arbeit auf der hell erleuchteten Station: ein un widerstehlicher Ort der No rmalität, eine In sel in einem u nü berwin dlichen Ozean. Ich versu chte, ein bisschen zu schlafen, benutzte meine Handtasche als Kopfkissen, aber es war zwecklos. Meine Mutter neben mir war so klein und allein und irg endwie gealtert, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte, und ich konnte mein e Gedan ken nicht davon abhalten, vo rau szueilen und d etailreiche Szen en von ih rem Leben ohn e meinen Vater zu malen. Ich sah alles ganz deutlich vo r mir : seinen leeren Sessel, die wortlosen Mahlzeiten, d as Feh len seines unermü d lichen Hä mmern s u nd
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Bohren s. Wie einsam das Haus sein wü rde, wie still und voller Echos. Nur wir beide würden noch da sein, wenn wir meinen Vater verlören. Zwei ist sehr wenig, da bleiben keine Reserven . Es ist eine stille Anzahl, die saubere, einfache Gesp räche garan tiert, in die n iemand sich ein mischt, weil es ein fach nicht mö g lich ist. Und außerd em unnötig. War das unsere Zukunft? , fragte ich mich. Mutter und To chter, die Sätze au stau schten, ih re Meinungen für sich behielten , hö flich e Geräu sche mach ten , Halbwahrheiten aussp rachen und sich b emü h ten, den schönen Sch ein zu wahren? Die Vo rstellung war un erträg lich , und ich füh lte mich plötzlich seh r, seh r allein. Vor allem, wenn ich mich sehr einsam fühle, fehlt mir mein Bruder. Er wäre inzwisch en ein erwach sener Mann, u mgäng lich und mit einem liebenswü rdigen Läch eln und ein em Talent dafür, meine Mu tter au fzu mu ntern. Der Daniel, den ich mir vorstelle, weiß immer genau, was er sagen soll, er ähnelt nicht im Entferntesten sein er bedauern swerten Schwester, die so oft kein vernünftiges Wo rt üb er d ie Lipp en b ringt. Ich sah zu meiner Mutter hinüber und fragte mich, ob sie wohl auch an ihn dachte, ob die Tatsache, dass sie in einem Kran kenhau s saß , die Erinn erungen an ih ren klein en Jung en weckte. Aber ich konnte sie nicht dan ach frag en, weil wir nie üb er Dan iel redeten , genauso wenig wie über ihre Evaku ierung , ih re Vergangenheit, ih re En ttäu schung en. Das war schon imme r so gewesen . Vielleich t war es meine Trau rigkeit darüb er, dass in me in er Familie so viele Geheimnisse so lange unter der Ob erfläch e geb rodelt hatten, v ielleicht war es eine Art Buße dafü r, d ass ich meine Mutter mit mein en bohren den Fragen aus der Fassung gebrach t hatte, vielleicht hatte ich auch das vage Bedürfnis, eine Reaktion zu p rov ozieren , sie dafü r zu bestrafen , dass sie mir Erinn erungen vo renth alten und mir den wirk lich en Daniel geraubt hatte ... Wie auch immer, ich holte tief Lu ft und sagte: »Mum? « Sie rieb sich die Augen und schaute blin zelnd au f ih re Armbanduh r. »Jamie und ich haben un s getrennt.« »Ach? « »Ja.«
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»Heute? « »Äh, n ein . Nicht gan z. Um Weihnachten.« Ein verb lü fftes »Oh «, dann zog sie die Brauen zusammen und zählte in Gedan ken die Mon ate, die seitdem v ergangen waren. »Aber du hast gar nichts d avon erwähnt ...« »Nein.« Diese Tatsache, und was sie bedeutete, ließ ihre Gesichtszüge erschlaffen. Sie nick te langsam, zweifellos dachte sie an die zahllosen Male, die sie sich währen d der vergangenen Monate nach Jamie erkundig t hatte, an die Antworten, die ich ih r gegeben h atte, lauter Lügen . »Ich musste die Wohnung au fg eben «, sagte ich und räu sperte mich . »Ich bin au f der Suche nach einem klein en Apartment. Für mich allein.« »Deswegen konnte ich dich nicht erreichen , als dein Vater ... Ich habe alle Nummern probiert, die ich hatte, selbst bei Rita habe ich an gerufen , bis ich endlich Herb ert an der Strippe h atte. Ich wusste nicht, was ich son st no ch hätte mach en können .« »Tja«, sagte ich mit ein er seltsam k ün stlichen Heiterkeit. »Zu fällig war das genau das Richtig e. Ich wohne im Moment bei Herbert.« Sie wirk te verblü fft. »Er hat ein Gästezimmer? « »Ein So fa.« »Verstehe.« Mein e Mutter hatte die Hände au f ih rem Schoß versch ränk t, als hielte sie ein kleines Vögelchen darin, das sie beschützen musste, ein geliebtes Vögelchen, das sie u m keinen Preis verlieren wollte. »Ich mu ss Herbert eine Karte sch icken «, sag te sie mit dünner Stimme. »Er hat mir zu Ostern ein Glas von seiner Johannisbeermarmelad e zukommen lassen, und ich glaube, ich hab e mich n ich t ein mal dafür bedankt.« Und damit war das Gespräch, vor dem ich mich monatelang gefü rchtet hatte, b eendet. Relativ ku rz u nd sch merzlos, was ich gu t fand , ab er au ch irgendwie seelenlos, was ich nicht gu t fan d. Meine Mu tter stand auf, und mein erster Gedanke war, dass ich mich getäuscht hatte, d ass es noch n ich t vo rb ei war und sie mir doch noch eine Szen e machen wü rd e. Aber als ich ih -
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rem Blick folgte, sah ich, dass ein Arzt auf uns zukam. Ich stand eben falls au f, versuch te, in seinem Gesicht zu lesen , zu erraten, au f welch e Seite d ie Mün ze fallen wü rd e, ab er es war un mö g lich. Sein Gesichtsau sdruck hätte zu jedem Szen ario gepasst. Ich glaube, das lernen sie schon im Medizinstu dium. »Mrs. Burchill? « Er sp rach mit einem leichten au sländisch en Ak zent. »Ja.« »Der Zu stand Ih res Man nes ist stab il.« Meine Mu tter atmete erleichtert au f. »Es ist ein Glück , dass d er Krank en wag en so schn ell bei Ihnen war. Gut, dass Sie ihn sofort gerufen haben.« Ich hörte einen leisen Schluckauf neben mir, dann sah ich, dass die Augen meiner Mu tter sich wied er mit Trän en g efüllt hatten. »Wir werden sehen , wie sich d ie Situation entwick elt, ab er es sieht nicht so aus, als mü ssten wir einen chirurgischen Eingriff vornehmen. Wir mü ssen ihn noch ein paar Tage zu r Üb erwach ung hierbehalten, aber danach kann er sich zu Hause erholen. Sie werden au f seine Stimmungen achten mü ssen . Herzpatien ten neigen zu Dep ressio nen , ab er d a k önnen Sie sich von den Krankensch western beraten lassen .« Meine Mutter nickte dan kbar. »Natü rlich, n atü rlich «, stammelte sie, weil ihr eben so wie mir die Wo rte feh lten , um u n sere Dankbarkeit und Erleichterung zu m Au sd ruck zu b ringen. Schließlich sagte sie einfach nu r: »Vielen Dank, Herr Dok to r«, aber er h atte sich b ereits hinter der schützend en Fassad e sein es weißen Kittels zurückgezogen. Er nickte knapp, als würd e er an einem anderen Ort erwartet, als mü sste er ein weiteres Leben retten, was zweifellos den Tatsach en entsprach, und als hätte er bereits vergessen, wer wir waren u nd zu welchem Patienten wir geh örten . Ich wollte gerade vo rsch lage n, dass wir zu meinem V ater geh en sollten , da fin g sie an zu weinen - meine Mu tter, d ie niemals wein t -, un d zwar nicht nur ein paar Tränen, die sie sich mit dem Handrücken wegwisch te. Nein, sie begann laut zu schluchzen, was mich daran erin nerte, wie sie, wenn ich als Kin d weg en irgen deiner Lappalie in Trän en au sgeb roch en
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war, jedes Mal zu mir gesagt hatte, manche Mädch en hätten das Glü ck, auch d ann noch hüb sch au szuseh en, wenn sie weinten - die Augen geweitet, die Wangen gerötet, die Lippen geschwollen -, aber d ass das wed er au f sie no ch au f mich zu traf. Sie hatte recht: Wir sind beide hässlich, wenn wir weinen . Zu fleckig im Gesicht, zu triefige Nase, zu laut. Ab er als ich sie so dastehen sah, so klein, so mak ello s g ekleidet, so k reuzunglück lich, wollte ich sie nu r n och in d ie Arme neh men und sie festhalten, bis sie sich au sgeweint hatte. Do ch ich tat es nich t. Stattdessen kramte ich ein Papiertaschentuch au s mein er Tasche und reich te es ih r. Sie n ah m es, ab er sie hörte nicht auf zu weinen, jedenfalls nicht so fo rt, und nach ku rzem Zö gern legte ich ih r ein e Hand au f die Schu lter, tätsch elte sie irgendwie und rieb ihr den Rücken. So standen wir ein e Weile, bis ih r Kö rp er sich ein bissch en entsp annte und sie sich an mich lehnte wie ein Sch utz suchendes Kind. Sch ließlich p utzte sie sich d ie Nase. »Ich hatte solche Angst, Edie«, sagte sie, während sie sich nacheinander die Augen wischte und das Taschen tuch au f Wimp ern tu schespu ren üb erprüfte. »Ich weiß, Mum.« »Ich glau be, ich könnte ein fach nicht ... Wen n etwas passieren wü rde ... Wenn ich ih n verlieren wü rd e ...« »Mu m«, sagte ich bestimmt. »Er h at es überstanden. Es wird alles gut.« Sie blin zelte mich an wie ein kleines Tier im Scheinwerferlicht. »Ja.« Ich ließ mir von einer Kran kenschwester seine Zimmernummer geben, dann liefen wir durch die grell erleuchteten Flure, bis wir es gefunden hatten . Ku rz vo r der Tü r blieb mein e Mutter stehen. »Was ist? «, fragte ich. »Ich mö ch te nicht, dass dein Vater sich aufregt, Edie.« Ich sagte nichts, fragte mich jedoch, wie in aller Welt sie auf die Idee kam, dass ich etwas tun kö nnte, was mein en Vater au s der Ruhe b rachte.
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»Er wäre entsetzt, wenn er wü sste, dass du au f ein em So fa schläfst. Du weißt doch, wie sehr er immer um deine Haltung beso rgt ist.« »Es ist ja nicht für lange.« Ich schaute zu r Tü r. »Wirk lich , Mu m, ich arb eite d ran . Ich lese jed e Wo che die Vermietu ng sanzeigen , aber bisher habe ich einfach noch nichts Geeignetes ...« »Un sinn.« Sie glättete ih ren Rock und holte tief Lu ft. Wich meinem Blick au s, als sie sagte: »Du hast ein vollkommen geeignetes Bett zu Hause.«
Endlich wieder zu Hause Und so kam es, dass ich mit dreißig Jahren wieder als Single in mein Elternhau s zo g. Ich wohn te in meinem eh emalig en Kinderzimmer und schlief in meinem viel zu kleinen Bett un ter dem Fen ster mit Blick au f das Beerdigung sinstitu t Sin ger & Sons. Ein e Verbesserung immerhin im Vergleich zu meiner bisherigen Situation . Ich mag Herbert seh r, und ich verb ringe gern viel Zeit mit der gu ten alten Jess, ab er d er Himmel bewahre mich davor, jemals wieder ein Sofa mit ihr teilen zu müssen. Der Umzug selbst ging ziemlich unspektaku lär üb er d ie Bühne, denn ich nahm nicht viel mit. Es war ein e v o rüberg ehende Lösung, wie ich jedem erklärte, d er es wissen wollte, es war also viel vernün ftiger, mein e Umzu gskarton s au f Herberts Speicher stehen zu lassen . Ich packte ein en ein zigen Ko ffer, und als ich zu mein en Eltern k am, fand ich alles ung efäh r in d emselb en Zustand vor, wie ich es zehn Jahre zu vo r zu rückg elassen hatte. Unser Haus im Stadtteil Barn es stammt aus den Sech zigerjahren, und meine Eltern hatten den Neubau gekau ft, als mein e Mu tter mit mir sch wanger war. Was einem in de m Haus als Erstes au ffällt, ist, dass nirgendwo etwas herumliegt. Wirklich nichts. Im Haushalt d er Bu rchills gibt es fü r alles ein System: mehrere Kö rbe fü r die schmutzige Wäsche, farb lich so rtierte Putzlap pen in der Küche, einen Notizblock neben d em Telefon mit ein em Stift, der nie v ersch windet, 219
und kein en einzigen Briefu mschlag mit Strich män nchen od er Adressen und hastig hin gek ri tzelten Namen von Leuten, deren An ru fe man schon wieder ve rgessen hat. Alles b litzsau ber. Kein Wunder, dass ich als Kind den Verdach t hatte, mein e Eltern hätten mich adoptiert. Selbst die Umräumaktion meines Vaters hatte nu r ein überau s bescheidenes Maß an Chaos produziert: etwa zwei Dutzend Karton s mit säu berlich aufgeklebten Zetteln, auf denen der Inhalt an gegeben war, so wie ein Stap el alter Elek trog eräte in Originalverpackun gen, die sich im Lauf von dreißig Jah ren angesammelt hatten . Natürlich konnte das Zeug nicht auf Dauer im Flur stehen b leib en, und da mein Vater noch bettlägerig war und ich an d en Woch enen den n icht v iel zu tu n h atte, fiel mir der Jo b zu. Ich stü rzte mich mit Elan in die Arbeit und ließ mich n ur ein einziges Mal ablenken, als ich auf einen Karton mit der Aufschrift Edies Sachen stieß und nicht widerstehen konnte, ih n zu ö ffnen. Er war vo ll mit längst vergessenen Ding en: Makkaroni-Schmu ck mit abb lät ternder Farbe, eine Sch mu ckdose au s Po rzellan mit Feen muster und ganz unten , unter allem möglichen Krimskrams und alten Büchern , mein illeg al erwo rbenes, heiß geliebtes, lange vermisstes Buch vo m Modermann. Das klein e, abg eg riffene Buch in mein en Händ en lö ste eine Flut von Erin nerung en aus; das Bild von mir als Zehn jähriger, wie ich auf dem Sofa liege, war so klar und deutlich , dass ich das Gefühl hatte, ich könnte es über die Jah re hin weg mit dem Finger berühren und Wellen darin verursachen. Ich k onnte die angenehme Stille des Sonn enlich ts spüren , das du rchs Fenster herein fiel, die vertraute, warme Luft riechen: Papiertaschentücher und Zitron en wasser und h errliche mütterliche Fürsorge. Dann sah ich meine Mu tter in s Zimmer kommen, noch im Mantel, ein Einkau fsn etz mit Leben smitteln in der Hand. Sie kramte etwas aus dem Netz un d hielt es mir hin , ein Buch, das mein e Welt v erändern sollte. Ein Buch , gesch rieb en von dem Gentleman, in dessen Haus sie während des Zweiten Weltkriegs einquartiert war ... Nachdenklich fuh r ich mit d em Daumen über die geprägten Buch staben au f dem Buchdeckel: Raymo nd Blythe. Vielleicht mun-
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tert dich das ein bisschen auf, h atte mein e Mutter gesagt. Es ist eigentlich für etwas ältere Kinder, glaube ich, aber du bist ja ein kluges Mädchen, und wenn du dir Mühe gibst, wirst du es schon verstehen. Mein Leben lang hatte ich geglaubt, die Bibliothekarin Miss Perry h ätte mich au f den richtigen Weg geb rach t, aber als ich do rt au f dem Ho lzfußbod en d es Dach bodens saß, den Modermann in den Händ en, begann ein g anz an derer Gedank e in d em fahlen Licht Gestalt anzunehmen. War es möglich, dass ich mich d ie gan ze Zeit geirrt hatte? Dass Miss Perry vielleich t nichts anderes getan hatte, als den Titel nachzuschlagen und das Bu ch au s dem Reg al zu n ehmen , und dass es in Wirklichk eit meine Mu tter gewesen war, d ie mir d as perfek te Bu ch genau zu m rich tig en Zeitpunkt geg eben h atte? Und wü rde ich es wag en , sie dan ach zu fragen? Das Buch war schon alt gewesen , als es zu mir g ekommen war, und ich hatte es mit Leiden schaft immer und imme r wieder gelesen , un d so war es kein Wunder, dass es mittlerweile ziemlich zerfleddert war. Zwischen den zerbröckeln den Deckeln befanden sich dieselben Seiten, die ich umgeblättert hatte, als die Welt, die darauf beschrieben wu rd e, no ch ganz neu fü r mich war, als ich noch nicht wusste, wie die Geschich te fü r Jane und ihren Bruder und den armen, traurigen Mann im Schlamm des Schlossg rabens enden wü rde. Seit meiner Rück kehr au s Milderhurst hatte ich darauf ge brannt, es noch einmal zu lesen. Ich holte kurz Luft, schlug es irgend wo au f und begann in der Mitte der stock fleck igen Seite: Die Kutsche, die sie zu ihrem Onkel bringen sollte, dem sie noch nie begegnet waren, brach am Abend in London auf und fuhr die ganze Nacht durch, bis sie im Morgengrauen an eine verwilderte Zufahrt gelangten. Ich las weiter, wurde neben Jane und Peter in der Ku tsche hin und her gerüttelt. Wir fuhren durch das alte, quietschende To r, die lang e, gewu ndene Zu fahrt hinauf, und dann, oben au f dem H üg el, erho b es sich vor u ns in d em me lancho lischen Mo rgenlicht. Schlo ss Bealehu rst. Ein Schauder der Vorfreu de üb erlief mich , als ich mir vo r stellte, was ich in seinem In nern vo rfinden wü rd e. Der Tu r m überragte das Dach, Fen ster hoben sich dunk el g egen d as cremeweiße Gemäuer ab , und ich lehnte mich zu sammen mit Jane aus dem Fenster der Kutsche, meine Hand n eben ih rer am Fensterrahmen. Schwere Wolken trieben über den blei-
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ch en Himmel, und als die Kutsche endlich mit einem Ruck hielt, sp rangen wir hinaus und sahen einen tintenschwarzen Schlossgraben vor uns. Wie au s dem Nich ts k am eine Brise au f und kräu selte das Wasser, der Kutsch er zeigte au f eine hö lzern e Zugb rücke. Lang sam, sch weig end üb erquerten wir die Brü cke. Als wir vor der Tür standen, wurde eine Glocke geläu tet, eine ech te Glo cke, und mir fiel beinahe das Buch aus der Hand. Ich glaube, die Glocke hab e ich n och gar nicht erwähn t. Wäh rend ich die Karton s zu rück au f den Speicher schaffte, war mein Vater im Gästezimmer untergebracht, neben sich auf dem Nachttisch einen Stapel Accountancy Today, einen Kassettenrekorder mit Musik von Hen ry Mancini und eine Butlerg lo cke, um sich bemerkbar zu machen. Das mit der Glocke war seine Idee gewesen , eine Erinn erung an sein e Kindheit, als er einmal mit Fieber im Bett gelegen hatte, und nachdem er zwei Wochen lang fast nur geschlafen hatte, war meine Mu tter so glücklich da rü ber, ihn wieder etwas lebhafter zu sehen, dass sie freudig eing ewillig t hatte. Es sei ein vernün ftiger Vo rsch lag , hatte sie gemein t, ab er in dem Momen t nicht b edacht, dass die kleine d eko rativ e Glock e schän dlich missbraucht werden würd e. In den Händen meines gelang weilten, sch lech t gelaunten Vaters verwandelte sie sich in eine gefährliche Waffe, einen Talisman seiner Rü ckkehr in die Kindheit. Mit der Glock e in d er Hand wu rd e mein lie benswü rdiger, zahlenbesessen er Vater zu einem v erwöhn ten klein en Jungen, d er ständig ungehalten dan ach fragte, ob d ie Post schon da sei, womit meine Mu tter gerade beschäftig t sei und wann er d amit rechn en k önne, dass man ih m d ie näch ste Tasse Tee serv iere. Ab er an dem Mo rgen, als ich d en Modermann in dem Karton mit meinen Sachen entd eck t hatte, war meine Mutter ein kau fen gegan gen, und ich war o ffiziell zu m Vatersitten abg estellt. Als die Glocke ertönte, lö ste sich die Bealehu rst-Welt au f, d ie Wolken stoben in alle Richtun gen au seinand er, d as Sch loss versch wand, die Stu fe, auf der ich stand, zerfiel zu Staub, und ich stürzte in einem Wirbel aus schwarzen, um mich heru mtanzenden Buch staben d u rch d as Loch in d er Mitte d er Seite und land ete un san ft zu Hau se in Barnes.
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Ich weiß , ich sollte mich sch ämen , ab er eine Weile blieb ich ganz still sitzen in der Ho ffnun g au f eine Beg nadigun g. Erst als die Glock e zu m zweiten Mal bimmelte, steck te ich das Buch in meine Jack entasche und stieg zög ernd un d mit schlechtem Gewissen die Leiter h inun ter. »Hallo , Dad «, sag te ich frohgemu t - es ist n ich t n ett, es einem kranken Vater übel zu nehmen , wenn er einen stört -, als ich das Zimmer b etrat. »Alles in Ordnun g? « Er lag so tief in seinem Kopfkissen vergraben, dass er beinahe darin versch wand. »Gib t es sch on Mittagessen, Edie? « »Nein, no ch nicht.« Ich richtete ih m d as Kissen ein bisschen. »Mu m sagt, so bald sie zurückkommt, b ringt sie dir einen Teller Suppe. Sie hat einen ganzen Topf...« »Deine Mutter ist immer noch nicht zu rü ck? « »Sie ko mmt bestimmt bald.« Ic h lächelte ihn an . Der Arme hatte es wirklich sch wer: Es ist fü r niemanden ein Vergnü gen, wochenlang ans Bett gefesselt zu sein, aber für jemanden wie ihn, der weder über Meth oden noch Talent zur Entspannung verfügt, ist es ein e Tortur. Ich füllte sein Glas mit frisch em Wasser und bemü h te mich, nicht das Bu ch zu berüh ren, das au s meiner Tasche ragte. »Kann ich d ir irgen d was bringen? Ein Kreuzwo rträtsel? Ein Heizkissen? Noch ein Stückchen Kuchen?« Er seu fzte resigniert. »Nein.« »Bestimmt nicht? « »Nein.« Meine Hand lag schon wieder auf dem Modermann, während ich schuldbewusst überlegte, ob ich es mir damit auf der Liege in der Küche gemütlich mach en so llte oder lieb er in d e m Sessel im Wohn zimmer, wo d en ganzen Nach mittag die Son ne du rch s Fen ster schien. »Na dann «, sagte ich v erleg en, »mach ich mich mal wieder an die Arbeit. Kopf hoch, Dad ...« Als ich schon fast an der Tür war, fragte er: »Was hast du da, Edith? « »Wo? « »Da, in d ein er Tasche.« Er k lang ho ffn ungsfroh. »Ist das die Post? «
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»Das? Nein.« Ich klopfte auf meine Jackentasche. »Das ist ein Buch aus einem der Karton s auf dem Sp eicher.« Er schürzte d ie Lippen. »Es geh t mir d aru m, Sachen o rden tlich zu verstauen , n icht, sie wied er au szug raben .« »Ich weiß, aber es ist ein Lieblingsbuch.« »Wovon handelt es denn? « Ich war verblüfft. Ich konnte mich nicht erinnern , dass mein Vater mich jemals nach dem Inhalt eines Buch s gefrag t hatte. »Es handelt von zwei Waisen kind ern «, sagte ich. »Ein Mädch en namen s Jane und ein Jung e n amen s Peter.« Er runzelte die Stirn . »Da wird wo hl n och ein bisschen mehr drinstehen, schätze ich . So dick, wie das au ssieht, hat es ein e Meng e Seiten .« »Natürlich - ja. Es ist eine lange Geschichte.« Gott, wo sollte ich an fangen? Pflicht und Verrat, Ab wesenheit und Sehnsucht, was ein Men sch auf sich zu n eh men b ereit ist, u m seine Lieben zu beschützen , Wah nsinn , Treu e, Eh re, Liebe ... Ich schaute mein en Vater an und b eschlo ss, mich auf die Handlung zu besch ränken. »Die Eltern dieser Kinder kommen b ei einem Hau sbran d in Londo n u ms Leben, un d d ann werd en d ie b eiden Waisen zu einem längst vergessenen Onkel g eschickt, d er in einem Schloss lebt.« »In einem Schloss? « Ich nickte. »Schloss Bealehu rst. Der Onkel ist ein netter Mann, und anfangs sind d ie Kinder ganz begeistert von de m Schloss, aber mit der Zeit find en sie heraus, dass da irgendetwas nicht stimmt, dass das alte Gemäuer ein altes, dunkles Geheimnis birgt.« »Alt und dunkel, so, so.« Er lächelte sch wach . »Ja, und ganz schrecklich.« Ich hatte es schnell gesagt, aufgereg t, und mein Vater rück te ein bissch en n äher u nd stützte sich au f seine Ellb ogen. »Un d? Was ist es? « »Was ist was? « »Na, das Geheimnis. Was ist es?« Ich sah ihn v erdutzt an. »Also, das k ann ich dir nich t ein fach so ... erzählen.« »Natü rlich kann st d u das.«
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Er v ersch ränk te die Arme wi e ein trotziges Kin d, wäh ren d ich nach Wo rten suchte, u m ih m den Vertrag zwischen Leser und Autor zu erklären und dass es n ich t u m bloßes Wissen wollen geht. Dass es ein Sakrileg war, knapp au fzulisten, was sich über Kap itel h in weg aufgebaut hat, Geheimnisse auszuplaudern, die der Au to r hinter zahllosen Kunstfertig keiten verborgen hat. Alles, was ich herausbrachte, war: »Ich kann es dir leihen, wen n du mö ch test.« Er zog einen Schmollmund. »Vom Lesen krieg ich Kopfschmerzen.« Ein beinahe pein liches Schweigen entstand, während er da rau f wartete, d ass ich nachgab, und ich mich - was blieb mir anderes übrig? — verweigerte. Schließlich seufzte er. »Vergiss es«, sagte er und mach te eine weg werfend e Handbewegung. »Ist nicht so wich tig .« Ab er er wirkte so betrübt, un d plötzlich erinnerte ich mich so inten siv daran, wie ich, als ich mit Mumps oder was auch immer i m Bett g eleg en h atte, in die Welt vo m Modermann eingetaucht war, dass ich sag te: »Wenn es dich wirklich interessiert, könnte ich dir das Bu ch ja vo rlesen.« Das Vorlesen des Modermann wu rd e un s zu r Gewohnheit, etwas, wo rauf ich mich jeden Tag freute. Nach dem Abendessen trug ich das Tablett meines Vaters in die Küche, half meiner Mutter beim Abwasch, und dan n las ich an der Stelle weiter, wo wir am Abend zuvor aufgeh ört hatten. Er war selbst verb lüfft darüber, dass ein e erfu nden e Geschich te ihn so fesseln kon nte. »Sie mu ss au f wah ren Begebenh eiten b eruhen«, sagte er imme r wieder, »vielleicht auf einem alten Entfüh ru ngsfall. Wie diese Geschichte vo n dem Lindberg h Baby.« »Nein, Dad, Raymo nd Blythe hat sich die Geschich te ein fach ausgedacht.« »Ab er sie ist so leb endig, Ed ie, ich sehe alles direkt vor mir, wenn du es vo rliest, so als wü rd en wir zusehen , als wü rd e ich die Gesch ichte schon ken nen .« Und wenn er dann verwundert d en Kop f sch üttelte, glühte ich vor Stolz, obwohl ich mit der Entstehung des Modermann n un wirklich nichts zu tu n hatte. Hin und wied er, wenn ich läng er im Verlag blei-
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ben mu sste, wu rd e er ganz unge duldig, ging meiner Mutter mit seiner Nörg elei au f die Nerven, wartete darauf, dass er hörte, wie ich die Haustü r aufschloss, bimmelte dann sofo rt mit sein em Glöckchen und tat verwundert, wenn ich in sein Zimmer k am. »Ach , du bist schon da, Edie?«, sagte er dann mit hochgezogenen Brau en. »Ich wollte eig entlich nu r deine Mu tter bitten , mir das Kopfkissen noch mal aufzusch ütteln. Aber wo du schon mal da bist , könn ten wir doch sehen , wie es im Schloss weitergeht.« Vielleicht war es wirklich das Schloss un d weniger d ie Geschichte selbst, was ihn bei der Stan ge hielt. Prächtig e Familienanwesen hatten ihn schon immer mit fast eifersüchtig em Respekt erfüllt, und nachdem ich einmal beiläu fig bemerkt hatte, dass Schloss Bealehurst dem Fa miliensitz von Raymond Blythe nachempfund en war, ließ er nicht mehr lo cker. Er löcherte mich geradezu mit Frag en. Manch e konnte ich ih m sofo rt beantworten , andere waren so speziell, d ass ich ih m Raymond Blythe in Milderhurst zu lesen gab oder sogar Nachschlagewerke aus Herberts riesiger Sammlung, die ich nach der Arbeit mit nach Hause b rach te. So stach elten wir un s geg en seitig an in unserer Begeisterung , und zu m allerersten Mal hatten mein Vater und ich etwas, das un s v erband. Es gab nu r einen einzig en Faktor, der das Glück un seres Modermann-Fanclubs trübte, und das war meine Mutter. Es spielte k eine Rolle, dass un ser Interesse fü r Milderhu rst ganz unschuldig angefan gen hatte. Es war ihr nicht geheu er, dass mein Vater und ich hinter verschlo ssenen Tü ren eine Welt wiederau fersteh en ließen, über die zu sp rechen meine Mu tter vehemen t ablehnte, obwohl sie viel eher berech tig t gewesen wäre als wir b eide, sie fü r sich zu b ean sp ruch en. Ich wusste, dass ich irgendwann mit ihr würde darüber reden müssen, aber ich wusste auch, dass das Gesp räch schwierig werd en würde. Seit ich wieder bei mein en Eltern woh nte, lief zwisch en meiner Mutter und mir alles wi e gehabt. Irgen d wie hatte ich mir - n aiverweise - v orgestellt, un ser Verhältn is wü rde eine wun dersame Wandlung du rchlau fen , dass wir einen liebev ollen Umg ang find en, entspannt miteinander plaudern würden, dass meine Mutter mir vielleicht sogar ih r Herz ausschütten
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und mir ihre Geheimnisse offenbaren wü rd e. Das hatte ich zumin dest geho fft. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass nichts dergleichen geschah. Zwar war meine Mutter froh , mich im H aus zu haben , dankbar, dass ich ih r h alf, mein en Vater zu pflegen, und sie war auch etwas toleranter als son st, wenn es u m Meinun gsverschied enheiten ging , u nd do ch sch ien sie mir d istanzierter d enn je, ab wesend und in sich gekehrt und sehr, sehr schweigsam. Anfang s dachte ich, der Herzin fark t mein es Vaters h ätte sie ein fach sch recklich mitgenommen, dass die Angst um ihn und die anschließende Erleichterung sie dazu geb racht hätten , die Din ge noch ein mal mit anderen Au gen zu betrachten. Aber als die Wochen verging en und sich nichts änderte, b egan n ich mir So rgen zu ma chen . Manchmal, wenn ich in die Küche kam, stand sie reg lo s an der Spüle, die Hände im schaumigen Sp ülwasser, und starrte gedank enverloren aus dem Fenster. Dann war sie so g eistesab wesend, als hätte sie vergessen, wer sie war und wo sie sich befand. Genau in diesem Zustand fand ich sie an dem Abend vo r, als ich mit ih r über unser Lesevergnü gen reden wollte. »Mum? «, sagte ich. Sie schien mich nicht gehö rt zu haben , und ich ging ein bisschen näher, blieb ab er am Tisch steh en. »Mu m? « Sie wandte sich vo m Fen ster ab. »Ah , Edie. Hallo . Schön , nicht wahr, wie langsam die So nne um diese Jahreszeit un tergeht? « Ich ging zu ih r an s Fen ster, wo der letzte p firsich farben e Streifen gerade vom dunk len Hi mmel v erschluckt wu rde. Es war wirklich ein hübsch er Anblick, aber and ererseits au ch nicht so spek taku lär, dass sie ihm ein e derart inb rün stige Aufmerksamkeit hätte widmen mü ssen . Als sie weiterhin schwieg, räusperte ich mich . Ich erzählte ihr, dass ich angefangen hatte, mein em Vater den Modermann vo rzulesen, d ann erklärte ich ihr seh r vo rsichtig , welche U mstände dazu gefü hrt h atten, vo r allem, dass es nicht g eplant gewesen war. Sie wirkte ab wesend, nickte ku rz, als ich ih r b erichtete, wie fasziniert mein Vater von d em Schloss war, das einzige Anzeichen , au s dem ich schließ en konn te, dass sie mir ü berhaupt zuhö rte. Nachdem ich alles erwähn t
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hatte, was mir wichtig erschien, wartete ich ab un d wappn ete mich fü r das, was kommen würde. »Nett von dir, dass du d einem Vater vo rliest, Ed ie. Es macht ih m Spaß.« Das war nicht gerade die An twort, mit der ich gerechnet hatte. »Dieses Buch entwickelt sich allmäh lich zu einer Art Familientradition .« Ein angedeutetes Läch eln . »Ein Kamerad in Zeiten der Kran kheit. Wah rscheinlich erinn erst du d ich nicht mehr daran. Ich habe es dir mitgebracht, als du mit Mumps im Bett lagst. Du warst so u nglücklich, da habe ich mir keinen anderen Rat meh r gewusst.« Ah a. Es war also wirklich meine Mutter gewesen. Nicht Miss Perry, sondern sie hatte d en Modermann für mich ausgesuch t. Das perfekte Buch, der perfek te Zeitpun kt. Ich fan d meine Stimme wieder. »Doch, ich erinnere mich daran.« »Es ist g ut, dass dein Vater etwas zu m Nach denk en hat, während er im Bett lieg t. Un d noch besser ist, dass du ih m Gesellsch aft leistest und er seine Gedank en mit dir teilen kann. Es kommt ihn ja kau m jemand b esu chen . Andere Leute haben viel um die Oh ren, seine Kollegen. Die meisten haben ih m eine Karte geschick t, und ich neh me an, seit er in Rente ist ... Na ja, die Zeit geht weiter, nicht wahr? Es ist ... es ist nicht leicht zu verdauen , wenn man merk t, dass die Leute einen v ergessen haben.« Sie wandte sich ab, aber ich k onnte n och sehen , dass sie die Lipp en zu sammengepresst hatte. Ich hatte das Gefü hl, dass wir nicht nur über mein en Vater sp rachen , und weil damal s alle Gedanken nach Milderh u rst füh rten, zu Juniper Blythe und Tho mas Cavill, fragte ich mich unwillkürlich, ob meine Mu tter ih rer g roßen Lieb e nachtrauerte, einer Beziehung, die sie eingeg ang en war, lan ge bevo r sie meinen Vater kennen gelernt hatte, als sie jung und leicht zu beeindrucken und leich t zu verletzen gewesen war. Je länger ich darü ber nach dachte, je län ger ich versto hlen ihr nachdenkliches Profil betrachtete, desto wütender wu rde ich. Wer war dieser Thomas Cavill, der sich während des Krieg s aus dem Staub gemacht und zwei gebrochene Herzen zu rückgelassen hatte? Das der armen Juniper, die in dem zerfallen den Schlo ss ih rer Familie
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dahin welkte, und das mein er Mutter, die noch Jahrzeh nte später ih ren Kummer nicht loswurde. »Nur eins, Edie ...« Meine Mutter hatte sich wieder zu mir u mg ed reht und sah mich traurig an. »Es wäre mir lieber, wenn dein Vater nichts von me iner Evakuierung erfahren würd e.« »Dad weiß nicht, d ass du evakuiert warst? « »Doch, aber er weiß nicht, wo ich evaku iert war. Er weiß nichts von Milderh u rst.« Plötzlich betrachtete sie seh r eingeh end ih re Hände, hob jeden Finger einzeln an, rückte ih ren Eh ering zu recht. »Aber dir ist doch wohl klar«, sagte ich sanft, »d ass er unglaublich beeindru ckt wäre, wenn er wü sste, dass du mal do rt gewohnt hast, o der? « Ein zaghaftes Lächeln lo ckerte ihre Beh errschun g, aber sie hob den Blick nicht von ihren Händen. »Ich meine es ern st. Er ist völlig hingerissen v on de m Schloss.« »Trotzdem«, sagte sie. »Mir ist es lieber so.« »Okay. Verstehe.« Ich verstand natü rlich überh aupt n ichts. In dem fahlen Licht der Straß enlaterne, das in die Küche fiel, wirkte sie au f einmal sehr verletzlich, wie eine andere Frau , jünger und irgen d wie ze rb rechlicher, und ich hakte nicht nach. Aber ich beobach tete sie weiterhin, sie wirkte so in Ged anken versunk en , dass ich nicht weg schauen konnte. »Weißt du, Edie«, sagte sie leise, »als ich noch klein war, hat meine Mu tter mich um diese Zeit immer lo sg eschickt, um deinen Großvater aus dem Pu b zu holen.« »Wirklich? Ganz allein? « »Das war nichts Ungewöhnliches damals, vo r d em Krieg. Ich bin h ingegang en, habe an der Tü r gewartet, un d wenn er mich gesehen hat, hat er mir zu gewinkt un d sein Glas au sgetrunk en, und d ann sind wir zusammen nach Hause gegangen.« »Habt ih r beide euch nah gestanden? « Sie legte den Kopf leicht schief. »Ich glaube, ich war ih m ein Rätsel. Und d ein er Groß mu tter au ch. Habe ich dir schon mal erzählt, dass sie wollte, dass ich nach der Schule Friseurin werde? «
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»Wie Rita.« Sie blinzelte und schaute auf die n ach tsch warze Straße h inaus. »Ich glaube nich t, d ass ich viel Talen t dazu geh abt hätte.« »Ich weiß nicht. Mit der Heckensch ere geh st du jeden falls sehr geschick t um.« Nach ku rzem Zö g ern lächelte sie mich von der Seite an , ab er es war kein sehr natü rliches Lächeln , und ich hatte das Gefühl, dass sie noch etwas sagen wollte. Ich wartete, aber was auch immer es g ewesen sein mag , sie hatte es sich an ders überlegt und sich wieder dem Fenster zugewandt. Ich machte ein en halbherzig en Versu ch, mit ih r über ih re Sch ulzeit zu sp rech en, wo hl in der Hoffnung, dass sie Thomas Cavill erwähn en würde, aber sie ließ sich nicht darauf ein. Sie sagte nur, sie sei rech t g ern zu r Sch ule gegan gen , und frag te, ob ich eine Tasse Tee wolle. Dass meine Mutter an dem Tag so wenig zug änglich war, hatte auch sein Gu tes; so blieb mir eine Diskussion über meine Trennung von Jamie erspart. Da Verd rän gung b ei un s eine Art Familienhobby ist, fragte meine Mutter mich nicht nach Einzelheiten und kam mir nicht mit klu gen Ratsch lägen. So konn ten wir beide an dem Mytho s festhalten , dass ich mich ganz selb stlo s entschlossen hatte, nach Hause zu ko mmen und sie bei der Pflege meines Vaters zu un terstützen. Von Rita kann ich das leid er nicht behaupten. Schlech te Nach richten v erb reiten sich schnell, und mein e Tante ist eine wahre Freundin in der Not, ich hätte mich also nicht zu wund ern b rau chen , als sie mich, als ich zu Sams Ju nggesellin nenabschied im Roxy Club ein traf, gleich an der Tü r ab fing. Rita hakte sich bei mir ein u nd sagte: »Liebes, ich hab 's scho n g ehö rt. Mach d ir k eine So rg en, denk jetzt bloß nicht, dass du alt und un attraktiv bist und dazu verdammt, bis an dein Lebensende allein zu bleiben.« Ich rief den Kellner, u m mir wa s Ho chp rozen tig es zu be stellen, und dachte beklommen, dass ich meine Mutter tatsächlich um ih ren Abend mit meinem Vater und seiner Glock e b eneidete.
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»Viele lernen den Richtigen erst spät kennen«, fuhr Rita fo rt, »u nd werd en mit ih m g lü cklich. Sieh dir n u r deine Ku sine an.« Rita zeigte auf Sam, deren Gesicht hinter dem Tang a eines braun gebrannten fremden Mannes auftauchte und mich ang rinste. »Irgend wann bist du auch an der Reih e.« »Danke, Tante Rita.« »So«, sagte sie, »und jetzt amüsier dich und vergiss das alles.« Sie wollte sich sch on ih r näch stes Op fer such en, do ch dann drehte sie sich noch einmal um und packte mich am Arm. »Beinahe hätte ich's vergessen«, sagte sie. »Ich hab dir was mitgeb racht.« Sie k ramte in ih rer Umh än getasche u nd brachte einen Schuhkarto n zu m V o rsch ein . Au f der Seite war ein Paar bestickte Hausschuhe abgebildet, wie sie mein er Groß mu tter gefallen h ätten, u nd auch wenn ich mich ü ber ein solches Geschenk sehr wunderte, mu ss ich gestehen, dass sie durchaus bequem aussahen. Und nicht einmal unpraktisch: Schließlich war ich jetzt abends immer ziemlich lange au f den Bein en. »Danke«, sag te ich. »Wie nett.« Als ich die Schachtel öffnete, stellte ich jedoch fest, dass sie kein e Hau sschuhe, son dern Briefe enth ielt. »Die Briefe deiner Mutter«, sagte Rita mit einem diabolisch en Lächeln. »Hatte ich dir doch versprochen. Lies sie nu r, d as wird dich au fmuntern.« Eigentlich freute ich mich ü ber die Briefe, und d ennoch empfand ich plötzlich ein e tiefe Abneigung geg en meine Tante Rita, als ich die kindlich verschnö rkelte Hand sch rift auf sauber gezogenen Linien au f den Umschlägen sah. Als ich an das Mädchen dachte, dessen große Schwester es währen d der Evakuieru ng allein gelassen hatte, weil sie zusammen mit ihrer Freundin untergebracht werd en wollte, sodass Meredith auf sich selbst gestellt war. Ich legte den Deckel wieder au f den Karton, plö tzlich bestrebt, die Briefe mög lich st schn ell fo rtzu sch affen . Diese unausgegorenen Gedank en und Träu me des kleinen Mäd ch en s, das in den Flu ren von Schloss Milderhurst neben mir hergegangen war, das ich so gern besser kennenlernen wollte, gehörten nicht in den au sgelassenen Trubel dieses Clubs.
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Ich verabsch ied ete mich, als d ie Co cktails h eru mg ereicht wurden, und nahm die Briefe mit nach Hau se. Es war stockdunkel, als ich ankam, u nd ich sch lich au f Zehenspitzen nach ob en, um unseren hauseigenen Glöckner nicht zu wecken. Meine Sch reibtischlamp e v erb reitete schwaches Licht, das Haus machte seltsame Nachtg eräusch e, und ich setzte mich mit dem Schuhk arton auf dem Sch oß auf die Bettkante. Das war d er entscheidend e Augenblick, den k e ich, der Moment, der üb er alles Weitere entsch ied. Vor mir gabelte sich ein Weg , und ich konnte den einen oder anderen wählen . Nach ku rzem Zögern h ob ich den Deckel von der Schachtel und nahm die Briefe heraus. So fo rt fiel mir auf, dass sie n ach Datu m geordnet waren. Ein Foto fiel mir auf die Knie, es zeigte zwei Mädchen, die in die Kamera lächelten . In dem k leinen, dunkelhaarigen erkannte ich meine Mutter - ernste, b raune Augen, kn ochig e Ellbog en , die Haare praktisch ku rz g eschnitten, wie mein e Großmu tter es bev o rzugte -, da s andere, ältere mit dem langen, b londen Haar war natü rlich Juniper Blythe. Ich erkannte sie au s d em Bu ch, das ich mir in Mild erhurst g ekau ft hatte. Das Kind mit den leuchtenden Augen, das erwach sen geworden war. Entschlossen legte ich das Foto und die Briefe zu rück in den Karton, nur ein en Brief nah m ich h erau s und faltete ihn auseinander. Das Pap ier war so dünn , dass ich die feinen Narben, die die Füllfeder h interlassen hatte, an den Daumen spürte. Der Brief war datiert vom 6 . September 1 9 3 9 , wie säuberlich in der oberen rech ten Ecke vermerkt war.
Liebe Mum, lieber Dad, stand da in großer, runder Handschrift, Ihr fehlt mir beide sehr. Fehle ich Euch auch? Ich bin jetzt auf dem Land, und hier ist alles ganz anders. Erstens gibt es hier Kühe — wusstet Ihr, dass die tatsächlich »Muh« machen, und zwar ganz laut? Ich habe mich furchtbar erschrocken, als ich das zum ersten Mal gehört habe. Ich wohne in einem richtigen Schloss, aber es sieht nicht so aus, wie man sich eins vorstellt. Es gibt keine Zugbrücke, aber einen Turm und drei Schwestern und einen alten Mann, den ich nie zu sehen kriege. Ich weiß nur, dass er hier ist, weil die Schwestern über ihn reden. Sie nennen ihn Daddy, und er ist Schriftsteller. Er schreibt richtige Bücher wie die in der Büche232
rei. Die jüngste Schwester heißt Juniper, sie ist siebzehn und sehr hübsch und hat große Augen. Sie hat mich nach Milderhurst mitgenommen. Wusstet Ihr übrigens, dass die Beeren, aus denen Gin gemacht wird, Juniperbeeren heißen? Hier gibt es auch ein Telefon, wenn Ihr also Zeit habt und Mr. Waterman im Laden nichts dagegen hat, könntet Ihr ... Ich hatte die erste Seite zu Ende gelesen, aber ich drehte sie nich t um. Ich saß reg lo s da, als wü rde ich nach etwas lau schen. Und ich glau be, d as tat ich tatsäch lich, denn die Stimme des kleinen Mäd chen s war au s d em Sch uhkarton h erausgeweht und hallte von d en dunk len Wänd en wid er. Ich bin jetzt auf dem Land ... Sie nennen ihn Daddy ...Es gibt einen Turm und drei Schwestern ... B riefe haben so etwas ganz Besonderes an sich. Ein Gespräch verklingt mit dem letzten Wo rt, aber das geschriebene Wort überdauert. Diese Briefe waren kleine Zeitreisende. Sie hatten fün fzig Jah re lang geduldig in ihrer Schachtel gelegen und darau f gewartet, dass ich sie fand. Die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos warfen Lichtstreifen durch mein e Vo rhänge, silbern e Zacken husch ten über die Zimmerdecke. Dann wurd e es wieder still und dun kel. Ich drehte die Seite um und las weiter, und während ich las, en tstand ein Druck in meiner Brust, als wü rd e etwas Festes, Warmes von inn en gegen mein e Ripp en ged rück t. Das Gefüh l war so äh nlich wie Erleichterung und seltsamerweise zu gleich wie das Stillen von einer Art Heimweh . Was üb erhaup t keinen Sinn erg ab, nur dass die Stimme d es kleinen Mädchens so vertraut klang, dass das Lesen der Briefe sich wie das Wiedersehen mit einer alten Freund in an fühlte. Einer Freundin, die ich vo r langer Zeit gekannt hatte ...
1 London, 4 . September 1 9 3 9 Meredith hatte ihren Vater noch nie weinen sehen. Das taten Väter nicht, vor allem ihrer nicht (und er weinte auch nicht richtig , noch nicht, ab er er war n ahe dran ), und dah er 233
wusste sie, dass es nicht stimmte, was man ihnen erzählt hatte. Sie gingen gar nicht auf eine Abenteuerfahrt, und es würde au ch nich t bald vo rb ei sein. Dieser Zug würde sie au s London fo rtb ringen , und alles würde and ers werd en. Als sie sah , wie Dad s b reite Sch ultern zitterten, wie sein kantig es Gesicht sich so seltsam verzog, der Mund so fest zusammengek niffen , dass die Lippen fast nicht mehr zu sehen waren, hätte sie am liebsten geschrien wie Mrs. Pauls Baby, wenn es Hunger hatte. Aber sie tat es nicht, sie konn te nicht, so lange Rita neb en ih r saß und nu r au f einen weiteren Grund wartete, sie zu kneifen. Sie hob nu r eine Hand , und ih r Vater ebenso, dann tat sie so, als hätte jemand sie gerufen, und drehte sich um, damit sie ihn nicht mehr an sehen mu sste und sie beide au fhö ren k onnten, so schrecklich tapfer zu sein. In der Schule hatte es im So mmer Übun gen geg eben , und Dad hatte abend s immer wieder erzählt, wie er als Junge mit seiner Familie nach Kent gefah ren war, u m bei d er Hop fen ernte zu helfen, hatte gesch wärmt, wie son nig die Tag e gewesen waren , wie sie am Lagerfeu er g esungen hatten, wie schö n es au f dem Land g ewesen war, so g rün un d du ftend und endlo s weit. Meredith hatte den Geschichten fasziniert gelau scht, aber sie h atte auch hin und wied er einen v erstoh lenen Blick zu Mum geworfen, und da hatte sich d er Kno ten in ih rem B au ch g ebild et, eine böse Vo rahnu ng , die sie nicht mehr lo sgelassen hatte. Mu m hatte an der Spüle gestanden, dün n und kno chig , und h atte die Töp fe u nd Pfan nen mit einem Feuereifer geschrubbt, wie sie es immer tat, wenn etwas Sch limmes bevo rstand . Und wenige Tage sp äter hatte sie ih re Eltern zu m ersten Mal streiten hö ren. Mu m sagte, dass sie eine Familie seien und zusammenbleiben und das gemeinsam durchstehen mü ssten und dass eine Familie, die einmal au seinandergerissen würd e, nie wieder wie vorh er sein würde. Dad hatte ih r ganz ruhig geantwortet, dass es stimmte, was auf den Plakaten stand, d ass Kinder auf dem Land sicherer seien, dass es nicht für lange sei, und dann wü rden sie alle wieder zu sammenkomme n. Danach war es still gewesen, und Meredith hatte angestrengt gelauscht, dann hatte Mu m gelacht, ab er nicht fröhlich. Sie sei nicht von gestern, hatte sie gesagt, und eins
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wisse sie mit Sicherheit, nämlich dass man Regierungen und Männern in feinen Anzü gen nicht trauen könn e, und wen n einem d ie Kin der einmal weggeno mmen wü rd en, d ann wisse Gott allein, wann man sie zurückbekam und in welcher Verfassung , und dann hatte sie ein paar von den Wörtern geschrien, für die Rita eine Ohrfeige bekam, w en n sie sie b enu tzte, und gesag t, wenn er sie liebe, würde er ihre Kinder nicht fo rtschicken , und dann hatte Dad v ersuch t, sie zu beruh igen , und Mu m h atte geschluchzt, und dann hatten sie noch weitergeredet, aber Mered ith hatte sich das Kissen üb er den Ko p f gezogen, um Ritas Schn archen und alles andere nicht mehr hören zu mü ssen . Danach h atte n ieman d meh r von Ev akuierung g esp rochen, jeden falls ein paar Tage lang, bis Rita eines Nachmittags nach Hau se gerannt kam und berichtete, dass die öffentlichen Schwimmb äder geschlo ssen wo rd en waren un d an den Eing ängen neu e, g roße Plakate hingen. »Auf jeder Seite eins«, hatte sie gesagt, mit großen Au gen angesichts d er un heilvollen Nachricht. »Au f dem einen steht >Kontaminierte Frauen< und auf dem an deren >Kontaminierte Männer<.« Mu m h atte die Hände gerungen , und Dad hatte nur »Gas« gesag t, und damit war das Thema erledigt g ewesen. Am näch sten Tag hatte Mu m den einzigen Ko ffer, den sie b esaßen, vo m Dachbod en geholt und alle Kop fk issenbezüge, die sie en tbeh ren kon nten , dazu und hatte angefangen, alles einzu packen , was au f der Liste stan d, die sie in der Schule beko mmen hatten - nur fü r alle Fälle: Unterhosen , ein en Kamm, Tasch entü cher und je ein nageln eues Nachth emd fü r Rita und Meredith, was Dad ziemlich überflü ssig fand , aber Mum hatte seine Bemerkun g mit einem bösen Blick quittiert. »Glaub st du etwa, ich lasse mein e Kind er in Lu mp en zu Fremd en ins Hau s g ehen? « Von da an hatte Dad nichts meh r gesagt, u nd ob wo hl Meredith wusste, dass ihre Eltern bis Weihnachten b rau chen würden, um die neuen Sachen abzubezahlen, freute sie sich über d as neu e Nachthemd , d as so frisch und weiß war und d as erste, das sie nicht von Rita erbte ... Und jetzt wurd en sie tatsächlich fo rtgeschickt, und Meredith wü rde alles darum geben, dass sie ihren Wunsch zu -
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rücknehme n könnte. Meredith wa r nich t mu tig, nich t so wie Ed, und sie war auch nicht laut und selb stb ewu sst wie Rita. Sie war schüchtern und u nbeho lfen und g anz anders als alle an deren in der Familie. Sie setzte sich and ers hin, stellte ih re Füße nebeneinander au f ih ren Ko ffer und betrachtete ih re blitzblank en Schuhe. Dann verscheuchte sie das Bild von Dad, wie er die Schuhe am Abend zu vor gewien ert und dann ab gestellt hatte, wie er, die Hände in den Ho sentasch en vergraben, im Zimmer auf und ab gegangen war und dann wieder von Neuem angefan gen h atte, die Schuh e zu po lieren. Als k önnte er, in dem er Schuhcreme auftrug, sie tief in das Leder ein rieb und es dann polierte, bis es glänzte, irgendwie die un erme sslichen Gefahren abwenden, die vor ihnen lagen. »Mu -mmy! Mu -mmy!« Der Sch rei kam v o m an deren Ende d es Waggo ns, und als Meredith in die Richtung schaute, sah sie einen kleinen Jungen, no ch fast ein Baby, der sich an seine Sch wester klammerte un d mit d en Händen gegen die Fensterscheibe schlug. Seine Wangen waren tränenn ass, und die Hau t u nter seiner Nase war gerötet. »Ich will bei meiner Mummy bleiben!«, schrie er. »Ich will bei meiner Mummy bleiben!« Meredith konzentrierte sich au f ih re Kn ie, rieb sich die rote Stelle, die ih re Gasma ske hinterlassen hatte, als sie au f dem Weg von der Schule zu m Bahn hof gegen ih r Bein geschlen kert war. Dann schaute sie wieder au s d em Fen ster, sie konn te ein fach nicht anders; schaute zu dem Geländer hoch, wo die Erwachsenen dicht gedrängt standen. Er war immer no ch da, konnte sich nich t lo sreiß en, lächelte immer n o ch d as fremde Lächeln, das sein normales Dad-Gesicht verzerrte, und plötzlich bekam Meredith kau m n och Lu ft, ih re Brille beschlug , und wäh rend sie sich wün schte, die Erd e wü rde sich au ftun und sie verschlucken, damit d as alles vo rbei wäre, blieb ein Teil von ih r ganz unberü h rt un d üb erleg te, welch e Worte sie b enutzen wü rd e, falls man sie frag te, wie es sich an fühlte, wen n d ie Ang st ih r die Lung e ein schnü rte. Als Rita laut über etwas lachte, was ih re Freundin g erade gesagt hatte, sch loss Meredith die Augen .
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Es hatte am vergangenen Vo rmittag genau um Viertel nach elf ang efangen. Sie hatte mit ihrem Notizbuch vor dem Haus gesessen, die Beine vor sich auf den Stufen ausgestreckt, und geschrieben, während sie Rita beobachtete, die auf der an deren Straßenseite dem widerlichen Luke Watson mit den großen, gelben Zähnen schöne Augen machte. Die Bekann tmachung war aus dem Rad io im Nach barhaus g ekommen , die Worte waren leise au s dem Fenster geweht. Neville Chamberlain, mit seiner ernsten Stimme und seiner langsamen Art zu sp rechen , hatte erklärt, dass die Deutschen nicht auf das Ultimatum reag iert hätten und man sich jetzt im Krieg gegen Deutschland befände. Dann war die Nationalhymn e ertönt, und gleich darauf war Mrs. Paul aus der Tür geko mmen , den Holzlö ffel in d er Hand , v on dem n och Teig von ih rem Yo rk sh ire-Pudd ing trop fte, und nach ih r war Mu m herausgekommen und alle anderen in der Straß e. Alle waren vor ihren Häusern stehen geblieben , hatten einander angesehen, Verwirrung , Angst un d Unsicherheit stand ihnen ins Gesicht gesch rieben, und d ann hatten alle nach ein ander un gläubig gemu r melt: »Es ist so weit.« Acht Minuten später hatte es Fliegeralarm g egeben , und die Hölle war lo sgeb roch en . Die alte Mrs. Nicholson war hysterisch au f der Straß e hin und her gelau fen und hatte ab wech selnd d as Vaterun ser geb etet und ih rer aller Unterg ang be schworen. Mo ira Seymour, die Leiterin der örtlichen Zivilschutzgruppe, hatte, glü hend vo r Erregung , die sch were Ratsch e geschwun gen, das Signal für einen Gasangriff, worauf hin alle losgerannt waren, um ihre Gasmasken zu holen, und Inspector Whitely hatte sich auf sein em Fahrrad du rch das Chaos geschlängelt, ein Papp schild au f dem Rücken, auf dem stand: »Alle in die Schutzräume!« Meredith hatte den Tu mu lt mit g roß en Augen b eobachtet und dann in den Himmel geschaut in der Erwartun g, do rt feindliche Flugzeuge zu sehen, hatte sich gefragt, wie die woh l au ssehen mo chten , wie es sich an füh len wü rd e, wen n sie kamen , ob sie sch nell g enug wü rd e sch reiben kön nen, u m alles festzuhalten, doch dann hatte Mu m sie am Ar m g epackt und sie und Rita zu dem Sch utzgrab en im P ark gezerrt. Da bei war Meredith ih r Notizheft au s d er Hand g efallen, d ie
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Leute waren darüb ergetramp elt, und als sie sich losg erissen hatte, u m es au fzuheben, hatte Mu m sie angeschrien, dazu hätten sie keine Zeit, ih r Gesicht war g anz weiß g ewesen, fast zo rnig, und Meredith wusste, dass ih r am Abend eine ordentliche Standpauke b lühte, wenn n icht Schlimmeres, ab er sie hatte keine Wahl gehabt. Das Heft zurück zulassen war nicht infrage gekommen. Sie war lo sgeran nt, hatte sich un ter den Ellbo gen ih rer veräng stigten Nachbarn gedu ckt, das Heft aufgehoben - das ziemlich d reckig, ab er son st no ch unversehrt war - und war zu ihrer wütenden Mutter gelaufen, deren Gesich t jetzt nicht mehr weiß g ewesen war, sondern rot wie Hein z-To matenk etch up. Als sie den Un terstand erreichten und feststellten , dass sie ih re Gasmask en vergessen hatten, ertönte das Entwarn ungssign al. Mu m hatte ih r einen Schlag auf den Hintern verpasst und beschlossen, ih re Kinder am n äch sten Tag evakuieren zu lassen. »Hallo, Kleine.« Als Meredith ih re feuchten Augen öffnete, sah sie Mr. Cavill im Gang steh en. Sofort wu rd en ih re Wangen warm, und sie lächelte un d fluchte innerlich d arüber, dass sie an Rita denken mu sste, d ie nach Luke Watson schielte. »Darf ich mal einen Blick au f dein Namen ssch ild werfen? « Sie trocknete sich die Aug en un ter ih rer Brille u nd lehn te sich vor, damit er das Papp sc hild lesen ko nnte, das sie u m den Hals hatte. Überall u m sie heru m waren lärmend e Men sch en, die lachten, wein ten , sch rien und du rch ein anderliefen , aber einen Mo ment lang waren sie und Mr. Cavill allein inmitten d es Trubels. Meredith hielt den Atem an , sp ürte, wie ih r Herz poch te, sah, wie seine Lippen sich bewegten, als er d ie Wo rte las, ih ren Namen , sah sein Läch eln, als er festgestellt hatte, dass alles ko rrekt war. »Ah, ich sehe, du hast deinen Koffer. Hat deine Mutter dir alles eingepackt, was au f d er Liste stand? Brau ch st du no ch irgendetwas? « Meredith nick te; d ann schü ttelte sie den Kopf. Errötete, als ih r Wo rte in den Sinn kamen , die sie niemals aussp rech en du rfte: Ich möchte, dass Sie auf mich warten, Mr. Cavill. Bis ich ein bisschen älter bin - vierzehn vielleicht, oder fünfzehn -, damit wir beide heiraten können.
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Mr. Cavill notierte sich etwas au f einem Blatt, dan n steckte er die Kappe auf seinen Füller. »Die Zug fahrt wird ein e Weile d auern , Merry. Hast du et was d abei, womit d u dich besch äftig en kann st? « »Mein Notizbuch.« Da lachte er, d enn er hatte es ih r gesch enkt, als Belohnung dafü r, d ass sie bei den Prü fun gen so gu t ab geschn itten hatte. »Natü rlich «, sagte er. »Gen au das Richtig e. Sch reib sch ön alles au f. Alles, was du siehst und denk st und emp findest. Deine Stimme gehört dir, sie ist wichtig.« Er gab ih r ein en Sch oko riegel und zwinkerte ihr zu, und sie lächelte, als sie ih m nachschaute, wie er weiter den Gang entlangging, und ihr das Herz anschwoll, bis es fast zersp ran g. Das Notizbuch war Merediths kostb arster Besitz. Das erste richtige Tagebuch, das sie je besessen hatte. Sie hatte es jetzt sch on seit zwölf Mo naten, aber sie hatte no ch k ein ein ziges Wort hineingeschrieben, nicht einmal ihren Namen. Wie sollte sie auch? Meredith liebte das hübsche kleine Buch so seh r, den glatten Led ereinb and, die perfekten Lin ien auf den Seiten, das in den Rücken eingearbeitete Bändchen, das als Lesezeichen dien te, d ass es ih r wie ein Sak rileg vo rkommen würd e, wenn sie es mit ihrem Geschreibsel, ih ren langweiligen Geschichten über ihr lan g weiliges Leben en tweihte. Sie hatte es schon oft au s seinem Versteck genommen, es eine Weile in den Händen gehalten und es genossen, etwas so Sch önes ih r Eigen zu nenn en , u nd es dann wieder weggep ackt. Mr. Cavill hatte versucht, sie dav on zu überzeug en, dass das, was sie schrieb, lan ge nicht so wich tig war wie die Art und Weise, wie sie es schrieb. »Keine zwei Menschen werden jemals dasselbe wahrnehmen oder empfin den, Merry. Es kommt darauf an, wahrhaftig zu sein , wenn du schreibst. Gib dich nicht mit einem Ungefähr zu fried en. Wähle n icht d ie ein fach sten Sätze, die d ir in den Sinn kommen. Such nach den Worten, die genau d as au sd rü cken , was du denk st. Was du emp findest.« Und dann h atte er sie gefrag t, ob sie verstanden h abe, was er meinte, und dabei h atte er sie mit seinen dun klen , du rchd ring end en Augen ang esehen , u nd sie hatte
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gespürt, wie sehr er sich wünschte, dass sie die Dinge so sah, wie er es tat. Da hatte sie genick t, und einen Augenblick lang war es ge wesen, als hätte sich eine Tü r zu einer Welt geöffnet, die ganz and ers war als d ie, in der sie lebte... Meredith seu fzte un d riskierte einen Blick zu Rita hin über, die sich mit den Fing ern durch den Pony fuhr und so tat, als bekäme sie nicht mit, wie Billy Harris sie von seinem Platz au f d er anderen Seite au s anhimmelte. Sehr gut. Dass Rita mitb ekam, was sie fü r Mr. Cavill e mpfand, war das Letzte, was sie gebrauchen konn te, ab er für Rita drehte sich alles so sehr um Jungs und Lipp en stift, dass sie sich fü r n ichts an deres mehr interessierte. Und Meredith hoffte, dass das so blieb, damit sie in Ruhe ih r Tag ebuch fü h ren kon nte. (Natü rlich wü rde sie nicht ihr k o stbares Buch benu tzen. Fü r d iesen Zweck hatte sie alle möglichen losen Blätter gesamme lt, die sie zu sammen gefaltet vo rn e in ihrem wertvollen Buch au fbewahrte. Auf diesen Blättern schrieb sie ihre Berichte und sagte sich, dass sie sich vielleicht ein es Tages trauen würde, das echte Tagebuch einzu weih en.) Dann riskierte Mered ith no ch einen Blick nach d raußen zu ihrem Dad, bereit, schnell g enug wegsehen zu können, falls er gerade zu ih r h erüberschaute, ab er als sie d ie Meng e n ach sein em v ertrauten Gesicht absuchte, anfangs flüchtig, dann mit wachsender Panik, stellte sie fest, dass er nicht mehr da war. Die Gesichter hatten sich verändert, die Mü tter weinten immer noch, manche winkten mit Taschentüchern, and ere bemü h ten sich, tap fer zu lächeln, aber von ih m war keine Spu r zu entdecken . Wo er gestanden hatte, war jetzt eine Lücke, die gerade von jemand anderem eing enommen wurd e, und nachdem sie noch eine Weile nach ih m A u ssch au gehalten hatte, wurde ihr klar, dass er tatsäch lich g egang en war. Ohne dass sie es mitbekommen hatte. Den ganzen Vormittag üb er h atte sie sich zu sammen g enommen, hatte gegen die Trau rig keit an gekämp ft, ab er au f ein mal fühlte sie sich so elen d, so klein und veräng stig t, das s sie an fing zu wein en. Sie wu rde von Gefühlen überwältigt, und Tränen liefen ih r über die Wangen . Was für ein schrecklicher Gedanke, dass er wo mö g lich die ganze Zeit d ort g estanden hatte, dass er gesehen hatte, wie sie ih re Schu he be-
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wunderte, wie sie mit Mr. Cavill redete, über ih r Tagebu ch nachdachte, dass er sich gewün scht h atte, sie mö ge zu ih m ho ch schauen , läch eln , zum Abschied winken, dass er es irgend wan n au fg egeb en hatte u nd nach Hau se gegang en war in der Überzeugung, dass ih r d as alles gar nich ts ausmachte ... »Hör bloß auf damit«, sag te Rita. »Sei n icht so eine Heul su se. Wenig stens erleben wir mal was.« »Meine Mum sagt, man darf den Kopf nicht aus dem Fenster stecken, sonst wird er von einem entgegenko mmenden Zug abgerissen.« Das war Ritas Freundin Carol, sie war vierzehn und gen auso n eun malklug wie ih re Mutter. »Un d man darf niemand, der einen fragt, den Weg erklären. Das kön nte nämlich ein deutscher Spion sein, der nach Whitehall will. Die bringen auch Kinder um.« Meredith verbarg ihr Gesicht in d en Händen , schluchzte no ch ein bisschen un d wischte sich dan n d ie Wang en ab, al s der Zug sich in Bewegung setzte. Ein Heidenlärm b rach lo s, Eltern riefen ihren Kindern zu m A b sch ied etwas zu, d ie Kin der im Zug riefen etwas zu rück, es d amp fte und zisch te, Pfeifen schrillten, und Rita n eben ih r lach te, und d ann fuh ren sie aus dem Bahnho f h inau s. Ratterten und ru mp elten üb er die Gleise. Ein paar Jung s, d ie ih re Sonn tag sanzü ge trugen, obwohl Montag war, liefen au f dem Gan g von Fen ster zu Fenster, schlugen gege n die Scheiben, g rölten und winkten, bis Mr. Cavill ihnen befahl, sich auf ihre Plätze zu setzen und die Türen nicht zu öffnen. Mered ith lehnte d ie Stirn geg en das Fen ster, ab er anstatt die trau rigen , g rau en Gesichter am Straß en ran d zu sehen , die u m die Stadt wein ten, die ihre Kinder verlo r, b eobachtete sie vo ller Staun en, wie große, silberne Ballon s langsam au fstiegen und in der leich ten Brise üb er Londo n trieb en wie seltsame, schöne Lebewesen.
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2 Dorf Milderhurst, 4 . September 1 9 3 9
Das Fahrrad hatte zwanzig Jahre lang im Stall allein d e m Bau von Spinnweben ged ien t, und Percy zweifelte nicht daran, dass sie im Dorf damit für einiges Au fsehen so rg en wü rde. Die Haare mit einem Gummiband zu sammengehalten, den Rock zusammengerafft und zwischen die Knie gestop ft. Ihre Sittsamkeit würde die Fah rt p roblemlo s überleben , ab er sie gab sich nich t der Illusion hin, dass sie eine eleg ante Figur machte. Das Kriegsministerium hatte davo r gewarnt, Fah rräd er in die Händ e des Feindes geraten zu lassen , aber sie h atte den alten Drahtesel trotzdem wieder hervorgeholt. Wenn an den Gerü chten, die d erzeit ku rsierten , etwas dran war und die Regierung mit drei Kriegsjahren rechnete, dan n wü rde üb er ku rz od er lang der Treibsto ff rationiert werden, und sie brauchte nun mal einen fahrbaren Untersatz. Das Fahrrad hatte früher einmal Saffy gehört, ab er sie benu tzte es sch on lange nich t meh r; Percy hatte es aus dem Stall g eholt und geputzt und war so lang e damit vo r d em Hau s h eru mg efah ren, bis sie sich einigermaßen sicher fühlte. Sie hatte gar nicht damit gerechnet, dass ihr das Fahrradfahren so viel Spaß machen wü rde, und sie k onnte sich beim b esten Willen nicht erinnern, warum sie sich d amals nicht au ch eins ang eschafft hatte, waru m sie dieses Vergnü gen erst entd eck t hatte, als sie eine Frau mittleren Alters war, die erste graue Haare bekam. Und es war, vor allem in diesem herrlichen Altweib erso mmer, wirklich ein Verg nügen , die Brise auf ih ren erhitzten Wang en zu spüren, wenn sie an den Hecken en tlang rad elte.
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Percy erreichte die Hüg elkup pe und lächelte beglü ckt, als sie leicht vo rg ebeu gt in d ie nächste Senke hinunterrollte. Die ganze Landsch aft leuch tete wie vergoldet, Vögel zwitscherten in den Bäumen , die warme Luft flimmerte. Sie genoss den September in Kent so seh r, dass sie sich fast hätte einbilden könn en, sie hätte d ie gestrig e Ankünd igung nur geträu mt. Sie nahm die Abkürzung du rch die Blackberry Lane, fuhr am See vorbei, sprang vo m Fah rrad und schob es üb er den schmalen Pfad, der am Bachufer entlang füh rte. Das erste Paar kam ih r entg egen , als sie den Tunnel er reichte, ein junger Mann und eine jung e Frau, nicht viel älter als Juniper, die Gasmasken über die Schulter gehängt. Sie gingen Hand in Hand, in ein leises, ernstes Gespräch vertieft, die Köpfe zusammengesteck t, sodass sie Percy kau m wahrnahmen. Kurz darauf tauchte ein zweites, ähnliches Paar au f, dann ein drittes. Percy nickte d em letzten Pärchen zu m Gruß zu und wün schte au f der Stelle, sie h ätte es nicht getan. Die ju nge Frau läch elte ih r schüch tern zu und sch miegte sich no ch enger an ihren Freu nd, und die beid en sch auten einan der so liebev oll und zärtlich an, d ass Percy errötete an gesichts ihrer Taktlosigkeit. Die Black berry Lane war schon in Percys Jugen d ein bevo rzugtes Plätzchen für Liebespaare gewesen. Wer wüsste das besser als sie. Sie war selbst einmal verliebt gewesen, und sie hatten sich jahrelang unter g röß ter Heimlichkeit getro ffen , nich t zuletzt, weil nicht d ie gering ste Au ssich t bestand, ih r Verhältnis durch eine Heirat fü r rech tsgültig zu erklären. Sie hätte sich leicht jeman d anders au ssu chen können, es hatte gen ug g eeignete Kandidaten g egeben, Männer, mit denen sie sich in der Öffen tlichkeit hätte sehen lassen könn en, ohne Gefahr zu laufen, Schande über die Familie zu bringen, aber die Liebe ist kein e kluge Beraterin, jedenfalls nicht nach Percys Erfahrung , d enn si e scherte sich nicht um g esellschaftliche Normen, um Klassenunterschiede, Anstand od er g esunden Men schen verstan d. Und obwohl Percy stets so stolz gewesen war auf ihren Pragmatismu s, hatte sie der Liebe eben so wenig widerstehen könn en wie dem Bedürfnis, Atem zu holen. Sie hatte sich in ih r Sch ick sal g efügt und ak -
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zeptiert, dass sie sich ih r Leben lang mit verstohlenen Blick en, heiml ich zugesteckten Briefen und hin und wieder einem seltenen , ko st baren Stelldichein b egnügen mu sste. Percys Wangen glühten , wäh rend sie ih r Rad schob . Kein Wund er, dass sie sich diesen jung en Liebesp aaren so verbunden fühlte. Sie ging mit g esenk tem Ko pf, den Blick au f den von Laub b edeckten Weg geheftet, bemüh t, niemand en in Verlegenheit zu brin gen , bis sie au f die Straße g elan gte, wo sie wieder au f ih r Fah rrad stieg und in s Do rf fu h r. Sie frag te sich, wie es sein konnte, dass die mächtige Kriegs masch inerie bereits in Gan g gesetzt war, wo die Welt doch immer noch so schön war, die Vögel sangen , die Blu men au f den Wiesen blühten und die Herzen der Liebenden schlugen. Sie fuhren an grau en, rußigen Gebäuden vo rbei und hatten London noch nicht verlassen, als Mered ith merk te, dass sie pinkeln musste. Sie kniff die Sc henk el zu sammen und d rück te ihren Koffer fester auf den Schoß , während sie sich fragte, wo die Reise eigentlich hinging und wie lange sie noch dauern würde. Sie war v ersch witzt und mü d e. Sie hatte alle ih re Marme ladenb rote scho n au fgegessen und hatte kein bissch en Hu nger, aber sie langweil te sich und füh lte sich verwirrt, und sie war sich ziemlich sich er, dass sie gesehen hatte, wie ih re Mu m a m Mo rgen eine g roß e Pack ung Schoko ladenkekse in ih ren Koffer gepack t hatte. Sie öffnete die Schnappverschlüsse, hob den Deckel ein ganz klein wenig und versu chte, hin einzu lugen. Schließlich schob sie eine Hand unter den Deckel un d tastete vo rsichtig nach den Kek sen. Natürlich hätte sie den Ko ffer ganz öffn en kö nnen, aber sie wollte Ritas Au fmerksamkeit nicht auf sich lenken. Da war der Mantel, an dem Mum n ächtelang g enäh t hatte, weiter links eine Do se Kond en smilch, di e Meredith so fo rt nach der Ankunft ihrer Gastfamilie überreichen sollte, dahinter ein halbes Du tzend kleine Handtücher, deren Verwen dun gszweck Mu m ih r in einem hochnotpeinlichen Gespräch erklärt hatte. »Es ist du rchaus möglich, dass du zur Frau wirst, während ih r auf dem Land seid«, hatte Mu m gesagt. »Rita kann dir helfen, aber du mu sst auf jeden Fall darau f vo rb ereitet sein.« Rita hatte geg rinst, und Meredith hatte
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sich geschüttelt und überlegt, wie g roß die Chan ce war, dass sie sich als seltene bio logische Au snah me en tpupp te. Sie fuh r mit d en Fingern üb er den weichen Einband d es Notizbu ch s. Und dann - Bingo! Darunter ertastete sie die Papiertü te mit den Kek sen. Die Schokolade war ein bisschen geschmolzen, aber es gelang ih r, einen Kek s von den anderen zu lösen. Sie drehte sich mit dem Rü cken zu Rita und knab berte sich lan gsam vom Rand bis zu r Mitte vo r. Hinter ihr hatte ein Junge d as vertraute Lied der Luftschu tzh elfer angestimmt Under the spreading chestnut tree Neville Chamberlain said to me: If you want to get your gas mask free, Join the blinking ARP! - und ih r Blick wanderte zu ih rer Gasmask e. Meredith stop fte sich d en Rest von ihrem Keks in den Mund und wischte ein paar Krümel vom Kofferdeckel. Diese blöde Maske. Sie stank ekelhaft nach Gummi, und es tat an der Haut weh, wenn man sie abnahm. Mu m hatte ihnen das Versprechen abgenommen , ih re Gasmask en immer b ei sich zu tragen und bei jedem Alarm au fzu setzen , u nd Meredith, Ed und Rita hatten widerstrebend genickt. Später hatte Meredith gehört, wie Mum zu Mrs. Pau l von nebenan gesag t hatte, eh er würde sie bei einem Gasangriff sterben, als unter dieser Maske zu ersticken. Daraufhin hatte Meredith sich fest vorgeno mmen , ih re Maske bei der erstbesten Gelegenheit zu verlieren. Ein paar Leute standen in ih re n k leinen Gärten und win kten ihnen zu. Plötzlich kniff Rita sie in den Arm, dass sie au fschrie: »Was soll das?« Sie rieb sich die schmerzende Stelle. »Sieh mal, die netten Leute da drau ßen, die wollen was gebo ten k riegen «, sag te Rita mit einer Kop fbewegung in Rich tu ng Fen ster. »Sei keine Spielverderb erin , Merry, h eul ihnen ein b isschen was vo r.« Schließlich ließen sie d ie Stadt hinter sich u nd fuh ren durch grüne Landschaften. Der Zug ratterte üb er die Schie-
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nen, v erlang samte hin und wied er das Temp o , wenn sie ein en Bahnhof passierten, ab er alle Sch ild er waren ab mo ntiert worden, sodass sie keine Ahnung hatten, wo sie sich befanden. Meredith musste eingen ick t sein, denn plötzlich wu rd e sie aus dem Schlaf gerissen, als der Zug qui etschend zu m Stehen kam. Es gab nich ts zu sehen, nu r Wiesen und bewaldete Hügel am Ho rizont und h in und wied er ein p aar Vög el, die über den blauen Himmel fl ogen. Einen glückseligen Au genblick lang dachte Meredith, sie wü rd en u mk eh ren und wieder n ach Hause fahren. Vielleicht hatte Deutschland ja eingesehen, dass En gland nicht mit sich spaßen ließ, vielleich t war der Krieg ja scho n v o rbei, und sie b rau chten nicht meh r au fs Land zu fahren. Aber es so llte nicht sein . Nachdem sie ziemlich lange gewartet hatten und Roy Stanley, der ein e g anze Do se Anan as geleert hatte, schon wieder au s dem Fen ster geko tzt h atte, befahl man ih nen , aus dem Zug zu steigen und sich in Reihen au fzu stellen . Sie bekamen alle eine Spritze, ihre Haare wur den au f Läu se untersucht, dann mu ssten sie wied er einsteigen, und weiter ging die Fahrt. Sie hatten nicht einmal Gelegenheit b eko mmen , zur Toilette zu gehen. Danach war es still im Zug, selb st die ganz Kleinen waren zu erschöpft zum Weinen. Sie fuhren und fuhren, stundenlang, so schien es Mered ith , u nd sie beg ann sich zu frag en, wie groß England eigentlich war und ob sie jemals eine Kü ste erreichen wü rd en. Womöglich, dachte sie, waren sie einem Riesenkomplott zu m Op fer gefallen, womöglich war der Loko mo tiv füh rer ein Deutscher, der sich mit Englands Kindern au s dem Staub machte. Die Theorie war zwar nicht ganz lo gisch - was sollte Hitler den n mit Tau senden neuen Bürgern anfangen, die wah rscheinlich noch alle ins Bett mach ten? -, aber Meredith war inzwisch en zu mü d e, zu du rstig und zu u nglü cklich, um n o ch logisch d enken zu kön nen . Sie kniff die Schenkel noch fester zu sammen und zählte stattdessen die Felder. Felder und Feld er und Felder, und Gott allein wusste, wo man sie hin brachte un d was sie do rt erwartete.
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Jedes Haus hat ein Herz, ein Herz, das geliebt hat, ein Herz, das in Zufriedenheit geschwelgt hat, ein Herz, das gebrochen wurde. Das Herz von Schloss Milderhurst war größer als die meisten, und es schlug k räftig er. Es p ochte und stockte, raste und beruh igte sich in dem klein en Zimmer hoch oben im Turm. Das Zimme r, in dem Raymo nd Blythes Ururururgroßvater über seinen Sonetten für Königin Elizabeth geschwitzt hatte, au s d em eine Groß tante g efloh en war, u m sich mit Lo rd Byron zu vergnüg en, und auf dessen steinernem Sims ein Schuh von Raymond Blythes Mutter zurückgeb lieben war, als sie sich aus dem schmalen Fenster in den v on der Sonne erwärmten Schlossg raben ge stü rzt hatte, während ihr letztes Gedicht auf einem h and geschö p ften Blatt Papier hinter ihr her flatterte. Raymond Blythe stand an seinem mäch tig en Eich en sch reib tisch und stop fte seine Pfeife. Nach dem Tod seines jüngsten Bruders Timo thy hatte seine Mutter sich in dieses Zimme r zurückgezogen und sich ih rer Trau er h ingegeben . Hin u nd wieder hatte er sie am Fenster gesehen. Von der Grotte oder vom Lustgarten oder vo m Wald rand au s hatte er ih ren kleinen Kopf ausmachen kön nen, wenn sie am Fenster saß und au f die Felder, au f den See hinaus schaute, ih r elfenbeinfarbenes Profil - wie au f der Brosche, die sie immer trug, ein Erbstück ih rer Mu tter, der franzö sischen Gräfin, die Ray mond nie kennengelernt hatte. Manchmal war er den ganzen Tag draußen geblieben, war zwisch en den Hopfenpflanzen hin und her gesp ru ngen , au fs Sc heu nend ach geklettert in d er Hoffnung, sie möge ihn bemerken , sich So rgen um ihn machen, ihn ausschelten. Aber das tat sie nie. Die Kinderfrau hatte ihn jedes Mal ins Haus gerufen, sobald es Abend wurde. Ab er das war lang e her un d er ein närrischer alter Mann gewo rd en, d er sich in sein en verb lassend en Erinn erungen verirrte. Seine Mutter war nur mehr eine einstmals verehrte Dichterin, um die sich Legenden zu ranken begannen, wie das Legen den so an sich h atten - das Flü stern ein er Sommerbrise, die Verheißung vo n Sonnenl ich t an einer kahlen Wand — Mummy ... Er war sich nicht einmal meh r sicher, ob er sich noch an ihre Stimme erin nern konnte.
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Jetzt gehö rte das Zimmer ih m, Raymond Blythe, dem Herrn üb er Schloss Milderhurst. Er war der erstgeborene Sohn sei ner Mutter, ihr Erbe und neben ih ren Gedichten ihr bedeutend stes Ver mächtnis. Ein eigen stän diger Sch riftsteller, d em Respekt entgegengebrach t wu rde und der - das war nichts als die Wah rheit, konterte er, als sich die Stimme d er Besch eidenheit meldete — einen gewissen Ruhm erworb en hatte, genau wie sein e Mutter vor ihm. Hatte sie, als sie ihm das Schloss und ih re Leidenschaft für das geschriebene Wort vererbt hatte, geahnt, fragte er sich oft, dass er ihre Erwartu ngen erfüllen wü rde? Dass er eines Tages seinen Teil dazu beitragen würde, seine Familie in literarisch en Zirkeln berühmt zu machen? Raymond fasste sich an sein lädiertes Knie, d as p lötzlich schmerzte, und streckte das Bein, bis die Spannu ng nachließ. Er hu mp elte an s Fen ster, lehnte sich g egen den Sims, währen d er ein Streichholz an riss. Der Tag war beinah e p erfek t. Während er an seiner Pfeife zo g, um den Tabak zu m Glühen zu b ringen , ließ er den Blick mit zu sammen gekniffen en Au gen über die Felder, die Ein fah rt, den Rasen , den CardarkerWald wandern . Üb er das große, verwilderte Milderh u rst, das ihn au s London herg erufen hatte, dessen Ruf ihn selb st auf den französischen Schlach tfeld ern erreicht h atte, das schon immer seinen Namen gek annt hatte. Was würde aus Milderhu rst werden , wenn er ein mal nich t mehr da war? Raymond wu sste, dass sein Arzt die Wahrheit sag te; er war nicht dumm, n u r alt. Und doch konnte er ein fach nicht glauben, dass eine Zeit kommen würd e, in der er nicht länger an diesem Fen ster sitzen und au f seine Län dereien schauen würde, Herr über alles, was das Auge erblickte. Dass der Name der Familie Blythe, das Vermächtnis der Familie Blythe mit ihm sterben würd e. Raymonds Gedanken stockten. Es wäre seine Pflicht gewesen, das zu verhindern. Vielleicht hätte er noch ein mal heiraten sollen, eine Frau finden, die ihm womö glich ein en So hn geschenkt hätte. Die Frag e des Erbes beschäftigte ihn in letzter Zeit meh r d enn je. Raymo nd zog an seiner Pfeife und paffte mit ab schätziger Miene, wie er es vielleicht in Gegen wart eines alten Freu n -
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des tun würde, dessen Angewohnh eiten allmählich lästig wu rd en. Er neig te dazu , melod ramatisch zu werden, er war ein sentimentaler alter Narr. Ob sich wohl jeder Mann einbildete, d ie Welt wü rde ohne ihn zu g runde geh en? Zu mind est jeder Mann, d er so stolz war wie er. Er sollte sich meh r in Bescheidenheit üben , dachte Ray mo nd , Hoch mu t k am vo r dem Fall, so stand es schon in der Bibel. Außerd em brauch te er gar keinen Sohn: Er h atte Nachko mmen g en ug zu r Au swahl, drei Töch ter, von den en kein e das Zeug zu r Ehefrau hatte. Und dann war da noch die Kirche, seine neue Kirche. Sein Priester hatte ihm erst k ü rzlich von der himmlisch en Belohn ung erzählt, die Männer wie ihn erwartete, die ihre katholischen Brüd er so g roßz ügig bed achten . Der schlaue Pater Andrews wusste, dass Raymond es bitter nötig hatte, sich u m h immlisch en Beistand zu bemühen. Er zog an der Pfeife und behielt den Rauch einen Moment im Mu nd. Pater And rews hatte ihm den Grund für seine Heimsu chung en erklärt und was er tun mu sste, u m seinen Dämon zu exorzieren. Er wu sste jetzt, dass er fü r sein e Sün den bestraft wurde. Keine Reu e, keine Beichte, nich t ein mal die Selb stgeißelung hatten ausgereicht; Raymonds Verbrech en war zu g roß. Ab er k onnte er sein Sch lo ss wirklich in die Hände von Fremd en übergeben, nu r u m d en verfluchten Dämo n zu tö ten? Was wü rd e aus den flüs ternden Stimmen werd en , aus den fernen Stu nden , d ie in diesem Gemäu er gefangen waren? Es war der innige Wunsch seiner Mutter: Das Schloss mu ss in der Familie bleiben. Würde er es wirklich übers Herz bringen, sie zu enttäusch en? No ch dazu, wo er eine so fähige Nach folg erin hatte, Persephone, die älteste und zuverlässigste seiner drei Töchter. Er hatte sie am Morgen mit dem Fahrrad davon fah ren sehen , hatte beobachtet, wie sie an der Brü cke angehalten hatte, u m d ie Fundamen te zu ü berp rü fen, so, wie er es ih r vor langer Zeit beigebrach t hatte. Sie war die einzige von den d reien, d eren Liebe zu m Schlo ss ann ähernd so groß war wie die seine. Ein Segen, dass sie nie einen Ehemann gefunden hatte u nd jetzt au ch wohl keinen meh r fin den würde. Sie g ehö rte zu m Inv entar des Schlo sses u nd damit ih m, Raymond Blythe, so wie die Statuen in der Ei-
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benhecke ihm gehörten . Man konn te sich darau f verlassen, dass sie Mild erhurst niemals Unrech t tun würde. Sie war wie er, und Raymond vermutete, dass sie einen Mann mit bloßen Händen erwü rg en würde, falls er es wagen sollte, au ch nu r einen Stein au s dem Schloss zu entfernen. Er hörte das Geräusch eines Motors. Ein Auto mobil, irgendwo unterhalb des Fensters. Im näch sten Moment erstarb das Geräusch, und er hörte, wie ein e Tü r zu gesch lag en wurde, schwer, metallisch. Raymond reckte den Hals, um über den steinern en Sims sehen zu könn en . Es war der g roß e, alte Daimler, jemand hatte ihn au s der Garage g eho lt und b is zu r Einfahrt gefahren und do rt gep arkt. Etwas Gespen stisch es bewegte sich , ein e b leiche Elfe - seine Jüng ste, Juniper, sp ran g von d en Stu fen vor dem H aus und lief zur Fahrertür. Raymo nd lächelte in sich hinein, amü siert und erfreut. Sie war eine Streunerin, kein Zweifel, aber was dieses hagere, wilde Geschöp f mit sech sundzwanzig simplen Buchstaben zustandebrachte, die Wo rte, die Sätze, die dieses Kind b ild ete, das war atemberaubend. Wäre er jüng er, er hätte allen Grund, eifersüchtig zu sein ... Noch ein Geräusch. Näher. Im Haus. Schsch ... Hörst du ihn? Raymond erstarrte. Und lauschte. Die Bäume hören ihn. Sie wissen als Erste, dass er kommt. Schritte auf dem Treppenabsatz. Sie stiegen h öher u nd h ö her, näherten sich ih m. Er legte seine Pfeife au f dem glatten Stein ab. Sein Herz raste. Horch! Im tiefen, dunklen Wald erzittern die Bäume, ihre Blätter rascheln wie Silberfolie, ein verstohlener Wind geistert und schlängelt sich glitzernd durch ihre Kronen und flüstert, dass es bald anfangen wird. Er atmete so ruhig au s, wie er konn te. Es war so weit. Der Mo dermann war end lich gek o mmen , u m Rach e zu nehmen . Raymond hatte es die ganze Zeit gewusst. Er konnte nicht aus dem Zi mmer en tko mmen , n icht, so lang e der Dämo n sich au f der Trepp e befand . Der einzig e and ere Fluchtweg war das Fenster. Raymond warf einen Blick über den Sims. Hinunter in die Tiefe, wie ein Pfeil, wie seine Mu tter es getan hatte.
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»Mr. Blythe? « Eine Stimme wehte von der Treppe hoch. Raymond wappnete sich . Der Modermann war klug, er kann te viele Tricks. Raymonds Haut krib belte am ganzen Kö rper. Er lauschte angest rengt über seinen eigenen keuchenden Atem. »Mr. Blythe? « Der Dämo n rief ihn no ch einmal, er war näher gekommen. Raymond du ckte sich h inter den Sessel. Kau erte sich zitternd in den Schatten. Ein Feigling bis zuletzt. Die Sch ritte näh erten sich un aufhaltsam. An der Tür. Au f dem Teppich. Näher, näh er. Er k niff die Augen zu , schlan g die Arme sch ützend über den Kopf. Es war direkt über ihm. »Ach, Raymond, Sie Ärmster. Ko mmen Sie, geben Sie Lucy die Hand. Ich habe Ih nen eine leckere Su ppe geb rach t.« A m Dorfrand, zu beiden Seiten der High Street, standen die Pappeln wie müde Soldaten aus einer anderen Zeit. Sie trugen wieder Uniform, stellte Percy fest, als sie an ihnen vo rbeiflitzte, frische weiß e Farbstreifen leu chteten an ih ren Stämmen. Auch die Bordsteinkan ten waren frisch bemalt wo rd en und sogar die Fe lgen vieler Autoreifen. Nach langem Hin u nd Her war am A bend zuvo r die Verdunk elung sv ero rd nun g in Kraft getreten: Eine halbe Stund e n ach Sonn enuntergang waren alle Straß enlatern en au sgeg angen, es durften keine Autoscheinwerfer eingeschaltet werden , un d alle Fen ster mu ssten mit schwerem schwarzen Stoff verhängt werden. Nachdem P ercy nach ih rem Vater gesehen hatte , war sie in den Turm g estiegen und hatte übet das Dorf hinweg in Richtung der Küste gesch aut. Der Mond war die einzige Lich tquelle gewesen, und Percy hatte sich mit Schaudern vorgestellt, wie es in früh eren Jahrhunderten g ewesen sein mu sste, als es n och v iel dun kler in der Welt gewesen war, als Ritter mit ihren Heeren das Land durchzog en, Pferdeh u fe üb er den harten Boden trommelten, als Soldaten an Schlosstoren Wach e gestanden hatten ... Sie musste plötzlich au sweichen, als ih r Mr. Donald son in seinem Wagen entgegen kam. Er sch ien d irekt au f sie zu zu fahren, die Hände ans Steuerrad geklammert, d ie Ellbogen seitlich au sgestreck t, während er mit zu sammen g ekniffen en Aug en du rch sein e Brille au f d ie Straße starrte. Seine Mien e
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erh ellte sich , als er sie erk annte, er hob eine Hand und win k te zu m Gruß, wodu rch er seinen Wagen noch dichter an den Straßenrand manövrierte. Percy, die sich auf dem Grü nstreifen in Sicherheit gebracht hatte, win kte zu rück und schaute ih m b eso rgt n ach, als er in Schlangenlinien weiter zum Bell Cottage fuhr, wo er wohnte. Wie würd e er erst fahren, wenn es dunkel wu rd e. Sie seu fzte. Zum Teu fel mit d en Bomb en . Es war die Dunkelheit, denen die Leute hier zum Opfer fallen würden. Einem Du r ch reisend en, der nich ts vo n der Verd unkelung svero rdnung wu sste, wäre im Do rf Milderhu rst wohl keine Veränderung aufgefallen . Die Leute gingen nach wie vor ihren Geschäften nach, kauften Lebensmittel ein, stan den plau dernd vo r der Po st, ab er Percy wusste es besser. Es sprang einem nicht in s Auge, es gab kein Heulen und Zähneknirsch en, nein, die Veränderung war v iel subtiler und vielleicht desh alb umso trau riger. Der bevo rstehend e Krieg zeig te sich im abwesenden Blick d er alten Leute, in ih ren Gesichtern, die nicht von Ang st, sond ern von Trau er übersch attet waren. Denn sie wu ssten , was es bedeutete, sie hatten den letzten Krieg erlebt un d erinnerten sich an d ie vielen jungen Män ner, die so bereitwillig lo smarsch iert und nie wieder zurück gekehrt waren. Und an jene, die es, wie Percys Vater, geschafft hatten, die zurückgekehrt waren, jedo ch einen Teil ih rer selb st fü r immer in Frankreich zurückgelassen hatten. Die immer wieder Momente durchlebten, in denen ih r Blick sich trübte, ihre Lippen jed e Farbe verlo ren und sich vor ih rem g eistigen Auge Szenen abspielten, über die sie nicht sp rechen und die sie nicht ab schütteln konn ten . Percy und Saffy hatten am Abend zuvo r vo r dem Radio gesessen , als Premiermin ister Chamberlain die Verordnung verlas, und d ann hatten sie n achden klich d er Natio nalh ymn e gelau scht. »Jetzt werden wir es ihm wohl sagen mü ssen«, bemerk te Saffy sch ließ lich. »Ich schätze ja.« »Das übernimmst ab er du.« »Natürlich.«
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»Sieh zu, dass du den richtigen Mo ment erwisch st. Du musst es ihm schonend beib ring en , d amit er nicht verrücktspielt.« Woch enlang hatten sie es vor sich hergeschob en, ih ren Vater darü ber in Kenn tnis zu setzen , dass mit Krieg zu rechnen war. Sein erneutes Abdriften in wirre Wahnvorstellung en hatte ihn noch weiter von der Realität entfernt. Er sch wan kte zwischen Extremen wie d as Pendel der Standuh r. Mal war er klar bei Verstand, führte ein vernün ftiges Gespräch mit Percy ü ber das Schloss, über Geschichte und über Literatu r, und im n äch sten Mo men t versteck te er sich hinter Sesseln u nd weinte aus Angst vor Gesp en stern . Od er er schlug ih r schüchtern vor - und kicherte dabei wie ein Schulju nge -, mit ih m zum Bach, zum Paddeln, zu gehen, und sagte, er kenne die beste Stelle, u m Fro sch laich zu sammeln , und er werde sie ihr zeigen, wenn sie ein Geheimnis für sich behalten k önne. Als Percy und Saffy acht Jahre alt waren, im So mmer vor dem Ersten Weltkrieg, hatten sie zusammen mit ihrem Vater an einer Übersetzun g von Sir Gawain and the Green Knight gearbeitet. Wenn ih r Vater ihnen die mittelenglischen Verse vorlas, hatte Percy die Aug en geschlossen und die magischen Klänge, das alte Flüstern , das sie umgab, in sich au fgenommen. »Sumwhyle wyth wormes he werres I And etaynes that hym anelede«, sagte der Vater. »Er hörte die Riesen atmen , Persephone. Weißt du, wie sich das anfühlt? Hast du schon mal die Stimmen deiner Vo rfah ren gehö rt, die im Gemäuer ächzen? « Un d d ann hatte sie ge nickt und sich n och eng er an ihn geku schelt und die Augen zu gemacht, währen d er weitererzählte ... Damals war alles no ch so einfach gewesen - die Liebe zu ihre m Vater war ein fach g ewesen. Er war ein Riese von über zwei Metern , ein Mann wie au s Stahl, und sie hätte alles getan, u m seine An erkennun g zu gewin nen . Aber seitdem war so vieles geschehen. Zu erleb en, wie sein altes Gesicht den begeisterten Ausdru ck eines kleinen Ju ngen ann ah m, war bein ahe unerträglich. Sie würde es niemandem eingestehen, a m allerwenig sten Saffy, aber Percy konnte es einfach nicht aushalten, wenn der Vater in einer seiner »regressiven Phasen« war, wie der Arzt es nannte. Das Problem war die Ver -
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gangenheit. Sie ließ ih r k ein e Ruhe. Ih re Nostalgie lähmte sie, und das war absurd , denn Percy Blythe ha tte überhaupt nichts üb rig fü r Sentimen talität. Von un liebsamer Trübsal erfasst, schob sie ih r Fah rrad das letzte kurze Stück zum Versammlungsraum der Kirche und lehnte es gegen den Holzzaun, sorgsam darauf bedacht, das Blumen b eet des Vikars nich t zu zertramp eln. »Gu ten Morgen, Miss Blyth e.« Percy lächelte Mrs. Collins an. Die nette Frau , die au s un erklärlichen Grü nden bereits seit mindestens dreißig Jahren aussah wie ein altes Großmü tterchen, hatte ih ren Strick beutel ü ber die Schulter geschlungen und hielt eine Back form mit einem frisch gebackenen Biskuitkuchen in Händen. »Ach, Miss Blythe«, sagte sie mit einem trau rigen Kopfschütteln, das ihre fein en, silb rigen Lo cken erzittern ließ. »Hätten Sie jemals gedacht, dass es so weit ko mmen wü rde? No ch ein Krieg? « »Ich hatte gehofft, dass es uns erspart bleiben würde, Mrs. Collins. Aber angesichts der mensch lichen Natu r kann ich nicht beh aupten, dass es mich überrascht.« »Ab er n och ein Krieg.« Die Locken erzitterten ern eut. »All die jungen Männer.« Mrs. Collins hatte ih re b eiden Söhn e im Ersten Weltkrieg verlo ren , und ob wohl Percy selbst kein e Kinder hatte, wu sste sie, wie es war, so h eftig zu lieben , d ass es ein en verzehrte. Mit einem Lächeln nahm sie ih rer alten Freund in den Kuchen au s den zittrig en Händen und bo t Mrs. Co llins ih ren Arm an . »Ko mmen Sie, mein e Liebe. Gehen wir hinein und suchen uns einen Platz, ja? « Der Freiwilligendien st d er Frau en hatte b esch lossen, die Näharbeiten im Versammlungsraum der Kirche durchzufüh ren , nachdem ein ige Wo rtfüh rerinn en die Meinung geäuß ert hatten, der g r ößere Gemeindesaal mit sein em ein fach en Holzbod en sei wesentlich besser für die Abfertigung der Evakuierten geeignet. Aber als Percy ih ren Blick üb er d ie vielen eifrigen Frauen wandern ließ, die dabei waren, ih re Nähmaschinen auf den Tischen au fzubauen und große Stoffballen au szurollen, aus denen Kleider und Decken fü r die Evaku ierten un d Verban dszeug und Lapp en fü r Kran kenh äu -
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ser g enäht werd en sollten, h atte sie das Gefühl, dass es eine sch lech te Entsch eidung g ewesen war. Und sie frag te sich, wie viele von diesen Frauen woh l no ch ko mmen wü rden, wenn sich die erste Au fregung gelegt h atte, schalt sich jedoch sogleich fü r ihre harthe rzigen Gedank en. Und heu chlerisch waren sie obendrein, d enn Percy wu sste, dass sie die Erste wäre, die sich vor der Näharbeit d rück en wü rde, sobald sich eine and ere Betätigung an der Heimatfront fand. Sie konnte nicht mit Nadel und Faden u mg eh en , und heu te war sie nur hergekommen, weil fü r sie feststand, dass, wenn es die Pflicht aller war, zu tun, was sie ko nnten, die Töchter von Raymond Blythe die verd ammte Pflicht hatten, das, was sie nicht konn ten , wen ig stens zu versu chen . Sie half Mrs. Collins au f ein en Stuh l an einem d er Stricktisch e, wo sich das Gesp räch, wie nicht and ers zu erwarten , u m d ie Söhn e u nd Brüder und Neffen drehte, die ihren Marschbefehl erh alten h atten. Dann b rachte sie den Kuch en in die Küche, darauf bed ach t, Mrs. Caraway au s dem Weg zu gehen , deren v erbissener Gesichtsau sd ruck mal wied er darau f schließen ließ, dass sie eine besond ers un angeneh me Aufgabe zu vergeben hatte. »Ah, Miss Blythe.« Mrs. Potts von der Po ststelle nahm ih r den Kuchen ab un d betrachtete ihn prüfend. »Der ist aber wirklich gelu ngen .« »Den hat Mrs. Collin s geb ack en . Ich liefere ihn nu r ab .« Percy wollte sich abwenden , aber Mrs. Potts, begabt wie kaum eine andere in der Kun st, die Men schen in Gesp räche zu verwickeln, warf umg eh end ihr Netz au s. »Wir h aben Sie am Fr eitag bei der Ziv ilschutzübun g vermisst.« »Ich h atte and ere Verpflichtu ngen.« »Wie sch ade. Mr. Potts sagt, Sie geben immer so einen gu ten Verwundeten ab .« »Wie nett von ihm.« »Und niemand bedien t die Sp ritzpu mp e mit so viel Schwung.« Percy läch elte g equält. Speichelleckerei war ihr zuwider. »Sagen Sie, wie g eht es denn Ihrem Vater? « Ihre Frage triefte vor Sensationsgier, und Percy mu sste sich beh errschen, um der Po stmeisterin nicht Mrs. Collins' Kuchen ins
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Gesicht zu d rücken . »Ich habe gehö rt, er hatte einen Rück fall.« »Es geht ihm den Umständen entsprechend gut, Mrs. Potts. Danke d er Nach frag e.« Sie mu sste daran denken, wie ihr Vater neulich abends im Nachth emd durch die Flure gegeistert war, sich weinend wie ein Kind hinter den Trep pen v ersteckt und immer wieder gejammert hatte, der Tu rm sei verflucht und der Modermann wäre hinter ihm her. Sie hatten Doktor Bradbury geru fen, der ih m ein stärkeres Medikament gegeben hatte, aber ihr Vater hatte no ch stunden lang g ezittert und mit aller Mach t geg en die Wirk ung angek ämp ft, b is er schließlich erschöpft eing eschlafen war. »Wie bed auerlich «, sag te Mrs. Potts mit sorgenvoll beben der Stimme , »wenn einen Men schen, d er der Gemeinde so große Dienste erwiesen hat, die Gesun dheit d erart im Stich lässt. Aber es ist ein Segen, dass er jemanden wie Sie hat, der seine wohltätige Arbeit fo rtfüh ren kann . Vo r allem in Zeiten des nationalen Notstand s. Die Leute hier richten ih ren Blick in unsicheren Zeiten aufs Sch lo ss, das war schon immer so .« »Sehr freundlich von Ihn en, Mrs. Potts. Wir tun un ser Bestes.« »Sie werden do ch sicher h eute Nach mittag im Ge mein desaal dabei sein und dem Evakuierungskomitee helfen? « »Selbstverständlich .« »Ich war heu te Mo rgen schon mal da und hab e d ie Dosen mit Kondens milch und Corned Beef bereitgeste llt, vo n d enen wir jedem Kin d jeweils eine mitgeb en. Es ist n icht viel, ab er da die Behö rd en un s kau m u nterstützen, konnten wir nicht mehr anbieten. Und jede noch so mild e Gabe hilft, nicht wahr? Ich habe gehört, dass Sie auch ein Kin d au fn eh men wollen . Seh r g roßzügig von Ihn en . Mr. Potts und ich hab en natürlich auch darüber gesp ro chen , und, Sie kennen mich ja, ich würde nichts lieber tun , als meinen Beitrag zu leisten, aber mein armer Cedric mit seinen Allergien ...« Sie verdrehte die Augen himmelwärts. »Also, da ist gar nich t dran zu den ken.« Mrs. Potts beugte sich vo r un d legte ih ren Zeigefinger an die Nase. »Nu r eine klein e Warnun g: Die Leute im Lond oner East End leben in ganz anderen Verh ältnissen
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als wir. Sie wären gut beraten, sich ein starkes Desinfek tion smittel zu b eso rgen , ehe sie einen von d enen in s Schloss lassen.« Zwar hatte Percy selbst ein mu lmig es Gefühl bei dem Gedanken , ein fremd es Kin d bei sich au fzuneh men , do ch sie fand Mrs. Potts' Bemerk ung so geschmacklos, dass sie sich eine Zigarette anzündete, u m k eine An two rt darau f geb en zu müssen. Mrs. Potts fu h r unbeirrt fo rt. »Ich neh me an, die and ere au fregen de Neuigkeit hab en Sie schon gehö rt?« Percy trat von einem F uß au f den an deren und sah sich verzweifelt n ach ein er Beschäftigung u m. »Was genau meinen Sie, Mrs. Potts? « »Na, oben auf dem Schloss mü ssen Sie doch im Bilde sein. Sie sind doch sicherlich mit den Einzelheiten viel besser vertraut als wir hier unten im Dorf.« Natü rlich breitete sich in dem Augenblick Schweigen im Raum aus, und alle Augen rich teten sich auf Percy. Sie gab sich alle Müh e, die Blicke zu igno rieren . »Ein zelheiten wo rüb er, Mrs. Potts? «, frag te sie und straffte sich. »Ich habe keine Ahnung , wo von Sie sp rechen .« »Also wirklich «, d ie Aug en der Klatschb ase weiteten sich, und sie strahlte ü ber das ganze Gesicht, als sie gewahr wurde, dass ihr Auftritt die gewünschte Wirk ung erzielte. »Die Neuigkeit über Lucy Mid dleton n atü rlich .«
3 Schloss Milderhurst, 4 . September 1 9 3 9 Offenbar war ein Kniff dabei, wie man den Leim und dann das Stoffband anbrachte, oh ne die ganze Fensterscheibe zu beschmieren. Die kesse Frau auf dem Bild in der Bedienun gsanleitung schien kein Problem d amit zu haben, ih re Fenster bruchfest zu machen ; im Gegenteil, das Gan ze mach te ihr offenbar richtig Spaß: Sie hatte eine schlanke Taille, einen modischen Haarschnitt und läch elte zuversichtlich. 257
Zweifellos würde sie auch mit den Bo mb en fertig werden, wenn sie fielen. Saffy d agegen war völlig überfo rdert. Sie hatte schon im Juli mit der Arb eit an d en Fen stern an gefan gen, als die ersten Flugblätter des Ministeriums verteilt wurden, aber trotz der Ermah nung au f Flug blatt Nu mmer 2 Schieben Sie es nicht bis zum letzten Moment auf! — hatte sie die Dinge ein bissch en schleifen lassen, als es so au sgesehen hatte, als könn te der Krieg doch n och abgewendet werden. Ab er nach Mr. Chamberlains schrecklicher Ansprache im Radio hatte sie sich sofort wieder an d ie Arbeit g emacht. Zweiu ndd reiß ig Fenster waren bereits mit Stoffkreuzen versehen, aber fast hun dert lagen no ch vor ihr. Warum sie nich t ein fach Kleb eband benutzt hatte, würde ih r immer ein Rätsel bleiben. Sie drückte die Ecke des letzten Stoffbands an, stieg vo m Stuhl und begutachtete ihr Werk . Je, oje. Sie legte den Kopf schief un d betrachtete stirnrun zelnd das schiefe Kreuz. Es wü rd e h alten , ab er es war kein Kun stwerk. »Bravo«, sagte Lucy, die in dem Au gen blick mit eine m Teetablett hereinkam. »Mit einem X markiert man das Ziel, nicht wah r?« »Das will ich doch nich t ho ffen. Wir sollten Adolf Hitler warnen: Er bekommt es mit Percy zu tun, wenn seine Bomben dem S ch lo ss auch nur einen Kratzer zufügen.« Saffy wischte sich mit dem Küchentuch die klebrigen Hände. »Dieser Leim hat was gegen mich. Ich weiß nicht, wo mit ich ih n b eleidigt habe, aber das habe ich gan z gewiss.« »Ein Leim mit Launen! Wie schrecklich!« »Er ist nicht der Einzig e. Vergessen wir die Bo mb en, ich brauche ein gutes Tonikum, nachdem ich mich mit all den Fenstern abgeplagt habe.« »Wissen Sie was? «, sagte Lu cy und füllte ihre Tassen. »Ich habe Ih rem Vater sc hon das Essen geb racht, da könnte ich Ihnen doch ein bisschen helfen.« »Ach, Lucy, du bist ein Schatz! Wü rdest du d as wirklich tu n? Ich k önn te heulen vo r Dankbark eit!« »Das ist wirklich nicht nötig.« Lucy unterdrückte ein erfreutes Lächeln. »Ich habe bei mi r zu Hause schon alle Fenster fertig, und ich habe festgestellt, dass ich ein Händchen
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im Umgang mit Leim habe. So ll ich kleb en, während Sie die Streifen zuschn eid en?« »Perfekt!« Saffy warf das Küchentuch auf einen Stuhl. Ihre Hände waren immer no ch k leb rig , ab er das machte nich ts. Als Lucy ihr eine Tasse reichte, nahm sie sie dankbar entg egen. Einen Moment lang standen sie einträchtig schweigend da, während sie den ersten Schluck genossen. Es war ihnen zu einer Art Gewohnheit geworden, ihren Tee geme insam einzunehmen. Ohne viel Brimborium. Sie unterb rach en dafür nicht ih re Arbeit und deckten au ch nich t den Tisch mit dem guten Porzellan; sie sorgten einfach nur dafü r, dass sie zum rechten Zeitpunkt im selben Rau m zu tun hatten. Percy wäre entsetzt, wenn sie davon wü sste, sie wü rde d ie Brauen zusammenziehen und böse dreinblicken u nd d ie Lip pen schürzen und Dinge sagen wie: »Das g ehö rt sich nicht.« oder »Es gibt gewisse Regeln, an die man sich halten muss.« Aber Saffy mo chte Lucy — in gewisser Weise waren sie Freundinnen, und gemeinsam Tee zu trinken konnte doch wirklich niemandem schaden . Au ßerdem, was Pe rcy n icht wusste, ko nnte sie auch nicht ärgern. »Sag mal, Lucy«, unterb rach Saffy das Schweigen und deu tete damit an , d ass sie sich wieder an d ie Arb eit mach en mussten , »wie geht es denn mit dem Hau s v oran? « »Seh r gu t, Miss Saffy.« »Füh lst du dich d enn au ch n ich t ein sam d o rt? « Lucy hatte immer mit ihrer Mutter in dem kleinen Haus am Dorfrand gewohnt. Saffy konnte sich g ut vo rstellen, dass d er Tod d er alten Frau eine große Lück e in Lucys Leben gerissen hatte. »Ich beschäftige mich, so gut ich kann.« Lucy hatte ihre Teetasse au f dem Sims abgestellt und trug mit d em Pin sel den Leim auf die Fen sterscheibe au f. Einen Mo men t lang meinte Saffy, einen An flug von Trau rig keit im Gesicht der Haushälterin zu entdeck en, als wäre Lucy d rau f und d ran gewesen , ihr etwas anzuvertrauen, was sie tief bewegte, habe sich dann jed och dag egen entschieden. »Was ist los, Lu cy? « »Ach, nichts.« Sie zögerte. »Nur, meine Mutter, sie fehlt mir seh r ...«
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»Selbstverständlich.« Lucy war stets sehr diskret (übertrieben disk ret, wie Sa ffy man ch mal fan d, wenn die Neugier sie üb ermannte), aber über die Jahre hatte Saffy genug erfahren, um zu wissen , dass Mrs. Middleton kein e einfache Person gewesen war. »Aber? « »Aber ich bin au ch gern allein .« Sie warf Saffy einen Blick von der Seite zu. »Oder kling t d as un schicklich? « »Ganz und gar nicht«, erwiderte Saffy lächelnd. In Wirk lichk eit fand Saffy, dass es wunderb ar k lang. Sie stellte sich ihre eigene kleine Trau mwo hn ung in London vo r, dann verscheuch te sie das Bild. An einem Tag, wo sie alle Hände v oll zu tun hatte, sollte sie sich lieber nicht ihren Tagträu men hingeb en. Sie setzte sich au f den Bod en und beg ann, den Sto ff in Streifen zu sch neid en. »Ob en ist alles in Ordnung , Lucy? « »Das Zimmer sieht hübsch aus. Ich habe es gelüftet und das Bett frisch bezogen, und au ßerdem - ich h offe, d as ist in Ih rem Sinne -«, sie glättete einen Stoffstreifen, »habe ich die chinesische Vase Ihrer Groß mu tter weggeräumt. Ich verstehe gar nich t, wie ich die üb ersehen kon nte, als wir die wertvollen Sachen letzte Woch e eingepackt und verstaut haben. Jetzt ist sie in Sich erheit, ich habe sie zu den anderen Sachen ins Archiv gepackt.« »Du meine Güte.« Saffy sah Lucy mit g roßen Au gen an. »Du glaub st do ch nicht etwa, wir bek o mmen so einen kleinen Satansbraten , der alles k aputt mach t und du rch ein an derb ringt? « »Nein, nein. Aber Vo rsicht ist die Mutter der Porzellankiste.« »Allerding s.« Saffy nickte, als Lucy den nächsten Stoffstreifen entgegennahm. »Seh r u ms ichtig v on dir, Lu cy. Und gewiss hast du recht. Ich hätte selb st daran denk en sollen. Percy wird sich freuen.« Sie seufzte. »Trotzd em so llten wir vielleicht einen kleinen Blumenstrauß auf den Nachttisch stellen. Um das arme Kind ein bisschen aufzumuntern. Vielleicht in einer Glasvase au s der Küche? « »Ja, d as wäre passend . Soll ich eine holen? «
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Saffy nickte lächelnd, doch als sie an d as Kind dachte, das zu ihnen ko mmen würde, schüttelte sie den Kopf. »Ist es nicht fu rchtbar, Lucy? « »Bestimmt erwartet niemand von Ihnen, dass Sie dem K ind Ihre beste Kristallvase in s Zimmer stellen .« »Nein, ich meine das Ganze. Die Evaku ierung an sich . Stell dir bloß all die ängstlichen Kinder vor und deren arme Mü tter in Lo ndon , d ie läch elnd zu m Ab schied win ken mü ssen, wenn ih re Kleinen an unb ekann te Orte versch ickt werden. Und wozu das alles? U m d ie Städte zu räu men fü r den Krieg. Damit junge Männer lo sg eschickt werden kön nen , andere ju nge Männer in fremden Ländern zu tö ten .« Lucy sah Saffy zuerst überrascht, dann beso rg t an. »Sie dürfen sich das alles nicht so zu Herzen nehmen.« »Ich weiß, ich weiß. Ich versuch 's ja.« »Wir mü ssen zuv ersichtlich sein.« »Natü rlich.« »Es ist d och ein Glück, dass es Men schen wie Sie g ibt, die bereit sind, die armen klein en Dinger b ei sich au fzunehmen . U m wie v iel Uh r soll das Kind hier anko mme n? « Saffy stellte die leere Teetasse ab und nahm wieder ihre Sch ere zu r Hand. »Percy meinte, die Bu sse ko mmen irgen d wann zwisch en drei und sech s. Genau er konn te sie es mir nicht sagen.« »Dann sucht sie also eins aus?« Lucys Stimme klang ein bissch en b elegt, und Saffy wusste, was sie dach te: Percy war kau m d ie Richtige, wenn es um An gelegen heiten ging , die ein gewisses Maß an Mütterlichk eit erfo rd erten . Lucy schob d en Stuhl v o r das näch ste Fenster, un d Saffy beeilte sich mitzuh alten . »Es war d ie einzige Mög lichkeit, ih re Zustimmung zu beko mmen - du weiß t ja, wie sehr sie immer u m das Schloss beso rgt ist. Sie fü rchtet, dass wir un s am Ende ein kleines Ungeheuer ins Haus holen, das die Schnitzereien an den Treppengeländern beschädigt, die Tapeten besch miert und die Vo rh äng e anzü ndet. Ich mu ss sie immer wieder daran erinnern, dass diese Mauern schon seit Jah rh underten h ier stehen und die No rman nen , die Kelten und Junip er ü berlebt haben . Da wird ein ar mes Londoner Kin d sie auch nicht zum Ein stu rz b ringen .«
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Lucy mu sste lachen . »Wo wir gerade von Miss Juniper reden. Wird sie zu m Essen hier sein? Ich frage nu r, weil ich gesehen zu hab en glaube, wie sie im Wagen Ihres Vaters weggefah ren ist.« Saffy wedelte mit der Schere. »Da weiß ich au ch nicht mehr als du. Das letzte Mal, d ass ich wu sste, was Juniper vo rhatte, das war ...« Sie überleg te einen Mo ment, das Kinn au f die Fingerknö chel g estützt, dann warf sie theatralisch die Ar me in die Luft. »Ich kann mich an k ein ein zig es Mal erin nern.« »Zuverlässigk eit gehö rt nicht gerad e zu Miss Ju nipers Tu genden .« »Ja«, sagte Saffy mit einem liebevollen Lächeln. »Das stimmt allerdings.« Lucy stieg vom Stuhl, zö gerte, fuhr sich mit den schlanken Fingern über die Stirn. Eine merkwü rd ige, altmodische Geste, ein bissch en wie ein Burgfräulein, das eine Ohnmacht nahen spürt, dach te Saffy amüsiert und üb erlegte, ob sie diese lieben swerte Angewohnheit vielleich t in ih rem Ro man verwenden kön nte - sie konn te sich gut vo rstellen, dass Ad ele so etwas tat, wenn ein Mann sie nervös machte ... »Miss Saffy? « »H mm? « »Ich wü rde g ern mit Ihnen über eine ernste Angelegenheit sp rechen .« Als Lucy au satmete, aber nicht weitersprach, fragte Saffy sich eine Sch recksekund e lang , ob sie wo mö glich k rank war. Vielleicht hatte der Arzt ihr etwas Schlimmes eröffn et. Das wü rd e jed en falls Lu cys Zurückhaltung erklären und auch, warum sie in letzter Zeit o ft so geistesabwesend war. Erst vor ein paar Tagen war Saffy am Mo rg en in die Küch e geko mmen und hatte geseh en, wie Lucy in Gedan ken versunk en au s dem Fenster geschaut hatte, während die Eier vor ih r im Top f k ochten und kochten, wo Vater sie do ch weich mo ch te. »Was ist es denn , Lucy? « Saffy stand au f und bedeutete Lucy, sich zu ih r zu setzen. »Ist alles in Ordnun g? Du sieh st ja ganz blass aus. Soll ich dir ein Glas Wasser holen? «
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Lucy schüttelte den Kopf, sah sich jedoch nach etwas u m, au f das sie sich stü tzen konn te, und en tschied sich fü r d ie Lehne des nächsten Sessels. Saffy hatte sich au f die Chaiselongu e g esetzt und wartete. Und als Lucy endlich mit der Sp rache herausrückte, war sie froh, dass sie saß. »Ich werde heiraten«, sag te Lucy. »Also, jeman d hat mi r einen Heiratsantrag gemach t, und ich h abe Ja gesagt.« Zuerst dachte Saffy, ihre Haushälterin wäre übergeschnappt od er wollte sie au f den Arm nehmen. Es ergab einfach keinen Sinn: Lucy, die liebe, zuverlässige Lucy, die in all d en Jah ren, die sie schon au f Schloss Milderhurst arbeitete, niemals auch nu r ein en Freu nd erwähn t hatte, gesch weig e denn mit einem Mann au sgeg angen war, wo llte heiraten? Ein fach so, aus heiterem Himmel? Und das in ihrem Alter? Sie war mehrere Jahre älter als Saffy, ging bestimmt schon au f d ie vierzig zu . Lucy trat von einem F uß auf den anderen, das Schweigen zo g sich in die Läng e, und Saffy spürte, dass sie etwas sagen musste, doch sie brachte kein Wo rt herau s. »Ich werd e heiraten !«, sagte Lucy noch einmal, diesmal langsamer und ein bisschen zögern d, als mü sste sie sich selbst no ch an d en Gedanken gewöhn en. »Ab er Lu cy, das sind ja g roßartige Neuigk eiten «, stieß Saffy schließlich hervo r. »Un d wer ist der Glücklich e? Wo h ast du ihn ken nen gelernt? « »Na ja«, erwiderte Lucy errötend. »Wir haben uns hier in Milderh u rst kenn engelernt.« »Ach? « »Es ist Harry Rogers. Ich heirate Harry Rog ers. Er h at mir einen Antrag gemacht, und ich h abe ihn ang eno mmen .« Harry Rogers. Der Name k am Sa ffy irg end wie bek annt vo r, sie hatte das Gefühl, dass sie den Mann kennen müsste, aber ih r fiel kein Gesich t zu dem Na men ein. Go tt, wie peinlich ! Saffy spü rte, wie ih re Wang en rot wu rden, was sie zu üb erspielen su chte, indem sie ein strahlendes Läch eln au fsetzte, in der Ho ffnun g, Lu cy wü rde es fü r einen Au sdru ck ihrer Freu de halten .
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»Wir ken nen un s schon seit Jah ren , schließlich ko mmt er reg elmäß ig hierher au fs Schloss, ab er wir gehen erst seit ein paar Monaten miteinander. Seit die Stan duh r im Frühjahr immer häufiger verrücktsp ielte.« Harry Rogers. Sie meinte do ch sicher nicht den kleinen Uhrmacher mit dem struppigen Bart? Der war weder gut aussehend noch galant, ja, n ach allem, was Saffy mitb ekomme n hatte, nicht einmal geistreich . Er war ziemlich gewöhnlich, nur daran interessiert, mit Percy ü ber die Geschichte des Schlosses und die Funk tion swe ise von Uh rwerk en zu plau dern. Sicher, er war freu ndlich, so weit Saffy d as beu rteilen konnte, und Percy sprach stet s wohlwollend über ihn (das heißt, sie hatte wohlwollend über ihn gesp roch en, bis Saffy sie ermahnt h atte, Mr. Rogers wü rd e ih r noch eines Tages den Ko pf verd rehen , wen n si e n icht au fpasste). Dennoch war er g anz und g ar nich t der richtige Mann für Lucy mit ihrem hüb schen Gesicht und ansteck enden Lach en. »Aber wie ist es dazu g eko mme n? « Die Frag e hatte sich Saffy au fged rängt u nd war ih r herau sgeru tsch t, eh e sie sie hatte unterdrücken könn en. Aber Lucy schien gar nicht beleidigt zu sein und antwortete spontan, vielleicht ein bissch en zu hastig, dachte Saffy, als mü sste sie die Worte selbst hören, um zu begreifen, wie so etwas hatte passieren können . »Er war h ier, u m nach der Uhr zu seh en, und ich hatte gebeten, früher gehen zu dü rfen, weil es meiner Mu tter d och so sch lech t ging , und d a sind wir un s an der Tü r beg egnet. Er hat mir angeb oten , mich im Auto nach Hause zu fahren, und ich habe das Angebot an geno mme n . Da hab en wir un s ang efreu ndet, u nd dann , als meine Mutter gesto rben ist ... Na ja, da war er seh r nett zu mir. Er ist ein richtiger Gentleman .« Eine Weile schwiegen sie, während sie die Szen e in Gedanken vor sich sahen. Saffy, ob wo hl ü berrascht, war auch neu gierig . Das war d ie Schriftstellerin in ihr, dachte sie: Sie versuchte sich vorzustellen, wo rüber die beiden sich in Mr. Rogers' klein em Au to unterhalten hatten und wie sich au s dem freundlichen Angeb ot, Lucy im Au to mit in s Dorf zu nehmen, eine Liebesgeschich te entwick elt hatte. »Und? Bist du glücklich? «
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»O ja«, sagte Lucy lächelnd. »Ja, ich bin glücklich.« »Tja.« Saffy zwang sich zu einem tapferen Läch eln. »Dann freue ich mich sehr für dich. Und du mu sst ihn zu m Tee mitbringen. Das muss gefeiert werden!« »Nein, nein ...« Lucy sch üttelte den Kop f. »Nein. Das ist sehr nett von Ih nen, Miss Saffy, ab er ich glaube n ich t, dass das klug wäre.« »Ab er warum d enn nicht? «, frag te Saffy, do ch schon als sie die Wo rte au ssprach, wusste sie genau , waru m es nicht klug wäre, und plötzlich machte es sie ganz verlegen, dass sie keine bessere Gelegenh eit abgewartet h atte, die Ein lad ung auszusprechen. Lucy war viel zu wohlerzogen, um eine offizielle Einlad ung zu m Tee mit der Herrschaft anzu neh men . Vor allem mit Percy. »Wir wollen es nicht an die große Glocke hängen«, sagte Lucy. »Wir sind ja beide nicht mehr ganz jung. Es wird keine lange Verlobung szeit geb en, es füh rt zu nichts, lange zu warten , wo au ch noch Krieg ist.« »Aber in seinem Alter wird Harry doch sicher nich t...« »Nein, nein, er muss nicht meh r an die Front. Aber er wird natürlich seinen Beitrag leisten, b ei Mr. Potts' Leuten . Er war im ersten Krieg, wissen Sie, in Passchendaele. Zusammen mit me in em Bru der Mich ael.« Lucys Gesich t hatte einen anderen Au sd ruck ang eno mmen , etwas wie Stolz lag darin und zaghafte Freu de, vermischt mit ein b isschen Befangenhe it. Natü rlich lag es daran, dass alles no ch so neu war, dass sich ih r Leben erst kü rzlich geändert hatte. Lucy mu sste sich selb st noch an d ie neue Rolle gewöh nen, daran , dass sie eine Frau war, die b ald heiraten würd e, die Teil eines Paars war, dessen männlicher Teil mit seinem An seh en au f ih r eigenes An sehen ab färben wü rd e. Saffy freute sich für Lucy; sie konn te sich niemand en vo rstellen, der es so sehr verdient hatte, glücklich zu sein. »Ja, das klin gt alles seh r vernünftig «, sagte sie. »Und du mu sst dir natü rlich vor und nach der Hochzeit ein paar Tage freinehmen . Vielleicht könnte ich ...« »Eig entlich«, Lucy p resste d ie Lip pen zu sammen und kon zentrierte sich auf einen Punk t über Saffys Schulter. »Eigentlich wollte ich genau darüber mit Ihnen sp rechen .«
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»Ach so? « »Ja.« Lu cy lächelte, ab er nicht en tspannt und g lücklich, dann verschwand das Läch eln , und sie seufzte. »Es ist mir sehr unangenehm, müssen Sie wissen , aber Harry hätte es lieber, das heißt, er find et, wen n wir erst einmal verheiratet sind , sollte ich besser zu Hause bleiben, mich um das Haus kümmern und meinen Beitrag an der Heimatfron t leisten.« Vielleicht spürte Lucy eb en so wie Saffy, dass dies einer näheren Erklärung bed u rfte, denn sie fügte hastig hinzu: »Und fü r den Fall, dass wir mit Kindern gesegnet werden ...« Da begriff Saffy; es war, als wäre ein Schleier gelüftet word en. Alles, was zuvor verschwommen gewesen war, lag plötzlich klar und deutlich vo r ihr: Lucy war genauso wenig in Harry Rogers verlieb t wie Saffy, aber sie sehnte sich nach einem Kin d . Saffy konn te sich nur wundern, dass ihr das nicht gleich klar geword en war, jetzt, wo es so o ffensichtlich war. Ja, es war die einzige Erklärung . Harry b ot ih r die letzte Ch ance, und welche Frau in Lucys Lage würde nicht dieselbe Entscheidung treffen? Saffy befüh lte ih r Medaillon, fuhr mit dem Daume n üb er das Sch lo ss. Sie emp fand eine tiefe Seelenverwandtschaft mit Lucy, das Gefühl schwesterlicher Zuneig ung war so stark, dass sie Lucy am liebsten alles erzählt, ihr erklärt hätte, dass sie gen au wu sste, was sie empfand. Sie ö ffnete den Mund, aber sie b rachte kein Wo rt h erau s. Sie lächelte sch wach, b lin zelte und stellte v erwund ert fest, dass ih re Aug en sich mit Trän en gefü llt hatten . Lucy h atte sich abgewandt und suchte in ihren Taschen nach etwas, und nachdem S affy ih re Fassung ein igermaß en wiederg ewonn en hatte, warf sie einen versto hlen en Blick aus dem Fenster, wo ein einzelner schwarzer Vogel sich von einem unsichtbaren warmen Luftstrom treiben ließ. Wieder musste sie blinzeln , und alles versch wamm vor ihren Aug en. Wie lächerlich, jetzt zu wein en. Das lag alles am Krieg, an der Ungewissheit, an d iesen elen den , v ermaledeiten Fenstern . »Sie werden mir auch fehlen, Miss Saffy. Sie alle. Ich habe meh r als mein halbes Leben hier in Schlo ss Milderh u rst verbracht, und ich habe immer g eglau bt, dass ich b is an mein
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Lebensende hierb leiben wü rde.« Ein ku rzes Zög ern. »Od er klingt das morbid? « »Furchtbar morbid.« Saffy läch elte mit Tränen in den Au gen und hielt das Medaillon u mklammert. Lucy wü rd e ihnen sch recklich feh len , aber d as war nicht der einzige Grund , waru m Saff y weinte. Sie öffnete das Medaillo n schon lan ge nicht mehr, sie brauchte das Fo to nicht, um sein Gesicht zu seh en. Den jungen Man n, in den sie verliebt gewesen war, der in sie verlieb t gewesen war. Die Zukunft hatte v or ih nen geleg en, alles war mö glich gewesen , alles. Bis ih r alles g enommen worden war ... Ab er Lucy wu sste n ichts d avon , und wenn do ch, wenn sie im Laufe der Jahre das eine o der andere au fgeschnap pt u nd für sich zu einem traurigen Bild zu sammengesetzt hatte, nun , dann war sie viel zu disk ret, u m jemals ein Wo rt darüber zu verlieren. Selb st jetzt. »Die Ho chzeit wird im April sein «, sagte Lucy leise und reichte Saffy einen Umschlag, den sie aus ihrer Tasche gezogen hatte. Vermutlich das Kündigun gssch reiben , dachte Saffy. »Im Frü hling. In der Do rfk irche, nu r eine ein fache Hochzeit. Nichts Großes. Ich würd e sehr gern bis dahin bleiben, aber ich kann natürlich verstehen, wenn Sie ...« Jetzt hatte auch Lucy Trän en in d en Augen. »Es tut mir so leid, Miss Saffy, dass ich Ihnen nicht eher Bescheid gesagt habe. Vo r allem, wo es jetzt so sch wierig ist, Hausangestellte zu finden .« »Un sinn «, en tgeg nete Saffy. Sie frö stelte und spü rte plötzlich einen küh len Lu ftzug an den feuchten Wangen. Als sie sich die Tränen mit einem Taschentuch ab wisch te, bemerk te sie die schwarzen Fleck en au f d em weißen Sto ff. »Meine Gü te«, sagte sie und ma ch te ein gesp ielt entsetztes Gesicht, »ich sehe bestimmt g rässlich aus.« Sie lächelte Lucy an . »Du b rauch st d ich nicht zu entsch uldigen . Denk ein fach nicht mehr daran, und du hast wirklich kein en Grund zu wein en. Liebe sollte gefeiert und nicht b eweint werden.« »Ja«, sag te Lucy, d ie g anz und gar nicht au ssah wie eine verliebte Frau. »Also dan n.« »Also dan n.« »Ich mu ss mich au f den Weg machen.«
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»Ja.« Saffy mo chte weder de n Rauch n och den Gesch mack von Tabak, aber in d em Au g enb lick wün schte sie, sie wü rd e rauchen. Dann hätte sie etwas, um ih re Hände zu beschäftigen. Sie schluckte, richtete sich ein b isschen au f, versuch te wie so häufig , Kraft zu schöpfen, indem sie so tat, als wäre sie Percy ... O Gott, Percy. »Lucy? « Die Haushälterin hatte gerade die leeren Teetassen einge sammelt und drehte sich um. »Was ist mit Percy? Weiß sie von dir und Harry? Dass du un s verlässt? « Lucy erbleich te und schü ttelte den Kop f. Saffy spü rte ein un behagliches Gefühl in der Magengegend. »Vielleicht sollte ich ... ? « »Nein «, sagte Lu cy mit einem schwachen , tapferen Lächeln . »Nein. Das muss ich selb st tu n.«
4 Percy fu h r nicht nach Hause. Aber sie fuh r auch n icht zu m Gemeindesaal, u m beim Verteilen von Co rned -BeefKonserven zu helfen. Später wü rde Saffy ihr vorhalten, sie habe absichtlich vergessen, ein evakuiertes Kin d ab zuholen, sie hab e von An fang an keins haben wollen. Der Vorwurf en thielt durch au s ein Kö rnchen Wahrheit, d och in diesem Fall hatte die Sach e weniger mit Saffy zu tun, dafü r umso meh r mit Mrs. Potts und ih rem un erträg lichen Do rftratsch. Außerdem, so betonte Saffy später ih rer Zwilling ssch wester gegenüb er, war doch am En de alles gut g egan gen: Ju niper, die unberechenbare, lieb e Juniper, war zu fällig am Ge mein desaal vo rbeigeko mme n und h atte Mered ith mit in s Schlo ss genommen. Währenddessen war Percy, nachdem sie wie b eno mmen von dem Nähkränzchen geflohen war und dabei ihr Fah rrad vergessen h atte, zu Fu ß die High Street entlangg egangen , mit wild entschlossenem Blick, als habe sie eine Liste mit hund ert Au fträgen , die bis zu m A bendessen erledigt sein mu ssten . Nichts deu tete darau f hin , dass sie zu 268
tiefst verletzt, dass sie nur noch ein geisterhafter Schatten ihrer selb st war. Wie sie in d en Friseu rsalon gelang t war, wü rd e ih r immer ein Rätsel bleiben , aber genau d orthin hatten ih re tauben Füß e sie getragen. Percys Haar war imme r lang und blond gewesen , aber n ie so lang wie Junipers und nie so golden wie Saffys. Weder das eine noch das andere hatte Percy je etwas au sg emacht, sie war nicht der Typ Frau, der großen Wert au f Kop fp utz legte. Während Saffy ihr Haar aus Eitelkeit lang trug und Juniper das ih re aus Nachlässigk eit, ließ Percy sich das Haar lan g wachsen, weil ihr Vater es so mo chte. Er fand, dass Mädchen und Frau en h üb sch sein sollten, dass seine Töch ter langes Haar h aben so llten, das ihn en in Wellen über den Rü cken fiel. Percy wand sich inn erlich, als die Friseurin ihr Haar mit Wasser b esp rüh te un d es auskämmte, bis es schlaff und dunkel herunterhing. Metallene Klingen flü sterten k ühl in ih re m Nacken , dann fiel die erste Strähne zu Boden , wo sie wie etwas To tes liegen blieb. Percy fühlte sich leicht. Die Friseu rin war schockiert gewesen, als Percy ih r An sinnen vo rtrug, und h atte sie meh r mals g efragt, ob sie sich au ch ganz sicher sei. »Aber Sie hab en so schön e Lo cken «, sag te sie traurig. »So ll ich sie wirklich abschneiden? « »Alle.« »Ab er Sie werd en sich selb st nicht wiedererkennen .« Genau, dachte Percy, und d er Gedanke gefiel ihr. Während sie in dem Friseurstuhl saß , immer noch wie in einem Trau m, hatte Percy ihr Spiegelbild betrachtet und sich einen Moment der Innensch au erlaubt. Was sie sah, beun ruh igte sie. Ein e Frau mittleren Alters, die immer noch abends ihr Haar u m Stoffstreifen drehte, um die mädchenhaften Lock en zu erhalten, d ie d ie Natu r längst vergessen hatte. Solche Umstän de um sein e Haare zu machen war vielleicht das Richtige für Saffy, eine Romantikerin , die sich an ih re Träu me k lammerte und n icht einsehen wollte, dass ihr edler Ritter nicht kommen würde, dass ihr Platz in Schloss Milderhurst war und immer sein würde; aber fü r Percy war es einfach lächerlich. Percy, die Pragmatikerin, Percy, die Plan erin , Percy, d ie Beschü tzerin.
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Sie hätte sich schon vor Jahren das Haar stutzen lassen sol len. Der n eue Haarschnitt war adrett un d p flegeleicht, und auch wenn sie nicht behaupten konn te, dass sie d amit b esser au ssah, so sah sie zumin d est anders aus. Mit jedem Sch nipp wu rd e etwas in ih r befreit, ein alter Gedanke, an den sie sich geklammert hatte, ohne es zu wissen . Als die ju nge Friseu rin sch ließ lich die Sch ere weglegte und, ein bisschen fahl i m Gesicht, verk ündete: »Fertig , me ine Liebe, sieht es nicht wun derbar au s? «, hatte sie d aher den an maßenden Ton fall ignoriert und zu ihrer eigen en Üb erraschung geantwo rtet: »Ja, es sieht wunderbar aus.« Meredith wartete seit Stunden, erst hatte sie gestand en, dann gesessen , und jetzt lag sie halb au f d em Ho lzboden des Gemeindesaals. Als die Zeit verstrich, der Strom der Bauern und Landfrauen nachließ , nu r n och vereinzelt Leute aus de m Dorf kamen, um die Kinder abzuho len, und es allmählich dun kel wu rde, fragte Meredith sich bang, welch schrecklich es Schick sal sie wohl erwartete, wenn niemand sie mitnahm, wenn niemand sie wollte. Wü rde sie ganz allein die näch sten Woch en h ier in d iesem zu gigen Saal verb ringen? Allein der Gedanke ließ ih re Brille b eschlagen, sod ass alles vo r ih ren Aug en v ersch wamm. Und genau in diesem Augenblick kam sie. Stür mte herein wie ein strah lend er En gel, wie etwas au s einem Märchen, un d rettete Meredith von dem k alten, harten Boden. Als wü sste sie, weil sie magische Kräfte besaß oder einen sech sten Sinn - etwas, was die Wissen schaft noch würde erklären mü ssen -, dass sie gebraucht wurde. Meredith bekam nicht mit, wie Juniper hereinkam, sie war zu sehr damit beschäftigt, ih re Brille an ih rem Ro cksau m zu po lieren, aber sie spürte ein Knistern in d er Lu ft un d nah m das unn atürliche Schweigen wahr, das sich über die eben no ch schnatternden Frauen legte. »Miss Ju niper«, sag te eine v on ihnen, als Mered ith sich ih re Brille wieder au fsetzte und zu dem Tisch mit den Erfrischu ngen hin übersch aute. »Was fü r ein e Überraschung . Was kön nen wir fü r Sie tun? Suchen Sie Miss Blythe? Denn wir
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haben sie seltsamerweise seit heute Mittag nicht meh r gese hen ...« »Ich bin g eko mmen , um mein e Evakuierte abzuholen «, fiel das junge Mädch en, das Miss Juniper sein mu sste, der Frau mit einer abwehren den Handbeweg ung ins Wo rt. »Bleib en Sie nur sitzen, ich habe sie schon gesehen .« Dann durchquerte sie den Saal, vo rb ei an den Kindern in der ersten Reihe, und Meredith blinzelte und sch aute hinter sich, aber hinter ih r war niemand mehr. Als sie sich wieder u md rehte, stand das strahlende Wesen direkt vo r ih r. »Fertig? «, frag te sie. Lässig , leich thin, als wären sie alte Freu n dinnen und als wäre dies ein lan ge gep lanter Besuch . Später, nachd em Percy stundenlan g im Sc hn eidersitz au f einem g roßen Stein am Bach gese ssen und aus allem, was ihr in d ie Finger k am, Bötchen gebastelt hatte, ging sie zu m Gemeindehaus zurück , um ihr Fah rrad zu holen. Nach dem warmen Tag war es zum Ab en d hin stark abgekühlt, und als Percy sich au f den Weg zum Schloss machte, hatte die Ab enddämmeru n g bereits d i e Hügel v erschattet. Die Verzweiflung ha tte Percys Gedank en verknäu elt, und während sie auf dem Fah rrad stramp elte, versuchte sie, sie zu entwirren. Die Verlo bung war ein Schock , aber was sie am meisten traf, war das falsche Spiel, das die beiden gespielt hatten. Die gan ze Zeit - denn es mu sste eine Zeit der Werbung gegeben haben, die schließlich zu d er Verlobun g geführt hatte - hatten Harry und Lucy sich geradezu vo r ih ren Augen getro ffen . Percy fühlte sich betrogen. Zweifach betrogen, als Arbeitg eberin u nd — als Geliebte. Der Verrat brannte wie glühendes Eisen in ihrer Brust. Sie hätte schreien mö gen, sich d as Gesicht zerkratzen, den beiden das Gesicht zerkratzen, ihnen genauso wehtun, wie sie ih r wehgetan hatten. Au s volle r Kehle schreien, bis ihr die Stimme versagte, sich schlagen lassen , b is sie keinen Sch merz meh r emp fand, die Augen schließen, u m sie nie wied er zu ö ffnen. Aber sie würde nichts dergleichen tun. So verhielt eine Perc y Blyth e sich nich t. Jenseits der Baumkronen tauchte die Nacht die fernen Felder in immer tiefere Dunkelheit, und ein Vogelschwarm flog
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in Richtun g Kanal. Die b leiche Hülle d es Mond s h ing leblos in den Schatten. Percy fragte sich gedankenverloren, ob die Bomb er in dieser Nacht kommen würden. Mit einem kurzen Seufzer hob sie ein e Hand und b erüh rte die ungewohnt nackte Haut in ih rem Nacken. Dann, als der Atem d es Ab end s über ih r Gesich t strich, trat sie fester in die Ped ale. Harry und Lucy wü rd en h eiraten, und nich ts, was Percy tat oder sagte, wü rd e d aran etwas ändern . Klag en wü rden nichts nü tzen und Vorwürfe au ch nicht. Was geschehen war, war geschehen. Percy blieb nichts anderes üb rig, als noch einmal ganz neu zu planen . Und dann zu tun, was getan werden musste, so wie sie es imme r gehalten hatte. Als sie endlich das Tor von Schloss Milderhurst erreichte, bog sie von der Straße ab, fuh r üb er die wackelige Brücke und sp rang vom Fahrrad . Ob wohl sie den ganzen Tag über fast nu r gesessen hatte, war sie müde, seltsam müde. Erschöpft bis in die Fingersp itzen. Ih re Knochen, ih re Aug en, ihre Arme fühlten sich an , als wäre alles Leben au s ih nen gewich en. Wie ein Gummiband, das zu fest gespannt und dann losgelassen word en war, au sg eleiert, schwach und formlos. Sie kramte in ihrer Umh än getasche, bis sie eine Zigarette fand . Percy ging das restliche Stück Weg zu Fuß, schob das Fahrrad neben sich h er, wäh rend si e rau chte, und b lieb erst stehen, als das Haus nach meh r als einem Kilo meter vor ih r au ftau chte. Kau m zu sehen, ein sch warzes Zeughau s, d as sich gegen den marineblauen Himmel abhob , nicht ein Fünk chen Licht. Die Vorhäng e waren zu gezo gen , die Fen sterläd en geschlo ssen, die Verdunkelungsvorschriften wurden eisern befolgt. Seh r gut. Dass Hitler ihr Schloss aufs Ko rn nahm, war das Letzte, was sie geb rauchen konn te. Sie stellte ih r Fahrrad ab und legte sich daneben in s abendfeu chte Gras. Rau chte no ch eine Zigarette. Dann no ch eine, ih re letzte. Percy rollte sich zu sammen und legte ein Oh r an den Boden , ho rch te, wie ih r Vater es ihr beigebracht hatte. Ih re Familie, ih r Hau s waren auf einem Fundament aus Worten errichtet, hatte er immer wi ed er gesagt; der Familien stammb aum wurde von Sätzen zusammen g ehalten an statt v on Asten. Schrift gewordene Gedank en waren in den Boden des
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Sch lo ssgarten s gesickert, und die Gedichte und Dramen, die Erzählungen und politisch en Abh and lungen wü rd en imme r zu ihr sprechen, wenn sie sie brauchte. Vo rfahren , die sie nie gekannt hatte, sie hatten Wo rte hinterlassen, Worte, die miteinander plauderten, die von jenseits der Gräb er mit ih r sprachen, und so würde sie nie einsam und allein sein . Nach einer Weile stand Percy au f, nahm ihr Fahrrad und ging weiter zum Sch lo ss. Mittlerweile war es stockdunk el, und der Mond war au fg egang en, der schöne, v erräterisch e Mo nd, der seine bleichen Finger über dem Land ausstreck te. Eine mu tige Zwerg ma u s hu schte üb er den silb rig glänzen den Rasen, feine Grashalme zitterten au f d en Feldern, und dah in ter stand sch warz d er Wald. Beim Näherkommen konn te sie von drinnen Stimmen hören : Saffys u nd Junipers und noch eine, eine Kind erstimme . Ein Mädch en. Nach ku rzem Zö g ern nah m Percy die erste Stufe, dann die zweite, dachte an die zahllo sen Male, die sie du rch diese Tü r gerannt war, beg ierig au f die Zukun ft, au f das, was sie als Näch stes erwartete, auf diesen Augenblick. Als sie dort stan d, die Hand am Knauf ihrer Haustür, sch wo r sie sich vo r den g roßen Bäu men des CardarkerWalds, die ihre Zeugen waren: Sie war Persephone Blythe von Sch lo ss Mild erhurst. Es gab noch and ere Ding e im Leben, d ie sie liebte - nicht viele, aber es gab immerh in einige: ihre Schwestern, ih ren Vater und n atü rlich das Schloss. Sie war die Älteste - wenn auch nur um ein paar Minuten -, sie war die Erbin ihres Vaters, die einzig e seiner Tö chter, die seine Liebe zu d en Mauern, der Seele un d d en Geh eimn issen ih res Sch losses teilte. Sie wü rd e sich zusammen reißen und weitermachen. Und sie wü rde es von jetzt an als ih re Pflicht betrachten, dafür zu so rg en, dass ihnen kein Leid geschah , sie würde alles tun, was nötig war, u m ih rer aller Sicherheit zu gewäh rleisten .
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Teil drei Entführungen und Schuldzuweisungen 1 9 9 2 Im Jahr 1 9 5 2 hätten die Sch western Schloss Milderhu rst beinah e verlo ren. Das Gebäud e mu sste dringend restauriert werden, die finanzielle Lage de r Familie Blythe war desaströs, und der National Trust b emühte sich n ach Kräften, d as Schloss zu erwerben und die In stan dsetzung in die Hand zu nehmen. Es schien, als h ätten d ie Sch western Blythe keine an dere Wahl, als in ein kleine res Haus zu ziehen, das An wesen an Fremd e zu verkau fen oder es dem Tru st zu üb erschreiben, damit dieser sich um »d ie Erhaltung der präch tigen Gebäude und g roß artig en Gartenanlagen« kümmern kon nte. Aber sie taten nichts dergleichen. Stattdessen öffnete Percy Blythe das Schloss fü r Besu cher, verkaufte ein paar Hektar Ackerland und sch affte es irg end wie, genug Geld zu sammenzukratzen , um das alte Gebäude zu erhalten. Das weiß ich alles, weil ich mich ein sonniges Aug ustwo chenende lang in der Leih büch erei du rch das au f Mik ro fil m festgehaltene Archiv des Milderhurst Mercury g earbeitet h abe. Im Nachhinein ist mir eins klar: Als ich meinem Vater erzählte, dass die Entstehung sg esch ichte des Buch s Die wahre Geschichte vom Modermann ein b isher ung elö stes literarisches Rätsel ist, war das etwa so , als hätte ich eine Schachtel Pralinen vor ein Kleinkind hingestellt und erwartet, dass es sie nicht an rührt. Mein Vater ist ein ergebnisorientierter Mensch, und ihm gefiel die Id ee, dass er möglicherweise ein Rätsel würde lösen können, das die Akademik er seit Jah rzehnten besch äftigte. Er h atte auch schon ein e Th eo rie: Eine in dunk ler Vergan genheit b egan gene Kindesentfüh rung lag der Geschich te zu grunde. Das musste er nu r n och beweisen , und d er Ruh m und die Eh re wü rd en ih m gehö ren . Allerding s kann ein Detektiv, der ans Bett gefesselt ist, nicht viel au srichten , und so mu sste ein Gehilfe angeheuert und an seiner Stelle in s Feld ge schickt werden. Und da kam ich in s Spiel. Ich ließ mich au s drei Gründen darauf ein: Erstens, weil er sich von ein em Herzin fark t erho lte, zweitens, weil seine Theorie nicht ganz von der Hand zu weisen war, und drittens und vor allem, 274
weil ich, seit ich die Briefe meiner Mutter gelesen hatte, bein ahe k rankhaft fasziniert war von Schloss Milderhurst. Wie üblich b egann ich meine Nach fo rschung en, indem ich mich an Herbert wandte. Ich frag te ihn, ob er irgen detwas über ungelöste Entführung sfälle au s d er Zeit zu An fang d es Jah rh underts wisse. Eine Sach e, die ich g anz b esonders an Herbert schätze, ist seine Fäh igkeit, in einem sch einbaren Chaos genau die Information zu fin den, die er sucht. Sein Haus ist hoch un d schmal, vier ehemalig e einzeln e Wohnun gen, die wied er zu sammengelegt wurden: Unser Büro und die Druckmaschine sind im Erdgeschoss und im ersten Stock untergebracht, der Dachboden dient als Stauraum, und das Sou terrain bewohnt Herb ert zu samme n mit Jess. An jeder Wand in jedem Z immer stehen Regale voller Bücher: alte Bücher und neue Bücher, signierte Ausgaben u nd Korrek tu rex emp lare, Erstau flagen und dreiundzwanzig ste Auflagen , und sie stehen und liegen wild durcheinander und scheren sich einen Dreck darum, wie eine vo rzeigbare Bibliothek auszu seh en hat. Aber die wichtig ste Sa mmlu ng, Herberts persönliche Handbibliothek, befindet sich in seinem Kopf und garantiert ih m d irekten Zug riff au f alles, was er je in sein em Leben gelesen hat. Mitzuerleben , wie er sich einem Ziel nähert, ist umwerfend: Zuerst, nachdem er die Such an frag e en tgegeng enommen hat, legt er die Stirn in Falten, d ann heb t er einen schlanken Fing er, der so bleich und glatt ist wie eine Kerze, un d sch lu rft wortlos zu einer Bücherwan d, wo er den Fin ger über Buch rück en wandern lässt, als würde er von ihnen magnetisch angezog en, bis er au f dem gesu chten Buch landet, das er dan n au s dem Regal nimmt. Herb ert au f Entfüh rungsfälle anzusprechen war ein gewagter Versuch, und so wun derte es mich auch n icht, als er nichts Brauch bares zutag e fö rd erte. Ich sagte ih m, er solle sich n ich ts d raus machen , und ging in d ie Biblioth ek, wo ich mich im Kellergeschoss mit ein er reizen den alten Dame an freu ndete, die an scheinen d d o rt unten ih r Leben lang au f den unwahrscheinlichen Zu fall gewartet hatte, dass ich au ftau ch en wü rd e. »Tragen Sie sich einfach hier ein, meine Liebe«, sagte sie eifrig, zeigte au f ein Klemmbrett mit Kugelschreiber und sah mir au fmerksam zu, als ich das Fo rmular
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ausfüllte. »Ah, Billing & Bro wn, wie interessan t. Ein lieb er Freund von mir, möge er in Frieden ruhen , hat vo r ung efäh r d reißig Jahren sein e Memoiren bei B&B herausgebracht.« Da es außer mir nicht viele Leute gab, die diesen wund erbaren So mme rtag im Keller der Biblioth ek verb rachten, hatte ich leichtes Spiel, Miss Yeats fü r meine Zwecke einzuspannen. Wir verb rachten ein paar angenehme Stunden miteinander, du rchfo rsteten die Archive und fand en tatsächlich d rei ungelöste Entführungsfälle wä hrend der viktorianischen und ed wardianischen Zeit in und um Kent so wie eine Menge Zeitu ng sberichte über d ie Familie Blythe v on Sch lo ss Mild erhu rst. Au s den Fün fziger- und Sechzigerjahren gab es eine nette Ko lumn e mit Hau sh altstipp s, verfasst von Saffy Blythe, zahlreiche Artikel über Raymond Blythes literarische Erfolge und einige Leitartikel, in denen darüber berichtet wu rd e, wie die Familie d as Schlo ss im Jahr 1 9 5 2 beinahe verloren hätte. Damals war Percy Blyth e interv iewt worden und hatte emphatisch erklärt: Ein Anwesen ist mehr als die Summe seiner Teile; es ist ein Hort der Erinnerungen, ein Archiv all dessen, was sich in ihm abgespielt hat. Das Schloss gehört meiner Familie, und das bereits seit Jahrhunderten, und ich werde nicht zulassen, dass es in die Hände von Leuten fällt, die zwischen seine uralten Bäume Koniferen pflanzen wollen. Begleitend zu dem A rtikel war ein ziemlich pedantischer Vertreter des National Tru st interviewt worden , der bedauerte, dass seiner Organisation keine Gelegenh eit g egeb en wu rde, das Anwesen im Rah men des neuen Landschaftsgartenp ro jekts zu restau rieren und ih m seine ehemalige Pracht zu rückzugeben: Es ist eine Tragödie, sagte er, dass einige der prächtigsten Anwesen unseres Landes in den kommenden Jahrzehnten verloren gehen werden, nur weil einige wenige nicht einsehen wollen, dass es in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten eine Sünde ist, als privaten Wohnsitz zu nutzen, was im Grunde nationales Erbe ist. Auf die Frage, welche Pläne die Treuhandgesellschaft fü r Milderhu rst vo rg eseh en habe, zählte er diverse Maßnah men au f, darunter die Grundsanierung des Schlosses selbst und die komplette Wiederherstellung der Gartenanlagen. Pläne, so schien es mir, die ziemlich genau dem entsprachen, was Percy Blyth e sich fü r ih r An wesen gewünscht hätte. »Damals war die Arbeit des National Trust sehr umstritten«, sagte Miss Yeats, als ich mein en Gedanken laut äußerte. »Die Fün fzigerjah re waren eine schwierige Zeit: In Hid-
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cote hat man die Kirschbäume ab geholzt und in Wimp ole die Alleen bäu me gefällt, und das alles, um vermeintliche historische Standards wiederherzustellen.« Die b eiden Beispiele sag ten mir nichts, ab er irgend welch e Standard s zu erfüllen, d as kl ang schon wen iger nach der Percy Blythe, die ich kenneng elernt hatte. Als ich weiterlas , wurd e mir die Sachlage allmählich klarer. »Hier steht, der Trust wollte den Schlossgraben wieder herrichten.« Ich schaute Miss Yeats an, die den Kopf schief gelegt hatte und auf eine Erklärung wartete. »Raymond Blythe hat den Graben nach dem Tod der Mutter der Zwillinge zu schütten lassen , als eine Art Gedenkstätte. Ich glaube nicht, dass die Schwestern es begrüßt hätten , wenn der Trust den Grab en wieder au sgehoben hätte.« Ich lehn te mich in meinem Stu hl zu rück und streckte mich . »Allerd ing s v erstehe ich nicht, wieso sie so verarmt waren. Der Modermann ist ein Klassiker, er war ein Bestseller und verkauft sich h eute noch . Die Tantiemen mü ssten doch eigentlich ausgereich t hab en, u m ihn en ein b equemes Leben zu ermö glichen , od er? « »Tja, das sollte man meinen«, sag te Miss Yeats. Dann be trachtete sie stirn run zelnd einen Stapel Co mpu terau sd ruck e, der vo r uns auf dem Tisch lag. »Wissen Sie, ich bin mir ziemlich sich er, dass ich ...« Sie ging die Ausdrucke durch, zo g schließlich einen herau s und hielt ihn sich dich t vor die Nase. »Ah ja! Hier ist es ...« Sie reichte mir einen Zeitungsartikel v o m 1 3 . Mai 1 9 4 1 und schaute mich üb er ih re Lesebrille hinweg an. »Offen bar hat Raymo nd Blythe n ach sei nem To d beträchtlich e Vermächtn isse h interlassen.« Der Artikel war überschrieben mit »Groß zügige Spend e von Sch riftsteller rettet Institut« und zeig te das Fo to v on einer strahlenden, mit einer Latzho se bekleideten Frau, die eine Ausgabe des Modermann in Hän den hält. Ich üb erflog d en Tex t. Miss Yeats hatte recht: Der Großteil d er Tan tiemen wu rd e nach Raymond Blyth es Tod zwisch en der katholischen Kirch e und ein em Verein au fgeteilt. »Das Pemb ro ke-Far mIn stitut«, las ich langsam vor. »Hier steht, dass es sich u m einen Naturschutzverein mit Sitz in Sussex handelt, der sich die Fö rd erung ein er gesunden, öko logischen Leben sweise zu m Ziel gesetzt hat.«
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»Die waren ihrer Zeit ziemlich weit vorau s«, bemerkte Miss Yeats. Ich nickte. »So llen wir mal ob en im Register nachsehen? Vielleicht find en wir ja noch mehr? « Miss Yeats war so begeistert von der Au ssicht au f ein n eues Fo rsch ung sth ema, dass ihre Wangen rosig glühten, und ich kam mir ziemlich gemein vo r, als ich sagte: »Nein , heute nicht. Ich fürchte, ich habe nicht genug Zeit.« Als sie mich enttäuscht ansah, fügte ich hinzu: »Tu t mir wirk lich leid, ab er mein Vater wartet au f meinen Bericht.« Was tatsächlich stimmte, tro tzdem g ing ich nicht auf d irek tem Weg nach Hause. Als ich sagte, es gäbe drei Gründ e, waru m ich mich darauf eingelassen hatte, mein Woch enen de fü r d ie Nach fo rsch ungen in der Bibliothek zu opfern, war ich nicht g anz au frichtig. Ich habe nicht g elogen , die Gründ e waren alle ko rrekt, aber es gab noch einen vierten, dringlich eren Grund . Ich wo llte mein er Mu tter au s dem Weg geh en. Und zwar wegen dieser Briefe, od er genauer gesag t, wegen mein er Un fäh igkeit, d en verd ammt en Schuhkarto n v erschlo ssen zu lassen, den Rita mir gegeben hatte. Ich hatte sie nämlich alle gelesen. An dem Abend von Sams Junggesellinnenabschied hatte ich sie mit nach Hau se g enommen und sie alle verschlungen , ein en nach dem anderen, angefangen bei dem Brief, den meine Mutter gleich nach ih rer Ankunft im Schloss gesch rieben hatte. Ich stand mit ih r die fro stigen ersten Mo nate des Jah res 1 9 4 0 du rch , wu rde mit ihr Zeugin der Luftschlacht um En gland , zitterte mit ih r in d er »Anderson «-Schutzhütte. Im Lauf der an derthalb Jahre wurd e die Handschrift sauberer, die Au sd ruck sweise reifer, bis ich lange n ach Mittern acht den letzten Brief las, den Brief, den sie nach Hause geschickt hatte, ku rz bevo r ih r Vater sie zurück nach Lond on holte. Er trug das Datu m vo m 1 7 . Februar 1 9 4 1 :
Liebe Mum, lieber Dad, es tut mir leid, dass wir am Telefon gestritten haben. Ich habe mich so sehr über Euren Anruf gefreut, und es macht mich traurig, dass es so ausgegangen ist. Ich glaube, ich habe 278
mich nicht sehr verständlich ausgedrückt. Ich wollte sagen, dass ich weiß, dass Ihr nur das Beste für mich wollt, und ich danke Dir, Dad, dass Du in meinem Namen mit Mr. Solley gesprochen hast. Trotzdem bin ich nicht der Meinung, dass es »das Beste« für mich wäre, nach Hause zu kommen und als Schreibkraft für ihn zu arbeiten. Rita ist anders als ich. Ihr hat es hier auf dem Land überhaupt nicht gefallen, und sie hat schon immer genau gewusst, was sie tun und werden wollte. Mein Leben lang hatte ich das Gefühl, dass mit mir etwas nicht stimmte, dass ich auf eine bestimmte Weise »anders« war, die ich nicht erklären konnte, die ich nicht einmal selbst verstand. Ich lese gern Bücher, ich liebe es, Leute zu beobachten, es macht mir Spaß, das, was ich sehe und was ich denke, mit Worten festzuhalten. Lächerlich, ich weiß! Könnt Ihr Euch vorstellen, dass ich mir immer vorgekommen bin wie das schwarze Schaf der Familie? Aber hier habe ich Menschen kennengelernt, die meine Interessen teilen, und jetzt weiß ich, dass es noch andere gibt, die die Welt genauso sehen wie ich. Saffy glaubt, dass ich, wenn der Krieg vorbei ist, was bestimmt nicht mehr lange dauert, gute Aussichten habe, an einer Oberschule aufgenommen zu werden, und danach ... wer weiß? Vielleicht könnte ich sogar studieren? Auf jeden Fall muss ich weiterhin fleißig lernen, wenn ich die Chance haben will, auf eine Oberschule zu wechseln. Und deswegen flehe ich Euch an — bitte zwingt mich nicht, nach Hause zu kommen! Die Blythes würden mich gern noch länger dabehalten, und Ihr wisst ja, dass ich hier gut aufgehoben bin. Ihr habt mich nicht »verloren«, Mum, ich wünschte, Du würdest so etwas nicht sagen. Ich bin Eure Tochter — Ihr könntet mich nicht einmal verlieren, wenn Ihr es versuchen würdet. Bitte, bitte, lasst mich bleiben! Voller Liebe und Hoffnung, Eure Tochter Meredith In jen er Nach t träu mte ich von Milderhurst. Ich war wieder ein kleines Mädchen, trug eine Schuluniform, die mir unb ekannt war, und stand vor dem hohen schmiedeeisernen Tor am Anfang der Zufahrt. Das Tor war v erriegelt und viel zu ho ch, um darü berzuklettern, so hoch, d ass es, als ich nach oben schaute, bis in die wirbelnden Wo lken rag te. Ich versuch te, am To r hoch zuk lettern, aber meine Füße rutschten immer wieder ab , sie waren weich wie Pudding, wie man es o ft in Träumen erlebt. Das Metall fühlte sich eisig an i n meinen Händen, und doch war ich von dem V erlang en erfüllt zu erfah ren, was dahinter lag. Ich sch aute nach u nten, un d au f mein er Hand fläch e lag ein g roß er, ro stiger Schlüssel. Dann saß ich plötzlich in einer 279
Kutsche hinter dem Tor. In einer direkt aus dem Modermann ent lehnten Szene wu rde ich die lange, gewundene Zufahrt hochgefah ren , an d em d unklen, bebenden Wald vo rb ei, über die Brü cken , bis das Schlo ss oben auf dem Hügel vor mir aufragte. Und dann war ich auf einmal drinnen. Das Schloss schien verlassen . Die Böden der Flu re waren von einer dich ten Staubschicht bedeckt, die Bilder hingen schief an den Wänden, die Vorhänge waren zerschlissen. Ab er ich sah nicht nu r die äuß eren Anzeichen des Verfalls. Die Lu ft war abgestan den und roch übelk eiterreg end, und ich fühlte mich, als hätte man mich au f ein em dun klen , feuchten Dachbo den in einer Kiste eingesperrt. Dann hörte ich ein Geräu sch, ein leises Rasch eln und d ie Andeutung einer Bewegun g. Am Ende des Flurs stand Juni per, sie trug d asselbe Kleid , das sie ang ehabt hatte, als ich das Sch loss besichtigt hatte. Ein merk wü rdiges Gefühl überkam mich, eine den ganzen Traum d u rchd ring ende tiefe und beunruhigend e Sehn sucht. Ob woh l sie kein Wo rt sag te, wu sste ich, dass es Oktober 1 9 4 1 war und sie au f Tho ma s Cavill wartete. Hinter ih r tauchte eine Tü r auf, die Tü r zu m guten Salon. Musik war zu hö ren , eine Melodie, d ie mir vage bekannt vorkam. Ich fo lgte ih r in das Zimmer, wo ein gedeckter Tisch stand. Alles im Zimmer wirkte erwa rtungsvoll. Ich ging um den Tisch herum, zählte die Gedecke, wusste irgendwie, dass ein s fü r mich vo rgesehen war und eins für meine Mutter. Dann sagte Jun iper etwas, das heißt, ihre Lipp en bewegten sich, aber ich kon nte keine Worte hö ren. Plötzlich stand ich am Fenster, aber gemäß der seltsamen Trau mlog ik war es gleichzeitig das Küchenfenster bei meiner Mu tter, und ich b etrachtete die Fensterscheib e. Ich sch aute nach d rauß en, wo es stürmte, und dann sah ich einen glitzernden, sch warzen Schlo ssgrab en. Der Wasserspieg el bewegte sich , und eine schwarze Gestalt tauchte aus dem Graben auf. Mein Herz schlu g wie eine Glocke in mein er Brust. Ich wusste sofo rt, dass das der Moderman n war, un d ich war vor Angst stocksteif. Meine Füße waren mit d e m Boden verwachsen, aber als ich gerade sch reien wollte, war
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meine Angst mit einem Mal verflogen. Stattdessen überkamen mich Sehnsucht und Trau rigk eit und , ganz unerwartet, Verlangen. Ich fuhr aus dem Schlaf, der Trau m war bereits dabei, mir zu entgleiten. Verblassen de Bild er h ingen wie Geister in den Zimmerecken , und ich blieb eine Weile ganz still liegen und beschwor sie, sich nicht au fzulö sen . Ich h atte das Gefühl, als könnte die leiseste Bewegung, das winzigste Fitzelchen Sonnenlicht die Bilder versch euchen. Ab er ich wollte sie no ch nicht loslassen. Der Traum war so lebhaft gewesen, die Sehnsucht so real, dass ich, als ich meine Hand fest gegen mein e Bru st p resste, fast d amit rechnete, einen blau en Fleck au f der Haut zu hin terlassen . Nach einer Weile stieg die Sonne über das Dach von Singe r & Sons, die ersten Strahlen fielen durch die Spalten zwisch en d en Vo rh ängen , und die Mag ie des Trau ms war verflo gen. Ich setzte mich seu fzend auf. Mein Blick fiel au f den Sch uhkarton am Fu ßende meines Betts. Beim An b lick all dieser Briefe, die nach Elep hant and Castle geschickt wo rden waren, fielen mir wieder Einzelheiten des vergangenen Ab end s ein, und plötzlich fühlte ich mich schuldig wie je man d , der von verboten en Früchten gek ostet h atte. Soseh r ich mich darü ber freute, dass ich eine Vo rstellung von der Stimme, den Bildern und dem Wesen meiner Mu tter als Kind beko mmen hatte, und eg al wie überzeugend die Argumente waren, mit denen ich mein Handeln zu rechtfertig en suchte (die Briefe waren vor Jahrzehnten gesch rieben wo rd en, sie waren für die Familie bestimmt gewesen , und meine Mu tter b rauchte nie davon zu erfah ren ), ich ko nnte den Gesich tsau sd ruck nicht verg essen , mit dem Rita mir die Schachtel gegeben und mir viel Spaß beim Lesen gewünsch t hatte, den An flug eines Triu mp hgefühls, als hätten wir jetzt ein gemein sames Geheimn is, als würde uns von nun an etwas verbinden, das ih re Schwester ausschloss. Die Wärme, d ie mich du rchströmte, als ich das kleine Mädchen an der Hand gehalten h atte, war der Reu e der Schnü fflerin gewich en. Ich wü rde ih r alles beich ten müssen, das war mir klar, aber ich traf eine Ab machung mit mi r selbst. Wenn es mir gelang, aus dem Haus zu kommen , ohne mein er Mu tter über d en Weg
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zu lau fen, hätte ich einen ganzen Tag lan g Zeit, mir zu üb erlegen , wie ich am b esten vo rgehen so llte. Falls ich ih r au f dem Weg zu r Tür begeg nete, würde ich au f der Stelle ein e umfassende Beichte ablegen. Schnell und leise zog ich mich an , schlich in s Bad, um mich zu wasch en und zu kämmen , holte heimlich meine U mh än getasch e au s dem Wo hn zimmer alles lief wie am Schnürchen, bis ich in die Küche kam. Meine Mutter stand am Herd, den Gü rtel ihres Mo rg enmantels ein bisschen zu hoch g eschnü rt, sod ass sie au ssah wie ein Schneeman n . »Morgen , Edie«, sagte sie mit einem Blick über die Schulter. Zu spät, um den Rückzug anzutreten. »Morgen, Mum.« »Gut geschlafen? « »Ja, danke.« Während ich nach einem Vorwand suchte, das Frühstück au sfallen zu lassen , stellte sie eine damp fende Tasse Tee vor mir auf den Tisch. »Wie war's auf Samanthas Party? « »Bunt. Laut.« Ich lächelte. »Du kennst ja Sam.« »Ich habe dich gestern Ab end gar nicht kommen hören. Ich hatte dir etwas vo m Abendessen hinge stellt.« »Ah ...« »Ich wusste ja nicht, ob du noch Hu nger haben wü rdest, ab er wie ich sehe ...« »Ich war ziemlich mü de ...« »Natürlich.« Ich kam mi r vor wie ein Schu ft! Und in ih rem unvo rteilhaf ten Morgenmantel wirkte meine Mu tter verletzlicher denn je, was dazu führte, dass ich mich noch elender fühlte. Ich setzte mich an den Tisch, wo sie die Teetasse hingestellt hatte, holte entschlossen Lu ft und sagte: »Mu m, ich mu ss d ir etwas ...« »Au !« Sie steckte d en Finger kurz in den Mund und schüttelte ihn. »Der Dampf«, sagte sie und pustete au f ih re Fingersp itze. »Das ist dieser blöde neue Wasserkessel.« »Soll ich dir Eiswürfel ho len? « »Ich halte ihn ein fach un ter kaltes Wasser.« Sie trat an die Spüle. »Es liegt an der Tü lle. Ich weiß nich t, waru m man Dingen, die bislang tad ellos funktioniert hab en, ein neues Design v erpassen mu ss.«
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Ich ho lte noch ein mal Lu ft, atmete aber wieder aus, als sie fo rtfu h r. »Ich wünschte, die würden sich au f nützlichere Dinge kon zentrieren . Ein Heilmittel g egen Kreb s zum Beisp iel.« Sie d rehte den Wasserhahn ab. »Mum, ich muss dir unbeding t etwas ...« »Ich bin gleich wieder da, Ed ie. Ich will nur eb en dein e m Vater den Tee bringen, eh e d ie Glock e läutet.« Sie ging nach oben. Während ich wartete, üb erlegte ich, was ich sagen sollte, wie ich es ihr sagen sollte, ob es eine Mö glichkeit gab, meine Sün de au f ein e Weise zu erk lären, die sie verstehen wü rde. Eine kühne Ho ffnung , die ich wieder verwarf. Es gibt einfach keine nette Art, jemandem zu gestehen, dass man ihn du rch s Schlüsselloch beobachtet hat. Ich hörte meine Eltern leise miteinander red en, dann d ie Tür, die geschlossen wurd e, dann Schritte au f der Trep pe. Hastig stand ich auf. Was hatte ich mir überhaupt gedacht? Ich brau chte mehr Zeit. Es wäre dumm, mit der Tür ins Haus zu fallen , ich mu sste erst über alles nachdenken ... Ab er dann war sie wieder in d er Küche und sag te: »So , d as dürfte Seine Durchlaucht für die nächste Viertelstunde zu friedenstellen «, und ich stand immer n och verlegen hinter meine m Stu hl, wie eine schlechte Schau spielerin au f der Bühne. »Du gehst scho n? «, frag te sie überrascht. »Du hast dein en Tee ja noch gar n icht au sgetrunken .« »Ich, äh ...« »Wolltest du mir nicht etwas sagen? « Ich nah m mein e Teetasse und betrachtete ih ren Inhalt. »Ich...« »Ja? « Sie ban d den Gürtel ihres Morgenrocks ein bisschen fester und sah mich leich t b eso rgt an . »Was ist den n lo s?« Wem wollte ich eigentlich etwas vormachen? Nach denken, ein paar Stund en Au fschub, nichts würde etwas ändern. Ich seu fzte resign iert. »Ich habe etwas für dich.« Ich ging in mein Zimmer und zog die Schachtel mit den Briefen unter dem Bett hervo r. Als ich wieder in die Küche kam, hatte sich eine senkrech te Falte au f der Stirn meiner Mutter gebildet. Ich stellte die Sch ach tel au f den Tisch.
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»Panto ffeln? « Sie runzelte die Stirn und schaute zuerst ih re Füß e, d ie in Pantoffeln steckten , dann mich an . »Seh r freu ndlich, Edie, man kann ja n ie genug Panto ffeln h aben .« »Nein, das sind keine ...« Plö tzlich läch elte sie. »Deine Groß mu tter hat immer so lch e getrag en.« Wie sie mich anschaute, wirkte sie auf einmal so ung eschü tzt, so unerwartet erfreut, dass ich mich beherrschen mu sste, um nicht den Deckel von der Schach tel zu reißen und mich als die Verräterin zu erkennen zu geben, die ich war. »Wu sstest du das, Edie? Hast du sie d eswegen gekau ft? Nicht zu glauben, dass du g enau solche gefund en hast...« »Das sind keine Pan toffeln, Mu m. Mach die Sch ach tel au f. Bitte. Mach sie ein fach auf.« »Edie? « Sie lächelte veru nsichert, als sie sich an den Tisch setzte und die Schach tel zu sich heran zog . Ein letzter ängstlicher Blick in mein e Richtung , dan n nahm sie den De ck el ab und b etrachtete stirnrunzelnd den Stapel vergilbter Briefe. Mir wu rd e ganz heiß, als h ätte ich Feu er in den Ad ern, an gesichts der Gefühle, die sich in ih rem Gesicht spiegelten. Verwirrung, Arg wohn , dann ein kurzes Einatmen, als die Erkenntnis kam. Später, in meiner Erin nerung , sah ich ihn sehr deutlich, den Moment, in dem d ie Handsch rift au f d em o ber sten Umschlag sich in gele bte Erfah rung verwandelte. Ich sah, wie ihr Gesicht sich veränderte, wie ihre Züge sich wieder in die einer Dreizeh njäh rigen verwandelten, die diesen Brief an ihre Eltern gesch rieb en und ihnen darin von de m Schloss berichtet hatte, in dem sie untergebracht war. Sie war wieder d o rt, zurückversetzt in den Moment, als sie den Brief verfasst hatte. Die Fing er mein er Mutter wand erten an ih re Lipp en, an ih re Wang e, verharrten ku rz an de r kleinen Kuhle an ih rem Hals, bis sie endlich, nach einer Ewigkeit, wie mir sch ien, zö gern d in die Schachtel griffen. Sie nahm den ganzen Stapel Briefe au f ein mal herau s und hielt ihn in beiden Händen. In Händen, d ie zitterten. Dann sagte sie, oh ne mich an zu sehen: »Woher hast du die ... ? « »Vo n Rita.«
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Sie seufzte lan gsam, nickte, als hätte sie es sich gleich denken können. »Hat sie dir gesag t, wie sie an die Briefe geko mmen ist? « »Sie hat sie nach Gran s Tod unter ih ren Sachen gefun den.« Ein Geräu sch , d as der An satz zu einem Lachen hätte sein können, wehmütig, überrascht, ein bisschen trau rig. »Ich kann es nicht fassen, dass sie sie au fbewah rt hat.« »Du hast sie geschrieben«, sagte ich leise. »Natürlich hat sie sie aufbewahrt.« Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Aber so war es nicht ... Meine Mu tter und ich , wir waren nicht so.« Ich dachte an Das Buch von den nassen Zaubertieren. Meine Mutter und ich waren auch nicht so, das hatte ich jedenfalls angeno mmen . »So sin d Eltern nun mal, denke ich.« Meine Mutter zog mehrere Briefe au s dem S tapel u nd hielt sie wie Spielkarten in der Hand . »Dinge au s d er Vergang en heit«, sagte sie, meh r zu sich selbst. »Dabei habe ich alles darangesetzt, d as Vergan gene hi nter mir zu lassen.« Vo rsich tig fu h r sie mit den Fin gerspitzen üb er d ie Briefe. »Und jetzt, wohin ich mich au ch wende ...« Mein Herz begann zu rasen bei der Aussicht, mehr zu erfah ren. »Warum willst du das Vergangene denn verg essen, Mum? « Aber sie antwortete mi r nicht, jeden falls nicht g leich. Das Foto, d as kleiner war als die Briefe, war aus dem Stapel gerutscht, genau wie am Ab end zuvor, und au f den Tisch gefallen. Sie holte tief Lu ft, dann hob sie es auf, rieb mit dem Daumen darüber, ihr Gesicht verletzlich, gequ ält. »Das ist alles so lange her, aber manchmal ...« Plötzlich schien sie sich zu erin nern, dass ich da war. Sch ob das Foto wieder zwischen die Briefe, gesp ielt b eiläu fig, als bedeutete es ih r nichts. Dann schaute sie mich an. »Deine Gran und ich ... wir hatten es nicht leicht miteinander. Wir waren sehr verschied en, immer schon , ab er nach mein er Ev aku ierung sind einig e Din ge no ch viel deu tlich er zu tage getreten . Wir haben un s gestritten, und sie hat mir nie verziehen.« »Weil d u au f die Oberschu le wech seln wo lltest? « Alles schien stillzustehen, selb st die Lu ft.
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Meine Mutter sah au s, als hätte ich sie geoh rfeigt. Dan n fragte sie leise, mit zitternder Stimme: »Du hast sie gelesen? Meine Briefe? « Ich schluckte. Und n ickte zittrig. »Wie konntest du nur, Edith? Das ist p riv at.« Alle meine Rech tfertigun gsargumen te lösten sich auf wie ein Papiertaschentuch im Reg en. Vor Scham kamen mir die Tränen , sodass mir alles vo r den Aug en v ersch wamm, au ch das Gesicht meiner Mutter. Alle Farb e war aus ih rem Gesicht gewich en, nu r die Sommersp ro ssen waren geb lieben, sod ass sie wied er au ssah wie als Dreizehnjährige. »Ich ... ich wollte es einfach wissen.« »Das alles geht dich nichts an «, zischte sie. »Es h at nichts mit dir zu tun .« Sie pack te die Schachtel, d rückte sie sich an die Brust und eilte nach ku rzem Zög ern aus der Küch e. »Do ch, es geht mich etwas an«, sagte ich zu mir selb st, dann lauter, mit zitternder Stimme: »Du hast mich angelo gen !« Sie zuckte zu sammen . »Üb er Ju nipers Brief, üb er Mild erhurst, über alles. Wir sind doch da gewesen ...« Sie zögerte kurz an der Tür, d rehte sich ab er nicht u m und blieb nicht stehen. »... ich kann mich daran erinnern.« Dann war ich wieder allein, umgeben von dieser sonderbar gläsernen Stille, die eintritt, wenn etwas zerb ro chen wurde. Ob en wu rde eine Tü r zu gesch lagen . Seitdem waren zwei Wochen vergan gen , un d selb st fü r un sere Verhältnisse war die Stimmu ng zwischen un s eisig. Wir gingen hö flich miteinand er u m, einerseits mein em Vater zu liebe, andererseits, weil das unser Stil war, nickten und läch elten, sprachen jedoch k ein Wo rt, d as üb er Floskeln wie »Gib mir bitte das Salz« hinausgin g. Ich fühlte mich bald schu ldig und d ann wieder nich t, war bald stolz und neugierig au f das Mädchen , das Bücher gelieb t h atte, so wie ich , und dann verletzt und sauer au f die Frau , die sich weig erte, mir irgendetwas von sich preiszugeben .
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Aber vo r allem ärgerte ich mich, dass ich ih r überhaupt von den Briefen erzählt hatte. Ich verflu chte alle, die b ehaup teten, dass Eh rlichk eit am läng sten wäh rt, began n wieder, die Vermietungsannoncen zu studieren , und su chte darüber h inaus jede Gelegenheit, mich rar zu machen . Das war nicht sch wierig : Das vo m Ghostwriter überarbeitete Manuskript von Die Geister der Romney Marsh war eingetro ffen , und so hatte ich allen Grund, Überstund en zu machen . Herbert freute sich über meine Gesellschaft. Mein Arbeitseifer, b emerkte er, erinnere ihn an »die guten alten Zeiten«, als der Krieg endlich zu Ende war und England sich wieder aufrap pelte und er und Mr. Brown ständig unterwegs waren, um Titel einzu kau fen und Aufträge an Land zu ziehen. Und deswegen fuh r ich am So nntag , nachdem ich die Au sdrucke mit den Zeitung sartikeln ein gesteckt, einen Blick au f die Uhr gewo rfen und festgestellt hatte, dass es erst kurz nach ein s war, nicht nach Hau se. Dad saß au f h eiß en Koh len wegen meiner Nach forschungen in Sachen Entführung, aber er wü rde sich b is zu u nserer offiziellen Modermann-Sitzung am Abend gedulden mü ssen. Ich machte mich auf den Weg nach Notting Hill, b eflüg elt von der Au ssich t au f ang eneh me Gesellschaft, willkomme ne Ablenkung und vielleicht sogar ein klein es Mittagessen .
Die Handlung wird ziemlich kompliziert Ich hatte ganz vergessen, dass Herbert übers Wochenende verreist war, um bei der jährlichen Versammlung der Book binders Association einen Vortrag zu halten. Bei Billing & Brown waren die Jalousien heruntergelassen , un d d as Bü ro war dü ster u nd o hne Leb en. Als ich d as Haus betrat und mich vo llkommene Stille empfing, fühlte ich mich schrecklich nied ergesch mettert. »Jess? «, rief ich ho ffnungsvoll. »Jessie? « Kein freudiges Tapsen , kein Pfoten scharren auf der Treppe zum Souterrain, nu r Stille, die mir in Wellen entgegen sch wappte. Ein gelieb tes Haus ohne seine rechtmäßigen Bewo hner hat etwas zutiefst Beunruh igend es, und in dem Mo men t hätte ich nichts 287
lieber getan, als mich mit Jess um den Platz au f dem Sofa zu streiten. »Jessie? « Nichts. Was bedeutete, dass Herb ert sie n ach Sh rewsbu ry mitgenommen hatte und ich wirk lich allein war. Egal, munterte ich mich auf, es gab schließlich genug Arbeit, u m mi ch d en Nach mittag über zu b eschäftigen. Die Geister der Romney Marsh so llte am Montag in den Druck gehen, und auch wenn es bereits zweimal überarbeitet worden war, ko nnte es nicht schaden , es mir no ch ein mal vo rzunehmen . Ich zog die Jalousien hoch, sch altete mein e Schreibtischlamp e ein, wobei ich alles so geräu sch voll wie möglich erledigte, dann setzte ich mich und blätterte die Manu sk rip tseiten du rch . Ich strich Ko mmas, setzte sie wieder ein. Sinnierte über den Geb rauch von »do ch « an stelle v on »aber«, ohn e zu ein e m Schluss zu kommen, und markierte die Stelle, um später noch einma l darüber nachzud enken . Nachd em ich auch bei den näch sten fün f stilistischen Frag en zu keiner Lö sung gelangt war, sagte ich mi r, d ass es ein Ding der Unmöglichkeit war, sich mit leerem Mag en konzentrieren zu wollen . Herb ert hatte gekocht, und im Kühlschrank stand eine frische Kü rb islasagne. Ich schnitt ein Stück ab, wärmte es auf und g ing mit d em Teller zu rü ck an meinen Sch reibtisch. Weil ich das Manusk ript des Ghostwriters nicht beschmutzen wollte, schob ich es beiseite und nah m mir stattdessen die Artikel aus dem Milderhurst Mercury v o r. Ich las den einen oder an deren Ab satz, betrachtete aber vor allem die Bild er. Schwarz-Weiß -Fotos haben etwas Nostalgisches, das Fehlen von Farben vermittelt den Eindruck, als könnte man durch den Tunn el der Zeit in die Ve rgangenheit blicken. Es gab zahlreiche Fotos vom Schloss selb st, au fg enommen in versch iedenen Jah ren, ein ige vo n d en Länd ereien, ein ganz altes von Raymo nd Blythe und seinen Zwilling stöchtern au s An lass des Erscheinens vom Modermann. Foto s von Percy Blythe, die steif u nd verlegen un ter d en Ho chzeitsgästen eines Paars namen s Harold und Lucy Rogers steht, Percy Blyth e, die bei der Erö ffnung eines Gemeindezentru ms d as Band zerschn eidet, Percy Blyth e, die ei ne signierte Ausg abe d es Modermann an die Gewinnerin eines Gedich twettb ewerb s überreich t.
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Ich ging die Seiten noch einmal durch: Saffy war auf keinem einzigen Foto zu sehen, was mir sonderbar erschien. Dass Juniper nicht mit auf d en Fotos war, konn te ich ja v erstehen, aber wo war Saffy? Ich nahm mir einen Artikel vor, der das Ende des Zweiten Weltkriegs feierte und einige Bü rger des Dorfs für ihren tapferen Ein satz an der Heimatfront lobte. Noch ein Foto von Perc y Blythe, diesmal in Unifo rm. Ich b etrachtete es nachdenklich. Natü rlich konn te es sein, dass Saffy sich nicht gern fotog rafieren ließ. Und es konn te sein, dass sie sich strikt geweigert hatte, sich in d er Gemeinde zu en gagieren . Fü r viel wah rschein lich er hielt ich es jedoch , nachd em ich die beid en zusammen erlebt hatte, dass sie wusste, wo ihr Platz war. Mit einer Schwester wie Percy, einer Frau mit eisern er Entsch lu sskraft und dem absoluten Willen , fü r den guten Namen ih rer Familie einzustehen, wie kon nte die arme Saffy darauf hoffen, ihr Lächeln in der Zeitu ng abgeb ild et zu sehen? Es war kein gutes Foto, in keiner Weise schmeichelhaft. Percy stand im Vo rderg rund, und das Foto war von u nten aufgenommen worden, wahrscheinlich , um das Schloss im Hin terg rund ganz drau fzubekommen . Der Winkel war schlecht gewählt und ließ Percy riesenhaft und streng er sch einen, ein Eind ruck , der du rch ih r ernstes Gesicht no ch verstärkt wurde. Ich sah genauer hin . I m Hintergrund entd eck te ich etwas, das ich vorher übersehen h atte, direk t hinter Percys ku rzem Haarschopf. Ich wühlte in Herb erts Schu blade, bis ich die Lupe fand , h ielt sie über das Foto und kniff d ie Augen zu sammen. Dann lehnte ich mich verblüfft zu rück . Genau, was ich vermutet hatte. Jemand war au f dem Schlossdach . Auf dem First neb en einer der Zinnen saß eine Gestalt in eine m langen, weißen Kleid. Mir war sofort klar, dass das nur Juniper sein konn te , die ar me, trau rige Junip er. Während ich den winzig en weiß en Fleck in der Nähe des Dachzimme rfen sters betrach tete, ü berkam mich eine Mischu ng aus Emp ö rung und Trau rigkeit. Und Zo rn . Nicht zu m ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass To m Cavill die Wurzel allen Üb els war, un d ich stellte mir ein mal meh r vo r, was an jenem Oktoberabend passiert war, als er Juniper das Herz
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gebrochen und ihr Leben ruiniert hatte. Das Szenario , das ich mir au sgemalt hatte, war mittlerweile seh r detailliert, es war mir so vertraut, dass es ablief wie ein altbekannter Film, einschließlich des stimmungsvo llen Soun dtrack s. Ich befand mich zu sammen mit den Sch western in dem p erfekt hergerichteten guten Zimme r, hö rte ihnen zu, wie sie sich fragten, was ihn so lang e hatte aufhalten k önnen , sah , wie Juniper begann, zum Opfer eines Wahn sinn s zu werden, der sie auffressen sollte, und dann passierte etwas. Etwas, das noch nie zuvor passiert war. Ich weiß nich t, waru m od er wie es dazu kam, aber die Erkenntn is kam p lötzlich un d sieden d heiß. Der So undtrack mein es Trau ms b rach ab rupt ab , die Bilder lö sten sich au f, und nur eins war klar: Es steckte meh r hinter d ieser Gesch ichte. Es kon nte n ich t an ders sein. Denn keine Frau wird wahnsinnig, b loß we il ein Liebhaber nicht auftaucht, oder? Au ch nich t, wenn sie lab il oder dep ressiv ist oder was au ch immer Mrs. Bird gemeint hatte, als sie von Junipers An fällen gesprochen hatte. Ich ließ den Mercury-Artikel au f d en Sch reibtisch sinken und richtete mi ch auf. Ich hatte die trau rige Gesch ich te von Ju niper Blythe für bare Mü nze g eno mmen , weil mein e Mutter zu gegeb ener maß en recht hat: Ich habe eine blü hend e Fantasie und ein Faible für Geschich ten mit tragisch em Ausgang. Aber das war kein Märchen, das war da s wirkliche Leben, und ich mu sste die Situation etwas k ritischer in s Aug e fassen. Ich bin Lektorin, es ist mein Job, Geschich ten auf ih re Plausibilität hin zu überp rüfen, und die v on Juniper Blythe en thielt einige Ungereimtheiten. Sie war zu simp el. Lieb esaffären gehen zu En de, Menschen betrügen einander, Liebende trennen sich. Das Leb en ist vo ll von solchen persönlich en Tragödien, die vielleicht schrecklich sein mögen, aber im größeren Zusamme nh ang betrach tet do ch eh er ban al sind, od er? Sie ist wahnsinnig geworden: Die Wo rte kamen einem leicht üb er die Lippen, aber die Geschichte war ziemlich dünn, wie aus einem Gro sch en ro man . Mir war vo r nicht allzu lang er Zeit dasselbe passiert, und ich war auch nicht wahn sin nig gewo rden. Nicht einmal ansatzweise.
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Mein Herz h atte an gefangen , ziemlich heftig zu klopfen . Ich schnappte mir me in e Tasche, stop fte die Kop ien hinein, b rachte meinen sch mu tzigen Teller in die Küche. Ich musste Tom Cavill find en. Waru m war ich nich t eher darauf gekommen? Meine Mutter würde mir nichts erzählen, Juniper war nicht in der Lage dazu. Ab er er war das fehlende Glied, die Antwort auf alles lag bei ih m, und ich mu sste mehr üb er ih n in Erfah run g b ringen. Ich schaltete die Schreibtischlampe au s, ließ die Jalo usien herunter und schloss die Haustü r hinter mir ab . Ich bin ein Bücherwurm, und deswegen kam mir gar keine andere Alternativ e in den Sinn : Ich eilte auf direktem Weg zurück zur Bibliothek. Miss Yeats freute sich , mich zu seh en. »So sch nell zu rück? «, sagte sie mit einer Begeisteru ng, wie man sie von einer lan ge vermissten Freundin erwarten wü rd e. »Aber Sie sind ja ganz nass! Sagen Sie bloß, es regnet scho n wieder.« Ich hatte es noch nicht ein mal bemerk t. »Ich habe k ein en Sch irm«, sagte ich. »Mach t n ichts. Sie werden schon wieder trock nen , u nd ich freu e mich seh r, dass Sie gekommen sind.« Sie nahm einen klein en Stap el Papiere v on ih rem Sch reibtisch und üb erreichte ihn mir mit einer Ehrfurcht, als wäre es d er heilige Gral. »Ich weiß, Sie haben gesagt, Sie hätten keine Zeit, aber ich habe trotzdem noch ein bisschen weiterg eforscht — das Pembroke-Farm-In stitut«, sagte sie, und als sie merkte, dass ich keinen Schimmer hatte, wovon sie redete, fügte sie hinzu: »Die Schen kung von Raymo nd Blythe?« »Ah .« Jetzt erinnerte ich mich wieder. Seit dem Morgen sch ien eine Menge Zeit vergangen zu sein. »Großartig. Vielen Dank.« »Ich hab e alles au sg edruckt, was ich find en kon nte. Ich h abe versu cht, Sie au f der Arbeit anzuru fen, aber Sie waren nicht da!« Ich b edankte mich noch ein mal, überflog die Unterlagen, au f denen die Natu rschutzak tivitäten des In stitu ts au fgelistet waren, tat so, als würde ich die Informationen sehr wichtig nehmen, und steckte sie in meine U mh än getasch e. »Ich freu e
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mich sch on darauf, das alles genauer zu studieren«, sagte ich. »Aber zuerst muss ich mich u m etwas anderes kü mmern.« Ich erklärte ih r, dass ich nach In fo rmationen üb er einen bestimmten Mann suchte. »Er heißt Thomas Cavill. Er war Soldat im Zweiten Weltk rieg, un d davo r war er Leh rer. Er hat in Elep hant an d Castle gewohnt und gearbeitet.« Sie nickte. »Suchen Sie nach etwas Bestimmt em? « Waru m er im Ok to ber 1 9 4 1 nicht in Schloss Milderhurst zum Abendessen erschienen war, waru m Ju niper Blythe in den Wahnsinn getrieben wurd e, waru m meine Mu tter sich weigerte, mir irgendetwas über ihre Vergangen heit zu erzäh len. »Eigentlich nicht«, sagte ich . »Alles, was ich fin den kann.« Miss Yeats war eine gu te Fee. Wäh rend ich mich mit d em Mikrofilmlesegerät herump lagte, die Vo rrichtung zu r Bild an steuerung verfluchte, die ein fach keine kleinen Schritte machen wollte, sondern immer g leich meh rere Wochen üb ersp ran g, hu sch te sie in der Bib liothek heru m, k ramte, such te, sammelte Unterlagen. Als wir uns nach ein er halben Stund e wieder zusammen setzten, hatte ich kaum mehr als heftige Kopfschmerzen zu bieten, während sie ein kleines, ab er ordentliches Dossier zusa mmengestellt hatte. Es war nicht viel, erst recht nichts, was mit den Zeitung sartikeln über die Familie Blythe und das Schloss v ergleichb ar gewesen wäre, aber immerhin war es ein Anfang. Wir hatten eine kleine Geburt sanzeige au s der Bermondsey Gazette v on 1 9 1 6 : »CAVILL. - A m 2 2 . Feb ruar b rachte Mrs. Tho mas Cavill in St. Henshaw einen Sohn , Thomas, zu r Welt«, dann einen überschwänglichen Bericht im Southwark Star von 1 9 3 7 unter der Üb ersch rift »Leh rer gewinnt Lyrik -Preis« und einen Artikel au s dem Ja h r 1 9 3 9 mit einer ähnlich unzweideutig en Überschrift: »Lehrer meldet sich zum Kriegsdien st«. Der zweite Artikel enthielt ein kleines Foto mit der Untersch rift »Mr. Thomas Cavill«, ab er die Ko pie war so schlech t, d ass ich nicht viel meh r erkennen konnte, als dass es sich um einen ju ngen Mann mit Kopf und Schultern handelte, der eine britische Armeeunifo rm trug. Da s war ziemlich wenig an verö ffentlichten Info rmationen über das Leb en eines Mannes, und
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ich war tief enttäu scht, als ich feststellte, dass es rein gar nichts au s der Zeit nach 1 9 3 9 gab. »Das war's dann «, sagte ich , bemü ht, eher einsichtig als un dankbar zu klingen. »Nicht ganz.« Miss Yeats reic hte mir ein p aar weitere Ko pien. Es handelte sich um drei Kleinanzeigen , alle vo m März 1 9 8 1 , ein e au s d er Times, eine aus dem Guardian und ein e aus dem Daily Telegraph. Alle wiesen d en selb en Wo rtlaut au f: »Tho mas Cavill, eh emals au s Elephant and Castle, wird gebeten, sich dringend b ei Theo unter d er Tel.-Nr. ( 0 1 ) 3 9 4 7 5 2 1 zu melden .« »H m«, sag te ich. »Hm«, machte Miss Yeats. »Ziemlich seltsam, finden Sie nicht auch? Was könn te das bedeuten? « Ich schü ttelte den Kop f. Ich hatte k eine Ahnu ng. »Ein s steht fest: Dieser Theo , wer auch immer er sein mag , war ziemlich erpicht darauf, Th o mas zu kontaktieren .« »Dürfte ich fragen, me ine Liebe ... ich meine, ich will nicht neugierig sein, aber hilft Ihnen das irgendwie weiter bei Ihrem Projekt? « Ich warf noch einen Blick au f die Kleinanzeigen und schob meine Haare hinter die Oh ren. »Vielleicht.« »Denn falls Sie sich für seine Militärdienstakten in teressieren - das Krieg smu seu m h at eine wunderbare Samml ung , wissen Sie. Dann gibt es auch noch das Staatsarchiv, wo Gebu rten, Sterbefälle u nd Hochzeiten d oku mentiert werden . Und wenn ich noch ein bissch en Zeit h ätte, kön nte ich bestimmt ... Ach du je!«, rief sie und errötete, als sie au f ihre Uh r schaute. »Wie schade! Wir mach en gleich zu. Ausgerechnet, wo wir gerade eine Spu r gefunden hab en. Kann ich no ch irgendetwas fü r Sie tun, ehe man uns einsperrt? « »Ah, ja«, sagte ich. »Ein e Kleinigkeit. Könn te ich vielleicht mal Ihr Telefon benutzen? « Die Anzeigen waren vo r elf Jah ren au fgeg eben wo rden , ich weiß daher nicht genau, was ich eigentlich erwartete, ich weiß nu r, was ich mir erhoffte: dass ein Mann namens Theo den Hö rer abnehmen und mir bereitwillig alles üb er die letz-
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ten fünfzig Jahre in Thomas Cavills Leben erzählen würde. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass nich ts derg leichen geschah. Bei meinem ersten Versuch kam das penetrante Signal, d as auf eine nicht existierende Nu mmer verweist, was mich dermaßen frustrierte, da ss ich mit dem Fuß aufstampfte wie ein störrisch es Kind . Miss Yeats, die meinen Wutan fall netterweise ignorierte, riet mir, es mit der seit Ku rzem neu en Vo rwahl 0 7 1 zu prob ieren , und sch aute mir über die Schulter, während ich die Nu mmer wählte. Ih re Argusaug en machten mi ch nervös, ich verwählte mich und mu sste es ein d rittes Mal versu chen , und endlich war d ie Verb indun g hergestellt. Ich tätschelte den Hörer, als das Freizeichen ertönte, und fasste Miss Yeats aufgeregt an der Schulter, als sich am anderen Ende eine freundlich e Frau meldete, die mir, als ich nach Theo fragte, erklärte, sie habe das Haus vo r einem Jah r von einem älteren Herrn dieses Namens gekauft. »Theodore Cavill«, sagte sie. »Den such en Sie do ch, nicht wah r? « Ich konnte kaum an mich halten . Theodo re Cavill. Also ein Verwandter. »Ja, richtig .« Miss Yeats klatsch te in die Hände wie ein Seehund. »Er ist in ein Seniorenheim in Putney gezogen«, sagte die Frau am Telefon . »Direk t an der Th emse. Er war gan z begeistert d arüb er. Er sagte, er hätte früh er in derselben Straße als Lehrer gearbeitet.« Ich fuh r hin , u m ihn zu besuchen. Noch am selben Abend . In Putney gab es fünf Seniorenheime, aber nu r eins lag an der Themse, und ich fand es ohne Sch wierigkeiten . Der Nieselregen h atte au fg ehört, und der Ab end war warm u nd klar. Ich stand vo r dem schlichten Back steingebäude wie jeman d in einem Trau m und verg lich d ie Ad resse mit den Au fzeich nungen auf meinem Notizblock. Kaum hatte ich die Eingangshalle betreten, wurde ich von der diensthab enden Pflegerin begrüßt, einer jungen Frau mit Pixiefrisu r und einem schiefen Lächeln. Als ich ihr erklärte, wen ich b esuchen wollte, strahlte sie. »Wie schön! Theo ist ein er un serer Nettesten .«
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Da kamen mir die ersten Zweifel, und ich erwiderte ih r Lächeln ziemlich unsicher. Hierherzukommen war mir wie ein großartiger Einfall erschienen, aber als wir uns jetzt dem von Neonlich t erhellten Korrido r näherten, war ich mir da nicht meh r so sicher. Irgendwie war es nicht beso nders fein füh lig, sich ein em ahnungslosen alten Herrn au fzud rängen, einem der nettesten im Seniorenheim. Eine Wild fremd e, die ih n zu seiner Familiengeschichte ausfragen wollte. Ich war schon drauf und d ran, den Rückzug an zutreten, aber die Pflegerin war wirklich erfreu t über meinen Besuch und geleitete mich schwungvo ll d en breiten, weißen Korridor entlang. »Es wird einsam um sie, wen n es au f das Ende zugeht«, sag te sie. »Vo r allem, wenn sie n ich t v erheiratet waren und keine Kinder oder Enkel h aben .« Ich nickte zu stimmend und bemü hte mich, mit ih r Schritt zu halten. Eine Tü r nach der anderen , dazwischen, an der weißen Wand, jeweils eine Hängevase mit Blumen. Violette Blumen, nich t mehr ganz frisch , reckten die Köp fe über den Vasenrand, und ich überlegte, wer wohl dafür zu ständig war, sie au szu wechseln , frag te ab er nicht dan ach , wäh rend wir weiter den Ko rrido r hinuntergingen, bis wir vo r ein er Tü r ganz am E nde stehen blieb en, du rch deren Glasfen ster ich einen g ep fleg ten Garten sehen konn te. Die Pflegerin hielt die Tü r auf, gab mir mit ein er Kop fb ewegung den Vo rtritt und folg te mir auf dem Fuße. »Theo«, sagte sie lau ter als no rmal, aber ich k onnte nich t sehen, mit wem sie sprach. »Sie haben Besuch ... äh«, sie drehte sich zu mir u m. »Verzeihen Sie, ich habe Ihren Namen verg essen.« »Edie. Edie Bu rch ill.« »Edie Burchill ist h ier, u m Sie zu besuch en, Theo .« Da sah ich sie, eine schmiedeeisern e Bank hinter einer niedrig en Hecke, und einen alten Mann, der davorstand. An der Art, wie er dastand , leicht geb eugt, eine Hand au f der Rückenlehne der Bank, war zu erken nen , dass er gerade no ch gesessen hatte un d aus alter Gewoh nheit au fg estand en war, ein Überrest guter Manieren, die er sein Leben lang befolgt
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hatte. Er blinzelte d u rch dick e Brilleng läser. »Guten Tag «, sag te er. »Wollen Sie sich nicht zu mir setzen? « »Ich lasse Sie beide dan n allein «, sag te die Pflegerin . »Ich bin da drinnen. Rufen Sie ein fach, falls Sie etwas brauchen.« Sie nickte und entfernte sich mit forsch en Schritten über den mit Back steinen gepflasterten Weg. Die Tür fiel hinter ih r zu , u nd Theo und ich waren allein im Garten. Er war winzig, hö chstens ein s fün fzig, d afü r erstaunlich füllig , eine Aub ergin e mit einem Gürtel an der dicksten Stelle. Er machte eine Geste mit einer stark behaarten Hand. »Ich habe hier gesessen und au f den Flu ss gesch aut. Er steh t nie still.« Seine Stimme gefiel mir. Etwas in ihrem warmen Timb re erinnerte mich daran, wie es war, als kleines Kind im Sch neid ersitz au f einem staubig en Teppich zu ho cken , währen d ein Erwach sener ho ch über mir in b eruh igend em Ton ein Märchen erzählte und meine Fantasie auf Reisen ging. Plötzlich wurde ich mir bewu sst, dass ich kein e Ahnu ng hatte, was ich dem alten Mann sagen sollte. Mich beschlich das Gefühl, dass es ein groß er Fehler gewesen war, hierherzu kommen, und ich wollte n u r n och weg . Ich hatte gerade den Mund geöffnet, um mich zu verabschieden, als er sagte: »Ich rede dummes Zeug. Ich fü rchte, ich kann mich nicht an Sie erinnern . Verzeih en Sie, mein Gedächtn is ...« »Es ist in Ordnu ng. Wir sind un s noch n ie b egeg net.« »Ach? « Seine Lippen b eweg ten sich lautlo s, wäh rend er üb erleg te. »Verstehe ... na ja, mach t n ich ts, jetzt sind Sie ja hier, und ich bekomme n icht o ft Besuch ... Es tut mi r sch recklich leid , ich hab e Ih ren Namen schon wieder v ergessen . Ich weiß , d ass Jean mir gesagt hat, wie Sie h eißen ...« Mach, dass du wegkommst!, ri ef eine innere Stimme . »Edie«, sag te ich. »Ich bin gekommen , u m Sie nach Ih rer Suchanzeige zu fragen.« »Meine ... ? « Er legte eine Hand an s Oh r, als hätte er mich falsch verstan den . »Meine Suchanzeige, sagten Sie? Tut mi r leid, ab er ich fü rch te, Sie v erwech seln mich mit jeman dem.« Ich zog die Kopie der Anzeige aus der Times aus meiner Umhängetasche. »Ich bin hier wegen Thomas Cavill«, sagte ich und hielt ihm die Kopie hin .
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Ab er er schaute d as Blatt nicht an. Ich hatte ihn verblüfft , in seinem Gesicht zeigte sich erst Verwirrung , dann freud ige Erregung . »Ich habe Sie erwartet«, sagte er eifrig. »Kommen Sie, setzen Sie sich. Wer sind Sie? Sind Sie von der Po lizei? Von der Militärpo lizei? « Polizei? Diesmal war ich verwirrt. Ich schüttelte den Kop f. Er war ganz aufgeregt, rang die klein en Händ e und sprach sehr schnell: »Ich wusste, wenn ich nu r lange g enug durch halte, wü rde sich irgend wann irgendjemand für meinen Bruder interessieren ... Kommen Sie«, er wedelte ungeduldig mit einer Hand. »Bitte setzen Sie sich. Sagen Sie mir — was ist es? Was haben Sie herau sgefund en? « Ich war völlig verdattert. Ich h atte keine Ahnu ng, was er meinte. Ich trat näher zu ih m u nd sagte sanft: »Mr. Cavill, ich glaube, Sie h aben mich missverstanden. Ich habe üb erhaupt nichts herausgefund en, und ich bin auch nicht von der Polizei. Oder von der Militärpolizei. Ich bin g eko mmen , weil ich Ih ren Brud er su che, weil ich Thomas suche, und ich hatte geho fft, Sie könnten mir dabei helfen.« Er legte d en Kop f schief. »Sie dach ten , ich kön nte Ihnen ... ? Ich kön nte Ihnen h elfen? « Dann, als er begriff, wich alle Farb e au s seinen Wangen. Er hielt sich an der Rückenlehne der Ban k fest und nickte mit einer Verbitterung , die mir einen Stich versetzte. »Ich verstehe.« Ein schwaches Lächeln. »Ich verstehe.« Ich hatte ihn aus der Fassung gebracht. Zwar h atte ich keine Ahnung, was die Polizei mit Tho mas Cavill zu tu n haben sollte, aber mir war klar, dass ich ihm irgendwie erklären musste, was ich von ih m wo llte. »Ih r Bruder war der Leh rer mein er Mutter, damals, vor dem Krieg. Wir haben uns neulich über ihn unterhalten , meine Mu tter und ich , und sie hat mir erzählt, wie sehr er sie fü r die Literatu r begeistert hat. Und dass sie es sehr bedauert, den Kontakt zu ihm verloren zu h aben .« Ich sch luckte, überrascht und zugleich beunruhigt darüber, wie leicht es mir fiel, so d reist zu lüg en. »Sie wü rde so g ern wissen , was aus ihm geworden ist, ob er nach de m Krieg weiter als Leh rer gearb eitet hat, ob er geh eiratet hat.« Er h atte die gan ze Zeit au f die Themse hin aus g esehen, ab er an seinem glasigen Blick erkannte ich, dass er in s Leere
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schaute. Jedenfalls sah er nichts von dem, was in sein e m Blickfeld lag, weder die Leute, die über die Brü cke sch len derten , no ch die kleinen Boo te, die am anderen Ufer schaukelten, noch die Fähre mit den Tou risten , d ie eifrig fotog rafierten . »Ich fü rchte, ich mu ss Sie en ttäu schen «, sagte er sch ließ lich . »Ich habe keine Ahnung, was aus Tom geworden ist.« Theo setzte sich und lehnte sich gegen den schmiedeeisernen Bankrücken. »Mein Bru der ist 1 9 4 1 v ersch wunden. Mitten im Krieg. Irgendwann klop fte es bei meiner Mutter an der Tü r, und da stand ein Bobby. Einer von den im Krieg eingesetzten Hilfspolizisten - ein Freund mein es Vaters, als der noch lebte, die b eiden hab en zu sammen im Ersten Weltkrieg gekämpft ... Gott«, Theo ballte die Hand zu r Faust, »der arme Kerl war ganz verlegen. Muss ihm schwergefallen sein, so eine Nach rich t zu ü berb ring en.« »Was denn für eine Nach rich t? « »To m h atte sich n icht zu m Dien st zu rück gemeldet, un d der Bobb y war geko mmen , um ihn zu ho len.« Th eo seufzte. »Unsere arme Mu tter. Was sollte sie tu n? Sie h at ih m d ie Wah rheit gesagt: dass Tom n ich t zu Hau se war und sie nicht wu sste, wo er sich aufhielt, dass er allein lebte, seit er verwundet worden war. Er k onnte sich nich t meh r an d as Familienleben gewöhnen , nach Dünkirchen.« »Er wu rd e au s Dünkirchen evakuiert? « Theo nick te. »Er hätte es beinahe nicht geschafft. Danach war er wochenlang im Lazarett. Sein Bein ist wieder einigerma ßen geheilt, aber meine Schwestern meinten, er war danach n icht meh r derselbe. Er lach te noch immer, wenn ein Scherz gemacht wurde, aber es kam mit Verzögeru ng. Als mü sste er erst in einem Drehb uch n achlesen , was er zu tun und zu sagen hatte.« In der Nähe hatte ein Kind angefangen zu weinen, und Theo sch aute in Richtung Uferweg. Er lächelte schwach. »D e m Kleinen ist sein Eis run tergefallen«, sagte er. »Es vergeht kein Sams tag nach mittag in Putney, ohne dass irgend so ein kleiner Kerl sein Eis fallen lässt.«
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Ich wartete darauf, dass er mit seiner Geschichte fortfuhr, und als er das nicht tat, h akte ich v o rsich tig nach: »Und was ist dann passiert? Was hat Ih re Mutter unternommen? « Er blickte immer n o ch zum Weg hinüber, aber er klopfte mit den Fing ern von un ten gegen die Bank und sagte leise: »To m h atte sich mitten im Krieg unerlaubt von der Truppe entfernt. Der Bobby konn te n ich ts machen. Ab er er war ein an ständiger Kerl u nd h at au s Respekt für meinen Vater Nachsicht walten lassen . Er hat mein er Mutter v ierundzwan zig Stu nden gegeben , u m To m zu find en und ihn dazu zu b ringen , d ass er sich zum Dienst meldete, ehe man die Sache o ffiziell v erfolg en wü rde.« »Aber das hat sie nicht getan? Ich meine, sie hat ihn nicht gefunden? « Er schüttelte den Kopf. »Es war, wie eine Nadel im Heuhaufen zu suchen. Meine Mutter und meine Schwestern sind fast verrückt geworden. Sie haben ihn üb erall gesucht ...« Er zu ckte k raftlos die Schultern. »Ich konnte ihnen nicht helfen , ich war damals nich t zu Hause — das werd e ich mir nie verzeihen. Ich war o ben im Norden, im Manöver mit meine m Regiment. Ich habe erst davon erfahren, als der Brief von meiner Mutter kam. Aber da war es schon zu sp ät. Da wu rd e Tom schon als Deserteu r gesuch t.« »Das tut mir leid.« »Er steht bis heute auf der Liste.« Er schau te mich an , und es tat mir weh zu sehen , dass er Tränen in den Augen hatte. Er rü ckte seine Brille zu recht. »Ich frage jed es Jah r nach, weil man mir gesagt hat, dass manche erst nach Jah rzehnten wieder au ftau chen . Erscheinen plötzlich in der Wachstube, so klein mit Hu t, tischen d enen eine wilde Geschich te au f und ho ffen au f die Gnad e des Dien sthab enden .« Er hob eine Hand un d ließ sie h ilflo s wieder au f sein Knie fallen. »Ich frag e nu r nach, weil ich in meiner Verzweiflu ng nicht weiß, was ich son st tun soll. Tief in mein em Innersten weiß ich , dass To m n ie in irgendeiner Wachstub e au ftauchen wird .« Er bemerkte meine Betroffen heit und fü gte hinzu: »Uneh renh aft aus der Armee entlassen .« Hinter uns ertönten Stimmen , und als ich mich u md reh te, sah ich , wie ein junger Mann einer alten Frau d urch die Tü r
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in den Garten half. Die Frau lachte über etwas, das er gesagt hatte, dann gingen sie lan gsam auf ein Rosenbeet zu. Theo hatte die beiden eb en falls geseh en und senk te di e Stimme. »Tom war ein ehrenhafter Mann .« Er b rach te die Wo rte nu r mit Mühe herau s, die Lippen zu sammen gep resst vo r An strengung , seine Gefü hle zu b eherrsch en, und ich sp ü rte, wie wichtig es ihm war, dass ich nur das Beste von seinem Bruder d achte. »Er wäre niemals desertiert. Nie. Das habe ich denen von der Militärpo lizei gesag t, aber die wollten nicht auf mich hören. Meiner Mu tter hat es das Herz g eb roch en. Die Schande, d ie So rge und die Ungewissheit, was wirklich mit ihm passiert war. Ob er irgendwo da drau ßen war, einsam und verloren. Ob ih m etwas zu gestoß en war, sodass er vergessen hatte, wer er war und wo er h ingehö rte ...« Er b rach ab und rieb sich die Stirn, als machte ih n d as alles verleg en. Ich beg riff, dass das schreckliche Theorien waren, die ihn seit Jah rzehnten peinigten. »Wie auch immer«, sag te er. »Sie ist nie darüber hinweggekommen. Er war ihr Liebling, auch wenn sie das nie zu gegeben hätte. Aber das brauchte sie auch nicht, d enn er war jederman ns Liebling .« Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander, un d ich beobachtete zwei Krähen, die üb er un s k reisten. Der jung e Mann und die alte Frau, die die Rosen bewund ert hatten , näherten sich. Ich wartete, bis sie sich wieder entfernten und zu m Ufer hin unterg ingen . Dann sag te ich: »Waru m wo llten die von der Militärpolizei nicht auf Sie hö ren? Waru m w aren die sich so sicher, dass To m d esertiert war? « »Es gab einen Brief.« Ein Nerv an seinem K in n zu ckte. »E r kam An fang 1 9 4 2 , ein paar Monate nach To ms Verschwin den. Nur ein paar Sätze au f d er Maschin e gesch rieb en. Er habe eine Frau kenn engelernt und sei mit ihr durchgebrannt, u m sie zu heiraten. Er halte sich vorerst versteckt, würde ab er sp äter Kontakt zu un s au fneh men . Nach dem d ie den Brief gesehen hatten, haben sie sich nicht mehr für Tom und auch nicht mehr für un s interessiert. Es war schließ lich Krieg. Sie hatten k eine Zeit, n ach ein em Kerl zu fo rsch en, der die Nation verraten hatte.« Sein Schmerz war selbst nach fünfzig Jah ren no ch deutlich spürbar. Zu erleben, dass ein geliebter Mensch versch windet
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und niemand einem hilft, nach ihm zu such en . Und denno ch. In Milderhurst hatte man mir erzählt, dass Thomas Cavill nicht zu dem Abendessen au f dem Sch lo ss erschien en war , weil er mit einer and eren Frau durch geb rannt war. Waren es lediglich Familienstolz und Loyalität, die Theo zu der Überzeugung b rachten, die Geschichte sei erlog en? »Sie g laub en also nicht, was in dem Brief stand? « »Ich h abe es nicht eine Sekund e lang geglaub t«, erwiderte er vehement. »Es stimmt, d ass er eine Frau ken neng elern t und sich verliebt hatte. Das h at er mir selbst erzählt, in langen Briefen, in denen er v on ih r berich tete — wie schön sie war, wie sie ihn mit der Welt versöhn te, dass er sie h eiraten wollte. Aber er h atte k ein eswegs vo r du rchzub renn en — er konnte es gar nicht erwarten , sie un s vo rzu stellen .« »Aber Sie haben sie nie kennengelernt? « Er sch üttelte d en Kop f. »Keiner von un s hat sie k ennenge lernt. Es hatte etwas mit ih rer Familie zu tun; dass er es geheim h alten wo llte, bis sie es den en mitg eteilt hatten. Ich hatte das Gefü hl, dass sie aus ziemlich gutem Haus stammte.« Mein Herz hatte ang efan gen schneller zu schlagen , als mir au fging , d ass Theo s Geschich te an fing, mit mein er überein zustimmen . »Erinn ern Sie sich no ch an den Namen d er Frau? « »Den h at er mir nie g enannt.« Die Enttäu sch ung raubte mir d en Atem. »Er hat darau f beh arrt, d ass er ih re Familie zuerst kennen lernen mü sse. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mich das über die Jahre gequält hat«, sag te er. »Wenn ich nu r gewu sst hätte, wer sie war, dann hätte ich gewusst, wo ich mit der Suche hätte anfangen k önnen . Was, wenn sie au ch v erschwunden war, wenn sie beide einen Unfall gehabt hatten? Was, wenn ihre Familie In fo rmationen besaß, die mir hätten helfen können? « Es lag mir au f d er Zung e, ih m von Junip er zu erzählen , do ch ich entschied mich dagegen . Es hatte keinen Zweck, ihm Ho ffnungen zu mach en, d a die Sch western Blyth e auch nichts über den Verb leib von Tho mas Cavill wu ssten . Sie waren eb enso wie die Polizei davon überzeugt, d ass er mit
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einer anderen Frau durch geb rannt war. »Der Brief«, sagte ich, einem spontanen Imp u ls fo lg end . »Wer hat d en Ih rer Meinun g nach gesch ickt, wenn es nicht To m war? Un d war u m? Waru m so llte jemand so etwas tun? « »Das weiß ich nicht, aber eins kann ich Ihnen sagen: To m hat n icht geh eiratet. Ich habe mi ch beim Stan desamt erkun digt. Ich habe auch im Sterberegister n achgesehen . Das mach e ich immer noch. Einmal im Jahr, fü r alle Fälle. Nich ts. Keine Spu r von ih m nach 1 9 4 1 . Es ist, als hätte er sich in Luft aufgelöst.« »Aber nieman d verschwindet spurlo s.« »Nein«, sagte er mit einem müden Lächeln. »Nein, da haben Sie recht. Und ich habe mein Leben lang nicht au fgehört, nach ihm zu suchen. Vo r lang er Zeit habe ich sogar mal einen Detektiv angeheuert. Reine Geldverschwendung. Hab ein paar Tausend Pfund au sgegeben, nu r damit der Idiot mir erklärte, dass es im London der Nachkriegszeit sehr einfach war, spurlos zu versch winden , wenn man das wollte.« Er seufzte. »Es scheint niemanden zu interessieren, dass To m nicht verschwinden wollte.« »Und die Anzeigen? « Ich zeigte auf die Kopien , die zwisch en u ns au f der Bank lag en. »Die hab e ich au fgegeben, als unser jün gster Brud er, Joey, krank wurde. Ich habe mir gesagt, es wäre den Versuch wert, fü r den Fall, d ass ich die ganze Zeit falschg elegen hatte und Tom i mmer noch irgendwo lebte und nicht wu sste, wie er es an stellen sollte, zu un s zu rü ckzu ko mmen . Joey war ein sch lichtes Gemü t, der Arme, ab er er hat Tom angehimmelt. Es hätte ihm alles bedeu tet, ihn noch ein mal zu seh en.« »Aber es kam keine Reaktion.« »Nein, nu r ein p aar Telefon streiche.« Die Sonn e war untergegangen und hatte uns ein herrliches Ab endrot besche rt. Ein Luftzug streifte meine Arme, und ich stellte fest, dass wir wieder allein im Garten waren, sag te mir, d ass Theo ein alter Mann war, d er lieb er zu rück in s Haus gehen und sich an seinem Abendessen erfreuen sollte, an statt über seine trau rige Vergan genh eit zu g rüb eln. »Es wird küh l«, sagte ich . »Wollen wir hineingehen? «
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Er nickte und versuchte zu läch eln , aber als wir un s erho ben, spü rte ich, dass ihn die Kräfte verlassen hatten . »Ich bin nich t naiv, Edie«, sagte er, als wir vor der Tür standen. Als ich sie au fzog , bestand er darauf, sie fü r mich au fzuh alten und mir den Vortritt zu lassen. »Ich weiß, dass ich To m nicht wiedersehen werde. Die Anzeigen, einmal i m Jahr i m Sterberegister nachsehen, die Familienfotos und die anderen And enken, die ich au fbewah re , um sie ih m irg end wann zu zeigen - all das tue ich nu r, weil es mir zu r Gewoh nheit g ewo rd en ist, weil es mich irg endwie üb er seine Ab wesenh eit hin wegtröstet.« Ich wu sste genau , was er mein te. Aus dem S peisesaal dran gen Ge räu sche zu un s - das Scharren von Stüh len , das Klappern von Besteck, leb hafte Stimmen -, aber er blieb mitten im Korridor steh en. Hinter ih m welkte eine violette Blu me dah in, die Neo n röh re an d er Deck e su mmt e leise, und ich sah, was mir d rau ßen entgan gen war. Auf seinen Wangen schimmerten ge trocknete Trän en. »Danke«, sag te er leise. »Ich weiß nicht, warum Sie den heutigen Tag für Ihren Besuch gewählt haben, Edie, aber ich bin froh , dass Sie geko mmen sin d. Ich war schon den ganzen Tag traurig - es gibt solche Tage —, und es tut mir gut, üb er ihn zu sprech en. Ich bin jetzt der Einzige, der no ch übrig ist: Meine Brüder und Schwestern leben hier drin weiter.« Er legte sich eine Hand au fs Herz. »Sie fehlen mir alle, aber es ist un mö glich zu beschreiben, wie sehr ich Tom vermisse. Die Schuldgefühle ...« Seine Unterlippe zitterte, doch es gelang ihm, sich zu beherrschen. »Das Wissen , dass ich ihn i m Stich gelassen hab e. Dass etwa s Sch reckliches geschehen ist und n iemand davon weiß . Vo r der Welt, vo r der Geschich te steht er als Verräter da, weil ich nicht das Gegenteil beweisen konnte.« In diesem Momen t hätte ich alles daru m g egeben , ih m die Last, die ihn bedrückte, abzu nehmen . »Es tut mir leid, dass ich Ihnen keine Neuigkeiten üb er To m b ringen kon nte.« Er schüttelte den Kopf und lächelte sch wach. »Ist schon in Ordnung. Hoffnung ist eine Sache, Erwartung en sind etwas anderes. Ich bin kein Narr. Tief in meinem Herzen weiß ich,
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dass ich sterben werde, ohn e mein en Frieden mit To m gefund en zu hab en.« »Ich wün schte, ich könnte etwas für Sie tun.« »Ko mmen Sie mich irgendwann noch einmal besuchen«, sagte er. »Das wäre großartig. Dann erzähle ich Ihnen noch ein bisschen üb er Tom. Au s glück licheren Zeiten. Das ver sp reche ich Ihnen .«
1 Milderhurst, Schlossgarten, 1 4 . September 1 9 3 9 Es war Krieg, und die Pflich t rief, ab er die So nne stan d ho ch und heiß am Himmel, das Wasser glitzerte silbern, und die Bäume reckten ih re Zweige in die Höhe. Tja, dachte Tom, es konnte wirklich nich ts sch aden , eine k lein e Pau se einzu legen und ku rz ins Wasser zu sp ringen. Der Teich war k reisru nd und hüb sch angelegt, von großen Steinen eingefasst, an einem g ewaltigen Ast hing eine h ölzerne Schauk el, und er musste unwillkürlich lachen , als er seine Tasche fallen ließ . Was fü r eine Entdeckung! Er löste seine Armbanduh r und legte sie so rgfältig au f d ie lederne Tasche, die er sich vo r einem Jah r gekauft hatte, sein ganzer Stolz. Dann zo g er sich die Schuhe aus und knöpfte sich das Hemd auf. Wann war er das letzte Mal geschwo mmen? In diesem S o mmer noch nicht, das stan d fest. Ein paar Freunde hatten sich im heißesten August, den sie je erlebt hatten , ein Auto geliehen und waren nach Devon gefah ren, u m eine Woche a m Meer zu verb rin gen , und er hätte mit von der Partie sein sollen. Doch dan n war Jo ey gestü rzt und h atte unter Albträumen gelitten , und d er arme Kerl konnte nu r einsch lafen , wenn To m an seinem Bett saß und ih m Geschichten erzählte, Gesch ichten über d ie Lo ndoner U-Bahn, die er sich selbst ausdachte. Hinterher hatte er in seinem sch malen Bett g elegen und in der stickig en Hitze vom Meer geträumt, aber es hatte ih m nichts ausgemach t, od er fast nichts. Er hätte woh l alles getan fü r den armen Jung en, der gefangen war in einem 304
Männerkörper, der immer unförmiger wurde - Joey mit seinem Kin derlachen. Bei dem g rausamen Klang dieses Lachens wurde Tom ganz flau im Mag en, und er mu sste an das Kin d denken, das Joey einmal gewesen war, und an den Mann , der er ein st hätte werden sollen . Er zog sich das Hemd au s, ö ffnete seine Gürtelschnalle und stieg aus seiner Hose. Er mu sste die traurigen Gedanken verscheuchen. Ein großer, sch warzer Vogel kräch zte üb er ih m, und Tom schaute in d en klaren, blauen Himmel. Er blinzelte gegen das grelle So nnenlicht, während er dem Vogel, der in eleganten Schwüngen Rich tung Wald flog , mit dem Blick folgte. Die Lu ft du ftete h errlich, ein Du ft, der ih m v ollko mmen unbekannt war. Blu men , Vögel, das Plätschern eines Bach s etwas weiter en tfernt, Landluft wie aus den Geschichten von Tho mas Hardy, und er genoss es, dass das alles echt war und er mittendrin. Es war das wirk liche Leben, und Tom war Teil dav on. Er legte sich eine Hand auf die Brust, die Finger gespreizt; die Sonne wärmte seine nackte Haut, alles lag vo r ih m, es fühlte sich gut an, jung und kräftig zu sein. Er war nicht relig iö s, aber dieser Augenblick hatte etwas Übersinnnliches. To m warf ein en Blick über die Schu lter, träge, ohne Erwartu ng. Es lag nicht in seiner Natu r, Regeln zu b rechen , er war Lehrer, er musste seinen Schü lern ein Vo rb ild sein, und d iese Aufgabe nahm er ernst. Aber der Tag, das Wetter, der gerade ausgebrochene Krieg, der exo tische Du ft, d er in de r Luft lag, all das machte ihn verwegen. Schließlich war er ju ng, u nd es b rau chte nicht viel, um einem jungen Mann das herrlich e Gefü hl zu geben, dass die g anze Welt ih m g ehö rte und er sie genießen konn te, wo immer sich die Gelegenh eit bot. Gesetze zum Schutz des Privateig entu ms waren gut und schö n, aber d och eher theoretischer Natur, etwas für Bücher und Akten u nd tattrige, weißbärtige An wälte in Lo ndon er Kanzleien. Die Lichtung war von Bäu men umstand en, in d er Nähe befand sich ein Umkleidehäuschen, und dahinter war eine steinerne Treppe zu seh en , die au f den Hügel zu füh ren sch ien. Über allem So nne und Vogelgezwitscher. Tom stieß einen tiefen , zu frieden en Seu fzer au s. Es gab ein hölzern es
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Sp run gb rett, das von der Sonne so au fgeheizt war, dass er sich fast die Füße verb rannte, als er darauftrat. Er blieb einen Moment stehen, gen oss den Sch merz an d en Füßen, das Brennen der So nne auf seinen Sch ultern, das Spann en d er Haut, bis er es nicht meh r au shalten konnte, dan n machte er lächelnd zwei Sch ritte, federte am Ende des Bretts, ließ die Arme schwin gen, sp rang ab und stieß wie ein Pfeil ins Wasser. Die Kälte umklammerte seine Brust wie ein Schraubstock, und er tauchte japsend wieder au f, so gierig nach Luft schn append wie ein Neug ebo ren es beim ersten Atemzu g. Er schwamm ein paar Minuten lang , tauchte tief, immer un d immer wieder, d ann ließ er sich auf dem Rücken treiben, di e Ar me und Beine von sich gestreck t. Das, dachte er, ist der vo llko mme ne Augenblick. Das, was Wo rdswo rth und Coleridge und Blake beschrieben hatten: d as Erhabene. Wenn er jetzt sterb en wü rde, d achte Tom, würde er zufrieden aus de m Leben scheid en. Nicht dass er sterben wollte, n ein , er wollte no ch min destens sieb zig Jahre leben. Er rechnete im K opf: bis zum Jahr 2 0 0 9 , das wü rde ih m g efallen . Dann wäre er ein alter Mann, der auf dem Mond wohn te. Er lachte, schwamm ein paar Züge auf dem Rück en, ließ sich dann wieder bewegungslos treiben, sch lo ss die Augen , um d ie Sonne auf den Lidern zu spü ren . Die Welt war orangefarben und von Stern en du rchsetzt, und darin sah er seine Zukunft leuchten. Schon bald würde er Uniform trag en, der Krieg wartete au f ihn, und Tom Cavill b rannte d arau f, sich ihm zu stellen . Er war n icht blauäug ig, sein Vater hatte au f den fran zö sisch en Schlachtfeldern ein Bein und einen Teil seines Verstan de s verloren , und er machte sich k eine Illusionen üb er Held en tum und Ruhm, er wusste, dass der Krieg eine ernste Angelegenh eit war, und gefährlich. Und er gehö rte au ch nicht zu den jungen Männ ern, die es nicht erwarten konnten, ihrer derzeitigen Situation zu entko mmen , im G eg enteil: So wie To m d as sah , bo t der Krieg ih m d ie perfekte Gelegenheit, sich zu verbessern und vo rwärtszuk o mmen , als Mann und au ch als Leh rer. Seit er begriffen hatte, dass auch er einmal ein Erwach sener sein wü rd e, hatte er Lehrer werden wollen und dav on ge-
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träumt, in seinem alten Londoner Viertel zu arbeiten. To m war davon überzeugt, dass er solch en Kind ern , wie er ein s gewesen war, die Augen ö ffn en konn te, ih r Interesse weck en für eine Welt jenseits der rußigen Back steine und vo llen Wäscheleinen , die ih ren Alltag ausmachten. Dieser Gedanke hatte ihn stets beflügelt, im Studiu m eben so wie in seiner Zeit als Referendar, bis er schließlich, mithilfe v on viel gu tem Zu reden und ein bissch en Glück, genau da gelandet war, wo er sein wollte. Doch sobald klar war, dass es Krieg geben würd e, hatte für ih n festgestanden , dass er si ch zum Kriegsdienst melden würde. Lehrer wurden zu Hau se geb rauch t, er h ätte sich v o m Dienst befreien lassen kön nen , aber was für ein Beispiel hätte er damit abgegeben? Er h atte allerding s auch eigennützige Gründe. John Keats hatte ein mal gesagt, nich ts sei real, bis man es selb st erleb t habe, und To m wu sste, dass d as d er Wahrheit entsprach. Mehr no ch, er wusste genau, wo ran es ihm mangelte. Mitgefü hl war gu t und schön , ab er wen n To m von Geschichte redete, vo n Op ferbereitschaft und Nationalität, wenn er seinen Schülern den Schlachtruf Heinrichs V. vorlas, führte er Worte im Mund, die er im Grunde nicht verstand. Der Krieg, davon war er überzeug t, würde ih m d ieses Verständnis v ermitteln, n ach d e m er sich sehnte, u nd deswe gen würde er, wenn er sich vergewissert h atte, dass d ie ev akuierten Kinder, für die er v eran two rtlich war, gut untergeb racht waren , au f direktem Weg nach London zurückfahren. Er hatte sich beim Ersten Bataillon des East-Surrey Regimen ts gemeldet, und mit ein bisschen Glück würde er scho n im Novemb er in Frankreich sein. Gedankenverloren bewegte er die Finger im Wasser und seufzte so tief, dass er ein bisschen tiefer sank. Vielleicht war es das Bewusstsein , dass er schon in einer Wo che eine Uniform tragen würde, was d iesen Tag so besond ers mach te, ih n realer ersch einen ließ als die Tage in der Verg angenheit. Zweifello s war d a eine übersinn liche Mach t am Werk , denn es lag nicht nur an der So mmerh itze oder der warmen Brise od er an dem Du ft, den er n icht eino rdn en kon nte; und ob wohl er darauf brannte, in den Krieg zu ziehen und seine Pflicht zu erfüllen, ob wohl ihm man ch mal vo r Ungeduld
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nachts die Bein e wehtaten , so wün schte er sich in diese m Aug enblick n ichts sehnlicher, als d ie Zeit an zuhalten und sich fü r immer in diesem Teich treiben zu lassen ... »Wie ist das Wasser?« Die Stimme ließ ihn zu samme nzucken. Die vollkomme ne Stille zerb rach wie ein e go ldene Eierschale. Später, immer wen n er an ih re erste Begegnung zurückdachte, sollte er sich am deutlich sten an ih re Aug en erinnern. Und an die Art, wie sie sich bewegte — wie ihr Haar lang und wild über die Schultern hing, an die Wölbung ih rer kleinen Brüste, die Form ihrer Beine, o Gott, diese Beine. Aber vo r allem war es d as Funkeln in ihren Augen, ih ren Katzenaugen . Augen, die Ding e sahen und dach ten , die ihnen eigentlich verschlossen sein sollten. In den langen Tagen und Nächten, die n och ko mmen sollten, und gan z am En de sah er ih re Au gen, als er die seinen schloss. Sie saß au f der Schaukel, die nackten Füße au f dem Boden, und beobachtete ihn. Ein Mädch en - ein e junge Frau? Er war sich nicht sicher. Sie trug ein schlichtes weißes So mmerkleid un d sch aute ih m zu, wie er sich rücklings im Wasser treiben ließ. Er suchte n ach einer k lugen Entg egnun g, ab er etwas an ihrem Gesichtsausd ruck hemmte ihn, und alles, was er herausbrachte, war: »Warm. Perfekt. Blau .« Ih re Augen waren blau und mandelfö rmig, sie stan den ein bisschen zu weit auseinand er, und sie weiteten sich kaum merklich, als er diese drei Worte aussprach. Zweifellos fragte sie sich, au f was für einen Einfaltspinsel sie da gestoßen war, der die Frechheit besaß, in ihrem Po ol zu baden . Verlegen schwamm er ein paar Züge, wartete darauf, dass sie ihn fragte, wer er war, was er d o rt zu such en h atte, wie er dazu kam, ih ren Poo l zu b enutzen , ab er sie fragte nichts dergleichen, sondern stieß si ch nu r san ft ab , so dass die Schaukel langsam über den Rand des Teichs schwang und wieder zu rück. Daru m bemü ht, als ein Mann zu erscheinen, der mehr als drei Worte b eherrsch te, b eantwo rtete er die Frag en, die sie nicht gestellt h atte: »Ich bin Th o mas«, sag te er. »Tho ma s Cavill. Verzeihen Sie, dass ich mir die Freiheit geno mmen habe, aber es ist so h eiß . Ich ko nnte ein fach nicht widerstehen.« Er lächelte sie an, und sie lehn te den Kopf an
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das Seil. Er überlegte, ob sie ebenfalls unbefu gt in diesen Garten einged rungen war. Es lag etwas in ihrem Blick, eine Art Un stimmigkeit, als würden sie und die Umgebung nicht zu sammen passen . Er fragte sich beiläufig, wo sie wohl hinpassen wü rde, fand jedoch keine Antwort. Wo rtlos sprang sie von d er Schaukel un d ließ den Sitz au sschwingen. Ihm fiel au f, dass sie ziemlich groß war. Sie setzte sich au f den Teichrand, zog die Knie an die Brust, sodass das Kleid ein Stück ho ch rutschte, tauchte die Zehen ins Wasser und schaute über ihre Knie h in weg den Wellen nach, die v on ihr wegtrieben. Tom war empört. Er war unbefugt in den Garten eingedrungen und in den Teich gesp rungen, aber er hatte keinen Sch aden an gerich tet, nichts g etan, wo mit er es verdien t hatte, dass sie ihn mit Verachtu ng strafte. Sie benahm sich , als wäre er g ar nicht da, dabei saß sie sozusagen neben ihm, mit einem Gesichtsausdruck , als wäre sie v öllig in Gedank en vertieft. Wah rschein lich spielte sie irgendein Spiel mit ihm, etwas, was ju nge Mädchen gern taten, um die Männer zu verwirren und u m sich in teressan ter zu machen . Welchen an deren Grund hätte sie hab en sollen , ihn zu igno rieren? Es sei denn, sie war schüchtern. Vielleicht war es das; sie war ju ng, gu t mög lich , dass sein e Frech heit, seine Männlichkeit, seine Beinahe-Nack theit sie pein lich b erüh rten . Das war ih m unangenehm, so etwas hatte er nicht beabsichtigt, er hatte sich nur ein bisschen im Wasser ab kühlen wollen . Bemüh t, so lässig und freundlich wie mö glich zu k lin gen , sagte er: »Hören Sie. Es tu t mir leid , dass ich Sie so überrascht habe, ich will Ihnen nichts tu n. Mein Name ist Thomas Cavill, ich bin gekommen, um ...« »Ja«, sagte sie, »ich hab e Sie verstanden .« Sie sah ihn an , als wäre er ein Insekt. Müde, leich t ang ewidert, an so nsten ung erüh rt. »Sie b rau chen wirklich nicht alles dop pelt und d reifach zu sagen .« »Also, Moment mal. Ich wo llte Ihnen nu r versichern , dass ...« Ab er er ließ seinen Satz unb eendet. Erstens war nicht zu übersehen, dass diese seltsame Person ih m gar nicht meh r zuhörte, und zweitens wurd e er plötzlich abgelenk t. Sie war
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aufgestanden und zog sich gerad e das Kleid au s, unter dem sie einen Badeanzug trug. Einfach so. Kein Blick in seine Richtung, kein Niedersch lag en d er Lid er, k ein Kichern angesichts ih rer eigenen Kühnheit. Sie warf das Kleid hin ter sich, wo es als kleiner Stoffh aufen liegen blieb, reckte sich wie eine Katze in der Sonne, gähnte ein bissch en, ohne sich, wie es für Frauen typisch war, züchtig eine Hand vo r den Mund zu halten oder sich zu en tschu ldig en oder zu erröten . Dann sprang sie, ohn e zu zögern , vo m Teichran d in s Wasser. Als sie eintauchte, kletterte To m h astig hinaus. Ih re Küh nheit, wenn es denn Kühnhe it war, machte ihn nervös. Und die Nerv osität äng stigte ihn . Er fühlte sich sonderbar üb erwältigt. Tom hatte natürlich kein Handtuch und auch nichts anderes, wo mit er sich schnell g enug hätte abtrock nen kön nen , u m sich an zuzieh en, und so blieb er ein fach in der Sonne steh en, versu chte so zu tun , als wäre er vollko mmen en tspann t. Das war gar nicht so einfach . Er war alles and ere als en tspan nt, und jetzt wu sste er, wie es sein en Freu nden gin g, d ie von einem Fuß auf den anderen traten und heru mstotterten, sobald sie eine hübsche Frau erb lickten . Eine hüb sche Frau, die au s dem Wasser aufgetaucht war und sich jetzt träge au f d e m Rücken treiben ließ, das lan ge Haar wie Seetang u m ih r Gesicht, unb ekü mmert, ung erüh rt, sch einb ar ohn e ihn wah rzu neh men. Bemüht, seine Würde wiederzufinden, zog To m sich sein e Hose über die nasse Unterho se. Er versuchte, Auto rität zu demonstrieren, mu sste aber dabei höllisch aufpassen, dass er vor lauter Nervosität nicht g ro ßspu rig wirkte. Er war Leh rer, Herrg ott noch mal, er war ein Mann, d er bald Sold at sein wü rd e, das kon nte doch nicht so sch wierig sein . Ab er Wü rd e au szu strah len war n icht leicht, wenn man barfuß und h alb nackt in einem fre mden Garten stand. Was er v orhin ü ber Priv ateigentum und Gesetze gedacht hatte, erschien ihm jetzt tö richt, ja als Kinderei. Er schlu ckte, dann sag te er so ruh ig wie möglich: »Mein Name ist Thomas Cavill. Ich bin Leh rer. Ich bin hier, um nach einer meiner Schülerin nen zu sehen, die, soweit ich weiß, bei Ihnen einquartiert wu rd e.« Er war tropfnass, ein warmes Rinnsal lief ih m a m Bauch hinunter,
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und er wand sich inn erlich, al s er sag te: »Ich bin ih r Leh rer.« Was er natü rlich bereits erwäh nt hatte. Sie hatte sich im Wasser u mg edreh t und beo bach tete ih n jetzt von der Mitte des Teich s aus, als wü rd e sie sich im Geist No tizen mach en. Dann schwamm sie ein paar Zü ge unter Wasser wie ein silb riger Fisch, tauchte am Rand wieder au f, legte die Unterarme auf die Rand steine, versch ränk te die Hände und legte das Kinn darau f ab . »Meredith.« »Ja.« Er atmete erleichtert au f. End lich . »Ja, Meredith Baker. Ich bin hergekommen, um zu sehen, wie es ih r geht. Um mich zu vergewissern, dass alles in Ordnung ist.« Diese weit au seinanderstehenden Au gen schauten ih n an, unmöglich, die Gefühle dieses Wesens zu erraten. Dann läch elte sie, was ih rem Gesicht einen überird isch en Au sdruck verlieh, und er holte tief Luft, als sie sagte: »Da fragen Sie sie am besten selbst. Sie wird gleich hier sein . Meine Schwester nimmt gerade ih re Maße, u m ih r ein paar neue Kleider zu nähen.« »Gu t. Seh r gut.« Zielstreb igkeit, das war es, was er ausstrahlen musste, er durfte sich seine Sch am nicht an merk en lassen. Also zog er sich sein Hemd ü b er, setzte sich au f einen Liegestu hl und nahm den Ordn er mit der Kontrollliste au s seiner Ledertasche. Er tat, als wü rd e ihn das, was au f seinem Fo rmular stan d, b ren nend in teressieren , ob wohl er es mittlerweile auswendig aufsagen konnte. Aber es konnte nichts schaden, alles no ch ein mal du rchzug ehen, denn wenn er den Eltern sein er Schüler in London gegenübertrat, wollte er in der Lage sein, ih re Frag en mit g utem Gewissen zu beantworten. Die meisten sein er Schüler waren im Dorf untergeb rach t, zwei beim V ik ar, einer au f ein em Bauernh o f etwas außerhalb. Meredith, dachte er, als er die Schorn steine jenseits der Bäume betrach tete, hatte es am weitesten weg verschlagen. Laut Adresse au f seiner Liste in ein Schloss. Er ho ffte, dass er Gelegenh eit bekommen wü rde, es von inn en zu sehen , od er besser no ch, d ass man ih m erlaub en wü rd e, das Gemäuer ein wen ig zu erkunden. Bisher waren die Frau en im Do rf seh r gastfreu ndlich gewesen, hatten ihn zu Tee und Kuch en eing elad en und waren äng stlich d aru m b emü h t, dass er einen guten Eind ru ck v on ihn en b ekam.
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Er riskierte no ch einen Blick auf d as Geschöp f im Teich und k am zu dem Schluss, dass er hier kau m mit einer solchen Einladung rechnen konn te. Sie war gerad e von etwas abg elenkt, sodass er sie einen Moment lang b eobachten konnte. Dieses junge Mädch en war wirklich verblüffen d: Sie sch ien üb erhaup t kein Aug e für ihn zu haben, keinerlei Gespür für seinen Char me. Neben ih r k am er sich gewöhn lich v o r, und das war er ganz und gar nich t gewohnt. Aber aus der Distanz und nachdem er seine Fassung ein igermaß en wiederg ewon nen hatte, gelang es ih m, seine Eitelkeiten zu überwind en und sich Ged anken darüber zu machen, wer sie war. Die eil fertige Frau beim Fre iwillig en Frau endien st h atte ih m erklärt, das Schloss gehö re einem gewissen Ra ymo nd Blythe, einem Schriftsteller {»Die wahre Geschichte vom Modermann — das haben Sie doch bestimmt g elesen !«), der alt und k rank war, ab er Meredith sei b ei seinen Töchtern in guten Hän den. Es seien unverheiratete Zwillingsschwestern und genau die Richtigen, um sich um ein armes, heimatlo ses Kind zu kü mmern. Die Frau hatte keinen weiteren Bewohner des Schlo sses erwähnt, und so war er davon ausgegangen, falls er sich üb erhaup t Gedank en darüber ge macht hatte, dass Mr. Blythe und die beiden alten Jung fern die Ein zigen waren, die i m Sch lo ss lebten. Au f keinen Fall hatte er mit diesem Mädchen gerechnet, dieser jung en, undu rchschau baren Person , die keinesfalls eine alte Jung fer war. Er hä tte nicht sagen kön nen, waru m, aber au f einmal schien es ih m ungeheuer wich tig, meh r über sie zu erfah ren. Sie planschte im Wasser, und er wandte sich ab, schü ttelte den Kop f üb er seine tö richten Ged anken. To m k annte sich selbst gu t genug, u m zu wissen , dass sein Interesse an ihr umso größer wurde, je weniger sie sich fü r ihn interessierte. Schon als Junge hatte er dazu geneigt, stets gen au d as haben zu wo llen , was er unter keinen Umständen haben konnte. Er mu sste sich von ih r lo sreißen . Sie war no ch fast ein Kin d. Und dazu gan z o ffen sich tlich ziemlich exzentrisch. Plö tzlich hö rte er ein Rascheln , und im n äch sten Augen blick kam ein honigblond er Lab rad o r mit hän gend er Zung e du rch s Gestrü pp gesp rung en, gefolgt von Meredith mit einem strahlen den Lächeln, d as ihm alles sagte, was er über
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ihr Befinden wissen mu sste. Tom freute sich so seh r, sie zu sehen, dieses ganz normale Mädchen mit Brille, dass er sie anlächelte und aufsprang und beinahe gestolpert wäre, als er au f sie zulief, um sie zu begrüßen . »Gu ten Tag, Kleine. Wie geht's? « Sie blieb wie angewu rzelt stehen und blin zelte ihn an, völlig verd utzt, ihn in so ungewohnter Umgebung anzutreffen. Während der Hund um sie herumstrich, lief sie rot an , trat von einem Fuß au f den anderen und sagte: »Gu ten Tag, Mr. Cavill.« »Ich bin gek o mmen , u m mich zu erkundigen , wie es dir geht.« »Es geht mir gut, Mr. Cavill. Ich wohne in einem Schloss.« Er lächelte. Sie war ein reizendes Mäd chen , zwar etwas än gstlich, aber k lug. Ein helles Köpfchen und eine gute Beobachterin, hatte einen Blick fü rs Detail u nd mach te o ft üb erraschende und originelle Beob ach tung en. Leid er hatte sie nu r wen ig Selb stvertrau en, un d es war nicht schwer zu erraten, wo ran das lag: Ih re Eltern hatten ih n angesehen , als sei er überg eschn appt, als er vo r zwei Jah ren vo rgeschlagen hatte, sie den Eignungstest fü r d ie Ob erschule machen zu lassen . Ab er To m arbeitete weiterhin d aran. »Ein Schloss! Du hast vielleich t ein Glück ! Ich glaub e, ich war noch nie in einem Schloss.« »Es ist sehr g roß und seh r d üster, und es riecht ko misch nach Schlamm, u nd es gibt jede Menge Trepp en.« »Hast du die schon alle erku ndet?« »Einige, aber noch nicht die, die in den Turm führt.« »Nicht? « »Da darf ich nicht rauf. Da arbeitet Mr. Blythe. Er ist ein echter Sch riftsteller.« »Ein echter Schriftsteller. Vielleicht gibt er dir ja ein paar Tipps, wenn du Glück hast.« To m tätsch elte ih r die Schulter. Sie lächelte, schüchtern , ab er erfreu t. »Vielleicht.« »Sch reib st du immer noch d ein Tagebuch? « »Jed en Tag. Es gibt v iel zu sch reiben.« Sie schaute verstohlen zu m T eich h inüber, und Tom folgte ihrem Blick. Die langen Beine des Mädchen s, das sich imme r no ch am Rand festh ielt, bewegten sich unter der Wasseroberfläche. Ih m fiel
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üb erraschend ein Dostojewski-Zitat ein: »Die Schönheit ist eine furchterregende und geh eimnisv olle Sach e.« To m räu sperte sich. »Gut«, sagte er. »Das ist gu t. Je meh r du übst, umso besser wirst du. Gib dich n ich t mit dem Mittelmä ßigen zu frieden, wenn du es besser machen k ann st.« »Mach ich nicht.« Er lächelte sie an u nd sah au f sein Klemmb r ett. »Dann kann ich also ver merken, dass es dir gu t geht? Alles in bester Ordnu ng? « »Na klar.« »Un d d ein e Mu m u nd dein Dad fehlen dir auch nicht zu sehr? « »Ich sch reibe ihnen Briefe«, sagte Meredith. »Ich weiß , wo die Po stste ll e i st, u nd ich habe ihnen schon die Po stkarte mit meiner neuen Adresse geschickt. Die nächste Schule ist in Tenterden , ab er d a fährt ein Bus hin.« »Dein Bruder und deine Schwester sind auch in der Nähe des Dorfs untergebracht, n icht wahr? « Meredith nickte. Er tätschelte ih r den Kop f, ihr Haar war von der Sonne gewärmt. »Ich denk e, du bist hier seh r gut aufgehoben , Kleine.« »Mr. Cavill? « »Ja? « »Sie sollten mal die Bücher drinnen sehen. In einem Zimmer stehen an allen Wänden Regale, die sind vom Boden bis zu r Decke vo ll mit Büchern.« Er lächelte b reit. »Na, das freut mich aber fü r dich !« »Mich auch.« Sie deutete mit einer Kinnb eweg ung zu de m Mädch en im Wasser. »Jun iper hat gesagt, ich darf alle lesen, die ich will.« Juniper. Sie hieß also Juniper. »Die Frau in Weiß habe ich schon zu d rei Vierteln du rch, und dann lese ich Sturmhöhe.« »Ko mmst du auch in s Wasser, Merry? « Juniper wink te Me redith zu. »Es ist wunderb ar. Warm. Perfek t. Blau .« Seine Wo rte au s ih rem Mu nd zu hö ren ließ To m erschau dern. Meredith, d ie neben ihm stand, schüttelte den Kopf, als hätte sie die Frag e üb errasch t. »Ich kann nicht schwimme n.« Juniper stieg au s dem Wasser un d zog sich das weiße Kleid üb er, d as an ih ren nassen Beinen k leb en blieb . »Daran werden wir etwas än dern mü ssen, solange d u hier bist.« Sie band ihr nasses Haar achtlos zu einem Pferdesch wan z un d
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warf ihn sich über die Schulter. »Son st noch etwa s? «, frag te sie Tom. »Tja, ich dachte, ich kön nte ...« Er atmete aus, fasste sich und beg ann noch ein mal: »Vielleich t sollte ich mit zu m Haus ko mmen , um d ie anderen Familien mitg lieder kennen zulernen? « »Nein«, antwortete Juniper, o hne mit d er Wimp er zu zu ck en. »Das ist keine gute Idee.« Er fühlte sich brüskiert. »Meine Schwester hat etwas gegen Fremde, vo r allem, wenn es Männer sind.« »Ab er ich bin do ch k ein Fremd er. Stimmt 's, Merry? « Meredith läch elte, Jun iper nicht. Sie sagte: »Nehmen Sie's nicht persönlich. Es ist ein fach ihre Art.« »Verstehe.« Sie stand dicht vor ih m, Wassertrop fen liefen ih r in die Wimpern, als ih re Blicke sich begeg neten. Er las k ein Interesse in ihren Aug en, und doc h wurd e sein Puls schneller. »Tja, d ann «, sagte sie. »Tja, d ann.« »War's das? « »Das war's.« Sie hob das Kinn, mu sterte ihn einen Momen t lang. Ein kn appes Nick en, und damit war ihr Gespräch beendet. »Au f Wiedersehen, Mr. Cavill«, sag te Meredith. Er schüttelte ihr lächelnd die Hand. »Auf Wied ersehen, Kleine. Pass au f dich auf. Und schreib sch ön fleißig .« Er schaute den beid en nach, als sie d urch den Park zu m Schloss gingen. Langes, blondes Haar, das zu m Zo p f g ebun den über ihren Rücken fiel, Schulterblätter wie zwei zu klein geratene Flügel. Sie legte Meredith einen Arm u m die Schultern und zog sie an sich , d ann v erlo r er sie au s den Augen, mein te jed och , ih r h elles Lachen zu hö ren . Mehr als ein Jahr sollte vergeh en, bis er sie wiedersah, bis sie sich per Zufall in einer Straß e in Londo n wiederb egegn eten. Er wü rd e sich verändert haben , wü rde ein anderer Men sch sein , stiller, unsicherer, gezeichnet wie die Stadt u m ihn herum. Er würde Frankreich überlebt haben, sich mit seinem v erwun deten Bein nach Bray-Dunes g eschleppt h a-
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ben, aus Dünk irch en evakuiert wo rd en sein ; er wü rde erlebt haben , wie Freund e in sein en Ar men starben , er wü rde d ie Ruh r überleb t hab en, und er wü rde wissen, dass John Keats zwar recht d amit hatte, d ass Erfah rung Wah rh eit bedeutet, aber dass es Dinge gab , die man nicht aus erster Hand wissen musste. Und der neue Tho mas Cavill wü rde sich in Juniper Blyth e verlieben, wü rd e h ingerissen se in von eb enjenen Eig enarten, die ihn an dem Nachmittag am Teich so verstö rt hatten . In einer Welt, die in Asche und Trauer versank, wü rde sie ih m wie ein Wunder erschein en. Unversehrt von der Wirklichkeit wü rd e sie ihn au f ein en Schlag von seinen Wunden heilen. Er würde sie mit einer Leid en schaft lieben, die ihn äng stig te und zug leich wied er aufblühen ließ , mit ein er Verzweiflung , die seinen brav en Zukun ftsträu men Hohn sp rach. Ab er damals wu sste er d as alles noch nicht. Er wu sste nu r, dass er jetzt alle Schüler au f seiner Liste besuch t h atte. Dass Meredith Bak er g ut aufgehoben wa r, d ass sie sich wohlfüh lte und sich in gu ten Händen befand, d ass er zurück nach Lon don fahren und sich wieder seinem Leben, sein er Zukun ft wid men konn te. Un d obwohl er noch nicht trocken war, knö p fte er sein Hemd zu , setzte sich hin , u m sein e Schnü rsenk el zu bin den , und p fiff ein Lied vo r sich h in, als er d en Teich verließ, in dem die Wasserlilien immer n och auf den Wellen schau kelten, die sie h interlassen hatte, dieses seltsame Mädchen mit den überirdisch en Augen . Er ging den Hügel hinunter, an dem seichten Bach en tlang, der ihn zu r Straße füh rte, fo rt von Juniper Blythe und Schloss Milderhurst, die er beide - so glau bte er - nie wied erseh en wü rde.
2 Nichts wü rde je wieder so sein wie vorher. Wie sollte es au ch? Nichts in den tau sen d Büchern , die sie gelesen hatte, nichts, was sie sich v orgestellt oder g eträu mt oder g eschrieben hatte, hätte Juniper Blythe au f die Begegnu ng am Teich mit To m C av ill vo rbereiten könn en . Als sie au f d ie Lichtung getreten war und ihn do rt im Wasser gesehen hatte, dachte 316
sie zuerst, die Gestalt sei ein Produk t ih rer Fan tasie. Es war scho n eine Weile her, seit sie ihren letzten »Besucher« gehabt hatte, und kein Pochen in ihrem Kopf, kein Meeresrausch en in ih ren Oh ren hatte sie vo rg ewarn t. Ab er ein bestimmter Lichteinfall, ein kün stliches Glitzern in der Lu ft, das ih r v ertraut vo rk am, h atte d ie Szenerie un wirklicher erscheinen lassen als die, aus der sie g erade geko mmen war. Sie hatte in die Baumkronen h inau fgesch aut, und als die Blätter an den höchsten Zweig en sich im Wind bewegten, war es, als würde Goldstaub auf die Erde rieseln. Sie hatte sich au f die Schaukel gesetzt, weil sie sich da am sichersten fühlte, wenn sie einen Besu cher hatte. Still hinsetzen, etwas fest in den Händen halten, warten, bis es vorbei ist. So lauteten die d rei goldenen Regeln, die Saffy au fgestellt h atte, als Juniper n och klein war. Sie hatte Juniper au f den Küchentisch g ehoben, u m ih r aufgeschlag enes Kn ie zu v erarzten, und ihr erklärt, die Besuch er seien zwar ein Geschenk, wie Dadd y g esagt hatte, aber sie mü sse trotzdem vo rsichtig sein. »Aber ich spiele so gern mit ihnen «, hatte Juniper geantwo rtet. »Sie sind meine Freunde. Und sie erzählen mir spannende Sachen .« »Das weiß ich, Liebes, und d as ist g anz wund erbar. Aber verg iss nicht, dass du keine v on ihnen bist. Du bist ein kleines Mädchen mit Haut, unter der Blut fließ t, mit Kno chen, die b rechen können, und du hast zwei Schwestern, die es gern seh en wü rd en, dass du erwachsen wirst.« »Un d einen Dadd y.« »Natü rlich. Und einen Dadd y.« »Aber keine Mutter.« »Nein.« »Ab er einen kleinen Hund .« »Ja, Emerson.« »Und ein Pflaster am Knie.« Da hatte Saffy g elacht, sie an ih re Brust ged rückt, die nach Talk u m-Puder un d Jasmin und Tinte duftete, und sie wieder auf den Tisch gesetzt. Und Ju niper h atte höllisch au fg epasst, nicht zu der Gestalt am Fen ster hinüb erzusch auen , d ie sie nach draußen zum Spielen lock te.
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Juniper wusste nicht, woh er die Besucher kamen. Sie wusste nu r, dass ih re ersten Erinneru ngen Gestalten waren, die i m Sonn enlicht u m ih r Kind erbettch en heru mtanzten . Mit d rei Jahren hatte sie begriffen, dass an dere ih re Besu cher nicht sehen konnten. Man hatte sie als verträumt und verrückt bezeich net, als sch elmisch und fan tasievoll. Sie h atte zahllo se Kin derfrauen vertrieben , die keine imaginären Freunde duldeten. »Aber ich bilde mir sie nicht ein «, hatte Junip er immer wieder protestiert und sich bemü h t, so vern ün ftig wie möglich zu klin gen, aber offenbar gab es keine eng lisch e Kinderfrau, die ihr da s glaubte. Eine nach der an deren h atten sie ih re Sach en gep ackt u nd ein Gesp räch mit Dadd y verlangt. In ihrem Versteck , in den Adern des Schlosses, dem klein en Wink el bei der Lück e in der Mauer, hatte Jun iper immer n eu e Wö rter gehö rt, mit denen sie besch rieb en wu rd e: »Sie ist ungezogen.« Od er: »Sie ist au fsässig .« Und ein mal sogar: »Sie ist b esessen !« Alle hatten ih re eig ene Theorie über die Besu cher. Doktor Finley hielt sie fü r »einen lebhaften Ausdruck der Sehnsucht und kindlichen Neugier«, was irgendetwas mit ihrem Herzfehler zu tun hatte. Doktor Heinstein war der Meinun g, sie seien Symp to me einer Psychose, und hatte ihr alle möglichen Pillen versch rieb en, die dem Spuk ein Ende setzen sollten. Dadd y sagte, es seien die Stimmen ih rer Vo rfah ren, und sie sei au serwählt, sie zu hö ren. Sa ffy bestand darauf, dass ih re klein e Schwester vo llko mmen in Ord nung war, so wie sie war, und Percy war das alles g leichgü ltig . Sie sagte, alle Menschen seien eben verschied en, und warum in aller Welt man sie in Katego rien wie no rmal oder nicht normal einteilen müsse? Jed en falls hatte Juniper sich eigentlich nicht au f die Schau kel gesetzt, u m sich in Sicherheit zu bringen, sondern weil sie vo n d ort au s den besten Blick au f d ie Erscheinung im Teich hatte. Sie war neugierig, und er war schön. Seine Haut so glatt, die Brustmuskeln, die sich beim At men h oben un d senkten, so wohlgeformt, seine Ar me so sehnig. Wenn er tat sächlich ein Produ kt ih rer Fantasie war, dann hatte sie ihn richtig gut hingekriegt. Er war exotisch und en tzü ckend, und
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sie wollte ihn anschauen, bis er sich vo r ih ren Augen wied er in Licht und Laub v erwandelte. Aber das war nicht passiert. Als sie do rt auf der Schaukel gesessen hatte, den Kopf an das Seil gelehn t, hatte er plötzlich die Augen g eö ffnet und etwas gesagt. Nicht dass so etwas noch nie vo rgekommen wäre; die Besucher hatten schon oft mit Jun iper gesp ro chen , aber zum ersten Mal war einer in Gestalt eines jungen Mannes zu ihr geko mmen . Noch dazu ein es jung en Mannes, der fast nichts an hatte. Sie hatte ihm geantwortet, in knappen Wo rten. Sie war irritiert gewesen. Sie hatte nicht gewollt, dass er mit ihr redete, sie hatte sich gewünscht, er würde die Augen wieder schließen u nd sich au f dem glitzernden Wasser treiben lassen, damit sie d ie Vo yeu rin spielen k onnte. Damit sie seh en konnte, wie das Sonn enlicht au f seinen lan gen Glied maß en tanzte, au f sein em stillen, schön en Gesich t, damit sie sich auf d ie seltsame Emp find ung kon zen trie ren konnte, ein Gefühl, als wäre eine Saite zum Klingen g ebracht worden, tief unten in ih rem Bauch . Sie kannte nicht viele Männer. Daddy natü rlich - aber der zählte n icht. Ih ren Patenonkel Step hen , ein paar alte Gärtner, die über die Jah re au f d em An wesen gearbeitet hatten , und Davies, der den Daimler immer auf Hochglanz poliert hatte. Ab er das war and ers. Juniper hatte versuch t, d en Mann zu igno rieren, in der Ho ffnu ng, er wü rde es k apieren und au fh ören , mit ih r ins Gesp räch ko mmen zu wollen , ab er er hatte sich nicht b eirren lassen. Er hatte ih r seinen Namen genannt, Thomas Cavill. Die anderen hatten keine Namen. Jedenfalls keine no rmalen . Schließlich war sie selb st in den Teich gesp run gen , und er war aus dem Wasser geflüchtet. Erst da waren ih r die Kleider aufgefallen, die auf d er Liege lagen . Seine Kleider, u nd das war wirklich merkwürd ig gewesen. Und dann war d as Merkwü rd ig ste überhaup t gesch ehen . Me red ith war g eko mme n - von Saffy endlich au s dem Näh zimmer entlassen - und hatte angefangen , sich mit dem Mann zu un terhalten.
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Juniper, die ih nen vom Wasser au s zu gesehen h atte, wäre vor Schreck beinahe ertrunken, denn eins stand fest: Nieman d auß er ih r k onnte ih re Besucher sehen . Juniper wohn te schon ihr Leben lang auf Schloss Milderhurst. Ebenso wie ihr Vater und ih re Schwestern war sie in einem Zimmer i m ersten Stock geboren wo rden. Sie kannte das Sch loss u nd die umgebenden Ländereien so gut, wie man es von jemandem erwarten wü rde, der nichts als die eigene Welt kennt. Sie wurde beschützt und geliebt un d v erhätschelt. Sie las, und sie sch rieb, un d sie spielte, und sie träu mte. Es wu rde nichts von ihr erwartet, außer die zu sein, die sie war. Aber das umso meh r. »Du , mein e Kleine, bist ein Schlo ssgesch öpf«, hatte Dad d y o ft zu ih r gesagt. »Du bist wie ich.« Und lange Zeit war Juniper mit dieser Beschreibung vollk o mmen zu frieden gewe sen. Aber aus unerfindlichen Gründen hatte in letzter Zeit alles an gefangen, sich zu verändern . Manchmal wachte sie mitten in d er Nacht mit ein em u nerk lärlichen Ziehen in ih rem In nern au f, mit ein em Verlangen wie Hunger, aber worauf, das wu sste sie n icht. Unzu friedenheit, Sehn sucht, eine tiefe, gähnende Leere, und sie wu sste nich t, wie sie sie fü llen sollte. Sie hätte nicht einmal sag en kön nen , was genau ih r fehlte. Sie war spazieren geg angen, und sie war üb er d ie Wiesen gerannt, sie hatte geschrieben, hastig und ung estü m. Wo rte, Geräusche hatten in ihrem Kopf getobt und verlang t, freig elassen zu werd en, und sie alle niederzuschreiben war eine Erleichterung gewesen. Sie qu älte sich nicht mit Fo rmulierungen herum, sie grüb elte ni cht über Wö rtern, sie las nie noch einma l, was sie gesch rieb en hatte, es reichte, die Wö rter zu befreien, damit die Stimme n in ihrem Kopf schwiegen. Dann, eines Tages, hatte sie das Bedü rfnis empfunden, in s Do rf zu g ehen. Sie fuh r nu r selten Auto , aber sie war mit dem g roß en, alten Daimler bis in die High Street gefah ren. Wie in einem Trau m, wie eine Figu r in einer Gesch ichte von jemand anderem h atte sie den Wagen gep arkt und war in den Gemeindesaal g egangen . Eine Frau hatte sie ang esp roch en, aber da hatte Juniper Meredith bereits entdeckt.
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Als Saffy sie später frag te, nach welchen Kriterien sie das Kind ausgesucht hatte, sagte Junip er: »Ich habe sie nicht au sg esucht.« »Ich widerspreche dir ja n u r ungern , Kleines, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du sie mi t herg eb racht hast.« »Ja, natü rlich , aber ich habe sie nicht ausgesucht. Ich wusste, dass sie es war.« Juniper hatte no ch nie ein e Freundin gehabt. Andere Leute, Dadd ys au fgeblasene Freu nde, Schlossbesucher, sie nahmen alle viel mehr Raum ein, als ihnen zu stan d. Sie erd rückten einen mit ih rer Prah lerei un d ih rem Geh abe und ihrem un ab lässigen Gerede. Ab er Meredith war anders. Sie war lustig, und sie h atte ih re eigen e Meinung . Sie war eine Leseratte, ob wohl es bei ih r zu Hause kaum Bücher gab, sie besaß eine hervorragende Beobach tung sg abe, aber ih re Gedank en und Gefühle waren nicht beein flusst von dem, was sie gelesen hatte, was an dere geschrieben hatten. Sie hatte eine ganz eigene Weltsicht und eine Art, sich au szud rück en, die Jun iper immer wieder verb lü ffte und zum Lachen b rachte und dazu an regte, noch ein mal nachzu denken und die Dinge in eine m neuen Licht zu sehen . Ab er d as Beste war, dass Meredith jede Menge Geschichten au s d er Außen welt mitg eb racht hatte. Seit sie da war, hatte der Sto ff, aus dem Milderhu rst war, einen feinen Riss beko mmen. Ein winziges, helles Fenster, an das Juniper ein Auge legen und n ach drau ßen sp ähen ko nnte. Und was hatte Meredith jetzt b ewirk t? Ein Mann, ein rich tiger Mann au s Fleisch und Blut war au fs Schloss geko mmen. Ein jung er Mann au s der Außenwelt, der wirk lichen Welt, war am Bad eteich au fgetauch t. Licht von der Außen welt schien durch den Sch leier, heller, n achdem ein zweites Loch au fg erissen war, und Junip er bekam meh r zu sehen. Er wäre gern gebliebe n, hätte sie gern in s Schloss begleitet, ab er Ju niper h atte abgelehnt. Das Schloss war der falsche Ort. Sie wollte ihn beobachten, ihn wie eine Katze belauern - aufmerksam, geduldig , unbemerkt, während sie an sein er Haut vorb eistreifte. Wenn sie d as nicht haben ko nnte, wollte sie lieb er gar nich ts haben. So würde er ein stiller, von Son -
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nenlicht erfüllter Augen blick b leib en, eine Brise, die ih re Wang en liebko ste, wäh rend die Schaukel über dem w armen Teich vo r und zu rück sch wang, ein neu es Zieh en tief unten in ihrem Bauch. Er war gegan gen . Un d sie waren geblieben . Sie h atte Meredith einen Arm um die Schultern gelegt, und sie waren lachend den Hügel hinaufgelaufen, hatten sich darüber amüsiert, dass Saffy es jedes Mal sch affte, einen mit ih ren Steckn adeln in d ie Hau t zu stech en, waren an d em alten Brunnen, der nicht mehr fu nktionierte, ku rz st ehen geb lieben, u m d as unb eweg te, grüne Wasser zu betrachten, die Libellen, die ruckartig darüber hinwegflogen. Aber die ganze Zeit waren ihre Gedanken dem M an n gefolgt, hatten sich an ih n geheftet wie ein Spinn fad en, als er zur Straße hinuntergegangen war. Juniper war weiterg egang en, sch neller jetzt. Es war heiß, so heiß, d ass ih r Haar schon fast trocken war und ih r an den Wang en klebte. Ih re Hau t fühlte sich fester an als so nst. Sie war seltsam aufgewühlt. Ob Meredith hören konnte, wie ihr Herz gegen ihre Rippen poch te? »Ich habe eine g roßartige Id ee«, sagte sie. »Hast d u dich jemals g efrag t, wie es in Frank reich au ssieht? « Dann nahm sie ihre kleine Freundin an der Hand, und ge mein sam rann ten sie die Stu fen hin au f, du rch das Do rnen gestrüpp, zwischen Bäumen hindurch , die mit ih ren Kronen ein g rün es Dach bildeten. Vergänglich — das Wo rt kam ih r in den Sin n, und plötzlich füh lte sie sich leich ter, wie ein Reh. Schneller, schneller liefen sie, lach ten au sgelassen, und der Wind zerrte an Junipers Haaren, und ih re Füße froh lockten bei der Berührung mit der h eiß en, harten Erde, und die Freu de rann te mit ih r. End lich erreichten sie den Säu lengang, stolperten die Treppe ho ch, keuch end , du rch die offen en Glastüren in die kühle Stille der Bibliothek. »Jun e? Bist du das? « Das war Saffy. Sie saß an ih rem Schreibtisch. Die liebe Saffy schaute von ih rer Schreibmaschine auf, wie sie es immer tat, ein bisschen verwirrt, als wäre sie gerade aus ein em Trau m voller Ro senb lätter und Tautropfen erwacht un d als
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wäre die Wirklichk eit eine ziemlich verstaubte Überra schu ng. Ob es nun die Sonne war, der Teich , d er Mann, d er klare, blaue Himmel, Jun iper konn te nich t widerstehen , ih rer Sch wester im Vo rbeieilen ein en Ku ss au f die Stirn zu d rü cken. Saffy strahlte. »Hat Meredith ... ja, ich sehe scho n. Gut. Ach, ihr wart schwimmen. Passt auf, dass Dadd y ...« Aber wie auch immer die Ermahnung lautete, Juniper war scho n versch wunden, ehe sie au sgesprochen war. Sie rannten durch hohe Ko rrid or e, en ge Treppenhäu ser, immer h öher, Stock werk u m Sto ckwerk, bis sie das Dachzimmer ganz oben im Schlo ss erreichten. Junip er riss d as Fen ster auf, kletterte auf d as h albhoh e Bücherreg al und setzte sich au f die Fensterbank und ließ die Beine drau ßen baumeln. »Komm«, sagte sie zu Mered ith , d ie in der Tü r stehen geblieben war und sie merk wü rdig an sah . »Ko mm sch nell.« Meredith seufzte unsich er, rü ckte ih re Brille zu recht. Dann ging sie zu m Fenster und tat es Juniper nach. Vorsichtig schoben sie sich über das steile Dach, bis sie den First erreichten, der nach Süden ragte wie der Bug eines Schiffs. »Da, sieh st du? «, sag te Jun iper, als sie neben ein ander au f dem Dachvorsprung saßen. Sie zeigte nach Süden, auf eine krak elige Linie am fernen Ho rizont. »Ich hab's dir ja gesagt. Man k ann bis nach Frank reich sehen .« »Wirklich? Das ist Frank reich? « Juniper nickte, sie hatte bereits das In teresse an der Kü stenlinie verloren. Mit zu sammengekniffenen Augen ließ sie den Blick über d ie gelben Wiesen wand ern, über d en Cardarker-Wald, such te, suchte, ho ffte, ihn noch einmal zu sehen ... Sie zuckte zu sammen. Da war er, eine win zige Gestalt, die die Wiese bei d er ersten Brücke überquerte. Er hatte die Hemd särme l bis zu den Ellbogen ho chgek remp elt, und seine sch lenkernden Arme streiften d as hoh e Gras. Plötzlich blieb er stehen, legte die Hände in den Nacken, schien den Himmel zu umarmen. Dann begriff sie, dass er sich umdrehte. Er schaute zum Schloss zu rück . Sie hielt d en Atem an, frag te sich, wie es möglich war, dass das Leben sich innerhalb ei -
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ner halben Stunde so seh r verändern konn te, wo sich do ch eigen tlich überhaup t nich ts geändert hatte. »Das Schloss trägt einen Rock.« Meredith zeigte au f die Erde unter ih nen . Jetzt ging er weiter und sch ließ lich verschwand er in einer Sen ke, und alles war still. To m Cavill war d urch den Riss in die Außenwelt geschlüp ft. Die Luft um das Schloss herum schien das zu wissen. »Ku ck mal«, sag te Mered ith . »Da unten.« Juniper nahm ih re Zigaretten aus der Tasche. »Da war mal ein Graben . Dadd y hat ihn zuschütten lassen, nachdem s eine erste Frau gestorben ist. Eigentlich sollen wir auch nicht im Teich schwimmen.« Sie lächelte, als Meredith sie ängstlich anschaute. »Mach nicht so ein Gesicht, kleine Merry. Niemand wird sich au fregen , wenn ich dir das Schwimmen beib ringe. Dadd y verlässt seinen Turm überhaupt nich t meh r, er wird gar nicht erfahren, ob wir im Teich schwimmen oder nicht. Auß erdem wäre es eine Schande, an so einem h eiß en Tag nicht sch wimmen zu gehen.« Warm, perfekt, blau. Juniper riss ein Streichho lz an. Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette, stützte sich mit der Hand am steilen Dach ab und blinzelte in den klaren, blauen Himmel, die Kuppel ihrer Welt. Wo rte kamen ih r in den Sinn, die nicht ih re eigenen waren. Ich, die alte Turteltaube, Schwinge mich auf einen dürren Ast und weine Um meinen Geliebten, der nicht wiederkommt, Bis an mein Ende! Das war natü rlich lächerlich. Vollko mmen lächerlich . Der Mann war nicht ihr Geliebter, er war niemand, um den sie weinen mu sste, bis an ihr Ende. Und doch waren ihr die Worte in den Sinn gekommen . »Mag st du Mr. Cavill?« Junipers Herz machte ein en Satz, ih r b rach der Schweiß au s. Sie war du rch schaut! Meredith h atte ih re geheimsten Gedanken erfasst. Sie schob sich den Träger ih res feu chten Kleid s zurück au f die Schulter, versuchte, Zeit zu gewinnen, steckte die Streichh ölzer in ih re Tasche. 324
Meredith sagte: »Ich mag ih n.« Und an der Röte ihrer Wang en erkan nte Juniper, dass Meredith ih ren Lehrer sehr mo ch te. Sie war hin- und hergerissen zwischen der Erleichteru ng darüber, dass Meredith ih re Gedanken doch nicht erraten hatte, und rasende r Eifersucht, weil Meredith ih re Gefüh le teilte. Aber als sie ih re kleine Freu ndin ansch aute, verflog ih re Eifersuch t so schnell, wie sie gekommen war. »Warum? «, frag te sie. »Was gefallt dir an ih m? « Meredith antwortete nicht gleich. Jun iper rauchte und betrachtete die Stelle, wo d er Mann du rch den Spalt in d er Kupp el über Mild erhu rst au s ihrer Welt versch wu nden war. »Er ist sehr klug«, sag te Meredith schließlich. »Und er sieht gut au s. Un d er ist n ett, selb st zu Leu ten , die es ein em nicht leicht machen. Er hat einen sch wach sinn igen Bruder, ein g roß er Kerl, der sich benimmt wie ein Baby, ganz leicht an fängt zu wein en und manchmal au f der Straße heru mschreit, ab er du mü sstest mal sehen, wie geduldig Mr. Cavill mit ih m u mg eh t. Wenn du die beid en zusammen erleben wü rd est, dan n wü rd est du denken , dass er sich großartig amü siert, aber nicht auf so eine übertriebene Art, wie man es bei Leuten sieht, wenn sie sich beob achtet fühlen. Er ist der beste Lehrer, den ich je hatte. Er hat mir ein Tagebu ch gesch enkt, ein richtiges, mit Ledereinban d. Er sag t, wenn ich fleißig bin, kann ich länger zur Schule gehen, vielleicht sogar au f die Ob erschu le und spät er an die Universität. Vielleich t kann ich eines Tages was Richtig es sch reiben , Gesch ichten oder Gedichte oder Zeitu ng sartikel ...« Sie holte tief Luft. »Außer ihm hat noch n ie jemand geg laub t, d ass ich etwas gut könnte.« Juniper stieß ih re kleine Freund in mit d er Schulter an. »Das ist do ch wund erbar, Meredith «, sagte sie. »Un d Mr. Cavil l hat wirklich recht, du kannst vieles g ut. Ich kenne dich erst seit ein paar Tagen, aber das habe ich schon beg riffen ...« Sie hustete gegen ih ren Hand rück en, weil sie plötzlich nicht weiterred en konnte. Ein unvertrautes Gefü hl hatte sie übermannt, während Meredith die Vorzüge ih res Leh rers und seine Lieben swü rdigkeit besch rieb en und von ih ren Ho ffnun gen gesp ro chen hatte. In ih re r Brust hatte sich eine Hitze
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gebildet, sich immer meh r ausgedehn t und sich wie Sirup un ter ih rer Haut v erteilt. Als sie ih re Augen erreichte, verwan delte sich die Hitze in Nadelstiche. Bein ahe wären ih r Tränen g eko mmen . Ein zärtliches und zartes Gefüh l voller Fü rsorge, und als sie sah, wie sich Mered ith s Mund zu einem h offnung svo llen Läch eln verzo g, konnte sie nicht anders, sie mu sste ih re klein e Freund in u mar men und an sich drücken. Meredith mach te sich gan z steif und klammerte sich an die Dachziegel. Juniper richtete sich wieder au f. »Was ist? Alles in Ord nung? « »Ich h ab nur ein bisschen Höhenangst.« »Ach so? Das hast du mir n ich t gesagt.« Meredith zuckte d ie Sch ultern und konzentrierte sich auf ih re nackten Füße. »Ich fürchte mich vo r gan z vielen Sach en.« »Wirk lich?« Sie nickte. »Na ja, ich glaube, d as ist ziemlich no rmal.« »Hast du auch man ch mal Ang st? « »Klar. Wer nich t? « »Wovo r denn? « Juniper senk te den Kopf, zog kräftig an ihrer Zigarette. »Ich weiß nicht.« »Nicht vor Gespen stern u nd unh eimlichen Wesen i m Sch lo ss? « »Nein.« »Vo r der Höh e? « »Nein .« »Vo r dem Ertrinken? « »Nein.« »Davo r, fü r immer ungelieb t un d allein zu sein? « »Nein.« »Davor, bis an dein Lebensende etwas tun zu mü ssen, was du nicht aussteh en k ann st? « Juniper v erzo g d as Gesicht. »Iihh ... n ein.« Dann h atte Meredith sie so niedergeschlagen angesehen , dass sie sagte: »Nu r vor einer Sache.« Ih r Puls begann zu rasen , ob wohl sie gar nicht die Absicht hatte, Meredith ihre g rößte, schwarze Angst zu beichten . Jun iper h atte nich t v iel Erfah rung mit Freundsch aften , aber es war bestimmt nicht ratsam, einer neu en, lieben Freund in zu erzählen, dass sie fürchtete, eine Neigung zu ex tremer Gewalttätig keit zu besitzen . Sie rau chte ih re Zigarette und dachte an den Gefühls-
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au sb ruch, die Wut, die sie beinahe inn erlich zerrissen hätte. Erinnerte sich daran, wie sie au f ih n lo sgegan gen war, wie sie ohne nachzudenken den Spaten erg riffen hatte und dann ... ... im Bett au fgewacht war, Saffy neben sich und Percy am Fenster. Saffy hatte sie angeläch elt, aber ku rz zuv or, als sie an nah m, Juniper schliefe noch, hatte ihr Gesicht etwas ganz an deres au sged rück t. Ih r gequ älter Blick, ih re zu samme ng ep ressten Lippen, die zusammen g ezog enen Brauen straften ih re Versicherung Lügen , dass alles gut sei. Dass nichts Schlimmes passiert sei. Etwas Schlimmes? Ganz und gar nicht, Liebes! Nu r ein bisschen verlo ren e Zeit, nicht and ers als son st. Sie hatten es au s Lieb e vo r ih r geheim g ehalten , und das ta ten sie immer noch. Anfang s hatte sie ih ren Schwestern geglaubt, voller Zuversicht. Natü rlich hatte sie ih nen geglaubt. Welchen Grund hätten sie h aben sollen, sie zu belüg en? Es war ja nicht das erste Mal, dass sie Zeit verloren hatte. Warum hätte es diesmal anders sein sollen? Aber diesmal war es anders gewesen. Juniper hatte herausgefu nden , was sie vor ihr verbargen. Sie wussten imme r no ch nicht, dass sie es erfah ren hatte. Es wa r purer Zufall gewesen. Mrs. Simpson war g eko mmen , um mit Dadd y zu sprechen, während Juniper in der Nähe der Brücke am Bach gesp ielt hatte. Mrs. Simp son hatte sich üb er d as Brücken geländer gelehnt, mit dem Zeigefinger gewedelt und gesch rien: »Du !« Ju niper hatte verwu ndert aufgeblickt. »Du bist ein Ungeheuer. Eine Gefahr fü r die Allgemeinheit. Man sollte dich einsperren fü r das, was du getan hast!« Juniper hatte nicht verstan den, hatte n icht gewusst, wovon die Frau redete. »Sie haben meinen Jung en mit dreißig Stichen zu sammen genäht. Dreiß ig ! Du bist ein Tier!« Ein Tier. Das war der Au slö ser gewesen . Jun iper war zu sammen gezu ckt, als sie es g ehö rt hatte, u nd da war d ie Erinnerung zu rückgeko mmen . Bruchstü ckhaft, un scharf. Ein Tier - Emerson — Schmerzensschreie.
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Ob wo hl sie alles ve rsucht hatte, ob wo hl sie sich ex tre m konzen triert h atte, war der Rest v ersch wommen g eblieben . Hatte sich im Dunk el des Vergessens verborgen. Wie erbärmlich mangelhaft ih r Gehirn doch war! Wie sie es verach tete. Alles an dere wü rde sie sofort hergeben — das Schreiben, den schwindelerreg enden Rausch der Inspiration, die Freu de, einen Ged anken auf Papier festzuhalten , sog ar ih re Besucher würd e sie au fgeben, wenn sie dafü r nur all ih re Erinnerungen b ehalten könnte. Sie hatte ih re Sch western bearb eitet, sie angefleht, aber ohne Erfolg, und so hatte sie sich sch ließlich an ih ren Vater g ewan dt. Ob en in sein em Turm hatte er ihr alles erzählt - was Billy Simp son dem armen, kranken Emerson angetan h atte, dem lieben alten Hund , der n ich ts an deres gewollt hatte, als seine letzten Tage neben dem s onn enbeschienen en Rhodo dend ro nstrau ch zu verdösen - und was Juniper Billy Simp son ang etan hatte. Er hatte ih r gesagt, sie solle sich keine Sorgen ma chen. Es sei nicht ih re Schuld. »Dieser Junge ist ein Rüpel der übelsten Sorte. Er hat nur bekommen, was er verdient hat.« Und dann hatte er gelächelt, aber in seinen Aug en hatte die An gst g elauert. »Für Menschen wie dich«, hatte er gesagt, »gelten an dere Regeln. Fü r Men sch en wie dich und mich .« »Un d? «, frag te Meredith. »Was ist es? Wovo r fü rch test du dich? « »Ich glau be, ich h abe Ang st«, sagte Junip er, den Blick au f den Cardarker-Wald gerichtet, »dass ich so werden k önn te wie mein Vater.« »Wie meinst du das? « Es war unmöglich, es zu erklären, ohne Merry mit Dingen zu b elasten, die sie n ich t zu wissen b rauchte. Die Ang st, die Junipers Herz wie ein Gu mmiband einschnürte, die grauenhafte Vo rstellung , sie könnte irgend wann als verrü ckte Alte in den Ko rridoren des Schlosses heru mg eistern un d in eine m Meer au s Pap ier ertrinken, stets ängstlich auf der Hut vor den Geschöpfen, die au s ih rer eigenen Feder stammten. Sie zuckte die Sch ultern und sagte beiläu fig: »Na ja, dass ich mein Leben lang in diesem Kasten hier festsitzen könnte.« »Ab er warum so lltest du denn weggehen wollen? « »Mein e Schwestern erdrücken mich .«
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»Mein e würde mich gern erd rücken.« Juniper lächelte und sch nipp te Asch e in die Regen rinne. »Ich meine es ernst, sie hasst mich.« »Waru m? « »Weil ich anders bin. Weil ich nicht sein will wie sie, obwoh l alle das von mir erwarten .« Juniper zog an ih rer Zigarette, leg te den Kop f sch ief und betrachtete die Welt u m sie heru m. »Wie kann ein Men sch glauben, er könnte seinem Schick sal entkommen, Merry? Das ist doch die Frage.« Sch weig en. Dann sagte Meredith leise: »Es gibt immer n och Züge.« Zuerst d achte Junip er, sie hätte sich verhört, aber als sie Meredith an sch aute, sah sie, dass das Mädch en es völlig ernst gemeint hatte. »Ich meine, es gibt auch Omnibu sse, ab er ich glaube, der Zug ist schneller. Un d bequ emer.« Juniper konn te n icht anders. Sie b rach in sch allendes Gelächter aus, das aus ihrem tiefsten Innern kam. Meredith lächelte verun sichert, ab er Juniper umarmte sie überschwänglich. »Ach , Merry«, sag te sie. »Weißt du, d ass du einfach unübert refflich bist? « Meredith strahlte, und die beiden lehnten sich gegen die Dach schindeln u nd schau ten in den Nach mittag sh immel. »Erzähl mir eine Ge schichte, Merry.« »Was denn für ein e? « »Erzäh l mir von Lond on .«
Die Kleinanzeigen 1 9 9 2 Mein Vater wartete schon , als ich von meinem Besu ch b ei Theo Cavill zurückkeh rte. Die Haustü r war noch nicht h inter mir ins Schloss gefallen, als in seinem Zimmer das Glöckch en bimmelte. Ich ging au f direktem Weg nach oben. Er saß in seinem Bett, die Teetasse in der Hand, die mein e Mu tter ih m n ach dem Ab en dessen gebracht hatte, und gab sich überrascht. »Ah, Edie«, sagte er mit einem Blick au f die Wand-
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uhr. »Ich hatte noch gar n icht mi t dir gerechnet. Irgendwie habe ich die Zeit gan z vergessen.« Eine ziemlich unwahrscheinliche Behauptung. Der aufgeschlagene Modermann lag mit dem Gesicht n ach unten auf der Decke n eben ih m u nd das Sp iralheft, das er inzwischen seine »Fallsamml ung « nann te, au f den Knien. Die Szene machte den Eindruck, als hätte er den ganzen Nachmittag über den Geheimnissen des Modermann g eb rütet, und die Neu gier, mit der er nach den Au sd rucken sc hielte, die au s meiner Tasche hervo rlug ten , sprach für sich. Ich weiß nicht, warum, aber in dem Mo ment ritt mich der Teu fel. Ich gähn te au sgiebig , hielt mir eine Hand vor den Mu nd, g ing langsam zu dem Sessel auf der anderen Seite seines Betts, machte es mir b equem und lächelte ihn an. Sch ließlich hielt er es nicht meh r aus. »Du h ast nicht zu fällig in der Bibliothek was gefunden? Üb er alte Entführung sfälle in Schlo ss Milderhu rst? « »Ach ja«, sagte ich. »Natü rlich. Das h ätte ich bein ahe vergessen.« Ich nah m d ie Mappe aus meiner Tasche, blätterte die Seiten durch und gab ih m d ie Artik el über die En tfüh rungen. Er üb erflog sie n ach einander mit so lch em F eu ereifer, dass es mir grau sam vorkam, dass ich ihn hatte zappeln lassen. Die Arzte hatten un s gesagt, dass Herzpatienten häufig an Depressionen litten, vo r allem Män ner wie mein Vater, d er es gewo hnt war, einen wichtig en Po sten au szu füllen, und sich sch wertat, sich mit seinem Rentnerdasein abzufinden. Wenn mein Vater also eine Zukunft als literarischer Detektiv vo r sich sah , wü rde ich ihn nicht aufhalten — auch wenn der Modermann das erste Buch war, das er in vierzig Jahren gelesen hatte. Außerdem schien mir das eine wesentlich bessere Lebensaufgabe zu sein als das ewig e Reparieren von Sach en im Hau shalt, die nicht ein mal kapu tt waren. Ich beschloss, mich ko operativer zu verhalten. »Irgendetwas Interessantes, Dad? « Seine freudig e Erregung hatte nachg elassen . »Keiner d avon hat was mit Mild erhu rst zu tun.« »Ja, leider. Jed en falls nicht direkt.« »Aber ich war mir ganz sicher, dass es etwas geben mu sste.«
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»Tut mir leid , Dad, meh r konnte ich nicht finden.« Er lächelte tapfer. »Mach t nichts, ist ja nich t deine Schuld, Edie. Wir dürfen uns nur nicht entmu tigen lassen . Wir mü ssen einfach ein bisschen um die Ecke denken.« Er klop fte sich mit seinem Stift an s Kinn und zeigte dann damit au f mich. »Ich habe den ganzen Nachmittag in dem Buch gelesen und bin zu dem Schluss gekommen , dass es etwas mit de m Sch lo ssg raben zu tun haben mu ss. Es kan n nicht and ers sein. In deinem Buch über Milderhurst steht, dass Raymond Blyth e den Graben hat zusch ütten lassen , ku rz bev o r er den Modermann geschrieben hat.« Ich n ickte so überzeugt, wie ich konn te, und v erkniff es mir, ihn an Muriel Blythes Tod zu erinnern und daran, dass Raymond Blythe danach in tiefe Trau er versunk en war. »Ich mein e, das kann do ch ke in Zufall sein«, sagte er eifrig. »Es muss etwas zu bed euten h aben . Und das Mädchen am Fenster, das en tführt wird, während die Eltern schlafen. Es steht alles h ier d rin, jetzt mu ss ich nu r noch die rich tig en Sch lu ssfolgeru ngen ziehen.« Er wandte sich wied er den Artik eln zu, las sie langsam und so rg fältig und machte sich Notizen. Ich versuchte, mich zu konzentrieren, aber es fiel mi r schwer, nicht die ganze Zeit an das wirkliche Rätsel zu d enken, das mich beschäftigte. Ich schau te aus dem Fen ster in die Abenddämmeru n g. Der Halbmond stand hoch am v ioletten Himmel, und d ünne Wolkenstreifen trieben an seinem Gesicht vorbei. Ich war in Gedanken bei Theo und seinem Brud er, der sich vo r fün fzig Jahren in Luft aufgelö st hatte, nachdem er nicht zu dem Ab endessen au f dem Schloss erschienen war. Ich hatte mich auf die Suche nach Thomas Cavill g emacht in der Ho ffnung , etwas zu finden, das mir helfen würde, Junipers geistig e U mn achtung besser zu verstehen . Meine Ho ffnun g hatte sich nicht erfüllt, aber mein Gespräch mit Theo hatte meine Meinung über Tom grundleg end geändert. Wenn Th eo recht hatte, war Thomas alles andere als ein Betrüger, sondern ein Mann, dem viel Un recht getan wo rden war. Nich t zu letzt von mir. »Du hö rst ja gar nicht zu .«
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Ich wand te mich vo m Fen ster ab und blinzelte. Mein Vater sah mich über seine Leseb rille hin weg vo rwu rfsvoll an. »Ich habe dir gerade eine seh r v ernün ftige Theo rie unterbreitet, Edie, un d du hast kein Wo rt davo n mitbek o mmen .« »Doch, habe ich. Gräben , kleine Kinder ...« Ich wand mich innerlich, versuchte es mit: »Boote? « Er schnaubte verächtlich. »Du bist gen au so schlimm wie deine Mutter. Ih r beide seid neuerdings oft so abwesend.« »Ich weiß gar nicht, wov on du red est, Dad .« Ich stützte mich mit ein em Ellb ogen au f d ie Bettk ante. »So , ich bin ganz Oh r. Lass mich deine Th eorie hö ren.« Seine Begeisterung ü berwo g seine Kränkun g, und so ließ er sich nicht zweimal bitten. »Dieser Bericht hier hat mich nachdenklich gemacht. Ein Junge wird aus seinem Zi mmer in einem Herr en hau s in der Näh e von Milderhurst entfüh rt, ein Fall, der nie aufgeklärt wu rd e. Das Fen ster stan d weit o ffen , obwo hl d as Kindermäd chen behau ptet, es sei gesch lossen gewesen , als sie nachgesehen hat, ob die Kin der sch liefen, und au f d em Bo den waren Spuren, die darauf hindeuteten, dass ein e Leiter ben utzt wu rd e. Das war 1 8 7 2 , da war Raymond sech s Jahre alt. Alt genu g, um von der Geschich te gehört zu haben und von ih r beeind ru ckt zu sein, mein st du nicht? « Durchaus möglich, dachte ich. Jedenfalls nicht unmöglich. »Absolut, Dad. Klingt sehr wahrschein lich.« »Der springende Punkt ist, dass die Leiche des Jungen nach in ten siv er Suche ...«, er g rin ste triu mp h ieren d und geno ss es, mich noch ein b isschen auf die Folter zu sp annen, «... nach intensiv er Such e am Grund eines schlammigen Teichs gefunden wurde.« Unsere Blicke begegn eten sich , und sein Läch eln versch wand. »Was ist? Warum siehst du mich so an? « »Ich ... weil es so ein e sch reck liche Gesch ichte ist. Der arme kleine Junge. Die ar men Eltern.« »Ja, natü rlich , aber das ist hund ert Jah re h er, un d alle sind längst tot. Außerdem ist es genau das, was ich meine. Für einen kleinen Jung en, d er in d er Nähe in ein em Schloss woh nte, mu ss es sch reck lich gewesen sein, seine Eltern darüb er red en zu hö ren.«
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Ich mu sste an die Riegel am Kinderzimmerf en ster denken , daran, wie Percy Blyth e mir erklärt h atte, ih r Vater hätte wegen eines traumatisch en Erlebnisses in sein er Kindheit einen Sicherheitsfimmel g ehabt. Ich musste meinem Vater recht geben. »Stimmt.« Er runzelte die Stirn . »Ab er ich weiß immer no ch nicht genau, was das mit d em S chlossgraben zu tun hat. Oder wie der kleine Junge sich in einen Mann verwandelt h at, der am Grund eines schlammi gen Schlo ssg rab en s lebt. Oder waru m die Besch reibung v on dem Mann , wie er au s d em G rab en steigt, so realistisch sein kann ...« Es klopfte leise an der Tü r, un d meine Mutter k am in s Zimmer. »Ich will eu ch ja n ich t stö ren . Ich wollte nu r sehen , ob du deinen Tee sch on g etrunken hast.« »Danke, meine Liebe.« Er hielt die Tasse ho ch, und nach kurzem Zögern trat sie näher, um sie ih m abzunehmen. »Ihr seid anscheinend sch wer besch äftig t«, bemerk te sie, während sie so tat, als interessierte sie sich brennend für einen Teetropfen am Tassen ran d. Sie rieb ihn mit einem Fin ger ab und gab sich alle Mü he, n icht in meine Richtung zu se hen. »Wir arbeiten an einer Theo ri e.« Mein Vater zwinkerte mi r zu , ohne zu bemerk en, dass eine Kältefront das Zimmer in zwei Hälften geteilt hatte. »Dann werdet ih r ja noch eine Weile zu tun haben. Ich sage schon mal Gute Nacht und lege mich ins Bett. Es war ein an stren gend er Tag.« Sie kü sste mein en Vater au f d ie Wan ge und nickte in meine Richtun g, ohne mich anzu sehen . »Gute Nacht, Edie.« »Gu te Nacht, Mu m.« Gott, wie steif wir miteinander umgingen ! Ich schaute ih r nicht n ach , sond ern tat so , als wäre ich in den Au sd ru ck au f mein em Schoß vertieft. Es handelte sich um die zu sammengetackerten Seiten mit den Info rmationen, di e Miss Yeats üb er d as Pemb ro ke-Farm-Institut ausgegraben hatte. Ich überflog die erste Seite, auf der es um die Geschich te des Instituts ging: Gegründet 1 9 0 7 von einem g ewissen Oliv er Sykes — der Name kam mir irgend wie bekannt vo r. Nach einigem Kopfzerbrechen fiel mir wieder ein, dass es sich u m
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den Architekten handelte, der den run den Badeteich au f Schloss Milderhurst en tworfen hatte. Das passte. Wenn Raymond Blythe einem U mweltschutzverein Geld hinterließ, dann mu sste jeman d hinter dem Verein stehen, den er bewun derte. Dasselbe galt fü r jeman den , den er damit beau ftragte, sein geliebtes An wesen zu gestalten ... Ich hö rte, wie meine Mu tter ihre Zimmertür schloss, und atmete erleichtert au f. Ich legte die Un terlagen weg . »Weißt d u, Dad «, sagte ich mit beleg ter Stimme, »ich glau be, d ass du d a eine ganz brauchbare Spu r entd eck t hast. Ich mein e d iese Sach e mit dem See und dem kleinen Jungen.« »Davon rede ich do ch die g anze Zeit.« »Ich weiß . Und ich halte es du rchau s fü r mö glich , dass dieses Ereignis Raymond Blythe zu der Geschichte insp iriert hat.« Er verdrehte die Aug en . »Ja, aber jetzt vergiss mal fü r einen Augenblick das Buch , Ed ie. Wir mü ssen über d ein e Mu tter reden.« »Über Mum? « Er zeigte au f die geschlossene Tü r. »Sie ist ung lück lich , und das bedrückt mich.« »Das bildest du dir ein.« »Ich bin kein Id iot. Sie lässt seit Woch en den Kop f h ängen. Heute hat sie mir erzählt, dass sie die Seiten mit den Wohnungsanzeigen in deinem Zi mmer gefu nden hat, und d ann h at sie angefangen zu weinen.« Meine Mutter war in mein em Zimmer g ewesen? »Mu m hat geweint? « »Sie ist sehr sensib el, das war sie schon immer. Sie trägt das Herz auf der Zunge. Da seid ihr beide euch sehr ähnlich.« Ich weiß nich t, ob er das gesagt hat, u m mi ch au s der Reserv e zu locken , ab er ü ber d ie Bemerku ng , mein e Mu tter wü rd e das Herz au f der Zunge tragen, war ich dermaßen verblüfft, dass mir die Wo rte fehlten . Und wie kam er zu der Behauptung, wir wären un s äh nlich? »Wie ... wie mein st du das? «, stammelte ich. »Das hat sie mir von Anfang an symp athisch gemacht. Sie war so anders als all die blasierten Typen, die ich kannte.
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Als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, war sie in Trän en aufgelöst.« »Wirk lich?« »Wir waren im Kino. Zufällig waren wir die einzigen Zu sch auer. Der Film wa r n icht mal b esonders trau rig , fü r meinen Geschmack jedenfalls nicht, aber deine Mutter h at die ganze Zeit im Du n keln geweint. Sie hat v ersucht, es zu v erbergen , aber als wir aus dem Kino kamen , waren ih re Augen so rot wie dein T-Shirt. Sie hat mir so leidgetan, dass ich sie au f ein Stück Kuchen eingeladen habe.« »Un d wesweg en hat sie so geweint? « »Das weiß ich eigen tlich nicht so g enau . Damals h atte sie ganz offensichtlich nah am Wasser gebaut.« »Nein ... wirk lich? « »O do ch. Sie war seh r sen sib el - und lu stig . Pfiffig und un berech enbar. Sie h atte eine Art, die Dinge zu beschreiben, dass es einem vorkam, als würde man sie zum ersten Mal sehen.« Am liebsten hätte ich gefrag t: »Und was ist dann passiert? «, aber was die Frag e implizierte, nämlich dass sie sich to tal v erändert hatte, erschien mir grausam. Ich war froh, als mein Vater fo rtfu h r. »Das ist alles anders gewo rden «, sagte er, »n achd em das mit deinem Bruder passiert ist. Mit Daniel. Seitdem ist nichts meh r wie früher.« Ich konn te mich nicht erinnern, Daniels Namen jemals aus dem Mu nd mein es Vaters gehö rt zu haben, und ich war so verd attert, dass ich mich wie g eläh mt fühlte. Es gab so vieles, was ich gern gesagt oder gefragt hätte, dass ich gar nicht gewusst hätte, wo ich anfangen sollte, und ich b rach te nu r ein »Oh« heraus. »Es war sch recklich.« Seine Stimme k lang fest, ab er seine Unterlippe verriet ihn . Ein seltsames, unwillkü rliches Zu ck en, das mir fast das Herz b rach. »Es war sch recklich.« Ich berührte leicht seinen Arm, aber er schien es nicht zu bemerken. Er hielt den Blick auf den Teppich vor der Tür geheftet u nd lächelte sch wach über etwas, das nur er sah. Schließlich sagte er: »Er ist immer gehüpft. Das hat ihm ei-
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nen Riesenspaß gemacht. >Ich hüp fe<, sagte er dann . >Ku ck mal, Dadd y, wie ich hüpfe!<« Ich sah ihn vo r mir, meinen kleinen großen Bruder, wie er vo r Stolz strah lend du rch das Haus hüp fte. »Ich hätte ihn so gern k enneng elern t.« Mein Vater legte sein e Hand au f mein e. »Das hätte ich au ch gern erlebt.« Die kühle Nachtlu ft weh te den Vo rh ang gegen meine Sch ulter, und ich frö stelte. »Ich d achte i mmer, wir h ätten ein Gespenst im Haus. Als ich klein war. Manchmal habe ich eu ch beide über ihn reden hö ren, ihr habt seinen Namen gesagt, ab er wenn ich ins Zimmer gekommen bin, habt ih r so fo rt d as Thema g ewech selt. Ich habe Mu m ein mal nach ih m g efragt.« Er sch aute mich an . »Und was hat sie gesag t? « »Sie hat gesagt, ich hätte eine blühende Fantasie.« Dad hob eine Hand und betrachtete sie stirn run zeln d, ballte sie zu r Faust, als wü rde er ein imaginäres Blatt Papier zerknü llen. Dan n seu fzte er. »Wir glaubten, das Rich tige zu tu n. Wir wussten es nich t b esser.« »Ja, d as weiß ich.« »Deine Mutter ...« Er presste die Lippen zu sammen, um gegen sein e Gefü hle anzu kämp fen , un d beinahe hätte ich ih m gesagt, er solle nicht weitersp rech en. Aber ich konn te es nicht. Ich wartete schon zu lange au f d iese Gesch ichte schließlich ging es u m etwas, was mir mein Leben lang g efehlt hatte - und ich war b egierig , jedes noch so kleine Detail zu erfahren. Er wählte sein e nächsten Worte offensichtlich mit groß em Bedacht. »Deine Mutter hat es furchtbar schwer genommen. Sie hat sich selbst die Schuld gegeben. Sie kon nte nicht akzeptieren, dass das, was passiert ist ...«, er schluckte, »... das, was mit Daniel passiert ist... ein Un fall war. Sie hatte sich in den Kop f gesetzt, dass sie daran schuld war, dass sie es verdient hatte, ein Kin d zu verlieren.« Ich war wie beno mme n , n icht nur, weil das, was er mir erzählte, so sch recklich war, so traurig, sondern weil er es üb erhaup t au ssp rach. »Ab er wie ko mmt sie denn au f so etwas? « »Das weiß ich nicht.«
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»Daniels Krankheit war d och nicht erblich b eding t.« »Nein.« »Es war einfach ...« Ich suchte verg eblich nach d en richtigen Wo rten. Er klappte sein Spiralh eft zu und legte es zu sammen mit dem Modermann au f sein en Nachttisch. Offenb ar wü rd en wir heute Abend nich t darau s lesen . »Manch mal sind die Gefüh le eines Men sch en nun ein mal nich t rational, Edie. Zu mindest ob erflächlich betrach tet wirk en sie nicht so . Man mu ss ein bissch en tiefer g raben, wenn man v erstehen will, was dem zugrunde liegt.« Ich konnte nu r nick en. Der ganze Tag war so v errück t gewesen, und jetzt erklärte mir mein Vater auch noch die Abg rün de der men schlichen Psyche. Das war zu viel, um es an einem Tag zu verarbeiten. »Ich hatte immer den Eind ruck, d ass es etwas mit ih rer Mu tter zu tun h atte, mit einem Streit zwischen d en beiden, als dein e Mutter noch ein junges Mädchen war. Seitdem war ih r Verh ältnis zerrüttet. Ich habe nie erfahren , wo ru m es bei dem Streit ging, aber was auch immer d eine Gro ß mu tter g esagt hat, Meredith hat sich daran erinnert, als wir Daniel verloren haben.« »Aber Großmu tter hätte Mu m d och nie wehgetan . Jedenfalls nicht absichtlich.« Er schüttelte den Kopf. »Man kann nie wissen, Edie. Nicht, wenn es um Men schen geht. Ic h konn te es überhaupt nicht leiden, wie deine Groß mu tter und Rita sich ständ ig geg en deine Mutter verbündet hab en. Es hat b ei mir i mmer einen bitteren Nach gesch mack hinterlassen . Wie die beiden sich gegen sie versch wo ren h aben und wie sie dich fü r ih re Zweck e b enutzt haben.« Seine Sichtweise überraschte mich, und es rührte mich , wie liebevoll er das alles sch ild erte. Rita h atte an gedeutet, dass sie meine Eltern für Snobs hielt, dass sie fand, sie wü rd en au f den Rest der Familie hera bblicken, aber so , wie mein Vater es darstellte ... Allmählich fin g ich an mich zu fragen, ob die Dinge vielleicht nicht so ein fach lagen , wie ich an geno mmen hatte.
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»Das Leben ist zu kurz für Ze rwü rfn isse, Edie. Jeden Tag kann es plötzlich vorbei sein. Ich weiß nicht, was zwischen dir u nd deiner Mutter vo rg efal len ist, aber sie ist unglücklich, u nd das macht mich auch unglücklich, und ihr habt hier einen n icht meh r ganz jug endlichen Patienten , der sich gerade von einem Herzin fark t erho lt und d essen Gefühle au ch berück sichtig t werden mü ssen.« Ich lächelte, und er lächelte au ch. »Vertrag dich mit ih r, Liebes.« Ich nickte. »Ich brau che einen klaren Kopf, wenn ich dieses ModermannRätsel lösen soll.« Später an jen em Ab end saß ich auf meinem Bett, die Seiten mit den Vermietung sanzeigen vor mir ausgebreitet, kringelte Angebote für Wohnungen ein , die ich mir sowieso nich t leisten k onnte, u nd dach te über die sen sib le, lustig e, weinen de ju nge Frau nach, die ich nie k ennen gelernt hatte. Diese Un bekannte auf ein em d er alten Foto s - diesen quad ratisch en mit d en abgeru ndeten Ecken und den weichen, abgeschatteten Farb en -, die ein e Schlag hose und eine g eblü mte Blu se tru g u nd einen k leinen Jungen mit Pilzfrisu r und Ledersan dalen an der Hand hielt. Einen kleinen Jung en, der gern hüp fte und dessen Tod sie ih rer Leb en sfreude b eraub en wü r de. Und ich dachte daran, dass mein Vater gesagt hatte, meine Mutter gäbe sich die Sch uld an Daniels Tod. Dass sie überzeugt sei, sie hätte es verdient, ein Kind zu verlieren. Etwas an der Art, wie er d as gesagt hatte, vielleich t, d ass er d as Wort »verloren« benutzt hatte, sein Verdacht, dass es etwas mit einem Streit zwischen meiner Mutter und meiner Großmu tter zu tun hatte, erin nerte mich an den letzten Brief, d en meine Mutter ihren Eltern aus Milderhu rst gesch rieben hatte. Wie sie sie anfleh te, sie noch dort bleiben zu lassen, wie sie ihnen erklärte, sie habe endlich den Ort gefu nden , wo sie hingehö rte, wie sie ihnen beteuerte, dass ih re Entsch eidung nicht bedeute, sie hätten sie »verloren «. Ich spürte, dass es da Zu samme nhänge gab, was meinen Magen aber nicht im Mindesten beeind ruckte. Er unterb rach
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mein e Gedan ken , indem er mich knu rrend d aran erinnerte, dass ich seit Herb erts Lasagn e nich ts mehr gegessen hatte. Es war still im Hau s, als ich leise d u rch d en du nklen Flu r zur Treppe ging. Im V o rb eigehen fiel mir der sch male Lich tstreifen unter der Tü r zum Zimmer meiner Mutter auf. Ich zögerte, das Versprechen, das ich meinem Vater gegeben hatte, mich mit meiner Mutter zu vertragen, no ch im Oh r. Meine Chancen standen schlecht - niemand beherrscht die Kunst, eine Kältefront souverän zu ignorieren, so gut wie meine Mutter -, ab er meinem Vater war es wich tig . Also holte ich tief Lu ft u nd klop fte ganz vo rsich tig an ih re Tü r. Nichts rüh rte sich , und einen Momen t lang ho ffte ich sch on, das Ganze würde mi r erspart bleiben, dann rief sie leise: »Edie? Bist du d as? « Ich ö ffn ete die Tü r. Meine Mu tter saß im Bett, üb er ih r mein Lieblingsgemälde, au f d em der Vollmond ein lak ritzschwarzes Meer in Quecksilb er verwandelt. Sie hatte ih re Leseb rille au f die Nasenspitze geschoben, und au f ih ren Knien lag ein Roman mit dem Titel Die letzten Tage in Paris. Sie sch aute mich un sich er an. »Ich h abe gesehen , dass du noch Licht anhast.« »Ich konnte nicht schlafen.« Sie hob das Buch an. »Lesen hilft manchmal.« Ich nickte, dann schwiegen wir beide. Mein Magen nah m die Stille wahr und meld ete sich zu Wo rt. Ich wo llte gerade in Rich tung Küche flüch ten , als mein e Mutter sag te: »Mach die Tür zu, Edie.« Ich tat ih r den Gefallen . »Komm, setz dich zu mir. Bitte.« Sie nah m d ie Brille ab und hängte sie mit der Kette üb er den Bettp fosten. Ich setzte mich auf die Bettkante und lehnte mich gegen das Kop fteil, wie ich es als Kind an meinem Geburtstag getan hatte. »Mum«, setzte ich an, »ich ...« »Du hattest recht, Ed ie.« Sie schob das Lesezeichen in ih r Buch, klappte es zu , legte es aber nicht auf den Nachttisch. »Ich bin mit dir nach Milderhurst gefahren . Vor vielen Jahren.« Plö tzlich hatte ich das Gefühl, gleich in Tränen au sb rech en zu mü ssen.
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»Du warst damals no ch klein. Ich h ätte nicht g edacht, dass du dich daran erinnern wü rdest. Wir sind nich t lang e geb lie ben. Ich h atte n icht den Mut, durch das Tor zu gehen«, sagte sie, oh ne mich an zu sehen, das Buch fest an ih re Bru st ged rü ckt. »Es war nicht in Ordnun g, dass ich gesagt h abe, du würdest dir das alles nu r einbilden . Es war ein fach ... so ein Sch ock , als d u mich dan ach gefragt hast. Ich war nicht dar auf gefasst. Ich wollte dich nicht anlüg en. Kann st du mi r verzeihen?« Wie konnte man eine solche Bitte ab lehn en? »Ja, natü r lich.« »Ich habe dieses Schloss gelieb t«, sagte sie. »Ich wollte nie wieder weg.« »Ach, Mu m.« Ich hätte sie so gern in d en Arm g eno mme n . »Un d Juniper Blythe, sie hab e ich auch geliebt.« Dann schaute sie mich an , und sie wirkte so verloren, so einsam, dass es mir den Atem raubte. »Erzäh l mir von ih r, Mu m.« Lange sagte sie nichts, und ich sah ih ren Augen an , dass sie weit, weit weg war. »Sie war ... so anders als alle Mensch en, die ich bis dahin gekan nt hatte.« Meine Mutter schob sich eine imaginäre Haarsträhne au s der Stirn. »Sie war bezau bernd. Und das meine ich gan z ern st. Sie hat mich bezau bert.« Ich dachte an die silberh aarig e Frau , der ich in d em dunk len Ko rridor in Schlo ss Milderhurst beg egnet war, wie sich ih r Gesicht v erwan delte, wenn sie läch elte, an To ms leiden sch aftliche Briefe, von d enen Theo mir erzählt hatte. An d as klein e Mädch en au f dem Fo to , das mit seinen g roß en, weit au seinanderstehend en Augen in die Kamera schaute. »Du wolltest nich t zu rück n ach Hau se.« »Nein.« »Du wolltest bei Juniper bleiben .« Sie nickte. »Un d Großmu tter war sau er desweg en.« »Un d wie. Sie wo llte schon se it Monaten, dass ich nach Hause kam, aber ich ... ich hatte sie überredet, mich noch bleiben zu lassen. Dann kam der Luftangriff, und sie waren froh , mich in Sicherheit zu wissen . Aber am End e hat sie
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meinen Vater geschickt, mich zu ho len , und danach bin ich nie wieder im Schloss gewesen. Ab er ich habe mir immer den Kopf darüber zerbrochen ...« »Über Milderhurst?« Sie schü ttelte d en Kop f. »Üb er Junip er un d Mr. Cavill.« Ich bekam tatsächlich eine Gänsehaut und klammerte mich an die Bettkante. »So hieß mein Liebling sleh rer«, fuh r sie fo rt. »Tho mas Cavill. Sie hatten sich verlobt, weißt du, und danach habe ich nie wieder etwas von den beiden geh ö rt.« »Bis d er versch wu ndene Brief vo n Ju niper geko mmen ist.« Als ich den Brief erwähnte, zuckte sie zusammen. »Ja«, sagte sie. »Der dich zu m Weinen gebracht hat.« »Ja.« Ein en Mo men t lang dachte ich, sie würde auch jetzt wieder weinen. »Aber nicht, weil er trau rig war, es war nicht der Brief selb st, der mich zum Weinen gebracht hat. Es waren all die Jahre, die er verschollen war. Ich dachte, sie hätte mich verg essen.« »Ich verstehe.« Ih re Lipp en zitterten. »Ich d achte, sie hätten geheiratet und mich ganz vergessen.« »Ab er d as hatten sie nicht.« »Nein.« »Sie h aben gar nicht geh eiratet.« »Nein, aber das wusste ich ja n icht. Das weiß ich erst von dir. Ich wu sste nu r, dass ich nie wieder von ihn en gehö rt hatte. Ich hatte Juniper etwas geschickt, weißt du, etwas, das mir sehr viel bed eutet hat, und ich habe immer darauf gewartet, dass sie sich meldete. Ich habe gewartet und gewartet und zweimal täglich in den Briefkasten geschaut, aber es ka m einfach nichts.« »Hast du ihr no ch einmal g esch rieb en? Um d ich zu erkund igen, ob sie dein Geschenk bekommen hatte?« »Ein paarmal war ich drauf und dran, aber es kam mir so kläglich vor. Dann habe ich im Lebensmittellad en zu fällig eine von Mr. Cavills Sch western getro ffen, und die h at mir erzählt, er sei mit einer and eren Frau du rchg eb rann t, ohn e seiner Familie davon zu erzählen .«
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»Ach, Mum, das tut mir so leid.« Sie legte ihr Buch n eben sich auf die Decke und sagte leise: »Vo n da an habe ich sie b eid e gehasst. Ich habe mich so verletzt gefühlt. Hass ist wie ein Krebsgeschwür, Edie. Es frisst einen au f.« Ich rück te näher an sie heran und nah m ih re Hand. Sie hielt meine Hand ganz fest, und ich sah, dass ihr Tränen üb er d ie Wangen liefen . »Ich habe sie geh asst u nd geliebt, und es h at so wehgetan.« Sie zog einen Brief au s der Tasche ih res Mo rgenman tels. »Und dann das. Fü n fzig Jah re später.« Es war Junipers verloren g egangen er Brief. Ich nah m ih n en tgeg en, un fähig, ein Wo rt zu sagen, u nsicher, ob sie wollte, dass ich ihn las. Aber sie schaute mich an und nickte. Mit zitternden Fingern nahm ich den Brief au s dem U msch lag und las.
Meine liebste Merry, mein kluges kleines Huhn! Deine Geschichte ist heil hier angekommen, und sie hat mich zu Tränen gerührt. Was für eine großartige Geschichte! Fröhlich und schrecklich traurig und, ach, so wunderbar beobachtet. Was für ein kluges Köpfchen Du bist! Du schreibst so ehrlich, Merry, mit einer Wahrhaftigkeit, die viele anstreben, aber nur wenige erreichen. Du musst weitermachen, es gibt keinen Grund für Dich, nicht genau das aus Deinem Leben zu machen, was Du möchtest. Nichts hält Dich zurück, meine kleine Freundin. Wie gern hätte ich Dir das alles persönlich gesagt, Dir Dein Manuskript unter dem Baum im Park zurückgegeben, in dessen Laub das Sonnenlicht wie kleine Diamanten glitzert, aber ich muss Dir leider mitteilen, dass ich nicht wie geplant nach London fahren werde. Jedenfalls vorerst nicht. Hier in Milderhurst haben sich die Dinge nicht so entwickelt, wie ich gehofft hatte. Ich kann Dir nicht viel erzählen, nur dass etwas geschehen ist und ich in nächster Zeit am besten zu Hause bleibe. Du fehlst mir, Merry. Du bist meine erste und einzige Freundin, habe ich Dir das jemals gesagt? Ich denke oft an unsere gemeinsame Zeit, vor allem an den Nachmittag auf dem Dach, erinnerst Du Dich? Da warst Du erst seit ein paar Tagen bei uns und hattest mir noch nichts von Deiner Höhenangst erzählt. Du hast mich gefragt, wovor ich mich
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fürchte, und ich habe es Dir gesagt. Du bist die Einzige, der ich das je anvertraut habe. Adieu, kleines Huhn. In Liebe, Deine Juniper Ich konnte nicht anders, ich las den Brief noch ein mal, ließ mein e Augen üb er die k rak elig e Handsch rift gleiten. Vieles in dem Brief machte mich neugierig, ganz beso nders ein Detail. Meine Mutter hatte mich den Brief lesen lassen, u m mir etwas üb er Juniper, über ih re Freund schaft mi t ih r zu v ermitteln, aber ich konnte nu r an meine Mutter und mich den ken . Seit ich erwach sen war, bewegte ich mich in der Welt der Sch riftsteller und Manu sk ripte, ich hatte beim Ab endessen zahllose literarische Anekdoten zu m Besten gegeben, ob wo hl ich wusste, dass sie auf taube Ohren stießen. Seit meiner Kin dheit war ich dav on überzeugt, d ass ich au s der Art g esch lagen war. Nie h atte meine Mutter au ch nu r anged eutet, dass sie selb st auch einmal schriftstellerische Ambitionen gehabt hatte. Rita hatte es natü rlich erwähnt, aber bis zu dem Au g enblick , als ich Junipers Brief in den Händ en hielt, während meine Mutter mich nervös b eobachtete, hatte ich ih r im Grunde nicht geglaub t. Ich gab mein er Mu tter den Brief zurück und schluckte den Kloß, der sich in mein em Hals gebildet hatte. »Du hast also früh er gesch rieb en.« »Ach, das war nu r eine kind ische Marotte, das hat sich mit der Zeit gegeben .« Aber an der Art, wie sie mein em Blick au swich, erkannte ich, dass es wesentlich mehr gewesen war. Ich hätte gern weitergebohrt, si e gefrag t, ob sie immer n och hin und wied er etwas sch rieb , ob sie ihre Gesc hichten aufgehoben hatte, ob sie sie mir zeigen würde. Ab er ich ließ es bleiben. Sie starrte so traurig auf den Brief, dass ich es nicht fertigb rach te. Stattd essen sagte ich : »Ihr wart gute Freundinnen.« »Ja.« Ich liebte sie, hatte meine Mutter gesagt. Meine erste und einzige Freundin, h atte Juniper gesch rieb en. Und doch hatten sie sich 1 9 4 1 von einander verab sch ied et und nie wieder Kontakt zu-
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einand er au fg eno mme n . »Was mein t Juniper, Mu m? Was glaub st du, was sie damit mein t, etwas sei geschehen? « Meine Mutter strich den Brie f glatt. »Ich neh me an, sie mein t, d ass Mr. Cavill mit ein er and eren Frau d urchgebran nt ist. Das hast du mir doch erzählt.« Das stimmt e, ab er nur, weil ich es in dem Mo men t geg laubt hatte. Inzwischen, nach meinem Gesp räch mit Th eo Cav ill , glaubte ich das nicht meh r. »Un d wo rau f sp ielt sie am Ende an? «, frag te ich. »Als sie sch reibt, du h ättest sie gefrag t, wovor sie sich fürchtet? Was meint sie damit?« »Das ist ein bissch en merk würdig «, sagte meine Mutter. »Ich nehme an, dieses Gesp räch war in ihren Augen bedeutsam für unsere Freundschaft. Wir hab en viel Zeit miteinan der verb racht, so viel gemeinsam unternommen ... Ich weiß auch nicht, warum sie ausgerechnet den Nach mittag auf dem Dach besond ers hervorhebt.« Als sie mich an schaute, sah ich, dass sie tatsäch lich ratlos war. »Juniper war ziemlich verwegen , sie h atte keine Ang st vo r Ding en, vo r den en and ere sich fü rchten. Das Ein zig e, was ihr Angst machte, war die Vorstellung, so zu enden wie ih r Vater.« »Wie Raymond Blythe? In welcher Hinsicht?« »Das hat sie mir n ie gesagt, nicht genau. Er war ein verwirrter alter Herr, und er war Schriftsteller, so wie sie - ab er er glaubte, dass die Figuren aus sein en Ro manen lebendig geworden waren und ihn verfolgten. Ich bin ih m einmal per Zufall begegnet. Ich war in einem Ko rrido r falsch abg ebog en und in die Näh e seines Turms geraten. Er war wirklich Fu rcht ein flöß end. Vielleicht hat sie ja das gemeint.« Möglich. Ich dachte an mein en Besu ch in Milderhu rst und an d ie Gesch ich ten über Juniper, die man mir erzählt hatte. An die verlorene Zeit, an die sie sich nicht erinnerte. Mitzuerleben, wie ihr Vater im Alter den Verstand v erlo r, mu ss te fü r ein jung es Mädch en, da s eben falls Aussetzer h atte, in der Tat beäng stigend gewesen sein. Und es hatte sich ja au ch herau sgestellt, d ass sie allen Grund gehabt hatte, sich zu fürchten. Meine Mutter fuhr sich seufzend mit der Hand du rchs Haar. »Und ich habe das Gefühl, ich rich te überall nu r Unheil an.
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Juniper, Mr. Cavill - und jetzt siehst du dir mein etwegen schon die Wohnungsanzeig en an.« »Nein, d as stimmt n icht.« Ich lächelte. »Ich sehe mir die Wohnungsanzeig en an, weil ich d reißig Jahre alt bin und nicht ewig zu Hause wohn en kann, egal, wie viel b esser der Tee sch meckt, wenn du ihn mach st.« Jetzt musste sie auch lächeln, und ich emp fand tiefe Zuneigun g zu ihr, ein Erwach en von Gefü hlen , die lan ge in mir geschlu mmert hatten. »Wen n, dann bin ich h ier die Un heilstifterin. Ich hätte deine Briefe nicht lesen dü rfen. Kannst du mir das verzeihen? « »Was für eine Frag e.« »Ich wo llte dich nu r besser kennenlernen, Mum.« Sie berührte meine Hand g anz zart, und ich wu sste, dass sie verstanden hatte. »Ich hö re d einen Magen bis hier knu rren , Edie«, war alles, was sie sag te. »Ko mm, lass un s in d ie Kü ch e g ehen , dann mache ich dir etwas Leckeres zu essen.«
Eine Einladung und eine Neuauflage Während ich mir den Kopf darüber zerbrach, was zwischen Th o mas und Junip er v o rgefallen war und o b ich je eine Chance bekommen würde, das herau szu fi nden, p assierte etwas völlig Unerwartetes. Es war Mittwochmittag, und Herbert und ich kehrten mit Jess von un sere m Verd auung sspazierg ang in Kensingto n Gard en s zurück. Wobei das Wo rt Spaziergang zu falschen Assoziationen verleiten könnte: Jess geht nicht gern spazieren, und sie hält nicht mit ih rem Widerwillen h interm Berg und bleib t alle zwanzig Meter steh en , u m irgen d wo nach ein em geheimn isvo llen Geruch zu schnüffeln. Als Herbert und ich uns während einer dieser Schnüffelpau sen die Beine in den Bauch standen, fragte er: »Wie steht's denn so an der Heimatfront? « »Es herrscht tatsächlich Tau wetter.« Ich sch ild erte ih m ku rz die neuesten Entwicklungen. »Ich will ja nicht zu früh frohlocken, ab er es sieh t so au s, als wü rde sich un ser Verhältnis bessern.«
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»Dann hast du dein e U mzug sp läne also vo rerst au f Eis gelegt? « Er zog Jess von einer v erdächtig stink enden Pfütze weg. »Go tt, nein. Mein Vater redet schon dav on, mir ein en Mo rgenmantel mit Initialen zu kaufen und im Bad einen dritten Handtuchhaken anzu b rin gen , sob ald er wied er au f d en Beinen ist. Ich fü rch te, wen n ich nicht b ald die Flu cht erg reife, bleib e ich bis an mein Lebensende dort hängen.« »Klingt ja fu rchtbar. Gib t's denn was Intere ssan tes au f dem Wohnungsmarkt? « »Jede Menge. Ich mu ss mein en Chef nu r noch u m eine saftige Gehaltserhö hung anhauen, um mir eine von diesen Woh nun gen leisten zu kö nnen. Und? Wie stehen die Ch ancen? « Ich bewegte meine Hand wie ein Marionetten spieler. »Tja«, sagte Herbert, d rü ckte mir Jess' Leine in die Hand und ho lte seine Zigaretten aus der Tasche. »Dein Chef kann dir zwar keine Gehaltserh öhung spendieren, aber er hat vielleicht eine Idee.« Ich hob eine Braue. »Was denn für eine Idee?« »Eine ziemlich gute, glaube ich.« »Ach ja?« »Alles zu seiner Zeit, meine Liebe.« Er zwinkerte mir zu, die Zig arette im Mundwin kel. »Alles zu sein er Zeit.« Als wir in Herb erts Straße ein bogen , sahen wir d en Briefträger vor der Tür stehen, der gerade die Post du rch den Briefschlitz schieben wollte. Herbert tippte sich zum Gruß an den Hut, nahm die Sendu ngen entgegen und schloss die Tü r au f. Wie ü blich verzog Jess sich sch nu rstrack s au f ih r Kissen unter Herberts Sch reibtisch , mach te es sich gemü tlich und bedachte un s mit einem ungnädigen Blick. Herb ert und ich haben unsere festen Rituale. Als Herbert, nachdem e r d ie Tü r geschlo ssen h atte, fragte: »Tee od er Post, Edie?«, war ich bereits au f dem Weg in die Küch e. »Tee«, sagte ich. »Kümmere du dich u m d ie Po st.« Das Tablett stand schon parat - in diesen Dingen ist Herbert sehr penibel -, und unter eine m k arierten Küch entu ch lagen frisch geback ene Brötch en zu m Abk ühlen . Wäh rend ich ein Kännch en mit Sah ne und ein Schälchen mit selbst gemachter Marmelad e füllte, überflo g Herbert die Tag esko rresp onden z.
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Als ich mit dem Tablett in s Büro kam, sagte er: »Sieh mal einer an.« »Was ist? « Er schaute mich über den Brief hin weg an . »Ein Jobangebo t, wü rde ich sag en.« »Von wem denn? « »Von einem ziemlich g roß en Verlag.« »Ganz schön unverschämt!« Ich reich te ihm eine Tasse. »Ich nehme an, du wirst denen umg eh end mitteilen , dass du einen Job hast, mit dem d u vo llauf zu frieden bist.« »Das würd e ich selb stverständl ich tu n «, sagte er. »Aber das Angebot ist nicht für mich . Sie wollen dich, Edie. Dich und niemand anderen.« Der Brief kam von dem Verlag, bei dem Raymond Blythes Modermann erschien en war. Eine Tasse damp fenden Darjeeling und eine d ick mit Marmelade besch mierte Brö tch enhälfte vo r sich, las Herb ert mir den Brief vo r. Dann las er ihn no ch einma l. An schließend erklärte er mir s einen Inhalt in einfachen Worten, denn obwohl ich seit zehn Jahren im Verlagswesen arbeitete, war ich vor Verblüffung vo rübergeh end begriffsstutzig: Au s Anlass des fünfundsiebzig sten Jahrestag s seiner Erstveröffen tlichung sollte im ko mmen d en Jah r der Modermann neu aufgelegt werden. Und der Verlag bat mich, zu dieser Jubiläumsausgabe ein Vo rwort zu sch reiben. »Du n imms t mich au f den Arm ...« Er schü ttelte den Kop f. »Aber das ist ... das k ann ich nicht glauben «, sagte ich. »Waru m ich? « »Das weiß ich nicht.« Er d reh te den Brief um, sah, dass die Rückseite leer war, schaute mich mit großen Augen an. »Das steht hier nicht.« »Wie seltsam.« Ein Kribbeln unter meiner Haut. Jeman d sch ien an den un sichtbaren Fäden zu zup fen , die mich mit Milderh u rst verbanden . »Was soll ich tun? « Herbert reichte mir den Brief. »Ich würde sagen, als Erstes rufst du diese Nu mmer an.« Mein Gespräch mit Jud ith Water man , Verlag sleiterin b ei Pipp in Book s, war kurz und nicht un freundlich . »Ich will ganz offen sein«, sagte sie, als ich ihr erklärte, wer ich war
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und waru m ich an rief. »Wir hatten einen anderen Autor beau ftragt, das Vorwo rt zu sch reiben , un d wir waren seh r zu frieden mit ih m. Aber die Töchter von Raymond Blyth e war en nich t einv erstand en . Die ganze Sach e gestaltet sich ziemlich ko mp liziert. Das Buch soll An fang näch sten Jah res herauskommen, wir stehen also unter Zeitdruck. Wir arbeiten seit Monaten an der Jubiläu msau sgabe. Unser Auto r hatte bereits ein ige vo rb ereitende Gespräche geführt und war mit seinem ersten Entwurf schon ziemlich weit fortgeschritten, als wir aus heiterem Himmel einen Anruf von den Schwestern Blythe erhielten, die uns mitteilten , dass sie mit de m Vo rwo rt nich t einverstan den sind.« Das klang glaubhaft. Ich konnte mir lebhaft vo rstellen, wie Percy Blythe es geno ss, den Leuten das Leben schwer zu machen. »Aber wir wollen diese Au sg abe herausbringen«, sagte Judith. »Wir starten eine neu e Reihe, eine Serie von Klassikern mit einleitend en bio grafisch en Essays, und Die wahre Geschichte vom Modermann als einer unserer meistverkauften Titel ist ideal fü rs So mmerprogramm.« Ich nickte, als könnte sie mich sehen . »Ja, das v erstehe ich «, sagte ich. »Ich weiß n ur nicht, o b ich ...« »Das Problem«, unterbrach sie mich, »ist eine der drei Schwestern.« »Ach so? « »Persephone Blythe. Ein un erwartetes Ärg ernis, da d er Vo rschlag, den Modermann neu au fzulegen, u rsp rüng lich von ih rer Zwillingsschwester kam. Wie auch immer. Die urheberrechtlich en Vereinbaru ngen sind ko mpliziert, und daher könn en wir ohn e d ie Zustimmu ng der Schwestern nichts mach en, das Projekt steht au f der Kipp e. Ich bin vor vierzehn Tagen selbst nach Milderhurst gefahren, und sie waren so gütig, das Projekt weiterhin gu tzuh eißen, allerd ings nur mit einem Vo rwo rtschreiber nach ih rem Gesch mack.« Sie u nterb rach sich, und ich hörte sie etwas trinken . »Wir hab en ihn en eine Liste mit Autoren geschickt, einsch ließlich Arbeitsp roben, ab er sie wollten k einen d avon. Persephone Blythe b esteht darauf, dass Sie das Vo rwort schreiben.«
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Ich mu sste mich verhö rt h aben. »Persephon e Blyth e hat mein en Namen gen annt? « »Der Vo rschlag kam von ih r.« »Sie wissen aber doch , dass ich keine Sch riftstellerin bin?« »Ja«, sagte Judith. »Und d as habe ich den Schwestern Blythe auch erklärt, aber das stört sie nicht im Geringsten . Offen bar wissen d ie Damen , wer Sie sind und was Sie tun. Genauer gesagt, Sie sind die einzige Person, die sie zu akzeptieren bereit sind, was un sere Optionen ziemlich einsch ränk t. Entweder Sie schreiben das Vo rwo rt, od er das Projekt stirbt.« »Verstehe.« »Hören Sie ...« Papier raschelte. »Ich bin davon überzeugt, dass Sie das hinkriegen . Sie sind Lekto rin, Sie können mit Wo rten umgehen ... Ich h abe mich mit ein igen Ih rer Kunden in Verbindung gesetzt, und d ie hatten alle eine seh r hoh e Meinun g von Ihnen .« »Wirk lich?« Ach , schreckliche Eitelkeit, die nach Komplimenten giert. Sie tat rech t d aran , nicht darau f einzug ehen. »Wir bei Pip pin sehen d as po sitiv. Wo mö glich sind die Schwestern deshalb so heikel, weil sie endlich bereit sind, darüber zu reden, was Blythe zu der Geschichte in spiriert hat. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, was für ein großartig er Coup es wäre, wenn wir herau sfinden kön nten, ob eine reale Begebenheit hinter der Gesch ich te steckt, wie man che vermu ten.« Das brauchte sie wahrlich nicht. »Also dann. Was sagen Sie? « Was sollte ich sagen? Percy Bl ythe h atte mich p ersönlich ang eheuert. Man bat mich, über den Modermann zu sch reiben, mich noch einmal mit den Schwestern Blythe zu unterhalten, sie noch einmal in ihrem Sch lo ss aufzu suchen . Was konn te ich sag en? »Einv erstanden.« »Habe ich dir eigentlich schon mal erzählt, dass ich bei der Pre¬miere von dem Stück war?«, sagte Herbert, nachdem ich ihm von dem Gespräch erzählt hatte. »Vom Modermann?« Er nickte. Jess schob ih ren Kopf au f sein e Füße. »Hab e ich das nie erwähnt? «
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»Nein.« Dass er no ch nie darü ber gesprochen hatte, war nicht so seltsam, wie man meinen k önnte. Herb erts Eltern waren Th eaterleu te, und er hatte als Kind die meiste Zeit auf der Vorbühne gespielt. »Ich war so ungefäh r zwölf«, sagte er, »und ich erinnere mich daran, weil es eins der erstaunlichsten Stücke war, die ich je gesehen hatte. Einfach groß artig . In der Mitte der Bühne stand das Schlo ss, aber es war au f einer runden, sch iefen Eben e mo ntiert, sod ass der Tu rm in den Zu schauerrau m h in ein ragte und wir durch das Fenster in das Dachzimmer sehen kon nten , wo Jane un d ih r Brud er schliefen . Der Graben befand sich am Rand d er Scheib e, und das Gan ze wurde von hinten beleuchtet, sodass, als d er Mod ermann au ftauch te und am Schlo ss hochk letterte, lange Sch atten auf die Zuschauer fielen un d man den Eindruck hatte, als wü rd en der Sch lamm, d ie Dunkelheit und das Ung eheu er einen d irekt b erühren.« Ich schüttelte mich demonstrativ , woraufhin Jess mir einen misstrau ischen Blick zuwarf. »Der Sto ff, au s dem Albträu me sind . Kein Wund er, dass du dich so gut daran erinn erst.« »Genau , aber es war meh r als das. In Erinneru ng geb lieb en ist mir der Aben d vo r allem wegen d er Au freg ung im Zusch auerraum.« »Welche Au fregung? « »Ich habe von den Seiten kulissen au s zugesehen, sod ass ich alles genau beobachten konn te. Ein Tu mu lt in der Auto ren lo ge. Die Leute sin d aufgestanden, ein kleines Kind h at g eschrien, jemand jammerte vor Schmerzen. Ein Arzt wurde gerufen, und einige Familienmitglieder haben sich hinter die Bühne zu rück gezogen .« »Meinst du die Familie Blythe? « »Das nehme ich jedenfalls an, aber ich muss gestehen, dass ich d as Interesse verlo ren hab e, nach dem d ie Au fregung sich geleg t h atte. Das Theaterstück ging weiter ... Ich glaube nicht, dass der Vorfall in den Zeitungen erwähnt wu rd e. Ab er fü r einen kleinen Jung en wie mich war d as alles ziemlich spannend.«
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»Hast du je erfahren, was in der Loge passiert ist? « Ich musste an Juniper denken, an die An fälle, von d enen ich so viel gehö rt hatte. Herb ert zuckte d ie Schultern und trank seinen Tee aus. »Es war nur eins von vielen Theatererlebnissen.« Er zündete sich eine Zigarette an, inhalierte und sch üttelte d ann un gläu big den Ko p f. »Aber ist das nicht verrückt, dass die klein e Edie Burchill jetzt höchstpersönlich zu m Schloss zitiert wird , h m? « Ich strahlte, ich konnte nich t anders. Doch dan n mu sste ich daran denken , wie es dazu gekommen war. »Der andere tut mir leid, der Schriftsteller, den sie zu erst beau ftragt hatten.« Herbert machte eine weg werfend e Han dbewegung , und Asche rieselte auf den Teppich. »Das ist nicht deine Schu ld, Edie. Percy Blythe will d ich ... Sie ist auch nu r ein Mensch.« »Da bin ich mir n icht so sicher - ich habe sie ken nengelernt.« Er lachte. »Der Schriftsteller wird darüber hinwegkommen. In d er Liebe, im Kri eg und im Verlag swesen ist alles erlaubt.« »Judith Waterman sagt, er hat sogar angeboten, mir sein e Unterlagen zu r Verfügung zu stellen. Sie schickt sie mir heute Nachmittag.« »Na, das ist doch wirklich anständig von ih m.« Das war es in der Tat. Dann fiel mir noch etwas anderes ein. »Du fühlst dich doch nicht im Stich g elassen , wenn ich fü r ein paar Tag e n ach Milderhurst fah re, oder? Ko mmst du allein k lar?« »Es wird schwer werden «, an twortete er mit kummervoller Miene. »Aber ich werde durchhalten.« Ich streckte ihm die Zunge herau s. Er stand auf und klop fte seine Taschen nach seinem Schlüsselbund ab . »Wirklich sch ade, d ass ich mit Jess zu m Tierarzt mu ss u nd nicht hier bin, wenn die Unterlagen von dein e m Kollegen kommen. Streich mir die besten Stellen an , ja? « »Na klar.« Er rief Jess, dan n n ahm er mein Gesicht so fest in beide Hände, dass ich seinen Pu ls sp ürte, un d d rückte mir einen
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stoppeligen Kuss auf jed e Wange. »Du wirst d as scho n mach en, meine Liebe.« Das Päckchen von Pippin Books kam a m Nachmittag, als ich gerade Feierabend machen wollte, per Kurier. Ich überlegte, ob ich es mit nach Hause neh men und do rt in aller Ru he ö ffnen und du rch gehen sollte, en tschied mich jedoch dagegen . Ich mach te das Licht wi eder an u nd riss es au f d em Weg zu rü ck zu m Sch reibtisch auf. Zwei Tonbandkassetten fielen heraus, als ich einen dicken Stapel Papier au s dem U msch lag hervo rzog . Es waren über zweihundert Seiten, am linken Ran d saub er mit zwei mächtigen Klammern zu sammen gehalten. Ob enau f lag ein Brief von Judith Waterman mit ein er Ku rzbesch reibung des Projekts: NEW PIPPIN CLASSICS ist eine spannende neue Reihe von PIPPIN BOOKS, eine Auswahl unserer besten Klassiker für Jung und Alt. Mit ihrem neuen Umschlagdesign, den schönen Einbänden und farbigen Vorsatzblättern, mit eigens für NEW PIPPIN CLASSICS verfassten biografischen Einleitungen werden die NPC-Titel in den kommenden Jahren für größte Aufmerksamkeit im Buchhandel sorgen. Alle NPC-Titel werden nummeriert erscheinen, um die Leser zum Sammeln anzuregen, und den Auftakt macht als Nr. i der Mo dermann. Am unteren Rand des Schreibens befand sich eine handschriftliche No tiz von Jud ith: Edie, was Sie schreiben, bleibt natürlich Ihnen überlassen, aber als wir das Projekt in Angriff nahmen, waren unsere Überlegungen folgende: Über Raymond Blythe ist bereits vieles bekannt, auch dass er sich konsequent darüber ausgeschwiegen hat, was ihn zu der Geschichte inspiriert hat. Es wäre daher vielleicht interessant, wenn das Vorwort ein besonderes Augenmerk auf die drei Schwestern richtet und beschreibt, wie es für sie war, an dem Ort aufzuwachsen, wo der Mo dermann entstand. Sie werden feststellen, dass unser ursprünglicher Autor, Adam Gilbert, den Interview-Abschriften detaillierte Beschreibungen seiner Eindrücke von Schloss Milderhurst beigefügt hat. Diese können Sie gern als Grundlage für Ihren Text benutzen, aber Sie werden zweifellos Ihre eigenen Recherchen anstellen wollen. Was diese angeht, hat Persephone Blythe sich überraschend entgegenkommend gezeigt und vorgeschlagen, dass Sie den Schwestern einen Besuch abstatten. (Es erübrigt sich zu erwähnen, dass wir, falls sie etwas über den Ursprung der Geschichte verlauten lässt, großes Interesse daran hätten, dies in Ihrem Vorwort zu lesen!)
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Unser Budget ist nicht sehr groß, aber es reicht, um Ihnen einen Aufenthalt im Dorf Milderhurst zu finanzieren. Wir haben ein Arrangement getroffen mit Mrs. Marilyn Bird von der nahe gelegenen Pension »Home Farm«. Mr. Gilbert war sehr zufrieden mit dem Service und der Sauberkeit des Zimmers. Die Mahlzeiten sind im Zimmerpreis inbegriffen. Mrs. Bird hat uns mitgeteilt, dass das Zimmer ab dem 5. Oktober für vier Tage frei ist. Bitte lassen Sie mich bei nächster Gelegenheit wissen, ob wir das Zimmer für Sie reservieren sollen. Ich legte den Brief weg, fuhr mit der Hand üb er das Deck blatt von Adam Gilberts Manuskript und ko stete den wund erbaren Augenblick aus. Ich glaube, ich habe tatsäch lich geläch elt, als ich die erste Seite u mb lätterte. Au f jeden Fall habe ich mir auf die Lippe gebissen, und zwar ein bissch en zu fest, weswegen ich mich so genau daran erinnere. Vier Stu nden später hatte ich alles gelesen und saß nich t meh r in einem stillen Büro in Lond on. Also , natü rlich saß ich dort, aber andererseits au ch nicht. Ich war meilenweit weg in einem düsteren, verwinkelten Schlo ss in Kent, in Gesellschaft dreier Schwestern, eines überlebensgroßen Vaters und mit einem Manuskrip t, das noch zu ein em Buch werden mu sste, das wiederum erst zu einem Klassiker av ancieren musste. Ich legte das Manuskript beiseite, stieß mich auf meinem Stu hl vo m Sch reibtisch ab . Dann stand ich au f und reck te mich . Ich hatte Verspan nungen bek o mmen - man hatte mi r mal g esagt, dass d as leicht passiert, wenn man beim Lesen die Beine au f d en Sch reib tisch leg t. Währen d ich mein e Schultern massierte, versuchte ich meine Gedank en zu sortieren . Zunäch st einmal war ich von Adam Gilberts Arbeit sch wer b eeind ruckt. Bei den Au fzeichnungen handelte es sich um Abschriften von au f Tonb and au fgenommenen Gesp rächen , sie waren auf ein er altmo d ischen Sch reib masch ine getipp t wo rden, mit saub eren , hand sch riftlichen An merkun gen an den Rändern und so detailliert, dass sie sich lasen wie ein Drehbuch (in Klammern war v ermerkt, wenn einer der Gesp räch sp artner sich auch nu r k ratzte). Un d das war wahrscheinlich der Grund, warum mir sofort eins klar wu rd e: Es feh lte etwas. Ich kniete mich auf meinen Schreibtisch-
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stuh l und blätterte den g anzen Stapel noch einmal durch, um mich zu verg ewissern, sah sogar au f den Rück seiten d er Blätter nach ... Kein Wo rt über Juniper Blythe. Ich tromme lte mit den Fingern auf dem Manuskript: Es gab du rchau s gute Grü nde, warum A dam Gilb ert sie übergan gen haben könnte. Das Material war auch ohne ih r Mitwirk en scho n u mfang reich genug , sie war noch nicht ein mal gebo ren, als der Modermann zum ersten Mal herauskam, sie war Juniper ... Trotzdem ließ es mir keine Ruh e. Und wenn mi r etwas keine Ruh e lässt, fängt die Perfektionistin in mir an, sich v errücktzu machen. Und das ist kein angenehmer Zu stand. Es gab drei Blythe-Sch western. Desweg en sollte konnte - man ihre Gesch ich te nicht sch reiben , o hne Juniper zu Wo rt kommen zu lassen. Adam Gilberts Adresse und Telefonnummer fanden sich am un teren Rand seines Anschreibens, und ich überlegte ungefäh r zehn Sek unden lan g, ob man jeman den, der in Tenterden, Old Mill Cottage, wo hnte, u m h alb zehn Uhr abend s noch anrufen konnte, dann g riff ich zu m Telefo n und wäh lte die Numme r. Eine Frau meld ete sich: »Hallo, hier Button.« Etwas an ih rem langsamen, melodischen Tonfall erinnerte mich an die Filme aus den Vierzigerjah ren, wo noch ein Fräulein vom A mt d ie Verb indun g h erstellte. »Hallo «, sagte ich. »Mein Name ist Edie Bu rchill, aber ich fürchte, ich habe mich verwäh lt. Ich wollte eig entlich Adam Gilbert sp rech en.« »Nein, nein , Sie sind richtig v erbun den . Ich bin Mr. Gilberts Krankenschwester.« Krankenschwester. O Gott. Ein Inv alid e. »Tut mir leid , Sie so spät noch zu stören. Vielleich t sollte ich ein andermal an rufen.« »Aber nein, das ist nicht nötig. Mr. Gilb ert ist noch in seinem Arbeitszimmer. Ich sehe noch Licht unter der Tür. Er hält sich ein fach nicht an d as, was d er Arzt ih m rät, ab er so lange er sein schlimmes Bein nicht belastet, k ann ich nicht viel tun. Er ist nun einmal ein Sturkopf. Einen Moment, ich stelle Sie zu ihm durch .«
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Ein Krachen, als die Frau das Telefon ablegte, dann eilige, sich entfernende Sch ritte. Ein Klop fen an einer Tü r, ein paar gemur melte Worte, und wenig e Sek unden später n ah m Ad am Gilbert das Gesp räch entgegen. Nachdem ich mich vorgestellt und d en Grund meines An ru fs g enan nt hatte, schwieg er zu näch st, und ich en tschuldig te mich noch einmal für die unerfreulichen U mstände, die uns in Kontakt gebracht h atten. »Bis heute wusste ich noch nicht einmal etwas von einer neuen Klassikerreihe bei Pippin. Ich habe k ein e Ahnu ng, waru m Percy Blyth e sich quer gestellt h at.« Er sagte immer n och nich ts. »Es tut mir wirklich seh r leid. Ich versteh e das alles nich t. Ich bin der Frau erst einmal begegnet, und wir haben uns nur ganz ku rz un terhalten. Ich habe diese Situ ation au f kein en Fall willentlich herbeig efüh rt.« Dann merkte ich, dass ich ohn e Sinn und Verstand d rau flosplapperte, riss mich zusammen und hielt d en Mund . Endlich sagte er in einem fast d rohenden Ton: »Also schön , Edie Bu rchill, ich v erzeihe Ihnen, dass Sie mir den Auftrag weggeschnappt haben. Unter einer Bedingung. Falls Sie irgendetwas üb er die Entstehung des Modermann herausfind en, mö chte ich es als Erster erfahren.« Mein Vater würde nicht begeistert sein. »Selbstverständlich.« »Ab gemacht. Was kann ich fü r Sie tun? « Ich erklärte ihm, dass ich gerade sein Manusk rip t gelesen hatte, b rachte meine Bewund erung fü r seine Gründ lichk eit zu m Au sd ruck und sagte: »Es g ibt nu r ein s, was mir ein bisschen Kopfzerbrechen mach t.« »Un d das wäre? « »Die dritte Schwester. Juniper. Über sie steht nichts in Ihren Au fzeichnu ngen .« »Nein«, sagte er. »Über sie g ibt es nich ts.« Ich wartete, und als er n ich ts weiter dazu sagte, fragte ich: »Sie h aben also nicht mit ih r gesp ro chen? « »Nein.« Wieder wartete ich. Wieder folgte nich ts. Offenbar wollte er es mir nicht leicht machen .
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Schließlich räusperte er sich und sag te: »Ich h abe u m ein Gespräch mit Juniper Blythe gebeten , aber sie stand nicht zu r Verfügung .« »Ach? « »Nun, sie war natürlich an wesend - ich glaube nich t, dass sie das Schloss häufig verlässt -, aber die älteren Schwestern wollten mich nicht mit ih r red en lassen.« Mir dämme rte etwas. »H m.« »Sie ist krän klich, ich nehme also an, dass es daran lag, ab er ...« »Ab er was?« Er sch wieg , und ich konnte ihn för mlich vor mir sehen, wie er nach Worten suchte, um sich zu erklären. Schließlich ein Seu fzer. »Ich hatte den Eindruck, dass sie bestrebt waren, sie zu schützen.« »Wovo r zu schü tzen? Vor Ihnen?« »Nein, nicht vor mir!« »Wovo r dann? « »Das weiß ich nicht. Es war nu r so ein Gefühl. Als fü rchteten sie sich vor dem, was sie sagen könn te. Was es fü r ein Lich t auf die Familie werfen kö nnte.« »Au f die Sch western? Au f den Vater? « »Vielleicht. Oder au f sie selb st.« Ich mu sste an das seltsame Gefüh l denk en, das mich in Sch lo ss Mild erhu rst beschlichen hatte, an den Blick, den Saffy und Percy au sg etauscht hatten , als Juniper mich im g elb en Salon angefah ren hatte, an Saffys Unruh e, als sie bemerkte, dass Juniper sich entfernt hatte, dass sie sich im Ko rrido r mit mir unterhalten u nd vielleich t etwas g esagt hatte, das sie hätte für sich behalten so llen. »Aber waru m? «, sagte ich, mehr zu mir selb st als zu ih m, während ich an den versch wunden en Brief d achte, an d ie An gst, die zwisch en den Zeilen zu lesen war. »Was könn te Juniper zu verb ergen haben? « »Tja«, sagte Gilbert und senkte die Stimme. »Ich gebe zu , dass ich ein b isschen nachgefo rscht hab e. Je hartnäckig er sie Juniper da raushalten wollten, umso meh r weckte das meine Neugierd e.«
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»Un d? Was h aben Sie herausgefunden? « Vor Erregung d rü ckte ich den Hö rer so fest ans Oh r, dass es sch merzte. »Ein Vo rkommn is im J ah r 1 9 3 5 , eine Art Skan dal.« In seiner Stimme schwang Genugtu ung mit, und ich stellte mir vor, wie er sich in seinem Stuhl zu rü cklehnte, die Hausjacke über dem Bauch gespann t, die Pfeife zwischen den Zähnen . Ich senkte ebenfalls die Stimme . »Was denn fü r ein Skan dal? « »Irgendeine >üble Angeleg enheit<, wie man mir sagte, in die der Sohn eines Angestellten verwickelt war. Einer der Gärtner. Ich konn te nichts Genaues darüb er zutage fördern und hab e au ch n irgend wo eine o ffizielle Bestätigung des Vorfalls gefunden. Aber es heißt, die b eid en wären aneinan dergeraten, und Juniper h ätte den Jung en grün un d blau g eprügelt.« »Juniper?« Ich sah die zerbrechliche alte Frau vo r mir, der ich in Milderhurst begegnet war, das zarte Mädchen au f den Fotos. Ich mu sste mich b eherrschen , u m n icht laut zu lach en. »Mit d reizehn? « »So hat ma n es mir erzählt, au ch wenn es ziemlich un glaub lich klin gt, wie ich zugeb en mu ss.« »Aber das hat er den Leuten erzählt? Dass Juniper ihn grün und blau g ep rüg elt hat? « »Er hat nichts dergleich en gesagt. Ich kann mir n ich t vo r stellen, dass es viele junge Bu rschen gibt, die freiwillig zugeben wü rden , dass sie von einem hag eren Mäd chen wie Ju niper verp rüg elt wo rden sind. Die Mu tter des Ju ngen ist au f dem Schloss vorstellig gewo rden , u m sich zu b esch weren . Ang eblich hat Raymo nd Blythe ihr Geld gegeben, damit sie den Mun d hielt. Offenbar wu rde das Geld offiziell als Bonus fü r den Vater d es Ju ngen gezahlt, der schon sein Leben lang als Gärtner auf dem Anwesen arbeitete. Aber es kam z u Gerüchten, und im Dorf wu rd e no ch lang e d arüber geredet.« Ich hatte immer mehr den Eind ruck , dass die Leute sich mit Vorliebe über Juniper das Maul zerrissen: Sie stammt e au s einer bedeutenden Familie, sie war schön und klug, sie war fü r mein e Mu tter zu min dest - bezaubern d. Und d ennoch : Juniper sollte als jung es Mädchen einen gleichaltrigen Jungen
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verp rügelt haben? Das klang, ge lin de gesag t, ziemlich un wahrscheinlich. »Hö ren Sie, es ist wahrscheinlich nichts weiter als ein Gerücht.« Gilbert klang wieder etwas lebh after, als er meine Ged ank en au ssp rach. »Es h at bestimmt n ichts damit zu tu n, dass d ie Sch western mich nicht mit ih r reden lassen wollten.« Ich nickte lan gsam. »Viel wahrscheinlicher ist, dass sie ihr den Stress ersparen wollten. Sie ist kränklich, fü rch tet sich vo r Fremd en. Außerdem war sie noch n icht mal gebo ren, als der Modermann geschrieben wurd e.« »Ja, vermutlich haben Sie recht«, sagte ich . »Ich denk e au ch, dass nicht meh r dahintersteck t.« Aber ich war kein eswegs überzeugt. Zwar glau bte ich nich t, dass d ie Zwillin ge sich wegen eines läng st vergessenen Vo r falls mit dem So hn d es Gärtners sorgten, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas anderes der Grund für ihr Verhalten sein musste. Nachdem w ir d as Gespräch beendet hatten , befand ich mich wieder in diesem u nh eimlichen Ko rrid o r, schaute von Juni per zu Saffy und Percy und fühlte mich wie ein Kind, das alt genug ist, um zu spüren , dass etwas nicht stimmt, aber noch nicht in der Lag e, die Zeichen zu deuten. Am Tag meiner Abreise nach Milderhurst kam meine Mu tter am frühen Mo rgen in mein Zimmer. Die Sonne war noch nicht hinter Sing er & Son s au fg egangen , aber ich lag sch on seit ungefähr einer Stunde wach , aufgeregt wie ein Kind am ersten Schultag. »Ich wo llte dir etwa s geben«, sagte sie. »Das heißt, ich mö chte es dir leihen. Es bedeutet mir sehr viel.« Sie nah m etwas au s der Tasche ihres Morgenmantels. Einen Moment lang schaute sie mich prüfend an , dann gab sie mir ein k lein es, in b raunes Leder geb und enes Buch . »Du hast doch gesagt, du wolltest mich besser kennenlernen.« Sie bemühte sich , tapfer zu sein, mit fester Stimme zu sprechen. »Hier steht alles d rin . Üb er sie. Die kleine Meredith, die ich ein mal war.«
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Ich nah m das Tag ebuch so vo rsichtig entgeg en wie ein e Mutter ihr Neugeborenes. Üb erwältig t vo n seiner Ko stbarkeit, än gstlich, es zu beschädigen, verwundert und gerührt und d ankb ar, d ass sie mir einen solchen Schatz anv ertrau te. Ich wu sste nicht, was ich sag en sollte, d as heißt, ich hätte alles Mögliche sagen kön nen, aber ich hatte einen Kloß im Hals, der sich über Jahre dort gebildet hatte und sich nicht lö sen wollte. »Dan ke«, krächzte ich, dann brach ich in Tränen aus. Die Augen meiner Mutter wu rden feucht, und im n ächsten Mo ment lagen wir un s weinend in den Armen und hielten einander fest.
3 Samstag, 2 0 . April 1 9 4 0 Es war wirklich typisch . Nach einem sch recklich kalten Win ter war der Frühling mit einem strahlenden Lächeln eingezogen, und der Tag war einfach perfekt, ein Gottesgesch enk, d as Percy al s persön lich e Krän kung emp fan d. Es war der Tag , an dem sie ih ren Glauben verlor. Sie stand in der Dorfkirche am Ende der Familienbank, d ie ih re Groß mutter entworfen und die William Morris geschnitzt hatte, während Mr. Bro wn, der Vik ar, Harry Rogers und Lucy Middleton zu Mann und Frau erklärte. Sie füh lte sich wie in einem Alb trau m, was allerdin gs auch an dem Wh isk y liegen konn te, mit dem sie sich fü r das Ereig nis gestärkt hatte. Als Harry seine frisch angetraute Frau anlächelte, fiel Percy einmal mehr auf, wie gu t er au ssah. Nicht au f konven tio nelle Weise, er war nicht schneidig , er wirkte attraktiv , weil er ein guter Mensch war. Das hatte sie schon so empfund en, als sie noch ein Kind war und er ein junger Bursche, der in s Haus kam, um die Uhren ihres Vaters zu reparieren. Etwas an der Art, wie er sich bewegte, d ie bescheiden e Haltu ng seiner Schultern, hatte darau f hinged eutet, dass er nicht übermäßig von sich selb st eing eno mmen w ar, wie so viele 359
Männer. Außerdem war er v on Natu r aus seh r bedäch tig , was vermuten ließ, dass er zärtlich und fürsorglich war. Sie hatte als Kind auf d en Trep pen stu fen geho ckt und du rch d as Trep pengeländer zug esehen , wie er selb st die ältesten , stö rrisch sten Uh ren im Schloss wieder zu m Leben erweckte. Falls er sie bemerkt haben so llte, so hatte er es sich nie an me rken lassen. Auch jetzt sah er sie n icht. Er hatte nu r Augen fü r Lucy. Lucy strahlte und wirkte ganz so wie eine Frau, d ie sich glücklich schätzte, den Mann zu heiraten, den sie üb er alles liebte. Percy kannte Lucy schon lang e, aber sie h ätte sie niemals fü r so eine gute Schau spielerin gehalten. Ein unan genehmes Gefühl machte sich in ih rem Magen breit, und sie sehn te sich dan ach , d ass diese Qual endlich ein Ende finden würd e. Natü rlich hätte sie der Hochzeit fern bleiben kön nen - unter dem Vorwand, sie sei krank oder zu sehr von ihren Kriegsp flichten bean sp ruch t -, aber das hätte nur für Gerede geso rgt. Lu cy hatte über zwanzig Jah re im Schloss g earbeitet, und es war und enkb ar, dass kein Mitglied der Familie Blythe in der Kirche anwesend war, wenn sie vo r den Trau altar trat. Ihr Vater war alt und krank, Saffy war mit den Vorbereitungen fü r den Besuch von Meredith s Eltern beschäftigt, und Juniper - n ich t gera de die geeignetste Kandidatin, d ie Familie zu vertreten - h atte sich mit Pap ier un d Stift in s Dach zimmer v erk ro chen . So war die Sache an Percy häng en geblieben. Sich vor der Verantwo rtu ng zu d rücken kam nicht in frage, nich t zuletzt, weil Percy in d em Fall ih rer Zwilling ssch wester eine Erklärung hätte geben mü ssen. Saffy, kreuzunglück lich darüber, d ass sie die Ho chzeit verp asste, hatte einen detaillierten Bericht verlang t. »Das Kleid, die Blumen , wie sie ein ander an seh en «, hatte sie an den Fingern abgezäh lt, als Percy sich ge rade au f den Weg mach en wollte. »Ich will alles g enau wissen .« »Ja, ja«, hatte Perc y geantwortet, während sie sich fragte, ob die kleine Flasche Whisky in das Hand täsch chen passen wü rd e, d as Saffy ih r aufgedrängt hatte. »Vergiss nicht, Daddy seine Medikamente zu geben. Ich habe sie au f den Tisch in der Eingan gshalle gelegt.«
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»Auf den Tisch in der Eing ang shalle, in Ordnung .« »Achte un bed ingt d arau f, d ass er sie pün ktlich ein nimmt. Denk an d as letzte Mal. So etwas darf n ich t noch ein mal passieren.« »Nein«, hatte Saffy ihr beigepflichtet, »das darf nich t passieren. Die arme Meredith d achte, sie wäre einem Gespen st beg egn et. No ch d azu einem ziemlich ungestü men .« Auf den Stufen vo r der Haustür hatte Percy sich noch einmal umgedreht. »Und, Saffy?« »Ja? « »Sag mir Bescheid , falls irgendjemand zu Besuch kommt.« Grau same Ablasshändler, die von der Verwirrung eines alten Mann es profitieren wollten. Die ih m in den Oh ren lagen, seine Äng ste ausnutzten , seine uralte Schu ld . Die mit ih ren katholischen Kreuzen heru mfu chtelten und latein ischen Ho ku spo ku s vo r sich hin mu r melten und ih rem Vater ein red eten, die Gespen ster, die er sah, seien echte Dämonen. Alles nur, da war Percy sich g anz sich er, damit sie sich n ach seinem Tod das Schloss unter d en Nagel reißen kon nten . Percy pulte an ih rer Nag elh aut und frag te sich , wie lange es woh l noch dauern wü rde, bis si e en dlich nach draußen gehen und eine rauchen konnte, o der ob d ie Möglich keit bestan d , unb emerkt au s der Tü r zu schlüpfen, wenn sie nur bestimmt genug au ftrat. In d em Aug enblick sagte der Vik ar etwas, und alle stan den au f. Harry nah m Lu cy an d er Hand u nd füh rte sie du rch den Mittelgang zum Au sgang, und er hielt ih re Hand so zärtlich , dass Percy ihn ein fach nicht h assen konn te, nicht einma l jetzt. Das frisch vermählte Paar strahlte vor Glück, und Percy tat ih r Bestes, eb en falls ein glü ckliches Läch eln au fzu setzen. Es gelang ih r sogar, in den allgemeinen Beifall ein zu stimmen , als die beiden an ihnen vorbeigingen und in den Sonnensch ein hin au straten . Sie spürte immer noch die Anspannung in ih ren Händ en, d ie sich an die Kirchenb ank gek rallt hatten, und das masken hafte Lächeln in ihrem Gesicht, und sie ka m sich vor, als wäre sie eine Marionette. Jemand hoch oben an der Deck e der Kirch e zo g an einem u n sichtbaren Fad en, un d sie nah m ih re Hand tasche, versuchte ein Lachen und tat, als wäre sie ein lebendiges Wesen.
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Die Mag nolien blü hten, genauso wie Saffy es gehofft hatte. Es war einer von diesen seltenen, ko stb aren Ap riltagen, an denen sich d er So mmer ankü ndigt. Saffy mu sste un willk ü rlich lächeln. »Los, du lahme Ente«, rief sie und d rehte sich nach Meredith um. »Es ist Samstag, die Sonn e scheint, deine Eltern sind au f dem Weg hierh er, u m dich zu besuch en. Du h ast keinen Grund, so herumzu trödeln.« Gott, d as Mädch en hatte vielleicht eine Laune. Man hätte meinen sollen, sie freu te sich darauf, ihre Eltern zu sehen, stattd essen hatte sie den ganzen Morgen nu r Trüb sal geblasen. And ererseits konn te Saffy sich natürlich denk en , waru m. »Keine So rge«, sagte sie, als Meredith neben ihr stand. »Jun iper wird bald wied er he rau sko mmen . Es dau ert meist nicht länger als einen Tag.« »Aber sie ist schon seit dem Ab end essen da ob en. Sie hat die Tü r abgeschlo ssen und antwo rtet nicht, wen n ich klop fe. Ich v ersteh das nicht.« Meredith kniff die Augen zu einer komisch verzweifelten Gri masse zu sammen , eine Angewohn heit, die Saffy sehr lieben swert fand. »Was macht sie da ob en? « »Schreiben«, antwortete Saffy knap p. »So ist Jun iper nun mal. So war sie schon immer. Aber es dauert nie lange, dan n ist sie wieder normal. Hier«, sie reichte Meredith einen Stapel Ku chenteller, »d ie kannst du schon mal auf dem Tisch verteilen. Sollen wir deine Eltern mit d em Rück en zu r Hecke setzen, damit sie in den Garten schauen können? « »Einv erstanden «, sagte Meredith , schon etwas munterer. Saffy lächelte in sich hinein . Mered ith Baker war so wohlerzogen — eine wahre Wohltat, nach allem, was sie mit Ju niper bereits erlebt hatten -, und sie in Milderhu rst zu hab en, war eine g roß e Freude. Nichts konn te ein müd es, altes Gemäuer leichter zu m Leben erwecken als ein Kind u nd viel Lich t un d Lach en, das war genau das, was der Arzt ihnen vero rdnet hatte. Selbst Percy h atte die Kleine lieb gewon nen, n achdem sie zu r Ken ntnis genommen hatte, dass den Schnitzereien an den Treppengeländern du rch die An wesenheit des Kind es keine Gefahr drohte.
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Ab er die g röß te Üb erraschung war Junipers Re aktion gewesen . Sie hatte Mered ith von An fang an in s Herz geschlo ssen , und Saffy erlebte zu m ersten Mal, d ass ih re jüng ere Schwester Gefühle fü r ein en anderen Menschen zeigte. Manchmal hö rte Saffy d ie beid en im Garten plaudern und kichern und war jedes Mal freud ig üb errascht üb er die au frichtige Herzlichk eit in Junipers Stimme. Saffy h ätte nie ged ach t, d ass sie einmal das Wort herzlich benutzen würde, um ihre kleine Schwester zu charakterisieren . »Lass uns für June mitdecken«, sagte sie und zeigte au f den Tisch. »Gleich neben dir ... Und Percy setzen wir hierhin.« Meredith h ielt in ih rer Arbeit inne. »Und Sie? «, fragte sie. »Wo werden Sie sitzen? « »Also, meine Kleine ...« Saffy ließ die Hand sinken , in d er sie die Kuchengabeln hielt. »Ich wü rd e mich lieb end gern zu euch setzen, das weißt du . Aber was solche Din ge ang eht, hat Percy seh r trad itionelle Vo rstellung en. Sie ist d ie Älteste, und da un ser Vater nicht an den Tisch ko mmen kann , ist sie die Gastg eberin. Das k ling t wah rschein lich fü r dich alles ziemlich albern un d formell, sehr altmodisch, aber so wird das nun mal bei un s gemach t. So mö ch te es un ser Vater.« »Aber ich verstehe nicht, warum Sie nicht beide mit am Tisch sitzen könn en.« »Tja, eine von un s mu ss im Hau s bleiben fü r den Fall, dass unser Vater Hilfe braucht.« »Ab er Percy ...« «... freut sich seh r au f den Nach mittag . Sie k ann es gar nicht erwarten, deine Eltern kennenzulernen.« Saffy sah , dass Meredith von ih ren Arg u menten nicht üb erzeugt war, ja, mehr no ch, die arme Kleine wirkte so enttäuscht, dass Saffy wohl alles getan hätte, um sie wieder au fzu mu ntern . Sie suchte n ach Au sflü chten, aber als Meredith einen tiefen, traurig en Seu fzer au sstieß , wu rd e Saffy sch wach . »Ach, Merry«, sagte sie, während sie verstoh len einen Blick in Rich tung Hau s warf. »Eigen tlich dü rfte ich es dir nicht sagen. Aber es gib t tatsäch lich noch einen anderen Grund, warum ich im Haus bleiben mu ss.« Sie setzte sich ans Ende der wack eligen Gartenb ank und bedeutete Meredith , neben ihr Platz zu nehmen. Sie holte tief
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Lu ft un d atmete en tschlossen aus. Dann erzählte sie Meredith von dem An ru f, den sie am Nach mittag erwartete. »Der Mann ist ein sehr berühmter Sammler in London«, sagte sie. »Ich habe ih m geschrieben, nachdem ich eine An zeige in d er Zeitung gelesen habe, in der er eine Assistentin su cht, die ih m h ilft, seine Samml ung zu k atalo gisieren. Und er hat mi r geschrieben und mir mitgeteilt, dass ihm me ine Bewerbung gefallen hat und er mich heute Nach mittag an ru ft, um d ie Einzelheiten mit mir zu besprechen.« »Was sammelt d er Mann denn? « Saffy verschränkte die Hände unterm Kinn . »Archäo logisch e Funde, Kunst, Bücher, schöne Dinge - ein fach himmlische.« Merediths sommersprossiges Gesicht leu chtete au f, und Saffy dachte no ch einmal, was fü r ein nettes Mädchen sie do ch war und wie sehr sie sich in d em h alben Jah r, seit sie bei ihnen war, entwickelt hatte. Wie mager war sie anfangs gewesen! Doch das blasse Städterkind mit den ärmlichen Kleidern hatte sich als ein klu ges Köp fchen erwiesen mit einem unstillbaren Wissen sdurst. »Kann ich mir d ie Sammlu ng ein mal an schau en? «, fragte Meredith. »Ich wollte sch on immer mal Fu nd e au s Ägyp ten sehen.« Saffy lachte. »Natürlich kann st du das. Ich bin sich er, dass es Mr. Wieks eine Freu de sein wird, ein er k lugen jung en Dame wie dir sein e Kostb arkeiten vo rzu füh ren .« Als Mered ith sie g lücklich anstrahlte, meldete sich Saffys sch lech tes Gewissen. War es n icht seh r unvernün ftig, ih r erst solche Flau sen in den Ko p f zu setzen und dan n v on ihr zu verlan gen, dass sie keinem ein Wo rt darüber sag te? »Also, Merry«, sagte sie ernst. »Das ist alles sehr aufregend, ab er du darfst nicht vergessen , dass es sich um ein Geheimnis handelt. Percy weiß no ch nichts davon, und sie soll auch nichts davon erfah ren.« »Waru m d enn nicht? « Meredith s Aug en weiteten sich . »Was würde sie denn tun? « »Sie wäre nicht glücklich, d as kan n ich dir versichern. Sie wird nicht wollen, dass ich gehe. Sie mag keine Veränderungen, versteh st du, sie möchte, dass alles immer so bleibt, wie
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es ist, dass wir d rei zusammen hier im Schlo ss wohnen. Sie hat so ein e beschützerisch e Ad er. So war sie scho n imme r.« Meredith nick te und nahm diesen Hinweis zur Familiensitu ation mit solchem Ernst au f, dass Saffy fast damit rechnete, sie wü rd e ih r kleines Notizbuch zücken und es aufschreiben. Aber Saffy begriff, waru m Meredith sich gerade für diesen Aspek t interessierte; sie hatte genug von Merediths älterer Schwester gehört, um zu wissen, dass Meredith von dieser nichts dergleichen kannte. »Percy ist meine Zwillingssch wester, und ich liebe sie sehr, ab er man chmal, meine k leine Merry, mu ss man au ch an sich selbst denken . Das Glück im Leben k o mmt nicht von allein , man mu ss danach g reifen .« Sie lächelte und wid erstand der Versu chung, Meredith zu erzäh len, d ass es and ere Gelegen heiten gegeben hatte, die sie verpasst hatte. Einem Kind ein Geheimn is an zuvertrauen war eine Sach e, es mit den Enttäu schun gen eines Erwach senen zu b elasten war etwas gan z an deres. »Ab er was ist, wenn Sie n ach Londo n fah ren? «, fragte Meredith . »Dann erfährt sie es doch so wieso.« »Ich sage es ihr natü rlich vorher«, erwiderte Saffy lachend. »Ich habe nicht vor, bei Nacht und Neb el zu versch win den , keine Sorge. Gan z bestimmt n icht. Ab er ich will mir vo rh er gen au üb erlegen , wie ich es ih r beib ring e, ohn e ih r weh zu tu n. Bis dahin ist es mir lieber, wenn sie nichts d avon erfäh rt. Versteh st du das? « »Ja«, sagte Meredith ein bisschen atemlos. Saffy biss sich au f d ie Lippe. Sie hatte das ungute Gefüh l, dass sie einen g roßen Fehler g emach t hatte, Meredith davon zu erzäh len. Dabei h atte sie sie nur ein bisschen aufmuntern wollen. Als Saffy eine Weile schwieg, glaubte Meredith, sie traue ih r nicht zu , ein Geheimn is zu hüten. »Ich sage ihr nichts, versp rochen . Kein Wort. Ich kann Geheimnisse sehr gut fü r mich beh alten .« »Ach, Meredith.« Saffy lächelte wehmütig. »Daran zweifle ich nicht. Das ist es nicht ... ja, ich fürchte, ich muss mich bei dir entschu ldig en. Es war falsch, dich zu bitten, Percy etwas zu verheimlichen. Kannst du mir verzeihen? «
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Als Meredith feierlich nickte, entdeckte Saffy ein Fu nkeln in ih ren Augen, wah rsch ein lich machte es sie sto lz, wie eine Erwach sene beh andelt zu werden. Saffy mu sste daran denken, wie sie es in Mered ith s Alter kau m erwarten k onnte, en dlich erwach sen zu werden, und sie fragte sich, ob es möglich war, den Weg eines anderen Menschen zu verlangsamen . War es überh aupt zulässig , es zu versuchen? Ab er es kon nte doch nicht v erwerflich sein , Mered ith davo r bewahren zu wollen, zu schnell erwach sen zu werden und mit d en Enttäuschungen des Erwach senenleben s kon fron tiert zu werden, so wie sie es bei Jun iper versucht hatte. »So, meine Kleine«, sag te sie und nah m Mered ith den letzten Teller aus der Hand . »Ich mache das hier fertig . Unternimm n o ch was Sch önes, bis deine Eltern kommen , der Tag ist viel zu herrlich, um zu arbeiten . Pass nur au f, dass dein Kleid nich t schmutzig wird .« Meredith trug ein s von den Trägerkleidern, die Saffy ihr genäht hatte, als sie zu ihnen geko mmen war, ein hübsch es Kleid au s einem Stoff von Liberty, den sie schon vo r Jahren bestellt hatte, nicht, weil sie ein Kinderkleid hatte näh en wollen, sondern einfach , weil d er Sto ff ih r so g ut gefallen hatte. Seitdem hatte er im Nähzimmer gelegen und darauf gewartet, dass Saffy einen Verwen dung szweck d afü r fan d. Während Meredith zwischen den Bäumen versch wand, vergewisserte sich Saffy, dass alles au f dem Tisch seine Ord nung hatte. Meredith lief ziello s durch das h ohe Gras, schlug mit eine m Stock nach den Halmen un d fragte sich, wie es sein konn te, dass die Ab wesenheit einer Person ein en Tag so v erderb en konnte. Sie ging über den Hüge l bis zum Bach und folgte ihm bis zur Brücke an der Zufahrt. Sie überlegte, ob sie no ch weiter gehen sollte. Vielleich t bis in den Wald. Tief h inein, dorth in, wo kein Son nenlicht mehr durch die Baumkronen drang, die Forellen verschwanden und das Wasser so dick wirkte wie Sirup. Immer tiefer hinein, bis sie an den vergessenen Teich un ter dem ältesten Baum des Cardarker-Walds gelang te. An diese rabensch warze Stelle, die ihr so unheimlich erschien en war, zu Anfang,
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als sie no ch n ich t lang im Schloss war. Ih re Eltern wu rd en erst in ungefäh r einer Stund e erwartet, sie hatte noch Zeit, und sie kannte den Weg , man mu sste nu r d em g lucksend en Bach folgen ... Aber ohne Juniper wü rde es kein en Spaß machen. Dann war es nu r dunkel und feuch t und stink ig. »Ist es nicht wunderbar hier? «, hatte Juniper gesagt, als sie zum ersten Mal gemeinsam dort gewesen waren. Meredith hatte sich eher un wohl gefühlt. Der alte Baumstamm, au f dem sie gesessen hatten, war k ühl u nd feucht, und ih re Sto ffschu he waren ganz n ass gewesen, weil sie unterwegs an einem Stein ab gerutscht war. Es gab noch einen an deren Teich au f dem An wesen, wo Sch metterling e und Vögel umherflatterten, wo an einem Ast eine Schaukel hing , die im So nnen licht hin- und hersch wang, und sie hatte sich sehn lich st gewün scht, sie wü rd en d en Tag do rt verb ringen. Aber sie hatte nichts g esagt. Juniper war so begeistert von d em Ort gewesen , dass Meredith die Schuld bei sich selb st gesucht, sich fü r k in disch geh alten hatte, geg laub t hatte, sie wü rde sich einfach nicht g enug Müh e geb en . Sie hatte sich ein Herz gefasst, gelächelt und d ann gesagt: »Ja.« Und dann noch einmal mit etwas meh r Nachd ruck: »Ja, es ist wunderbar hier.« Mit einer ein zig en fließenden Bewegung war Juniper aufgestanden , hatte die Arme au sgebreitet und war auf Zehenspitzen auf einem u mgestürzten Baumstamm balanciert. »Es sind die Schatten «, h atte sie gesagt, »die Art, wie das Schilfroh r sich am U fer wiegt, beinah e heimlich , der Geruch nach Schlamm und Feuchtigkeit und Fäulnis.« Sie hatte Meredith von der Seite angelächelt. »Es ist wie in Urzeiten. Wenn ich dir sag en wü rd e, wir hätten eine un sichtbare Sch welle in die Vergangenheit übersch ritten , wü rdest du mir glauben? « Meredith war ein Schauer über den Rück en gelaufen, genau wie jetzt, und irgendetwas h atte in ih rem Kin derkö rper mit unerklärlicher Dringlich keit zu po chen begonn en, und sie hatte plötzlich eine tiefe Sehnsucht empfunden, ohne zu wissen, wonach . »Mach d ie Augen zu und ho rch«, hatte Juniper geflüstert und einen Fin ger an die Lipp en gelegt. »Dann kan nst du hö ren , wie die Spinn en ihre Netze weben.«
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Meredith schloss die Augen. Lauschte auf den Chor der Grillen, das gelegentliche Plätsch ern einer Fo relle, d as Brummen eines Traktors in der Ferne ... Und da war no ch ein anderes Geräusch. Eins, das überhaupt nicht hi erherp asste. Es war ein Moto r, erkannte sie, g anz in der Näh e. Und er kam i mmer näher. Sie öffnete die Augen und sah es. Ein schwarzes Auto, das die Zu fahrt hinun terfuh r. Meredith konn te nu r staun en. Es kamen nu r selten Besuch er, und Autos no ch seltener. Kau m jemand hatte Benzin üb rig, u m irgendjeman dem mit d em Au to einen Besuch abzustatten , und d iejenig en , die noch welch es h atten, so schien es Mered ith , sp arten es au f, u m nach No rd en flieh en zu können, wenn die Deutschen das Land üb erfielen. Selb st d er Priester, der d en alten Mann im Tu rm regelmäßig aufsuchte, kam neuerdings zu Fuß. Bei diesem Besucher hier mu sste es sich um eine wichtig e Persönlich keit hand eln, jemanden, der wegen irgendeiner Kriegsangelegenh eit gek o mmen war. Als das Auto an ihr vo rb eifuhr, legte der Fahrer, ein Mann, den Meredith n ich t kannte, eine Hand zu m Gruß an sein en schwarzen Hut und nick te Meredith streng zu . Sie schau te ih m mit zusammengekniffenen Augen nach. Das Auto verschwand hinter einem Wäldchen und tau chte ku rz darau f a m Ende der Zufahrt wieder au f, ein sch warzer Fleck , der in die Tenterden Road einbog . Meredith gäh nte, und im n äch sten Augenb lick hatte sie d as Auto samt Fahrer wieder vergessen. In der Nähe eines Brück enp fo sten s wuch sen wild e Veilch en, und sie k onnte nicht widerstehen, ein paar davon zu pflücken. Als sie ein hübsches, dickes Sträußchen beisammenhatte, kletterte sie au f die Brücke, setzte sich au f das Geländ er und v ertrieb sich die Zeit mi t Tagträumen. Zwischen du rch warf sie die Veilch en eins nach dem anderen in d en Bach un d schaute zu, wie sie in der sanften Strömung Pu rzelbäume schlugen . »Guten Morgen.« Sie blickte au f und sah Percy Blythe auf sich zukommen, die ihr Fahrrad neben sich her schob , einen hässlichen Hut auf dem K opf und eine Zigarette in der Han d. Die stren ge Sch wester, wie Meredith sie in sgeh eim n an nte. Diesmal lag
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noch etwas anderes in ih rem Gesichtsau sd ruck , sie kam ih r trau rig vo r. Ab er vielleich t war es nur der Hut. Meredith sag te: »Hallo «, und klammerte sich an das Geländer, u m nicht herunterzu fallen . »Oder ist es schon nach Mittag? « Percy blieb stehen , schüttelte ihr Han dgelenk und warf einen Blick auf ihre Ar mbanduh r. »Ku rz nach halb. Du verg isst doch n icht, rechtzeitig zu m Tee zu k o mmen, oder? « Sie zog lange und tief an ihrer Zigarette. »Deine Eltern wären bestimmt ziemlich enttäuscht, wenn sie dich nich t antreffen wü rden , nach dem sie so weit gefahren sind.« Meredith vermu tete, dass es ein Sch erz sein so llte, aber sie konnte nichts Humorvo lles an Percy entdecken , deswegen war sie sich nicht sicher. Fü r alle Fälle lächelte sie höflich. Schlimms tenfalls, sagte sie sich, würde Percy denken, sie hätte die Bemerkung überhö rt. Aber Percy schien gar nicht auf sie zu ach ten. »Also dann «, sag te sie, »ich hab e zu tun .« Sie nickte zu m Ab sch ied, dann setzte sie ih ren Weg in Richtun g Sch lo ss fo rt.
4 Als Mered ith ih re Eltern endlich en tdeckte und sie die Ein fah rt heraufko mmen sah , wu rde ih r ganz flau . Ein en ku rzen Augenblick lang war ih r, als se he sie in der wirk lich en Welt zwei Men schen au s einem Trau m, sie waren ih r v ertrau t und gehörten doch nicht hierher. Dann war das Gefü hl verflog en, und sie sah, dass es ihre Mu m und ih r Dad waren, die endlich angekommen waren . Und sie hatte ihnen so viel zu er zählen. Sie rannte au f sie zu , die Arme weit au sg eb reitet, und ih r Dad kniete sich hin, damit sie sich in seine starken Ar me werfen konnte. Ih re Mu m d rü ckte ih r ein en Kuss au f die Wange, was ungewohnt war, aber doch schön. Zwar wu sste sie, d ass sie eigentlich schon zu alt dafü r war, ab er da weder Rita noch Ed da waren und sie d amit au fziehen kon nten , ging sie den ganzen Weg an der Hand ih res Dads und erzählte pau senlo s v o m Sch loss und der Bibliothek und den Wiesen und d em Bach u nd d em Wald. 369
Percy erwartete sie bereits am Tisch, eine Zigarette in der Hand, die sie au sd rückte, als sie sich näherten . Sie glättete ihren Rock, streckte ein e Han d au s und begrüß te die Besu ch er, wie es sich gehörte. »Und wie war die Zugfahrt? Hoffen tlich nicht zu an strengend? « Es war ganz normal, das zu fragen, sogar h ö flich, ab er Me redith hö rte Percys hochnäsigen Ton mit den Ohren ihrer Eltern und wünsch te, die sanfte Saffy wäre an ihrer Stelle d a, u m sie zu beg rüßen. Prompt klang die Stimme ihrer Mu m dünn und argwöh nisch, als sie an twortete: »Sie war lang. Wir mu ssten immer wieder anhalten, um die Züge mit den Trupp en vo rbeizulassen. Wir haben die meiste Zeit au f irgendwelchen Nebengeleisen ge standen .« »Na ja«, sagte ih r Dad. »Unsere Jung s mü ssen ja irg endwie an die Front kommen. Diesem Hitler zeigen, dass England nicht mit sich spaßen lässt.« »Ganz recht, Mr. Baker. Aber nehmen Sie doch Platz«, sagte Percy und zeigte auf den Tisch. »Sie mü ssen ja u mk o mmen vo r Hung er.« Percy schenk te Tee ein u nd verteilte Saffys Ku chen , und sie un terhielten sich ein bissch en steif üb er die überfüllten Züge und üb er den Krieg (Dänemark hatte k apituliert, fo lgte als Näch stes No rwegen? ) und die Aussich ten , ihn zu gewinnen. Meredith knabberte an ih rem Kuchen und schaute zu. Sie war davon überzeugt gewesen, dass ihre Eltern sich nach einem Blick au f das Schlo ss und au f Percy Blythe mit ihrem vornehmen Akzent und der Haltung, als h ätte sie einen Sto ck verschluckt, abweisend v erhalten wü rd en, aber bisher lief alles ziemlich glatt. Meredith s Mu m war allerdin gs ziemlich still. Sie hielt ir gend wie ängstlich die Handtasche auf ih rem Schoß umklammert, was Meredith wun derte, denn sie konn te sich nicht erinnern, ihre Mutter schon einmal äng stlich erlebt zu haben. Sie fü rchtete sich weder vor Ratten n och vor Spinn en, nicht einmal v or Mr. Lane von gegenüber, wenn der mal wied er zu lange im P ub gewesen war. Ihr Dad wirk te etwas entspannter, er nickte interessiert, als Percy vom An griff der Spitfire-Jag d flugzeuge berichtete und von den Hilfspaketen für die Soldaten in Frankreich, und er nippte seinen Tee aus einer
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handbemalten Po rzellantasse, als wü rd e er d as jed en Tag mach en . Na ja, fast. In seinen Pran ken sah das Po rzellan eh er wie ein Pup pen service aus, und Meredith dach te, dass ih r noch nie aufgefallen war, wie groß seine Hände waren. Plö tzlich spü rte sie, wie lieb sie ihn h atte, und sie legte ih m vo rsichtig eine Hand au f die Hand , die neben seiner Untertasse lag. In ih rer Familie war es nicht üblich, körp erliche Zuneigung zu zeigen, u nd er sah sie überrascht an. Dann drückte er ku rz ihre Hand. »Wie läu ft's den n mit der Schule, meine Kleine? « Er knuffte Meredith mit der Schu lter u nd zwinkerte Percy zu . »Un sere Rita ist ja vielleicht d ie Hübsch ere, ab er un sere kleine Merry ist die Klügere.« Meredith lächelte stolz. »Ich lerne jetzt hier, Dad, hier i m Sch lo ss. Saffy un terrichtet mich. Du mü sstest mal die Bib liothek sehen, da stehen no ch mehr Bücher als in der mobilen Bücherei. An allen Wänd en Bücherregale b is zu r Decke. Und ich lerne jetzt sog ar Latein .« Latein mach te ihr a m meisten Spaß . Kläng e aus der Vergangenh eit, v oll von tiefer Bedeu tung . Uralte Stimmen im Wind . Mered ith schob ih re Brille h och, sie verrutschte o ft, wenn sie au fg eregt war. »Und ich lerne Klavier.« »Meine Schwester Serap hina ist ho cherfreu t über die Fo rtschritte Ihrer Tochter«, sagte Percy. »Sie macht sich au sge zeichnet, wenn man bed enkt, d ass sie vo rher no ch nie ein Klavier geseh en hat.« »Wirk lich?« Ih r Dad bewegte die Hände, als wüsste er nicht, wohin damit. »Meine Kleine kann Musik machen? « Meredith strah lte. »Ein bisschen.« Percy schenk te Tee nach. »Vielleicht mö chtest du n achh er mit deinen Eltern ins Mu sikzimmer g ehen und ihnen etwas vo rspielen?« »Hast du das gehö rt, Mum? Unsere Meredith kann schon et was vorspielen.« »Ich hab's gehört.« Etwas im Gesicht ihrer Mum schien sich zu verhärten. Es war derselbe Ausd ru ck, den sie bekam, wenn ihre Eltern sich über irgendetwas stritten u nd ih r Dad einen kleinen , ab er fatalen Fehler b eging , der ih r sagte, d ass sie den Sieg davontragen wü rd e. Mit gepresster Stimme sag-
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te sie zu Meredith, als wäre Percy n icht an wesend: »Du hast un s Weihn ach ten gefehlt.« »Ih r habt mir au ch gefehlt, Mum. Ich wo llte eu ch wirklich besu chen , aber es fuh ren ein fach keine Züge. Die wu rd en alle fü r die Soldaten g ebraucht.« »Rita fäh rt heute mit u n s nach Hause.« Ih re Mu m stellte die Teetasse auf der Untertasse ab und schob sie v on sich weg. »Wir hab en fü r sie eine Stelle in einem Friseu rsalon gefun den, au f d er Old Kent Road . Sie fängt am Mo ntag an . Erst mal soll sie nur sauber mach en, aber später b ringen sie ih r bei, wie man Haare schneidet u nd Dauerwellen macht.« Ih re Aug en leuchteten zu frieden. »Zu rzeit gibt es v iele Möglich keiten, Merry, wo sich viele von den älteren Mädchen dem Frau en marinedien st ansch ließ en oder in die Fab riken geh en. Gute Gelegen heiten für junge Mädchen mit sch lech ten Au ssichten.« Ja, das konnte Meredith sich gut v o rstellen. Rita war an dauernd mit ih ren Haaren beschäftigt un d mit ih rer ko stbaren Sammlung an Kosmetik artik eln . »Klingt p rima, Mu m. Ist doch toll, jeman den in der Familie zu h aben , der dir die Haare mach en kann.« Es war offenbar nicht das, was ih re Mu m hatte hö ren wollen. Percy Blythe n ah m eine Zigarette aus dem silbernen Etui, v on dem Saffy verlang te, dass sie es in Gesellschaft benutzte, und tastete ih re Taschen n ach ein em Feu erzeug ab. Merediths Dad räusperte sich. »Die Sache ist die, Merry«, sagte er, aber seine Verlegen heit trö stete Mered ith nicht üb er das hin weg , was folg te, »d eine Mum u nd ich, wir find en, es wäre auch für d ich an der Zeit.« Da beg riff Meredith. Sie wollten, dass sie nach Hause kam, dass sie Friseurin wu rde, dass sie Milderhurst verließ. Das flaue Gefühl in ih rem Magen meldete sich zu rü ck, stärker als je zuv o r. Sie blinzelte, rückte ihr Brille zurecht. »Aber ... aber«, stammelte sie, »ich will keine Friseu rin werden . Saffy sag t, es ist wichtig, dass ich die Sch ule absch ließ e. Damit ich vielleicht sogar auf d ie Ob ersch ule gehen k ann , wenn der Krieg vorbei ist.«
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»Deine Mum ist nur um d eine Zukun ft b esorgt. Du mu sst ja nicht Friseurin werden , wir kön nen auch etwas anderes überlegen , wenn du mö chtest. Du könn test vielleicht in ein e m Büro arbeiten . In irg endeinem Ministeriu m.« »Aber in London sind wir nich t in Sicherh eit!«, platzte Meredith heraus. Ein großartig er Einfall: Sie fü rchtete sich kein bissch en vo r Hitler und seinen Bomben, aber vielleicht war das ein e Mög lich keit, ih re Eltern zu üb erzeugen? Ih r Dad tätsch elte ih r lächelnd die Schulter. »Du b rau ch st dir keine So rg en zu machen , meine Kleine. Wir alle trag en das Unsere dazu bei, Hitler ein en Strich durch die Rechnung zu machen: Mum arbeitet in einer Mun itionsfab rik, und ich ma che Nachtschichten. Bisher ist noch keine Bo mb e gefallen, und es gab noch keinen Gi ftgasang riff. In un serem Viertel hat sich nichts verändert.« Nichts verändert. Meredith sah die rußv erdreckten Straßen vo r sich, ihre düstere Wohnu ng in Lond on, und mit ein em Mal spü rte sie ganz deutlich , wie verzweifelt sie sich wün sch te, in Mild erhu rst zu bleiben. Si e schaute zu m Sch lo ss hinüb er, rang die Hände, wünsch te, Juniper wü rde herb eieilen , weil sie wusste, dass sie sie brauchte, wünschte, Saffy wü rd e ko mmen und genau das Richtige sagen, damit ih re Eltern verstanden, d ass sie sie nicht mit n ach Hau se neh men konn ten, dass sie ih r gestatten mu ssten, noch zu bleiben . Als gäbe es eine unsichtbare Verb indun g zwischen d en Zwillingen, sch altete Percy sich jetzt ein. »Mr. und Mrs. Baker«, sagte sie, während sie das Ende ih rer Zigarette au f dem silb ernen Etu i festk lopfte und ein Gesicht machte, als wäre sie lieb er gan z woanders. »Ich kann v ersteh en , dass Sie Meredith gern mit nach Hause nehmen mö chten, aber wenn die Inv asion ...« »Du komms t heute mit un s mit, Fräu lein, keine Widerrede«, fau chte ih re Mu m, o hne Perc y zu beachten, un d b edach te Meredith mit einem Blick, der ihr eine schlimme Strafe in Au ssicht stellte. Merediths Augen füllten sich mit Tränen . »Nein, ich ko mme nicht mit.« »Untersteh dich, zu widersp rechen «, kn u rrte ih r Dad .
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»Tja«, sag te Percy abrupt. Sie hatte den Deckel der Tee kanne an gehob en, u m hineinzuschauen. »Die Kanne ist leer. Würden Sie mich bitte en tschuldig en, ich will nu r schn ell neuen Tee holen. Wir haben im Moment kaum Personal. Krieg sbeding te Sparmaßnahmen.« Sie schauten ih r alle drei nach, dann zischte Merediths Mu m: »Kaum Personal. Hast du das gehö rt?« »Beruhige dich, Annie.« Mered ith wu sste, d ass ih r Dad Streitereien nich t au ssteh en konnte. Er war ein Mann, dessen eindrucksvolle Erschein ung so einschüchternd wirkte, dass er selten austeilen musste. Ih re Mum dagegen ... »Wie diese Frau uns beh andelt! Was bildet sie sich eigentlich ein? Kriegsbedingte Sp armaßnah men, dass ich n icht lache - in so einem Haus!« Sie machte eine Geste in Richtung Schloss. »Wah rscheinlich findet sie, wir mü ssten sie bedienen.« »Das find et sie nich t!«, sag te Meredith. »So sind die gar nicht!« »Meredith.« Ih r Dad hatte die Stimme erh oben , er k lang be inahe flehend, und jetzt schaute er sie mit zusammengezo genen Brauen an. »Aber Dad, sieh doch, wie schön sie extra für uns den Tisch gedeckt...« »Jetzt reicht's, Fräulein .« Ih re Mu m war au fgesp rungen und zerrte Meredith an ihrem n euen Kleid auf die Füße. »Du gehst jetzt da rein und holst d eine Sach en. Und zwar deine eigenen. Der Zug fährt bald ab, und wir fah ren alle mit.« »Ich will aber n icht mitfah ren «, sag te Meredith und wand te sich Hilfe suchend an ih ren Dad. »Lass mich hierbleiben, Dad. Bitte zwing mi ch nicht mitzu fahren. Ich lerne g erade...« »Pah !«, stieß ih re Mum mit einer v erächtli chen Handbewegun g hervor. »Ich seh e g enau , was du hier b ei d er fein en Lady lernst - deinen Eltern Widerworte geben. Und ich sehe au ch, was du v ergessen hast: Wer du bist, wo du herkommst und wo du hingehö rst.« Sie fu chtelte mit einem Fin ger vo r Dads Nase herum. »Ich hab d ir ja gleich gesag t, d ass es ein Feh ler war, sie fo rtzu sch ick en. Hätten wir sie bloß zu Hau se behalten, wie ich g esagt habe ...«
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»Schlu ss jetzt!« Ih rem Dad platzte endg ültig d er Kragen . »Es reicht, Ann ie. Setz dich . Es gibt keinen Grun d, sich zu ereifern. Die Kinder kommen ja jetzt mit nach Hause.« »Nein, ich komme nicht mit!«, rief Meredith. »O doch«, fau chte ih re Mu m u n d h ob eine Hand, als holte sie zu einer Ohrfeig e au s. »Und wenn wir zu Hau se sind , gibt's einen Satz heiße Oh ren fü r dich.« »Hör auf, zum Do n nerwetter!« Dad war eben falls aufgesp rung en und packte Mum a m H andgelenk. »Herrgott noch mal, beruhige dich, Annie!« Er schaute ih r in d ie Augen, u nd irgendetwas passierte zwisch en den b eiden. Meredith sah, wie der Arm ihrer Mum erschla ffte. Ih r Dad nickte. »Wir sind alle ein bisschen an gespan nt, das ist alles.« »Sprich du mit deiner Toch ter ... Ich ertrage das nicht länger. Ich kann nur hoffen, dass sie nie erleben mu ss, wie es ist, ein Kind zu verlieren .« Dann entfernte sie sich, die Arme vo r ih rem d ünn en Kö rper versch ränk t. Plötzlich fand Meredith , dass ih r Dad mü de und alt au ssah . Er fuhr sich mit der Hand du rchs Haar. Es wu rd e oben schon ganz schütter, sodass man noch die Spuren sehen konnte, die der Kamm hinterlassen hatte. »Du darfst ih r n icht bö se sein. Sie braust einfach schnell au f, du kennst sie ja. Sie hat sich Sorg en um dich gemach t, wir beid e haben un s So rg en gemacht.« Er drehte sich zu m Schloss um, das hinter ihnen au fragte. »Wir haben Geschich ten gehö rt. Von Rita, von ein paar Kindern, die wieder zu Hause sind, schreckliche Gesch ichten darü ber, wie man sie behandelt hat.« War das alles? Meredith atmete erleichtert auf. Sie wu sste, dass manche Kinder es nich t so gu t angetroffen h atten wie sie, ab er wenn es das war, was ihre Eltern beunruhigte, dann mu sste sie ihrem Dad ja nur versich ern, dass es ih r blendend ging. »Aber ihr braucht eu ch k eine So rgen zu mach en, Dad. Ich hab e es eu ch do ch geschrieben: Es geht mir gut hier. Lest ih r mein e Briefe denn n icht?« »Natü rlich habe ich sie gelesen. Und deine Mu m auch. Das ist fü r uns der schönste Mo men t am Tag , wenn ein Brief von dir kommt.«
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So wie er es sagte, wu sste Meredith, dass es stimmte, und es versetzte ihr einen Stich, als sie sich vorstellte, wie sie am Tisch saßen und sich Gedan ken machten über das, was sie schrieb. »Na dann wisst ih r ja, dass hier alles in Ordnung ist«, sagte sie, ohne ihn anzusehen , »mehr als in Ordnun g.« »Ich weiß , dass du das geschrieben hast.« Er schaute zu ih rer Mu m hinüber, um sich zu vergewissern, dass sie sich außer Hö rweite befand . »Ab er da s ist ja gerade d as Problem. Deine Briefe sind so ... heiter. Und deine Mutter hat von einer Freund in gehö rt, dass man che Gastfami lien die Briefe, die die Kinder nach Hause sch reiben , kontrollieren. Damit sie ih ren Eltern nichts erzählen, was ein schlech tes Licht au f die Gastfamilien werfen könnte. Damit sie alles schöner darstellen , als es in Wirklichkeit ist.« Er seufzte. »Aber das ist bei d ir nicht der Fall, nicht wahr, Merry? « »Nein, Dad.« »Du bist g lücklich hier? So glü cklich, wie du es in deinen Briefen beschreibst? « »Ja.« Meredith spü rte, d ass er ins Wan ken geriet. Sie witterte ih re Chance und sagte hastig: »Percy ist ein bissch en steif, aber Saffy ist seh r, seh r nett. Ih r könn t sie k ennenlernen, wenn ih r mit reinko mmt. D an n kan n ich eu ch auch etwas au f dem Klavier vo rspielen.« Er sah zu m Tu rm h och , u nd d ie Sonn e schien ih m in s Gesicht. Meredith sah, wie seine Pu pillen sich zu sammen zogen. Sie wartete, versuchte, in seinem breiten, ausd ruck slosen Gesicht zu lesen. Seine Lippen bewegten sich, als würde er Zahlen reihen zu samme nrechnen, aber zu welchem Ergebnis er damit kommen wollte, begriff Meredith nicht. Dann wieder ein Blick in Richtung Mu m, die sch mo llen d am Brunn en stand. Jetzt od er n ie, dachte Meredith. »Bitte, Dad «, sie g riff nach seinem Ar m, »b itte lasst mich h ier. Ich lern e h ier so viel, viel meh r, als ich in London lernen könnte. Bitte mach, dass Mum einsieht, dass es mir h ier besser g eht.« Er seufzte noch einmal, während er weiterhin stirnrunzelnd den Rücken seiner Frau betrachtete. Dann änderte sich etwas in seinem Gesichtsau sdruck, etwas Liebevolles zeigte sich in seinen Zügen , un d Mered ith s Herz begann zu p ochen. Ab er er schau te sie nicht an und sagte au ch n ichts. Sch ließlich folgte sie seinem Blick und sah, dass ih re Mu m sich u mged -
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reh t hatte, eine Hand in die Hüfte gestemmt , während die an dere sich nervös bewegte. Die Sonn e beschien sie v on h in ten und verlieh ihrem b raunen Haar hier und d a einen rötlich en Schimmer. Sie sah hübsch au s, so verlo ren und jung . Sie schaute Dad an, und da wu rde Meredith k lar, dass sein zärtlicher Blick nicht ih r, sond ern ih rer Mu m galt. »Tut mir leid, Merry«, sagte er und leg te eine Han d auf ih re, die immer noch seinen Arm h ielt. »Es ist besser so. Geh deine Sachen ho len. Wir fah ren nach Hau se.« Und da tat Meredith etwas g anz Ung ehö rig es, da beging sie den Verrat, den ih re Mutter ih r niemals verzeihen wü rd e. Ihre einzig e Entschu ldigung war, dass ihr keine andere Wahl blieb, dass sie nur ein Kin d war und dass es ein fach nieman den zu interessieren sch ien , was sie wollte. Sie war es leid, wie ein Paket oder ein Koffer behandelt zu werden, der von hier nach do rt verfrach tet wu rde, je nachdem, was die Erwach senen gerade fü r das Beste hielten. Sie drückte die Hand ih res Dad s und sagte: »Mir tu t es auch leid, Dad.« Und als er sie verblüfft ansah, lächelte sie entschuldigend, vermied den wü tenden Blick ih rer Mu m und rannte so schn ell sie kon nte über d en Rasen , u m Schutz zu su chen im küh len , du nklen Card arker-Wald. Percy erfuhr per Zu fall v on Saffys Plän en. Wenn sie nicht von der Teetafel vo r Meredith s Eltern g eflüchtet wäre, hätte sie vielleicht nie etwas davon erfahren. Oder erst zu spät. Zu m Glück, sagte sie sich, fand sie es peinlich und einfach un erträg lich , wenn Men schen in der Öffen tlichkeit ih re schmutzige Wäsche wu schen, denn das hatte dazu geführt, dass sie ins Haus gegang en war, eigentlich nu r, um abzuwarten, bis sich die Wogen wieder geglättet hatten . Sie hatte damit gerechnet, dass Saffy am F en ster hocken un d vo n Weitem das Geschehen verfolg en wü rde, dass sie sie mit Fragen bestürmen würde: Wie sind ihre Eltern? Wie geht es Meredith? Hat ihnen der Kuchen geschmeckt? Und es hatte sie ziemlich verblü fft, die Küche leer vorzufind en. Dann war Percy aufgefallen, dass sie die Teekanne imme r noch in d er Hand hielt, und da sie ja unter d em Vo rwand in s
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Haus gegangen war, frischen Te e zu koch en, setzte sie den Wasserkessel auf den Herd . Während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, fragte sie sich, wo mit sie das verdient hatte, an ein und demselb en Tag eine Hochzeit und eine Teeg esellschaft üb er sich erg ehen lassen zu mü ssen. Un d dann hatte plötzlich das Telefon im Anrichtezimmer schrill zu läuten begonnen. Seit die Post darüber in formiert hatte, dass p riv ate Gesp räche wichtige Kriegsnachrichten blockieren konnten, läutete das Telefon nu r noch äuß erst selten. Entsprechend argwöhnisch, ja angstvoll klang daher ihre Stimme, als sie schließlich den Hö rer abnah m: »Schloss Milderh u rst. Hallo? « Der An ru fer iden tifizierte sich als Mr. Archibald Wiek s au s Chelsea und b at, Miss Serap hina Blythe zu sp rechen . Verdutzt fragte Percy, ob sie ih rer Schwester etwas ausrichten kön ne, woraufhin der Mann erklärt hatte, er sei Saffys Arbeitg eber und wo lle mit Miss Blyth e über das Zimmer s p rech en, in dem sie ab der kommenden Woche wohnen würde. »Tut mir leid, Mr. Wiek s«, sagte Percy, wäh ren d sie spürte, wie ihr g anz heiß wu rd e. »Aber ich fürchte, da liegt ein Missv erständn is vo r.« Ein Zögern am anderen Ende d er Leitung. »Ein Missver ständnis, sag ten Sie? Die Verbindu ng ... Ich verstehe Sie ziemlich schlech t.« »Seraphina ... meine Sch wester ... wird gewiss keine Stelle in London an treten, bedaure.« »Oh .« Es knisterte in der Leitung . Percy stellte sich vo r, wie die Telefo nd rähte zwischen den Masten im Wind hin und her sch wangen. »So, so «, sagte der Mann. »Ab er das ist son derbar, denn ich halte den Brief mit ihrer Zusage hier in der Hand. Und wir haben schließlich au sfüh rlich darüber ko rrespon diert.« Das also erklärte die vielen Briefe, die Percy in letzter Zeit zu r Poststelle und von dort zum Schloss gebracht hatte, eb en so Saffys Bedü rfnis, sich ständig in der Nähe des Telefon s au fzuhalten »fü r den Fall, dass ein An ru f mit k rieg swichtigen Informationen ko mmt« . Percy verflu chte sich in nerlich dafür, dass si e sich so seh r von den Pflich ten beim Freiwilligend ien st hatte vereinnahmen lassen und nicht bes-
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ser ach tgegeben hatte. »Ich verstehe«, sagte sie zu Mr. Wieks, »und ich bin mir sicher, dass Miss Seraphina die feste Ab sicht hatte, d ie mit Ih nen getro ffene Vereinb arung ein zuhalten. Aber der Krieg , wissen Sie, und jetzt ist auch no ch un ser Vater plö tzlich schwer kran k gewo rden. Ich fü rchte daher, sie wird vorerst hier zu Hau se geb raucht.« Mr. Wieks war enttäu sch t un d k on stern iert, aber Percy kon nte ihn b esch wichtigen, indem sie versprach, ih m eine signierte Erstausgabe des Modermann für seine Büch ersammlung zu schicken, und sie hatten sich freun dlich verab schiedet. Zumindest war nich t zu be fürchten, dass er Saffy wegen Vertragsbruchs verk lagte. Saffy d agegen, dachte Percy, würde n ich t so leich t zu besänftigen sein. Sie hörte die Toiletten spülung rauschen , dann gu rg elte es in den Wasserleitungen in der Küche. Percy setzte sich au f den Ho cker und wa rtete. Wenige Minuten später kam Saffy die Trepp e herunterg elau fen. »Percy!« Sie blieb wie angewu rzelt steh en und schau te zu r Hin tertü r, die offen stand. »Was mach st du denn hier? Wo ist Meredith? Ihre Eltern sind doch noch n icht gegangen? Ist alles in Ordnung? « »Ich bin hereingekommen , u m frisch en Tee au fzusetzen.« »Ach so.« Saffy entspan nte sich ein wenig und ran g sich ein Lächeln ab . »Lass mich das machen. Du willst deine Gäste doch sicher nicht so lange allein lassen.« Sie nahm die Teed ose vom Regal und ö ffnete sie. Percy überlegte, wie sie es Saffy scho nen d b eib ring en kon nte, aber d as Gespräch mit Mr. Wiek s hatte sie zu seh r au fgewüh lt. Daher sag te sie sch ließlich : »Eben ist ein An ru f geko mmen .« Ein kau m wahrneh mb ares Zu sammen zuck en, ein paar Teeblätter, die vo m Lö ffel fielen . »Ein An ru f? Wann? « »Gerade eben .« »Ach ja? « Saffy sch ob die Teeblätter in ihre Hand fläch e, dort lagen sie beisammen wie tote Ameisen. »Hatte es etwas mit dem Krieg zu tun?« »Nein.« Saffy stützte sich au f d en Bankrücken u nd u mk lammerte wie eine Ertrinkende ein Gesc hirrtu ch, das darü berhin g.
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Ausgerechnet in dem Aug enblick begann der Teekessel zu spucken und zu zischen , u m gleich darauf oh renbetäuben d laut zu pfeifen. Saffy nahm ihn von der Flamme, blieb mit dem Rücken zu Percy am Herd steh en und wartete. »Es war ein Mann namen s Archibald Wiek s«, sagte Percy. »Aus London. Er hat sich als Sammler vo rg estellt.« »Ach.« Saffy d rehte sich ni cht um. »Un d was h ast du ih m gesagt? « Draußen ertönten laute Stimmen, und Percy trat an die offene Tü r. »Was hast du ih m g esagt, Percy?« Ein Luftzug, der den Du ft von Heu hereintrug . »Percy? «, flüsterte Saffy. »Ich habe ihm gesagt, dass wir dich hier brau chen .« Saffy machte ein Geräusch, das fast wie ein Schluchzen k lang . Dann sagte Percy sehr ruhig: »Du weißt, dass d u nicht fortgehen k annst, Saffy. Du k ann st keine solchen Versprechungen machen . Der Mann erwartete dich n äch ste Wo che in London.« »Er erwartet mich in Lond on, weil ich do rth in gehen werde. Ich h abe mich au f eine Stelle bewo rb en, Percy, und er hat mich angeno mmen.« Sie drehte sich um. Hob die zu r Faust geballte Hand, eine seltsam theatralische Geste, die völlig üb ertrieben wirkte, weil sie das Geschirrtuch immer noch in der Hand hielt. »Er h at mich ausgewählt«, sagte sie und sch üttelte die Faust. »Er sammelt alle möglichen schönen Dinge, und er hat mich - mich — eingestellt, u m ih m b ei seiner Ar beit zu assistieren.« Percy nahm eine Zigarette aus ih rem silbernen Etui, hatte Mü he mit dem Streichho lz, sch affte es schließlich, sich die Zigarette anzuzünden. »Ich g ehe nach Lon don, Percy, und du kann st mich nicht daran hindern .« Verd ammte Saffy, sie machte es ih r nich t leicht. Percy dröhnte jetzt schon der Schäd el, die Hoch zeit hatte sie erschö p ft, und dann hatte sie auch noch für Merediths Eltern die Gastgeberin sp ielen mü ssen. Einen Streit mit Saffy konn te sie jetzt wirk lich nich t geb rauchen. Saffy stellte sich ab sichtlich stur, zwang sie, die Dinge beim Namen zu nennen .
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Also gut, wen n sie es unb eding t so hab en wollte, dann würde Percy ihr eben klarmach en, was in Milderhurst Gesetz war. »Nein.« Sie blies den Rauch au s. »Du wirst nicht nach London g ehen . Du geh st nirgend wo hin , Saff. Du weißt es, ich weiß es, und jetzt weiß es au ch Mr. Wiek s.« Saffy ließ die Arme sinken, das Geschirrtuch fiel auf die Stein fliesen . »Du hast ih m gesagt, dass ich nicht komme. Einfach so .« »Ein er mu sste es ih m ja sag en. Er wollte d ir sch on das Geld fü r die Zu gfah rt üb erweisen.« Saffys Augen füllten sich mit Tränen, und obwohl Percy wütend au f sie war, stellte sie doch mit Gen ugtuu ng fest, dass ihre Schwester versu chte, die Tränen zu rück zuhalten . Vielleicht würde ihr ja doch eine Szen e erspart bleib en. »Ko mm schon «, sag te sie. »Irgendwann wirst du einsehen, dass es das Beste ...« »Du wirst mich also wirk lich nich t gehen lassen .« »Nein«, sagte Percy. »Das werde ich nicht.« Saffys Unterlippe zitterte, und als sie an two rtete, war es kau m meh r als ein Flüstern . »Du kann st nicht ewig üb er un s bestimmen , Percy.« Sie rang die Hände, als fo rme sie widersp enstig e Flu sen zu einem Ball. Eine Angewohnheit, die Saffy schon als Kind geh abt hatte, und plötzlich überkam Percy das tiefe Bedü rf nis, ihre Zwillingsschwester an sich zu d rü cken un d nie wieder loszulassen, ihr zu sagen , dass sie sie liebte, dass sie nicht grau sam sein wollte, dass sie es nu r zu Saffys eigen e m Besten tat. Aber sie rührte sich nicht. Sie brachte es nicht fertig. Und es hätte auch nichts genützt, wenn sie es getan hätte, denn n iemand möchte hören, etwas sei nur zu seine m Besten, auch wenn er tief in seinem In n ern weiß , dass es stimmt. Stattdessen sagte sie sanft: »Ich versu che nicht, über dich zu bestimmen, Saffy. Vielleicht kannst du irgendwann, später einmal, von hier fo rtg ehen«, Percy mach te eine vage Handbewegung, »aber nicht jetzt. Jetzt b rauchen wir dich hier, jetzt, wo Krieg herrsch t und Dadd y so k rank ist. Ganz ab geseh en davon, dass wir kau m no ch Pe rsonal haben. Hast du dir mal überlegt, was mit u ns passieren wü rd e, wenn du
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fo rtg ingest? Kann st du dir vorstellen, dass Juniper oder Daddy oder — Gott bewah re — ich mit der Wäsche fertig würd e? « »Es gibt nich ts, wo mit du nicht fertig wirst, Percy«, ent gegnete Saffy v erbittert. »Es hat n och nie etwas g egeben, wo mit du nicht fertig gewo rden wärst.« Da wusste Percy, dass sie g ewonnen hatte, und vo r allem, dass Saffy es auch wusste. Aber sie empfand keinen Triu mp h, nu r die üb liche Last der Veran two rtung. Sie sehnte sich von ganzem Herzen nach ih rer Sch wester, n ach de m ju ngen Mädch en, das sie einmal gewesen war, dem die Welt no ch o ffenstand. »Miss Blythe? « Merediths Vate r stand in der Tü r, neben ih m seine kleine, h agere Frau, und sie wirk ten b eid e seh r besorgt. Percy hatte sie völlig vergessen. »Mr. Baker«, sag te sie u nd strich sich einige Haarsträhnen hinter die Ohren. »Verzeih en Sie. Ich habe ewig gebraucht, um frischen Tee ...« »Das macht überhaup t nichts, Miss Blythe. Wir haben genug Tee getrunken. Es g eht u m Meredith.« Er schien völlig au fg elö st. »Mein e Frau und ich wollten sie mit nach Hause nehmen , aber sie hat sich in den Kop f gesetzt hierzubleiben , und ich fü rch te ... sie ist fortgelaufen ...« »Oh.« Das hatte Percy g erade noch gefehlt. Sie drehte sich u m, aber Saffy war ebenfalls versch wunden. »Tja, d ann mach en wir un s woh l am besten auf die Suche nach ihr, nicht wahr? « »Das ist es ja gerad e«, sagte Mr. Bak er betrübt. »Meine Frau und ich müssen den Zug nach London um drei Uh r vierundzwanzig bekomme n . Es ist der einzige, der heu te fäh rt.« »Aha«, sagte Percy. »Dann mü ssen Sie sich natü rlich au f den Weg machen. Die Züge sind heutzu tag e sch recklich un zuverlässig. We nn man einen v erpasst, kann es passieren, dass man eine Woch e au f den nächsten warten mu ss.« »Aber meine Tochter ...« Mrs. Baker machte eine Miene, als würde sie gleich in Trän en au sb rechen , was ih r h artes, spitzes Gesicht ziemlich hässlich aussehen ließ. Percy kannte d as Gefühl.
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»Mach en Sie sich keine Sorgen «, sag te sie mit ein em k nap pen Nick en. »Ich fin de sie schon. Gibt es eine Numme r in London, unter der ich Sie erre ichen kan n? Sie wird nicht weit gekommen sein.« Von dort, wo sie h ockte, auf einem Ast d er ältesten Eich e im Card arker-Wald, konnte Meredith no ch gerade d as Schloss sehen, das Turmdach mit seiner Spitze, die wie eine Nadel in d en Himmel rag te. Die Dachp fan nen glänzten rot in der Nachmittagssonne, und d ie silberne Kugel an der Spitze leuchtete. Auf dem Rasen vo r dem Schloss winkte Percy ih ren Eltern zum Abschied . Merediths Ohren glühten vor Aufregung über die Missetat, die sie begangen hatte. Das wü rde ein Nach spiel haben, keine Frage, aber sie hatte k eine andere Wahl gehabt. Sie war gerannt und g eran nt, bis sie n icht meh r k onn te, u nd n achde m sie Atem geschöpft hatte, war sie au f den Baum geklettert, angefeuert von dem köstlichen Wissen , dass sie zu m ersten Mal in ihrem Leben impu lsiv g ehand elt hatte. Ih re Eltern g ingen die Zufahrt hinun ter. Mered ith sah, wie ihre Mum die Schultern hän gen ließ , und einen Mo ment lan g dachte sie, sie weint, doch dann begann sie mit den Ar men zu g estiku lieren, un d ih r Dad wich erschrocken au s. Da wusste Meredith, dass ih re Mu m sch rie und to bte, und sie brauchte ihre Worte nicht zu hören, um zu begreifen, dass sie g roß en Ärger bek ommen wü rde. Percy stand immer noch vo r dem Schloss, eine Hand in die Hüfte gestemmt, und rauchte. Sie ließ den Blick über den Wald wandern . Ganz leise regten sich Zweifel in Meredith s Bauch. Sie war davon au sg egangen, dass die Sch western Blyth e nichts dagegen haben wü rd en, wenn sie no ch b lieb, ab er was war, wenn sie sich getäusch t hatte? Wenn die Zwillinge so scho ckiert waren übe r ih ren Ungeho rsam, d ass sie sie nicht mehr haben wollten? Wen n ih r eigen nütziges Verhalten sie in große Schwierigk eiten gebracht hatte? Als Percy Blythe ih re Zigarette austrat und in s Hau s g ing, fühlte Meredith sich plötzlich schrecklich einsam. Auf dem D ach des Schlo sses be wegte sich etwas. Merediths Herz drehte sich wie ein Feu errad. Jemand in ein em weißen Kleid kletterte da ob en heru m. Juniper. Sie war also endlich
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au s ih rem Dachzimme r gekomme n. Sie erreichte den Rand und setzte sich so h in, dass ihre Bein e üb er d em Ab grund bau melten. Jetzt wü rde sie sich eine Zigarette anzünd en, dachte Meredith, sich zu rücklehn en und in d en Himmel schauen. Ab er das tat sie nich t. Sie hielt inne und sah zu m Wald he rüber. Meredith klammerte sich an den Ast und h ätte beinah e laut gelacht. Es war, als hätte Jun iper sie von Weitem g ehört, als hätte sie gespürt, dass ihre Freundin dort im Baum hockte. Wenn irgendjeman d so etwas konnte, dan n nu r Juniper. Sie du rfte nicht zu rückk eh ren nach Lo ndon . Sie ko nnte ein fach n icht. No ch n icht, noch nicht. Meredith sah, wie ihre Eltern sich vo m Schlo ss entfernten. Ihre Mu m hatte die Arme vor der Brust versch ränkt, ihr Dad ließ die sein en häng en . »Tut mir leid «, flüsterte sie. »Ich hatte keine andere Wahl.«
5 Das Wasser war lauwarm und die Wann e nu r halb voll, aber das stö rte Saffy nicht. Ein ausgiebiges heißes Bad war ein Verg nügen , d as d er Vergangenh eit angehö rte, un d nach Percys gemeinem Verrat war sie einfach nur froh, allein zu sein. Sie rutschte tiefer, bis sie ganz au f dem Rücken lag, die Knie angewinkelt, den Kopf bis zu den Ohren im Wasser. Ihr Haar trieb wie Seetang u m d ie In sel ih res Gesichts, und sie hörte das Plätschern und Glu cksen des Wassers, das Klappern der Stopfenkette gegen die Emaille und andere fremdartige Geräusche der Wasserwelt. Saffy hatte schon immer gewusst, dass sie die Schwächere von ihn en beiden war. Percy tat es immer ab, wenn sie es erwähnte, meinte, das geb e es gar nicht, jeden falls n icht zwisch en ih nen. Es g ebe nu r eine Sonnen - und eine Sch attenseite, auf der sie sich abwech selten, sod ass immer alles perfekt au sb alanciert sei. Was nett von ih r gemeint war, aber d eswegen noch lan ge nicht zutraf. Saffy wu sste ein fach, d ass die Dinge, für die sie mehr Talent besaß als Percy, völlig un384
wichtig waren . Sie konn te gut sch reiben , sie war ein e g esch ickte Sch neid erin , sie k onnte (passab el) kochen u nd neuerdings au ch putzen; aber wa s nützten ihr solche Fertigkeiten, solang e sie eine Sklav in war? Schlimmer n o ch, eine willig e Sklavin. Denn im Gro ß en und Gan zen, au ch wenn es sie beschämte, sich das einzugestehen , hatte Saffy nichts d agegen , sich zu un terwerfen. Es hatte schließlich auch etwas Bequemes, man trug n icht so eine schwere Last. Aber manchmal, wie zum B eispiel heute, ärgerte es sie maßlos, dass von ihr erwartet wu rd e, immer o hn e Wid errede nachzu geben, ohne Rücksicht au f ih re Wün sche. Saffy tauchte wieder au s dem Wasser au f, lehn te sich in d er Wanne zurück und wischte sich mit einem n assen Lapp en das vo r Zo rn erhitzte Gesicht. Die Emaille füh lte sich kühl an ihre m Rücken an. Sie legte den Lap pen wie eine k lein e Deck e üb er ihre Brü ste und ih ren Bauch, sah zu, wie er sich mit ihren Atemzü gen spannte und wied er zusammenzog wie eine zweite Haut. Dann schlo ss sie die Augen. Wie ko nnte Percy es wagen , in ih rem N amen zu sp rechen? In ih rem N amen Entsch eidung en zu treffen , über ih re Zuku n ft zu bestimmen , ohn e v o rher mit ih r darüber zu reden? Aber Percy handelte ein fach, so wie sie es immer getan hatte, u nd wie eh und je hatte es auch heu te k ein en Zweck, mit ih r zu streiten . Saffy atmete tief und langsam aus, um ihre Wut in den Griff zu beko mmen . Der Schlu chzer wu rde zu einem b eherzten Seufzer. Wahrschein lich sollte sie sich freuen, sich gar geeh rt füh len , dass Percy sie so sehr brauchte. Und das tat sie au ch. Aber sie war es dennoch leid, ih r so hilflo s au sgeliefert zu sein, mehr noch, sie ertrug es nicht mehr. Seit sie denken k onnte, war sie in ein em Leben gefang en, d as parallel zu dem verlief, das sie sich erträu mt h atte, zu d em, von dem sie zu Rech t erwartet hatte, dass sie es verdiente. Ab er d iesmal g ab es etwas, das sie tun konnte - Saffy rieb sich die Wangen, plö tzlich wied er mu nter, als ih re En tsch lussk raft zu rückkeh rte -, eine Kleinigkeit, ein e win zig e Mö glichkeit, d as b isschen Mach t üb er Percy, das sie besaß , au szuko sten . Es würde eher ein Akt der Unterlassung sein, Percy wü rde nie erfahren , dass ein Schlag geg en sie ausge-
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führt worden war. Der einzige Gewinn würde darin liegen, dass Saffy einen Teil ih rer Selb stachtu ng zu rück gewann. Ab er das reichte. Saffy würde etwas fü r sich behalten , etwas, das Percy unb edingt wü rde wissen wollen . Es betraf den unerwarteten Besu ch er, der am Tag zuvor im Schloss gewesen war. Percy war in der Kirche bei Lucys Hochzeit, Juniper im Dachzimmer, und Meredith trieb sich au f d em An wesen heru m, als Mr. Bank s, d er An walt ihres Vaters, in seinem sch warzen Auto vo rg efah ren kam, in seiner Begleitung zwei klein e, verd rieß liche Frauen in einfachen Ko stümen. Saffy, die gerade dabei gewesen war, draußen den Tisch zu d eck en, hatte ku rz üb erlegt, sich zu verstecken , so zu tun , als sei nieman d zu Hause - sie mo ch te Mr. Banks nicht besond ers, und es wid erstreb te ih r, unangemeld ete Besuch er hereinzulassen -, aber sie kannte den alten Mann schon seit ih rer Kind heit, er war ein Freu nd ih res Vaters, und deswegen hatte sie sich, auch wenn sie sich das nich t erk lären kon nte, verp flichtet gefüh lt. Sie war durch die Hintertü r in s Haus g eeilt, hatte sich vo r dem o v alen Sp iegel neben der Vorratsk amme r h astig zu rech tg emach t, war nach oben gelaufen und hatte ihm die Tür geöffnet. Er war überrascht gewesen, ja bein ahe verärgert, als sie vo r ihm stand, und hatte sich laut g efrag t, was das für Zeiten seien, dass selbst ein vornehmes Haus wie Schloss Milderhurst keine Haushälterin mehr beschäftigte. Dann hatte er sie gebeten, ihn zu ihrem Vater zu führen. Sosehr Saffy au ch bestrebt war, sich an die verän derten Gepflogenheiten der mo dernen Zeiten anzupassen, so besaß sie doch eine altmo d ische Eh rfu rcht vor dem Gesetz und dessen Vertretern und hatte getan , was er verlangte. Er war k ein Mann , der viele Worte verlor (das heißt, er war nicht geneig t, mit den Töch tern seiner Mandanten Hö flichk eiten au szutauschen ), und so waren sie sch weigend die Treppe hochgegangen - worüb er Saffy froh war, denn Männer wie Mr. Bank s versch lu gen ihr ohneh in die Sprache. Ob en ang eko mmen , h atte er sie mit einem kn appen Nick en entlassen und dann gemein sa m mit seinen beiden beflissenen Begleiterinn en d as Tu rmzimmer ihres Vaters betreten.
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Saffy hatte n icht vo rgehabt zu lauschen. Im Gegenteil, die Stö rung du rch d ie Besuch er war ihr gen au so unangen eh m gewesen wie alles, was sie dazu zwang, in den g rässlich en Turm zu steigen, diesen Ort mit dem monströsen Gemälde an der Wand zu betreten, wo es n ach Kran kheit, Leid en u nd Tod roch. Hätte nicht der verzweifelte Kamp f eines Schmetterling s, d er sich in einem Sp innenn etz zwisch en d en Stäben des Treppengeländers verfangen hatte, ihre Aufmerksamkeit erregt, wäre sie bestimmt längst wieder auf dem Weg nach un ten und außer Hörweite gewesen. Aber sie hatte den Schmetterling gesehen und war stehen geblieben, und so hatte sie, wäh ren d sie das In sekt vorsichtig aus seiner Falle befreite, ihren Vater sagen hö ren: »Deswegen habe ich Sie ko mmen lassen, Banks. Der Tod ist ein verdammtes Ärgernis. Haben Sie die Än deru ngen vorgeno mmen ? « »Ja. Ich h abe sie mitgeb racht, damit Sie sie un ter Zeugen unterzeich nen können, in doppelter Au sfüh rung fü r Ih re Un terlagen.« Was danach b esp rochen wu rde, hatte Saffy nicht g ehö rt, und sie hatte es auch nicht hören wollen. Sie war die zweitgebo ren e Toch ter eines altmo d ischen Mann es, eine meh r od er weniger alte Jung fer: Die Männerwelt der Immo bilien und Fin anzen betraf sie nicht und in teressierte sie au ch nicht. Ihr ging es nur daru m, den armen Schmetterling zu befreien und möglichst schnell au s dem Turm zu versch winden . Sie wo llte die abg estanden e Lu ft und die bed rückend en Erinnerungen rasch hinter sich lassen. Seit ü ber zwanzig Jahren hatte sie das winzige Zimmer nicht mehr betreten, und sie hatte nicht vor, jemals wieder ein en Fuß hineinzu setzen . Sie war die Trep pe h inuntergeeilt, vo r der dunk len Wolk e d er Erinnerung geflü cht et, die sich über ih r zu sammenballte. Denn sie hatten sich einmal sehr nahegestanden, ih r Vater und sie, vor langer Zeit, aber die Liebe war gesto rben . Juniper war die b essere Auto rin un d Percy die bessere To chter, da blieb kein Raum mehr für die väterliche Liebe zu Saffy. Es hatte nur eine ku rze, herrlich e Zeit geg eben , in der Saffy ih re Sch wester in d en Schatten gestellt hatte. Das war nach dem Ersten Weltkrieg gewesen, als ih r Vater als ein gebro-
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ch ener Mann zu rü ckgekehrt war und sie diejenige gewesen war, d ie ihn geh eilt hatte, d ie ihm d as h atte geben könn en, was er am meisten gebraucht hatte. Und es war verführerisch gewesen, die Kraft seiner Liebe zu spü ren, an d en Ab enden im Verborgen en, wo nieman d sie hatte find en kön nen ... Saffy riss die Augen auf. Irgendjemand schrie. Sie lag in der Wanne, aber das Wasser war eisk alt, das Lich t des hellen Tages en tsch wunden und d er Abenddämme rung g ewichen . Saffy mu sste ein genickt sein. Aber wer schrie da? Sie richtete sich auf und lauschte. Nichts. Vielleich t hatte sie es sich nu r ein gebild et. Dann hörte sie es wieder. Und ein Glockenbimmeln. Der alte Mann im Turm tobte mal wieder heru m. Sollte Percy sich u m ihn kümmern. Die beiden hatten einander verdient. Zitternd entfernte Saffy den kalten Lapp en und stand au f. Das Wasser schwappte. Tropfn ass stieg sie auf die Badematte. Jetzt waren un ten Stimmen zu hö ren. Mered ith , Jun iper und Percy. Sie waren alle d rei im gelben Salon . Wah rschein lich warteten sie au f ih r Abend essen , und Saffy wü rde es ih nen bringen, wie imme r. Sie nahm ih ren Mo rgenmantel vo m Haken an der Tü r, kämp fte mit den Ärmeln , hüllte ih ren k alten, n assen Kö rp er fest ein. Dann lief sie üb er den Korridor, ih re nassen Füße platsch ten au f d em Steinbod en. Sie wü rde ih r klein es Geheimnis h üten . »Du hast geru fen, Dadd y? « Pe rcy d rückte die sch were Tü r des Turmzimmers auf. Es dauerte einen Moment, bis sie ihn entdeckte, zusammengekauert in der Nische neb en dem Kamin, unter dem riesigen Go ya, und als sie ihn erblickte, sah er sie mit ang sterfüllten Augen an. Offenbar plagte ihn wieder ein e sein er Wahnvo rstellu ngen . Wo raus Percy schlo ss, dass sie, wenn sie nach un ten ging, höchstwah rscheinlich seine Medikamen te auf dem Tisch in der Eingangshalle fin den würde, dort, wo sie sie am Mo rgen b ereitgestellt hatte. Es war ihre eigene Schu ld, sie hatte mal wied er zu v iel erwartet, und sie v erfluchte sich innerlich dafür, dass sie, als sie aus der Kirche geko mmen war, nicht als Erstes n ach ih m gesehen hatte.
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Mit sanfter Stimme, so wie man mit einem Kind redete, sp rach sie ih ren Vater an . »Gan z ruhig, es wird alles gu t. Mö chtest du d ich in ein en Sessel setzen? Ko mm, ich helfe dir. Setz dich ans Fenster, es ist so ein schöner Aben d.« Als er zitternd nickte und ih re au sg estreckte Hand n ah m, wusste sie, dass der An fall vo rüb er war. Offen bar war es diesmal nicht so sch limm g ewesen wie sonst, denn er hatte sich wieder so weit gefasst, d ass er sagen k onn te: »Hatte ich dich nicht gebeten, ein Haarteil zu tragen?« Das h atte er, häu fig genug , und Percy hatte sich tatsächlich eins gekauft (was gar nicht so einfach gewesen war in diesen Zeiten), aber es lag immer nur wie ein abgeschnittener Fu ch sschwanz au f ih rem Nachttisch. Über der Sessellehne lag eine kleine Deck e, die Lu cy vo r Jahren fü r ihn gehäkelt hatte. Percy legte sie ih m über die Knie, n achdem er sich gesetzt hatte, und sagte: »Tut mir leid, Daddy. Ich hab's vergessen. Ich habe die Glocke gehört und wollte dich nich t warten lassen.« »Du siehst aus wie ein Mann . Willst du d as? Dass d ie Leute dich wie einen Mann beh andeln? « »Nein, Dadd y.« Percy fasste sich in den Nacken , befühlte die k leine, samten e Locke, die ein bissch en läng er als die übrigen Strähnen war. Sein e Frage war nicht bö se g emein t, und er h atte sie d amit nicht verletzt, aber die Bemerkung hatte sie doch verblüfft. Verstohlen warf sie einen Blick auf die v erglaste Tü r des Bücherschran ks, sah ih r verzerrtes Spiegelbild in der unebenen Scheibe, ein strenges Frauenzimmer, grobknochig, h ochg ewach sen, ab er zwei nicht zu übersehende Brüste und gesch wungene Hü ften , d azu ein Gesicht, das ohn e Lipp en stift und Pud er au sko mmen mu sste, das jedoch, so fand sie, keinesfalls männlich wirkte. So hoffte sie zumindest. Ihr Vater hatte sich dem Fenster zug ewand t und schaute au f die nächtlichen Felder hinaus, ohn e zu ah nen , was fü r Gedanken er bei ih r au sg elöst hatte. »Das alles«, sagte er, ohne sich vom Fenster abzuwenden . »Das alles ...« Sie trat neben ihn u nd stützte sich mit dem Ellb ogen au f die Sessellehn e. Meh r b rauchte er nich t zu sagen . Sie wusste
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besser als jeder andere, was er emp fan d, wenn er das Land seiner Vorfahren betrach tete. »Hast du Junipers Geschichte gelesen, Dadd y? « Es war eins der wenigen Themen , die ih n au fmu n tern konn ten , und Percy schn itt es an in der Ho ffnu ng, ih n vo r der d ü steren Stimmung zu bewahren, die ihn zu übermannen droh te. Er mach te eine Handbewegung in Rich tung seines Pfeifen beutels, und Percy holte ihn. Währen d er seine Pfeife stop fte, zünd ete sie sich eine Zigarette an . »Das Kin d h at Talen t. Daran besteht kein Zweifel.« Percy läch elte. »Das hat sie von dir.« »Wir mü ssen sie vo rsichtig behand eln . Der schöp ferisch e Geist braucht Freiheit. Er mu ss sich entwickeln, mu ss u mhersch weifen können, er b rauch t Zeit. Es ist sch wer, d as einem Menschen zu erklären, Persepho ne, der geradlinig sein Ziel verfolgt, aber es ist unabdingbar, dass sie von alltäg licher Routine, von Ablenkung en befreit wird, die ih r Talen t v erderben könnten.« Er pa ckte Percys Rock. »Es gibt d och keinen Mann, der ih r den Ho f macht, od er? « »Nein, Dadd y.« »Ein Mädchen wie Juniper muss beschützt werd en «, fuhr er fo rt, das Kin n entsch lo ssen vo rgereckt. »Sie mu ss an einem sicheren Ort leb en. Hier in Mild erhu rst, im S ch lo ss.« »Natü rlich wird sie hierbleib en.« »Dafü r mu sst du so rg en . Du bi st für deine beiden Schwestern verantwortlich.« Damit war er bei seinem Liebling sth ema, er sp rach üb er Ver mächtnis und Verantwo rtung und Erbe... Percy hö rte eine Weile zu, rauch te ihre Zigarette zu Ende, dann sagte sie: »Ich b rin ge dich zu r To ilette, bevo r ich gehe, einverstanden , Dadd y?« »Bevor du gehst? « »Ich muss heute Abend zu einer Versammlung. Im Dorf...« »I mmer hast du es eilig .« Er zog einen hässlichen Sch mollmund, und Percy konnte sich pl ötzlich genau vorstellen, wie er als k leiner Jung e ausgesehen hatte. Ein launisches Kind, das es g ewohn t war, seinen Willen zu beko mmen . »Ko mm, Dadd y.« Sie beg leitete den alten Mann zu r Toilette und wollte sich, während sie wartete, eine neue Zigarette an -
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zü nden . Doch als sie in ih re Tasche griff, bemerkte sie, dass sie d ie Zigaretten im Tu rmzimme r liegen g elassen h atte. Ih r Vater wü rde eine Weile b rau chen, Zeit genug, u m sie schn ell zu ho len. Sie lagen auf dem Schreibtisch. Und do rt entdeck te sie d as g roß e Kuvert. Es k am von Mr. Banks, war aber nicht frankiert. Was bedeutete, dass der An walt es persönlich abgeliefert hatte. Percys Herz begann zu poch en. Saffy hatte n ich ts von einem Besucher erwähnt. War es mö g lich , d ass Mr. Bank s au s Folkstone angereist, ins Schlo ss geschlichen und in s Tur mzimmer hochg estiegen war, ohne sich bei Saffy anzumelden? Alles war möglich, dachte sie, aber es kam ihr ziemlich unwahrscheinlich vo r. Welchen Grund hätte er fü r ein so lch es Verhalten haben sollen? Einen Mo ment lang stand sie unentschlo ssen da, das Kuvert in der Hand, während ih r der Schweiß au sbrach, bis ihr die Bluse am Körp er klebte. Sie sah sich hastig um, obwohl sie wusste, dass sie allein war, öffn ete den Umschlag und nahm das Schreiben heraus. Ein Testament. Mit dem Datum d es heutig en Tages. Percy glättete die Seiten und überflog den Text. Ihre schlimmsten Befü rchtungen wu rd en bestätigt. Sie fasste sich an die Stirn. Wie war es mö glich , dass so etwas passierte? Und doch war es gescheh en: Sie hatte es sch warz auf weiß - und blau au f weiß, wo ih r Vater untersch rieben hatte. Percy las das Dokument noch einmal, gründlicher, forschte nach Lück en, ü berp rüfte, ob eine Seite fehlte, suchte nach irgendetwas, d as ih r b ewies, dass sie es nu r missv erstanden h atte. Ab er das hatte sie n icht. Groß er Gott, sie hatte es nicht missverstanden.
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Teil vier Zurück auf Schloss Milderhurst 1992 Herbert lieh mir sein Auto für die Fahrt nach Milderhurst. Kaum hatte ich die Autobahn verlassen, kurbelte ich die Fen ster herun ter un d ließ mir den Wind um die Ohren wehen. Die Landschaft hatte sich in den Monaten seit meinem letzten Besuch verändert. Der So mme r war gek ommen und geg ang en, und d er Herb st wollte in den Winter üb ergeh en. Laub lag in g roßen Hau fen am Straß enran d, und je tiefer ich nach Kent hinein fu h r, u mso g röß er wu rden die Alleen bäu me, d eren Kron en über der Straße ein Dach bildeten . Mit jedem Windstoß legte sich eine neu e Laub schich t auf die Erde, abgeworfene Haut, das Ende der Jah reszeit. In der Pen sio n wartete ein Brief au f mich. Herzlich willkommen, Edie. Ich musste einige Besorgungen machen, die nicht warten konnten, und Bird liegt mit Grippe im Bett. Der beiliegende Schlüssel ist für Zimmer 3 (erster Stock). Tut mir schrecklich leid, Sie nicht persönlich in Empfang nehmen zu können. Wir sehen uns dann beim Abendessen, um sieben Uhr im Esszimmer. Marilyn Bird PS: Ich habe Bird gebeten, einen besseren Schreibtisch in Ihr Zimmer zu stellen. Es ist ein bisschen eng jetzt, aber ich dachte, Sie würden sich freuen, etwas mehr Platz für Ihre Unterlagen zu haben. Ein bissch en en g war reichlich untertrieben, aber ich hatte schon immer ein Faible fü r k lein e, dunk le Räu me. Ich mach te mich sofort daran, meine Sach en au f dem Sch reibtisch au szub reiten: Adam Gilberts Gesp räch sab sch riften , mein Exemplar von Raymond Blythe in Milderhurst, der Modermann, diverse No tizblöcke un d Stifte. Dann setzte ich mich und fuh r mit den Händen an den glatten Kanten der Schreibtischplatte en tlang. Mit einem zu frieden en Seu fzer stützte ich die Ellbog en au f und legte das Kinn in die Händ e. Es war dieses Erster-Schultag -Gefiihl, nu r hundertmal b esser. Drei Tage
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lagen vor mir, und ich kon nte es kau m er warten , mich in mein Projekt zu stürzen. Dann en tdeck te ich das Telefon, einen altmo dischen Apparat aus Bakelit, und konn te nicht wid ersteh en . Das lag natü rlich daran, dass ich wied er in Milderhurst war, dem Ort, wo mein e Mutter ein Jah r verb rach t hatte. Ich ließ es ewig klin geln , und als ich gerad e au fleg en wollte, ging sie ran. Sie klang ein bissch en atemlo s. Ein kurzes Zögern , nachdem ich mich gemeldet hatte. »Ach, Edie, tut mir leid . Ich habe g erade d ein en Vater ge sucht. Er hat sich in den Kop f gesetzt ... Ist alles in Ord nun g? « Plötzlich k lang sie b eso rgt. »Ja, alles in Ordnung, Mu m. Ich wollte nu r Bescheid sagen, dass ich gut ang eko mmen bin .« »Ach so .« Sie atmete tief durch. Ich hatte sie überrascht: Ein Anruf, wenn man wohlbehalten an geko mmen war, gehörte in un serer Familie nicht zu m Repertoire. »Äh. Schön. Danke. Nett von dir, dass d u an ru fst. Dein Vater wird sich freu en, es zu hö ren . Du fehlst ih m, er bläst n u r noch Trüb sal, seit du weg bist.« Wieder eine Pau se, diesmal eine län gere, und ich ko nnte b ein ahe hö ren, wie sie ang estren gt nachdachte. Schließlich platzte sie heraus: »Du bist also dort? In Milderhurst? Wie ... wie ist es so? Wie sieht es au s? « »Es sieht großartig aus, Mu m. Ein rich tig gold ener Herbst.« »Ja, ich erin nere mich , wie es im Herbst au ssah . Wie die Bäu me an fang s no ch g rün waren und nur die äußeren Spitzen sich gelb färbten.« »Un d o range«, sagte ich . »Un d überall liegt Laub . Wirklich überall, wie ein dicker Tep pich .« »Ja, daran erinnere ich mich auch . Der Wind k o mmt v o m Meer, und die Blätter fallen wie Regen. Ist es win dig, Edie? « »No ch n icht, aber fü r diese Wo che ist Wind vo rau sgesagt.« »Wart's ab. Dann fallen d ie Blätter wie Schneeflo cken . Sie kn irschen unter d en Füßen, wenn man darüber läuft.« Ih re letzten Wo rte klan gen gan z san ft und zart, u nd ich weiß auch nicht, woher d as Gefühl kam, aber plö tzlich war ich von Zuneigung überwältigt und hörte mich sagen: »Weißt
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du, Mum ... ich habe hier bis zum vierten zu tun. Vielleicht hättest du ja Lust, einen Tag h erzuko mmen .« »Ach, Ed ie, nein . Dein Vater ...« »Ich habe nur von dir gesp ro chen .« »Allein? « »Wir k önnten irgen d wo schön zu Mittag essen, nur wir beide. Einen Spaziergang du rchs Do rf machen.« Ich hö rte plötzlich nur Rauschen in der Leitung . Ich senk te die Stimme. »Wir b rauchen ja nicht zu m Sch lo ss zu gehen , wenn du es nicht möchtest.« Stille, und ich dachte scho n, sie hätte au fgelegt, doch dann hö rte ich ein leises Geräusch. Sie war noch da. Und dann hörte ich, dass sie still vo r sich hin wein te, ganz dicht a m Telefon. Erst fü r den näch sten Tag hatte ich eine Verabredung mit den Schwestern Blythe im Schloss, aber laut Vo rh ersage sollte das Wetter u msch lag en, und ich fand es zu sch ade, einen sonnigen Nachmittag am Sch reibtisch zu vergeuden . Ju dith Waterman h atte vorg eschlagen , ich so llte in mein em Essay beschreiben, wie das An we sen auf mich wirkte, und so en tschlo ss ich mich , einen Spaziergang zu machen. Auch diesmal hatte Mrs. Bird mir ein en Ob stko rb au f den Nachttisch gestellt. Ich steckte mir einen Ap fel und eine Banane ein, außerdem einen Notizb lock und einen Stift. Als ich mich an der Tür noch einmal ku rz im Zimmer umsah, fiel mein Blick au f das Tagebuch meiner Mu tter, das still und ged uldig au f dem Sch reibtisch lag. »Also gu t, Mu m«, sagte ich , »g ehen wir gemeinsam zu m Schloss«, und stopfte es ebenfalls in meine Umh än getasch e. Als ich noch klein war, kam es hin und wieder vo r, dass meine Mutter nicht zu Hause war, wenn ich au s der Schu le kam, und dann fuhr ich mit dem Bus nach Hammersmith, um mein en Vater in seiner Kanzlei zu b esuch en. Do rt suchte ich mir i m Zimmer eines Juniorpartners ein Fleckchen au f de m Teppichboden - oder, wenn ich Glü ck hatte, einen Schreib tisch -, wo ich meine Hausau fgaben machte oder mein Schultagebuch gestaltete od er d en Na men mein es n euesten Sch warms sch reiben üb te. Eigentlich konnte ich mich be-
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sch äftig en, wo mit ich wollte, solange ich die Finger vom Telefon ließ und niemandem in die Quere k am. An einem Nach mittag wurde ich in ein Zimmer geschickt, in dem ich noch nie gewesen war, du rch ein e Tü r am End e des Flurs, die mir noch nie au fgefallen war. Es war klein, kaum größer als ein beleu chteter Wand sch ran k, und es war in v erschieden en Brauntönen g estrichen , aber es gab keine kup ferfarbenen Spiegelfliesen an den Wänd en und au ch keine verglasten Bücherschränke wie in den anderen Zimmern der Kanzlei. Nur einen kleinen Holztisch, einen Stuh l u nd ein hohes, schmales Bücherregal. Auf einem der Regalb retter, neben den dicken Wälzern mit Gesetzestexten , en tdeckte ich etwas Interessantes. Eine Schn eekug el, wie man sie in jedem Souvenirladen find et: eine win terliche Szene mit eine r Berghütte au f einem von Kiefern bestand enen Hügel und Sch neeflocken run dherum. Die Regeln in der Kanzlei meines Vaters waren eindeutig. Nichts an fassen ! Ab er ich konnte nicht widerstehen. Die Ku gel faszinierte mich: Sie war ein zaghafter Versuch von Roman tik in einer Welt in Beigebraun, eine Tür im Schrankrücken , eine un widerstehliche Kindh eitserinneru ng. Ehe ich wusste, wie mir geschah, stand ich au f einem Stuhl, die Ku gel in der Hand, schüttelte sie und sah zu, wie die Schneeflocken immer und immer wieder auf die kleine Welt nied errieselten, die v on der Welt außerhalb der Glaskugel n ich ts ah nte. Ich weiß noch , dass ich mich d anach sehn te, in der Kug el zu sein , zu sammen mit der Frau und dem Mann in dem Häuschen an einem d er go lden erleuch teten Fen ster zu stehen, od er zu sammen mit den Kindern d en rotbraunen Schlitten zu schieb en, an einem sicheren Ort zu sein, der nichts kannte von dem Lärm und dem Gehetze d rauß en . Genauso fühlte ich mich , als ich mich Schloss Milderhu rst näherte. Wäh rend ich den Hügel ho chgin g, konn te ich beinahe spüren, wie die Luft u m mich herum sich veränderte, als würd e ich eine unsichtbare Glaswand in eine andere Welt du rch sch reiten. Vernünftige Menschen würden nicht ernsthaft behaupten, dass Häuser oder Menschen sie magisch an zieh en . Ab er in jener Woche begann ich zu glauben - und ich glaube es noch heute -, dass in Schloss Milderhurst au f
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die ein e oder an dere Weise mag isch e Kräfte am Werk waren. Ich hatte es bei meinem ersten Besu ch gespürt, und ich spürte es wieder an jenem Nach mittag . Ein Lock ru f. Als wü rd e das Schloss mich rufen. Ich nah m nicht den selben Weg wie beim letzten Mal, sondern du rchqu erte die Wiese b is zu r Zu fah rt, g ing über die kleine Steinbrücke und d ann ü ber eine etwas größere, bis das Sch lo ss sich vo r mir hoch und majestätisch erhob. Ich blieb erst steh en, als ich oben auf dem Hügel angekommen war. Dort dreh te ich mich um und schaute in die Richtung, aus der ich gekommen war. Der Wald b reitete sich vo r mir au s, und es schien, als hätte der Herbst die Bau mk ron en in riesige Fackeln v erwan delt, sie lod erten go lden , ro t un d b rau n. Ich ärgerte mich, dass ich keine Kamera dabeihatte, um den Anb lick fü r meine Mutter fotog rafieren zu könn en. Ich v erließ die Zu fah rt, ging an ein er hohen Hecke entlan g und schaute zum Dach fenster hoch, dem kleinen, das zu m Zimmer der Kinderfrau gehö rte, der Kamme r mit der Geheimtü r im Sch ran k. Das Schl oss b eobachtete mich, so kam es mir jed en falls vo r, beäugte mich finster mit seinen zahllosen Fenstern . Ich hielt den Blick abgewandt und fo lgte der Hecke, bis ich d ie Rück seite des Schlosses erreichte. Do rt b efand sich ein alter Hühnerstall, der jetzt leer war, und au f der an deren Seite ein tunnelartiges Gebild e. Als ich näher heranging, erkannte ich, dass es sich um eine Schutzhütte aus Wellblech handelte. Au f einem verrosteten Schild das, wie ich annah m, aus der Zeit stammte, als noch regelmäßig Führung en stattfanden — war zu lesen: »Th e Anderson «, und ob wo hl die Sch rift schon ziemlich v erwittert war, konnte man erk ennen, d ass es sich u m In fo rmationen über die Luftschlacht um England handelte. Eine Bomb e, las ich, war in etwas meh r als einem Kilo meter Entfernung eing eschlagen und hatte einen Jun gen au f einem Fah rrad g etö tet. Die Schu tzhü tte war 1 9 4 0 aufgestellt worden, was bedeutete, dass es dieselbe sein musste, in der meine Mutter während der Luftangriffe g eho ckt hatte, als sie in Milderhu rst wohnte. Es war niemand in der Nähe, den ich h ätte fragen kö nnen, also n ah m ich an, d ass es in Ordnun g war, wenn ich ein en
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Blick h inein warf. Ich stieg ein ige steile Stufen hinunter und befand mich im In nern der ro stigen Wellblechhütte. Es war ziemlich düster, aber du rch d ie o ffen e Tü r fiel g enug Lich t, und ich sah, dass in dem Raum eine Art Bühne mit Kriegsandenken errichtet worden war. Zigarettenbilder mit Spitfires und Hu rricanes, ein kleiner Tisch mit einem altmodischen hölzernen Radio, ein Plakat, au f dem Churchill mich mit ausgestrecktem Fi nger au frief: »Verdien dir den Sieg !« Als wäre es wied er d as Jah r 1 9 4 0 , als hätte es Fliegeralarm gegeben und ich mich hier un ten in Sich erheit geb racht, dar auf wartend, die Flugzeug e üb er mir zu h ö ren. Ich kletterte wieder hinaus, blinzelte gegen das grelle Sonnenlicht. Die Wolken rasten über den Himme l, die Sonne war jetzt hinter einem bleich en, weißen Film verborgen. Ich en tdeckte eine kleine Lücke in der Hecke, ein Hügelchen, das mich zu m Sitzen ein lud . Au s meiner Umh än getasche n ah m ich das Tageb uch meiner Mutter und schlug es vorne auf. Januar 1940 stand dort.
Mein liebes, wunderschönes Tagebuch! Ich habe dich so lange aufbewahrt - schon ein ganzes Jahr, sogar noch ein bisschen länger. Denn du wurdest mir von Mr. Cavill geschenkt, nach dem Examen, und er hat gesagt, ich soll dich für etwas ganz Besonderes benutzen. Er sagt, dass Worte ewig währen und dass ich eines Tages eine Geschichte schreiben würde, die so ein schönes Buch verdient hätte. Damals habe ich ihm nicht geglaubt. Ich wusste eigentlich nie, worüber ich schreiben sollte. Klingt das nicht schrecklich traurig? Ich glaube schon, aber ich meine es nicht so, ich habe es nur aufgeschrieben, weil es stimmt. Ich wusste nie, worüber ich schreiben sollte, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich das einmal ändern würde. Aber ich habe mich geirrt. Es war ein schrecklicher, großer, wunderbarer Irrtum. Denn es ist etwas geschehen, und von jetzt an wird nichts mehr so sein, wie es war. Vielleicht sollte ich als Erstes erwähnen, dass ich dies in einem Schloss schreibe. In einem richtigen Schloss aus Stein mit einem Turm und vielen gewundenen Treppen. An den Wänden hängen große Kerzenleuchter mit dicken, über die Jahrzehnte schwarz gewordenen Wachstropfen. Man könnte meinen, allein dass ich jetzt in einem
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Schloss wohne, ist schon ein » Wunder«, und dass es maßlos ist, sich noch mehr zu wünschen, aber es gibt tatsächlich noch mehr. Ich sitze auf der Fensterbank im Dachzimmer, dem schönsten Platz im ganzen Schloss. Es ist Junipers Zimmer. Wer ist Juniper, würdest du bestimmt fragen, wenn du könntest. Juniper ist der unglaublichste Mensch auf der Welt. Sie ist meine beste Freundin, und ich bin ihre beste Freundin. Juniper hat mir Mut gemacht, dich zum Schreiben zu benutzen. Sie hat gesagt, dass sie es nicht mehr mit ansehen kann, wie ich dich mit mir herumtrage wie einen nutzlosen Briefbeschwerer, und dass es allmählich Zeit wird, dich aufzuschlagen und deine wunderschönen Seiten zu füllen. Sie sagt, die Welt ist voller Geschichten und dass man, wenn man immer nur wartet, bis die richtige vorbeikommt, am Ende mit leeren Seiten dasteht. Genau das ist nämlich Schreiben: Was man sieht und denkt auf Papier festzuhalten. Zu spinnen wie eine Spinne, nur eben mit Worten. Juniper hat mir diesen Füllfederhalter geschenkt. Ich habe das Gefühl, dass er aus dem Turm stammt, und fürchte, dass ihr Vater irgendwann danach suchen könnte, aber ich benutze ihn trotzdem. Es ist ein wirklich großartiger Federhalter. Ich glaube, es ist tatsächlich möglich, einen Federhalter zu lieben, was meinst du? Juniper hat mir vorgeschlagen, über mein Leben zu schreiben. Sie bittet mich immer, ihr Geschichten über Mum und Dad, Ed und Rita und Mrs. Paul von nebenan zu erzählen. Sie lacht immer sehr laut, es ist wie bei einer Flasche, die man schüttelt, bevor man sie aufmacht, sodass es schäumt und spritzt. Erschreckend irgendwie, aber auch schön. Ihr Lachen ist ganz anders, als man erwarten würde. Sie ist so geschmeidig und anmutig, aber ihr Lachen ist heiser wie die Erde. Doch es ist nicht nur das Lachen, das ich an ihr mag. Manchmal blickt sie auch ganz finster drein, wenn ich ihr erzähle, was Rita sagt. Dann regt sie sich auf und schimpft wie ein Rohrspatz. Sie sagt, ich hätte Glück - kannst du dir das vorstellen, dass jemand wie sie das über mich sagt? — dass ich alles, was ich weiß, in der wirklichen Welt gelernt habe. Sie sagt, sie hat alles nur aus Büchern gelernt. Für mich klingt das himmlisch, aber offenbar ist es das nicht. Weißt du, dass sie nicht mehr in London war, seit sie ganz klein war? Sie ist mit ihrer ganzen Familie hingefahren, zur Premiere eines Theaterstücks nach einem Buch, das ihr Vater geschrieben hat: Die wahre Geschichte vom Modermann. Als Juniper das Buch erwähnt hat, 398
da hat sie den Titel ausgesprochen, als müsste ich das Buch kennen, und es war mir peinlich zuzugeben, dass ich es nicht kannte. Meine Eltern sollen verflucht sein dafür, dass sie mir solche Dinge vorenthalten haben! Sie war ziemlich verwundert, das habe ich gemerkt, aber sie hat es mir nicht übel genommen. Sie hat verständnisvoll genickt und gesagt, es würde wohl daran liegen, dass ich in der wirklichen Welt viel zu beschäftigt mit richtigen Menschen war. Und dann hat sie so traurig dreingeschaut, wie sie es manchmal tut, nachdenklich und ein bisschen verwirrt, als versuchte sie, ein kompliziertes Problem zu lösen. Ich glaube, es ist derselbe Blick, der meine Mutter so schrecklich auf die Palme bringt, wenn sie ihn bei mir entdeckt, der Blick, der sie dazu bringt, den Finger zu schütteln und mich auszuschimpfen, ich soll nicht in grauen Wolken schweben, sondern etwas Vernünftiges tun. Dabei liebe ich graue Wolken! Sie sind so viel abwechslungsreicher als der blaue Himmel. Wenn sie Menschen wären, dann würde ich mich nur für sie interessieren. Es ist viel spannender, sich vorzustellen, was hinter ihnen liegt, als in das langweilige Blau zu starren. Heute ist der Himmel grau. Draußen vor dem Fenster sieht es aus, als hätte jemand eine riesige graue Decke über das Schloss geworfen. Der Boden ist gefroren. Vom Dachfenster aus schaut man auf einen ganz besonderen Platz. Einen von Junipers Lieblingsplätzen. Ein Viereck, von Hecken eingefasst, mit kleinen Grabsteinen zwischen den Brombeerranken, die alle schief stehen wie verfaulende Zähne. Clementina Blythe i1Jahr alt Grausam aus dem Leben gerissen Schlaf, meine Kleine, schlaf Cyrus Maximus Blythe 3 Jahre alt Zu früh von uns gegangen Emerson Blythe 1o Jahre alt Von allen geliebt Als ich zum ersten Mal dort war, dachte ich, es wäre ein Kinderfriedhof aber Juniper hat mir erzählt, dass es sich um Gräber von Haustieren handelt. Die Blythes lieben ihre Haustiere sehr, vor allem
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Juniper. Sie hat sogar geweint, als sie mir von Emerson erzählt hat, ihrem ersten Hund. Brrr ...Es ist eiskalt hier drinnen! Seit ich in Milderhurst bin, habe ich einen Haufen gestrickte Socken geerbt. Saffy ist eine großartige Strickerin, aber sie kann nicht zählen, und das hat zur Folge, dass ganz viele von den Socken, die sie für die Soldaten strickt, so klein sind, dass ein großer Mann nur den dicken Zeh reinkriegt, aber für meine kleinen Füße sind sie genau richtig. Ich habe mir drei Paar über jeden Fuß gezogen und drei einzelne über meine rechte Hand und nur die linke Hand freigelassen, damit ich den Federhalter festhalten kann. Was meine krakelige Schrift erklärt. Dafür bitte ich dich um Verzeihung, liebes Tagebuch. Deine schönen Seiten haben etwas Besseres verdient. Ich sitze also allein hier im Dachzimmer, während Juniper unten den Hühnern etwas vorliest. Saffy ist davon überzeugt, dass sie dann besser legen. Juniper, die alle Tiere liebt, sagt, es gibt nichts Klügeres und Beruhigenderes als eine Henne. Und ich mag Eier sehr gern. Und so sind wir alle glücklich und zufrieden. Ich werde mit dem Anfang anfangen und so schnell schreiben, wie ich kann. Erstens bleiben so meine Finger warm ... Lautes Bellen von der So rte, die einem d u rch Mark und Bein geht, riss mich au s meiner Lektüre, und ich sp rang erschreckt auf. Ein Hund erschien auf der Hügelk uppe, Junip ers Lu rcher. Zähn efletschend u nd knurrend funkelte er mich an. »Gu ter Junge«, sagte ich mit zitternder Stimme. »Ganz ruhig.« Während ich noch üb erlegte, ob er sich beruhigen lassen wü rd e, wenn ich ihn krau lte, erschien das Ende ein es Stocks im Sch lamm, g efolgt von einem Paar derber Schuhe. Percy Blythe stand vo r mir. Ich hatte ganz vergessen, wie hager und streng sie wirkte. Auf ihren Stock gestützt blickte sie auf mich herab, ähnlich gekleidet wie bei unserer ersten Begeg nung: h elle Ho se u nd elegant geschnittene Bluse, was recht maskulin gewirkt hätte, wäre d a nicht ih re zierliche Gestalt gewesen u nd die win zige Uh r, die an ih rem dünnen Handg elenk schlack erte.
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»Ach, Sie sind das«, sagte sie, offenbar eb en so überrascht wie ich. »Sie sind zu früh .« »Es tut mir schreck lich leid . Ich wo llte Sie n icht belästigen, ich ...« Der Hund begann wieder zu knurren , und sie machte eine ung ehaltene Handbewegung. »Bruno ! Das reicht.« Er win selte und trottete zu ihr zu rü ck. »Wir erwarten Sie mo rgen.« »Ja, ich weiß . Um zehn Uhr.« »Es bleibt also dabei?« Ich nickte. »Ich bin heute aus London angekommen. Das Wetter war so schön, und ab morgen soll es regnen, da wollte ich die Gelegenheit nutzen, ein bisschen spazieren zu gehen und mir ein paar Notizen zu mach en . Ich dachte, es wü rde Sie n icht stö ren . Dann hab e ich den Lu ftschutzbunk er en tdeckt und ... ich wollte Ihnen kein e Unannehmlichkeiten bereiten.« Irgend wann wäh rend mein er Erklärung h atte ih r Interesse nachgelassen . »Nun ja«, sagte sie o hne g roße Beg eisterung , »wo Sie schon mal hier sind, könn en Sie auch gleich zu m Tee bleiben.«
Ein Fauxpas und ein Coup Der gelbe Salon wirkte viel verwahrloster, als ich ihn in Erinnerung hatte. Bei meinem ersten Besuch hatte ich das Zimme r als gemü tlich empfunden, ein Refugium voller Leben und Licht in dem d ü steren, steinern en Kasten . Diesmal war alles an ders. Vielleicht lag es am Herbst, am Fehlen der Sommersonn e, an der k riech enden Kält e, die dem Winter vo rau sgeht, denn es war nicht nur d er äußere An sch ein, der mich v erblüffte. Der Hund hechelte heftig un d ließ sich vor dem ramponierten Kaminschirm nieder. Au ch er war seit Mai gealtert, fiel mir auf, genau wie Percy Blythe und der Raum selbst. Ich sah Saffy Blythe. Sie stand über ein e edle Porzellanteekan ne gebeugt. »Endlich, Percy«, sagte sie, während sie versuchte, den Deckel wieder au f d ie Kanne zu tun . »Ich d ach te schon , wir mü ssten ein en Such trupp lo ssch icken ... Oh !« Sie hatte 401
sich aufgerichtet und sah mich neben ih rer Schwester steh en. »Gu ten Tag.« »Edith Burchill ist d a«, sagte Percy trocken. »Sie ist zu fällig vorbeigekommen . Ich habe sie eing eladen , zu m Tee zu bleib en.« »Wie schö n«, sag te Saffy, und als ich sah, wie ih re Miene sich au fhellte, wu sste ich , da ss das nicht nur so dahingesagt war. »Ich wollte gerade ein schenk en, aber der Deck el will nicht halten . Ich lege noch ein Gedeck auf ... Was für eine angenehme Überraschung !« Juniper saß am Fen ster, g enau wie b ei meinem ersten Besuch im Mai, aber diesmal schlief sie und schnarchte leise vo r sich hin , den Ko pf an die b lassg rün e Leh ne des Oh ren sessels gesch miegt. Unwillkürlich dachte ich an das Tagebu ch meiner Mutter, an die Beschreibung der bezaubernden jungen Frau, die sie so geliebt hatte. Wie trau rig es war, wie schrecklich, so zu enden . »Wir freuen u ns so , dass Sie kommen ko nnten, Miss Burch ill«, sagte Saffy. »Bitte nennen Sie mich Edie, das ist die Abk ürzung von Edith .« Sie strah lte mich an . »Edith. Was fü r ein hüb scher Name . Es bedeutet >gesegnet im Krieg< nicht wahr?« »Ich bin mir nich t sicher«, antwo rtete ich verlegen . Percy räusperte sich, wo rau fhin Saffy hastig fo rtfuh r: »Der Herr, der vor Ihnen d a war, war sehr gründlich, aber ...« Sie warf einen ku rzen Blick zu Juniper hinüber. »Na ja. Es ist doch viel leichter, sich mit einer Frau zu unterhalten, nicht wahr, Percy? « »Ja.« Als ich die beiden so miteinander erlebte, stellte ich fest, dass mein an fänglicher Eind ruck , sie wären seit meinem letzten Besuch g ealtert, mich nicht getrogen h atte. Als ich die Zwillinge kennen lernte, hatte ich den Eindruck, dass sie gleich g ro ß waren , obwoh l Percy aufgrund ihrer autoritären Art größer wirk te. Aber diesmal war nicht zu übersehen, dass Percy in Wah rh eit kleiner war als Saffy. Und au ch gebrechlicher. Unwillkürlich mu sste ich an Dr. Jek yll und Mr.
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Hyd e denken , an die Szene, wo der gute Arzt seinem k leineren, grau samen Ich begegnet. »Wir setzen un s woh l besser«, sag te Percy säu erlich, »un d trinken un seren Tee.« Wir fo lgten ih rer Au ffo rd erung, Saffy schen kte Tee ein und begann ein Gesp räch mit Percy über Bruno, den Hund - wo sie ihn gefund en habe, wie es ihm g ehe, wie ih m d er Spa ziergang bekommen sei. Sie bestritt das Gesp räch fast ganz allein, und ihren Worten konn te ich entnehmen , dass Bru no krank war und sie sich So rgen um ih n machten, g roß e So rgen. Beide sp rach en mit g edämp fter Stimme, sch auten zwischendurch verstohlen zu der schlafend en Juniper hinüb er. Mir fiel wied er ein , wie Percy mir erzählt hatte, dass Bruno Junipers Hund war und sie imme r dafü r so rgten, d ass sie ein Haustier hatte, weil jeder Mensch etwas b rauch e, das er lieben könne. Ich beobach tete Percy üb er meine Teetasse hin weg. Ob wohl sie so k ratzbü rstig war, hatte sie etwas an sich , das mich faszinierte. Ich hörte ih re knappen Antwo rten au f Saffys Fragen, sah ihre verkniffen en Lippen , die schlaffe Haut, die tiefen Fu rchen , die ihre fin stere Miene üb er die Jah re in ih r Gesich t g eg raben hatte, u nd fragte mich, ob sie woh l auch sich selbst gemeint hatte, als sie sag te, jeder b rauche etwas, das er lieben könne. Ob auch ihr jemand genommen worden war. Das alles beschäftigte mich so sehr, dass ich, als Percy sich umdrehte und mich direkt anschaute, befü rcht ete, sie hätte meine Gedanken gelesen. Ich blin zelte, und meine Wangen glühten, und erst da wu rd e mir klar, dass Saffy mit mir redete und dass Percy mich angeschaut hatte, weil ich nicht antwortete. »Verzeihung«, sagte ich . »Ich war mit d en Ged anken woan ders.« »Ich hatte nur nach Ihrer Fahrt hierher gefragt«, sagte Saffy. »Sie war ho ffentlich angenehm? « »O ja, danke.« »Ich weiß no ch, wie wir als Kinder nach London gefahren sind . Erinnerst du dich, Percy?« Percy brummte zustimmend. Saffy war auf einmal sehr lebhaft. »Dadd y hat uns jedes Jahr mit nach London geno mmen . An fang s sind wir mit de m Zug gefahren, wir hatten un ser eigenes kleines Abteil zu-
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sammen mit unserer Kinderfrau , und als Dadd y den Daimler gekau ft hat, sind wir mit dem A uto gefahren . Percy war immer lieber hier im Schloss, aber ich fand es groß artig in London. Dort passierte so viel, und dann all d ie feinen Da men und elegan ten Herren. Die Kleider, die Schuhe, die Park s.« Sie lächelte, aber es wirkte traurig. »Ich dachte immer ...« Das Lächeln versch wand, und sie schaute in ihre Teetasse. »Na ja. Ich nehme an, alle jungen Frauen haben ihre Träume. Sind Sie verheiratet, Ed ith? « Die Frage kam so unerwartet, dass ich erschrocken einatmete, woraufhin sie eine Hand hob . »Verzeihen Sie die Frage. Wie taktlos von mir!« »Ganz und gar n ich t«, sag te ich. »Es macht mir n ichts aus. Nein, ich bin nicht v erheiratet.« Sie lächelte wieder. »Hab ich 's mir g edacht. Ich ho ffe, Sie halten mich nicht fü r au fd ringlich , aber mir ist au fg efallen , dass Sie keinen Ring trag en. Aber vielleicht ist das bei jungen Leuten h eutzutage n ich t mehr ü blich. Ich ko mme n icht viel unter Leute.« Sie schaute fast un merklich zu Percy h inüb er. »Keine von un s.« Ih re Hand beweg te sich nerv ös, bis sie an einem Medaillon Halt fand , d as sie an einer fein en Kette um den Hals trug . »Ich hätte einmal beinah e geheiratet.« Percy neben mir veränd erte ih re Sitzpo sition. »Ich glaube kaum, dass Miss Burchill sich fü r un sere traurig en Geschich ten ...« »Du h ast recht«, sagte Saffy errötend . »Wie törich t von mir...« »Ganz im Gegenteil«, beeilte ich mich einzuwerfen. Ich hatte das Gefühl, dass sie in ihrem langen Leben viel zu oft hatte n ach Percys Pfeife tanzen mü ssen. »Erzählen Sie mir mehr davon.« Ein Zischeln, als Percy ein Streichholz anriss und sich eine Zigarette anzündete. Saffy war o ffensichtlich hin - und hergerissen, in ih rem Gesicht spiegelte sich ein e Mischung aus Sch üchternheit und Mitteilungsbedürfnis, während sie ihre Sch wester beobachtete. Sie deutete Zeichen, die mir verbo rgen blieben, erkundete ein Schlachtfeld , au f dem d ie beid en schon zahllose Gefechte ausg etragen hatten. Erst als Percy
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aufstand, mit ihrer Zigarette zu m Fen ster ging un d au f de m Weg eine Stehlampe ein schaltete, wan dte Saffy sich mir wieder zu. »Percy hat recht«, sagte sie leise, und da wusste ich, d ass sie diesen Zweikamp f verlo ren h atte. »Es tut nicht s zu r Sache.« »Aber wieso, ich ...« »Ihr Vo rwort, Miss Burchill«, schaltete Percy sich ein. »Wie weit sind Sie damit? « »Ja, bitte«, sagte Saffy, die sich wieder gefan gen hatte, »erzählen Sie uns, wie Sie vo rg ehen wollen? Wollen Sie zu nächst ein Gespräch mit un s füh ren? « »Eig entlich«, sag te ich , »h at sich Mr. Gilbert bereits so au sfü hrlich mit Ihnen unterhalten, dass es nicht nötig sein wird, Ihre Zeit allzu seh r in An spruch zu nehmen .« »Ah ... ach so, ich verstehe.« »Darüber hatten wir doch schon gesprochen, Saffy«, fauchte Percy. »Ja, natürlich.« Saffy lächelte mich an, aber ich konn te die Trau rigkeit in ih ren Augen sehen. »Es ist nur so, dass eine m man che Dinge ... erst viel sp äter wieder ein fallen ...« »Ich wü rde mich seh r gern mit Ihnen unterhalten, falls Sie mir n o ch etwas erzählen wollen, das Sie Mr. Gilb ert nicht gesagt haben .« »Das wird nicht nötig sein, Mi ss Burchill«, sag te Percy und kam an den Tisch zu rück , u m ih re Asche abzuk lop fen . »Sie sagten ja selb st, dass Mr. Gilbert b ereits seh r viel Material zu sammen gestellt hat.« Ich nick te, ab er ih re Unn achg iebigk eit v erblü ffte mich . Sie vertrat vehement die An sicht, dass keine weiteren Gespräche erforderlich waren. Offen bar wollte sie au f keinen Fall, dass ich mich mit Saffy allein unterhielt. Dabei war es Percy gewesen, die Adam Gilbert au s dem Projekt gekickt un d darau f bestand en hatte, dass ich übernahm. Aber waru m? Und warum hatte sie etwas dagegen, dass ich mit Saffy sprach? Ging es ih r um Kontrolle? War Percy Blythe so sehr daran gewöhnt, über das Leben ih rer Sc hwestern zu bestimmen, dass sie nicht ein mal ein Gespräch zulassen konnte, b ei d em sie nicht an wesend war? Od er steck te meh r dahin ter, fürchtete sie sich vo r dem, was Saffy mir erzählen könnte?
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»Sie so llten Ih re Zeit lieber dazu nutzen , den Tu rm zu besichtig en und ein Gefühl fü r das Haus zu bekommen«, fuhr Percy fo rt. »Un d fü r die Art, wie mein Vater gearbeitet hat.« »Ja«, sagte ich, »selbstverständlich. Das ist zweifello s wichtig.« Ich war von mir selbst enttäu sch t, wu rde das Gefüh l n icht lo s, d ass auch ich mich Percy Blythes Willen un terwarf. Aber tief in mein em Innern regte sich der Widersp ruch. »Trotzdem«, hö rte ich mich sagen, »sch eint es no ch einig es zu geben , was bish er n icht berücksichtigt wu rde.« Der Hund, der immer noch vo r dem Ka min lag , win selte kurz, und Percys Augen wu rden sch mal. »Ach? « »Mir ist aufgefallen, dass Mr. Gilbert sich nicht mit Ihrer Sch wester Jun iper unterhalten hat, u nd ich dach te, ich könn te vielleicht...« »Nein.« »Ich v erstehe, dass Sie sie nicht beun ruhigen mö ch ten, und ich v ersp rech e Ih nen ...« »Miss Burchill, ich versichere Ihnen, dass Ihnen ein Ge sp räch mit Juniper keinerlei n eue Erk enntnisse üb er d ie Arbeit un seres Vaters vermitteln würde. Sie war noch nicht einmal geboren, als mein Vater d en Modermann geschrieben hat.« »Das ist rich tig , ab er das Vorwort so ll von Ih nen dreien handeln, und ich wü rde wirklich gern ...« »Miss Burchill.« Percys Stimme w ar eiskalt. »Wie Sie wissen, ist unsere Schwester nich t gesu nd. Ich ha be Ihnen b ereits erklärt, dass sie in ih rer Jugend einen schreck lichen Verlust erlitten hat, eine Enttäu schun g, vo n der sie sich nie wieder erholt hat.« »Ja, das haben Sie erwähnt, un d ich wü rd e nicht im Trau m daran denken , mit Juniper üb er Tho mas zu ...« Ich b rach ab , als Percy erbleichte. Es war das erste Mal, dass ich erlebte, wie sie die Fassung verlor. Der Name war mir irgendwie herausgerutscht, und er h ing zwischen un s in der Lu ft. Sie g riff hastig nach ein er neu en Zigarette. »Es bleib t dabei«, sagte sie mit ein er Erregung , die das Streich ho lz in ih rer Hand erzittern ließ , »b esichtigen Sie d en Tu rm, verschaffen Sie sich einen Eindruck von der Arb eitsweise unseres Vaters ...«
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Ich nickte. Mir war, als hätte ich eine Bleikugel versch luckt. »Falls Sie noch irg end welch e Frag en haben , wend en Sie sich an mich und nich t an meine Sch western .« Was Saffy dazu v eran lasste, au f ih re unn achah mlich e Weise zu intervenieren. Sie hatte d en kleinen Schlagabtausch mit gesenktem Blick verfolg t, doch jetzt schaute sie au f, ih r Gesichtsausdruck war freu ndlich und san ft, ih re Stimme klar, ihr Ton vollkommen arglos. »Das bedeutet natü rlich, dass sie sich Dadd ys Klad den an sehen mu ss.« Kann es sein , d ass es plötzlich kühler im Raum wurde, oder schien es mir nur so? Niemand hatte Raymond Blythes Kladden jemals zu Gesicht beko mmen , weder zu seinen Lebzeiten no ch im Lau fe vo n fün fzig Jah ren Fo rschung nach sein em Tod. Mythen rankten sich u m die Frage, ob sie überhaupt existierten. Jetzt zu erleben , wie sie so beiläu fig erwähn t wu rd en, die Chance zu wittern, sie wo mö glich in Händ en zu halten, die Handsch rift des großen Mannes zu lesen, mit den Fingerspitzen vorsichtig seinen Gedank engän gen zu folgen ... »Ja«, brach te ich kaum hörbar heraus. »Ja, bitte.« Percy hatte sich Saffy zug ewand t und bed achte sie mit einem vernichtenden Blick, und ich begriff, dass Percy auf keinen Fall zulassen wollte, dass ich diese Kladden zu sehen bekam. Ich hielt den Atem an , wäh rend die Zwillin ge b ered te Blicke austauschten. »Mach schon , Percy«, sagte Sa ffy blinzelnd, un d ih r Lächeln geriet ein bisschen in Schieflag e. Sie wirkte beinahe verblü fft, als k önnte sie gar nicht verstehen, dass sie Percy drängen musste. Sie warf mir einen v erstohlenen Blick zu , kaum merklich, aber er reichte au s, u m mir zu sag en, dass wir Verbündete waren . »Zeig ih r das Familienarchiv .« Das Familien arch iv. Natü rlich, do rt mu ssten sie sein! Es war wie eine Szen e au s dem Modermann: Raymond Blythes kostbare Kladden, verborgen in einem Raum vo ller Geheimnisse. Percys Lippen, ih r Bru stk orb, ih r Kinn - alles erstarrte. Warum wollte sie nicht, dass ich die Kladden zu sehen bekam? Enthielten sie Ding e, die ih r Angst machten?
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»Percy? « Saffy sp rach mit ih r wie mit einem Kind, de m man gut zuredet, damit es sich traut, den Mund aufzumach en. »Sin d die Klad den immer noch im Archiv? « »Das n ehme ich an . Ich habe sie jeden falls nicht herau sgeholt.« »Also dann? « Und als ih re Sch wester nicht reagierte: »Percy? « »Heute n icht meh r«, sag te Percy sch ließ lich und d rückte ih re Zigarette in einem kleinen kristallenen Aschenbecher au s. »Es wird gleich dunk el. Es ist schon fast Abend.« Ich schaute zum Fenster und sah, dass sie recht hatte. Die Sonne war untergegangen, oh ne dass ich es bemerk t hatte. »Wen n Sie mo rgen wiederko mmen , zeige ich Ih nen das Arch iv.« Ihr Blick schien mich zu du rchb ohren . »Und, Miss Burchill? « »Ja? « »Kein Wort mehr über Juniper u nd ihn.«
1 London, 2 2 . Juni 1 9 4 1 Es war eine kleine Wohnu ng, nu r zwei winzige Zimmer un term Dach eines viktorianischen Hauses. Die Zimmerdecke fiel nach ein er Seite hin sch räg ab , b is sie auf d ie Wand stieß, die jemand gezogen hatte, um aus der zugigen Mansarde zwei kleine Zimmer zu machen, und es gab keine rich tige Kü che, nu r ein Wasch becken an der Wand und einen einflammigen Gaskocher. Es war eigentlich nicht Toms Wohnu ng, er hatte k ein e eig ene, weil er n ie eine gebrau cht hatte. Bis der Krieg ausbrach, hatte er bei seinen Eltern in Elep hant and Castle gewohnt, und d anach war er mit sein em Regiment nach Frankreich g ekommen , wo sie au fgerieben wurden und sich schließlich bis zur Küste durchschlugen. Nach Dün kirchen hatte er in einem Bett im Notlazarett in Chertsey geschlafen. 408
Seit seiner Entlassun g au s der Armee h atte er mal hier, ma l da gewohnt. Er p fleg te sein verwun detes Bein un d wartete darau f, wieder an die Front beordert zu werden. Überall in London stand en Woh nung en leer, so dass es nie ein Problem war, eine Bleib e zu fin den . Der Krieg hatte alles du rch einandergewirbelt: Mensch en, Be sitz, Freund schaften , und es gab k eine eindeu tig en Reg eln me h r fü r richtig es Verh alten. Diese Wohnung, dieses schlich te Zimmer, d as er b is zu seinem Tod in Erinnerung behalten sollte, weil er hier die schö nsten Stu nden seines Leb en s v erb ring en wü rd e, gehö rte einem Freund, mit dem er zusammen studiert hatte, vo r langer Zeit, in ein em anderen Leb en. Es war n och früh , aber To m war schon b is zu m Pri mr o se Hill und zurück g elau fen . Er schlief nicht gut. Nicht meh r, seit er sich während des Rückzugs aus Frankreich bis an die belgisch e Kü ste durchg eschlagen h atte. Er wachte mit d en Vög eln au f, vo r allem eine Spatzenfamilie weckte ihn, die sich auf seinem Fenstersims eingerich tet hatte. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sie zu füttern, aber das Brot war so wieso schon schimmelig gewesen , und d er Mann unten bei der Lebensmittelausgabe hatte ih m eingeschärft, es nicht wegzuwerfen. Die Hitze und der Damp f, wenn er Wasser ko chte, ließen sein Brot schnell verschimmeln. Er ließ das Fenster immer offen, aber die Tageshitze, die sich in den unteren Wohnungen staute, d rü ckte du rch das Treppenhaus nach oben, drang durch die Bod end ielen und verb ündete sich un ter der Zimmerd ecke mit der Feu chtigkeit. Was blieb ih m anderes übrig, als sich damit abzu finden: De r Schimmel ge hörte zu ihm wie die Spatzen. Er wachte früh auf, er fütterte sie, er ging sp azieren. Die Ärzte hatten ih m gesagt, spazieren gehen sei das Beste für sein Bein , aber Tom h ätte sowieso nichts anderes getan . Eine Rastlosigk eit hatte ihn ergriffen, seit er in Frankreich gewesen war, und die trieb ihn jeden Tag nach drau ßen. Jeder Schritt auf dem Asphalt half ein bisschen, und er war froh ü ber die Erleichteru ng, auch wenn er wusste, dass sie nicht lan ge anhalten wü rd e. Als er am Mo rg en oben au f dem Primrose Hill gestanden und beobachtet hatte, wie die Dämmerung die Ärmel aufk remp elte, hatte er den Zoo und das
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BBC-Gebäude geseh en und in der Fern e die Kup pel d er St.Pau l's-Kathed rale, die sich über der zerbo mb ten Stadt erhob . Während der schlimmsten Bo mb en angriffe hatte To m im Kran kenh aus gelegen, und am dreißigsten Dezember war die Oberschwester mit der Times zu ihm g eko mmen (inzwischen hatte er die Erlaubnis, Zeitung zu lesen ). Sie war mü rrisch , ab er nich t un freundlich an seinem Bett steh en geblieben, un d noch eh e er die Schlagzeile zu Ende gelesen hatte, hatte sie es als Gotteswerk b ezeichn et. Tom k a m es zwar eben falls wie ein Wund er vo r, dass die Kathedrale noch stand, aber seiner Meinung nach hatte es eh er etwas mit Glü ck zu tun als mit Gott. Er hatte seine Probleme mit Gott, mit der Vo rstellu ng, dass ein gö ttliches Wesen beschließen sollte, ein Gebäude zu verschonen , während halb England verblutete. Der Oberschwester jedoch hatte er mit einem Nicken zugestimmt: Wenn er sich dem Verdacht d e r Blasphemie ausgesetzt hätte, wäre sie nur zu seinem Arzt gerannt, u m ih m ih re Besorgn is über seinen Geisteszustand in s Ohr zu flüstern . Auf dem schmalen Fenstersims stand ein kleiner Spiegel. Tom, bekleidet mit Unterhemd und Hose, beu gte sich vo r und rieb sich mit dem letzten Stück Rasierseife, das ihm geblieben war, über die Wangen. Gleich gültig betrachtete er sein scheckiges Spiegelbild in dem marmorierten Spiegel, den jung en Mann, d er den Kop f schief legte, damit das milchige Sonnenlicht auf seine Wange fiel, das Rasiermesser vo rsichtig Strich u m Strich über sein Kinn führte, zusammenzuckte, als er seinem Ohrläppchen zu nahe kam. Der Mann im Spiegel wusch das Messer in der flachen Wasserschü ssel aus, schüttelte es kurz und begann mit der anderen Seite, als wü rd e er sich fein machen, um seiner Mutter einen Gebu rtstag sbesu ch abzu statten ... Tom riss sich aus seinen Ged anken und seufzte. Er d epo nierte d as Rasiermesser so rg fältig au f dem Fen sterb rett u nd legte die Hände au f den Schüsselrand . Drück te die Aug en fest zu und zählte bi s zehn. Das passierte ihm h äu fig in letzter Zeit, seit seiner Rückkehr aus Frankreich , vor allem seit seiner Entlassung au s d em Lazarett. Es war jedes Mal, als befände er sich außerhalb seines Körp ers, ein Beobachter,
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unfähig zu glauben, dass d er junge Mann im Spiegel mit de m liebenswürdigen Gesich t und d em freund lich en Blick, d er gerade seinen Tag began n, er war, Thomas Cavill. Dass die Erfah rung en der v ergangenen anderthalb Jah re, d as Gesehene und d as Gehö rte - d as Kind , g roßer Go tt, das tot und allein auf der Straße in Frankreich gelegen h atte — h inter diesem immer n och jugendlich glatten Gesicht existieren konnten. Du bist Thomas Cavill, sagte er sich mit Nachdruck, als er bei zehn ankam, du bist vierundzwanzig Jahre alt, du bist Soldat. Heute hat deine Mutter Geburtstag, und du wirst sie zum Mittagessen besuchen. Sein e Schwestern wü rd en auch dort sein , die älteste mit ih rem kleinen Sohn Thomas — nach ih m b en annt — und auch sein Bruder Joey. Aber Th eo wü rde nicht kommen, er befand sich mit seinem Regimen t zu r Au sbildung im No rden und sch rieb gu t gelaun te Briefe über Butter und Sah ne und ein Mädchen na mens Kitty. Es wü rd e wie imme r au sgelassen zugehen, so wie seit Krieg sbeginn üb lich : Keiner wü rde Frag en stellen, keiner wü rde sich beklagen oder sich höchsten s auf scherzhafte Weise darüber beschweren, wie kompliziert es war, Eier und Zucker zu beschaffen . Niemand wü rd e bezweifeln, dass England es mit den Deutschen au fneh men konnte. Dass sie du rchhalten wü rden . To m k onn te sich vag e daran erin nern, dass er auch einmal so gefühlt hatte. Juniper nahm d en Zettel aus der Tasche und las noch einmal die Ad resse. Dreh te und wend ete ihn und verfluchte sich selbst für ihre unleserliche Schrift. Sie schrieb zu hastig , zu unü berlegt, war, wenn sie etwas sch rieb, in Gedank en sch on bei d er n äch sten Idee. Sie sch aute an d em sch malen Haus hoch, en tdeckte die Nummer auf der schwarzen Haustü r. Sech sundzwanzig . Es war d as richtige Hau s. Es mu sste es sein. Entsch lossen stop fte Jun iper den Zettel wieder in ih re Tasche. Abgesehen von der Hausnummer u nd dem Straßenn amen erkannte sie d as Hau s aus Merrys ansch aulichen Besch reibungen so gen au , wie sie d ie Ab tei vo n No rthan ger od er den Gutshof Wuth ering Heights erkennen würd e. Leichtfüß ig stieg sie die Stu fen hoch und klo pfte an .
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Sie war seit gen au zwei Tagen in London und konnte es immer noch nicht glauben . Sie kam sich vor wie eine Romanfigur, die ihr Buch verlassen hatte, die Geschich te, die ein Auto r lieb evo ll fü r sie ersonnen hatte, als h ätte sie sich mit einer Schere ausgeschn itten und wäre in die unvertrau ten Seiten einer anderen Geschich te gesp rungen , wo es v iel sch mu tzig er und lau ter zuging, ein er Geschich te mit eine m ganz anderen Rhythmus. Ab er die Geschichte gefiel ihr bereits: das Ged ränge, das Du rcheinan der, die Dinge und Menschen, die sie nicht verstan d. Es war gen au so au freg end, wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Die Tü r öffnete sich, und ein mü rrisches Gesicht riss sie aus ihren Gedanken. Eine junge Frau , jünger als sie, ab er zu gleich auch irg end wie älter. »Was wollen Sie? « »Ich mö chte zu Meredith Bak er.« Junip ers Stimme k lan g fremd in ih ren eigenen Ohren, hier in dieser anderen Geschichte. Plötzlich sah sie ein Bild vor sich , Percy, die immer genau wusste, wie sie sich in der Welt drau ßen zu verhalten hatte. Dann schob sich ein anderes Bild darüber, Per cy, rot im Gesicht, nach einem Streit mit ihrem Vater, und Juniper ließ es wie Sand zu Boden rieseln. Die jung e Frau mit den widerwillig g eschü rzten Lippen , bei der es sich n ur u m Rita h andeln k onnte, mu sterte sie v on oben bis unten und betrach tete sie arg wö hnisch und seltsamerweise, wo sie sich doch noch nie beg egnet waren , voller Abn eigun g. »Meredith!«, rief sie schließlich. »Komm an die Tür!« Juniper und Rita beäug ten einand er wo rtlo s, wäh rend si e warteten. Alle möglichen Wö rter sammelten sich in Junipers Kop f und verb anden sich zu einer Beschreibung, die sie später b enutzen wü rde, wenn sie ih ren Schwestern sch rieb. Dann k am Meredith ang elau fen, die Brille au f der Nase u nd einen Lappen in der Hand, und plötzlich spielten die Wo rte keine Rolle mehr. Merry war die erste Freu ndin , die Jun iper je g ehab t hatte, zu m ersten Mal hatte sie erlebt, dass ih r jeman d fehlte, und es hatte sie überrascht, wie sehr sie gelitten hatte. Als Merrys Vater unangekündigt in Milderhu rst au fgetaucht war, u m seine Tochter abzuholen , h atten die b eiden Freu ndinn en ei-
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nander in den Armen g eleg en, und Jun iper hatte Merry ins Oh r geflüstert: »Ich komme nach London. Wir sehen uns bald wied er.« Merry hatte geweint, aber Juniper nicht, jedenfalls nicht beim Abschied . Sie hatte gewinkt und war in ih r Dach zimmer h o chgestieg en und hatte versu cht sich zu erinnern , wie es war, allein zu sein . Sie war ih r Leben lang allein gewesen, aber in der Stille, die Merry zu rückgelassen hatte, war etwas Neues zu hö ren . Eine Uh r, die leise tick te und die Sekund en bis zum Eintreff en eines Schick sals zählte, dem Ju nip er unbed ingt entkommen wollte. »Du bist gek o mmen !«, rief Meredith und schob sich blin zelnd die Brille h och, als befü rchte sie, nicht richtig zu se hen. »Ich hab's dir doch versp rochen .« »Wo wo hn st d u? « »Bei meinem Patenonkel.« Merediths Miene hellte sich auf. »Lass uns rau sgeh en !«, sag te sie lach end und nah m Juniper an der Han d. »Ich sag Mu m, d ass du d as Geschirr nich t zu End e gespü lt hast!«, rief die Schwester ih nen hinterher. »Lass sie nu r reden«, sagte Meredith. »Sie ist sauer, weil der Friseu r, b ei dem sie arbeitet, sie nicht aus der Besenkammer rauslässt.« »Jammerschade, dass er sie nich t eing esperrt hat.« A m Ende war Juniper Blyth e au f eigen e Faust n ach London gefahren. Mit dem Zug , wie Mered ith es ih r vo rg eschlagen hatte, als sie zusamme n au f dem Dach von Sch lo ss Mild erhu rst gesessen hatten . Ih ren Schwestern zu entwischen war viel ein facher gewesen , als sie erwartet hatte. Sie war ein fach über die Wiesen und Felder gelau fen und war erst stehen g eblieben , als sie den Bahnhof erreichte. Vo r lau ter Begeisterung darüber, es bis hierher geschafft zu haben, hatte sie einen Mo ment lang g anz v ergessen, dass sie jetzt den näch sten Schritt tun mu sste. Junip er k onnte sch reiben, sie konn te sich g roß artige Geschichten au sd enk en, konnte aus Wörtern und Sätzen gan z eigene Welten entwer fen , aber in allen anderen Din gen war sie ein ho ffnung slo ser Fall. Alles, was sie über die wirkliche Welt und ih re Gesetze wu sste, hatte sie sich au s Büchern zu sammen g ereimt, au s den Gesprächen ihrer Sch western - die auch nicht gerade
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weltgewandt waren - und au s dem, was Merry ihr von London erzählt hatte. So war es al so kein Wunder, dass sie, als sie v o r dem Bahnho f stand, ke ine Ahnung hatte, was sie als Näch stes tun sollte. Erst als sie die kleine Bude mit dem Sch ild »Fah rk arten « entdeckte, hatte sie sich daran erinnert, dass sie sich natürlich eine Fah rkarte kaufen mu sste. Geld war etwas, da s Junip er n ie gekann t od er g eb raucht hatte, aber nach dem T od ihres Vaters war ein kleiner Betrag au fgetauch t. Fü r die Einzelheiten d es Testamen ts hatte sie sich n icht interessiert - es reich te ih r zu wissen , d ass Percy wütend war, Saffy beun ruh igt und sie, Ju niper, d er ahnung s lose Grund für all den Verd russ -, aber als Saffy ein Bünd el richtig es Geld erwähnte, Banknoten, d ie man an fassen u nd zusammenfalten und gegen Dinge eintauschen konnte, und vo rg eschlagen hatte, sie an einem sicheren Ort zu verwahren, hatte Juniper Nein gesag t und erklärt, sie würde sie gern behalten, um sie sich hin und wied er anzu sehen. Saffy, die liebe, nachgiebige Saffy hatte die Bitte ohne mit der Wimp er zu zucken ak zep tiert, weil sie von Juniper gekommen war, die sie liebte, und deshalb hatte sie keine Fragen gestellt. Der Zug war voll besetzt gewesen, aber ein älterer Herr im Abteil war aufgestanden u nd hatte sich an den Hut getippt, und Juniper hatte verstan den , d ass er ih r seinen Platz anbo t. Einen Fensterplatz. Wie charmant die Leute waren! Sie hatte gelächelt, und er hatte genickt, und sie hatte mit ihrem Koffer auf dem Schoß Platz geno mmen und abgewartet, was als Nächstes passieren wü rd e. »Ist Ih re Reise wirklich no twendig? «, stand au f einem Schild am Bahnsteig. Ja, d achte Juniper, ja, das ist sie. Im Schloss zu bleiben , davon war sie meh r denn je überzeugt, wü rd e b edeut en, dass sie sich in ein Sch ick sal füg te, d as sie unmöglich akzeptieren konnte. Wie dieses Schicksal aussah , das hatte sie in den Augen ih res Vaters gesehen, als er sie an den Schultern gepackt und gesagt hatte, sie wären aus demselben Holz. Dampf wirbelte und waberte über den Bahn steig, und sie war so au fgeregt, als wäre sie auf den Rücken eines riesigen, fauchenden Drachen geklettert, der gleich losfliegen und sie an einen märchenh aften Ort brin gen wü rde. Ein schrilles Pfeifen ertön te, d as Jun iper die Haare zu Berg e stehen ließ,
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und dann setzte d er Zug sich schnau fend und sch wan kend in Bewegung. Juniper drück te d ie Nase ans Fen ster. Un willkü rlich musste sie lachen, vo r Freude d arüber, dass sie es getan hatte. Sie hatte es wirklich getan. Mit d er Zeit beschlug d ie Scheibe du rch ih ren Atem, u nd namen lose Bahnhöfe, Felder, Dö rfer und Wäld er flo gen v orbei, verschwommene Grün - und Blau - und Rosatön e, wie von einem Künstler mit wässrig em Pinsel verwischt. Hin und wieder liefen die Farben zu einem Bild zusammen, eingerahmt vom Viereck des Fensters. Wie ein Gemäld e von Constab le od er von einem d er anderen Maler, die ihr Vater bewunderte. Zeitlo se Landschaftsdarstellungen, von denen er mit der vertrauten Trau rigkeit in den Augen zu schwär men pflegte. Juniper hatte nichts übrig fü r das Zeitlo se. Sie wu sste, dass so etwas nicht existierte. Es g ab nu r d as Hier und Jetzt und ih r Herzklop fen. Es k lop fte sc hnell, aber nicht zu schnell, denn sie saß in einem Zug nach Lond on, u mg eb en von Lärm und Bewegung und Hitze. London. Juniper sprach das Wo rt ganz leise aus, dann noch einmal. Kostete seine Ausgewogenheit au s, seine zweisilb ige Sy mmetrie, die Art, wie es sich au f der Zunge an fühlte. Leicht und doch sch wer, wie ein Geh eimn is, wie ein Wo rt, das Liebende sich zu flüsterten. Juniper wollte Liebe, wollte Leid enschaft, wollte Verwicklungen. Sie wollte leb en un d lieben, wollte Geheimnisse erlausch en, wissen , wie andere Menschen miteinander redeten, was sie fühlten, was sie zum Lachen, zum Weinen, zu m Seu fzen b rachte. Men sch en, d ie nicht Percy oder Saffy oder Raymond oder Juniper Blythe waren. Einmal, als sie noch ganz klein war, war ein Ballonfah rer von den Wiesen in Milderhurst gestartet. Junip er konn te sich nicht erinnern, warum, ob er ein Freu nd ih res Vaters g ewesen war oder ein Abenteurer, jedenfalls hatte es zu r Feier des Ereignisses auf dem Rasen am Schloss ein Früh stückspicknick g egeben und alle waren zu sammengekommen, sogar die Vettern und Ku sinen au s d em No rden u nd einige ausgewählte Leute au s dem Dorf, um dem großen Ereignis beizuwohnen. Der Ballon war mit dicken Seilen am Boden veran-
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kert gewesen, und als die Flamme gezü ngelt hatte und der Ko rb vo m Boden abhob, hatten Männer, die an den Seilen po stiert waren, diese gelöst. Die Seile hatten un ter der Spannung gek reisch t, die Flamme n waren höher geschlagen, und einen Moment lang , als alle das Schauspiel mit großen Augen verfolgten, hatte es au sgeseh en, als wü rd e es zu r Katastrophe kommen. Nu r eins der Seile hatte sich g elöst, Ballon und Ko rb gerie ten ins Schlingern, die Flammen kamen d er Ballo nhülle g efäh rlich nah . Juniper hatte ihren Vater angese hen . Sie war no ch ein Kin d gewesen un d hatte nichts üb er die Sch reck en seiner Vergangenheit gewu sst, erst später so llte er seine jü ngste Toch ter mit seinen Geh eimn issen belasten, aber in dem Augenblick hatte sie begriffen, dass er nichts so sehr fürchtete wie Feuer. Als er beob ach tete, was sich vo r ihn en ab sp ielte, war sein Gesicht weiß wie Marmo r gewesen, in das die Ang st tiefe Furch en gemeiß elt hatte. In letzter Minu te hatten sich auch die and eren Seile g elöst, der befreite Ballon hatte sich ausgerichtet und war hoch in den b lauen Himmel au fgestiegen. Für Juniper war der Tod ihres Vaters wie das Lösen des ersten Seils gewesen. Sie hatte die Befreiung gespü rt, als ih r Kö rp er, ih re Seele zu schlingern begannen und ein großer Teil der erdrückend en Last von ih r abgefallen war. Die restlichen Seile hatte sie selbst gekappt: Sie hatte wahllos ein paar Kleider in einen kleinen Ko ffer gestop ft, zwei London er Adressen eingesteckt und einen Tag abgewartet, an dem ihre Schwestern so beschäftigt waren, dass sie unb emerkt ih ren Weg zum Bahnhof hatte an treten könn en. Nur ein letztes Seil fesselte Juniper jetzt noch an ih r Zu hause. Es war von Percy und Saffy so rg fältig v ertäu t wo rd en und viel schwerer zu lö sen als die and eren. Ab er es mu sste getan werden, denn die Lieb e und So rge ih rer Sch western fesselten sie genauso wie die Erwartungen ih res Vaters. Als Juniper in London ang eko mmen war und, u mg eben vo n Damp fsch wad en, im geschäftigen Treiben d es Charin gCro ss-Bahnho fs stand , hatte sie sich eine mä ch tig e, glänzen de Schere vo rg estellt un d das letzte Seil du rchtren nt. Sie hatte zugesehen, wie es erschlaffte, einen Aug enblick lan g
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zö gerte un d dann in d er Ferne versch wand und zu m Schlo ss zu rück sch nellte wie ein Gu mmi band . Endlich frei, hatte sie sich nach einem Briefkasten erkun digt und den Brief eingeworfen, in dem sie in knappen Worten erklärte, was sie getan hatte und warum. Er würde in Milderh u rst eintreffen, bevor ihre Schwestern Zeit hatten, sich allzu große Sorgen zu machen oder einen Su chtrupp loszuschicken, um sie zu rück zuho len . Sie wü rden sich furchtbar aufregen, das stand außer Frage, vor allem S affy wü rd e v or Ang st vergehen, aber was sonst hätte Juniper tun sollen? Ein s war gewiss: Ih re Sch western hätten sie n iemals allein nach Lond on fah ren lassen . Juniper und Meredith lagen im Park nebeneinander auf dem sonn enverbran nten Rasen, in den Baumkronen über ihnen spielten Lich tpunk te Fan gen . Sie hatten sich nach Lieg estüh len umgesehen, aber die meisten waren kaputt und von an deren Parkbesuchern an Baumstämme gelehnt worden in der Ho ffnu ng, dass jemand sie rep arierte. Juniper machte es nichts au s, es war sengend heiß , und d as Gras und die küh le Erde darunter fühlten sich angenehm an. Sie hatte eine Hand un ter ihren Ko pf geschoben, während sie in der anderen Hand ein e Zigarette hielt, d ie sie lang sam rau chte. Sie schloss abwechselnd das rechte und das linke Auge und beo bachtete, wie das Laub der Bäume vor dem Himmel zitterte, während Meredith ihr von den Fo rtschritten mit ih rem Manu sk ript berichtete. »Un d wann lässt du es mich lesen? «, fragte sie, nachde m ih re Freundin geendet hatte. »Ich weiß nicht. Es ist fast fertig. Ab er ...« »Ab er was?« »Ich weiß nicht. Ich bin ein bissch en ...« Juniper d rehte sich zu ih r, hielt sich die Hand üb er die Aug en geg en das g relle Licht. »Ein bisschen was? « »Nervö s.« »Nervö s? « »Was ist, wenn du es fu rch tbar find est? « Meredith setzte sich auf. Juniper setzte sich eben falls auf und kreuzte die Bein e. »Ich werd e es nich t fu rch tbar finden .«
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»Aber wenn doch, werde ich nie, nie wieder etwas schreiben.« »Tja, wenn das so ist, mein Hühnchen «, sagte Junip er mit gespielter Strenge, Percy nach ah men d, »dan n hö rst du a m besten sofort auf zu sch reiben .« »Weil du jetzt scho n glaub st, d ass d u es furch tbar finden wirst!« Verblüfft registrierte Juniper die Verzweiflung in Meredith s Aug en. Sie hatte nu r einen Scherz g emach t, herumgealbert, so wie sie es immer taten. Sie hatte damit gerechnet, dass Merry lach en und mit eben so strenger Stimme etwas ähnlich Al bernes von sich geben würde. Verwirrt über Merrys Reaktion gab sie ih ren g espielt strengen Ton au f. »So habe ich das doch nich t gemein t«, sagte sie und legte ih re Fingerspitzen an das Herz ih rer Freundin, sodass sie spü rte, wie es sch lug. »Schreib, was hier drin ist, weil du es tu n mu sst, weil es dir Freude be reitet, aber niemals, weil du mö chtest, dass jemand an derem g efällt, was du sch reibst.« »Nicht einmal dir? « »Mir am a llerwen ig sten! Lieber Himmel, Merry, was in Gottes Namen weiß ich denn schon? « Meredith lächelte, die Verzweiflu ng war verflogen , und plötzlich erzählte sie gan z aufgeregt von einem Igel, der im Luftschutzraum ihrer Familie aufgetaucht war. Juniper hörte ihr zu und lachte und sch enkte d er seltsamen An spannung ih rer Freundin nu r wen ig Aufmerk samk eit. Wenn sie ein and erer Men sch g ewesen wäre, jemand, dem erfundene Personen und Orte nicht so leicht zu Gebote standen, dem die Worte nicht so willig zu flo gen, hätte sie Merrys Ängstlichkeit besser verstanden. Aber so war sie nicht, und nach einer Weile hörte sie ganz auf, darüber nach zudenken. In London zu sein, frei zu sein, im Gras zu sitzen, die Sonne im Rücken zu spüren, das war das Einzige, was zählte. Als Ju niper ih re Zigarette ausdrückte, sah sie, dass ein Knopf an Meredith s Bluse sich geöffnet hatte. »Du verlierst ja dein e Blu se, Hühnchen «, sag te sie. »Ko mm, ich mach dir den Kno p f zu .«
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2 To m b eschlo ss, zu Fuß nach Elephant and Cast le zu gehen. Er mo chte die U-Bahn nicht; di e Züge fuh ren ih m zu tief un ter der Erde, sie machten ihn nervös, sie gaben ihm das Gefühl, eingeschlossen zu sein. Es kam ih m wie eine Ewigkeit vor, dass er mit Joey au f dem Bahn steig g estanden und au f das Getöse d es h erandonnernden Zuges gewartet hatte. Er lo ckerte die Hände, die er neb en sein em Kö rper zu Fäu sten geballt hatte, als er daran dachte, wie er das vor Hitze und Au fregung v ersch witzte Händchen gehalten hatte, als sie gemein sam in den Tunnel gespäht un d au f das Au ftauchen der zwei Lichter gewartet hatten , au f d en mu ffig en, staub igen Windstoß, der die Ank un ft d es Zuges ankünd igte. Tom blieb noch einen Mo ment mit geschlossenen Augen stehen, während die Erinnerung lang sam v erb lasste. Als er seinen "Weg fortsetzen wollte, wäre er b ein ahe üb er d rei ju nge Frauen g estolp ert, jünger als er, d ie sich in ih ren ad retten Arbeitskostümen so selb stbewusst und fo rsch bewegten, dass er sich wie ein unbeh olfener Tö lpel vo rk am. Sie läch elten ihm zu , als er b eiseitetrat, und reck ten d ie Hände zu m Victo ry-Zeichen . To m erwiderte ih r Läch eln , ein bissch en zu steif, ein bissch en zu spät, un d ging weiter Rich tu ng Brü cke. Hinter sich hö rte er no ch ih r Lach en, sp ritzig und sprudelnd wie ein küh ler Drink vo r dem Krieg, und den Klang ih rer energischen Schritte. Irgendwie hatte er das Gefüh l, etwas verpasst zu hab en; was gen au, hätte er nicht sagen können. Er blieb nicht steh en und sah nicht, wie sie die Köpfe zusammensteckten und sich umdrehten, um noch einen Blick au f den g roßen jung en Sold aten zu werfen und über sein hübsches Gesicht und d ie ernsten d unklen Aug en zu tu scheln. Tom konzentrierte sich au f das Gehen, darauf, einen Fuß vo r den anderen zu setzen - genauso, wie er es in Frankreich getan hatte -, und dachte über dieses Symb o l n ach . Das V fü r Victory. Es tauchte üb erall au f, un d er frag te sich, wo her es kam, wer seine Bedeu tung festg elegt hatte un d wieso es inzwischen alle verwendeten. Als er die Westminster Bridge üb erquerte u nd sich dem Haus seiner Mutter näherte, be merkte Tom etwas, das er bis419
her igno riert h atte. Die Rastlosigkeit, die Un ruhe war wieder da, das Gefüh l, dass ih m etwas feh lte. Es hatte sich zu sammen mit d er Erinnerung an Joey eingeschmuggelt. Tom holte tief Lu ft und b eschleun igte seine Sch ritte in d er Hoffnun g, so seinem Sch atten zu entkommen. Es war seltsam, dieses Gefü hl. Wie k onnte etwas, das nich t da war, genau so sch wer auf einem lasten wie ein realer Geg en stand? Es war ein bisschen wie Heimweh, was ihn verblüffte; ersten s war er kein Kind mehr und zweitens — er war do ch zu Hau se. Als er au f den nassen Planken des Sch iffs gehock t hatte, das ihn von Dün kirch en h ergeb racht hatte, o der sp äter, als er in dem Krankenhausbett mit d er gestärkten Wäsch e lag, oder au ch in seiner ersten Mietwohnung in Islington, immer hatte er gehofft, dieses Gefühl, dieser dumpfe, un au slöschbare Schmerz würde nachlassen, sob ald er sein Elternh aus betrat, sobald seine Mutter ih n in die Arme n ehmen , an seiner Schulter weinen und ih m v ersichern wü rde, er sei jetzt wieder zu Hause u nd alles werd e gut. Aber d iese Ho ffnung h atte sich nicht erfüllt, und Tom wusste, waru m. Der Hunger hatte in Wirklichkeit überhau pt n ich ts mit Heimweh zu tun . Er hatte den Begriff zu leichtfertig b enutzt, vielleich t sogar ho ffn ung svoll, u m d as Gefü hl zu besch reiben, das Wissen darum, dass etwas Grundsätzliches verlo ren geg angen war. Ab er es war kein Ort, nach dem er sich sehn te; die Wah rheit war g rau samer. Er vermisst e ein en Teil von sich selbst. Er wu sste, wo er diesen Teil verlo ren h atte. Es war au f jenem Schlachtfeld am Escaut-Kanal p assiert, als er sich u mged reht hatte und d em Blick des an deren Sold aten b egegn et war, eines Deutschen, der sein Geweh r direkt au f To ms Rücken gerichtet hatte. Vor Panik war ih m d er Sch weiß ausgebrochen, doch plötzlich war das Gewicht, das au f ihm lastete, leichter geworden. Ein Teil von ih m, d er Teil, d er fü hlte und Angst hatte, hatte sich gelöst, wie eins der Zigarettenblättchen au s der Tabakbüchse sein es Vaters, war zu Bo den geflattert und auf dem Schlachtfeld zu rü ckgeb lieben. Der an dere Teil, d er üb rig geblieb ene harte Kern n amen s Tom, hatte den Kopf eingezogen u nd war gerannt, ohne zu denken oder irgendetwas zu emp finden , nu r noch d as Geräu sch d es eigen en k euchenden Atems in den Ohren.
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To m wu sste, dass d iese Ab spaltung , diese Ersch ütterung zwar einen besseren Soldaten, aber zug leich ein en u ntaug lichen Menschen aus ih m g emacht hatte. Aus diesem G rund woh nte er nicht meh r zu Hau se. Seitdem b etrach tete er Ding e und Menschen wie durch eine beschlagene Glasscheibe. Er kon nte sie zwar sehen, aber nu r versch wo mmen , und vo r allem kon nte er sie n icht berühren. Der Arzt hatte es ihm i m Kran kenh aus erklärt und gesagt, dass viele sein er Kamerad en an ähnlichen Symp to men litten. Das mochte ja stimmen, aber dadurch wurde es nicht erträg licher, dass er nichts als Leere emp fand, als sein e Mutter ihn angelächelt hatte wie früher, als er noch ein Junge war, u nd ihn au fg efo rdert h atte, seine Socken au szu ziehen und ih r zu m Sto p fen zu geben; als er au s der alten Tasse seines Vaters getrunk en hatte; als sein kleiner Bruder Joey - inzwischen ein Hü ne, aber fü r ihn imme r no ch sein kleiner Bruder Joey - einen Freuden sch rei au sgesto ßen hatte u nd linkisch au f ihn zu gestü rmt war, in der Hand die zerfledderte Ausgab e von Black Beauty; als seine Sch western geko mmen waren und besorgt festgestellt hatten, wie abgemagert er war, und versp rochen hatten, etwas von ih ren Rationen abzuzweigen, um ihn wieder au fzup äppeln. To m hatte ab so lut n ichts emp funden, un d desh alb h ätte er am lieb sten ... »Mr. Cavill!« To m blieb beinahe das Herz stehen , als er den Namen seines Vaters hö rte. In dem e lektrisierenden Mo ment, der darauf folgte, wu rde ih m sch windlig vo r Glück, denn es bedeutete, dass sein Vater no ch lebte und es ih m gu t ging und alles wieder ins Lot kommen würde. Es war also keine Einbild ung gewesen, als er in den vergangenen Woch en gesehen hatte, wie er ih m au f den Lond oner Straß en en tgeg engekommen war, wie er ih m auf dem Schlach tfeld zu gewin kt und au f d em Schiff, mit dem sie den Kanal überqu erten , seine Hand erg riffen h atte. Das heißt, man che Din ge waren tatsächlich Einbildung gewe sen, aber nicht die, von denen er es angeno mmen h atte: Diese Welt voller Bomb en und Kugeln , das Gewehr in sein er Hand, d ie Überquerung des tü ckischen, fin steren Meers in lecken Sch iffen und das mo n atelange Dahin siechen in Krankenhäu sern, wo die sterile Sauberkeit den Geruch nach Blut ü berdeckte und von Kin -
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dern, die im Bo mb en hag el verb rann t waren - das waren g rau sig e Produkte der Fantasie. In der wirklichen Welt, du rch fuh r es ihn mit überwältigender, k indlicher Freud e, war n ämlich alles in Ordnung, weil sein Vater noch lebte. Es konnte nicht anders sein, denn jeman d rief ihn beim Namen. »Mr. Cavill!« To m d rehte sich u m. Ein Mädchen winkte ih m zu , das ih m bekannt vorkam. Sie ging in der Art jung er Mäd chen , die älter wirken wollen - die Schultern g estrafft, das Kinn vo rg ereckt, die Handgelenke nach außen ged reht -, und konn te doch ihre kin dliche Aufreg ung n icht verb ergen . Sie war von einer Parkbank au fg esprungen und kam durch die Absperrung gelaufen , wo zuvor der schmiedeeiserne Zaun gestanden hatte, aus dem jetzt Nieten , Kug eln und Flugzeugtrag fläch en hergestellt wu rd en. »Hallo , Mr. Cavill«, sagte sie atemlos, als sie vor ih m stehen b lieb . »Sie sind ja wieder zu rück !« Die Hoffnung, seinen Vater zu erblick en, zerstob ; die Freu de und Erleichterung lö sten sich in nichts auf. Tom stieß einen erstickten Seu fzer au s, als er beg riff, dass er Mr. Cavill war und dass dieses Mädchen, das vo r ih m auf dem Pflaster stand und ihn durch ih re Brille an blin zelte, eine Sch ülerin von ihm w ar, oder besser g esagt, ein e eh emalige Schülerin von ih m. Au s einer Zeit, als er noch Schüler h atte, als er noch mit lächerlichem Patho s von heh ren Idealen gesp ro chen hatte, d ie er selb st nicht ein mal i m An satz v erstan d. To m wand sich in nerlich, als er daran zurückdachte, wie er einmal gewesen war. Meredith. Jetzt fiel es ihm wieder ein. So hieß sie, Mere dith Baker, ab er sie war gewach sen , seit er sie das letzte Mal gesehen h atte. Sie war kein kleines Mädchen meh r; sie war ho ch au fgescho ssen und stolz auf jeden Zentimeter. Er musste lächeln, rang sich ein Hallo ab, und dann durchströmte ihn ein angenehmes Gefühl, das er nicht so fo rt eino rdnen konnte, etwas, das mit dem Mäd chen, mit Meredith zu tun hatte und mit dem letzten Mal, als er ihr begegnet war. Stirnrunzelnd durchforstete er sein Gedächtnis, bis das Bild vo r ih m au ftau chte, das dieses angenehme Gefühl hervorgeru fen hatte: ein heißer Tag, ein rund er Badeteich, ein e jung e Frau.
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Und da sah er sie. Die ju nge Frau vo m Badeteich, leibh aftig hier in London , und gan z ku rz hatte er d as Gefü hl, dass seine Fan tasie ih m einen Streich spielte. Wie sollte es sonst sein? Die junge Frau seiner Träume, die er so oft vor sich gesehen hatte, strahlend , sch weben d, läch elnd , wäh rend er du rch Frank reich marsch iert wa r; als er unter dem Gewicht seines toten Kameraden Andy zusammengebrochen war, den er wer weiß wie lange au f den Schultern getragen hatte; als die Kug el ih n erwischt hatte und seine Knie nachgegeb en hatten u nd sein Blut den Erdboden in der Nähe vo n Dü nkirch en zu färben b egann ... Kopfschüttelnd schaute er sie an, während er im Stillen bis zehn zählte. »Das ist Juniper Blythe«, sagte Meredith an ih rem obersten Blu senkn opf fingern d und sah die ju nge Frau sch mu nzelnd an . Thomas folgte ih rem Blick. Juniper Blythe. Ja, natürlich, so hieß sie. Dann lächelte sie ihn mit erstaunlich er Offen heit an , und ihr Gesicht war wie verwandelt. Er hatte das Gefü hl, v erwan delt zu sein , als wäre er fü r den Bruchteil ein er Sekund e wieder jener junge Man n, der an einem heißen Tag, bevor der Krieg begann , an einem g litzernden Teich stand. »Hallo «, sagte sie. Tom nickte als Erwiderung , weil ih m die Worte nicht üb er die Lipp en wollten. »Mr. Cav ill war mein Leh rer«, sagte Meredith . »Du hast ihn einmal in Milderhurst gesehen.« To m mu sterte Jun iper verstohlen, während sie Meredith an blick te. Sie war kein e schö ne Helen a. Wieder fielen ihm d ie zu weit auseinanderstehenden Augen au f, das zu lan ge Haar, die Lü cke zwischen den Schneidezähnen. Doch was bei allen an deren Frau en als Makel gegolten hätte, bei ihr wirkte es wie eine Extravag anz, ein e Steigeru ng ih rer Schön heit. Es war ihre besondere Art der Lebhaftigkeit, die sie zu etwas Besonderem mach te, d achte er. Sie war ein e un natürliche Sch önheit, und doch war sie vollko mmen natü rlich. Strah lender, erhab ener als alles andere.
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»A m Badeteich «, sagte Meredith g erad e. »Erinn erst du dich? Er war geko mmen , u m zu seh en, ob ich gut untergeb racht war.« »Ach ja«, sag te d ie jung e Frau, sagte Juniper Blythe, u nd als sie sich To m zuwandte, gab etwas in ihm nach. Ih m stockte der Atem, als sie lächelte. »Sie sind in meinem Teich gesch wo mmen .« Es war eine sch erzh afte Bemerkung, und wie g ern hätte er leichth in etwa s erwidert, gesc herzt, so wie früher. »Mr. Cavill ist auch ein Dichter«, sagte Meredith, un d ih re Stimme schien vo n irgend wo anders zu kommen , von weit her. To m v ersu chte sich zu kon zen trieren . Ein Dichter. Er k ratzte sich die Stirn. Als solchen betrachtete er sich schon lange nicht mehr. Er erinnerte sich vage, dass er in den Krieg gezogen war, um Erfahrung en zu sammeln , in dem Glauben , es würde ihm helfen, die Geheimnisse dieser Welt zu ergründen, die Dinge auf neue, intensivere Art wahrzu nehmen. Und das hatte er getan. Er tat es immer no ch. Nu r dass d ie Ding e, die er gesehen und erlebt hatte, in Gedichten kein en Platz hatten. »Ich schreibe nich t mehr viel«, sagte er. Es war der erste Satz, der ihm ü b er die Lipp en kam, und er hatte das Gefühl, ih n noch weiter au sfüh ren zu müssen. »Ich bin mit anderen Ding en besch äftigt.« Er sah jetzt nu r no ch Juniper an . »Ich woh ne in Notting Hill«, sagte er. »Bloomsbury«, erwiderte sie. Er nick te. Sie hier zu treffen , un ter diesen Umständ en, nachdem er sie sich so oft und au f so versch iedene Weise vo rg estellt hatte, war ih m fast p einlich . »Ich kenne nicht viele Leute in Londo n «, fuh r sie fo rt, und er war sich n ich t sich er, ob sie naiv oder sich ihres Char mes vollkomme n bewusst war. Was es auch sein mo ch te, etwas an der Art, wie sie es sagte, ermutigte ih n. »Sie kenn en mich «, sagte er. Sie sah ihn merkwürdig an, den Kop f gen eigt, als lausch te sie Worten, die er nicht gesag t hatte, dann lächelte sie. Sie nahm einen Notizblock au s ih rer Tasche und schrieb etwas au f. Als sie ih m d en Zettel gab und ih re Finger seine Han d -
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fläche streiften, durchfuh r es ih n wie ein Stro mschlag. »Ja, ich kenne Sie«, bestätigte sie. In diesem Moment und jedes Mal, wenn er sich später an das Gesp räch erinne rte, war er dav on üb erzeu gt, dass keine vier Wo rte jemals schön er geklung en un d meh r Wah rh eit enthalten hatten. »Sind Sie un terweg s nach Hause, Mr. Cavill? « Die Frage kam von Meredith. Er hatte ganz vergessen, dass sie auch no ch d a war. »Ja, richtig«, antwortete er. »Meine Mu tter hat h eute Geburtstag .« Er warf einen Blick au f sein e Ar mb an duhr, aber die Ziffern erg aben keinen Sinn. »Ich so llte mich au f den Weg mach en .« Meredith hob g rin send eine Hand und machte das VictoryZeichen; Juniper läch elte nur. Erst als er in die Straße einbog , in d er seine Mu tter wohnte, faltete Tom den Zettel au seinander. Bis er die Haustü r erreichte, hatte er sich die Ad resse in Bloomsbury bereits eingeprägt. Es war schon spät, als Meredith end lich allein war un d alles au fsch reib en konn te. Der Aben d war eine Qu al ge wesen. Rita und ihre Mutter hatten sich währen d des Essen s die gan ze Zeit g estritten, dann hatte ih r Vater darauf bestanden, dass sie sich alle zu samme n im Radio Chu rchills Red e ü ber die Russen anhö rten, und anschließend hatte ih re Mutter, die Meredith noch immer wegen des Vertrauensbruchs am Schloss bestrafte, einen Haufen Socken hervorgekramt, die gestop ft werd en mu ssten. In die Kü che verbannt, die wie immer i m Sommer einem Brutkasten glich, h atte Mered ith den Tag mehrmals an sich vorüberziehen lassen , u m keine no ch so gerin ge Einzelheit zu vergessen. Und dann endlich hatte sie in die Stille ih res Zimmers en tfliehen können, das sie mit Rita teilte. Sie saß au f d em Bett, den Rücken an die Wand gelehnt, ih r Tag ebuch, ihr kostb ares Tagebuch, auf den Kn ien , und sch rieb wie im Rausch die Seiten vo ll. Es war richtig g e wesen zu warten, Folter hin od er her; Rita v erh ielt sich ih r gegenüber in letzter Zeit b esond ers unau sstehlich, n ich t au szu denk en, was passieren
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wü rd e, wenn sie das Tagebuch entdeckte. Gott sei Dank hatte sie jetzt ung efäh r eine Stu nde fü r sich. Rita war es vor einiger Zeit au f irg endeine unerklärliche Art und Weise gelun gen, die Au fmerksamkeit des Fleischerg ehilfen von gegenü ber auf sich zu lenken . Es mu sste Liebe sein: Der Kerl sch affte Wü rste beiseite, die er Rita heimlich zusteckte. Rita hielt sich natü rlich fü r die Größte und war felsen fest dav on überzeugt, dass die Hochzeit nicht meh r lange au f sich warten ließ . Leid er machte die Liebe sie nicht sanftmütiger. Als Meredith am Nach mittag nach Hau se kam, h atte Rita schon g ewartet und zu wissen verlang t, wer d ie junge Frau g ewesen war, die am Mo rg en an die Tür geklopft hatte, wohin sie so eilig v erschwund en waren und was Meredith vorhatte. Meredith hatte es ihr natü rlich nicht verraten. Das kam gar nicht in frage. Juniper wa r ih r Geheimn is. »Eine Freundin«, hatte sie g esagt, bemü ht, ni cht allzu geheimnisvoll zu klingen. »Mum wird nicht erfreut sein, wenn ich ihr erzähle, dass du dich vo r der Hau sarb eit d rücks t und dich stattdessen mit so einer Wichtig tuerin rumtreib st.« Ab er Meredith kon nte es ihr ausnahmsweise mit gleicher Mü nze zu rückzah len . »Dad auch nicht, wenn ich ihm erzähle, dass du es im Lu ftschutzraum mit dem Würstchenmann treibst.« Rita war vo r Emp ö rung rot angelaufen und hatte irgendetwas nach ihr gewo rfen, vermutlich ih ren Schu h, der sie schmerzhaft am Knie traf, aber sie hatte gegenüber ih rer Mutter kein Wort über Juniper v erlauten lassen . Meredith setzte beherzt ein en Punkt hinter den Satz und nuck elte ged ank enverlo ren an ih rem Stift. Als Näch stes wü rd e sie beschreiben, wie sie un d Juniper Mr. Cavill über den Weg gelaufen waren, der so ernst und kon zen triert vo r sich au f den Boden gestarrt h atte, als wü rd e er sein e Sch ritte zäh len. Schon als sie ihn vo m Park au s entdeckte, hatte ih r Kö r per gewusst, dass er es war, noch b evo r ih r Verstand es b egriffen hatte. Ihr Herz hatte einen Satz gemacht wie eine losgelassene Sprungfeder, und sie mu sste daran den ken , wie verknallt sie in ihn gewesen war. Wie sie ihn angesehen un d
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bei jedem Wort an seinen Lippen gehangen und sich vorgestellt hatte, sie würden bestimmt eines Tages heiraten. Die Erinnerung ließ sie ersch audern. Sie war d och no ch ein Kin d gewesen damals. Was in aller Welt hatte sie sich nu r dab ei gedach t? Wie seltsam es war, wie unerg rün dlich, wie wunderbar, dass sie Juniper und ihn an ein und demselben Tag wiedergetroffen hatte. Au sg erechnet die beid en Menschen, die ih r am meisten dabei geholfen hatten, den Weg zu find en, den sie in ih rem Leb en einschlagen wo llte. Meredith wu sste, dass sie eine b lühende Fantasie b esaß, ih re Mutter meckerte ständ ig an ih r herum wegen ihrer Tagträumerei, aber das ko nnte kein Zu fall sein, es musste etwas zu bedeuten hab en. Es mu sste ein Wink des Schicksals sein , dass sie beide gleichzeitig wieder in ih rem Leben au fgetaucht waren. Plö tzlich kam Meredith eine Id ee; sie sp rang vo m Bett und zo g ih re Sammlu ng billiger Notizhefte aus dem Versteck unten im Schrank hervor. Die Geschich te hatte no ch kein en Namen, aber sie brauchte ein en, bevo r sie sie Juniper zu lesen geb en konnte. Sie abzu tipp en wie ein o rdentliches Manuskript konnte auch nicht sc haden - Mr. Seeboh m in Nu mmer vierzehn besaß eine alte Schreibmasch ine; vielleicht du rfte sie sie b enutzen, wenn sie im Geg enzug anb ot, ih m sein Mittagessen zu brin gen . Sie kniete sich au f den Boden, strich sich die Haare hinter die Ohren und blätterte in den Heften , las h ier und da ein paar Zeilen. Aber selbst die Ab schnitte, au f die sie ganz besond ers stolz war, würden, das spü rte sie, unter Junip ers p rü fendem Blick dahinwelken . Ih r sank der Mu t. Die gan ze Geschichte war viel zu steif. Ihre Figu ren redeten zu viel und empfanden zu wenig und schien en überh aupt nicht zu wissen , was sie vom Leben wo llten. Aber vo r allem f eh lte etwas Grundlegendes, ein Asp ekt in der Existenz ih rer Heldin, der unb eding t mit Leben gefü llt werden mu sste. Wie merkwürdig, dass sie darauf noch nicht gekommen war! Lieb e, natürlich. Das war es, was ih re Geschichte b rau chte. Denn es war doch allein die Lieb e - dieses Sp rungfederGefühl im Innern -, die zäh lte, od er etwa nicht?
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3 London, 1 7 . Oktober 1 9 4 1 Das Fenstersims in Toms Mansarde war außergewöhn lich breit, darauf saß es sich perfekt. Es war Junipers Lieb lingsplatz, was natürlich üb erhaupt nichts damit zu tu n hatte, dass sie das Dachzimmer von Schloss Mild erhu rst vermisste. Denn das tat sie nicht. Und sie würde es auch nicht vermissen . Im Lau f der Monate, d ie sie fern von Milderh u rst verbracht hatte, war in ih r d er En tsch luss g ereift, n ie wieder dorthin zurückzukehren . Sie wusste inzwischen über das Testament ihres Vaters Bescheid, über die Rolle, die er ih r zu gedacht hatte, und welch en Au fwand er betrieben hatte, um seinen Willen durchzusetzen. Saffy hatte es ih r alles in einem Brief erklärt, aber nicht, um Juniper ein schlech tes Gewissen einzured en, sondern um ihrem Verdruss über Percy Luft zu machen, die ihr in Mild erhu rst mit ih rer ü blen Laune das Leben schwer machte. Juniper hatte den Brief zweimal gelesen, um sich zu vergewissern, dass sie ihn wirklich verstanden hatte, dann hatte sie ihn im Hyd e Park in den Serpentine-See geworfen und zugesehen, wie sich das feine Papier lang sam au flö ste und die blau e Tinte zerfloss, während sich ihre Wut nach und nach legte. Ihr Verh alten erinnerte sie an ih ren Vater, das war ih r eb en falls klar gewo rden, und es passte zu dem alten Herrn, dass er noch aus d em Grab herau s versuchte, das Leben seiner Töchter zu bestimmen. Aber Juniper würd e sich das nicht bieten lassen. Sie hatte nicht vor, sich von den Gedanken an ih ren Vater den Tag verdüstern zu lassen . Dieser besondere Tag sollte nu r vo n Sonn en schein erfüllt sein, au ch wenn die wirkliche Sonn e sich heute kau m b licken ließ. Mit angezogenen Knien , den Rücken gegen die Fen sterbrüstu ng gelehn t, rauchte sie zufrieden und ließ den Blick üb er d en Garten sch weifen. Es war Herbst, der Boden war übersät mit dich tem Laub, und der kleine Kater war außer sich vo r Vergnü gen . Seit Stunden tobte er dort unten herum, belauerte imaginäre Feinde und stürzte sich auf sie, versch wand u nter Laubh aufen und versteckte sich an schattigen 428
Stellen. Die Dame aus d er Parterrewohnung , deren Wohnun g in Coventry ein Raub der Flammen geworden war, kam gerade heraus. Sie stellte ein Schüsselchen mit Milch au f den Boden. Viel konnte sie nicht erüb rigen angesichts der jüng sten Rationierungen, aber es reichte immer noch, das streunende Kätzch en glücklich zu machen. Von der Straße kam ein Geräusch , und Juniper reckte den Hals, um b esser sehen zu k önnen. Ein Mann in Un ifo rm n äherte sich. Sie bekam Herzk lop fen. Es dau erte einen Mo ment, bis sie begriff, dass es nicht Tom war; sie zog an ihrer Zigarette und un terd rückte einen an genehmen Sch auer der Vorfreude. Natürlich war er es nicht, no ch n ich t. Er wü rd e mind esten s noch eine halbe Stunde b rauchen . Wenn er seine Familie besuchte, dauerte es imme r ein e Ewigkeit, ab er bald würde er zurück sein, den Ko p f vo ll mit Geschich ten , und dann würde sie ihn überrasch en. Juniper betrachtete den kleinen Tisch neben dem Gaskoch er, d en sie fü r ein paar Penn ys erstanden und den ih r ein Taxifahrer für eine Tasse Tee nach Hause tran sportiert hatte. Auf dem Tisch stand ein Festessen, das eines Königs würdig gewesen wäre. Eines Königs während der Rationierung zumin d est. Die beid en Birnen hatte Juniper auf d em Po rtobello -Markt ergattert. Wund erbare Birn en, noch d azu zu eine m Preis, den sie so gerade hatte bezah len k önnen . Sie hatte sie gründlich poliert und sie malerisch neben die Sandwiches und die Sardinen und das in Zeitung sp apier gewickelte Päck chen gelegt. In der Mitte th ron te stolz au f einem u mg edreh ten Eimer der Kuch en. Ihr erster selbst gebackener Kuchen. Schon vor Woch en war sie au f die Idee geko mmen , dass Tom einen Geburtstag sku chen beko mmen so llte und sie ih n backen würde. Der Plan war jedoch in s Stocken geraten, als Juniper k lar wu rde, dass sie keine Ah nung hatte, wie man so etwas machte. Zudem waren ih r ernsthafte Zweifel gekommen , ob der winzig e Gasko cher so einer gewaltig en Au fg abe überhaupt gewachsen sein wü rd e. Nicht zu m ersten Mal hatte sie sich gewün scht, Saffy wäre in London . Nicht nu r, u m ih r bei dem K uchen zu helfen; denn auch wenn Juniper de m Sch lo ss n ich t nach trau erte, so vermisste sie doch ih re Schwestern.
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Sch ließlich hatte sie an die Tü r der Parterrewo hnung geklopft, denn dort wohnte ein Mann , dessen Plattfüß e ihn ein Glücksfall fü r die ö rtlich e Kan tin e - vor dem Krieg s dienst bewahrt hatten. Er war zum Glück zu Hause, und als Juniper ihm ih re Zwang slage da rlegte, h atte er sich freud ig bereit erklärt, ih r zu helfen, und gleich eine Liste der Dinge au fgestellt, die b eschafft werd en mu ssten , wob ei die durch die Ratio nieru ngen bedingten Ein sch ränkungen sein en Eh rgeiz geradezu zu beflü geln sch ien en. Er hatte sogar ein ko stbares Ei au s sein en Vo rräten beigesteuert, und als Jun iper sich v erab schied ete, hatte er ih r noch ein in Zeitu ng spapier gewickeltes, mit Sch nu r zu geb unden es Päckch en in die Hand ged rück t. »Ein Geschenk fü r Sie beid e.« Natü rlich gab es keinen Zucker für die Glasur, aber Juniper hatte Toms Namen mit Pfeffermin z-Zahnp asta au f den Kuch en g eschrieben, und es sah wirklich gar nich t so schlecht au s. Irgendetwas Kühles traf ih ren Fußkn öchel. Dann ih re Wan ge. Es hatte ang efangen zu regnen . Jun iper schaute sich u m und frag te sich, wie weit Tom noch weg sein mochte. Seit vierzig Minuten versu chte er sich lo szureißen , hö flich natürlich, aber es war nicht so einfach . Seine Angehörigen waren überglücklich, dass er sich halbwegs normal verhielt und fast wieder »ganz der Alte« war, und sie ko nnten gar nicht genug von ih m beko mmen . Die winzige Kü che seiner Mu tter war zu m Bersten mit Verwandten g efüllt, u nd jed e Frag e, jeder Scherz, jede Feststellung traf ihn wie ein Schlag in s Gesicht. Seine Schwester erzählte soeb en von einer Bekannten, d ie während der Verdunkelung von einem Do ppeldeckerb us üb erfahren wo rd en war. Kopfschüttelnd ereiferte sie sich: »Was für ein Schock, Tommy. Sie war nur rausgegangen, weil sie ein Paket mit Schals für die Soldaten abgeben wo llte.« Tom stimmte ihr zu, dass das schreck lich war - es war wirklich furch tbar -, und er h ö rte zu , als Onkel Jeff b erich te te, dass ein Nachbar ganz ähnlich mit einem Fah rrad kollidiert war, dann scharrte er ein wenig mit den Füßen und stand auf. »Also, schönen Dank, Mum ...«
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»Wie, du geh st schon? « Sie hielt den Wasserkessel hoch. »Ich wollte gerade frisch es Teewasser au fsetzen .« Er küsste sie auf die Stirn, überrascht, wie weit er sich hinunterbü cken mu sste. »Dein Tee ist un schlagbar, aber ich muss wirklich los.« Seine Mutter zog die Brauen hoch . »Und wann wirst du sie un s vo rstellen? « Sein kleiner Bru der Joey sp ielte Loko mo tive, und To m gab ihm einen freundschaftlichen Klaps au f den Rücken . Er wich dem Blick seiner Mutter au s. »Vorstellen? «, sagte er, als er sich die Tasche über die Schulter warf. »Ich habe keine Ahnun g, wovon du redest.« Er schritt forsch aus, denn er h atte es eilig , in seine Woh nun g zu ko mmen , zu ih r, und in s Tro ckene zu gelangen. Aber wie schnell er auch ging, die Wo rte sein er Mu tter hielten Schritt und ließen ih n nich t lo s, d enn eigentlich sehn te sich To m d an ach , seiner Mutter und seinen Geschwistern von Juniper zu erzählen. Wenn er bei seiner Familie war, hätte er am lieb sten irg endeinen von ihnen an den Schultern gepackt und gerufen, dass er verlieb t war und dass die Welt ein wun derbarer Ort war, au ch wen n junge Männ er sich geg en seitig erschossen und jungen Frau en - Mü tter k leiner Kinder - von Dop peld eckerb ussen überfah ren wu rd en, ob wo hl sie b loß Schals für die Not leidenden Soldaten abliefern wollten. Aber er tat es nicht, weil Junip er ih m d as Versp rechen ab genommen hatte, es niemandem zu erzäh len. Ihr entschiedener Wu nsch, dass nieman d von ihrer Liebe erfahren dürfe, verwirrte To m. Die Geheimnistuerei passte überhaupt nicht zu einer Frau , die sonst so geradeh erau s war, d ie Meinung en stets so klar äußerte, sich nie für irgendetwas entschuldigte, was sie empfand oder sagte oder tat. Zuerst war er gekrän kt gewesen und hatte sich gefragt, ob sie vielleich t seine Familie nicht fü r gut genug hielt, aber ih r Interesse an seinen Verwandten hatte ih m diese Sorge genommen. Sie redete über sie, fragte nach ihnen wie jemand, der schon seit Jahren mit d en Cavills befreundet war. Inzwischen hatte er begriffen, dass sie keinen Unterschied zwischen den Men sch en kannte. Außerdem wu sste To m mit Sich erheit, dass Ju nipers
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Schwestern, die sie offenbar sehr verehrte, ebenso im Unklaren gelassen wu rden wie seine eigen e Familie. Briefe v o m Sch lo ss trafen üb er ih ren Patenonk el ein (den d as Täu schungsmanöver nicht g roß zu verwund ern sch ien ), und To m war au fgefallen , dass sie au f ih ren Antwo rtb riefen Bloo msbury als Absenderadresse angab. Er hatte sie nach de m Grund dafür gefragt, zuerst unter einem Vorwand, dann geradeheraus, aber sie hatte ih m kein e An twort gegeben, sondern nur vage erklärt, ih re Schwestern seien übermäßig ängstlich und altmodisch , und sie wolle lieber warten, bis die Zeit reif sei. To m g efiel es nich t, aber au s Liebe tat er, was sie von ih m verlang te. Mit einer Ausnahme. Er hatte es sich nicht verkn eifen können, Th eo zu sch reiben. Sein Bruder war mit seinem Regiment so weit weg im Norden d es Land es stationiert, dass es irgen d wie in Ordnu ng zu sein schien . Außerd em h atte To m seinen ersten Brief über das seltsa me, schön e Mäd ch en, das er k enn engelern t un d d as ih m sein e Leere g eno mmen hatte, geschrieben, lange bevor es ihn gebeten hatte, niemandem etwas zu verraten. Seit der ersten Begegnun g in der Nähe des Bahn ho fs Ele ph ant and Castle h atte To m g ewu sst, d ass er Juniper Blythe unb edin gt wiederseh en mu sste. Gleich am näch sten Tag war er b eim Mo rg eng rau en n ach Bloo msb u ry spaziert, ein fach nu r, so hatte er sich eingeredet, um einen Blick au f die Tür, die Mauern, die Fenster zu werfen, hinter denen sie schlief. Stunden lang hatte er vo r dem Haus g ewartet und eine Zigarette n ach der anderen geraucht, bis sie endlich h erausgekommen war. Tom war ih r ein e Weile g efolgt, bis er sich sch ließ lich ein Herz g efasst und ihren Namen geru fen hatte. »Jun iper.« Er hatte ihn so oft gesag t, gedacht, aber es war and ers, als er ihn jetzt laut au ssprach und sie sich umdrehte. Sie v erbrachten den ganzen sonnigen Tag miteinander, gin gen spazieren , redeten, pflü ckten Brombeeren von den Sträuchern, die über die Friedho fsmauern wu cherten, und als es Abend wu rde, brachte Tom es einfach nicht fertig, sie gehen zu lassen . Er schlug vo r, tan zen zu gehen, weil er g laub te,
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dass jung e Frau en sich dafü r be geisterten . Nich t so Juniper. Ihr angewiderter Gesich tsau sd ruck war so arg lo s, dass es To m d ie Sprache verschlug. Als er sich wieder gefasst hatte und sie fragte, was sie stattd essen lieber tu n wollte, antwo rtete Jun iper, sie könnten doch ein fach weiter spazieren gehen. Die Gegend erkund en, so hatte sie es gen annt. Tom war es gewohn t, zügig zu gehen, und sie hielt mühelo s Schritt, lief mal links, mal rechts neben ihm h er, b ald leb haft red end, bald schweigend . Mit ih rer Unb erech enbarkeit und Unbekümmertheit erin nerte sie ihn an ein Kind, und er wu rd e das mu l mig e und zugleich verfüh rerisch e Gefüh l nicht los, dass er sich auf jemanden einließ, fü r den no rmale Verhaltensregeln keine Bedeutung hatten. Immer wieder blieb sie unvermittelt stehen , um sich etwas an zu sehen, und holte ihn dann im Laufschritt wieder ein, oh ne au f d en Weg zu achten, und er fü rchtete scho n, d ass sie im Dunkeln in ein Loch im Pfl aster treten oder über einen der heru mlieg enden Sandsäcke stolpern könnte. »Hier ist es anders als auf dem Land , weißt du «, erk lärte er in ungewollt lehrerhaftem Ton fall. Ab er Juniper lachte nur und sagte: »Das ho ffe ich doch. Genau deshalb bin ich hergeko mmen .« Sie erklärte ih m, sie habe Augen wie ein Adler, das h abe etwas mit dem Sch lo ss und ih rer Erziehung zu tun. To m konn te sich nicht mehr an die Einzelheiten erinnern , er hatte irgend wan n au fgehö rt zuzu hören. Die Wolken hatten sich verzo gen , und der volle Mond verlieh ihrem Haar einen silb rigen Schimmer. Zum Glück hatte sie ihn nich t dabei ertappt, wie er sie an gesehen h atte. Sie hatte sich unvermittelt hingeho ckt und an gefan gen, in einem Sch utth au fen zu wü hlen . Als er näh er ging, um zu sehen, was ih re Aufmerksamkeit erregt hatte, sah er, dass sie inmitten all der Zerstö rung ein Gewirr aus Geißblattp flanzen entdeckt hatte, die zu Boden gefallen waren , als das Rankgitter umgestürzt war, un d trotzdem weiterwu chsen. Sie b rach einen k leinen Trieb ab und schob ihn sich ins Haar, während sie eine seltsame, liebliche Melodie vo r sich hin su mmte. Als sie bei Sonnenaufgan g in seine Woh nung ho chgeg angen waren, hatte sie ein altes Marmeladenglas mit Wasser ge-
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füllt, den Zweig hin ein gesteckt und das Glas au f d ie Fen sterbank gestellt. Noch Nächte danach, wenn er allein in der warmen Dunkelheit lag und die Gedanken an sie ihn nicht sch lafen ließ en, h atte er den süßen Du ft wahrgeno mmen . Und Tom musste denken, dass Juniper genauso wie diese Blume war. Ein Wesen von unfassbarer Vollkommenheit in einer Welt, die in Trümmern versank. Es war nicht nur ihr Au sseh en, und es waren auch nicht nur die Dinge, die sie sag te. Es war etwas anderes, ih r inn eres Wesen , ih r Selb stvertrauen, ih re Kraft, als wäre sie irgendwie mit dem Mechanismus verbunden, d er die Welt antrieb. Sie war wie der Wind hauch an ein em So mmertag, wie die ersten Regentropfen , die auf die au sgedörrte Erde fielen, wie das Licht des Abendsterns. Irgendetwas, sie wusste nicht genau was, len kte Junipers Blick hinunter au f d ie Straße. Tom war d a, früh er, als sie ihn erwartet hatte, und ihr Herz machte einen Satz. Sie wink te ihm zu und wäre fast au s d em Fen ster gefallen vo r Freud e, ih n zu sehen . Er h atte sie noch nicht b emerkt. Er hielt den Kop f gesenkt, sah nach der Po st, aber Jun iper konn te d en Blick nich t von ih m ab wenden . Es war Wah nsinn , es war Besessenh eit, es war Verlangen. Aber vor allem war es Liebe. Juniper liebte seinen Kö rp er, sie lieb te seine Stimme, sie liebte es, wie seine Finger ihre Haut berührten, sie liebte die Stelle unter seinem S ch lü sselb ein , an die sie ih re Wan ge schmiegte, wenn sie schliefen. Sie liebte es, in seinem Gesicht alle Orte seh en zu k önnen, an den en er gewesen war. Dass sie ihn nie zu frag en brauchte, wie es ih m ging. Dass Wo rte un nötig waren . Juniper hatte en tdeckt, dass sie der Worte überdrüssig war. Inzwischen regn ete es, gleich mäß ig, ab er läng st nicht so heftig wie an dem Tag, als sie sich in To m v erlieb t hatte. Es war eins dieser plötzlichen, heftigen Gewitter, die sich au f dem Rücken ein er gewaltig en Hitze h eran schlich en. Sie hatten den Tag mit Spaziergängen verbracht, waren über den Portobello-Markt gestreift, den Primrose Hill hinaufgestiegen, hatten sich zu rück zu den Ken sington Gard en s treib en
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lassen und waren durch d as flache Wasser des Round Pond gewatet. Als der Donn er lo sb rach , k am er so unerwartet, dass die Leute en tsetzt in den Himmel gestarrt und gefü rchtet hatten , sie wü rd en mit einer ganz neuen Waffe angegriffen. Und dann hatte es an gefan gen zu schütten, riesige, d ick e Trop fen, die die Welt mit einem ganz eigenen Glan z überzo gen hatten. To m h atte Juniper an die Hand gen o mmen , und sie waren zu sammen lo sgerannt, du rch die Pfützen geplatscht und hatten, den Schreck noch in den Knochen, auf dem ganzen Weg zu ihm nach Hause und d ie Treppen hin au f gelacht, b is sie sein dämmr iges, trockenes Zimmer erreichten. »Du bist ja gan z n ass«, h atte To m gesag t, mit dem Rü cken an die Tür gelehnt, die er so eben zugewo rfen hatte, den Blick auf das dünne Kleid geh e ftet, das ih r an den Beinen klebte. »Nass? «, hatte sie erwidert. »Ich bin so du rch weicht, d ass man mich auswringen kön nte.« »Hier«, sagte er, nah m sein Reservehemd vom Haken hinter der Tü r und warf es ih r zu. »Zieh dir das an.« Sie tat, was er von ihr verlang te, zog sich das Kleid au s und schlüpfte in die Ärme l seines Hemd s. To m hatte sich ab gewandt und so getan, als machte er sich an dem kleinen Porzellanwaschbecken zu sch affen , ab er als sie sehen wollte, was er da tat, war sie seinem Blick im Sp iegel b egegn et. Sie hatte ihm ein bisschen länger als üb lich in die Augen gesehen, lange genug, u m zu bemerken , d ass sich etwas zwisch en ih nen veränderte. Der Reg en ließ n ich t nach, ebenso wenig der Donner, u nd ihr Kleid tropfte in der Zimmerecke, wo er es zu m Trockn en aufgehängt hatte. Beide zog es zum Fen ster, und Junip er, die normalerweise nich t schüchtern war, sagte irgendetwas Belangloses über die Vögel und wo sie sich woh l im Reg en au fhielten . Statt zu antwo rten legte To m d ie Hand an ih re Wange; es war nur eine leichte Berü h rung, aber sie reichte. Jun iper v erstummte, schmiegte ih re Wang e in seine Hand und drehte den Kopf so , dass sie mit den Lippen seine Finger liebkosen
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konnte. Dabei schau te sie ihn die ganze Zeit an , wie magisch in sein en Bann gezogen. Und im näch sten Augenblick waren seine Finger an d en Hemd k nöp fen , au f ih rem Bauch, ih ren Brüsten, und ihr Puls beg ann zu rasen , als h ätte ih r Blut sich in zahllose winzige Kügelchen au fgelöst, die du rch ih ren Körp er wirbelten. Nachher h atten sie au f der Fensterbank gesessen, d ie Kirsch en gegessen, d ie sie auf dem Markt gekauft hatten, und die Kerne hin unter in die Pfützen fallen lassen. Keiner sagte ein Wo rt, aber hin u nd wieder trafen sich ih re Blick e, und sie mu ssten lächeln, fast verschwörerisch, als wären sie, und nu r sie allein , in ein g roß es Geheimnis eingeweiht worden. Juniper hatte sich über die körperliche Liebe seit Jahren ih re Gedank en gemacht, hatte darüb er g esch rieben , sich vorgestellt, was sie tun und sagen und empfinden würd e. Nie hätte sie geahnt, dass die geistige Liebe sich so eng mit ih r vereinigen könne. Jemandem zu verfallen . Juniper wusste auf einmal, was damit g emeint war. Das un glaublich e Gefü hl, sich fallen zu lassen in trau mh after So rg losigkeit, die völlige Au fg abe d es eigen en Willen s. Gen au so war es fü r sie gewesen, ab er es war auch noch mehr. Nach dem sie ihr ganzes Leben lang vor kö rperlichem Ko ntakt zu rückgesch reckt war, hatte sie sich endlich mit einem anderen Men schen verb unden. Als sie im sinn lich en Dämmerlicht zu sammen lagen und sie ihr erhitztes Gesicht an seine Brust drückte, sein Herz spürte und dem regelmäß igen Pochen lauschte, hatte sie gespürt, wie ihr eigenes Herz ruhiger wurde, um sich mit sein em Rh ythmu s zu verbinden . Und sie hatte irgend wie verstand en, dass sie in To m den Mensch en gefunden hatte, der sie ins Gl eichgewicht bringen konnte, und dass sich zu verlieb en vo r allem bedeutete, au fg efan gen ... gerettet zu werd en ... Die Hau stür fiel k rachend ins Schloss, und im Treppenhaus waren Geräusche zu hören, Toms Schritte, die immer n äh er kamen , u nd üb erwältigt von blindem Verlangen verg aß Jun iper die Vergangenh eit, wandte sich v o m Garten ab, von der klein en Katze, die im Laub herumtollte, und von der trau ri-
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gen alten Dame, die um die Kathed rale von Coventry weinte, vergaß den Krieg draußen vo r ih rem Fen ster, die Stadt der Stu fen, die nirg end wohin fü h rten, die Bilder an Wänden ohne Decken und die Küch entische ohne Familien. Sie sprang von der Fensterbank heru nter und lief zu m Bett, wäh rend sie To ms Hemd abstreifte. Und als sich der Schlüssel im Schlo ss drehte, gab es nur noch sie und ihn in dieser klein en, warmen Wohnung , in d er das Gebu rt stag sessen b ereitstan d. Sie hatten jeder zwei g roß e Stücke Ku chen geg essen, und das ganze Bett war mit Krü meln übersät. »Das liegt daran, dass ich zu wenig Eier hatte«, sagte Juniper, die mit de m Rücken an die Wand gelehn t dasaß und d as Chao s mit einem resig nierten Seu fzer betrachtete. »Dann hält d er Teig nicht so gut zusammen, weißt du.« Tom lächelte sie an . »Was du alles weißt.« »Da kannst du mal sehen .« »Un d was du alles kann st. So einen Kuchen kön nte man b ei Fo rtnu m & Mason v erkaufen.« »Nun, ich will nicht lü gen, ein bissch en Hilfe hatte ich schon.« »Ah a«, sagte To m, rollte sich au f die Seite und reckte sich nach d em in Zeitun gspapier eingewickelten Päckchen auf dem Tisch, bis er es mit den Fingerspitzen zu fassen bekam. »Unser Hauskoch.« »Er ist gar kein richtiger Koch , er ist eig entlich Dramatiker. Ich habe ihn d ieser Tage mit einem Mann red en hö ren, der eins seiner Stü cke au ffüh ren wird .« »Aber sag mir eins, Juniper«, sagte To m, währen d er behutsam das Papier entfernte und ein Glas mit Brombeermarmelade freilegte. »Wie ko mmt ein Dramatiker dazu, so etwas Kö stlich es zu p rod uzieren? « »Ach, To m, das ist ja himmlisch«, rief Juniper aus und griff nach dem Glas. »So viel Zuck er! Wollen wir g leich eine Scheibe Toast damit essen? « To m h atte den Arm b litzschnell gehoben und hielt die Marmelade au ßerh alb ih rer Reich weite. »Kann es wirk lich sein «, fragte er ungläubig, »dass die junge Dame immer noch Hun ger hat? «
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»Nein, eigentlich nich t. Aber es hat auch nichts mit Hunger zu tu n.« »So? « »Es ist nur die Verlockun g, d ie süß e Verlockun g, auswäh len zu können.« To m d rehte das Glas zwischen den Fing ern und b etrachtete eingeh end die köstliche ro tsch wa rze Beu te. »Nein «, sagte er nach einer Weile, »ich find e, wir sollten es fü r eine spezielle Gelegenheit au fh eben .« »Sp ezieller als d ein Geb u rtstag? « »Meinen Geburtstag haben wir doch schon au sreich end gewü rd igt. Das h ier sollten wir für die n äch ste Feier au fbewah ren.« »Also gut«, sagte Juniper und schmiegte sich in seinen Ar m, »aber nu r, weil heute dein Gebu rtstag ist und ich v iel zu satt bin, u m au fzu stehen.« Läch elnd zünd ete To m sich eine Zig arette an. »Wie war's bei d ir zu Hau se? «, frag te Juniper. »Hat Joey die Erkältung überstanden? « »Hat er.« »Un d Maggie? Hat sie dir dein Horo skop vo rgelesen? « »Ja, und das war sehr nett von ih r. Wie sollte ich sonst wissen, wie ich mich diese Woch e verhalten soll? « »Un denkb ar.« Juniper nahm ihm die Zigarette ab und zog den Rauch langsam ein. »Stand denn etwas Interessantes darin? Lo s, erzäh l sch on.« »Nichts Besond eres«, erwiderte To m u nd ließ seine Finger unter das Lak en gleiten . »Nu r dass ich wohl ein em schön en Mädchen einen Heiratsan trag machen werde.« »Ach ja? « Sie wand sich unter seinem Kitzeln und stieß p ru stend den Rau ch aus. »Das ist allerdings interessant.« »Ja, du rchau s.« »Wobei natürlich die wirk lich interessante Frag e ist, was die junge Dame vorau ssich tlich antwo rten wird. Konn te Maggie denn dazu au ch etwas sagen? « Tom zog seinen Arm weg und rollte sich auf die Seite, u m sie anzusehen . »Leider k onnte Magg ie mir d a nicht h elfen . Sie meinte, ich mü sste das Mädchen selbst frag en und sehen, was passiert.«
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»Na, wenn Maggie das sagt ...« »Und? «, fragte To m. » Und was? « Er stü tzte sich au f ein en Ellbo gen und sag te näselnd: »Wollen Sie mir die Eh re erweisen, Juniper Blythe, meine Frau zu werd en? « »Nun, verehrtester Herr«, an twortete Juniper im Tonfall der Qu een. »Das häng t dav on ab, ob auß erdem d rei pu mmelige Kinderch en genehm wären.« Tom nahm ihr die Zigarette ab und zog beiläufig daran. »Waru m n ich t v ie r? « Es wirkte immer n och wie ein Spiel, aber das vornehme Näseln war verschwunden. Juniper war plö tzlich verlegen u nd wusste nicht, was sie sagen so llte. »Komm, Juniper«, dräng te er. »Lass un s heiraten. Du und ich.« Un d es konn te kein Zweifel meh r d aran bestehen , dass er es ernst meinte. »Es ist nicht vorgesehen, dass ich heirate.« Er run zelte die Stirn. »Was soll das heißen? « In d em Schweigen , das zwischen ihnen entstand, hörte man einen Wasserk essel, der in d er Wohnung unter ihnen pfiff. »Es ist kompliziert«, sagte Juniper schließlich. »Wirklich? Liebst du mich? « »Das weißt du doch.« »Dann ist es auch nicht ko mp liziert. Heirate mich . Sag ja, June. Was au ch imme r es ist, was dir So rgen b ereitet, wir fin den dafür eine Lösung .« Juniper wusste, dass es kein e Antwort gab, die ihn zufrie denstellen wü rd e, n ichts außer »ja«, aber d as k onnte sie nicht. »Lass mich darüber nachdenken«, sagte sie schließlich. »Gib mir ein bissch en Zeit.« Er setzte sich ab rupt au f die Bettkante und ließ den Kop f hängen . Er war u nglücklich . Sie hätte ihn gern berüh rt, ih m den Rück en gestreichelt, hätte am liebsten die Zeit zurückged reht, damit er sie nie gefragt hätte. Während sie ihn no ch ratlos betrachtete, langte er in seine Tasche u nd zog einen Umschlag hervor. Er war einmal gefaltet, aber sie ko nnte sehen, dass sich ein Brief darin befand. »Hier hast du deine Zeit«, sagte er u nd reichte ihr den Brief. »Ich bin wieder zu
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mein er Einheit b eru fen worden. Ich muss mich in einer Woch e melden.« Juniper holte ersch ro cken Luft. Sie setzte sich neben ih n. »Aber wie lange ... ? Wann wirst du wieder zu rück sein? « »Keine Ahnung . Wenn der Krieg vorbei ist, nehme ich an.« Wenn der Krieg vorbei ist. Er würde London verlassen, und plötzlich beg riff Juniper, d ass dieser Ort, diese Stadt o hne To m b ed eutu ng slo s wäre. Dann konnte sie genauso gut wieder ins Schloss zurückkeh ren . Bei d iesem Gedanken began n ih r Herz wild zu rasen , ein Warn sig nal, das ih r nu r allzu seh r vertraut war. Sie schloss die Augen in der Hoffnung, dass es vo rüb erging . Ihr Vater hatte ihr erklärt, dass sie ein Geschöpf des Schlosses war, dass sie dorthin gehö rte und d o rt am besten au fgehob en war, ab er er hatte sich geirrt. Das wusste sie inzwischen . Das Gegenteil war der Fall. Fern vom Schloss, fern von der Welt des Ra ymo nd Blythe, fern von d en sch recklichen Dingen, die er ih r erzählt hatte, und fern von seinen entsetzlichen Sch uldg efühlen und seiner Trau rigkeit war sie frei. In London war k einer ih rer Besucher au fg etauch t, un d es hatte k ein e verlorene Zeit gegeben. Und au ch wenn ihre schreckliche Ang st, sie könnte and eren ein Leid zu fügen , ihr bis hierher gefolg t war - hier war alles anders. Juniper spü rte ein en Druck au f ih ren Knien und öffnete blinzelnd die Augen . To m k niete mit b eso rgter Mien e vo r ih r auf dem Boden. »Hey, mein Liebling «, sagte er. »Es ist alles in Ordnun g. Alles wird gut werden.« Sie hatte To m n ichts von alld em erklären mü ssen , und darü ber war sie heilfroh gewesen. Sie wollte nicht, dass sich seine Lieb e zu ih r änderte, dass er so fü rsorglich und so b eso rg t wu rd e wie ih re Sch western. Sie wo llte n icht beau fsichtigt werden und auch nich t, dass ih re Stimmungen und ih r Schweigen bewertet wu rd en. Sie wollte nicht vo rsichtig geliebt werd en , sond ern leiden schaftlich. »Jun iper«, sag te To m, »es tu t mir leid. Bitte sieh mich nicht so an. Ich ertrage es n ich t, wenn du so ein Gesicht machst.« Was war nur los mit ih r? Wollte sie sich etwa von ih m ab wenden? Ihn au fgeb en? Warum um alles in der Welt sollte
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sie so etwas tun? Nur um den Wünsch en ih res Vaters gerecht zu werden? Tom stand auf und wollte weggehen , ab er Juniper fasste ihn am Handgelenk. »Tom ...« »Ich hole dir ein Gl as Wasser.« »Nein «, sagte sie u nd schüttelte heftig den Kopf. »Ich will kein Wasser. Ich will nu r dich.« Er läch elte, und ein Grüb chen b ildete sich in seiner stoppeligen Wange. »Mich hast du d och scho n.« »Nein «, sagte sie, »ich mein e ... ja.« Er legte den Kopf schief. »Ich meine, ich mö chte, dass wir heiraten.« »Wirk lich?« »Und wir sagen es meinen Schwestern gemeinsam.« »Natürlich tun wir das gemein sam«, antwo rtete er. »Was imme r du willst.« Und dann mu sste sie lachen, aus vollem Halse lachen, und sich fühlte sich auf einmal viel leichter. »Thomas Cavill und ich werden heiraten.« Juniper lag wach , die Wange an To ms Brust gesch mieg t, und lauschte au f seinen gleichmäßigen Herzschlag, seinen ruhigen Atem, versuchte, ihren Rhythmus mit seinem in Einklang zu brin gen. Aber sie konnte nicht schlafen . Sie v ersuchte, in ihrem Kopf einen Brief zu formu lieren. Denn sie würde ihren Schwestern schreiben mü ssen und sie darüber in formieren, dass sie und Tom kommen würden, und sie würde es ihnen auf eine Weise erklären mü ssen, die sie erfreute. Sie durften nicht misstrauisch werden. Und dann war ih r noch etwas Wichtig es eingefallen. Sie hatte sich nie für schön e Kleider in teressiert, aber sie hatte das Gefühl, dass eine Frau, d ie heiratete, ein Kleid haben sollte, das der Gelegenheit angemessen war. Sie selbst legte au f diese Dinge keinen Wert, aber To m vielleicht und seine Mutter ganz bestimmt, u nd es gab nich ts, was Jun iper nicht für Tom tun würde. Sie erinnerte sich an ein Kleid, das einmal ihrer Mutter gehö rt hatte: blasse Seide mit einem Reifrock. Juniper hatte es sie einmal tragen sehen, vor langer Zeit. Wenn es no ch irgend wo im Sch lo ss existierte, würde Saffy es finden, und sie
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würd e genau wissen , wie man es wieder in Schuss bringen kon nte.
4 London, 1 9 . Oktober 1 9 4 1 Meredith hatte Mr. Cavill - Tom, wie er von ih r g enannt . werd en wollte — seit Woch en nich t geseh en, u nd so war es eine Riesenüb erraschung, als sie die Haustür aufmachte und er vo r ih r stand. »Mr. Cavill«, sagte sie und bemü hte sich, nicht allzu au fgeregt zu klingen. »Wie geht es Ihnen? « »Es könnte mir gar nich t b esser gehen , Mered ith . Und sag doch Tom, bitte.« Er lächelte. »Ich bin nich t meh r d ein Leh rer.« Meredith spürte, wie sie rot anlief. »Darf ich einen Mo ment reinko mmen? « Sie warf einen Blick üb er die Schu lter in die Küche, wo Rita mit finsterer Mien e irgendetwas au f dem Tisch betrachtete. Seit Ku rzem war es au s mit de m ju ngen Fleisch ergehilfen , und seitd em war sie fü rchterlich sch lech t gelaunt. Und o ffenbar hatte sie sich vo rg eno mmen , ih re Enttäuschu ng an ihrer kleinen Schwester auszulassen. To m mu sste ih re Zu rückhaltung gespürt haben, denn er fügte hinzu: »Wir können auch sp azieren gehen , wenn dir das lieber ist? « Meredith nickte dankbar und schloss d ie Tü r leise hin te r sich, als sie sich aus dem Staub mach te. Sie gingen die Straße en tlang, und Meredith, die Arme verschränkt, den Kopf gesenk t, tat so , als lausch te sie sein en freu ndlichen Wo rten üb er d ie Sch ule und das Sch reiben, üb er die Verg angenheit und die Zukun ft, während sie in Wirk lichk eit fieberh aft darü ber nachdachte, was d er Grund für seinen Besuch se in mo chte. Sie versuchte ang estren gt, nicht an ihre Schulmädchen sch wär merei von frü her zu den ken.
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Schließlich hatten sie den Pa rk erreich t, wo Junip er und Meredith im Ju ni, als es so heiß gewesen wa r, v ergeb lich nach Liegestüh len gesucht hatten . Der Kontrast zwischen der Erinnerung an den warmen Tag und dem g rauen Himmel heu te ließ Mered ith frösteln . »Du frierst ja. Ich hätte dich daran erinnern sollen, eine Jack e mitzuneh men.« Er zog seine Jacke au s und gab sie Mered ith . »Nein, nein, ich ....« »Ach was. Mir ist ohneh in zu warm.« Er zeigte au f ein e Stelle au f d em Rasen , wo Mered ith sich im Schneidersitz neben ihn setzte. Er erzählte no ch ein bisschen, fragte, wie es mit dem Schreiben vo ranging, un d hörte ih r au fmerksam zu. Er sagte, dass er sich noch gut daran erinnere, wie er ihr das Tagebuch gesch enkt hatte, und wie sehr er sich darüber freu e, dass sie es immer noch b enutzte, und dabei zup fte er die g anze Zeit Grash alme aus, die er zu kleinen Spiralen rollte. Mered ith hö rte ih m zu , nickte und beobachtete seine Hände. Sie waren wunderschö n, k räftig und woh lgefo rmt. Männerh änd e, aber nicht klo big oder behaart. Wie es sich wohl an fühlen wü rd e, sie zu berüh ren? Ihre Schläfe begann zu p ochen, und der Gedanke, wie ein fach d as geh en könnte, machte sie gan z sch windlig. Sie mü sste nur ihre Hand ein bisschen weiter au sstrecken. Ob seine Hand wohl warm war, fragte sie sich , g latt oder rau? Wü rde seine Hand zu sammen zucken , sich d ann ab er u m ih re sch ließ en? »Ich hab e etwas fü r dich «, sagte er. »Es gehö rt mir, aber ich wu rd e wieder einberu fen, deshalb mu ss ich ein gutes neues Zuhau se dafü r find en.« Ein Geschenk , bevo r er wieder in den Krieg zog? Meredith sto ckte der Atem, u nd die Gedanken an seine Hände verflogen. Waren das nicht genau die Din ge, d ie Lieb espaare taten? Geschen ke au stausch en, bevor der Held davonzo g? Meredith ersch rak, als Toms Hand ihren Rücken berührte. Er zo g sie so fo rt wieder zurück und hielt ihr verlegen läch elnd die Hand fläche h in. »Tu t mir leid . Aber das Gesch enk befindet sich in meiner Jackentasche.«
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Meredith erwid erte sein Lächeln erleichtert, aber au ch irgendwie enttäu sch t. Sie g ab ih m die Jack e, und er nahm ein Buch aus der Innentasch e. »>Die letzten Tag e von Paris, das Tagebu ch eines Jo u rnalisten<«, las sie laut und d reh te es u m. »Danke ... To m.« Seinen Namen auszusprechen ließ sie erschaudern. Sie war inzwischen fünfzehn und vielleicht nicht ausgesprochen hübsch, aber auch k ein flachb rü stiges Kind meh r. Es konn te doch sein, dass ein Mann sich in sie v erliebte? Sie spürte seinen Atem an ih rem Hals, als er sich vorbeugte und au f den Umsch lag tippte. »Alexander Werth hat dieses Tagebuch geschrieben, als Paris fiel. Ich schen ke es dir, weil es beweist, wie wichtig es ist, dass Menschen aufsch reiben , was sie sehen . Vo r allem in Zeiten wie d en unseren . So nst erfäh rt die Welt n icht, was wirk lich passiert, v ersteh st du das, Mered ith?« »Ja.« Als sie ihn von der Seite ansah , lag eine solch e Inten sität in seinem Blick, dass ih r b einah e d as Herz steh en b lieb . Es dauerte nur Sekunden, ab er fü r Meredith sch ien dieser Mo men t eine Ewigk eit zu d auern . Es war, als wü rd e sie ein er Fremden zu sehen, als sie sich mit angehaltenem Atem und geschlo ssenen Aug en vo rb eugte und in einem Au gen blick ab so luter Vollko mmen heit ih re Lipp en au f sein e d rü ckte ... To m war seh r lieben swü rd ig. Er sp rach freund lich mit ih r, als er ih re Hände von seinen Schultern nahm, sie ku rz d rü ck te, eine un missverständlich freund schaftlich e Geste, und sag te, sie brau che sich nich t zu schämen . Aber Meredith schämte sich zu Tod e, sie wäre am lieb sten im Erd bod en v ersunken . Oder h ätte sich in Lu ft aufgelö st. Alles, nur nicht mehr neben ih m sitzen im grellen Licht ih res en tsetzlichen Feh lers. Sie war so zerk nirscht, dass sie, als Tom sie nach Junipers Sch western fragte - wie sie waren, welche Vorlieben sie hatten, ob sie bestimmte Blumen bevo rzugten -, g anz mechanisch antwortete. Und nicht auf die Idee kam, ihn zu fragen , waru m ih n das eigen tlich in teressierte. A m Tag, als Juniper Lond on verl ieß, traf sie sich mit Meredith am Bahnh o f Charin g Cross. Sie war froh über die Ge-
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sellschaft, nicht nur, weil Merry ihr fehlen wü rd e, sond ern au ch, weil sie sie von Tom ablenkte. Er war am Tag zuvor au fgeb ro chen , u m sich wieder seinem Reg imen t anzu sch ließen - zu erst nu r zu r Au sbild ung , b evo r er wied er an die Front geschickt würde -, und die Wo hnung, die Straße, die Stadt London , all das war ohne ihn unerträglich. Deshalb hatte Juniper beschlossen, einen frühen Zug zu nehmen . Aber sie würde nicht zu m Sch lo ss zu rück fahren , no ch nicht: Das Abendessen war erst fü r Mittwoch g eplant, und da sie noch etwas Geld besaß , hatte sie sich entschlo ssen, die kommenden drei Tage zu nutzen, u m einige der verwasch enen Land schaftsbild er zu erkun den , die sie au f der Fah rt nach Lond on du rch das Zug fen ster geseh en h atte. Eine vertraute Gestalt tauch te in der überfüllten Wartehalle au f und lächelte b reit, als sie Junipers au fgeregtes Winken bemerk te. Meredith schob sich du rch die Men ge zu Juniper, die wie v erab redet un ter der Bahnhofsuhr auf sie wartete. »Und«, fragte Ju niper, nachdem sie sich umarmt hatten, »wo ist es?« Meredith legte Dau me n und Zeigefinger gegeneinander und verzog d as Gesicht. »Nur noch ein paar klitzekleine Korrekturen.« »Heißt das, ich kann es n icht im Zug lesen?« »Nur noch ein paar allerletzte Korrekturen , eh rlich.« Juniper trat zur Seite, um einem Kofferträger Platz zu machen, der einen Haufen Gepäck vo r sich her sch ob. »Also gu t«, sag te sie. »Noch ein paar Tage. Aber läng er nich t!« Sie wedelte in gesp ielter Strenge mit dem Fi nger. »Ich erwarte es dann bis zu m Wo ch enende in der Post. Einverstanden? « »Einv erstanden.« Sie lächelten sich an, als d er Zug ein sch rilles Pfeifen ertö nen ließ . Die meisten Fahrgäste waren schon eingestiegen. »Tja«, sagte Junip er, »ich glaube, ich mu ss jetzt ...« Der Rest ihres Satzes wurde in Meredith s Umarmu ng erstickt. »Du wirst mir feh len , Juniper. Versp rich mir, dass du wieder zu rück ko mmst.« »Natü rlich ko mme ich zu rück .« »In spätesten s ein em Mo nat? «
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Juniper strich ih re r jung en Freundin ein e Wimp er von der Wang e. »Wenn s länger d auern sollte, mu sst du vo m Schlimms ten ausgehen und ein Rettungskommando schicken!« Meredith grin ste. »Und du gib st mir Bescheid, sobald du meine Geschichte gelesen hast? « »Postwendend noch am selb en Tag «, sag te Juniper und sa lutierte. »Pass au f d ich auf, kleines Huhn.« »Du au ch.« »Wie imme r.« Juniper wu rde wi eder ernst, sie zögerte und strich sich eine Strähne aus den Aug en. Sie üb erleg te. Die Neuigkeit wu rd e größer und g röße r in ih rem In n ern, wollte freigelassen werden, aber eine kleine Stimme d rän gte sie zu r Zu rückhaltung. Die Pfeife des Schaffners übertönte ihre innere Stimme, und Juniper traf ihre Entscheid ung . Meredith war ih re beste Freu ndin , ih r konnte sie vertrauen . »Ich habe ein Geh eimn is, Merry«, sagte sie. »Ich h abe es noch niemandem erzählt, wir wollen lieber noch warten, aber du bist nicht irgendjemand.« Meredith nick te eifrig , u nd Juniper beugte sich zum Ohr ih rer kleinen Freu ndin vor. Sie fragte sich, ob die Wo rte woh l au ch jetzt genau so fremd un d wun dervoll klingen wü rd en wie b eim ersten Mal: »Tho mas Cav ill und ich werd en heiraten.«
Mrs. Birds Verdacht 1 9 9 2 Es war dunk el, als ich das Bauernh au s erreichte, un d ein feiner Nieselregen hatte eingesetzt, der sich wie ein Netz üb er die Land schaft legte. Das Abendessen würd e erst in ein paar Stunden serv iert werd en , und d arüber war ich froh . Nach meinem außerp lanmäßig en Nach mittag in Gesellschaft der Schwestern brauchte ich ein heißes Bad und Zeit fü r mich , u m die erd rü ckende Atmosphäre abzuschütteln, die mich auf dem Weg zu rü ck beg leitet hatte. Ich hätte nicht ein mal genau sag en können, was es war, aber d ie Schlossmauern hatten so viel unerfü llte Sehn su cht, so viel en t-
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täu schte Ho ffnu ng erleb t, dass sie die bedrückende Atmosph äre geradezu au szudün sten schien en. Und do ch üb ten das Schloss und seine weltentrückten Bewohnerinnen eine unerklärliche Faszination au f mich aus. Ungeachtet des Unbehagens, das ich do rt gespürt hatte, empfand ich, kaum dass ich das Schloss verlassen hatte, einen Zwang zurückzuk eh ren, und zählte die Stunden bis zu meinem nächsten Besuch. Vern ün ftig klingt das nicht, ab er welch e Ob session ist schon vernün ftig? Und dass es sich um eine Obsession handelte, sehe ich inzwischen ein. Ein sanfter Regen fiel au f das Dach des Bauernhauses, wäh rend ich auf dem Bett lag, die Deck e u m die Füß e g ewickelt, las und dö ste und nachdachte, und zu m Abendessen war ich wieder erholt. Es war verständlich, dass Percy Jun iper scho nen wollte, dass sie mir vehement Einhalt geb oten hatte, als ich mich ansch ickte, alte Wund en au fzu reißen . Es war taktlo s von mir gewesen, Tho mas Cavill zu erwähnen, vor allem, da Junip er in der Nähe war. Ab er Percys heftige Reaktion hatte meine Neug ier geweckt ... Vielleicht hatte ich ja Glück und ko nnte Saffy irgen dwann unter vier Aug en sp rech en; dann würde ich noch ein b isschen weiterboh ren kö nnen . Sie sch ien geneigt, ja begierig zu sein, mich bei meinen Nachforschungen zu unterstützen . Nachfo rschungen, die jetzt sogar das Privileg einschlossen, in Raymo nd Blythes Notizbü chern stöbern zu dürfen. Allein der Gedanke ließ mich wohlig ersch audern . Freudig erreg t rollte ich mich au f den Rücken, starrte an die Balkendecke und malte mir aus, wie es sein würd e, in die Gedankenwelt des Sch riftstellers ein zutauch en. Im gemü tlichen Esszimmer von Mrs. Bird s Bauernhaus setzte ich mich zum Abendessen allein an einen Tisch. Es duftete angenehm nach dem Ge mü seeintop f, den sie mir servierte, und im offenen Kamin p rasselte ein Feu er. Drauß en wu rd e der Wind heftiger, rüttelte an den Fensterscheiben, ließ die Läden hin und wieder laut k lapp ern. Nicht zum ersten Mal d ach te ich , was fü r ein e simp le Wohltat es doch ist, im War men zu sitzen , wenn sich d raußen die ka lte, sternlose Nacht über das Land legt.
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Ich hatte meine Notizen mitgenommen, um mit der Arbeit an meinem Essay über Raymo nd Blythe zu b egin nen , aber mein e Gedan ken wanderten immer wieder zu sein en Töch tern. Wahrschein lich war es das Geschwisterthema. Ich war vö llig fasziniert von dem Netz aus Liebe, Pflichtgefühl und Groll, in dem sie gefan gen waren. Die Blicke, die sie austau schten, das über Jah rzehnte entstandene komp lizierte Kräftegleichg ewich t, ih re wortlose Verständigung , die ich nie würde ergründen kön nen . Und v ielleicht war d as der Sch lü ssel: Sie b ild eten eine verschworene Gemeinschaft, und ich war allein. Sie gemeinsam zu erleben ließ mich deutlich und sch merzh aft erkennen, was mir fehlte. »War wohl ein großer Tag h eute? « Als ich au fsah , stan d Mrs. Bird vo r mir. »Und mo rg en steht Ihnen wied er einer bevo r, wie ich d as sehe? « »Mo rgen früh darf ich mir Raymo nd Blyth es Kladden ansehen.« Ich konn te nicht anders, die Worte sprudelten einfach so aus mir heraus. Mrs. Bird war fassung slo s, sch ien sich aber fü r mich zu freu en. »Also, das ist ja ... Haben Sie etwas d ageg en, wenn ich ...? « Sie klo pfte au f den Stuhl mir g egenüb er. »Natü rlich nicht.« Mit einem Seu fzer ließ sie ihren fülligen Körper auf den Stuhl fallen, legte sich eine Han d au f d en Bauch und richtete sich auf. »So, jetzt geht's mir b esser. Ich bin schon den gan zen Tag auf den Beinen ...« Sie nickte zu mein en Notizen . »Aber ich sehe, Sie arbeiten ja au ch den gan zen Tag.« »Ich versuch's. Aber irgendwie bin ich mit den Gedanken woanders.« »Ach.« Ih re Augenbrauen zog en sich zu sammen . »Wohl bei Ihrem Liebsten, was? « »So was Ähnliches. Mrs. Bird, hat heute zufällig jemand für mich angerufen? « »Angerufen? Nich t, dass ich wü sste. Haben Sie einen Anruf erwartet? Von d em jungen Mann, der in Ih rem Ko p f heru mspuk t? « Plötzlich k am ein Leucht en in ih re Aug en. »Ist es Ih r Verleger? « Sie sah mich so ho ffnungsfroh an, dass es mi r beinahe herzlos erschien, sie zu enttäu sch en. U m jedoch keine Missver-
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ständnisse au fko mmen zu lassen, sag te ich : »Ich h atte einen An ru f von meiner Mutter erwartet. Ich h atte geho fft, sie kön nte fü r einen Tag zu Besu ch herk o mmen .« Ein beso nders h eftig er Wind stoß rüttelte an den Fen sterläden. Mrs. Bird und ich waren die Einzigen , die noch im Esszimmer saßen, das Kaminholz war so weit heruntergebrannt, dass es rot glühte, hin und wieder laut k nallte und winzige Goldstücke gegen die Kaminwände spuckte. Ich weiß nich t, ob es an dem war men, verrauchten Zimmer lag, das in so starkem Kontrast zu dem stürmischen und nasskalten Wetter stand, oder ob es eine Reak tion au f die alles du rch dringen de Atmo sph äre von Verwick lung en und Geheimnissen war, die ich im Schloss erlebt hatte, oder einfach nu r ein plötzliches Verlang en danach , ein no rmales Gesp räch mit einem anderen Menschen zu führen. Wie auch immer, mich überkam plötz lich ein starkes Mitteilungsbedürfnis. Ich klappte mein Notizbu ch zu und schob es zu r Seite. »Meine Mu tter war wäh rend des Kriegs hier evak uiert«, sagte ich. »Hier im Dorf? « »I m Schloss.« »Nein ! Wirklich? Sie hat bei den Sch western gewohn t? « Ich nickte, beglückt ü ber ih re Reaktion. »Du liebe Güte!«, sagte Mrs. Bird und faltete d ie Hände. »Da wird sie ja eine Menge zu erzählen hab en. Gar nicht au szuden ken .« »Ich habe sogar ih r Kriegstagebuch ...« »Krieg stagebuch? « »Ih r Tagebuch aus d er Zeit. Gedanken darüber, wie es ihr erg angen ist, über die Leute, d ie sie kenn engelern t hat, üb er das Schloss.« »Ach, dann k o mmt ja b estimmt au ch meine Mutter darin vo r«, sagte Mrs. Bird und richtete sich stolz auf. Jetzt war ich es, die überrascht war. »Ihre Mutter? « »Sie hat im Schloss gearbeitet. Hat als Dien stmädchen im Alter von sechzehn Jah ren angefang en; zu m Sch lu ss war sie die Haushälterin. Lucy Rogers, ab er damals hieß sie no ch Middleton .« »Lucy Middleton «, sagte ich lang sam und überleg te, ob ich im Tagebuch meiner Mutter irgend wo au f d en Namen gestoßen war. »Ich weiß nicht; da mü sste ich nach sehen.« Die
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Enttäu schung war Mrs. Bird an zuseh en. So fort b ekam ich ein schlechtes Gewissen und versuchte krampfhaft, die Situation wieder hinzubiegen. »Sie h at mir noch nicht viel darüber erzählt, wissen Sie. Ich habe überhaupt erst vo r Ku rzem von ih rer Evakuierung erfah ren.« Ich bereu te meine Worte auf der Stelle. Als ich mich reden hörte, wu rde mir mehr denn je bewusst, wie merkwürdig es war, d ass eine Frau so etwas geh eim h ielt. Und zu alle m Überfluss fühlte ich mich plötzlich mitschuldig, so als wäre das Sch weigen mein er Mutter me in persönlich es Versagen. Ich kam mi r ziemlich töricht vor, denn wenn ich ein bissch en umsich tig er gewesen wäre, ein bissch en wenige r darauf bedacht, Mrs. Bird s Interesse zu wecken , hätte ich mich nicht in diese dumme Situation manövriert. Doch Mrs. Bird schien alles anders als verwund ert. Mit einem wissend en Nicken beugte sie sich zu mir vo r und sag te: »Eltern und ih re Geheimnisse, nicht wahr?« »Stimmt.« Ein Stü ck glühend er Holzkoh le zerstob im Kamin , und Mrs. Bird bedeutete mir, sie werde gleich wieder zurück sein; sie erhob sich und versch wand du rch eine Geheimtü r in der tapezierten Wand. Der Regen schlug g egen die Holztür und füllte den Teich im Hof. Ich legte die Hand flächen gegeneinander, hielt sie einen Moment lang wie zu m Gebet gefaltet an die Lipp en und sch miegte dann meine Wange an meinen vom Kaminfeuer gewärmten Hand rücken . Mrs. Bird kehrte mit einer Flasche Whisky und zwei Kristallgläsern zurück. Es passte so perfekt zu dem rauen, launischen Wetter, dass ich erfreut lächelnd das Ang ebot annah m. Über den Tisch hinweg stieß en wir an . »Mein e Mutter wäre beinah e unverh eiratet geb lieben «, sag te Mrs. Bird und kostete mit zu sammen g ep ressten Lippen die Wärme des Whiskys. »Was sagen Sie dazu? Um ein Haar hätte es mi ch nie g egeb en.« Sie fasste sich th eatralisch an die Stirn. Ich lächelte. »Sie hatte einen Bruder, wissen Sie, einen älteren Bruder, den sie angebetet hat. So wie sie von ih m erzäh lte, hätte man mein en k önnen, er hätte persönlich dafür gesorgt, dass jeden
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Mo rg en die Sonne au fging. Ih r Vater war jung gesto rben , d a hat Mich ael, der Bruder, die Rolle übernommen. Er war der Mann im H au s. Schon als Junge hat er nach der Schule und am Wochenen de gearbeitet. Hat fü r zwei Pence Fenster geputzt. Und das Geld hat er seiner Mutter gegeben , damit sie das Hau s in Ord nung halten konnte. Und dazu sah er auch no ch gut au s ... Warten Sie, ich hab e ein Foto.« Sie eilte zu m Ka min , ließ die Fin ger über ein e Reihe Bild errah men flattern, die auf dem Sims standen, und nahm schließlich einen kleinen Messin g rah men herunter. Mit der au sg ebeulten Vo rd erseite ihres Tweed rock s wisch te sie den Staub vo m Glas und reichte mir das Foto . Drei Personen, festgehalten in einem Momen t au s län gst vergan genen Zeiten : Ein ju nge r Mann, der vo m Sch icksal mit einem guten Aussehen gesegnet war, zwischen einer älteren Frau und einem h üb sch en Mädch en von vielleicht d reizehn Jah ren. »Mich ael ist wie alle anderen in den Ersten Weltkrieg gezogen.« Mrs. Bird stand hinter mir und sah mir über d ie Sch ulter. »Meine Mutter hat ihn zu m Z ug begleitet, und beim Ab sch ied hat er sie g ebeten, bei der Mutter zu bleiben, falls ihm etwas zustoßen sollte.« Mrs. Bird nahm das Foto an sich und setzte sich wieder hin. Sie rückte ih re Brille zu recht und betrachtete das Bild , während sie weitersprach. »Was hätte sie sagen sollen? Sie hat es ihm versprochen. Sie war no ch so jung - bestimmt hat sie nich t damit g erechnet, dass irgen detwas Schlimmes p assieren könnte. Das hat eigentlich niemand. Zu mindest nicht zu Kriegsbeginn . Da wussten sie es noch nicht.« Sie klappte den Papp ständer an der Rückwand des Rahmens heraus und stellte ihn au f den Tisch neben ihr Glas. Ich n ippte an meinem Whisky und wartete; schließlich seufzte sie. Sie sah mich an , und dann machte sie eine Handbewegung, als wollte si e Kon fetti streu en. »Jed en falls«, fuh r sie fort, »kam es, wie es kommen musste. Er ist gefallen , und meine arme Mutter hielt sich an das Versprechen, das sie g egeb en hatte. Ich weiß nicht, ob ich es getan hätte, aber damals waren die Menschen noch anders. Sie hielten ih r Wort. Meine Großmutter war ein richtig er Drachen, eh rlich gesagt, ab er meine Mutter hat sie beide ernährt, alle Hoff-
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nun gen au f Ehe un d Kinder aufgegeben und sich in ihr Schicksal gefügt.« Schwere Regentro pfen prasselten gegen das Fenster, und ich frö stelte in meiner Strickjacke. »Und doch sitzen Sie jetzt hier.« »Ja, richtig.« »Was ist dann geschehen? « »Meine Großmutter ist g esto rben«, sagte Mrs. Bird mit ei nem sachlichen Nicken, »es ging seh r sch nell, im Ju ni 1 9 3 9 . Sie war schon eine Ze it lang krank gewesen, irgendwas mi t der Leber, es war also nicht so üb erraschend . Nach allem, was ich weiß, mu ss es eine ziemliche Erleichterung gewesen sein, aber meine Mutter war viel zu gutmü tig , um so etwas zu zugeben . Im n eunten Kriegsmo nat hat meine Mutter geh eiratet, da war sie mit mir schwanger.« »Eine stürmische Liebesgeschichte.« »Stürmisch? « Mrs. Bird schü rzte nachdenk lich d ie Lippen. »Wah rscheinlich ja, gemessen an d en heutigen Maßstäben. Aber nicht damals, im Krieg. Und ehrlich gesagt bin ich mir nicht ein mal so sicher, ob es wirklich eine Liebesgeschichte war. Ich hatte immer den Eind ruck, dass meine Mutter au s rein p raktisch en Gründen geheiratet hat. Das hat sie zwar n ie gesagt, nicht einmal angedeutet, ab er ein Kind spürt so etwas, nicht wahr? Auch wenn wir alle am lieb sten das Produkt einer großen Leidenschaft wären.« Sie lächelte mich an, zö gerlich, als v ersu chte sie ein zu sch ätzen, ob sie mir no ch meh r anv ertrauen konnte. »Ist den n irgendetwas vo rgefallen? «, fragte ich und beug te mich vor. »Etwas, das Sie auf diese Idee gebracht hat? « Mrs. Bird trank ihren Whisky au s und drehte das Glas hin und her, sod ass feuchte Ringe auf dem T isch entstanden. Stirnrunzelnd b etrachtete sie die Flasche, während sie eine innere Debatte zu führen schien. Ich weiß nicht, ob sie gewann od er verlo r, ab er schließlich nahm sie den Verschluss von der Flasch e un d schenkte uns beiden no ch ein mal ein . »Ich hab e etwas gefund en «, sagte sie. »Ist scho n ein paar Jahre her. Nachdem mein e Mutter gesto rben war und ich mich um ihre Angelegen heiten gekü mmert habe.«
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Der Whisky pulsierte warm in meiner Keh le. »Und was haben Sie g efunden? « »Liebesb riefe.« »Ach.« »Aber n icht von meinem Vater.« »O, lá, lá.« »Versteck t in einer Blechdose hinten in der Sch ublade ihrer Frisierkommode. Ich hätte sie um ein Haar üb ersehen. Doch als ein Antiquitätenhändler kam, um sich ein paar Mö bel anzu schau en, habe ich ihm d ie Sachen gezeigt. Erst dachte ich, die Schublade klemmt, habe n och ein mal mit einem Ru ck g ezo gen , vielleicht fester als n ötig , und dabei ist die Do se zu m Vo rsch ein geko mmen .« »Un d haben Sie die Briefe g elesen? « »Später habe ich die Do se geö ffn et. Sch recklich , ich weiß .« Sie errö tete u nd begann, sich das Haar an den Schläfen glatt zu streichen, als wollte sie sich hinter ihren Händen versteck en. »Ich kon nte nicht anders. Und als mir dämmerte, was ich da las, na ja, da konn te ich ein fach nicht meh r au fhö ren. Die Briefe waren wund erschön , sehr inn ig. Seh r prägn ant, wissen Sie, und gerade weil sie so kurz waren, so bedeutu ng svoll. Ab er es lag no ch etwas anderes in diesen Briefen, eine Spur von Traurigkeit. Sie stammten alle aus der Zeit, bevor sie meinen Vater geheiratet hat - meine Mutter war nicht der Typ, noch Du mmheiten zu machen, nachdem sie erst einmal verh eiratet war. Nein, das war eine Lieb esaffäre au s der Zeit, als ih re Mu tter noch gelebt hat, als no ch g ar keine Möglichkeit bestand zu heiraten oder von zu Hause auszuziehen.« »Wissen Sie, von wem sie stammen? Wer die Briefe geschrieben hat? « Sie ließ ih re Haare in Ruhe und legte die Hände flach au f den Tisch. Die Stille war elektrisierend, und als sie sich vorbeugte, tat ich es auch. »Eigen tlich d ü rfte ich es niemand e m sagen«, flüsterte sie. »Ich habe nich ts fü r Klatsch übrig.« »Natü rlich nicht.« Sie schwieg einen Moment, ih re Mu nd wink el zuck ten leicht vor Aufregung, dann blickte sie sich v erstohlen u m. »Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher; sie waren nicht mit v ollem Na men un terzeichnet, sond ern nur mit einem einzelnen
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Buchstaben.« Sie sah mich an , blinzelte, dann lächelte sie verschwörerisch. »Es war ein R.« »Ein R.« Ich dach te einen Moment nach, dann begriff ich. »Was? Glaub en Sie etwa ... ? « Aber waru m eigen tlich nicht? Sie glaubte, dass das R fü r Raymond Blythe stan d. Der Schlossherr und seine langjährige Haushälterin: Es war natü rlich ein Klischee, aber es war nur deshalb zum Klischee geworden, weil es immer wieder v o rgeko mmen war. »Das würd e auch die Heimlich tuerei in den Briefen erklären, die Un mö g lichkeit, o ffen zu ih rer Beziehun g zu stehen.« »Es wü rd e au ch noch etwas anderes erklären.« Ich schau te sie an, immer n o ch verwirrt von d er gan zen Sach e. »Persephone, d ie ältere Schwester, ist mir gegenüber extrem reserviert, und gewiss nicht, weil ich ih r etwas getan hätte. Und do ch hab e ich es schon immer g espü rt. Als ich klein war, hat sie mich mal erwischt, wie ich an dem r unden Badeteich gesp ielt habe, wo die Schaukel hängt. Also — wie sie mich da angesehen hat! Als wäre ich ein Geist. Ich hatte Ang st, sie wü rd e mich au f d er Stelle erwü rg en . Aber seit ich das mit der Affäre meiner Mu tte r weiß und dass es d abei mit ziemlicher Sicherheit u m Mr. Blyth e ging , hab e ich mich natü rlich gefrag t, ob Percy vielleicht davo n wu sste, ob sie es irg end wie herau sgefunden und An stoß daran geno mmen hat. Damals war ja alles noch ganz anders zwischen den Klassen. Und Percy Blyth e ist eine unbeugsame Frau, die streng an Regeln und Traditionen festhält.« Ich nick te langsam; es klang au f jeden Fall nicht ab wegig. Percy Blythe hatte g enerell nich ts Weiches und Warmh erziges an sich, aber bei mein em ersten Besu ch im Sch lo ss war mir aufgefallen, dass sie Mrs. Bird g egenüb er beso nders ku rz an gebund en war. Das Schl oss barg au f jeden Fall ein Geheimnis. War es möglicherweise diese Liebesaffäre, wovon Saffy mir erzählen wollte, das Detail, das sie Ad am Gilbert n icht hatte anvertrauen wollen? Und war Percy deshalb so strikt dagegen, mich mit Saffy reden zu lassen? Weil sie verhindern wollte, dass ih re Zwillin gsschwester d as Geheimnis ihres Vaters preisgab und mir von Raymond Blythes langjäh riger Beziehu ng mit der Hau sh älterin berich tete?
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Aber was kümmerte das Perc y überh aupt? Lo yalität gegen üb er ih rer Mu tter k onnte nicht der Gru nd sein, sch ließlich hatte Raymond Blythe meh r als ein mal geheiratet, und Percy waren solche Wirrungen d es me nsch lich en Herzen s bestimmt nicht unb ekan nt. Und selbst wenn Mrs. Bird recht damit hatte, dass Percy einfach altmo disch un d g egen d ie Vermischu ng d er Klassen war, konn te ich mir k einen Reim d arau f machen, warum sie das alles noch nach Jahrzehnten derart beschäftigen sollte, zumal inzwischen so vieles geschehen war, das das Leben der Schwestern verändert hatte. Konn te eine meh rere Jah rzehnte zu rück lieg ende Affäre ih res Vaters mit seiner Haush älterin tatsächlich ein solches Drama fü r sie darstellen, dass sie bis heute keine Mühen scheute, diese Episode v or der Öffentlich keit g eheim zu halten? Das schien mir un wah rsch einlich . Ob Perc y Blyth e nun altmo disch war od er n ich t, tat eig entlich n ichts zu r Sache: Sie war in erster Linie pragmatisch veran lag t und , so weit ich es beu rteilen konnte, durch und durch realistisch . Wenn sie Geh eimn isse fü r sich beh ielt, dann nicht aus mo ralischen Erwägung en od er Prüd erie. »Au ßerdem«, sagte Mrs. Bird, die meine Zweifel zu spüren schien, »habe ich mich schon manches Mal ge fragt, ob vielleich t ... n ich t dass meine Mutter so etwas ang edeu tet hätte, ab er ...« Sie schüttelte den Kopf und machte eine wegwerfen de Handbewegun g. »Nein, das ist dummes Zeug.« Sie presste die Hände an die Bru st, wirkte verleg en, und ich brauchte einen Moment, bis ich beg riff, was in ih r vo rging. Vo rsichtig nah m ich den heiklen Gedan ken au f und sag te: »Sie g laub en , er könn te Ih r Vater sein? « Ihr Blick sagte mir, dass ich in s Schwarze getroffen hatte. »Meine Mutter hat dieses Haus geliebt, das Schloss, die Familie Blythe. Sie hat manchmal auch vom a lten Mr. Blythe gesp rochen, wie klug er war und wie stolz sie darauf war, bei so einem berühmten Schriftsteller in Stellung gewesen zu sein. Andererseits hat sie sich auch merkwü rd ig verhalten. Sie wollte nie am Schloss vorbeifahren, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ . Beim Erzählen brach sie manchmal mittendrin ab , dann war kein Wort mehr aus ihr herauszuk-
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riegen , und ih re Augen waren plö tzlich ganz trau rig un d wehmütig .« Es würde jedenfalls einiges erklären. Percy Blythe hätte vielleich t kein Problem d amit g ehabt, wenn ih r Vater ein fach nur eine Affäre mit seiner Hau shälterin g ehabt hätte, aber mit ih r ein Kind in die Welt zu setzen? Eine jüngere Tochter, eine weitere Halb sch wester fü r seine Tö chter? Wenn dem wirk lich so war, hätte d as natü rlich Kon seq uenzen, die nichts mit Prüd erie oder Moral zu tun hatten, Konsequenzen, die zu vermeiden Percy Blythe , Hüterin des Schlo sses u nd des Familienerbes, alles tun wü rde. Und dennoch : Wäh rend mir all d iese Ding e du rch den Kop f gingen , als ich d ie verschiedenen Möglichkeiten und die du rchau s materiellen Folgen in Erwägung zog , gelangte ich zu d er Überzeugu ng, dass irgendetwas an Mrs. Birds Gesch ichte n ich t stimme n konn te. Ich h ätte nicht sag en k önnen, was es war. Vielleicht war es nur eine sonderb are Art von Lo yalität, die ich gegenüb er Percy Blyth e emp fan d, gegenü ber der verschworenen Gemein schaft auf dem Hügel. Vielleicht wollte ich nu r nich t wahrhaben, dass ih re Dreizahl erhöht werden musste. Die Uh r au f dem Kamin sims w äh lte d iesen Mo men t, die volle Stunde zu verkünd en, und es war, als wü rde ein Bann geb roch en. Mrs. Bird , die erleichtert wirkte, nachdem sie ih re Bü rde mit mir geteilt hatte, begann , Salz- und Pfefferstreuer von den Tischen einzusammeln. »Die Sachen räumen sich leider nicht von selb st auf«, sagte sie. »Zwar gebe ich die Ho ffnung n icht au f, aber bisher hat sie sich n icht er füllt.« Ich stand ebenfalls au f und n ahm d ie leeren Gläser vo m Tisch. Mrs. Bird lächelte mich an . »Eltern halten einem so man che Überraschung bereit, nicht wah r? Aber sie h aben immerh in scho n allerhand erleb t, bevor wir gebo ren werden.« »Ja, unerhört«, sagte ich . »Füh ren ein fach ih r eigenes Le ben, ohne un s.«
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Der Abend, an dem er nicht kam Am ersten Tag meiner offiziellen Gesp räche mit den Schwestern brach ich schon früh zu m Schloss au f. Der Himmel war grau . Der Regen vom Abend zuvor hatte zwar aufgehö rt, doch er schien alle Fa rben aus der Landschaft herausgewaschen zu haben. Eine scharfe Kälte lag in der Luft. Ich v erg rub mein e Hände tief in den Jacken tasch en und verfluchte mich dafür, dass ich verg essen hatte, Handsch uhe einzustecken. Die Sch western Blythe hatten mich geb eten, nicht zu klop fen, so ndern einfach einzutreten und in den gelben Salon zu ko mmen. »Es ist wegen Juniper«, hatte Saffy mir diskret zu verstehen gegeben, als ich am Tag zuvor gegangen war. »Jedes Mal, wenn es an der Tü r klopft, denk t sie, dass er end lich geko mmen ist.« Sie erklärte nicht weiter, wen sie mit er meinte, aber das war auch n icht nötig. Juniper in Unruhe zu v ersetzen war das Letzte, was ich wollte, deshalb war ich auf der Hut, vor allem nach meine m Fauxpas am Tag zu vor. Ich tat, wie mir geheißen, öffnete die Haustür, trat in die Ein gang sh alle und fo lgte dem d ü steren Korridor. Au s irgend einem Grund hielt ich für einen Moment den Atem an . Im Salon war niemand. Auch Junipers grüner Samtsessel war leer. Ich stand un sch lü ssig da un d fragte mich, ob ich mich vielleicht in der Uh rzeit g eirrt hatte. Da h ö rte ich Schritte, und als ich mich umdrehte, stand Saffy in der Tür, wie üblich elegant gekleidet. Sie sah mich verdutzt an, als hätte ich sie überrascht. »Oh !« Sie blieb wie ang ewu rzelt an der Tepp ichk ante stehen. »Edith, Sie sind schon d a? Aber n atürlich «, sagte sie mit einem Blick zur Kaminuhr, »es ist ja fast zehn.« Sie fuhr sich mit ihrer zarten Hand über die Stirn, bemü h t, ein Lächeln zuwege zu bringen . Ab er es wo llte ih r nicht gelingen, und sie gab es au f. »Es tut mir leid , dass Sie warten mu ssten. Wir hatten einen ereign isreichen Morgen, und die Zeit ist un s d avong elau fen.« Etwas Beklemmendes war mit ihr in das Zimmer getreten und b reitete sich au s. »Ist alles in Ordnung? « fragte ich. 457
»Nein«, an twortete sie, und in ihrem bleichen Gesicht lagen so viel Schmerz u nd Trau er, dass ich angesich ts des leeren Sessels schon befürchtete, Juniper sei etwas zu gestoß en. Ich war erleichtert, als sie sagte: »Bruno. Er ist v ersch wunden . Er ist aus Jun ipers Zimmer g elaufen , als ich ih r heu te Mo rgen beim A nzieh en helfen wollte, und seitdem haben wir ihn nicht meh r gesehen .« »Vielleicht tollt er irgendwo heru m«, sagte ich, »im Wald od er im Garten? « Ab er dann mu sste ich d aran denken , wie er am Tag zuvo r au sgesehen hatte, mit sein en h äng enden Schu ltern und grauen Streifen an seinem Rü ck g rat, ku rzatmig jap send, und ich wusste, da ss dem nicht so war. Saffy schüttelte den Kop f. »Nein. Nein, das macht er nicht. Er entfernt sich kaum v on Juniper, und wenn doch , dan n setzt er sich höchstens auf die Eingangsstufen und bewacht die Zufah rt.« Sie deu tete ein Lächeln an . »So etwas ist no ch nie vo rg eko mmen . Wir machen uns schreckliche Sorgen. Es geht ihm nicht gut, und er ist nicht meh r der Jü ng ste. Percy mu sste ihn gestern schon such en geh en, und jetzt das.« Sie rang die Händ e, und ich wü nschte, ich hätte irgendetwas für sie tun können. »Soll ich mal bei der Schutzhütte nach sehen, wo ich ihn gestern gesehen habe? «, frag te ich und wollte mich schon au f den Weg machen . »Vielleicht ist er au s irgen dein em Grund wieder dort.« »Nein ...« Das kam s o sch ro ff, dass ich herumfuhr. Sie streckte eine Hand nach mir aus, während sie mit der anderen den Kragen ih rer Strickjacke an ih ren zierlichen Hals d rückte. »Ich wollte sagen«, sie ließ den au sg estreckten Arm wied er sink en, »d as ist seh r freu ndlich von Ihnen, aber es ist nicht nötig. Percy telefoniert g erad e mit d em N effen von Mrs. Bird, damit er herko mmt u nd uns su chen hilft ... Tut mir leid, ich d rücke mich nicht ganz klar aus. Verzeihen Sie mir, ich bin ganz durcheinander, aber ...«, sie sah an mir vorbei zu r Tür, »... ich hatte g eho fft, Sie einen Mo men t allein zu sp rechen .« Sie presste die Lippen zu sammen , und mir wurde klar, dass sie sich nicht nu r u m Bruno sorgte, sondern auch aus einem
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an deren Grund n ervö s war. »Percy wird gleich hier sein «, sag te sie leise, »und sie wird Ihn en wie versp ro chen die Kladden zeig en, aber bevor sie ko mmt u nd Sie mit ih r gehen , muss ich Ihnen etwas erklären .« Saffys Gesich tsau sd ruck war so ernst, so gequält, dass ich zu ihr trat und ihr eine Hand an die schmale Schulter legte. »Kommen Sie«, sagte ich und geleitete sie zu m Sofa, »setzen Sie sich doch. Soll ich Ihnen irgendetwas holen? Vielleicht eine Tasse Tee? « Sie lächelte mich mit der Dankbark eit eines Men schen an , der es nicht gewöhnt ist, fürso rglich behandelt zu werden. »Seh r lieben swürdig, aber nein, dan ke. Dafü r reicht d ie Zeit nicht. Setzen Sie sich bitte zu mir.« Ein Schatten bewegte sich an der Tür. Saffy erstarrte und lauschte. Aber da war nu r Stille. Stille u nd die eig enartigen Gerau sche, an die ich mich mittlerweile gewöhnt hatte: eine Art Gurgeln hinter dem Decken stuck, das leise Klappern vo n Fen sterläden , das Äch zen im Balken werk des Hauses. »Ich glaube, ich b in Ihnen ein e Erklärung schuldig «, sagte sie mit gedämpfter Stimme. »Über Percy, über gestern. Als Sie nach Juniper gefrag t hab en, als Sie ihn erwähnt haben und Percy so schroff reag iert hat.« »Sie mü ssen sich nich t entsch uldigen.« »Do ch, doch , ab er es ist schwierig, Sie unter vier Augen zu sprechen« - ein grimmiges Lächeln - »so ein riesiges Haus, und doch ist man nie allein.« Ih re Nervosität war an stecke nd. Mein Herz begann schneller zu schlagen, und ich senkte eben falls die Stimme. »Kön nen wir uns nicht irgend wo treffen? Vielleicht unten im Dorf? « »Nein «, sagte sie hastig und schü ttelte den Kop f. »Nein, das g eht n ich t. Es ist nicht möglich.« Noch ein Blick zur leeren Tür. »A m b esten wir reden hier.« Ich nickte zu stimmend und wartete, während sie ih re Gedanken o rdnete wie jeman d , d er eine Handvoll Steckn adeln aufsammelt. Nachdem sie sie alle aufgelesen h atte, erzählte sie ihre Geschichte rasch , mit leiser, entschlo ssen er Stimme. »Es war ganz sch recklich. Es ist jetzt über fünfzig Jahre her, und doch erin nere ich mich an den Aben d, als wäre es g e-
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stern gewesen . Junip ers Gesicht, als sie an der Tü r stand . Sie traf erst sehr spät ein, hatte ih ren Schlüssel verloren , deshalb hat sie gek lop ft, und als wir die Tü r au fgemacht h aben, kam sie hereingehüpft — sie ging nicht einfach, wie and ere Menschen -, und ihr Gesichtsau sdruck - den sehe ich imme r vor mir, wenn ich abend s die Au gen zu mach e. No ch jetzt. Es war so ein e Erleichterung, sie zu sehen. Am Nachmittag war ein fü rchterliches Gewitter he raufgezogen. Es regnete, und der Stu rm heulte, d ie O mnibusse hatten Verspätung ... Wir hatten uns große Sorgen gemacht. Als es klop fte, dach ten wir zu erst, er wäre es. Au ch d esweg en war ich nerv ös; beu n ruh igt wegen Ju niper und nerv ös wegen ihm. Ich hatte mir schon gedacht, dass sie sich verliebt hatte, dass sie heiraten wollte. Sie hatte es Percy no ch nicht erzählt - Percy hatte genau wie un ser Vater ein e k lare Meinun g zu diesen Dingen -, aber Jun iper und ich standen u ns immer seh r n ah. Und ich wollte ihn unb edin gt lieben swert fin den; ich wollte, d ass er ihrer Liebe wert war. Ich war natürlich auch neugierig, sch ließ lich war Junipers Liebe nicht einfach zu gewinnen. Wir saßen eine Weile zusammen im guten Zimmer. Zuerst redeten wir über allgemein e Di nge, über Junipers Leben in London , und wir b eruhigten u ns damit, dass sein Bus wahrscheinlich Verspätung hatte, d ass es am Verk eh r lag , dass der Krieg schuld war, aber irg end wann sch wiegen wir nu r no ch.« Sie sah mich von der Seite mit traurigen Augen an. »Der Sturm heulte, der Regen h ämmerte gegen die Fensterläden , u nd das Aben dessen verbrannte im Ofen ... Der Geruch nach Kaninch enpastete« - sie verzog das Gesicht — »h ing im ganzen Haus. Seitdem kann ich kein Kaninchen mehr essen. Es schmeckt für mich nach Angst. Klumpen aus en tsetzlicher, verkoh lter Ang st ... Juniper so zu erleben war unerträglich. Wir konnten sie n ur mit Mühe davon ab halten , bei dem Unwetter nach d rau ßen zu lau fen und ihn zu suchen. Selb st als es schon läng st Mitternacht war und es klar war, dass er nicht kommen wü rde, wollte sie nicht au fg eben. Sie wurd e hysterisch, wir mu ssten ihr Schlaftabletten geben, die wir noch von Vater hatten, u m sie zu beruhigen ...« Saffy versagte die Stimme; sie hatte seh r sch nell g espro chen, um die Geschichte lo szuwerden, bevo r Percy kam. Sie
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hustete in ihr feines Spitzentaschentuch, das sie au s de m Ärmel gezogen hatte. Auf dem Tisch neben Saffys Sessel stand ein Krug mit Wasser, und ich go ss ih r ein Glas ein. »Es muss furchtbar gewesen sein«, sagte ich un d reichte es ih r. Sie trank dan kbar, dann hielt sie das Glas mit b eid en Hän den auf dem Schoß. Ihre Nerven schienen zu m Zerreißen g espan nt zu sein, ich sah, wie ih re Sch läfen pu lsierten . »Un d er ist nicht mehr geko mmen?«, frag te ich . »Nein.« »Haben Sie nie erfah ren , waru m? Gab es k einen Brief? Keinen An ru f?« »Nicht s.« »Und Juniper? « »Sie hat gewartet und gewartet. Sie wartet immer n och . Die Tage v erging en, dann die Wo chen. Sie hat die Ho ffnu ng nie aufgegeben. Es war entsetzlich . Ein fach entsetzlich.« Saffy ließ das Wort im Raum hängen. Sie war wied er in jene Zeit vor so vielen Jah ren versun ken, und ich bohrte nicht weiter. »Wahnsinn kommt nich t von heute au f mo rgen «, sagte sie schließlich. »Es klingt so simp el: >Das hat sie in den Wah n sinn getrieben< - aber so ist es nicht. Es kam ganz allmählich. Zu erst h at sie sich zu rückgezo gen . Aber sie schien sich zu erholen, sp rach d avon , wied er nach Londo n zu geh en, klang allerding s nich t seh r entschlossen, und sie hat es au ch nie getan. Dann hat sie aufgehört zu schreiben, und da habe ich begriffen, dass etwas Zartes, etwas Wertvolles in ihr zerbrochen war. Eines Tag es hat sie alles aus dem Fenster des Dach zimmers gewo rfen. Alles: Büch er, Manuskrip te, einen Sch reibtisch, selbst die Matratze ...« Ihre Stimme erstarb, un d sie bewegte nu r n och die Lippen zu den Wo rten, die sie lieber nicht au ssprechen wollte. Mit einem Seufzer fügte sie hinzu: »Die Blätter segelten überall heru m, d en Hüg el hinunter, in d en See, wie Herb stlaub . Wo d as alles geblieben sein mag? « Ich schüttelte den Kopf. Es mu sste schrecklich gewesen sein mitzuerleben, wie die geliebte Schwester in geistiger U mn achtung versank , vor allem f ü r jemanden wie Saffy, die laut Marilyn Bird fü r Juniper fast so etwas wie eine zweite Mutter gewesen war.
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»Die kaputten Möbel haben wir zu einem Haufen gestapelt und au f dem Gras stehen lassen. Wir h aben es ein fach n ich t übers Herz gebracht, sie wieder ho chzu tragen , und Juniper wollte es auch n icht. Von da an hat sie ständig im Dachzimmer neben dem Schrank mit der verborgenen Tür gehockt, überzeugt, dahinter Stimmen zu hö ren. Sie glaubte, dass die Stimmen sie riefen, dab ei waren sie natü rlich nu r in ih re m Kopf. Die Är mste. Als der Arzt davon erfuhr, wollte er sie in eine ... Anstalt ...« Das sch recklich e Wo rt kam ih r nur mit Mü he üb er die Lippen , und sie schaute mich flehend an, als such te sie in meinen Augen nach Anzeichen desselben Entsetzens, das sie empfand. Sie begann, ih r weißes Tasch en tuch mit dem Handballen zu kneten , u nd ich legte ih r san ft eine Hand au f den Unterarm. »Es tu t mir so leid «, sagte ich. Sie zitterte vo r Wu t und vo r Verzweiflung. »Wir wollten nichts davon hören; ich wollte kein Wo rt davon hö ren. Ich hätte es niemals zugelassen, dass man sie mir wegnahm. Percy hat mit dem Arzt geredet und ih m erklärt, dass so etwas au f Sch loss Mild erhurst nicht in frag e k o mmt, d ass die Familie Blythe sich selbst um ihre Lieb en kü mmert. Schließlich erklärte er sich einverstanden — Percy k ann seh r überzeu gend sein —, aber er bestand darauf, Juniper ein stärkeres Medik ament zu v ersch reiben .« Sie p resste d ie lackierten Fin gernägel g egen die Bein e, wi e eine Katze, um die Span nun g ab zubau en, und jetzt entdeckte ich etwas in ih ren Zü gen, das mir bisher entgangen war. Sie war zwar die sanftere der Zwilling ssch western , diejen ige, d ie sich un terwarf, ab er sie war gewiss nicht schwach. Sob ald es um Ju niper ging, wenn sie um ihre gelieb te kleine Sch wester kämp fen mu sste, war Saffy Blythe stark wie eine Löwin. Die näch sten Worte kamen wie unter Hochdruck heraus, als hätte sich ein Ventil geöffnet. »Wäre sie doch bloß nie nach London gegangen! Und hätte sie do ch n ie diesen Man n k ennengelern t! Nich ts bedau re ich in meinem Leben me h r, als dass sie weggegan gen ist. Das hat alles zerstö rt. Dan ach war nichts mehr wie vo rh er, fü r keine von un s.« Und da begann ich lang sam zu ahnen, wo rauf sie mit ihrer Geschich te hin au swollte, warum sie glaubte, es wü rde hel-
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fen, wenn sie mir Percys Schroffheit erklärte; der Abend, an dem Th o mas Cavill nicht erschien en war, hatte das Leben von allen dreien veränd ert. »Percy«, sagte ich, un d Saffy nickte nur. »Percy war au ch anders danach? « Aus dem Flur war ein Geräu sch zu hö ren, d er en tschlo ssen e Sch ritt, das un verwechselbare Po chen von Percys Geh stock; als hätte sie ih ren Namen gehört, als ahnte sie, dass man sich über sie unterhielt. Saffy stützte sich au f der So faleh ne ab , um au fzu stehen. »Edith ist gerade gekommen «, sag te sie hastig , als Percy in der Tü r ersch ien . Sie zeigte mit der Hand, die das Taschentuch hielt, in meine Richtun g. »Ich habe ih r von dem ar men Bruno erzählt.« Percy schaute erst mich an, die ich n och au f dem So fa saß , dann Saffy, die direkt neben mir stand. »Hast du den jungen Mann erreicht? «, frag te Saffy mit leicht zitternder Stimme. Ein kn appes Nick en. »Er ist unterwegs. Ich werde ihn an der Hau stü r emp fang en und ih m sagen, wo er such en so ll.« »Ja«, sagte Saffy, »das ist gu t. Seh r gut.« »Un d dan n gehe ich mit Miss Bu rch ill nach un ten .« Da ich sie fragend ansah, fügte sie hinzu: »Ins Familienarchiv. Wie versprochen.« Ich lächelte, ab er an statt ihre Suche nach Bruno fortzuset zen, was ich erwartet hätte, kam Percy in s Zimmer und trat ans Fenster. Sie tat, als wü rde sie den Rah men u ntersuchen, k ratzte an einem Fleck an der Fensterscheibe, beugte sich vor, aber es war offensichtli ch, dass die spontane In spektion ein Vorwand war, bei un s im Zimmer zu bleibe n. Saffy hatte recht. Aus irg endeinem Gru n d wo llte Percy Blythe mich nicht mit ih rer Zwillin gssch wester allein lassen, un d ich füh lte meinen Verd acht vom Vortag bestätigt, dass Percy Saffy daran hindern wollte, etwas au szuplaudern. Die Kon trolle, die Percy über ihre Schwestern au sübte, war erstaunlich; es faszinierte mich, und gleichzeitig sagte mir eine leise innere Stimme, dass ich auf der Hut sein sollte. Aber mehr als alles andere spornte es mein e Neugier an , das Ende von Saffys Geschichte zu erfah ren.
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Die folg enden fünf Minuten, in denen Saffy und ich üb er das Wetter plauderten, während Percy wütend aus dem Fen ster starrte und an der staubigen Fensterbank heru mk ratzte, wu rd en quälend lang. Das Geräu sch eines sich näh ernd en Autos erlö ste un s schließlich. Wir beendeten unsere theaterreife Vo rstellung und warteten schweigend. Der Wagen hielt vo r dem Haus. Eine Tür wurde zugeschla gen. Percy atmete au s. »Das wird Nathan sein.« »Ja«, sagte Saffy. »In fünf Minuten bin ich wieder da.« Und d ann en dlich ging sie. Erst als Percys Sch ritte nicht mehr zu hören waren, seu fzte Saffy au f, d rehte sich zu mir um und schaute mich an . Sie läch elte en tschuldigend und zu gleich ein bissch en verlegen. Aber als sie den Faden ihrer Geschich te wieder au fnahm, lag eine neue Entschlossenheit in ih rer Stimme. »Sie haben es gewiss b emerkt«, b egann sie, »d ass Percy d ie stärk ste von un s dreien ist. Meisten s bin ich froh darüber. Eine Kriegerin im Bund zu haben kann seh r vorteilhaft sein.« Mir fiel au f, wie sie ihre Fin ger aneinan derrieb u nd zu r Tü r schielte. »Aber bestimmt nicht immer«, bemerkte ich. »Nein. Nicht immer. Nicht für mich, und für sie genauso wenig. Dieser Wesen szug kann auch eine schwere Bürde sein, vor allem seit Juniper ... seit dem Vorfall. Es hat uns beide schrecklich mitgeno mmen . Ju niper ist un sere kleine Schwester, und sie so zu erleben «, sie schüttelte den Kop f, »war sehr, sehr schwierig. Ab er Percy ...« Saffys Blick wanderte zu einer Stelle üb er meinem Ko p f, als könnte sie do rt die passenden Wo rte fin den , »Percy war danach in so einer dü steren Stimmung. Sie war schon seit einer Weile sehr launisch - meine Zwillingsschwester gehö rte zu den Frauen, d ie sich im Krieg nützlich gemacht haben, und als k ein e Bomb en mehr fielen, als Hitler in Ru ssland ein marschierte, war sie geradezu enttäu sch t, aber nach jenem Ab end war es anders. Es hat sie persön lich getro ffen , d ass d er ju nge Mann Junip er hat sitzen lassen.« Das war allerd ing s eine unerwartete Wend ung . »Aber warum denn das? «
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»Es war merkwürdig, fast als füh lte sie sich irg end wie veran two rtlich. Aber d as war ja Un sinn , und sie hätte nich ts tun können, um den Dingen ein e and ere Wendun g zu geb en. Aber so ist Percy nun mal, sie hat sich Vo rwü rfe gemach t, wie sie das immer tut. Einer von un s ging es schlecht, und sie konnte nichts dagegen tun .« Sie seu fzte und faltete ihr Taschentuch, bis es ein ordentliches kleines Dreieck bild ete. »Un d deshalb erzähle ich Ihnen das alles, auch wenn ich fü rchte, dass es ein g roßer Fehler ist. Sie so llen wissen, dass Percy ein guter Mensch ist un d d ass sie, au ch wenn sie manchmal einen anderen Eindruck macht, ein großes Herz hat.« Offenbar legte Saffy g roß en Wert darau f, dass ich nich ts Schlechtes über ihre Zwillin gsschwester d achte, daher erwiderte ich ihr Lächeln. Aber sie hatte recht, es gab da etwas, das kein en Sin n erg ab. »Warum«, fragte ich daher, »waru m sollte sich Percy verantwortlich gefühlt h aben? Kann te sie den Mann den n? War sie ihm schon ein mal b egegnet? « »Nein.« Sie sah mich frag end an . »Er wohnte in London , wo er Jun iper kenn engelernt hat. Percy war seit Kriegsbeginn n icht meh r in London gewesen.« Ich nickte, aber ich mu sste auch an das Tagebuch meiner Mutter denken, in dem sie erwähnt e, dass ih r Lehrer Thomas Cavill sie im Septemb er 1 9 3 9 in Milderhu rst b esucht hatte. An d em Tag h atte Juniper Blythe den Mann kennengelernt, in den sie sich später v erlieben sollte. Percy war vielleicht nicht wieder in London gewesen, ab er es war du rchau s mö g lich, dass sie ihn hier in Kent k ennengelernt hatte. Saffy war ihm offenbar nicht begegnet. Ein kühler Lu ftzug kroch in s Zimmer, u nd Saffy zog d ie Strickjacke eng er u m sich. Mir fiel auf, dass ihre Haut am Hals g erötet war, d ass ih re Wangen g lühten; sie bereute es, mir so viel erzählt zu haben , und jetzt hatte sie es eilig, ih re in disk reten Bemerkungen unter den Tep pich zu keh ren . »Ich will nur sagen, dass Percy seh r daru nter gelitten hat. Es hat sie verändert. Ich war nur froh, als die Deutschen mit der Vi und d er V2 anfingen, den n d a hatte sie wieder ein e Aufgab e.« Saffy lachte, aber es klang freudlos. »Manchmal denke ich,
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sie hätte nich ts dagegen gehabt, wenn der Krieg endlos weitergeg angen wäre.« Die Situation war ihr peinlich, und sie tat mir leid . Eigentlich hatte sie wohl nu r ein b issch en Schön wetter mach en wollen, nachdem Percy am Tag zuvo r so grob zu mir gewesen war, und es schien mir g rau sam, sie no ch meh r in Verlegenheit zu b ringen . Ich läch elte und versuchte, das Gespräch in and ere Bahnen zu lenken . »Und wie war d as bei Ihnen? Haben Sie au ch wäh rend des Kriegs gearbeitet? « Ih re Mien e hellte sich au f. »Oh, wir haben alle unseren Beitrag g eleistet; allerdings habe ich nichts annäh ernd so Aufregendes getan wie Percy. Sie eignet sich besser zur Heldin . Ich hab e genäht und g ekocht, solch e Din ge eb en, un d Un men gen von So cken gestrickt. Au ch wenn sie nich t immer gu t g elun gen sind .« Sie versu chte sich über sich selb st lu stig zu machen, und ich läch elte pflichtschuldigst, während mir das Bild eines jungen Mäd chen s in den Sinn kam, d as im Dachzimme r fror und sich zu klein ausgefallene Socken über die Füße und die Hand streifte, die sie nicht zu m Schreiben b rauchte. »Ich h ätte beinahe eine Stellung als Gouvernante angenomme n.« »Wirklich? « »Ja. Bei Leuten mit Kind ern, die für die Dauer des Kriegs nach Amerika geg angen sind. Sie hatten mir die Stelle ang eboten , ab er dann mu sste ich sie doch ablehnen.« »Weg en des Krieg s? « »Nein. Der Brief traf gen au zu der Zeit ein, als Ju niper ihre sch were Enttäu schu ng erlebte. Nun sehen Sie mich n icht so an ! Nein , ich bereue es nicht. Ich halte grundsätzlich nich ts davon, irgend etwas zu bereuen , das b ring t doch nich ts, oder? Ich hätte es nicht über mich gebracht, zumindest damals. Ich wäre ja sehr weit weg gewesen, und das bei Ju nipers Zustand. Wie hätte ich sie allein lassen kön nen?« Ich habe keine Geschwister un d k enn e mich mit so etwas nicht au s. »Hätte Percy denn nicht ...? « »Percy hat viele Fähig keiten, aber sich um Kinder und Kranke zu kü mmern gehört nicht dazu . Dafü r brauch t man eine gewisse« - ih re Fingerspitzen strichen über den alten Kaminschirm, während sie nach dem richtig en Au sd ruck suchte -»Sanftmut, glaube ich. Nein . Ich hätte Juniper nicht
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ein fach d er allein igen Obhut von Percy überlassen können. Desh alb habe ich einen Brief geschrieben und die Stelle abgelehnt.« »Das ist Ihnen sicherlich schwergefallen.« »Wenn es um die Familie geht, hat man keine Wahl. Juniper war meine kleine Schwester. Ich hätte sie nicht alleingelassen in dem Zustand. Und außerdem, selb st wenn der Mann wie g eplant erschienen wäre, wenn sie geh eiratet hätten und weggezogen wären, wä re ich wohl dennoch nicht weggegan gen.« »Und waru m n icht? « Sie d rehte an mu tig den Kopf zur Seite und wich meine m Blick au s. Ein Geräusch im Korridor, genau wie zuvor, das gedämpfte Hü steln und das Po chen des Gehstocks, der näher kam. »Percy ...« Und in dem Au g enblick , bevo r sie lächelte, e r haschte ich d ie An twort au f meine Frage. In ih rem g equälten Gesichtsausdruck sah ich das leben slange Gefan genendasein. Sie waren Zwillinge, zwei Hälften ein es Ganzen; aber während die eine sich danach gesehnt hatte, zu en tko mmen und ih re eig ene Existenz zu füh ren , hatte die and ere sich dem Verlassenwerden widersetzt. Und Saffy, deren San ftheit sie sch wach und deren Mitgefühl sie freu ndlich mach te, war u n fähig gewesen, sich daraus zu befreien.
Das Familienarchiv und eine Entdeckung Ich folgte Percy Blythe du rch mehrere Flure und Treppengänge, h inab in die notdürftig erleu chteten Eing eweid e des Hauses. Percy war so nst scho n nicht redselig, und heute war sie entschieden frostig . Eine Wolk e von abgestandenem Tabakqualm u mg ab sie, so intensiv, dass ich einen Sch ritt Ab stand zwisch en un s hielt. Ih r Sch weigen k am mir du rchaus geleg en; nach mein er Unterhaltung mit Saffy war mir nicht nach Plau dereien . Irg endetwas an Saffys Geschichte beunruhigte mich, und es war vielleicht weniger der Inhalt als vielmehr die Tatsach e, dass sie sie mir überhaupt erzäh lt hatte. Sie hatte gesagt, es wäre ein Versuch, Percys Verhalten zu erklären, un d ich konnte mir g u t vo rstellen , dass bei467
de Zwillinge v on Ju nipers Entt äusch ung und dem d arau f fol genden Nervenzusammen b ruch erschüttert waren, aber waru m b ehaup tete Saffy, dass es fü r Percy schlimmer g ewesen sei? Vor allem, wo doch Saffy d ie Mutterrolle geg enüber ih rer unglücklichen kleinen Schwester übernommen hatte. Percys Unhö flichkeit war ih r peinli ch gewesen, das ja, und sie war bemüht, Percys men schliche Seite hervo rzuheb en; aber es kam mir ein bisschen dick aufgetragen vor. Sie war zu sehr bestrebt, Percy Blythe mit einem Heiligen schein zu v ersehen. Percy blieb an der Kreuzung zweier Flure stehen und nahm ein Päck chen Zigaretten aus der Tasche. Mit ihren knorrigen Fingern riss sie ein Streichholz an . Im Schein der Flamme leuch tete fü r einen Momen t ih r Gesicht au f; sie war sich tlich au fgewüh lt von den Ereignissen am Mo rgen. Als der süß liche Qualm uns einhüllte, sagte ich, u m d as Sch weigen zu brechen: »Das mit Bruno tut mir wirklich leid. Aber Mrs. Bird s Neffe findet ih n bestimmt.« »Ach ja? « Percy stieß den Rauch aus un d mu sterte mich ohne eine Spur von Freu ndlichkeit. Ih r Mu nd winkel zuck te. »Tiere wissen, wann ihr Ende naht, Miss Bu rchill. Sie wol len niemandem zur Last fallen. Sie sind nicht wie die Mensch en, die immerzu g etröstet werden wollen.« Sie neigte den Kopf, um anzudeuten, ich solle ihr um die Ecke fo lgen , und ich kam mi r du mm und klein vo r und beschloss, kein weite res Wo rt d es Mitg efühls zu v erlieren . An der nächsten Tür, die wir erreichten, blieben wir stehen; es war eine d er v ielen, an denen wir bei meiner Besichtig un g Mo nate zuvo r vo rb eigeko mmen waren . Die Zig arette im Mu nd wink el, nah m Percy einen g roß en Schlü ssel au s ih rer Tasche und steck te ihn rasselnd in das Schlo ss. Es dauerte einen Mo men t, b is der alte Mechanismu s sich bewegte und die Tü r sich qu ietschend öffn en ließ. Der Rau m war dunk el, es gab keine Fenster, und soweit ich seh en kon nte, stand en en tlang den Wänden schwere hölzerne Aktenschränke, wie man sie vielleicht noch in alteh rwü rd igen An waltskanzleien in der Stadt findet. Eine Glühbirne hing an einem d ünnen, sch wachen Kabel und pendelte im Lu ftzug leich t hin und her.
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Ich wartete darauf, dass Percy vorau sg ing, aber als sie keinerlei An stalten dazu machte, sah ich sie veru nsichert an. Sie zog an der Zigarette und sagte nu r: »Ich geh e d a nicht rein.« Vielleicht registrierte sie meine Verb lü ffung , denn sie fügte hinzu: »Ich ertrage kein e en gen Räume. Um die Ecke do rt steht eine Petroleumlamp e. Ho len Sie sie her, dann zünde ich sie Ihnen an .« Ich warf einen Blick in den eng en , du nklen Rau m. »Fu nk tion iert die Glü hbirn e nicht? « Sie musterte mich einen Mo ment lang, dann zog sie an einer Schnur, und die pend elnd e Birne flackerte kurz au f, verbreitete jedoch nur noch schwaches Licht, in dem die Schatten hin und h er flatterten . Das Licht reichte kau m au s, einen Qu adratmeter Fläch e zu b eleu chten . »Sie so llten zusätzlich die Lampe benutzen.« Tapfer lächelnd ging ich um die Ecke, wo ich die Lampe fand. Sie machte ein schwappendes Geräusch , als ich sie in die Hand nahm. »Klingt vielversprechend«, bemerkte Percy Blythe. »Denn ohne Petroleu m nützt sie n icht viel.« Ich h ielt die Lampe am Sockel fest, wäh rend sie den Glasschirm ab nahm und den Do cht geradezupfte, bevor sie ihn anzündete. »Ich konnte den Geruch noch nie ausstehen«, sagte sie und setzte den Glasschirm wieder au f. »Er erinnert mich an Bun ker, Orte der Angst und Hilflosigkeit.« »Ab er au ch Orte der Sicherheit, würde ich meinen. Und vielleich t auch d es Trosts? « »Für manche vielleich t, Miss Bu rchill.« Sie sagte nichts mehr, wäh rend ich den dünnen metallenen Tragegriff überprüfte, um zu sehen, ob er halten wü rde. »Diesen Raum hat schon seit Ewigkeiten niemand mehr betreten «, sagte Percy Blythe. »Da hinten steh t ein Sch reib tisch. Sie finden die Kladden in den Kisten d arunter. Ich bezweifle, dass sie irgendwie geordn et sin d. Un ser Vater ist während des Kriegs gestorben, da hatten wir andere Probleme. Da mals hatte nieman d Zeit, sich u m d as Ordn en von Papieren zu kü mmern .« Es klang, als wollte sie meinen Vo rwürfen zu vo rkommen. »Natü rlich.«
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Der An flug eines Zweifels hu schte über ih r Gesicht, versch wand jedo ch wied er, als sie lau t in ih re Hand hu stete. »Also gut«, sag te sie, nachdem si e sich wieder erholt hatte, »ich bin in einer Stunde wieder h ier.« Ich nickte, ab er plötzlich wünschte ich, sie würde noch ein wenig bleiben. »Danke«, sag te ich, »ich bin Ih nen wirklich sehr dankbar für die Mö glichkeit ...« »Passen Sie mit der Tür auf. Lassen Sie sie nicht hinter sich zu fallen .« »In Ordnung .« »Sie lässt sich nicht von innen öffnen. So haben wir mal einen Hund verloren.« Sie verzog den Mund zu einer Grimasse, aber es k am k ein Läch eln zustande. »Ich b in eine alte Frau, wissen Sie. Man kann sich nicht darauf verlassen, dass ich mich erin nere, wo ich Sie zu rückgelassen hab e.« Der Raum war lang und schmal mit einer niedrigen Gewölbed eck e. Ich u mk lammerte die Lamp e und trug sie vo r mi r her, so dass der Lichtsch ein ge gen die Wände flack erte, als ich mich lang sam vorwärtstastete. Percy h atte recht gehabt. Hier war schon ewig niemand mehr gewesen. Es herrsch te eine gan z eigen e Stille, wie in ein er Kirche, und mich beschlich das unh eimliche Gefühl, von etwas beobachtet zu werden, das größe r war als ich. Deine Fantasie geht mit dir durch, ermahn te ich mich . Hier ist niemand außer dir und den Wänden. Aber das war nur die Hälfte meines Prob lems. Schließlich waren das hier nicht irgend welche Wänd e, es war das Gemäuer von Schloss Milderhu rst, in de m die fern en Stu nden flüsterten und lauerten . Je tiefer ich in den Raum eindrang, desto mehr verstärkte sich das seltsame, bedrückende Gefühl. Ein Gefühl unendlichen Verlassenseins. Natü rlich lag es an der Dunk elheit, an meiner Begegnung mit Saffy, an Junipers trau riger Geschichte. Aber es war meine einzige Gelegenheit, Raymond Blythes Kladden zu seh en. Ic h hatte eine Stunde Zeit, dann würde Percy Blythe mich wieder abholen ko mmen . Ich kon nte nicht davon ausgehen, dass sie mich noch ein zweites Mal ins Familienarchiv lassen würde, deswegen tat ich gut daran, mich vo ll zu konzentrieren. Ich präg te mir jede Einzelheit ein:
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hölzerne Aktenschränke an beiden Wänden, darüb er - ich hob die Lampe, um besser se hen zu kön nen - Landkarten und Arch itektenpläne aus verschied enen Epochen. Ein Stück weiter hing eine Sammlung kleine r gerahmter Daguerreotypien. Es handelte sich um eine Serie von Porträts, die alle ein und dieselbe Frau zeigten: Au f einem Bild lag sie leicht bekleid et au f einer Ch aiselongue, au f d en anderen blickte sie direkt in die Kamera, bekleidet mit ein er hochg eschlo ssenen vikto rianisch en Blu se. Ich beugte mich vo r, u m ih r Gesicht zu betrach ten , u nd h ielt die Lampe etwas höher. Als ich den Staub wegpu stete und das Gesicht zu m Vo rschein kam, lief es mir eiskalt über d en Rücken. Sie war schön , ab er do ch wie eine Gestalt au s einem Albtraum. Weiche Lippen, perfekte glatte Haut straff ü ber d en hoh en Wan gen knoch en, d ie Zähne groß und glänzend . Ich h ielt die Lamp e no ch ein bis schen höher, um den un ter der Abb ildun g in Schreib sch rift eingravierten Namen en tziffern zu k önnen : »Mu riel Blythe« - Raymonds erste Frau, die Mutter der Zwillinge. Wie merkwürdig, dass all ih re Foto s in das Familien archiv verbann t wo rd en waren . War es au fg ru nd von Raymo nd Blyth es Trauer geschehen, oder hatte sein e zweite Frau es aus Eifersucht verfügt? Wie auch immer, ich nah m d ie Lamp e fort und entließ Muriel Blyth e wied er in die Dunk elheit. Da die Zeit nicht reichte, um jeden Wink el des Raums zu erfo rschen, entschloss ich mich, mir Raymond Blythes Klad den vorzunehmen, in der gewäh rten Stu nde so viel wie mög lich zu lesen und dann diesen seltsamen Ort mit sein er bedrückenden Atmosphäre hinter mir zu lassen. Mit hochgehaltener Lampe setzte ich meinen Weg fort. Die Foto s an den Wänd en wu rden abgelö st von rau mh oh en Regalen, und trotz mein er Vo rsätze blieb ich erneut stehen. Es war, als befände ich mich in einer Schatzkammer. Die Regale waren gefü llt mit allen mö g lich en Gegen ständen: Unmengen von Büchern, außerdem Vasen und Porzellan, selbst Kristallgläser. Wertvolle Din ge, so weit ich d as beu rteilen kon nte, k ein Tröd el od er Schrott. Was all diese Dinge im Fa milienarchiv zu such en hatten , war mir ein Rätsel. Daran anschließend entdeck te ich etwas, das so fo rt mein e Neugier erregte. Eine Sammlung von vierzig oder fünfzig
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Sch ach teln , alle in derselben Größe, alle sorgfältig gestapelt und mit hübschem Papier bek leb t - vo rwieg end mit Blumen mu ster. Auf einigen befanden sich kleine Etik etten, und ich trat näh er, u m eins d avon in Augen schein zu n eh men. »Das wiedergewonnene Herz - Ein Roman von Serap hina Blythe«. Ich h ob den Deckel und lugte h inein. Die Schachtel enthielt einen d icken Stapel maschine nbesch rieben er Seiten: ein Manuskript. Mir fiel ein, dass mein e Mu tter erzäh lt hatte, alle Mitglieder der Familie Blythe, mit Ausnah me von Percy, seien Schriftsteller gewesen. Ich hob die Lampe, betrachtete staunend die Sammlung vo n Schach teln und mu sste lächeln. Das waren Saffys Geschichten. Offenbar war sie sehr produktiv gewesen. Aber es war bed rückend , all diese Werke in diesem Verlies zu sehen: Geschichten und Träu me v on Men sch en und Orten, mit viel Eifer und Fleiß ersonn en, nur u m dann fü r Jah rzehnte im Dunkeln zu liegen und zu Staub zu zerfallen. Au f einem and eren Etikett stand: »Ho chzeit mit Matth ew de Cou rcy«. Die Lek torin in mir kon nte n icht an ders: Ich hob den Deckel und nahm die Seiten heraus. Aber das war kein Manu sk rip t, es sah eher nach einer Materialsammlung aus. Alte Zeichnu ngen - Sk izzen von Hoch zeitskleidern, Blumenarrangements -, Zeitung sausschnitte, in denen über div erse Hochzeiten der besseren Gesellsch aft b erichtet wurde, hingekritzelte Notizen über den Ab lau f eines Hochzeitsfests und schließ lich gan z un ten eine sch ön g estaltete Karte au s dem Jah re 1 9 2 4 , au f d er d ie Verlobun g von Seraphin a Grace Blythe mit Matthew John de Courcy angekündigt wurde. Ich legte alles wieder zu rück in die Sch achtel. Es hand elte sich tatsächlich um eine Materialsammlung, ab er nicht für einen Roman . Diese Sch ach tel enth ielt d ie Planung fü r Saffys Ho chzeit, die nie stattgefunden hatte. Hastig legte ich den Deckel wieder auf die Schachtel und trat einen Schritt zu rück , d enn ich kam mir p lö tzlich vo r wie ein Eind ringling. Allmählich begriff ich, dass jeder Gegenstand in diese m Raum das Fragment einer größeren Geschich te war, die Lamp en , die Vasen, die Bücher, die Reisetasche, Saffys blumenverzierte Schachteln . Das Familien archiv war wie eine Grab stätte in d er Antike. Ein dunkles, kühles Pharaonen-
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grab, in dem wertvo lle Dinge dem Vergessen anheimgegeben waren. Als ich schließlich den Sch reibtisch am En de des Rau ms erreichte, h atte ich das Gefü hl, einen Marathonlau f du rch Alices Wunderland hinter mir zu haben. Ich dreh te mich um und stellte üb errascht fest, d ass die Glü hbirne und die Tü r - d ie ich vo rsichtsh alber mit einer Ho lzkiste gesichert hatte - sich hö ch sten s zeh n, zwölf Meter hin ter mir befanden. Raymond Blyth es Kladden lagerten an der Stelle, die Percy Blyth e mir genann t h atte, und genau so , wie sie es mir besch rieb en hatte: lieblos in Kisten verstaut, als wäre jemand in sein Arbeitszimme r marschiert und hätte alles wahllo s eing epack t und dann hier unten dep oniert. Ich kon nte gu t versteh en, dass man im Krieg andere So rg en h atte; d enno ch fand ich es merkwürdig, dass sich die Zwillinge wäh rend d er vergange nen Jahrzehnte nie die Zeit genommen hatten, hier unten Ordnu ng zu schaffen. Raymo n d Blythes Klad den, seine Tagebücher und Briefe, hatten es verd ien t, in irgendeiner Bibliothek ausgestellt zu werd en, geschü tzt und g ewü rdigt, zu gänglich für die Fachwelt der kommenden Jahrzehnte. Ich hätte gedacht, dass gerade Percy, die so sehr auf die Nach welt bedacht war, ein Interesse daran haben mü sste, das Vermächtnis ihres Vaters zu bewah ren. Ich stellte die Lamp e auf dem Sch reibtisch ab , weit genug weg, damit ich sie nicht au s Versehen umstieß. Dann zog ich die Schachteln unter dem Tisch herv o r, hob sie eine nach der an deren au f den Stuhl, du rch stöberte sie, b is ich die Kladden au s den Jahren 1 9 1 6 bis 1 9 2 0 gefunden hatte. Raymond Blythe hatte sie zu m Glück mit Jahreszahlen gekennzeichnet, und es d auerte n icht lange, bis das Jahr 1 9 1 7 aufgeschlagen vo r mir lag. Ich nahm mein Notizheft au s mein er Umhängetasche und notierte mir alles, was für meinen Essay nü tzlich sein konn te. Immer wi ed er hielt ich inn e, um zu wü rdigen, dass ich hier tatsächlich seine Kladden v o r mir hatte, dass diese geschnörkelte Schrift, die Ideen und Gefü hle tatsäch lich von diesem bedeutenden Auto r stammten . Wie soll ich mit Worten d en unglaublichen Aug enblick besch reiben , als ich jene schicksalhafte Seite au fschlu g u nd eine Veränderung der Han dsch rift un ter mein en Fing erkup -
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pen spürte? Die Schrift wirkte schwerer, entsch lossener, als wäre sie schn eller g eschrieben worden: Zeile für Zeile, Seite fü r Seite, und als ich mich tiefer beugte, u m die Han dsch rift zu entziffern, wurde mir bewusst, dass ich hier den ersten Entwurf des Modermann vo r mir hatte. Fün fund siebzig Jah re später war ich Zeugin der Gebu rt ein es Klassikers. Ich überflog die Seiten , versch lang den Text und registrierte die k leinen Ab weichungen von der p ublizierten Fassung , wie ich sie in Erinnerung h atte. Endlich gelan gte ich zu m Schluss der Geschichte, un d obwohl ich wu sste, dass ich das nicht h ätte tun so llen, legte ich meine Hand flach auf die letzte Seite, sch lo ss die Au gen und kon zen trierte mich au f die Abdrücke der Feder au f d e m Papier unter meiner Haut. Und in d iesem Mo me nt fühlte ich es. Die feine Erhebung , die sich ungefäh r zwei Zentimeter vom äußeren Rand entfern t üb er die Seite zog . Etwas steckte zwisch en dem L ed errücken des Schreibhefts und der letzten Seite. Ich blätterte die Seite um und fand ein steifes Stück Papier mit wellenfö rmig gezacktem Rand, wie man es von teurem Briefpapier kennt. Es war in der Mitte gefaltet. Wie h ätte ich widerstehen können? Briefe ungelesen zu lassen liegt nicht in meiner Natur, und als ich ihn entdeckte, ju ckte es mich auch schon in den Fingern. Ich spürte Blicke au f mir, Blicke im Dunk eln , die mich d rängten, d as Blatt au seinanderzu falten. Der Brief war säuberlich von Hand geschrieben, aber die Tinte war verblasst, und ich mu sste d as Blatt n ah an s Lich t halten, u m die Wo rte entziffern zu könn en. Der Text b egan n mitten in einem Satz, offenbar handelte es sich um ein einzelnes Blatt aus einem längeren Brief:
... muss ich Dir nicht erst sagen, dass es eine wunderschöne Geschichte ist. Nie zuvor hat Dein Schreiben den Leser auf eine so lebhafte Reise mitgenommen. Die Sprache und die Wortwahl sind ausgezeichnet, und die Geschichte selbst fesselt mit einer fast unheimlichen Vorahnung, dem ewigen Streben des Menschen, seine Vergangenheit abzustreifen und Verfehlungen zu vergessen. Das Mädchen Jane ist ein besonders anrührendes Geschöpf, und ihre Situation kurz vor dem Erwachsen werden ist überzeugend dargestellt. 474
Allerdings konnte ich beim Lesen des Manuskripts nicht umhin, auffallende Ähnlichkeiten mit einer anderen Geschichte zu bemerken, mit der wir beide sehr vertraut sind. Aus diesem Grund und weil ich weiß, dass Du ein anständiger und freundlicher Mann bist, muss ich Dich inständig bitten, sowohl Dir selbst als auch der betreffenden Person zuliebe Die wahre Geschichte vom Modermann nicht zu veröffentlichen. Du weißt so gut wie ich, dass es nicht Deine Geschichte ist. Es ist noch nicht zu spät, das Manuskript zurückzuziehen. Solltest Du das jedoch nicht tun, werden die Folgen schrecklich ... Ich drehte das Blatt um, aber da war nichts mehr. Ich suchte zwischen den übrigen Seiten nach d em Rest. Blätterte zu rück, hielt die Kladde sogar am Rücken und schüttelte sie vorsichtig. Nichts. Aber was hatte das zu bedeuten? Welche Ähn lich keiten? Welche andere Geschichte? Welch e Folgen? Und vo n wem kon nte ein e so lche Warnun g stammen? Schritte im Korridor. Ich saß wie versteinert da und lausch te. Irgendjemand kam näher. Mit po chend em Herzen hielt ich den Brief zwischen den Fing ersp itzen . Ich zögerte kurz, schob ih n dann schn ell in mein Notizheft und klappte es zu. Als ich mich umdrehte, sah ich die Silhouette vo n Percy Blythe mit ih rem Geh stock im Tü rrahmen .
Ein tiefer Sturz Wie ich zum Bauernhau s zu rückgekommen bin, weiß ich nicht; ich kann mich nicht an eine Sekunde des Fußwegs erinnern . Wah rscheinlich h abe ich es gerade noch gesch afft, mich von Saffy und Percy zu verabschieden und wie benommen d en Hüg el h inunterzustolpern, ohne größeren körperlich en Schaden zu n ehmen . Ich konn te nu r no ch an diesen Brief d enken , den ich en twend et hatte. Ich mu sste unbed ingt sofort mit jemandem reden. Wenn ich richtig verstand en hatte - und der Brief war nicht gerade missverständlich formuliert -, beschuldigte jemand Raymond Blythe des Plagiats. Wer mochte diese rätselhafte Person sein, und au f welche
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früh ere Gesch ichte bezog sie sich? Wer auch imme r behauptet hatte, Raymond Blythes Manu sk ript zu kennen , mu sste es gelesen und den Brief gesch rieben h aben , bevo r das Buch 1 9 1 8 veröffen tlicht wo rd en war; diese Tatsache en gte zwar die Möglichkeiten ein, half mir aber noch nicht viel weiter. Ich hatte nicht die gerin gste Vo rstellu ng, an wen das Manuskript geschickt wo rd en sein k onnte. Das h eißt, eine Vo rstellung h atte ich sch on, immerh in hab e ich mit de m Publizieren von Büchern zu tun. Das Manu sk ript mu sste von Verlegern, Lektoren und auch von vertrauten Freunden g elesen worden sein. Aber das waren nu r allg emeine Üb erlegun gen; ich brauchte Namen, Daten, Einzelheiten , bevo r ich b estimmen konnte, wie ernst der Vo rwurf in d em Brief zu nehmen war. Denn wenn er der Wahrheit entsprach , wenn Raymo nd Blythe sich tatsäch lich die Geschichte vo m Modermann unrechtmäßig angeeign et hatte, waren die Kon sequen zen unabsehbar. Es war d ie Art Entd eckun g, von der Geleh rte und Histo rik er - und genesende Väter in Barnes — träu men, mit denen sich ein karrierefö rd ernder Gewinn machen lässt, aber mich versetzte sie nu r in Panik . Ich wollte nicht, dass es sich als wahr erwies; ich konnte nur hoffen, dass es sich um einen du mmen Scherz hand elte oder u m ein Missverständnis. Meine Vergangenheit, meine Liebe zu Büch ern und zu m Lesen waren unauflöslich verbun den mit Raymo nd Blyth es Modermann. Zu akzeptieren, dass es gar nicht seine Geschich te war, dass er sie jemand anderem g estohlen, dass sie ih re Wu rzeln nicht im fr uchtbaren Boden von Schlo ss Milderhu rst hatte, käme n icht nu r der Demo ntag e einer literarischen Legende gleich, es wäre ein grausamer persönlicher Schlag. Aber wie dem auch sei, ich hatte den Brief nun einmal gefund en, u nd ich wu rde schließlich d afü r bezah lt, über Raymond Blythes En twurf, vor allem über die Anfänge des Modermann zu sch reiben . Ich kon nte den Vo rwu rf des Plagiats nicht ein fach igno rieren , ob es mir n un gefiel od er nicht. Vor allem ließe sich damit möglicherweise erklären , waru m Raymond Blythe sich derart in Zu rückh altung g eübt hatte, wenn d as Thema auf sein e In sp iratio n k am.
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Ich b rauchte Hilfe. Und ich wu sste au ch schon , von we m ich sie beko mmen k onnte. Zurück im Bauernhaus ging ich Mrs. Bird aus dem Weg und ei lte schnu rstrack s in mein Zimmer. Ich hatte den Hö rer schon in der Hand, b evor ich mich üb erhau pt h ingesetzt hatte. Meine Finger verhasp elten sich, so eilig hatte ich es, Herb erts Nu mmer zu wählen. Das Freizeichen ertönte in d er Leitung, ich wartete und wartete, aber niemand ging ran. »Nein !«, fleh te ich den Hörer an. Ich legte auf, d ann v ersuch te ich es no ch einmal, doch ohn e Erfolg. Ich war drauf und dran, meinen Vater anzu ru fen, un d nu r die Sorge, was die Aufregung seinem Herzen antun kön nte, hielt mich davon ab. Dann fiel mein Blick au f Ad am Gilberts Abschrift seines Gesp räch s mit den Schwestern Blyth e. Ich wäh lte, ich wartete. Kein e Antwo rt. Ich wäh lte ern eut. Endlich das v ertraute Klicken, wenn der Hö rer abgeno mmen wird . »Hallo , hier sp rich t Mrs. Button.« Ich hätte heulen können vo r Freud e. »Edith Bu rchill hier. Ich möchte gern Adam Gilbert sp rechen .« »Tut mir leid, Miss Burch ill. Mr. Gilbert ist zu einem K ran kenhau stermin nach Lond on g efah ren.« »Ach so «, mu r melte ich en ttäu scht. »Er mü sste in ein od er zwei Tagen wieder zurück sein. Ich kann ihm eine Nachricht h interlassen , wenn Sie wollen, damit er Sie zu rü ck ru ft.« »Nein«, sagte ich. Das war zu spät, ich b rauch te jetzt Hilfe - andererseits war es besser als nichts. »Ja - in Ordnung . Danke. Richten Sie ihm d o ch bitte aus, d ass es wichtig ist. Dass ich möglicherweise über etwas gestolpert bin, das i m Zusammenhang mit dem Rätsel steh t, üb er das wir un s un terhalten haben.« Den Rest des Ab ends verbrachte ich damit, den Brief zu betrachten, unerg ründliche Mu ster in mein Notizbu ch zu k ritzeln und Herb erts Nummer zu wählen; den Phantomstimmen zu lauschen, die in der leeren Telefo nleitung g efan gen waren . Um elf Uh r fand ich mich schließ lich damit ab , dass es zu spät war, Herberts leeres Haus noch länger zu belästigen ,
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und d ass ich vo rerst mit meinem Problem auf mich allein gestellt war. Als ich am näch sten Morgen erschöpft und unausgeschlafen zu m Sch lo ss au fb rach, fühlte ich mich , als wäre ich die gan ze Nach t du rch Mo rast g ewatet. Ich h atte den Brief in der Innentasche meiner Jacke verstaut und tastete immer wi ed er danach , u m mich zu verg ewissern, dass er noch da war. Ich weiß nicht, warum, aber als ich mein Zimmer verließ, verspürte ich den Drang, ihn sich er zu verwahren und am Leib zu tragen. Den Brief au f dem Sc h reibtisch liegen zu lassen war undenkbar. Es war keine übe rlegte Entscheidung , es war au ch nich t die An gst, dass jema nd anders ihn im Lauf des Tages zu fällig finden könnte. Es war die seltsame b rennend e Üb erzeug ung , dass d er Brief zu mir geh ö rte, dass er sich mir o ffenbart hatte, dass wir au f irgen dein e Weise zu sammen gehö rten und ich die Au fg abe hatte, seine Geheimn isse zu enthüllen. Als ich eintraf, erwartete Percy Blythe mich bereits un d tat, als wü rde sie au s einem Blumenküb el an der Eingang strep pe Unkraut zupfen. Da ich sie gesehen hatte, bevo r sie mich bemerkte, wusste ich, dass sie nur so tat. Bis ih r sech ster Sin n ih r meine Anwesenheit verriet. Sie rich tete sich au f, leh nte sich gegen den steinernen Treppenp fo sten, die Arme vor der Bru st versch ränkt, den Blick auf irgendetwas in der Ferne gerichtet. So still und bleich, wie sie dastand, wirkte sie wie eine Statue - allerdings keine von der Art, wie man sie sich vo rs Hau s stellen wü rde. »Ist Bruno wieder au fgetaucht? «, rief ich ih r zu . Sie machte ein Gesicht, als wunderte sie sich, dass ich scho n da war, und rieb die Fing er gegeneinand er, sod ass win zig e Erdb rö ckch en zu Bod en fielen . »Viel Ho ffnung habe ich nicht. Vor allem nach diesem plötzlichen Kälteeinbruch.« Als ich näher kam, bedeutete sie mir mit einer einladend en Geste, ih r in s Hau s zu folg en. »Ko mmen Sie.« I m Schloss war es n icht wärmer als draußen. Die Mauern schienen die kalte Luft festzuhalten, wodurch der alte Kasten noch grauer, düsterer u nd un freun dlicher wirkte als sonst.
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Ich rechnete damit, dass wir wie üb lich den Korridor zu m gelben Salon neh men würden, aber Percy führte mich zu einer kleinen Tü r, die sich versteckt in ein er Nische der Ein gang shalle befand . »Der Turm«, sagte sie. »Ah .« »Fü r Ih r Vorwo rt.« Ich nickte und stieg hinter ih r die en ge, gewundene Trep pe hoch. Mit jeder Stufe wuchs mein Unbehagen. Natü rlich war der Tu rm fü r meinen Text wichtig, aber irg end wie machte mich Percy Blythes Angebot stutzig. Bish er hatte sie sich imme r äußerst reserviert verhalten und war meinem Wunsch , mit ih ren Schwestern zu sp rechen oder die Kladden ih res Vaters einzu seh en, n u r wid erwillig nachgekommen. Dass sie mich an diesem Mo rgen draußen in der Kälte erwartet hatte, um mir ein e Besichtigung d es Tu rms anzub ieten , eh e ich sie daru m g ebeten hatte - das kam unerwartet, und un erwartete Din ge sind mir meistens n icht geheu er. Wah rscheinlich schlo ss ich zu viel au s ih rem Verh alten : Percy Blythe hatte mich ausgesucht für die Aufgabe, über ih ren Vater zu sch reiben, un d si e war au sg esp rochen stolz au f ih r Sch loss. Vielleicht war es so ein fach . Od er sie sag te sich, je eh er ich zu sehen bekam, was ich sehen mu sste, u mso eher würde ich mich wieder verziehen und sie in Ruhe lassen. Aber allen logisch en Erklärung sv ersuch en zu m Trotz nagten Zweifel in mir. Konnte es sein , d ass sie wu sste, was ich entdeckt hatte? Wir waren auf eine m Treppenabsatz au s grob behauenem Stein angeko mmen, wo man du rch eine Schieß scharte im Tu rm ein Stü ck des d ich ten Waldes sehen konn te. Der Cardarker-Wald war normalerweise ein prächtiger Anblick, aber dieser Au ssch nitt wirk te eh er bed roh lich . Percy Blythe stieß eine sch male Run dbogentü r au f. »Das Turmzimme r.« Auch diesmal ließ sie mir den Vortritt. Ich betrat den kleinen rund en Raum und blieb au f einem abgewetzten, mit Rußflecken b edeckten Teppich stehen. Als Erstes fiel mir auf,
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dass im Kamin frisches Holz au fgeschichtet war, vermutlich in Erwartung meines Besu ch s. »So«, sagte sie und schloss die Tü r hinter sich . »Jetzt sin d wir allein .« Ich b ekam Herzklop fen, ohne re cht zu wissen , waru m. Es gab keinen Gru nd, Angst zu haben. Sie war eine gebrechlich e alte Dame, d ie soeben all ih re Kraft hatte au fb rin gen müssen, um die Treppen ho chzu steigen . Kö rperlich h atte ich von ih r nichts zu befürchten. Und dennoch . Es lag etwas in der Art, wie ih re Augen funk elten, ein Wille, der stärk er war als ih r Kö rper. Un d plötzlich k onnte ich n ur no ch d aran den ken, wie tief es bis unten war, dass schon ein e gan ze Reih e Menschen aus diesem Fen ster in d en Tod gestürzt waren ... Zum Glück konnte Percy Blyth e mein e Gedan ken nicht lesen und die Schreckensszenarien nicht sehen, die in einen Schauerroman gehörten . Mit einer knap pen Handbewegun g sag te sie: »Das ist es. Hier h at er gearbeitet.« Als ich sie das sagen hö rte, kon nte ich endlich meine trü ben Gedanken abschütteln un d wü rd igen , wo ich mich be fand. In diesen Bücherregalen, die an die runden Wände an gepasst waren, hatte er seine Lieblingswerke aufbewahrt; an diesem Kamin hatte er Tag und Nacht gesessen un d seine Bücher geschrieben. Ehrfürchtig fuhr ich mit den Fing ern üb er den Schreibtisch, an dem er den Modermann geschrieben hatte. Der Brief flü sterte in mein er Brusttasche. Wenn er das Buch denn geschrieben hat. »Es g ibt ein Zimmer«, sagte Percy Blythe, während sie mit einem Streichholz das Kamin feuer anzündete, »hinter der kleinen Tür in der Eingangshalle. Vier Stockwerke tiefer, aber direkt unter dem Tu rm. Saffy und ich h aben do rt man chmal gesessen, als wir jung waren. Wen n un ser Vater arb eitete ...« Es war ein selten er Mo men t der Mitteilsamk eit, und ich b etrachtete sie gebannt. Als spürte sie meine Neugier, erschien dieser typische An flug eines schiefen Lächelns auf ihrem Gesich t, un d sie straffte sich. Sie nick te mir zu und warf das ab geb rannte Streichholz in die Flammen . »Fühlen Sie sich gan z wie zu Hause«, war alles, was sie sagte. »Sehen Sie sich u m.«
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»Danke.« »Gehen Sie aber nicht zu n ah an s Fen ster, da kan n man tief fallen .« Ich rang mir ein Lächeln ab und begann, mir den Raum näher anzu sehen. Die Regale waren ziemlich leer; wahrschein lich befand sich ihr früherer Inhalt jetzt im Familien archiv. Aber es gab noch einige gerahmte Bilder an der Wand . Eins stach mir besonders in s Aug e. Es war eine Radierung, die mir vertraut war: Goyas Der Schlaf der Vernunft. Ich blieb davor stehen, betrachtete den Mann im Vord ergrund, der - an scheinend verzweifelt - ü ber einem Schreibtisch zusammengesunken liegt, während um ihn herum fledermausäh nliche Ungeheuer flattern , die aus seinen Träu men au fsteigen und sich davon ernäh ren. »Das hat unserem Vater geh ö rt«, sagte Percy. Ih re Stimme ließ mich zusammenzuck en, aber ich d reh te mich nicht u m. Als ich das Bild noch ein mal b etrachtete, hatte sich meine Persp ektiv e verändert, sodass ich nicht nu r mich selb st in der Glasscheibe reflektiert sah, sond ern auch Percy, die hin ter mir stand. »Das Bild hat un s immer schreckliche Ang st eingeflößt.« »Das kan n ich gu t versteh en.« »Un ser Vater meinte, es sei dumm, Angst zu haben. Wi r sollten es als Lektion beg reifen.« »Un d was fü r eine Lektion wäre das? « Nun drehte ich mich zu ihr um. Sie wies auf den Sessel am Fenster. »Nein, nein , ich ...«, wied er rang ich mir ein Lächeln ab , »ich stehe lieber.« Percy blin zelte lang sam, u n d zuerst dachte ich, sie würde darau f besteh en, d ass ich mich setzte. Aber sie sagte nur: »Die Lektion , Miss Burchill, lautet: Wenn die Vernunft sch läft, kommen die Ung eheu er der Verd rängu ng an s Tageslicht.« Meine Hände waren feu cht, und Hitze k roch mir d ie Ar me ho ch. Sie hatte doch n icht etwa meine Ged anken gelesen? Sie konnte unmöglich d ie Ungeheuerlichk eiten ahnen, d ie ich mir seit d em Fu nd des Briefs au smalte, und eben so wenig mein e k ranke Fan tasie, au s dem Fen ster g estoß en zu werden.
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»In dieser Hin sicht hat Go ya Freud vo rweg geno mmen .« Ich lächelte gequält, meine Wang en glühten , und ich spürte, dass ich die Spannung , d ie Au sweich man över n icht meh r länger ertrag en k onnte. Ich wa r nicht geschaffen für solche Spielchen. Wenn Percy Blythe wu sste, was ich im Fa milien archiv gefunden hatte, und auch wu sste, dass ich es mitg enommen hatte und versuchen wü rde, mehr herauszu finden , und wenn das hier alles nu r ei n geschick ter Trick war, mich dazu zu b ring en, meine Täu schung ein zugesteh en und mich mit allen Mitteln davon ab zuhalten, die Lüg e ih res Vaters öffentlich zu machen, dann hatte sie mich so weit. Mir blieb nichts anderes üb rig, als zu m A ng riff überzu gehen. »Miss Blyth e«, sagte ich, »gestern habe ich etwas gefund en. I m Familien archiv.« Für einen Momen t schien es, als wü rd e sie die Fassung v er lieren. Doch sie riss sich au genb lick lich zu sammen . Sie blin zelte. »Und? Ich glaube nicht, dass ich es erraten kann, Miss Burchill. Sie werd en mich sch on au fk lären mü ssen .« Ich griff in meine Jacke und zog den Brief hervor, bemüht, das Zittern mein er Finger ab zu stellen, als ich ihn ihr reichte. Sie nahm eine Lesebrille au s ihrer Tasche, hielt sie vo r die Augen und üb erflog die Seite. Die Zeit schien stillzustehen. Sie folgte den Buchstab en mit der Fing erspitze. »Ja«, sag te sie. »Versteh e.« Sie wirk te beinah e erleichtert, so als wäre meine Entdeckung nicht das, was sie befü rchtet h atte. Ich wartete darauf, dass sie weitersprach, doch als sie sch wieg , sag te ich: »Ich bin ziemlich beun ruh igt ...« Ich suchte nach Worten. »Falls irgend ein ... Zweifel daran besteht ... dass der Modermann ...« Ich kon nte mich nicht dazu überwinden, d as Wort »p lagiiert« au szu sp rechen. »Wen n tatsächlich d ie Möglichkeit besteht, dass Ihr Vater die Geschichte woan ders gelesen hatte«, ich mu sste schlucken, und der Raum begann vor mein en Augen zu schwanken , »wie es in dem Brief angedeutet wird, dann mu ss der Verlag d as erfahren.« Nachdem sie den Brief gewissenhaft g efaltet hatte, erwiderte sie: »Ich k ann Sie beruhigen, Miss Bu rchill. Jedes Wo rt in diesem Buch stammt von mein em Vater.«
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»Ab er der Brief... Sind Sie sich ganz sicher? « Es war ein riesiger Fehler gewesen, ih r davon zu erzählen. Was hatte ich denn erwartet? Dass sie offen und eh rlich mit mir sprech en wü rde? Dass sie mir ihren Segen gab, während ich Nach fo rschung en anstellte, die geeign et waren , d em literarischen Ruhm ihres Vaters die Legitimation zu entziehen? Es war nu r natü rlich , dass seine Tochter ihm Rückendeckung geben wü rde, vo r allem eine To chter wie Percy. »Ich bin mir dessen gan z sich er, Miss Bu rchill«, sagte sie und sah mir in die Augen. »Ich war es, die diesen Brief geschrieben hat.« »Sie h aben ihn geschrieben? « Ein knappes Nicken. »Aber warum? Warum haben Sie so etwas geschrieben? « Vo r allem, wenn es d er Wah rheit en tsp rach , dass jedes Wo rt von ih m stammte. Sie warf mir einen verstohlenen Blick zu, den ich schon von ih r kannte, ein Blick, der verriet, dass sie von Dingen wusste, die ich nicht einmal erahn te. »Im Leben eines Kin des ko mmt irg end wann eine Zeit, in d er es die Scheuk lapp en ablegt und sich bewusst wird , dass seine Eltern nich t geg en menschliche Schwächen gefeit sind . Dass sie nicht allmächtig sind. Dass sie man ch mal Dinge tu n aus gan z eig ennützigen Gründ en , Ding e, mit d en en sie ih re eigen en Un geheuer näh ren . Wir sin d von Natur aus egoistisch v eranlagt, Miss Burchill.« Meine Gedan ken trieben in einem u nd urchd ringlichen Ne bel. Ich wusste nicht, wie eins mit dem anderen zu sammenhing, aber ich nah m an, dass es etwas mit den verheerenden Konsequenzen zu tun hatte, die ih r Brief vorhergesagt hatte. »Aber der Brief...« »Dieser Brief hat nich ts zu bed euten «, fau chte sie mit einer weg werfenden Handb ewegung. »Jetzt n icht meh r. Er ist vo llkommen irrelevant.« Sie sah den Brief an , sie zögerte, do ch dann warf sie ihn mit Schwung ins Feuer und zu ckte ku rz zu sammen , als er k nisternd verbrannte. »Ich hatte mich geirrt. Es war allerd ing s seine Geschichte.« Sie lächelte b itter. »Au ch wenn er es damals selb st nicht wusste.«
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Ich war völlig verwirrt. Wie konnte er n ich t gewusst h aben , dass es seine Geschichte war, und waru m sollte Percy etwas anderes angenommen hab en? Es ergab ein fach kein en Sinn . »Ich habe einmal eine ju nge Frau kenneng elernt, im Krieg .« Percy Blythe h atte auf dem Stu hl hinter dem Sch reibtisch ih res Vaters Platz g enommen und stützte sich au f d ie Armleh nen, während sie fortfuh r. »Sie arbeitete bei der Reg ierung , sie begegnete Churchill hin und wieder au f dem Flu r. Er h atte dort ein Schild anbrin gen lassen mit der Au fsch rift: >Bitte neh men Sie zu r Kenntnis, dass es fü r Nied ergeschlag enheit in diesem Haus kein en Platz gibt und d ie Mö glichkeit ein es Scheiterns nicht in Betracht g ezogen wird. Wir leugnen d ie Existenz von b eid em.< Sie saß einen Mo men t sch weigend d a, das Kinn vo rg ereckt und die Augen schmal, während die Worte im Raum schweb ten. In der Tabakwolke, mit ih rem säub erlich geschnittenen Haar, ihren feinen Gesichtszügen und in ihrer Seid enbluse wirkte sie fast so, als sei der Zweite Weltkrieg noch nicht vorüb er. »Was halten Sie davon?« Ich wu sste nicht, was sie von mir h ö ren wo llte. Mir fiel n u r eine Statistik ein, die ich einmal irgend wo gelesen hatte, dass in Krieg szeiten die Selbstmo rd rate sinkt; dass die Men schen im Krieg viel zu sehr mit dem Überleben beschäftigt sind , um darüber nachzugrübeln, wie schlecht es ihnen geht. »Ich glaube, im Krieg ist alles an ders«, sagte ich, unfäh ig, mein wachsendes Unbehagen zu verb ergen . »Ich glaube, dass in solchen Zeiten andere Regeln gelten . Ich kan n mir vo rstellen, dass Niedergesch lag enheit im Krieg gleich bedeuten d ist mit dem Gefühl, sich geschlagen zu geben . Vielleicht ist es das, was Churchill sag en wollte.« Sie nickte, u nd ein dünn es Lächeln u msp ielte ih re Lippen. Sie machte es mir absichtlich schwer, und ich hatte keine Ahn ung, waru m. Ich war au f ih ren Wun sch hin n ach Kent geko mmen , aber sie ließ mich weder mit ihren Schwestern sp rechen , noch ging sie d irekt au f mein e Fragen ein , sond ern spielte mit mir Katz und Maus. Genauso gut hätte sie Ada m Gilbert das Projekt fortführen lassen können. Er hatte seine Gesp räche bereits g efüh rt, er hätte sie nich t weiter belästigen mü ssen. Es war sicherlich ein Anzeichen von äußerstem
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Unbehagen und Frustration, als ich schließlich sagte: »Warum haben Sie mich gebeten hierherzukommen, Miss Blythe?« Eine ihrer narbengleichen Brauen scho ss wie ein Pfeil nach ob en. »Wie bitte? « »Judith Waterman von Pippin Book s hat mi r g esagt, dass Sie sie angerufen haben . Dass Sie speziell nach mir g efrag t haben .« Ih r Mund wink el zuck te, und sie sah mich direkt an . Man ist sich oft gar nicht bewusst, wie selten es vo rkommt, bis es jeman d tatsäch lich tut und einem ohn e zu blinzeln d irekt b is au f d en Grund d er Seele blickt. »Hinsetzen«, sagte sie, so wie man es einem Hund sagt, den man erziehen will, oder einem ungehorsamen Kind, und sie sagte es mit so schneidender Stimme, dass ich nich t and ers kon nte, als zu geh o rch en. Ich suchte mir den näch ststehend en Sessel und setzte mich . Sie klopfte das Ende einer Zigarette au f den Schreibtisch und zündete sie an . Sie sog den Rauch heftig ein u nd hielt den Blick au f mich gerichtet, während sie ausatmete. »Sie haben sich irgendwie verändert«, sagte sie, während sie die an dere Hand au f ih rem Körper ruhen ließ, und lehnte sich im Sessel zurück. Um mich besser taxieren zu könn en. »Ich weiß nicht, was Sie mein en.« Sie kniff die Au gen zusammen und musterte mich von oben bis un ten mit einem sezierenden Blick , der mir eine Gänsehaut verursachte. »Ja, Sie sind weniger vergnü gt als beim letzten Mal.« Da konnte ich ih r kau m wid ersp rechen . »Ja«, an two rtete ich. Meine Ar me d rohten ein Eigenleben zu führen, deshalb versch ränkte ich sie vor der Brust. »Tu t mir leid.« »Es b rau cht Ihnen nicht leidzutun «, sagte Percy, hob d ie Zigarette und das Kinn . »So gefallen Sie mir besser.« Natürlich. Und glücklicherweise kam sie, bevor ich mit der Un mö g lichkeit kon frontiert war, eine Antwort zu formulieren, auf mein e Frag e zu rü ck. »Ich habe in erster Linie nach Ihn en gefragt, weil meine Sch wester keinen fremd en Mann in diesem Haus erträgt.«
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»Aber Mr. Gilbert hatte sein e Gesp räche doch schon ge füh rt. Es gab k einen Grund mehr fü r ih n, noch ein mal nach Milderhurst zu komme n, wenn Juniper d as nich t wo llte.« Das listig e Läch eln ersch ien wieder au f ih ren Lipp en. »Sie sind seh r sch arfsinnig. Seh r gut. Das hatte ich gehofft. Nach unserer ersten Begegnung war ich mir n icht gan z sicher, und ich hatte keine Lust, mich mit einer dummen Gans heru mzuschlagen.« Ich war hin- und hergerissen zwischen »danke« und »Sie könn en mich mal«, entschied mich d ann aber do ch fü r ein kühles Lächeln. »Wir kennen nicht sehr viele Leute«, fuh r sie fo rt und stieß eine Qualmwolke au s, »nicht mehr. Und als Sie dann zu Be such kamen und die Bird mir erzählte, Sie arbeiteten in einem Verlag, nun, da hab e ich angefangen , mir Gedan ken zu ma chen. Dann sagten sie, Sie hätten keine Gesch wister.« Ich nickte und versuchte, ihrer Logik zu folgen. »Das hat den Au sschlag fü r meine Entsch eidun g g egeben .« Sie zog an ih rer Zig arette und suchte dann umständlich einen Asch enbecher. »Ich wu sste, Si e würden nicht voreingenommen sein .« Ich k am mir von Minute zu Minute weniger scharfsinnig vo r. »Vo reing eno mmen in welcher Hin sicht? « »In Bezug au f un s.« »Miss Blythe, ich v erstehe leider nicht, was das alles mit dem Vorwort zu tun hat, das ich schreiben so ll, mit dem Buch Ih res Vaters u nd Ih ren Erinnerungen an die Veröffent lichun g des Ro man s.« Sie wedelte ungeduldig mit der Han d, sod ass d ie Asch e au f den Boden fiel. »Nichts. Gar nichts. Es hat überhaupt nichts mit alld em zu tun. Es hat mit dem zu tun, was ich Ihnen erzählen werde.« Spürte ich es in diesem Mo men t? Das unh eimliche Kribb eln unter der Haut? Vielleich t war es auch nu r d er küh le, herbstliche Wind stoß, der in dem Mo men t unter der Tü r hin du rch fegte und so lange am Sc hloss rü ttelte, bis d er Schlü ssel zu Boden fiel. Percy ignorierte das Geräusch, und ich versu chte es eb enfalls. »Mit dem, was Sie mir erzäh len werden? «
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»Etwas, das geradeg erückt werden mu ss, b evo r es zu spät ist.« »Zu sp ät wo fü r? « »Ich werde bald sterben .« Sie sah mich mit d er gewohnten kalten Freimü tigkeit an . »Das tut mir leid ...« »Ich b in alt. So etwas ko mmt v or. Bitte kommen Sie mir nicht mit unangebrachtem Mitgefüh l.« Ih r Gesichtsau sdruck veränderte sich, wie Wolken, die üb er den winterlichen Himmel jagen und sich vo r den letzten Rest des schwachen Sonnenlichts sch ieb en. Sie wirk te plötzlich gealtert und müd e. Und ich begriff, dass das, was sie gesagt hatte, der Wah rh eit en tsp rach ; sie wü rde bald sterb en. »Ich war nicht eh rlich, als ich diese Verlegerin ang eru fen und nach Ihnen gefragt habe. Ich bed au re die Unanneh mlichkeit, die ich Ih rem Ko lleg en bereitet habe. Ich bezweifle in keiner Weise, dass er seine Aufg abe hervorragend gelö st hätte. Er war ab so lut professionell. Und dennoch b lieb mir n ichts anderes üb rig. Ich wollte, dass Sie herkommen , und ich wu sste n icht, wie ich das sonst hätte bewerkstellig en sollen.« »Ab er warum? « Ih re gan z Art war wie verwan delt, un d ich spürte, wie sich mir die Nackenhaare aufstellten. »Ich habe eine Geschichte. Ich bin die Einzige, d ie sie kennt. Ich werd e si e Ihn en erzäh len .« »Warum? « Meine Stimme war belegt und tonlos, ich räusperte mich und wiederholte die Frag e: »Warum? « »Weil sie erzählt werden mu ss. Weil mir viel an genauer Berichterstattung liegt. Weil ich sie nicht länger mit mir h eru mtrag en kann.« Bildete ich mir nu r ein, dass sie in diese m Moment Goyas Ungeheuer im Blick hatte? »Ab er warum wo llen Sie sie unbedingt mir erzählen? « Sie blinzelte. »Weil Sie die sind , die Sie sind , natü rlich. Und wegen Ihrer Mutter.« Aus der Andeutung eines Lächelns schloss ich, dass sie ihren Spaß an der Unterh altung hatte, an d er Macht vielleicht, d ie sie über mich Ahnu ng slo se au sübte. »Es war Juniper, d ie darauf gekommen ist. Sie hat Sie Meredith gen annt. Da ist bei mir der Groschen gefallen. Und in dem Moment wusste ich, dass Sie die Richtige sind.« Das Blut wich aus meinem Gesicht, und ich füh lte mich wie ein Kind, das dabei erwischt wird, wie es den Lehrer belügt.
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»Tut mir leid , d ass ich es nicht eher gesagt habe, ich dach te einfach ...« »Ih re Gründe in teressieren mich nicht. Wir alle hab en un sere Geheimnisse.« Ich behielt den Rest meiner Rechtfertigung für mich. »Sie sind Merediths Toch ter«, fuh r sie fo rt, u nd ih r Ton wu rd e d rängender, »was b edeu tet, dass Sie zu r Familie gehö ren . Un d es geht u m eine Familiengeschichte.« Das war das Letzte, womit ich gerechnet hatte, und es hau te mich um. Ich freute mich fü r meine Mu tter, die diesen Ort so sehr geliebt und so lange Zeit geglaubt hatte, sie würde nicht gemocht. »Aber was soll ich tun? «, frag te ich. »Mit Ih rer Geschichte, meine ich.« »Damit tun? « »So ll ich sie au fsch reiben? « »Das denke ich nicht. Nicht au fsch reib en, nu r richtigstellen. Ich mu ss mich darauf v erlassen k önnen, dass Sie d as tun werd en ...« Sie rich tete ihren Zeigefinger au f mich, eine strenge Geste, die jedoch gemildert wu rde, als ih re Gesichtszüg e sich entspannten. »Kann ich Ihnen vertrauen, Miss Burchill? « Ich nickte, auch wenn ih r g anzes Verh alten ein e bö se Vo rahn ung in mir au fko mmen ließ in Bezug au f das, was sie v on mir verlangte. Sie wirkte erleichtert - ein ku rzer Mo men t, in d em sie au s der Deckung k am; aber im nächsten Augenblick hatte sie sich schon wieder versch anzt. »Also denn «, sagte sie k ühl und wandte ihren Blick zu m Tu rmfenster, aus dem ihr Vater sich in den Tod gestürzt hatte. »Ich ho ffe, Sie halten es ohn e Mittagessen au s. Ich hab e k ein e Zeit zu v erlieren.«
Die Geschichte von Percy Blythe Percy Blythe beg ann mit ein er Klarstellung. »Ich bin keine Geschich tenerzäh lerin«, sagte sie, wäh ren d sie ein Streich ho lz anriss, »so wie die anderen. Ich hab e nu r eine einzige Geschichte zu erzählen. Hö ren Sie au fmerk sam zu . Ich werd e 488
sie kein zweites Mal erzählen.« Sie zündete sich eine Zigarette an und machte es sich in ih rem Sessel bequem. »Ich hatte Ihn en gesagt, d ass es n ich ts mit dem Modermann zu tun hat, aber das stimmt nicht ganz. Auf die eine oder andere Weise beginn t un d en det diese Gesch ichte mit dem Buch.« Der Wind fuhr in den Kamin und sp ielte in den Flammen , ich klappte mein Notizbuch auf. Sie hatte zwar gesagt, es sei nicht notwendig mitzusch reiben, aber ich war inzwisch en reichlich nerv ös un d es beru higte mich einigermaßen , mich hinter den fein linierten Seiten verstecken zu können. »Mein Vater hat uns einmal gesagt, die Kunst sei die einzige Fo rm der Unsterblichkeit. So lche Din ge sagte er öfter; wahrscheinlich hatte er es von seiner Mutter gehö rt. Sie war eine b egab te Lyrik erin und ein e au sg esp rochene Sch önheit, aber keine warmherzig e Frau. Sie ko nnte g rau sam sein. Nicht ab sich tlich, ih r Talen t mach te sie g rau sam. Sie hat mein em Vater alle mö glich en Flöhe in s Oh r gesetzt.« Percys Mundwinkel zuckten, und sie schwieg einen Mo men t, währen d sie ih r Haar im Nacken glättete. »Jed enfalls h at er sich geirrt. Es gib t ein e andere Art der Un sterb lich keit, die allerdings erheblich weniger angestrebt oder gefeiert wird .« Ich beugte mich ein wen ig vo r und wartete au f die Erklärung, aber den Gefallen tat sie mir nicht. Ich würde mich an diesem stürmischen Nach mittag noch an ihre plötzlichen Themen wech sel gewöhnen, an die Art, wie sie eine bestimmte Szene ins Licht rückte und zum Leb en erweckte, nu r u m sich im n äch sten Mo ment etwas anderem zuzuwenden. »Ich bin davon überzeug t, d ass meine Eltern früh er einmal glücklich gewesen sind«, sag te sie, »b evor wir geboren wurden, aber es g ibt zwei Sorten Menschen auf dieser Welt. Die, die sich über Kind er freuen, und die, die d as nicht tun. Mein Vater gehörte zu der ersten Katego rie. Ich glaube, er war selbst üb errascht v o m Maß sein er Zun eigung , als Saffy u nd ich au f die Welt kamen .« Als sie ih ren Blick wieder zu de m Goya wandern ließ, begann eine Sehne an ihrem Hals zu zucken. »Er war ein anderer Mensch , als wir ju ng waren , vo r dem Ersten Weltk rieg, b evo r er das Buch schrieb. Für seine Zeit und seine gesellschaftliche Stellung war er ein u ngewöh nlicher Mann . Er hat uns vergöttert - es war nicht ein-
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fach nu r Zun eigun g, er lebte in uns und wir in ihm. Wir wurden verwöhnt. Wir wu rden überh äu ft, nicht mit materiellen Werten , an den en wir ohn ehin keinen Man gel litten, son dern mit seiner Aufmerk samk eit und seinem Glauben an un s. Er dachte, wir könnten n ichts falsch mach en , und war d ementsprechend nachsichtig. Wahrschein lich ist es nie gut für Kin der, wenn sie so vergöttert werd en ... Mö chten Sie ein Glas Wasser, Miss Bu rchill? « Ich blinzelte verwirrt. »Nein. Danke.« »Aber ich, wenn Sie gestatten. Meine Kehle ...« Sie legte die Zigarette im Aschen bech er ab , nah m einen Krug von einem n ied rigen Reg al und fü llte ein Kristallglas. Sie schlu ck te geräuschvo ll, u nd mir fiel auf, dass trotz ih res klaren , monotonen Tonfalls und ih res du rchd ring enden Blicks ih re Finger zitterten. »Haben Ih re Eltern Sie auch verwö hnt, als Sie klein waren, Miss Bu rchill?« »Nein«, sagte ich. »Ich glaube nicht.« »Den Eind ruck hab e ich auch nich t. Sie ver mitteln nich t diese An spruchshaltung eines Kindes, das immer i m Mittelpun kt gestand en hat.« Sie schau te wieder nach d rauß en, wo immer meh r Wolken aufzogen . »Mein Vater hat un s beid e in die alte Kinderkarre gesetzt, in der er selb st schon als Kin d gesessen hatte, und hat lan ge Spaziergäng e ins Dorf mit un s unternommen. Als wir älter wu rden , ließ er un seren Koch einen üppigen Picknickko rb zu samme n stellen, und wir d rei erkundeten gemeinsam den Wald, spazierten über Felder, und dabei erzählte er uns Geschichten und sprach mit großem Ernst von wun dersamen Dingen . Dass das hier un ser Zuhause sei, dass die Stimmen unserer Vorfahren immer zu uns sprechen würden, dass wir nie allein sein wü rden , solan ge wir in der Näh e un seres Schlo sses blieben .« Ein sch waches Läch eln deutete sich au f ih ren Lippen an. »In Oxford war er einer der Besten in alten Sprachen gewe sen, und er hatte eine besondere Vo rliebe für das Angelsächsische. Er machte Übersetzu ngen , einfach so zum Verg nügen , und schon von früh an du rften wir ihm dabei helfen. Meistens hier oben im Turm, aber manchmal auch unten im Garten. Eines Nachmittags lagen wir zu d ritt au f einer Picknickdecke, schauten hoch zum Sch lo ss au f d em Hü gel, und er las uns aus Der Wanderer vo r.
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Es war ein perfekter Tag. Solche Tage waren selten , und es lohnt sich, sie im Gedächtn is zu bewah ren .« Sie sch wieg eine Zeit lang , u nd ich bemerk te, dass sich ihr Gesicht umso meh r entspan nte, je tiefer sie in die Verg angenheit eintauch te. Als sie sch ließ lich fo rtfu h r, war ih re Stimme b elegt. »Die Ang elsachsen hatten ein en Ha ng zu Melancholie un d Seh n such t, und natü rlich zu Heldeng esch ichten. Kin der sind wohl sehr empfänglich für all diese Dinge. >Seled reorig<.« Das Wort klang wie eine Besch wö rung sfo rmel in dem ru nd en Raum. »Trauer über das Feh len eines Hau ses«, sagte sie. »In der englischen Sprache haben wir so ein Wo rt nich t ... eigentlich mü sste es d as geben, finden Sie nicht auch? Aber ich schweife ab.« Sie richtete sich in ih rem Sessel au f, g riff nach der Zigarette, die jed och schon zu Asche gewo rd en war. »So ist das mit der Vergangenheit«, sag te sie, während sie sich eine neue Zigarette au s dem Päck chen fischte. »Imme r bereit, einen au f Ab wege zu lock en.« Sie zündete d as Streichho lz an, in halierte ungeduld ig und blinzelte durch den Rauch. »Ab jetzt werd e ich ein bisschen meh r au f der Hut sein .« In dem Mo ment erlo sch die Flamme, wie um diese Absicht zu unterstreich en. »Meine Mutter hat sich seh r schwerg etan, Mu tter zu werd en, und als sie endlich Erfolg hatte, bekam sie solche Depressionen, dass sie üb er lange Zeit kaum noch aus de m Bett au fstand . Als sie sich schließ lich erholt h atte, mu sste sie feststellen, dass ihre Familie nicht auf sie gewartet hatte. Ih re Kinder versteckten sich hinter den Beinen ihres Vaters, wenn sie sie in d en Arm nehmen wollte, und sie weinten und wid ersetzten sich, wenn sie ih nen zu nah e kam. Wir g ewöhn ten un s an , Wö rter aus anderen Sprachen zu benutzen, die un ser Vater un s beig eb racht hatte, damit sie uns nicht verstehen konnte. Er lachte nu r darüb er u nd spo rnte uns an, weil unsere Altklugheit ihn amü sierte. Wie grau sam mü ssen wir gewesen sein . Wir k annten sie kaum, wissen Sie. Wir weigerten uns, bei ihr zu blei b en, wir wollten nu r mit un serem Vater zusammen sein, und er wollte nu r un s u m sich haben, und so wu rde sie ein sam.« Einsam. Ich hatte das Gefühl, dass no ch nie ein Wort für mich einen so unheilvollen Klang geh abt hatte wie dieses
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aus dem Munde von Percy Blythe. Ich mu sste an die Dagu erreotypien von Muriel Blythe denken, die ich im Fa milienarchiv gesehen h atte. Es war mir so nderbar v o rgek o mmen , dass sie an einem solch dunklen, vergessenen Ort hingen; ab er jetzt bekam es etwas geradezu Bed rohliches. »Was ist passiert? « Sie warf mir einen scharfen Blick zu. »Alles zu seiner Zeit.« Ein Donnerschlag zerriss die Stille, un d Percy schau te zu m Fenster. »Ein Gewitter«, sagte sie angewidert. »Genau das, was wir brauchen.« »So ll ich das Fen ster sch ließen? « »Nein, noch n icht. Die Lu ft tut mir gu t.« Stirn runzeln d blick te sie zu Boden , während sie an der Zigarette zog; sie sammelte ih re Ged anken, dann sah sie mich wieder an . »Meine Mutter nahm s ich einen Liebhab er. Wer konnte es ih r verübeln? Mein Vater hatte die beiden zu sammengebracht natü rlich ohn e sich etwas d abei zu denk en . So eine Geschichte war das nicht - er bemühte sich um Wiedergutmach ung. Wah rsch einlich war ih m bewusst, dass er sie lange Zeit vernachlässigt hatte, jedenfalls ließ er u mfang reiche Verb esserung en am S ch lo ss und an den Gärten vo rn ehmen . Die Parterrefenster wu rd en mit Fen sterläden versehen, als Erinnerung an die, die sie au f dem Ko n tinent so b ewund ert hatte, und es wurden Arbeiten am Schlossgraben ausgeführt. Diese Arbeiten zogen sich ausgesp rochen lange h in, und Saffy und ich sah en h äu fig vom Dachbodenfenster aus zu. Der Name des Architekten war Syk es.« »Oliver Sykes.« Sie war überrascht. »Sehr gut, Miss Burchill. Ich wusste ja, dass Sie k lug sind, aber ich hätte nicht g edacht, dass Sie sich so g ut mit Arch itektur auskennen.« Ich schü ttelte den Kopf und erzählte ihr, dass ich Raymond Blythe in Milderhurst gelesen h atte. Ich erwähn te allerdin gs nicht, dass ich über Raymond Blythes Hinterlassenschaft an das Pemb roke-Farm-Institut in formiert war. Was nur bedeuten k onnte, dass er n ichts von der Affäre ge wu sst hatte. »Mein Vater war nicht im Bilde«, sagte sie, als hätte sie mein e Gedan ken g elesen . »Aber wir. Kinder spü ren solche
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Din ge. Ab er wir sind nie au f die Idee geko mmen , ih m d av on zu erzählen. Wir leb ten in de r Überzeug ung, dass wir seine Welt waren un d er sich für die Aktivitäten un serer Mutter genauso wenig interessierte wie wir.« Sie veränderte ih re Sitzposition ein wenig, sodass ihre Blu se leicht verrutsch te. »Ich bereue nichts, Miss Bu rchill, ab er wir sind alle veran twortlich für un ser Hand eln, und ich habe mich seitd em immer wieder gefragt, ob dies der Moment war, an dem sich das Sch ick sal d er Familie Blythe en tschied, und ob alles an ders au sgegan gen wäre, wenn Saffy und ich ih m nur erzäh lt hätten, dass wir un sere Mu tter mit d em Mann zu samme n gesehen hatten.« »Warum? « Es war dumm v on mir, ih ren Gedanken fluss zu unterbrechen, aber ich konnte nicht anders. »Warum wäre es besser gewesen, wenn Sie ih m davon erzählt hätten?« Ich hätte inzwisch en wissen mü ssen, d ass Percy Blyth e Unterb rechung en nicht duld ete. Sie stand au f, stützte die Hände au f den Rück en und streck te sich. Dan n zog sie ein letztes Mal an ihrer Zigarette, d rü ckte sie im Aschenbecher aus und trat steif ans Fenster. Von meinem Platz au s sah ich den wolkenverhangenen Himmel, aber sie betrachtete mit verengten Augen den glitzernden Streifen Sonnenlich t am Horizont. »Dieser Brief, den Sie gefunden haben«, sagte sie, während der Do nner näh er kam, »ich wusste nicht, dass mein Vater ihn au fb ewah rt hatte, aber ich bin froh, dass er es getan h at. Es h at mich v iel geko stet, ihn zu schreiben ... er war so versessen au f das Manuskript, auf die Geschich te. Als er aus dem Krieg zurückkehrte, war er nur noch ein Schatten seiner selbst. Abgemagert bis au f die Knochen, die Augen glasig . Wir wurden die meiste Zeit v on ihm fernge halten - wir wü rd en ihn stö ren , meinten die Krankensch western -, aber wir haben uns trotzdem zu ihm geschlichen, du rch die Adern im Schloss. Er saß am Fenster, schaute mit leerem Blick nach draußen und sprach von einer g roßen Leere in seinem Innern. Er mein te, sein Geist verlange d anach, schöpferisch tätig zu werd en, aber sobald er einen Stift in die Hand nehme, ko mme ihm nichts in den Sinn. >Ich bin leer<, sagte er immer wieder, und es stimmte . Sie können sich vo rstellen , wie seh r
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es ihn aufgebaut hat, sich au f die Notizen zu stü rzen, au s denen dann der Modermann entstand.« Ich nick te und mu sste an die Kladden im Familienarchiv denken , an die veränd erte Handsch rift, voller Selb stvertrau en und Entsch lo ssenheit von der ersten bis zur letzten Zeile. Als ein Blitz den Himmel zerriss, zuck te Percy Blythe zu sammen. Sie wartete, bis der darauf folgende Donner verklungen war. »Die Worte in di esem Bu ch waren sein e, Miss Burchill, es war d ie Idee, die er gestohlen hat.« Von wem, hätte ich am lieb sten geschrien, aber diesmal biss ich mir auf die Zunge. »Es hat mich geschmerzt, diesen Brief zu schreiben, seinen Enthusiasmus zu dämpfen, wo dieses Projekt ihn d och so au fg erichtet hatte, aber ich musste es tun.« Ganz plötzlich begann es, in Strö men zu regnen. »Kurz nachdem unser Vater aus dem Krieg zurückgekehrt war, bin ich an Scharlach erk rankt und wu rde zur Genesung fo rtgesch ick t. Zwilling e, Miss Blythe, verkraften Einsamkeit nicht gut.« »Es muss schrecklich gewesen sein ...« »Saffy«, fuhr sie fo rt, als hätte sie meine Anwesenheit vergessen, »war schon immer die Fantasievo lle von un s b eiden. Wir erg änzten u nd vervollständ igten un s, Illu sion und Realität wu rden so in Schach geh alten. Aber du rch die Trennun g verstärkten sich unse re jeweiligen gegensätzlichen Neigungen.« Sie ersch auderte und trat vom Fen ster weg; Reg entro pfen prasselten au f die Fensterbank. »Meine Zwillingsschwester litt unter Albträumen. Das kommt häufig vor bei Menschen mit einer lebh aften Fantasie.« Sie sah mich an. »Doch im Gru nde waren es nich t Albträume, d enn es war nu r ein ein ziger Albtraum, immer wieder derselbe.« Das Gewitter h atte das letzte Tageslicht v erschluckt, sodass es im Tu rmzi mmer immer dunkler wurde. Nur das rötliche Flackern des Kaminfeuers spendete ein unstetes Licht. Percy trat an d en Sch reibtisch und knipste die Lampe an. Der grünliche Schein ließ d unkle Schatten unter ihren Augen entstehen. »Sie träu mte ihn, seit sie vier Jah re alt war. Sie wach te nachts schreiend und sch weißg ebad et au f und glaubte, ein mit Schlamm bedeckter Mann würde au s dem Grab en klettern, u m sie zu holen.« Sie neig te d en Kop f ein wenig , und
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ih r Gesicht en tspannte sich. »Ich habe sie jedes Mal beruhigt und ih r erklärt, d ass es nu r ei n Trau m sei, dass ih r nicht s passieren würde, solange ich da war.« Sie atmete schwer aus. »Und sie ließ sich au ch stets von mir b eruh igen . Zumin dest bis zum Juli 1917.« »Das war die Zeit, wo Sie an Scharlach erk rank ten und fo rtgeschickt wu rd en.« Ein Nicken, so un merklich, dass ich es mir vielleicht nu r einbildete. »Von da an hat sie stattdessen Ih rem Vater von dem Trau m erzählt.« »Er hatte sich vo r den Krankenschwestern versteckt, so war er zu ihr gelangt. Sie mu ss ziemlich durcheinander gewesen sein - Zurückhaltung war noch nie Saffys Sach e -, un d er hat sie gefragt, was passiert sei.« »Un d dann hat er es aufgeschrieben.« »Ihr Dämon war sein Erlö ser. Zu Anfang jedenfalls. Die Geschichte beflügelte ihn : Er hat Saffy ausgefragt und wollte Einzelh eiten wissen. Seine Aufmerksamkeit hat ihr sicherlich geschmeichelt, und als ich aus dem Krankenhaus kam, war alles and ers. Mein Vater strahlte, er hatte sich erholt, er war wie b erau scht, und er und Saffy h atten ein gemeinsames Geheimn is. Keiner von beid en hat mir g egen über den Mo dermann erwähnt. Erst als ich die Druckfahnen au f sein em Schreibtisch sah, dämmerte mir, was geschehen war.« Der Regen wurde immer heftig er, und ich mu sste das Fenster sch ließen , u m Percy besser hören zu k önnen . »Und da haben Sie den Brief gesch rieben .« »Ich wusste natürlich, dass es für Saffy schrecklich wäre, wenn er so etwas veröffentlichte. Aber er ließ nicht davon ab, und dann musste er den Re st seines Lebens mit den Konsequ enzen leben .« Ih r Blick wand erte wieder zu m G o ya. »Mit d er Sch uld , die er sich au fgelad en hatte, mit sein er Sünd e.« »Weil er Saffys Albtraum gestohlen hatte«, sag te ich. Sün de fand ich ein bisschen üb ertrieben , aber ich konn te mir gut vo rstellen, welche Au swirk ung so etwas au f ein Kind hab en mu sste, zumal au f ein Mädch en, das ein en starken Hang zu m
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Fantastischen hatte. »Er hat ihn ans Tageslicht geho lt und zu m Leben erweckt. Er hat ihn Wirklichk eit werd en lassen .« Percy lachte, ein gequältes, metallisches Geräusch, das mich erschaudern ließ. »Ach, Miss Bu rchill. Er war nicht nur für das Buch verantwo rtlich. Er war auch fü r den Albtrau m verantwo rtlich. Nu r wusste er d as damals n icht.« Ein du mp fes Donn erg rollen erschütterte den Turm, und das Licht der Lampe wurde sch wäch er. Do ch Percy Blyth e sch ien davon n ichts zu r Kenntnis zu nehmen. Sie wollte ihre Geschichte zu Ende erzählen. Ich beugte mich vor, begierig zu erfahren , was Raymond Blythe ihrer Meinung nach getan hatte, um verantwortli ch fü r Saffys Albtraum zu sein. Sie zü ndete sich die näch ste Zigarette an. Ih re Aug en leuchteten, und vielleicht spürte sie ja mein e u ngedu ldige Neug ier, denn sie schweifte erneut ab. »Meine Mu tter hat ih re Affäre fast ein Jah r geheim gehalten .« Ich ließ enttäu sch t mein Notizbu ch sink en , was mein er Gastgeberin nicht entging. »Strap aziere ich Ih re Gedu ld, Miss Bu rchill? «, fuh r sie mich an. »Dies ist die Geschich te der Geburt des Modermann. Und sie ist ein ziemlicher Knüller, wissen Sie. Wir alle haben unseren Anteil an seiner Entstehung gehabt, selbst unsere Mu tter, au ch wenn sie schon tot war, bevo r der Trau m geträu mt oder das Buch geschrieben wurd e.« Sie klopfte sich etwas Asche von der Bluse, ehe sie mit ih rer Erzählung fortfu hr. »D ie Affäre meiner Mu tter ging weiter, und mein Vater ahn te nichts d avon . Bis er eines Abends früher von einer Reise nach Lo ndon zu rückk eh rte. Er b rachte gute Neuigk eiten mit. Eine amerikan isch e Zeitsch rift hatte einen Artikel von ih m abgedruckt, der hochgelobt wurde — er war in Feierlaun e. Es war schon spät. Saffy u nd ich , gerade erst vier Jahre alt, waren schon zu Bett geschick t wo rd en, u nd d ie Lieben den v ergnüg ten sich in der Biblio th ek. Mutters Zofe versuchte meinen Vater aufzuhalten, aber er hatte Whisky getrunken und war nicht zu bremsen . Er war üb erglü cklich und wollte mit seiner Frau auf den Erfolg ansto ßen . Er platzte in die Biblio thek , un d do rt fan d er sie.« Sie verzog den Mund bei dem Ged anken an das, was nu n folgte: »Mein Vater bek am einen To bsuchtsanfall, er stürzte sich
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mit den Fäusten au f Sykes, und nachdem Sykes zu Boden ge gangen war, schrie er meine Mutter an, beschimpfte sie auf übelste Weise, packte sie an d en Sch ultern u nd schüttelte sie so heftig, dass sie gegen den Tisch stürzte. Dabei fiel eine Lamp e zu Boden u nd zerbrach, das Petroleu m entzünd ete sich, und die Flammen erfassten den Saum ihres Kleids. Im näch sten Mo men t stand es in Flammen . Mein Vater geriet in Panik und zerrte sie zu den Vorhängen, um d as Feuer zu ersticken, aber d amit mach te er alles n u r no ch sch limmer. Die Vo rh änge fin gen eben falls Fe uer, bis das g anze Zimmer brannte. Er trug meine sterbende Mutter aus der Bibliothek — aber er dachte nicht daran, Sykes herau szuho len . Er üb erließ ihn den Flammen. Die Lieb e lässt die Menschen grausame Dinge tu n, Miss Burchill. Die Bib liothek b rannte völlig au s, aber als die Polizei ein traf, wu rd e keine Leiche gefu n den. Es war, als wä re Oliver Sykes nie da gewesen. Mein Vater vermutete, dass die Leiche bei de r g roßen Hitze meh r od er weniger zu Staub wurde. Die Zofe meiner Mutter verlo r kein Wort über die Ang eleg enheit au s Ang st, den gu ten Namen ihrer Dien stherrin zu beschmu tzen, und nieman d kam, um nach Sykes zu suchen . Es war ein großes Glück fü r meinen Vater, dass Sykes als Träu mer bekann t war, der o ft v on seinem Wunsch gesprochen hatte, au f den Kon tinent zu entfliehen und alles zurückzulassen .« Was sie mir erzählt hatte, war entsetzlich - dass das Feuer, das ih re Mutter dahingerafft hatte, au f d iese Weise zu stan de gekommen war und Oliver Sykes den Flammen überlassen word en war — aber irgendetwas erschloss sich mir nich t, denn ich verstand ni cht, was das mit dem Modermann zu tun haben sollte. »Ich selbst habe nichts dav on mitb eko mmen «, sagte sie. »Aber jemand anders. Ob en im D achzimmer war ein k lein es Mädch en au fg ewach t, ließ seine Zwilling ssch wester schlafen und kletterte au f das nied rige Bücherregal, um den merkwürd ig goldenen Himmel zu betrachten. Was es sah, waren Flammen, die aus der Bibliothek schlugen, und gan z unten einen Mann, schwarz und verkoh lt, der in Todesang st sch rie, während er versu chte, au s dem Grab en zu k lettern.«
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Sie schenk te sich erneut Wasser ein und trank mit zittern der Hand . »Erinn ern Sie sich daran, Miss Burchill, wie Sie zu m ersten Mal zu Besu ch kamen und dav on sp rach en, die Verg angenheit würde in den Mau ern singen? « »Ja.« Die Besich tigung sto ur, die schon eine Ewigk eit her zu sein schien. »Ich hatte Ihn en erzählt, d ass das Un sinn sei, das mit d en fern en Stunden. Dass di e Stein e zwar alt seien , ih re Geheimnisse ab er nicht p reisgäb en.« »Ich erinnere mich .« »Das war gelogen .« Sie hob das Kin n und betrach tete mich herau sfo rdernd . »Ich hö re sie. Je älter ich werde, desto lauter werden sie. Diese Geschichte zu erzählen ist mir nicht leichtgefallen, aber es mu sste sein . Wie gesagt, es gibt eine andere Art von Un sterblichk eit, eine weitaus einsamere.« Ich wartete ab. »Ein Leben, Miss Bu rch ill, ein menschliches Leben, wird von zwei Ereignissen begrenzt: Geburt und Tod. Diese Daten gehören zu einem Mensch en wie sein Name und d ie Erfah rungen, die er dazwisch en mach t. Ich erzähle Ih nen diese Geschichte nicht, weil ich au f Ab solutio n ho ffe. Ich erzähle Ihn en das alles, u m einen Tod aktenkundig zu machen. Verstehen Sie?« Ich n ickte und mu sste an Theo Cavill und sein e Nach fo rschu ngen zu m Verbleib seines Bruders denken, an seine quälende Ungewissheit. »Gu t«, sagte sie. »In diesem Pu nk t d arf kein e Un klarheit herrschen.« Ih re Erwähnun g vo n Absolution erinnerte mich an Raymond Blyth es Schu ld, denn sie war n atü rlich der Grund , waru m er zu m Katholizismu s konv ertiert wa r und ein en Großteil seines Vermögens der Kirche vermacht hatte. Und der andere Nutznießer war das Pembroke-Farm-Institut gewesen. Nicht weil Raymond Blythe die Arbeit dieser Einrichtung b ewund erte, sond ern weil er Schuld au f sich geladen hatte. Mir kam ein Gedank e. »Sie sagten eb en, dass Ihr Vater nicht wusste, dass er den Albtraum inspiriert hatte: Ist es ih m später k lar g eword en? «
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Sie lächelte. »Er erhielt einen Brief von einem norwegisch en Dokto randen , der seine Dok to rarbeit über Kö rperv erletzu ngen in der Literatu r sch rieb. Er war interessiert an de m gesch wärzten Kö rper des Moderman n s, weil er fand, dass die Besch reibung en an Darstellu ngen von Brandop fern erinn erten. Mein Vater hat dem Mann nie gean two rtet, aber da wusste er es.« »Wan n war das? « »Mitte der Dreißig erjah re. Um diese Zeit fing es an, dass ih m d er Moderman n im Schloss erschien.« Und um diese Zeit hatte er dem Buch eine zweite Widmung vo rangestellt. MB und OS. Das waren gar nicht die Initialen sein er Frauen , sondern eine Ehrung der Toten, die er auf dem Ge wissen hatte. Etwas wunderte mich: »Sie haben es nicht selbst g esehen . Woher wissen Sie dann so g enau , was sich in der Bib lioth ek abgespielt hat? Dass Oliver Sykes an jenem Ab end hier war?« »Vo n Juniper.« »Wie bitte?« »Mein Vater hat es ih r erzäh lt. Sie hatte im Alter von dreizehn selb st ein trau matisches Erlebn is. Er hat ih r immer ein geredet, wie ähnlich sie sich seien . Wah rscheinlich hat er an geno mme n , es wü rde sie trö sten zu wissen , d ass wir alle fähig wären, Dinge zu tu n, die wir sp äter bereuen. Er konnte seh r weise und zug leich seh r tö richt sein .« Sie verfiel in Sch weigen, langte nach ihrem Wasserglas, und d as gan ze Zimmer schien au szuatmen . Erleichterung darüber, dass die Wahrheit endlich enthüllt wo rd en war? War Percy Blythe erleichtert? Ich wusste es nicht. Sie war zweifello s froh , ih re Pflicht erfüllt zu haben, aber nichts deutete darauf hin, dass das Erzählen der Geschich te ih r d ie sch were Last von den Schultern gen o mmen hatte. Und ich glaubte auch zu wissen , waru m: Jed er Trost, den sie daraus hätte ziehen könn en, wu rd e üb erschattet von ihrer Trauer. Weise und töricht. Das war das erste Mal, dass ich sie schlecht von ih rem Vater hatte sprechen hö ren, un d au s d em Mu nd von Percy Blyth e, die do ch so nst so veh ement sein Vermäch tn is verteidig te, wog en die Wo rte beso nders sch wer.
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Wie auch nicht? Was Raymo nd Blythe g etan hatte, war un bestreitbar schändlich gewesen, und es verwunderte nicht, dass er, im Bewusstsein sein er Schuld , allmäh lich den Verstand verloren hatte. Mir fiel wieder jenes Foto vom älteren Raymond Blythe ein, das Foto in dem Bu ch, das ich im Do rf gekauft hatte. Die ang sterfüllten Augen, die v erkniffenen Gesichtszüge, der Eind ru ck, dass ein ungeh eu res Gewicht au f d iesem Kö rp er lastete. Einen äh nlichen Ein d ruck vermittelte seine älteste Tochter jetzt. Sie war in ih rem Sessel regelrecht geschrumpft, ihre Kleidung wirk te au f einmal zu groß fü r ihren knochigen Kö rper. Das Erzählen hatte sie erschöpft, ihre Augenlider waren schwer, und die zarte Haut war b lau geädert. Wie g rau sam, dachte ich , dass ein e Toch ter auf diese Weise fü r d ie Sünd en ih res Vaters büßen mu sste. Der Regen draußen hielt unvermindert an, doch mittlerweile herrschte völlige Dunkelheit. Das Kaminfeuer, das Percys Geschich te mit sein em Flack ern beg leitet hatte, war fast er lo schen , und die letzte Wärme wich au s dem Arbeitszimmer. Ich k lappte mein Notizh eft zu. »Wo llen wir fü r heute Schluss machen? «, fragte ich und ho ffte, nicht u nhö flich zu klingen. »Wir könnten morg en weitermachen, wenn Sie möchten.« »Fast, Miss Bu rch ill, ich bin fast fertig.« Sie schüttelte die letzte Zigarette au s dem Päck chen und klopfte das Ende au f den Sch reibtisch. Es dauerte einen Mo ment, bis sie ein Streichho lz entzünd et hatte und die Zig arette brannte. »Jetzt wissen Sie über Sykes Bescheid «, sag te sie, »aber noch n icht über den an deren.« Den an deren . Mir stockte d er Atem. »Ich sehe Ihrem Gesicht an, dass Sie wissen, von wem ich sp reche.« Ich nickte betreten. Es g ab einen g ewaltig en Do nnerschlag, und ich fröstelte. Ic h klappte mein Notizheft wied er au f. Sie inhalierte heftig und musste beim Ausatmen husten . »Jun ipers Freu nd.« »Tho mas Cav ill«, flüsterte ich. »Er ist sehr wohl an jenem Abend hier eingetroffen. A m 2 9 . Oktober 1 9 4 1 . Sch reiben Sie das auf. Er ist h ergeko m-
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men , wie er es ih r versp rochen hatte. Nur hat sie es nie erfahren.« »Warum nicht? Was war passiert?« Jetzt, so kurz davor, die Wahrheit zu erfahren , war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich sie wirklich hören wollte. »Ein fü rchterlich es Gewitter war au sg eb rochen , so ähn lich wie heute, und es war stock fin ster. Und es gab einen Un fall.« Sie sprach so leise, d ass ich mich vo rbeugen mu sste, u m sie v erstehen zu könn en. »Ich habe ih n für einen Einb rech er g ehalten .« Ih r Gesich t war asch fah l, und in seinen Falten las ich d ie jah rzehntealte Schuld. »Ich h abe das alles noch keinem Menschen vor Ihnen erzählt. Sc hon g ar nich t d er Polizei. Ich fü rchtete, dass man mi r nicht glauben würde. Dass man annehmen würde, ich wollte die Schuld für jemand anderen auf mich neh men .« Juniper. Juniper, die als Kind gewalttätig gewo rden war. Der Skan dal mit dem Sohn des Gärtn ers. »Ich habe die Sache in d ie Hand g eno mmen , ich h abe mein Bestes getan. Ab er bis heute weiß niemand davon, und es ist an der Zeit, die Ding e richtigzustellen.« Da sah ich, dass sie weinte. Tränen flo ssen ih r üb er das alte Gesicht. Ich war erschüttert. Zwei Todesfälle, die vertuscht word en waren. Ich konn te k einen klaren Ged anken fassen. Meine Gedanken verliefen ineinander wie Aquarellfarben. Ich empfand keinerlei Genugtuu ng darüb er, en dlich d ie Antworten auf meine Fragen zu bekommen. Ich war fassungslo s, und ich machte mir Sorgen um die alte Frau, die mir gegenü bersaß, die über die qu älen den Geheimn isse ih res Lebens weinte. Ich konnte ihren Sch merz nich t lindern, aber ich konnte auch nicht einfach nu r dasitzen und vo r mich hin starren. »Kommen Sie«, sagte ich, »lassen Sie u ns wieder nach un ten g ehen ...« Ich stand au f und bot ih r meinen Arm an, und diesmal nah m sie mein Ang ebot wo rtlos an . Ich stü tzte sie san ft, während wir langsam und vorsichtig die Wen deltreppe hinunterging en. Sie bestand darauf, ihre n Stock selbst zu tragen, den sie hinter sich her zo g, sodass er
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au f jede Stufe schlug und un seren Ab stieg mit einem tröstlich en Rh ythmus begleitete. Kein e von uns sagte etwas, wir waren b eide zu erschöp ft. Als wir endlich die Tü r zu m g elben Salon erreich ten , blieb Percy Blythe stehen . Mit einer letzten Anstrengung gewann sie ih re Fassung wieder und schien einige Zentimeter zu wach sen , als sie sich aufrichtete. »Kein Wort zu meinen Schwestern«, sagte sie. Ih re Stimme war n icht un freu ndlich, aber ihre wiedergewonnene Sc härfe ließ mich zusamme nzucken. »Kein Wort, haben Sie mich verstan den? « »Sie werden doch sicherlich zu m Ab endessen bleiben, Edith, nicht wahr? «, sagte Saffy fröh lich , als wir zur Tür he reinkamen . »Ich habe ein bissch en meh r gekocht, als es immer später wurd e und Sie noch hier waren.« Sie schaute Percy liebenswü rd ig an , aber man sah ihr an, dass sie sich fragte, was ihre Schwester ein en ganzen Tag lan g zu erzäh len gehabt hatte. Ich wollte ablehnen, aber sie war schon d abei, ein weiteres Gedeck aufzulegen, au ßerdem reg nete es d rauß en immer no ch in Strö men . »Natü rlich bleib t sie«, sagte Percy, ließ meinen Arm lo s und ging langsam, aber entsch lo ssen zu m Kop fende des Tischs. Sie wandte sich mir zu, als sie Platz nahm, und i m Schein des elektrischen Lichts nah m ich staunend zu r Ken n tn is, wie perfek t es ih r g elan g, sich ih ren Schwestern zuliebe zu sammen zu reißen . »Ich habe Sie schon vom Mittag essen ab gehalten, da ist ein o rd entliches Aben dessen das Mindeste, was wir Ih nen an bieten können.« Wir aßen zu viert. Es gab g eräucherten Schellfisch - er war lauwarm, hellgelb und glitschig . Bru no, der en dlich im An richtezimmer gefunden wo rd en war, wo er sich verk rochen hatte, lag die meiste Zeit zu Jun ipers Füßen, die ihn mit Fischstückchen fütterte. Zu m Dessert g ab es Toast mit Marmelade, dann tranken wir Tee, bis un s irgen d wann der Gesprächsstoff ausging. Das Gewitter hatte nicht nachgelassen, es wurde eher noch schlimmer. In un regelmäß ig en Abständ en flackerte das Licht - wah rscheinlich stand auch noch ein
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Stro mau sfall bevo r —, und jedes Mal, wenn die Lamp en sich wieder beruhigt hatten , lächelten wir erleichtert. Währenddessen stürzte das Wasser ü ber die Dachtraufen und p rasselte gegen die Fensterscheiben. »Tja«, sag te Saffy schließlich . »Ich glaube, Sie hab en keine Wah l. Wir werd en Ihnen ein Bett herrichten, und Sie b leib en heute Nacht hier. Ich werd e bei Mrs. Bird an rufen und ih r Bescheid sagen.« »Nein, n ein«, erwiderte ich schneller, als es die Hö flichkeit geboten h ätte. »Ich möchte Ihnen keine Umst ände machen.« Das war nich t gelogen - aber vor allem widerstrebte es mir, die Nacht im Sch lo ss zu verb ringen . »Unsinn«, sagte Percy und wandte den Blick vo m Fenster ab . »Draußen ist es stock fin ster. A m End e fallen Sie noch in den Bach , und bei d em Wetter ist er ein reiß ender Stro m.« Sie straffte sich. »Nein . Wir wollen nich t, dass es zu ein e m Un fall ko mmt. Wo wir in unserem Schloss do ch wahrlich Platz genug haben.« Eine Nacht im Schloss Saffy b egleitete mich zu meinem Zi mmer. Von de m Sch lo ssflügel au s, in dem d i e Sch western Blythe wohnten, legten wir einen ziemlich weiten Weg zurück, und auch wenn es durch lange und düstere Flure ging, so war ich doch froh , dass ich nicht in s Kellergescho ss gesteckt wurde. Es reichte scho n, die Nacht im S ch lo ss verbrin gen zu mü ssen; auf k einen Fall wollte ich in der Nähe des Familienarchiv s schla fen. Wir waren beide mit einer Petroleumlampe ausgerüstet, stiegen die Treppe zum ersten Stock hinau f und fo lgten einem b reiten Ko rrido r. Die sch wachen Glühbirnen schu fen trübe Lichtinseln. »Da wären wir«, sagte sie und ö ffnete die Tür. »Das Gästezimmer.« Sie - oder vielleicht auch Percy - h atte d as Bett b ezogen. Au f einem klein en Nach ttisch stapelten sich meh rere Büch er. »Es ist leider n icht seh r gemütlich«, sagte sie und sah sich mit ein em en tschuldigen den Lächeln im Zimmer u m. »Wir
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haben nu r selten Gä ste. Wir sind gar ni cht mehr daran gewöhnt. Es ist schon lang e her, dass jeman d bei un s übernach tet hat.« »Es tu t mir leid, Ihnen solche Ums tände zu machen .« Sie schüttelte den Kopf. »Unsinn, Sie machen überhaupt keine Umstän de. Ich hatte immer gern Gäste. Besu ch zu haben gehö rt fü r mich zu einem erfüllten Leben.« Sie trat an s Bett und stellte ih re Lamp e au f den Nachttisch. »Ich hab e Ihnen ein Nachthemd zu rech tgeleg t und auch ein paar Bü ch er. Ich kan n mir n icht vorstellen, den Tag ohne eine Geschichte zu beschließen, die mich in d en Schlaf begleitet.« Sie n ah m das oberste Buch in die Han d. »Jane Eyre — eins mein er Liebling sbücher.« »Mir geh t es gen au so. Ich habe es immer bei mir, allerdings ist mein e Au sgabe nicht ann ähernd so schön wie Ih re.« Sie lächelte erfreut. »Sie erinnern mich ein bisschen an mich selb st, Edith. An den Men schen, der ich h ätte werden können , wenn die Dinge and ers verlau fen wären . In London leben, mit Büchern arbeiten. Als ich jung war, habe ich davon geträumt, Go uv ernante zu werden. Zu reisen und Menschen kennenzulernen, in einem Mu seum zu arbeiten. Vielleicht meinen eigenen Mr. Rochester kennenzulernen.« Plö tzlich wirk te sie ganz schüchtern, und mir fielen die Schachteln mit dem Blumenmu ster ein, die ich im Familien archiv gefund en hatte, in sbesondere die, die besch riftet war mit »Hochzeit mit Matth ew de Cou rcy«. Junipers tragisch e Lieb esg eschichte war mir b ekan nt, ab er ich wu sste kaum etwas über Saffys und Percys Li ebesleben. Schließlich waren sie ja au ch ein mal jung u nd vermu tlich sinnlich gewesen u nd hatten beides geopfert, u m sich der Betreuung ih rer k leinen Schwester widmen zu k önnen. »Sie h aben neulich erwähnt, dass Sie ma l verlobt waren.« »Mit einem Mann namen s Ma tth ew. Wir haben un s in einander verliebt, als wir noch seh r jung waren . Sechzeh n.« Die Erinnerung entlockte ih r ein Lächeln. »Wir wollten heiraten, sobald wir einundzwanzig wären.« »Darf ich frag en, was passiert ist? «
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»Ab er natürlich.« Sie mach te sich daran, das Bettzeug ordentlich zu richten. »Es ist nicht dazu gekommen, er hat eine andere geheiratet.« »Das tut mir leid.« »Das braucht es nicht. Es ist sehr lange her. Außerdem sind beide sch on seit Jah ren tot.« Vielleicht war es ih r unan genehm, dass das Gesp räch eine selb stmitleidige Wendu ng geno mmen hatte, denn sie fuhr mit einem Scherz fort: »Wah rscheinlich war es ein Glück , dass meine Sch wester so freundlich war, mich zu so einem günstigen Preis weiter im Sch lo ss wohn en zu lassen .« »Ich kan n mir n icht vo rstellen, dass Percy irgendetwas d agegen gehabt hätte«, erwiderte ich lächelnd. »Vielleicht nicht, aber ich meinte eigentlich Juniper.« »Ich fü rchte, ich ... ? « Saffy blin zelte mich üb errascht an . »Nu n ja, das Schlo ss geh ö rt ih r, wu ssten Sie das nich t? Wir hatten ganz selb stverständlich ang eno mmen, dass Percy alles erben würde, ab er un ser Vater hat sein Testamen t in letzter Minute g eänd ert.« »Aber warum? « Ich hatte nu r laut gedacht und rechnete nicht damit, dass sie die Frage beantworten würde, aber Saffy fuhr ganz selbstverständlich fort. »Mein Vater war regelrecht besessen vo n der Überzeugung , dass kreative Frauen sich unmöglich weiter ihrer Kunst widmen können, wenn sie sich mit Ehe und Kin dern belasten. Seit Juniper ein derart vielversprechendes Talent an den Tag legte, trieb ihn die Angst u m, sie könn te heiraten und ih r Talent vergeuden. Deswegen hat er sie hier festgehalten, sie du rfte weder zu r Schule gehen no ch andere Menschen ken nenlern en, und schlie ßlich hat er sogar sein Testament geändert un d ihr d as Schloss vererbt. U m sie d avo r zu bewah ren, dass sie sich ihren Lebensunterhalt verdienen oder einen Mann heiraten mu sste, der sie ernährte. Aber das war eine g roß e Un gerechtigkeit geg enüber Percy. Es war immer selbstverständ lich gewesen, dass sie das Schlo ss erben wü rde. Sie vergöttert dieses Haus wie andere Leute einen geliebten Menschen.« Sie klop fte ab sch ließ end n och ein mal die Kissen zu recht und nahm die Lampe wieder vom Nachttisch .
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»In so fern ist es wo hl ein Glück , dass Juniper nicht geheiratet hat und nicht ausgezogen ist.« Ich verstand den Zu sammenhang nicht. »Aber wäre Juniper in diesem F all nicht froh gewesen, eine Sch wester zu haben, die d as alte Hau s so seh r liebte, dass sie hier leben wollte und sich um alles kümmerte? « Saffy läch elte. »So einfach wa r es nicht. Unser Vater konn te g rau sam sein, wenn es daru m ging, seinen Willen du rch zusetzen. Er hat eine Bedingung mit d em Testamen t verknü p ft. Sollte Jun iper heiraten, wü rd e sie ih re Rechte verlieren und das Schloss wü rd e stattdessen in den Besitz der katholischen Kirche übergehen .« »Der Kirche? « »Unser Vater litt unter sch recklichen Schuldgefühlen ...« Und nach meinem Gesp räch mit Percy wusste ich in zwischen auch, warum. »Wenn Jun iper un d Tho mas geh eiratet hätten, wäre das Hau s verlo ren gewesen.« »Ja«, antwortete sie, »das ist richtig. Die arme Percy hätte das nicht ertragen .« Sie fröstelte. »Es tu t mir leid , dass es hier so kalt ist. Daran d enkt ma n g ar nicht. Wir benutzen dieses Zimmer ja nicht mehr. In diesem Flügel des Hauses gibt es leider keine Heizung , aber u nten im Sch rank liegen noch zusätzliche Decken .« Ein g ewaltiger Blitz erhellte den Himmel, gefolgt von einem Donnerschlag. Das sch wach e elektrische Licht flack erte, dan n g ing es au s. Gleich zeitig hob en Saffy und ich un sere Petroleumlampen, wie Marionetten, die vom selben Band gezogen werden. Wir betrachteten die erlo schen e Glühbirne. »Oje«, sagte sie, »Stro mau sfall. Zu m Glück haben wir di e Lamp en mitgeno mmen .« Sie zögerte. »Glauben Sie, Sie kommen zurecht? « »Ganz bestimmt.« »Also g ut«, sagte sie lächelnd. »Dann lass ich Sie jetzt al lein.« Nachts ist alles anders. Die Dinge v eränd ern sich , wen n die Welt sch warz ist. Un gewissh eiten un d Verletzu ngen , Sorgen und Ängste bekommen nachts Zähn e. Vo r allem, wenn man in einem gesp en stischen alten Schloss schläft und draußen
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ein Gewitter tobt. Erst recht, wenn man den gan zen Nachmittag der Beichte einer älteren Dame g elauscht hat. Und d eshalb hatte ich auch so schnell nicht vor, die Lampe zu löschen. Ich zog mir das Nachthemd über und setzte mich weiß und gespensterhaft aufs Bett. Lau schte dem unaufhörlichen Klopfen des Regens und dem Win d, der an den Fensterläden rüttelte, als wäre jemand d raußen, der unbedingt hereinwollte. Nein - ich scho b diesen Gedanken beiseite, konnte mir sogar ein Lächeln abringen. Natü rlich dachte ich an den Moderman n . Verständlich, da ich ja genau an dem Ort üb ernach tete, wo der Roman spielte, in einer Nach t, d ie direkt d em Buch entn ommen zu sein schien ... Ich k roch unter die Deck en un d dachte über Percy nach. Ich nahm mein Notizheft und schrieb alles au f, was mir einfiel. Percy Blythe hatte mir von den Ursp rüng en des Modermann er zählt, was an sich schon eine Sensation war. Sie hatte außerdem d as Rätsel u m Tho mas Cavills Versch wind en au fg eklärt. Eigentlich hätte ich erleich tert sein kö nnen, war aber eh er aufgewühlt. Dieses Gefühl war gan z frisch, es h atte etwas mit dem z u tun, was Saffy mir erzählt hatte. Als sie vom Testamen t ih res Vaters gesp rochen h atte, hatten sich beun ruh igend e Zusammen hän ge erg eben , klein e Lämp ch en, die aufleuchteten und mi r zuneh me nd Unbehagen bereiteten: Percys Liebe zu m Sch lo ss, ein Testamen t, das seinen Verlu st festsch rieb , so llte Juniper h eiraten, Tho mas Cav ills b edauern swerter Tod ... Aber nein . Percy hatte gesagt, es sei ein Un fall gewesen, und ich g laub te ih r. Ich glau bte ihr wirklich . Au s welchem Grund hätte sie lü gen sollen? Sie hätte die ganze Sache einfach für sich behalten k önnen . Und den noch ... Die Gedan ken fetzen k reisten in meinem Ko p f: Percys Stimme, d ann Saffys, u nd dazu meine Zweifel. Aber nicht Junipers Stimme. Ich schien immer nur über sie etwas zu hören, nie etwas von ih r. Sch ließlich klappte ich mein Notizh eft frustriert zu.
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Das reichte für einen Tag. Ich stieß einen tiefen Seufzer au s und blätterte in den Bü chern , die Saffy mir h ingelegt hatte, su chte etwas, das meine Gedanken halb wegs beruhigen konnte: Jane Eyre, Mysteries of Udolpho, Sturmhöhe. Ich verzog das Gesicht - alles gute alte Bekannte, allerdings nich t v on der So rte, die ich mir in so ein er kalten, stü rmisch en Nacht als Gefährten wünschte. Ob wo hl ich hun demüde war, weh rte ich mich gegen den Schlaf; ich konnte mich nich t üb erwin den , die Lamp e zu lö sch en u nd mich d er Dunk elh eit zu überlassen . Ab er irgen d wann wurden meine Lider immer schwerer, und nachdem ich mich noch einige Male wach gerüttelt hatte, war ich offenbar so müde, dass ich schnell einsch lafen wü rd e. Ich lö schte die Flamme und schloss die Augen, während der Rauch sich in der kalten Lu ft au flö ste. Das Letzte, wo ran ich mich erin nere, ist der Regen , d er ge gen das Fenster schlug. Irgend wann in der Nach t fuh r ich aus dem Schlaf. Ich lag reglo s da und lau schte. Fragte mich , was mi ch geweckt h aben mo ch te. Die Härchen au f me in en Armen standen senkrecht, und mich beschlich d as unheimliche Gefühl, dass ich nicht allein war, dass no ch jemand bei mir im Zi mmer war. Mit pochendem Herzen starrte ich in die Dunkelheit, vo r Ang st wie geläh mt vor dem, was ich entdecken kön nte. Ich sah nichts, aber ich wu sste es. Da war jemand. Ich hielt den Atem an und lausch te angestrengt, ab er es reg nete immer noch , und so wie d er Sturm heulte und an den Läden rü ttelte und du rch d ie Ko rrid o re fuh r, war es un mög lich, irgendetwas anderes zu hören. Da ich kein e Streichhö lzer h atte, konn te ich auch die Lamp e nicht wieder an zünd en, und so blieb mir n ichts anderes üb rig, als mich irgend wie zu beruhig en. Ich redete mir ein, d ass es nu r die Gedank en waren, die mich kurz vor dem Einsch lafen beschäftigt hatten, meine Besessenheit vom Modermann. Dass ich das Geräusch nur geträumt hatte. Dass mein e Fantasie mir einen Streich spielte. Als ich mich gerade wieder etwas beru higt hatte, erhellte ein gewaltiger Blitz d ie Nacht, und da sah ich, dass die Tür meines Zimmers einen Spaltb reit offen stand! Es war tat-
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sächlich jemand bei mir im Zimmer gewesen, war vielleicht sogar imme r noch da und wartete im Du nkeln ... »Meredith ...« Mein Herz h ämmerte, schickte Stromstöße durch meine Adern. Das war nicht der Wind und auch n icht das Gemäu er. Jemand hatte den Namen meiner Mu tter geflüstert! Panik erfasste mich. Ich schlug die Decke zurück und sprang aus dem Bett. Sch lich au f Zehensp itzen zu r Tü r. Der Griff fühlte sich kühl und glatt an. Lang sam u nd g eräu schlos zog ich d ie Tür au f, ma chte vorsichtig ein en Sch ritt in den Ko rrido r u nd spähte in d ie Dunk elheit. »Meredith ...« Um ein Haar hätte ich laut au fgeschrien . Die Stimme war hinter mir. Ich fuhr heru m, und da stand Juniper. Sie trug dieselben Sachen, die sie währen d meines ersten Besuchs in Mild erhu rst angehab t hatte, das Kleid, das Saffy - wie ich inzwischen wusste - für das Abendessen mit Thomas Cavill für sie geändert h atte. »Juniper!«, stieß ich heiser aus. »Was machen Sie hier?« »Ich hab e au f dich gewartet, Merry. Ich wu sste, dass du ko mmen wü rd est. Ich hab e es d ir mitgeb racht. Ich habe es die g anze Zeit fü r dich au fbewah rt.« Ich hatte keine Ahnung , was sie mein te, ab er sie hielt mi r im Du n keln einen Gegen stand hin. Eine Art Schachtel, nicht beso nders sch wer. »Danke«, sagte ich. Meine Au gen h atten sich an die Dun kelh eit gewö hnt, und ich sah, dass sie zögerlich lächelte. »Ach, Meredith«, sagte sie. »Ich h abe etwas Sch reckliches getan.« Genau dasselbe hatte sie am Ende meines ersten Besu chs i m Korridor zu Saffy gesagt. Es war die falsch e Frag e, ab er ich konnte sie mir nicht verk neifen: »Was den n? Was haben Sie getan? « »Tom kommt bald . Er ko mmt zum Ab endessen .« Plö tzlich emp fan d ich tiefes Mitleid mit ihr. Seit fünfzig Jahren wartete sie nun schon au f ih n, überzeug t, dass er irgendwan n ko mmen w ü rd e. »Natü rlich ko mmt er«, erwid erte ich. »Tom liebt Sie. Er will Sie heiraten .« »Tom liebt mich.«
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»Ja.« »Un d ich lieb e ihn.« »Das weiß ich.« Es berührte mich sehr, wie sie zurückkeh rte, in glü cklichere Zeiten, do ch dann sch lug sie sich entsetzt die Hände vor den Mund und sagte: »Aber da war Blut, Meredith ...« »Was? « »... so viel Blut ... au f meinen Armen und auf meinem ganzen Kleid ...« Sie sah an sich hinunter, und dan n schaute sie wieder mich an . Sie bot ein Bild des Jammers. »Blut, Blut, überall Blut. Und Tom ist nich t gekommen. Aber ich erin nere mich nicht. Ich k ann mich einfach nicht erinnern.« Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Auf einmal passte alles zu sammen, und mir wurd e klar, was sie verheimlichten. Was Thomas Cavill wirklich zugestoßen war. Wer für seinen Tod verantwo rtlich war. Junipers Phasen der Amn esie nach trau matisch en Erlebnissen , die Gewaltau sb rüche, an die sie sich n icht erinnern kon nte, der Vo rfall mit dem Gärtnerso hn, d en sie verp rüg elt hatte. Mit wachsendem En tsetzen fiel mir au ch wieder ih r Brief an meine Mutter ein, in dem sie über ihre einzige Angst geschrieben hatte: dass sie genauso enden wü rde wie ihr Vater. Und genau das war eingetreten. »Ich kan n mich nicht erinnern«, sag te sie erneut. »Ich kann mich einfach nicht erinnern.« Sie sah mich ratlo s an, und ob woh l mir vo r dem, was sie mir erzählte, g rau ste, wollte ich sie in diesem Augenblick nur noch in die Arme schließen, ih r ein bissch en von der Last nehmen, die sie seit fünfzig Jahren mit sich herumtrug. Sie flüsterte noch einmal: »Ich habe etwas Schreckliches g etan «, und ehe ich irgend etwas Beruhig endes sagen konn te, lief sie an mir vorbei zu r Tür. »Jun iper«, rief ich ih r nach. »Warten Sie!« »To m lieb t mich «, sagte sie, als hätte sie ihr Glück gerade erst erkannt. »Ich will nach ih m Ausschau halten. Er kommt bald.« Und dan n versch wand sie im d unklen Flu r. Ich warf den Gegenstand, den sie mir gegeben hatte, in Richtung Bett und lief hinter ihr her. Folgte ih r um eine Ecke in einen weiteren ku rzen Korrido r, bis sie einen kleinen Treppenabsatz erreichte, vo n dem au s ein e Treppe nach
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un ten fü h rte. Ein b eißender, feuchter Luftzug fegte von unten herauf; offenbar hatte sie eine Tü r g eö ffnet und wollte in die k alte, verregnete Nacht hinaus. Ich zögerte. Ich kon nte sie nicht einfach den Elementen üb erlassen . A m Ende lief si e noch die ganze Zufahrt hinunter bis zur Straße, in der Ho ffnung , dass Tho mas Cavill ih r en tgeg enkam. A m Fu ß der Treppe b efand sich eine Tü r, d ie durch einen kleinen Vorbau n ach drau ßen füh rte. Es regnete immer noch in Strömen, aber ich konnte erkennen, dass ein e Art Garten vo r mir lag. Viel sch ien do rt nicht zu wach sen, hier u nd da standen ein paar merk wü rdig e Statuen, das Ganze war von einer hohen Heck e eingefasst — ich hielt den Atem an. Es war der Garten, den ich bei meinem ersten Besuch vom Dachbo den aus gesehen hatte, die qu adratische Einfriedung , die Percy Blythe k ein esfalls als Garten bezeichnet wissen wollte. Und sie hatte recht. Ich hatte darüb er im Tagebuch meiner Mutter gelesen. Dies war der Haustierfried ho f, der Ort, d en Juniper b esonders liebte. Juniper war mitten im Garten stehen geblieben , eine g eb rechliche alte Dame in einem gespenstischen blassen Kleid, du rchnässt und zerzau st. Mit ein em Mal ergab es einen Sinn, was Percy über den Ein fluss von Gewittern au f Junip ers Gefüh lszu stände gesag t hatte. In jener Nach t im Jahr 1 9 4 1 hatte es ein Gewitter gegeben, genau wie jetzt ... Eigenartigerweise schien sich das Gewitter zu beruhigen , wie sie dort stand. Ich betrachtete sie wie gebannt, bis mir klar wu rde, dass ich sie ins Haus holen mu sste. Sie konn te un mö g lich da d raußen bleiben . Im selben Aug enblick hö rte ich eine Stimme und sah, wie Juniper sich nach rech ts wandte. Durch ein Tor in der Hecke ersch ien Percy Blythe in Regen mantel und Gu mmi stiefeln und rief ih rer klein en Schwester etwas zu . Sie b reitete die Arme aus, und Juniper stolperte ihr entgegen. Plötzlich kam ich mir wie ein Eind ringling vo r; eine Fremde, die eine sehr in time Situ ation beo bach tete. Ich wandte mich u m. Hin ter mir stand jemand . Es war Saffy. Sie trug d as Haar offen und hatte sich in einen Mo rg en man tel gehü llt. »Oh, Edith «, sag te sie voller
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Verlegenheit, »ich mu ss mich für die Störung entschuldigen.« »Juniper ...«, begann ich mit ein em Blick über die Sch ulter. »Es ist alles in Ordnung «, sagte sie mit einem freund lich en Lächeln. »Sie geistert manchmal herum. Kein Grund zur Sorge. Percy bringt sie in s Hau s. Sie können sich wieder ins Bett leg en.« Ich eilte die Treppe ho ch, den Flur entlang und in mein Zimmer. Ich sch loss die Tü r sorg fältig h inter mir, leh nte mich dag egen und versuch te, wieder gleichmäß ig zu atmen . Ich betätigte den Lichtsch alter in der Ho ffn ung , dass es wieder Strom gab, aber es war nich ts zu mach en . Nu r d as Klick en des Schalters und kein beruhigender Lichtschein . Ich schlich wieder in s Bett, stellte d ie rätselhafte Schachtel au f den Bod en und wickelte mich in die Decke ein. Den Kopf ins Kissen gedrückt, lauschte ich meinem Pulsschlag. I mmer wieder gingen mir Junipers Worte du rch d en Kop f, die Bemü hungen ih res ve rwirrten Geistes, sich zu erinnern , die Umar mung mit Percy auf dem Haustierfriedhof. Und dann erkannte ich, in welchem P unkt Percy Blythe mich belogen hatte. Zweifellos war Thomas Cavill in ein er Gewitternacht im Oktober 1 9 4 1 ums Leben gekommen, ab er nicht Percy hatte ihn auf dem Gewissen . Bis zum bitteren Ende nahm sie ihre kleine Sch wester in Schutz.
Der Tag danach Irgendwann mu ss ich eingeschlafen sein , denn das Nächste, woran ich mich erin nere, ist ein schwacher, diesiger Lichtschein, der du rch einen Spalt zwisch en den Fensterläden in s Zimmer fiel. Das Gewitter h atte sich gelegt und einen erschö p ften Mo rgen zu rückgelassen . Ich blieb n och ein e Weile liegen, blinzelte zu r Decke und ließ die Ereign isse d er Nacht Revue passieren. Als es endlich hell wu rde, war ich überzeugter denn je, d ass es Junip er war, die fü r den Tod v on Thomas verantwo rtlich war. Alles an dere ergab kein en Sinn. Und ich wusste au ch, dass Percy und Saffy ängstlich darauf bedach t waren, dass niemand je die Wahrheit erfu hr. 512
Als ich au s dem Bett stieg, wäre ich fast ü ber die Schachtel gestolpert, Junipers Gesch enk. Über alles andere, was vorgefallen war, hatte ich es v öllig v ergessen . Die Sch ach tel hatte dieselb e For m u nd Größ e wie die von Saffys Sammlu ng i m Familienarchiv, und als ich sie öffnete, fand ich ein Manusk ript, aber es stammte nicht von Saffy. Die Überschrift lautete: Schicksal — Eine Liebesgeschichte. Von Meredith Baker, Oktober 1941. Wir hatten alle v erschlafen, und ob wohl es scho n spät a m Vormittag war, war im gelben Salon der Frühstückstisch gedeckt. Als ich die Treppe h e runterkam, saßen alle drei Sch western b ereits an ihrem Platz; die Zwillinge plauderten an geregt, als wäre in der Nacht nichts Ungewöhnliches vorgefallen. Und vielleicht war es ja au ch so; vielleicht war ich ja nur Zeugin eines ganz alltäglichen Vo rfalls gewo rden. Saffy bot mir läch elnd eine Ta sse Tee an. Ich bedankte mich und warf einen Blick zu Juniper hin über, die mit au sd ru ck slo ser Miene in ih rem Sessel saß; an ih rem Verh alten ließ sich nichts von ihren nächtlich en Eskapaden ablesen . Percy schien mich ein bisschen au fmerksamer zu beobachten als gewöhnlich, wäh rend ich meinen Tee trank, aber das konnte au ch mit dem zu sammen häng en, was sie mir am Tag zuvo r gebeichtet hatte, ob es nun d er Wah rh eit en tsp rach oder nicht. Nachdem ich mich vo n Saffy und Juniper verabschiedet hatte, begleitete Percy mich zu r Haustü r, un d au f dem Weg do rth in unterhielten wir un s an geregt über belanglose Dinge. Auf den Stufen vor dem Haus pflanzte sie entschlo ssen ihren Gehstock au f. »In Bezug au f das, was ich Ihnen gestern erzählt h abe, Miss Bu rchill«, sagte sie, »mö chte ich no ch ein mal darauf hinweisen, dass es sich um einen Unfall gehandelt hat.« Offenbar unterzog sie mich einer Prü fung ; es war ih re Art, sich zu vergewissern, dass ich ihr die Geschichte auch ab kau fte. Herau szu find en , ob Juniper mir in der Nacht irgendetwas erzählt h atte. Jetzt wäre die Gelegenh eit gewesen zu o ffenb aren , was ich erfah ren hatte, und sie unv erblümt zu fragen , wer Tho mas
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Cavill wirklich auf dem Gewissen hatte. »Selb stverständ lich «, antwortete ich. »Ich h abe vollko mmen verstanden.« Wozu h ätte ich es ih r sagen sollen? Um meine Neugier auf Kosten des Seelenfriedens d er Sch western zu befriedigen? Ich b rachte es nicht über mich . Sie war sichtlich erleich tert. »Ich h abe sch reck lich gelitten. Ich wollte nicht, dass es dazu kommt.« »Natü rlich nich t. Ich weiß .« Ich war gerüh rt vo n ih re m sch westerlich en Pflichtgefühl, einer Liebe, die so stark war, dass sie sich sogar zu ein em V erb rech en bekann te, das sie nicht b egangen hatte. »Sie sollten sich nicht mehr damit heru mq u älen «, sagte ich so freundlich wie mö glich . »Es war nicht Ih re Sch uld .« Sie sah mich mit einem Ausdruck an , den ich bish er noch nicht an ihr erlebt hatte un d den ich nur schwer beschreiben kann. Teils Ku mmer, teils Erleicht erung, v ermisch t mit den An zeichen von etwas anderem. S ie war jedoch du rch und durch Percy Blythe, die sich nicht von Gefühlen b eherrschen ließ. Kühl gewann sie ihre Fassung wied er und nickte knap p. »Vergessen Sie Ihr Versprechen n icht, Miss Bu rchill. Ich verlasse mich au f Sie. Ich gehö re nicht zu den Men sch en, die au f den Zufall vertrauen.« Die Erde war nass, der Himmel weiß und die Lan dschaft so bleich wie ein Gesicht nach einem Wutanfall. Ich ging vo rsichtig , u m n ich t wie Treibholz hügelabwärts geschwemmt zu werden, und als ich das Bauernhaus erreichte, war Mrs. Bird bereits mit den Vo rb ereitung en fü r d as Mittagessen b esch äftig t. Im g anzen Haus duftete es nach Suppe, ein einfacher, aber herrlicher Genuss fü r jeman den, der die Nach t in einem Sp uksch loss verb racht hatte. Mrs. Bird war gerade dab ei, die Tische im Esszimmer zu decken . Die ko rp ulen te, freundliche Frau mit der Schü rze u m den Bau ch wirk te so trö stlich no rmal, dass ich ih r h ätte u m den Hals fallen könn en. Ich hätte es vielleich t sogar getan , wenn ich nicht rech tzeitig bemerkt hätte, dass wir nicht allein waren. Es war noch ein anderer Gast da, der auf merk sam di e Sch warz-Weiß -Foto s an den Wänden betrach tete.
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Eine sehr vertraute Gestalt. »Mu m? « Sie dreh te sich zu mir um und läch elte zögerlich. »Hallo , Edie.« »Du hier? « »Du hast doch gesagt, ich so ll ko mmen. Ich wollte dich überraschen.« Ich glaube, ich war noch n ie im Leben so erfreut oder erleichtert darü ber, einen an deren Men schen zu sehen . Ich umarmte sie an statt Mrs. Bird . »Ich bin so froh , d ass du h ier bist.« Vielleicht war es mein Üb erschwang, od er vielleich t hielt ich sie au ch einen Moment zu lang e, denn sie blinzelte und frag te: »Alles in Ordnung , Edie? « Ich ließ mir einen Moment Zeit mit der Antwort, während sich die Geheimnisse und bitteren Wahrheiten, die ich erfah ren h atte, in mein em Ko p f wie Sp ielkarten mischten. Sch ließlich packte ich den ganzen Stap el zusammen und läch elte meine Mu tter an. »Es g eht mir g ut, Mu m. Ich b in ein fach nu r ein bissch en müde. Letzte Nacht hatten wir ein ordentliches Gewitter.« »Mrs. Bird hat mir erzäh lt, da ss du wegen des Gewitters im Schloss übernachtet hast.« Es lag eine kleine Spur von Skepsis in ihrer Stimme. »Zum Glück bin ich nicht wie ursprüng lich geplant schon gestern Nach mittag lo sgefah ren.« »Bist d u d enn schon lange hier? « »Nein, erst seit u ngefäh r zwanzig Minuten. Ich hab e mir die Fotos angesehen.« Sie zeigte au f ein Fo to au s der Zeitsch rift Country Life au s dem Jahr 1 9 1 0 . Darauf sah man die Bauarbeiten für den runden Badeteich. »In diesem Teich habe ich schwimmen gelernt«, sagte sie. »Als ich im Schloss gewohnt habe.« Ich beugte mich vor, um d ie Erläuterung un ter d em Fo to lesen zu können. Oliver Sykes, der die Baustelle überwacht, erklärt Mr. und Mrs. Raymond Blythe den Fortgang der Arbeiten an ihrem neuen Badeteich. Da war er also, der gut ausseh ende jung e Architekt, der Modermann, der sein Leben in d em Schlossg raben, den er neu gestaltet hatte, beenden sollte. Ich bekam eine Gänse-
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haut. Und ich hö rte wieder Percy Blythes inständ ige Bitte: Vergessen Sie Ihr Versprechen nicht. Ich verlasse mich auf Sie. »Möchten die Damen g ern zu Mittag essen? «, fragte Mrs. Bird. Ich wan dte mich von Sykes' lächelndem Gesicht ab. »Was mein st du , Mu m? Du mu sst doch Hu nger h aben nach der lan gen Fah rt.« »Ein e Suppe wäre wund erbar. Kön nen wir un s vielleicht nach d raußen setzen? « Wir nahmen an einem Tisch Platz, von dem aus wir das Sch lo ss sehen konnten; Mrs. Bird hatte den Vo rsch lag gemach t, un d bevo r ich ablehnen konnte, hatte Mum tapfer erklärt, d as sei in Ord nung . Wäh rend die Gän se die Pfützen u m un s heru m nach Krümeln von unserem Tisch ab suchten, erzählte meine Mutter von ih rer Vergangenh eit. Von der Zeit, die sie in Milderh u rst v erb racht hatte, vo n ih ren Gefühlen für Juniper, ihrer Schwärmerei für ih ren Lehrer Mr. Cavill, und schließlich erzählte sie mir von ihrem Trau m, Jou rnalistin zu werden. »Und was ist dazwischengeko mmen , Mu m? «, frag te ich , während ich Bu tter auf mein Brot strich . »Warum hast du es dir anders überlegt? « »Ich habe es mir n icht an ders überlegt. Ich habe nu r ...« Sie veränderte ih re Po si tio n au f dem weiß en Eisen stuh l, den Mrs. Bird mit dem Handtuch trocken gewischt hatte. »Ich glaube, dass ich ... Am Ende konnte ich nicht ...« Sie runzel te die Stirn über ih re Un fähig keit, d ie richtigen Worte zu fin den, aber schließlich sp rach sie entschlossen weiter. »Dass ich Juniper kennengelernt habe, hat mir eine Tü r g eö ffn et, und ich wo llte unbedingt zu der Welt auf der anderen Seite g ehö ren . Aber ohn e sie konnte ich mich in dieser Welt nicht b ehaupten. Ich habe es versucht, Edie, ich hab's wirklich versucht. Ich habe davon geträumt zu studieren, aber während des Krieg s waren so viele Schulen in London gesch lossen, und zu guter Letzt habe ich mich um eine Stelle als Sch reibk raft b ewo rben. Das sollte eigentlich eine Übergangslösung sein, und ich habe immer g ehofft, irgendwan n wü rd e ich das machen können, was ich mir vorgenommen
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hatte. Ab er als der Krieg zu Ende war, war ich achtzehn und zu alt fü r die Schule. Und ohn e Ab sch lu ss an einer höheren Sch ule konnte ich nicht studieren.« »Deswegen hast du mit dem Sch reiben au fgehö rt? « »Nein, nein.« Mit ihrem Lö ffel zeich nete sie ein e Acht in ihre Suppe, immer hin und her. »Nein, ich habe nicht damit au fgehö rt. Ich war damals ziemlich h artnäckig . Ich war wild en tschlo ssen , mich von so einer Kleinigkeit nicht aufhalten zu lassen.« Sie lächelte vo r sich h in, o hne au fzub licken . »Ich sagte mir, ich würde einfach für mich selb st schreiben und irgendwann eine berüh mte Journalistin werd en.« Ich mu sste eb en falls läch eln, gerührt und beglückt üb er ih re Besch reibung der unerschrockenen jungen Meredith Baker. »Ich hab e mir ein eigenes Programm v erordn et und alle s verschlungen , was ich in d er Biblioth ek finden konnte, habe Artikel, Besprechungen , man chmal au ch Geschich ten gesch rieben und versch ickt.« »Un d ist irgend was davon veröffentlicht wo rden? « Sie rutschte verlegen auf ihrem Stuhl hin und her. »Ein paar kleine Sachen hier und dort. Ich bekam ein paar ermu tigende Briefe von Herau sg ebern der g rößeren Zeitung en. Freundlich, aber bestimmt, in denen sie mir sch rieben, ich hätte den Stil des Hauses no ch nicht richtig verinnerlicht. Dann, 1952, wu rd e mir ein Job angeb oten .« Sie sch aute zu den Gänsen hinüber, die gerade mit den Flüg eln sch lugen , und etwas an ihrer Haltung änd erte sich , sie san k ein bisschen in sich zu sammen. Sie legte ihren Löffel ab. »Der Job war bei der BBC, ein bloßes Volontariat, aber genau das, was ich wollte.« »Un d was ist passiert?« »Ich hab e mir v on meinem Ersparten passend e Kleidung und eine Ledertasche gekau ft, um p ro fession ell zu wirk en. Ich nahm mir fest vor, selbstbewusst au fzu treten, deutlich zu sp rechen , nicht die Schu ltern hängen zu lassen . Ab er dann «, sie betrachtete ihre Hand rü cken und rieb sich mit dem Daumen ü ber die Knöch el, »g ab es ein Du rcheinander mit den Bussen, und anstatt mich am BBC-Gebäude aussteig en zu lassen, hat mich der Fah rer in der Nähe vom Marble Arch ab gesetzt. Ich bin den Weg zu rückgerannt, aber als ich in die
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Regen t Street k am, sah ich all diese jung en Frau en au s de m Gebäud e kommen , wie sie lachten und scherzten, sie wirkten so klug und sie schienen sich alle zu kenn en. Die waren viel jü nger als ich und sahen au s, als wüssten sie alle Antworten au f die Fragen d es Lebens.« Sie wischte einen Krümel vo m Tisch, bevor sie mir in d ie Augen sah. »Dann hab e ich mein Spiegelbild in einem S ch au fen ster gesehen und k am mir vo r wie eine Betrügerin, Edie.« »Ach , Mu m.« »Ein e zerzau ste Betrügerin. Ich habe mich nur no ch verach tet und dafü r geschämt, dass ich mir eingebildet hatte, ich kön nte zu ihn en geh ö ren. Ich g laub e, i ch hatte mich noch n ie so ein sam gefühlt. Ich hab e kehrtg emach t und b in trän en üb erströ mt in d ie and ere Richtung geg angen. Ich mu ss einen fü rchterlichen Anblick g eboten hab en. Ich füh lte mich so elend und vo ller Selbstmitleid , dass sogar Wild fremd e mir im Vorbeigehen ein >Kop f ho ch< zu riefen , und als ich dann an einem Kino vorbeikam, bin ich reingegangen , um mich au szuheu len .« Ich musste daran denken , wie mein Vater mir erzählt hatte, dass sie in dem Film die ganze Zeit geweint hatte. »Un d d u hast dir The Holly and the Ivy angesehen .« Meine Mutter n ickte, holte irgendwo ein Papiertaschentuch hervor und wischte sich die Augen . »Da habe ich deinen Vater k ennengelernt. Und er hat mich zu Tee und Birnenkuchen eingeladen.« »Dein Liebling skuch en.« Sie lächelte mich durch die Tränen an und sch welgte in der Erinnerung. »Er hat mich die g anze Zeit gefragt, was mit mi r lo s wäre, und als ich ihm gesagt habe, der Film hätte mich zu m Weinen g eb racht, h at er mich gan z ungläubig angesehen. >Ab er es ist doch nu r ein Film<, h at er dann gesag t und ein zweites Stück Kuchen bestellt, >ist doch alles nur gespielt.<« Wir mu ssten beide lachen. Sie hatte genau wie mein Vater geklung en. »Er war so selbstsicher, Edie, so unerschütterl ich, was seine Sicht auf die Welt und seinen Platz darin anging. Er war erstaunlich. Ich hatte noch nie einen wie ihn kenneng elernt. Was nicht konk ret vor ih m stand , hat er ein fach nich t gese-
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hen, er hat sich nie im Voraus Sorg en über etwas gemacht, sond ern Prob leme d ann in Angriff genommen, wenn sie da waren. Darin habe ich mich verliebt, in se ine Zuversichtlichkeit. Er stand mit beiden Fü ßen fest au f dem Bo den , und wenn er mit mir redete, fühlte ich mich g ebo rgen . Zu m Glück hat er auch etwas in mir gesehen. Es klingt vielleicht nicht besonders au fregen d, aber wir sind seh r zu frieden miteinander. Dein Vater ist ein gu ter Mann , Edie.« »Ich weiß.« »Eh rlich, freu ndlich, zu verlässig. Das kann man g ar nicht hoch g enug einsch ätzen .« Ich ko nnte ih r nu r zu stimmen, und während wir unsere Sup pe aßen, musste ich wieder an die Ereignisse d er verg ang enen Nacht denken . Mir fiel die Sch ach tel ein, die Juniper mir gegeben hatte. »Go tt, d as hätte ich beinah e vergessen!«, sagte ich, griff nach meiner Tasche und holte sie herau s. Meine Mu tter legte ihren Lö ffel weg un d wischte sich die Fin ger an der Serviette ab , die au f ih rem Sch oß lag. »Ein Geschenk ... ? « »Es ist nicht von mir.« »Son dern? « Ich war d rau f un d d ran zu sagen: »Mach 's au f und sieh selbst«, als mir einfiel, dass ich sie schon einmal mit eine m äh nlichen »Geschenk « überfallen hatte. »Es ist von Juniper, Mum.« Sie öffnete den Mund und sog ersch ro cken die Lu ft ein. Do ch sie nah m d ie Schachtel und versuchte, sie zu öffnen. »Verflixt«, sagte sie mit einer Stimme, die mir fre md war. »Warum bin ich imme r so ung eschickt.« Als sie den Deck el sch ließlich anho b, schlug sie sich d ie Hand vo r den Mu nd. »Ach du je.« Sie nahm die brüchigen Seiten vorsichtig herau s und hielt sie in Händen, als wären sie das Wertvollste au f dieser Welt. »Jun iper h at mich fü r dich g ehalten «, sag te ich . »Sie hat es fü r dich au fbewah rt.« Meine Mutter schaute zum Schloss hinauf und schüttelte ung läub ig den Kop f. »All die Jahre ...« Sie blätterte durch die maschinengesch rieb enen Seiten, las hier u nd d ort einzelne Sätze, u nd immer wieder ersch ien ein
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Läch eln in ih rem Gesich t. Ich beob achtete sie, froh über d as o ffensichtlich e Vergnügen, das ih r ih re eigen en Zeilen bereiteten . Aber da war noch etwa s and eres. Ei ne Veränderung ging in ihr vor, fast unmerk lich, ab er bestimmt, als ih r klar wurde, dass ihre Freundin sie nicht verg essen h atte: Ih re Gesichtszüge, ih re ganze Haltung sch ien sich zu entspann en. Eine lebenslange Abwehr fiel von ih r ab, und ich erb lickte das junge Mädchen in ih r, als wäre es gerade au s ein em lan gen, tiefen Schlaf erwach t. »Und was ist au s deinem Schreiben geworden?«, fragte ich. »Wie bitte?« »Die Schriftstellerei. Hast du sie nicht weiterverfolgt? « »Ach was. Das habe ich alles aufgegeben.« Sie zog die Nase k raus und sah mich b einah e en tschuldigen d an. »Wah rsch einlich fin dest du das feige.« »Feige? Nein. Aber wen n es dir do ch so v iel Spaß gemacht hat, d ann verstehe ich nicht, waru m du damit au fgehört hast.« Die Sonne brach durch die Wolken und zeichnete gespren kelte Schatten au f die Wange mein er Mutter. Sie schob ihre Brille zu rech t, strich sich leicht ü ber das Haar und legte dann die Hän de vo rsichtig au f das Manu sk ript. »Es hatte so viel mit mein er Vergangenheit zu tu n, mit dem, was ich einmal gewesen bin«, sagte sie. »Das spielt alles irgend wie mit hinein . Mein Ku mmer, weil ich dach te, Juniper und To m hätten mich im Stich gelassen, das Gefühl, dass ich versagt hatte, weil ich nicht zu dem Bewerbung sg esp räch gegangen war ... Ich glaube, da h at es au fgehö rt, mir Spaß zu machen. Ich habe mich dann mit deinem Vater zu samme ng etan und mic h lieber auf die Zukunft konzentriert.« Sie betrach tete ern eut das Manuskrip t, hielt ein e Seite hoch un d lächelte üb er das, was sie las. »Es hat mir wirklich viel Sp aß gemacht«, sagte sie. »Sich etwas Abstraktes vo rzun eh men wie einen Ged an ken, ein Gefü hl o der einen Geruch, und das zu Papier zu b ringen . Ich hatte g anz verg essen, wie viel Freu de es mi r b ereitet hat.« »Es ist nie zu spät, wieder anzufangen.« »Edie, meine Liebe.« In ih rer Stimme lag leichtes Bedauern, während sie mich liebevoll über den Rand ihrer Bril-
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le hin weg anläch elte. »Ich bin fünfund sechzig . Ich h abe seit Jahrzehnten höchstens no ch Ei nkaufszettel geschrieben. Ich glaube, ich kan n guten Gewissens beh aupten , dass es dafü r zu spät ist.« Ich schüttelte den Kopf. Während mein es g anzen Arbeitslebens hab e ich Men schen jeden Alters kenn engelernt, die sch rieben , ein fach weil sie nicht an ders k onnten. »Es ist nie zu spät, Mu m«, sagte ich noch einmal, aber sie hörte schon gar nicht mehr zu. Ihre Au fmerk samk eit galt dem Schloss. Sie zog d ie Strickjacke enger u m sich. »Weißt du , d as ist wirklich merkwü rd ig. Ich wu sste nicht, wie ich mich fühlen wü rd e, aber jetzt, wo ich hier b in, weiß ich nicht, ob ich überhaupt dorthin g ehen kann . Ich glaub e, ich mö chte es gar nich t.« »Wirklich nicht? « »Ich habe ein Bild im Kopf. Ein sehr glückliches Bild; ich will n ich t, dass es sich ändert.« Vielleicht erwartete sie, dass ich versuchen wü rd e, sie zu üb erreden, ab er ich tat es nicht. Ich kon nte es nicht. Das Schloss war inzwischen ein trau riger Ort, vo m Verfall gekennzeichnet, genau so wie seine d rei Bewohnerinnen. »Das kann ich g ut verstehen«, sagte ich. »Es sieht alles recht mitgenommen aus.« »Du siehst auch mitgeno mmen aus, Edie.« Sie run zelte die Stirn, als hätte sie meine Erschöpfung erst jetzt bemerkt. Prompt musste ich gähn en. »Na ja, es war eine ziemlich ereignisreiche Nacht. Ich habe nicht viel geschlafen.« »Ja, Mrs. Bird hat von einem Gewitter gesp ro chen ... Ich hätte Lu st, ein bisschen im Garten spazieren zu gehen. Ich habe ja genug , wo mit ich mich beschäftigen kann .« Sie spielte mit d en Fingern am Rand des Manu sk ripts. »Du kannst dich gern ein bisschen hinleg en.« Als ich in mein Zimmer geh en wollte, stand Mrs. Bird au f dem Treppenabsatz, wedelte mit irgendetwas über dem Geländer und frag te, ob sie mich einen Mo men t sp rech en kön ne. Sie wirkte so enthusiastisch , dass mich, ob wohl ich mich einverstanden erklärte, eine gewisse Beklo mmen h eit besch lich.
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»Ich möchte Ihnen etwas zeig en «, sagte sie mit einem Blick über die Schulter. »Es ist ein kleines Geh eimnis.« Nach den verg angenen vierundzwanzig Stunden konnte mich das nich t meh r sond erlich b eeind rucken. Sie drückte mir einen g rauen Briefu mschlag in die Han d und flüsterte versch wörerisch: »Es ist einer von den Briefen.« »Welche Briefe? « In den vergangen en Mo naten hatte ich eine Menge Briefe gesehen. Sie sah mi ch an , als hätte ich verg essen, welcher Wochen tag war. Was sogar stimmte. »Die Briefe, von den en ich Ih nen erzählt habe, die Raymond Blythe meiner Mutter geschrieben hat.« »Ach so ! Die Briefe, ja, natürlich.« Sie n ick te eifrig, un d die Kucku ck suh r an der Wand h inter ih r wählte genau diesen Moment, ein Paar tanzender Mäuse auszuspucken. Wir warteten , bis sie ih ren Tan z beendet h atten, dann sagte ich: »Möchten Sie, dass ich ihn lese? « »Sie brauchen ihn nicht zu lesen«, sag te Mrs. Bird , »falls Ihn en das peinlich ist. Es ist nur so, dass mich etwas, d as Sie neulich abends gesagt h aben , nachdenk lich gestimmt hat.« »So , was den n? « »Sie sagten, Sie wo llten sich Raymond Blythes Kladden anseh en g ehen , und da dachte ich, dass Sie wah rschein lich in zwischen einen guten Blick fü r seine Hand schrift haben.« Sie holte Luft. »Ich hab e mich gefragt, bezieh ung sweise g e hofft ...« »Dass ich einen Blick darauf werfen und es Ihnen sagen kön nte.« »Genau.« »Na ja, ich denke ...« »Groß artig !« Sie faltete d ie Hände un ter dem Kinn , wäh rend ich das Blatt aus dem U msch lag zog. Ich sah sofo rt, dass ich sie würde enttäuschen müssen; der Brief war au f kein en Fall von Raymond Blythe geschrieben. Nachdem ich seine Kladden so eingehend studiert hatte, war ich sehr vertraut mit sein er sch rägen Hand schrift, den langen
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geschwungenen Unterlängen b eim G u nd beim J, dem speziellen R in seiner Untersch rift. Nein, d iesen Brief h atte jemand an ders geschrieben.
Lucy, meine Liebste, meine Einzige, habe ich Dir je erzählt, wie ich mich in Dich verliebt habe? Dass es passiert ist, als ich Dich zum ersten Mal gesehen habe? Etwas in der Art, wie Du dort standst, wie Du Deine Schultern gehalten hast, wie sich ein paar Haarsträhnen gelöst hatten und Dir in den Nacken fielen: In diesem Moment war ich Dir bereits verfallen. Ich denke an das, was Du gesagt hast, als wir das letzte Mal zusammen waren. Ich kann an nichts anderes mehr denken. Ich frage mich, ob Du vielleicht recht hast, dass es nicht nur ein Wunschtraum ist. Dass wir einfach alles hinter uns lassen und zusammen fortgehen könnten, weit fort von hier. Weiter brauchte ich nicht zu lesen. Ich überschlug die wenigen näch sten Ab sätze und b etrachtete d ie einzeln e Initiale, von der Mrs. Bird mir erzäh lt hatte. Und als ich den Buchstaben sah, fügte sich alles wie ein Pu zzle zusammen. Diese Handsch rift hatte ich sch on ein mal geseh en. Ich wusste, wer den Brief geschrieben hatte, wen Lucy Middleton so seh r gelieb t h atte. Mrs. Bird hatte recht - diese Liebe hatte allen gesellschaftlichen Ko nventionen widersprochen -, aber es war nicht die Liebe zwischen Raymond und Lucy gewesen. Die In itiale am En de dieses Briefs war kein R, sond ern ein P, geschrieben in einer altmodischen Handschrift, mit einem kleinen Bogen am unteren Ende de s Buch stabens. Das konnte man leicht mit einem R verwechseln, vo r allem, wenn man ein R lesen wo llte. »Was fü r ein wund ervo ller Brief«, sagte ich und hatte plötzlich einen Kloß im Hals, denn der Gedanke an diese beiden Frauen und an d ie lange Zeit, die sie getrennt von einander verbracht hatten, mach te mi ch weh mü tig . »Und traurig, finden Sie n icht auch? « Seu fzend verstaute sie den Brief wieder in ih rer Tasche, dann sah sie mich ho ffnun gsv oll an: »Und so wun derschön gesch rieben .«
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Nachdem i ch mich endlich von Mrs. Bird befreit hatte, indem ich mich so unv erbindlich wie mö g lich geäußert hatte, ging ich in mein Zimmer und warf mich quer aufs Bett. Ich schloss die Augen und v ersuchte, mich zu entsp annen, ab er es war zwecklo s. Meine Gedank en k reisten un au fhö rlich u m das Schloss. Ich mu sste an Percy Blyth e denken, die als jun ge Frau so inn ig geliebt hatte; die man für steif und kalt hielt; d ie ihr Leben lang ein Geheimn is gehü tet h atte, um ih re kleine Schwester zu schützen. Percy hatte mir von Oliver Sykes und Thomas Cavill erzählt, unter der Bedingung , dass ich »das Richtige« täte. Sie hatte von Gebu rts- und Todesdaten gesprochen, aber ich kon nte mir einfach nicht erklären, warum sie den Drang verspürt hatte, mir das alles zu erzählen. Was ich ihrer Meinung nach mit diesen Informationen anfangen sollte, das sie nicht selbst hätte tun kö nnen. Ich war zu erschöpft an jenem Nach mittag. Ich b rauchte Schlaf und freute mich darauf, den Abend mit meiner Mutter zu verbringen. Ich nahm mir vo r, Percy Blythe am fo lgen den Mo rgen einen letzten Besuch ab zu statten.
Und zum Schluss Aber dazu sollte ich keine Gelegenheit mehr bekommen. Nach de m Abendessen mit meiner Mutter schlief ich selig ein, schreckte jedoch kurz nach Mitternach t au s mein en Träu men . Ich blieb eine Weile liegen, frag te mich, was mich au s de m Sch laf gerissen hatte, ob ich irgen detwas geh ö rt hatte, ein nächtliches Geräusch, das wieder verklungen war, oder ob ich mich selb st wachgeträu mt hatte. Au f jeden Fall hatte ich keine Angst, so wie in der Nacht zuvo r. Diesmal hö rte ich nichts, was darau f hingedeutet h ätte, d ass jeman d im Zimmer war. Und den noch sp ürte ich ganz deutlich den Sog , den das Sch lo ss n ach wie vo r au f mich au sü bte. Ich sch lüp fte au s dem Bett, trat ans Fenster und schob die Vorhänge beiseite. Und da sah ich es. Der Sch reck fuh r mir in die Glieder, und mir wurde heiß und kalt zug leich . Wo sich eigentlich das
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düstere Schloss hätte erheben so llen, war alles hell erleuchtet: Rote Flammen loderten in den Nach thimmel. Schloss Milderhu rst brannte fast die g anze Nacht. Die Feuerwehr war bereits unterweg s, als ich do rt an rief, konn te ab er nicht meh r v iel au srichten. Das Schloss mo chte zwar au s Stein gebaut sein , aber im Innern gab es reichlich Holz, das Balk enwerk , die Vertäfelungen , die Türen , und dazu Millionen Blätter Papier. Wie Percy Blythe ein mal p roph ezeit hatte, ein Fu nken genü gte, um d as g anze Geb äude ho ch gehen zu lassen wie ein Pulv erfass. Fü r die d rei alten Damen sei jede Hilfe zu spät g eko mmen , bemerkte einer der Feu erweh rmän ner, als Mrs. Bird a m näch sten Mo rg en das Frühstück brachte. Sie hätten in eine m Zimmer i m Erdgeschoss beisammengesessen, sagte er. »Wie es scheint, sind sie vo m Feu er überrascht wo rd en, währen d sie am Kamin dösten.« »Ist das die Ursache gewesen? «, fragte Mrs. Bird. »Ein Funke aus dem Ka min? So war es auch damals, als die Mu tter der Zwillinge umgekommen ist.« Sie schüttelte den Kopf angesichts der tragischen Parallele. »Sch wer zu sagen «, an two rtete der Feu erwehrman n. »Es kann alles Mögliche gewesen sein. Ein Funke aus dem Kamin, eine Zigarette, die au f den Boden gefallen ist, ein Kurzschluss — die Kabel in diesen alten Häusern sind ja meistens noch älter als ich.« Die Polizei, oder die Feu erweh r, hatte das sch welen de Gebäude weiträu mig abg esperrt, aber da mir d ie Gartenanlagen inzwischen ziemlich vertraut waren , g elan g es mir, mich von der Rück seite h er anzupirschen . Ich musste es unbedingt aus der Nähe sehen. Ich kannte die Schwestern Blythe erst seit Ku rzem, aber ih re Gesch ich ten, ihre Welt, waren mir so vertraut geworden, dass au fzu wach en und alles in Asche verwandelt zu sehen einen schrecklichen Verlust für mich bedeutete. Es war natü rlich der Verlu st der Schwestern und ih res Sch lo sses, aber es war auch noch etwas and eres. Es war, als h ätten sie mich allein zu rü ckgelassen. Als wäre mir eine Tü r, die sich g erade erst geö ffn et hatte, vo r der Nase zug esch lagen wo rd en, plötzlich und endg ültig.
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Eine Weile stand ich da, b etrachtete die sch warze au sgeb rannte Ru ine und mu sste an meinen ersten Besu ch v o r ein igen Monaten denken und an meine freudige Erwartu ng, als ich au f dem Weg zum Schloss am runden Badeteich vo rb eigekommen war. An al les, was ich seitdem erfahren hatte. Seledreorig ... Das Wort tauchte auf wie ein Flüstern. Trau er üb er das Fehlen eines Hauses. Au f der Erde neben mir lag ein Stein aus dem Schlo ssgemäu er, und sein Anb lick mach te mich noch wehmütiger. Es war nu r no ch ein Stü ck Gestein. Die Schwestern Blythe existiert en nicht mehr, und die fernen Stunden schwiegen. »Ich k ann es n icht fassen, dass das Haus weg ist.« Als ich mich umdreh te, sah ich einen dunkelhaarigen ju n gen Man n n eben mir stehen. »Ja, un fassbar«, sag te ich. »Hu nderte von Jah ren alt, und innerhalb von ein paar Stunden zerstö rt.« »Ich h abe es heute Morgen im Radio g ehö rt und b in gleich hergeko mmen , u m es mit eigenen Au gen zu seh en. Ich hatte auch gehofft, Sie hier anzutreffen.« Wahrscheinlich habe ich ihn ziemlich verblü fft angesehen, denn er streckte mir die Hand hin und sagte: »Adam Gilbert.« Adam Gilbert? Aber das war doch ein alter Knabe in Tweed an einem antiken Schreibtisch. »Edie«, brachte ich mühsam hervo r. »Edie Bu rchill.« »Ja, ich weiß. Die Edie Bu rchill, die mir me in en Job weg geschnap pt hat.« Es war ein Scherz, und ich b rauchte eine witzige Erwiderung . Stattdessen stammelte ich: »Ab er ... d ie Kranken schwester ... Ihr Bein ... ich d achte ... ? « »Dem Bein geht's schon viel besser, wenn Sie das mein en «, sagte er und zeigte auf seine Krücke. »Würden Sie mir einen Unfall beim Freeclimbing abkaufen? « Ein schiefes Lächeln. »Nein? Also gut. Ich bin in der Bibliothek über einen Stapel Bücher gestolpert und habe mir was am Knie gebrochen. Die Gefah ren im Leben eines Schreiberling s.« Er zeigte mit de m Kin n zu m Bau ernho f. »Gehen Sie wieder zurück? « Ich warf noch einen letzten Blick au f das Schloss und nick te.
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»Darf ich Sie b egleiten? « »Natü rlich.« Wir b rauchten ziemlich lange wegen seiner Krücke und hatten viel Zeit, uns über unsere Erin nerung en an d as Schloss und die Schwestern Blythe au szutauschen, und darüb er, wie wir als Kinder den Modermann verschlungen hatten . An der Wiese, die an den Bauern ho f g renzte, blieben wir stehen . »Gott, es kommt mir f ast un verschämt v o r, das jetzt zu fragen «, sagte er, wäh rend er au f d as qu almen de Schlo ss zeig te. »Trotzdem ...« Er schien au f etwas zu lau sch en, das ich nicht hö ren kon nte. Nick te. »Ja. Ich mache es ein fach . Mrs. Button hat mir Ih re Nach richt üb ermittelt, als ich gestern Ab end n ach Hau se kam. Ist es wah r? Haben Sie etwas üb er die Ursp rünge des Modermann herausgefu nden?« Er hatte freundliche b rau ne Aug en, d ie es mir sch wer mach ten, ih m in s Gesich t zu lüg en. Ich konzentrierte mein en Blick au f seine Stirn . »Nein «, antwo rtete ich, »leider nich t. Es war falsch er Alarm.« Seu fzend hob er ein e Hand. »Na ja. Dann wird die Wahrheit wohl mit ihnen sterben. Die ganze Sach e hat bein ahe etwas Poetisch es. Die Men schen brauchen Geheimnisse, finden Sie nicht auch?« Bevo r ich ih m zu stimmen k onnte, erreg te etwas meine Au fmerksamkeit, und zwar beim Bauernhaus. »Würden Sie mich einen Augenblick entschu ldig en?«, fragte ich . »Ich mu ss d ringend etwas erledigen.« Ich weiß nich t, was Chief Inspector Rawlins dachte, als er eine übernächtigte Frau mit zerzau sten Haaren üb er d ie Wiese au f sich zuko mmen sah, erst recht nicht, als ich began n, ihm meine Geschichte zu erzählen. Man mu ss ih m zugu tehalten, dass er kein e Miene verzog, als ich ih m am Frühstückstisch nahelegte, seine Ermittlungen au szudeh nen; d ass ich aus glaubwürdiger Quelle von zwei Leichen wü sste, die beim Schloss begraben seien. Er rührte seinen Tee nur ein wenig langsamer um, als er an twortete: »Zwei Männ er, sagen Sie? Sie wissen nicht zufällig ih re Namen? « »Do ch. Der ein e hieß Oliver Sykes, der andere Tho mas Cavill. Sykes ist im Jahr 1 9 1 0 bei dem Brand umgekommen,
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dem auch Muriel Blythe zu m Opfer gefallen ist, und Tho mas Cavill starb bei einem Unfall während eines Gewitters im Oktober 1 9 4 1 . « »Verstehe.« Er schlug n ach einer Mück e n eben sein em Oh r, ohn e d en Blick von mir abzu wenden . »Sykes ist auf der westlich en Seite des Schlosses b eg raben , wo früher der Bu rg graben war ...« »Und der andere? « Ich mu sste an die Nacht des Gewitters den ken , als Juniper verzweifelt durch die Flu re u nd in den Garten hinausgeeilt war und Percy genau gewusst hatte, wo sie sie finden würde. »Tho mas Cav ill lieg t au f d em Hau stierfriedho f«, sagte ich. »Genau in der Mitte, neben ein em Grab stein mit d er Au fschrift Emerson.« Er musterte mich nachdenklich, wäh rend er an seinem T ee nippte und n och ein en halben Lö ffel Zuck er h inzu fügte. Er rührte um, und seine Augen wu rden schmal. »Wenn Sie die Akten überp rü fen «, fu h r ich fo rt, »werden Sie feststellen, d ass Tom Cavill seither als vermisst gilt und für keinen der beiden Männer eine Tod esu rkund e ausg estellt wu rd e.« Und jeder Mensch brauchte seine vollständigen Daten, gen au wie Percy Blyth e es mir erklärt hatte. Es reichte nicht, nu r d en Beginn des Lebens zu reg istrieren. Ein Men sch, h inter dessen Leben die Klammer n ich t gesch lossen wo rd en war, wü rde nie seine letzte Ruh e finden . Ich entschloss mich, das Vo rwort für die Neuau flage d es Modermann nicht zu sch reiben . Ich erklärte Judith Waterman von Pippin Books, es hab e Terminp rob leme g eg eben und ich hätte kaum Gelegenheit gehabt, vor dem Brand mit den Sch western Blythe zu sprechen. Sie sagte, sie kö nne das ver stehen un d sie sei überzeugt, dass Adam Gilbert mit Vergnügen die einmal b egonnen e Arbeit zu Ende füh ren werde. Das klang vernün ftig. Schließ lich hatte er bereits reichlich Material zusammengetragen . Ich hätte den Text unmö g lich sch reiben könn en. Ich kan nte die Lö su ng eines Rätsels, das die Fach welt seit fün fun dsiebzig Jahren beschäftigte, aber ich kon nte mein Wissen einfach nicht veröffentlichen. Es wäre mir wie ein Verrat an Percy Blythe vo rgekommen. »Dies ist eine Fami liengeschichte«,
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hatte sie gesagt, ehe sie mich gefragt hatte, ob sie mir vertrauen könne. Außerdem h ätte es bedeutet, eine traurige und schmutzige Geschichte an s Licht zu zerren, die den Ro man fü r alle Zeiten überschatten würde. Ausgerechnet das Buch, das mich zur Leserin gemacht hatte. Ab er irgendetwas anderes zu schreiben und d ie alten Gesch ichten über die rätselhaften Ursp rüng e des Bu chs no ch einmal au fzuwärmen wäre unredlich gewesen. Letztlich hatte Percy Blythe mich un ter einem falschen Vorwand zu sich bestellt. In Wirk lichk eit sollte ich gar nicht das Vorwort sch reiben , sond ern dafü r so rgen, dass einige Daten in den offiziellen Akten ko rrigiert und vervollständigt wurden. Und das hatte ich getan. Rawlin s und seine Leute hatten zwei Leichen gefund en, genau an den Stellen , die ich an gegeben hatte. Th eo Cavill erfuh r endlich, was mit seinem Bruder Tom geschehen war: dass er in einer stürmischen Nacht währen d des Kriegs au f Sch lo ss Milderhu rst ums Leben gek o mmen war. Chief In specto r Rawlin s hätte gern weitere Ein zelheiten von mir erfah ren, ab er ich erklärte ih m, meh r wisse ich nicht. Letztlich stimmt e das sogar: Mehr wu sste ich wirklich nicht. Percy h atte mir ih re Version erzäh lt, Juniper eine an dere. Ich glaubte, dass Percy die Schuld fü r ihre Schwester au f sich geno mmen h atte, aber beweisen konnte ich es nicht. Und ich würde nichts p reisgeb en, so od er so . Die Wahrheit war mit den drei Schwestern gestorben , und sollten die Grund mau ern des Schlo sses immer no ch von dem flü stern, was in jener Nacht im Oktober 1 9 4 1 geschehen war, so kon nte ich es wen igsten s nicht hö ren. Ich wo llte es auch nicht hö ren. Nich t mehr. Es wurde Zeit, mein eigenes Leb en wieder in die Hände zu neh men .
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Teil fünf 1 Schloss Milderhurst, 2 9 . Oktober 1 9 4 1
Die Gewitterwo lken , die sich am Nachmittag des 2 9 . Oktober 1 9 4 1 von d er No rd see au s ihren Weg gebahnt hatte, rollten ächzend heran, verdich teten sich und ballten sich schließlich üb er dem Turm von Schloss Mild erhu rst zu sammen. In der Abenddämmerung lösten sich die ersten Tropfen au s der dichten Wo lkendecke. Die ganze Nacht hindurch ergo ss sich der Regen in Stu rzbächen , tro mmelte au f die Dach ziegel, stürzte gurgelnd durch die Dachtraufen. Der Bach trat über die Ufer, der dun kle Teich im Card arker-Wald wurde noch finsterer, und der weiche Erdstreifen um das Schloss herum, der ein bisschen tiefer lag als das umg eb ende Land , verwandelte sich in Mo rast un d ließ d en Schlo ssg rab en erah nen, d er sich ein st hier befunden hatte. Aber die Zwillinge im Schloss bekamen davon nich ts mit; sie hörten nur, wie es nach stunden lang em, so rgenvollen Warten en dlich an der Schlosstür klop fte. Saffy war zuerst dort, leg te die Hand an den Tü rp fo sten und steckte den Messing schlüssel ins Schlo ss. Er ließ sich n u r schwer drehen, wie immer, und während sie sich damit ab mü h te, fiel ih r au f, dass ihre Hände zitterten, ih r Nag ellack ab geplatzt war und ih re Hau t alt aussah; sch ließ lich g ehorchte der Mechanismu s, d ie Tü r g ing au f, und alle trüb en Gedank en flo gen in d ie dunk le, nasse Nach t hinau s, denn vo r ihr stand Juniper. »Mein liebes Kind«, sag te Saffy, ku rz d avo r, in Tränen au szub rechen beim An blick ihrer kleinen Schwester, die endlich wieder nach Hau se zu rück gekeh rt war. »Go tt sei Dank ! Du hast uns ja so gefehlt.« »Ich habe meinen Schlü ssel verloren«, sagte Juniper. »Ver zeih mir.« 530
Trotz des langen Regenmantels und der fraulichen Frisur, die unter ih rer Mütze zu erk ennen war, wirkte Ju niper im Zwielich t vo r der Tü r wie ein schu tzlo ses Kin d, und Saffy kon nte nicht u mh in , das Gesicht ih rer Sch wester in die Hände zu neh men und ih r einen Kuss au f die Stirn zu drücken, so wie sie es getan hatte, als Junip er noch ein kleines Mäd chen gewesen war. »Du mu sst dich nicht entschu ldigen «, sagte sie. Sie warf einen Blick au f Percy, die mit düsterer Miene hinter ih r au fgetaucht war. »Wir freuen uns so, dich zu Hause zu hab en, dass du wohlbehalten angeko mmen bist . Lass dich an seh en ...« Sie trat einen Sch ritt zu rü ck, ohne Ju nipers Hände lo szu lassen , und als sie keine Wo rte fand für ihr Glück u nd ihre Erleichterung , n ah m sie ih re kleine Sch wester in d ie Arme. »Wir haben uns solche Sorgen gemacht, als es immer später wurde ...« »Der Bus. Wir wurd en angehalten, es hat irgendeinen ... Zwischenfall gegeben.« »Ein en Zwisch en fall? « Saffy löste die Umarmung. »Irgendetwas mit dem Bu s. Wahrsch einlich ein e Straßen sperre, ich weiß nicht ...« Sie been dete den Satz nicht und zuckte lächelnd die Sch ultern, aber etwas wie Verwirrung flackerte in ihrem Blick. Es ging sofo rt vorbei, aber es genügte. Die unausgesprochenen Wo rte h allten so d eutlich in der Eingang shalle wider, als hätte sie sie gesagt. Ich erinnere mich nicht. Vier ein fache Wo rte, harmlo se Wo rte, wenn sie nicht aus Junipers Mund k amen. Saffy spü rte d ie Beklemmung wie einen Klumpen Blei im Magen. Sie schaute Percy an und en tdeckte in ih ren Aug en dasselbe Unbehagen. »Ko mm erst mal herein «, sagte Percy, die ihr Läch eln wiederg efund en h atte, »wir müssen ja bei dem Wetter nicht in der Tür stehen.« »Genau !«, bek räftigte Saffy. »Du Ar mes, am Ende ho lst du dir noch eine Erkältung ... Percy, kannst du eine Wärmflasch e vo n unten h olen? « Als Percy durch den dü steren Ko rrid o r in Richtung Küch e versch wand, pack te Juniper Saffy an den Handg elenken un d sagte: »Tom? « »No ch n icht.«
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Enttäu schung machte sich au f ih rem Gesicht breit. »Aber es ist so spät. Ich habe mich doch schon v erspätet.« »Ich weiß, Lieb es.« »Ab er was kön nte ihn denn au fhalten? « »Der Krieg, Liebes, der Krieg ist an allem schu ld. Ko m m rein und setz dich an s Feuer. Ich mach dir etwas Kräftiges zu trinken . Er ko mmt b estimmt bald , du wirst scho n seh en .« Als sie das gute Zimmer betraten , betrachtete Saffy fü r einen kurzen Moment die h üb sche Szene, bevo r sie Ju niper zu dem Teppich am Ka min füh rte. Sie sch ob das g röß te Stü ck Kamin holz meh r zu r Mitte, währen d Juniper eine Schach tel Zigaretten aus ihrer Man teltasch e k ramte. Saffy zu ckte zu samme n , als das Holz Fu nken spie. Sie rich tete sich auf, stellte den Schü rhaken zu rück an seinen Platz und wischte sich die Hände ab , ob wohl es nichts abzuwisch en g ab. Jun iper riss ein St reichholz an und inhalierte hö rb ar d en Rauch . »Dein e Haare«, sagte Saffy sanft. »Ich h abe sie mir abschn eid en lassen .« Jede andere Frau hätte jetzt n ach ih ren Haaren gefasst, aber Ju niper nicht. »Also , mir gefällt es.« Sie läch elten einan der an. Juniper wirkte ein wenig verstö rt, fand Saffy. Was überhaupt k ein en Sinn ergab , denn Juniper war nie nervös. Saffy tat so , als würde sie nicht hinsehen, als ih re Schwester einen Arm u m sich schlang und weiterrauchte. London, hätte Saffy am liebsten gesagt. Du warst in London! Erzähl mir davon, zeichne es mir auf mit Worten, damit ich es mir vorstellen kann und alles kennenlerne, was du kennst. Warst du tanzen? Hast du am Serpentine-See gesessen? Hast du dich verliebt? Fragen über Fragen , die au sgesp ro chen werden wollten, aber sie sagte nichts. Stattdessen stand sie da wie eine Närrin, wäh rend das Feu er ih r Gesicht wärmte u nd die Minuten vo rübertickten. Es war ab so lut lächerlich; Percy wü rde jeden Mo men t zu rück sein, und d ie Möglichk eit, allein mit Jun iper zu red en, wäre vertan. Sie sollte sie einfach geradeheraus au ffordern: Erzähl mir von ihm, Liebes, erzähl mir von Tom, von deinen Plänen. Das war sch ließ lich Juniper, ih re innig gelieb te kleine Sch wester. Es gab nich ts, wo rüb er sie nicht hätten reden können. Und dennoch. Saffy dachte an den Tag ebuch ein trag, und ih re Wan gen
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wu rd en heiß . »Ach , wie nachlässig von mir«, sagte sie. »Komm, gib mir deinen Mantel.« Sie trat hinter ihre Schwester wie ein Dien stmädchen, zog erst an dem einen Ärmel, dann, nachdem Juniper ihre Zigarette in d ie andere Hand genommen hatte, am an deren, nah m den Mantel von den mageren Schultern und legte ihn auf den Sessel u nter dem Ge mälde von Con stable. Es war nicht gerade die beste Lösung, das Wasser au f den Bod en trop fen zu lassen, ab er sie h atte jetzt kein e Zeit, sich daru m zu kü mmern . Sie mach te sich ein b isschen an dem Man tel zu sch affen, strich den Stoff glatt, bemerkte die Handarb eit des Saums, während sie sich fragte, waru m sie so zurü ckhaltend war. Sie sch alt sich dafü r, dass ih r ganz no rmale Frag en nicht über die Lippen kamen , als wäre d ie ju nge Frau a m Kamin eine Fremd e. Das war Juniper, Herrgott n och mal, d ie en dlich n ach Hau se geko mmen war, wah rscheinlich mit einem ziemlich wichtig en Geheimn is. »Dein Brief«, gab Saffy das Stichwort, während sie den Mantelk ragen glatt strich und sich flü chtig frag te, wo ih re Sch wester so einen Man tel herh aben mo ch te. »Dein letzter Brief.« »Was ist d amit? « Juniper kauerte vo r d em Ka min , wie sie es schon als Kind getan hatte, und wandte nicht einmal den Kopf. Enttäusch t beg riff Saffy, dass ih re Sch wester es ih r n icht leich t machen würde. Sie zögerte, straffte sich, dann erinn erte sie d as en tfernte Schlagen einer Tü r daran, dass ih r nicht v iel Zeit bleib . »Bitte, Juniper«, sagte sie und trat hastig ein bisschen näher. »Erzähl mir von To m, erzähl mir alles, Lieb es.« »Von Tom? « »Na ja, ich frag e mich nur, wie es zwischen euch beiden steht ... ist es etwas — Ernsth aftes? « Sch weig en, als wo llten die Wände unbed ingt mith ö ren . Juniper atmete k euchen d au s. »Ich wo llte warten «, sag te sie. »Wir haben beschlossen zu warten, bis wir beide hier wären.« »Warten? « Saffys Herz flatterte aufgeregt wie das eines gefang enen Vog els. »Ich verstehe nich t, was du mein st.«
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»Tom und ich.« Juniper zog heftig an ihrer Zigarette, dann legte sie eine Wange in ihre Hand und fuhr fort: »Tom und ich werden heiraten . Er hat mir einen Antrag gemacht, und ich hab e Ja gesagt, und ...« Zum ersten Mal schaute sie ih re Schwester an. »Ach, Saffy, ich liebe ihn so. Ich kann nicht meh r ohne ihn leben. Und das werde ich auch nich t.« Ob wo hl Saffy k ein e andere An twort erwartet hatte, war sie doch erschüttert von der Heftigkeit, mit der Juniper sie aus sprach. Wie hastig die Wo rte aus Ju niper herau sgesp rudelt waren, und mit welcher Vehemen z! »Nu n «, sagte sie, ging zu dem Tisch mit den Getränken und rang sich ein Lächeln ab. »Wie wu nderb ar, Liebes, dann haben wir ja heute Abend einen Grund zu feiern.« »Aber du erzählst Percy n ich ts davon, n icht wah r? Erst wenn ...« »Nein. Natü rlich nicht.« Sa ffy zog den Stop fen au s der Whiskyflasch e. »Ich weiß nicht, wie sie ... Hilfst du mir? Damit sie es versteht? « »Das weiß t d u do ch.« Saffy konzentrierte sich d arau f, d en Whisky einzuschenken. Es stimmt e. Sie wü rde tun, was nö tig war, denn es gab nichts, was sie nicht für Juniper tun würde. Aber Percy würd e es nie verstehen. Das Testament ih res Vaters war eind eutig: Sollte Ju niper h eiraten , wäre das Schloss verloren . Percys Lieb e, ihr Leben , ih r g anzer Lebensinhalt... Juniper betrachtete stirnrunzelnd das Feuer im Kamin. »Sie wird mich bestimmt verstehen, meinst du nicht auch? « »Ja«, log Saffy, dann leerte sie ihr Glas. Füllte es nach. »Ich weiß , was es bedeutet, wirklich , und ich bed au re es von ganzem Herzen. Ich wün schte, Dadd y hätte nicht getan , was er getan hat. Ich wollte nichts von dem hier h aben .« Ju niper machte eine ausladend e Handb eweg ung . »Ab er mein Herz, Saffy. Mein Herz.« Saffy hielt Ju niper ein Glas hin . »Hier, Liebes, n imm das ...« Dann, als ih re Sch wester aufstand und sich zu ihr umd rehte, sch lug sie sich die Hand vo r den Mund . »Was ist? « Saffy b rachte k einen Ton heraus. »Saffy? « »Deine Bluse«, stieß Saffy herv or, »sie ist ...«
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»Sie ist neu.« Saffy nickte. Es war eine optische Täu schung , sagte sie sich, sonst nichts. Sie nahm ihre Sch wester bei der Hand un d zog sie ins Licht der Lamp e. Dann beugte sie sich vo r. Es war unverkennbar Blut. Sie er mahn te sich , nicht in Panik zu geraten, dass sie jetzt vo r allem Ru he b ewah ren mu ss ten. Sie suchte nach den passenden Wo rten, aber bevor sie sie fand , war Junip er ih rem Blick gefolgt. Sie zupfte an ihrer Bluse, runzelte einen Moment die Stirn , dann schrie sie auf. Rieb panisch mit ih ren Hän den üb er den befleckten Sto ff. Trat einen Schritt zurück, als könnte sie so dem En tsetzen entfliehen . »Schsch«, sagte Saffy und wedelte mit der Hand. »Ganz ru hig, Liebes. Keine Angst.« Sie spürte jedoch , wie ihre eigene An gst in ih r au fstieg , ih re Schattengefährtin. »Lass mal sehen. Lass Saffy einen Blick darauf werfen.« Juniper stand reglos da, während Saffy mit zitternden Fin gern die Blu se au fk nöp fte, mit den Fin gerspitzen über d ie glatte Haut ihrer Schwester fuhr - so wie sie es getan hatte, als Jun iper noch klein war -, ih re Brust, ihre Hü ften, ih ren Bauch nach Wunden absuch te. Als sie kein e fand, seufzte sie erleichtert. »Alles in Ordnu ng.« »Aber von wem ist es dann? «, fragte Jun iper. »Von wem? « Sie zitterte. »Woher stammt d as Blu t, Saffy? « »Erinnerst du dich nicht? « Juniper schüttelte den Kop f. »Überhaupt nicht? « Zähn eklappern d schüttelte Juni per ern eut den Kop f. Saffy sp rach ruh ig und sanft mit ih r, wie mit einem Kind. »Liebes, kann es sein , dass d u die Zeit verloren hast?« Juniper riss en tsetzt d ie Augen au f. »Hast du Kopfschmerzen? Deine Finger - kribbeln sie? « Juniper n ick te langsam. »Also gut.« Saffy lächelte gequält, half Jun iper au s der verschmierten Bluse und legte ih rer Sch wester einen Arm u m die Schulter; sie hätte vor Angst und Liebe und Kummer weinen k önnen, als sie den sch malen Kö rper spü rte. Sie hätten nach Lond on fah ren so llen , Percy hätte hin fah ren und
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June nach Hause holen sollen. »Es ist alles in Ordn ung «, sagte sie entschieden, »jetzt bist du zu Hause. Alles wird gut werden.« Juniper erwiderte nichts; ih r Blick war g lasig . Saffy warf einen Blick zur Tür; Percy wü rd e wissen , was zu tu n war. Percy wu sste immer, was zu tun war. »Schsch «, sagte sie, »sch sch«, aber mehr zu sich selb st als zu Juniper, die sch on nicht meh r zuhö rte. Sie setzten sich au f die Chaiselong ue und warteten . Das Feuer prasselte im Kamin, der Wind heulte um die Mauern, und d er Regen tro mmelte gegen die Fenster. Saffy hatte das Gefü hl, eine Ewigk eit wü rd e vergehen. Dann erschien Percy in der Tü r, die Wärmflasche in der Hand. Sie hatte sich beeilt. »Ich dachte, ich hätte ein en Schrei ...« Sie unterbrach sich, als sie Jun iper sah, die ihre Bluse abg elegt hatte. »Was ist los? Was ist passiert? « Saffy zeigte au f die blu tversch mi erte Blu se und sag te mit ang estren gter Fröh lichkeit: »Komm, h ilf mir, Perce. Juniper hat eine lange Reise hinter sich , und ich d achte, wir könnten ih r ein schönes heißes Bad bereiten.« Percy nickte grimmig. Sie fassten Juniper un ter und füh rten sie zur Tür. Nachdem s ie das gute Zimmer v erlassen hatten, begannen die Stein e zu flü stern . Der lose Fensterladen fiel au s sein er Angel, aber niemand bemerk te es. »Schläft sie? « »Ja.« Percy atmete erleich tert au s und betrat das Dachzimmer, u m ih re kleine Schwester zu betrachten, die auf dem Bett lag. Sie blieb neben dem Sessel stehen , in dem Saffy wachte. »Hat sie dir irgendetwas erzäh lt? « »Nicht viel. Sie erin nert sich noch daran, dass sie zuerst mit dem Zug und d ann mit dem Bus gefahren ist, dass der Bus angeh alten hat und sie sich am Straßenrand hingekauert hat. Als Nächstes weiß sie nur, dass sie au f dem Weg hierher und schon fast an der Tü r war und d ass ih r alle Glied er gek ribbelt h aben. So wie immer — hin terh er.«
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Percy wusste, was Saffy meinte. Sie streichelte mit zwei Fingern Junipers Stirn , ih re Wang e. Ih re jüng ere Schwester wirkte so klein, so hilflo s, wenn sie sch lief. »Weck sie nicht auf.« »Keine Ang st.« Percy zeigte au f das Medizin fläschch en ih res Vaters ne ben dem Bett. »Du hast dich umgezo gen«, sagte Saffy und zupfte leicht an Percys Ho senbein. »Ja.« »Du geh st nach d raußen .« Percy nick te kn app. Wen n Jun iper au s dem Bu s au sgestiegen war und den Weg n ach Hau se g efunden hatte, mu sste das, was zu der v erlo ren en Zeit gefü h rt hatte und d er Grund für das Blut auf ihrer Kleidung war, in der Nähe des Schlosses geschehen sein. Also mu sste Percy sofort nach sehen; die Taschenlampe nehmen , die Zu fahrt hinun tergeh en und nach Hin weisen such en. Sie wollte keine Sp ekulationen d arüber an stellen, was sie finden wü rde, aber es war ih re Pflicht, Spu ren zu beseitigen , wie immer sie au ssehen mo chten. Im Grunde war sie froh über diese Aufgabe. Ein klares Ziel würde ihr helfen, ihre Äng ste in Sch ach zu halten und nicht zu m Op fer ih rer Fantasie zu werden. Die Situation war schon beun ruhigend genug. Sie b etrachtete Saffys Kop f, die hüb schen Locken, und runzelte die Stirn. »Versp rich mir, dass du d ich mit irgend was beschäftigst, wäh ren d ich weg bin «, sag te sie, »und nicht die g anze Zeit heru msitzt und dir den Kopf zerb rich st.« »Aber Perce ...« »Ich meine es ernst, Saffy. Sie wird ein paar Stunden schlafen. Geh nach unten, schreib irgendwas. Beschäftig e deinen Kopf. Wir kön nen keine Panik gebrauchen.« Saffy nah m Percys Hand . »Und du pass au f, d ass Mr. Potts dich nicht erwischt. Richte den Strahl d er Taschenlamp e au f den Boden. Du weißt do ch, wie sehr er darauf achtet, dass die Verdunkelung svo rsch riften eing ehalten werd en.« »Mach ich.« »Un d p ass au ch au f, dass die Deutschen dich nicht sehen , Perce. Sei vorsichtig.« Percy zog ih re Hand weg; um die Geste weniger schroff ersch einen zu lassen, sch ob sie beid e Hän de in ih re Hosen ta-
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sch en u nd an two rtete sark astisc h: »In so einer Nacht? Die liegen alle schö n in ihren warmen Betten , wenn sie vernün f tig sind.« Saffy v ersuchte ein Läch eln , das ih r missglü ckte. Wer kon nte es ih r verüb eln? Das Zimmer war voll mit alten Geistern. Percy un terd rü ckte einen Schauder, ging zur Tür und sagte: »Also, ich geh dann mal ...« »Erinnerst du dich noch , wie wir beide hier ob en geschlafen haben , Perce? « Percy schwieg einen Mo ment und su chte die Zigarette, die sie sich zuvo r ged reht hatte. »Schwach.« »Es war doch schö n, oder? Mit uns b eiden.« »Ich erinnere mich nu r d aran , d ass d u es gar nicht ab warten kon ntest, nach u nten zu ziehen .« Saffy lächelte traurig. Sie vermied es, Percy anzu sehen , und hielt den Blick auf Juniper gerichtet. »Ich hatte es immer eilig. Erwach sen zu werden. Von hier weg zuko mme n ...« Percy spürte einen Schmerz in der Brust. Sie straffte sich, als müsste sie sich gegen den Sog der Erinnerungen stemmen. Sie wollte nicht an das Mädchen denk en , das ihre Zwillingsschwester gewesen war, da mals, bevor ihr Vater sie gebrochen hatte, als sie noch Talent und Träu me hatte und jed e Mö glichkeit, sie auszuleben . Jetzt nicht daran denk en! A m besten nie, wenn es sich vermeiden ließ. Es tat zu weh . In ihrer Hosentasche befanden sich die Papierschn ip sel, die sie zufällig in der Küche g efunden hatte, als sie heißes Wasser für die Wärmflasche aufgesetzt hatte. Auf der Suche nach Streichhölzern hatte sie einen Top fdeckel angeh oben, der auf einer Bank lag, und dort waren sie gewesen, d ie Schnipsel von Emilys Brief. Gott sei Dank hatte sie sie entdeckt. Dass Saffy wieder von ihrer alten Verzweiflung heimgesu cht wurde, war das Letzte, was Percy jetzt gebrauchen kon nte. Sie wü rd e die Sch nip sel mit n ach unten neh men un d au f dem Weg nach draußen verbrennen. »Ich gehe jetzt, Saff...« »Ich glaube, Junip er wird un s v erlassen .« »Was? « »Ich glaube, sie will fortg ehen .«
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Wie kam ih re Zwillin gssch wester dazu, so etwas zu sagen? Und warum jetzt, warum heute Nach t? Percys Pu ls beg ann zu rasen. »Hast du sie n ach ihm gefragt? « Saffys Zögern reichte Percy als Antwort, um zu wissen , dass sie es getan hatte. »Hat sie vor zu h eiraten? « »Sie sag t, sie liebt ihn«, seu fzte Saffy. »Aber das tut sie nicht.« »Sie glaubt es aber, Perce.« »Du irrst dich.« Percy reckte das Kinn vor. »Sie würde nie heiraten. Sie wird es nicht tun. Sie weiß , was Dad d y getan hat, was es be deuten wü rd e.« Saffy lächelte trau rig. »Die Liebe lässt die Menschen grausame Dinge tun.« Percy fiel die Streichho lzsch achtel au s der Hand, und sie bückte sich, u m sie aufzu heben. Als sie sich wied er aufrich tete, bemerkte sie, dass Saffy sie mit einem seltsamen Gesichtsau sd ruck beobachtete, als müsste sie eine komplizierte Idee erklären oder ein schwieriges Rätsel lö sen. »Wird er ko mmen , Percy? « Percy zündete die Zigarette an und ging zu r Treppe. »Also wirk lich , Saffy«, sagte sie. »Woher so ll ich das wissen? « Die Möglichk eit war Saffy erst nach und nach in d en Sin n gek o mmen . Percys schlechte Laune d en ganzen Abend üb er war nich t ang eneh m, aber auch nichts Ungewöhnliches, und so hatte sie nicht weiter darüber nachgedacht und nur versuch t, ih re Sch wester zu b esänftigen, damit sie das Abendessen nicht verdarb. Aber Percy war ziemlich lange in der Küch e g ewesen , angeblich hatte sie nu r ein e Aspirin ho len wollen, war dan n mit verd reckten Kleidern zu rückg ekommen und hatte irgendetwas von Geräu sch en vo r d em Hau s erzäh lt. Und als Saffy sie nach der Aspirin gefrag t h atte, hatte Percy sie n u r verstän dnislos ang esehen , als könnte sie sich g ar nicht mehr daran erinnern , sie üb erhaupt gesuch t zu h aben ... Und jetzt die En tschiedenheit, mit der Percy darauf beharrte, dass Juniper nicht heiraten wü rde ... Aber nein. Schluss damit.
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Percy konnte hart sein, ja sogar gemein, aber dazu wäre sie nicht fähig . Das konn te Saffy nicht glauben . Ih re Zwilling sschwester liebte das Schloss über alles, ab er nicht um den Preis ih rer Men sch lichkeit. Percy war mutig und anständig und aufrichtig; sie kletterte in Bo mb enk rater, u m Mensch en das Leben zu retten. Auß erdem war es nicht Percy gewesen, die eine blutverschmierte Blu se angehabt hatte ... Saffy zitterte. Dan n stand sie abrupt auf. Percy hatte recht; es h atte wen ig Zweck , Wach e zu halten, solange Junipe r schlief. Drei Tabletten au s den Vorräten ihres Vaters waren nö tig gewesen , u m Juniper in den Sch laf zu befördern , die Är mste, sie wü rde in den näch sten Stunden bestimmt nicht aufwachen. Sie ein fach hier alleinzulassen , so klein und v erletzlich, widersprach Saffys Mutterinstinkt, ab er wenn sie blieb, wü rde sie nu r in Panik geraten . Sch on jetzt drohte ih re Fan tasie mit ih r du rch zugehen: Ju niper verlo r nu r Zeit, wenn sie irgendein Trauma erlitten h atte; wenn sie etwas gesehen od er getan h atte, das sie so seh r aufgewüh lt hatte; etwas, d as ih r Herz schneller rasen ließ, als ihm guttat. Dann das Blut auf ihrer Bluse und die innere Un ru he, die sie au sgestrahlt hatte... Nein. Schluss damit. Saffy presste die Handballen an die Brust. Atmete tief durch. Sie konnte sich jetzt k eine Panikattacke leisten. Sie musste die Ru he bewah ren. So vieles war no ch ungeklärt, aber eins stand fest. Sie wü rd e Juniper kein e Hilfe sein kön nen, wenn sie ih re eigenen Äng ste nicht in den Griff bekam. Sie würde nach unten gehen und an ih rem Roman schreiben, so wie Percy es ihr nahegelegt hatte. Ein e Stund e oder meh r in Adeles freu ndlicher Gesell schaft wäre jetzt genau das Richtige. Juniper war in Sicherheit, Percy wü rde finden, was gefu n den werden musste, und Saffy wü rde nicht in Panik geraten ... Sie durfte es ein fach n ich t. Entsch lossen zog sie die Decke gerade und strich sie über Junipers Bru st g latt. Ih re kleine Sch wester rüh rte sich nicht. Sie sch lief tief und fest wie ein Kind , d as erschöp ft war nach
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einem Tag in der Sonne, unter k larem b lau em Himmel, nach einem Tag am Meer. Sie war immer so ein be sonderes Kind gewesen. Eine Erinneru ng k am Saffy, ei n Bild: Ju niper als klein es Mädchen, Storchenbeine und weißb londes Haar, d as in d er Sonn e leu chtete. Sie hockte da, die Knie vo ller Wu nd scho rf, die dreckigen Füße flach au f der versengten Sommererde, und wühlte mit einem Stock im Dreck, au f der Such e nach dem p assenden Stein, den sie über d en Bach sp ring en lassen konnte ... Der Regen schlug gegen das Fen ster und spü lte das Mäd ch en, d ie Sonn e, d en Du ft nach trockener Erde fort. Nur das düstere, mu ffige Dachzimmer b lieb zu rü ck. Das Zimme r, in dem Saffy und Percy ih re Kindheit verb racht h atten, zwisch en dessen Wän den sie sich von qu engelnden Kleink indern zu launischen ju ngen Damen entwickelt hatten. Aus dieser Zeit war kaum etwas üb rig geblieben, jeden falls nicht viel Sichtb ares. Das Bett, der Tintenk leck s auf de m Boden , d as Bücherregal am Fenster, wo sie ... Nein! Schluss damit! Saffy ballte die Fäu ste. Sie bemerkte das Fläschchen mit den Tabletten ih res Vaters. Überlegte einen Augenblick, dann schraubte sie den Deck el ab und k lopfte sich eine in die Hand. Die Tablette wü rde ih r helfen, sich zu beruh igen. Sie ließ die Tü r angelehn t und sch lich vo rsichtig die sch male Trep pe hinun ter. Hinter ih r im Dachzimmer seufzten die Vorhänge. Juniper zuckte zusammen . Ein langes Kleid hob sich schimmernd gegen den Schran k ab wie ein bleiches, läng st verg essen es Gespen st. Es war Neumond, und es go ss in Strö men. Trotz des Regenmantels und der Gummistiefel war Percy völlig du rchnässt. Und als wäre das no ch nicht genug, hatte auch noch die Taschenlampe Aussetzer. Percy such te festen Halt au f der schlammigen Au ffahrt und schlug die Taschenlampe gegen ihre Handfläche, sodass d ie Batterie klapperte. Das Licht
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flackerte ku rz au f, und Perc y schöp fte Ho ffnung . Aber dann gab die Lampe den Geist au f. Fluchend schob Percy sich die nassen Haare aus der Stirn. Sie hatte keine Ahnu ng , was sie eigentlich zu finden erwartete. Je länger es dauerte, je weiter sie sich vom Schloss en tfern te, u ms o weniger wahrscheinlich wu rde es, dass sich die Sache geheim halten ließ. Und sie mu sste unb edingt geheim gehalten werd en. Sie kniff die Augen zu sammen , um i m Regen irgendetwas ausmachen zu können. Der Bach führte Ho chwasser; sie hö rte ihn gu rg eln und to sen au f seinem Weg zum Wald. Wenn das so weiterging, würde die Brücke am Mo rgen unpassierbar sein. Sie wandte den Kopf weiter nach links, wo sie das düstere Bataillo n des Card arker-Wald s erah nen konnte. Der Wind fuhr du rch die Baumwipfel. Percy versuch te es noch einmal mit der Taschenlamp e. Das verdammte Ding wo llte einfach nicht meh r. Lang sam und vorsichtig ging sie weiter in Richtu ng Straß e und su chte, so gut es im Dunkeln ging, den Weg vo r sich mit den Augen ab. Ein Blitz tauchte die Szenerie in weißes Lich t; die durch weichten Felder wich en von ih r fo rt, d er Wald zog sich zu rück, das Schloss stand da, wie mit trotzig versch ränk ten Ar men. Die Welt schien stillzu stehen, und Percy füh lte sich vollkomme n allein, emp fan d innerlich wie äu ßerlich nichts als kalte, nasse Leere. Sie sah es, als der Blitz erlo sch. Etwas unten in der Zufahrt. Etwas, das dort reglos dalag. Großer Gott, es waren die Umrisse einer Gestalt, eines Mannes.
2 Tom hatte Blumen aus London mitg eb racht, ein en klein en Strauß Orchideen . Sie waren schwer zu finden und höllisch teuer gewesen , u nd als es Abend wu rde, b edauerte er seine Entscheidung bereits. Sie sahen inzwischen ziemlich mitgenommen aus, und er frag te sich, ob er Ju nipers Sch western 542
mit gekauften Blumen üb erhaup t ein e Freude mach en würde. Ab er außer den Blu men hatte er noch die Gebu rtstag smarmelade mitgebracht. Gott, war er nervö s. Er schaute au f seine Uh r un d ärgerte sich im selben Mo ment. Er würde zu spät kommen. Es ließ sich nicht ändern , der Zu g war angeh alten wo rden , dann h atte er ein en anderen Bus finden mü ssen, und der einzige in Richtung Osten sollte von ein er Klein stadt in d er Nähe ab fah ren , und so war er kilo meterweit querfeldein gelau fen, nu r u m festzu stellen , dass der Bu s einen Mo to rschaden hatte. Der Ersatzbus war drei Stunden später eingetro ffen , als er schon zu Fuß lo sgehen und es per Anhalter versuch en wollte. Er trug seine Un iform, denn in ein paar Tagen mu sste er zu rück an die Front, und au ßerdem hatte er sich inzwischen an die Unifo rm g ewö hnt. Er hatte sich sogar den Orden ang eheftet, der ih m nach seinem Einsatz am Escaut-Kan al in Belgien verliehen wo rd en war. Der Orden lö ste gemischte Gefühle in ihm aus. Wenn er ihn an seiner Brust spürte, mu sste er immer an die Kamerad en denken , die b ei dem Au sb ruchsversuch gefallen waren. Aber an deren schien der Orden wichtig zu sein, sein er Mutter zum Beisp iel, und es konn te ja nicht schaden, ihn zu trag en, wenn er Junipers Familie vo rg estellt wu rd e. Er wo llte ein en guten Eindruck machen, wollte, dass alles glattlief. Vo r allem ihr zuliebe. Ihre Widersprüchlichk eit verwirrte ihn. Sie hatte oft von ih ren Sch western und ih re m Zuhause gesprochen, und zwar immer liebevoll. Au s dem, was er au s ihren Erzählungen wusste, und dem, was er mit eigen en Augen gesehen hatte, ergab sich für ihn das Bild eines ländlichen Id ylls, meh r n och, es wirk te alles wie au s einem Märchen. Und doch hatte sie lange nicht gewollt, dass er Milderhu rst besuchte, und beinah e än gstlich reagiert, wenn er die Möglichk eit au ch nu r an gedeutet hatte. Dann, vo r genau zwei Woch en, hatte sie es sich aus heiterem Hi mmel anders überleg t. Während Tom sich noch von dem Sch ock erholte, dass sie seinen Heiratsantrag angenommen h atte, hatte sie verk ündet, sie mü ssten gemein sam ih re Sch western b esu chen und ihnen die gute Nach rich t überb rin gen. Natü rlich hatte er ihr recht gegeben. Und jetzt war er
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un terweg s zu m Schloss. Es konnte nicht mehr weit sein, denn d er Bu s hatte meh rfach angehalten, und er war einer der letzten Fahrgäste. Schon in Lond on war der Himmel verhangen gewesen, eine weiße Wolkendecke, die an den Rän dern immer düsterer wurd e, je mehr sie sich Kent näherten . Aber jetzt regnete es in Strömen, un d die hin- und herhuschenden Scheibenwischer kamen gegen die Wassermassen kau m an . »Sie fah ren nach Hau se? « Tom wandte sich der Stimme i m Dun keln zu. Ein e Frau auf der anderen Seite des Gangs. Vielleicht fünfzig Jahre alt schwer zu sagen - mit einem freund lichen Gesicht. So hätte seine Mutter vielleicht au sg esehen , wenn d as Leb en es b esser mit ihr gemeint hätte. »Ich besuch e eine Freu ndin «, an twortete er. »Sie wohnt in der Tenterd en Road.« »So , so.« Die Frau lächelte wissend . »Ih r Lieb chen? « Er lächelte, weil es stimmte, aber dann wu rd e er wied e r ernst, weil es au ch wied er nich t stimmte. Er würde Juniper Blythe heiraten, aber sie war nicht sein Liebch en. Ein »Liebchen« war das Mäd chen , das ein So ldat hatte, wenn er au f Frontu rlaub war, die hübsche Kleine mit dem Schmollmund und den langen Beinen und den leeren Versprechungen und n ichtssag enden Briefen an die Fron t; ein Mädchen, das gern mal einen Gin trank, sich beim Tanz vergnü gte und sich hinterh er an die Wäsche geh en ließ . Juniper Blyth e war kein solches Mädchen. Sie würde seine Frau werd en , er wü rd e ihr Ehema nn sein, aber sosehr er sich an solche Erwartungen klammert e, wu sste Tom, d ass sie nie wirklich ganz ihm gehö ren wü rd e. Keats hatte Frauen wie Juniper g ekannt. Als er von seiner Belle Dame schrieb, dem schönen leichtfüßigen Feenkin d mit d en langen Haaren und den wilden Augen, muss er eine Frau wie Ju niper Blyth e vo r Aug en g ehabt haben. Die Frau au f d er and eren Seite des Gang s wartete noch au f eine Bestätigung, und To m lächelte. »Mein e Verlobte«, sag te er und genoss die b edeu tung sschwangeren Wo rte, auch wenn er sich innerlich wand , weil sie so wenig mit d er Wirklich keit zu tun hatten.
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»Ach, wie schön. Es tut gu t, in diesen schlimmen Zeiten mal eine glückliche Geschich te zu hö ren. Hab en Sie sich hier in der Gegend kennengelernt?« »Nein ... äh, eigentlich scho n und auch wieder n ich t. Rich tig kennengelernt haben wir u ns in Lon don.« »London.« Sie lächelte mitfühlend. »Ich besuch e ab un d zu meine Freundin dort, und als ich beim letzten Mal in Charin g Cross ausgestiegen bin ...« Sie seu fzte. »Die arme, arme Stadt. Schrecklich, was geschehen ist. Ih re Familie ist do ch ho ffentlich nicht zu Schaden geko mmen? « »Wir hab en Glück gehabt. Bisher zumindest.« »Sind Sie sch on lange un terweg s?« »Ich habe den Zug um n eun Uhr g eno mme n . Seitdem jagt ein Missg esch ick das andere.« Sie schüttelte den Kopf. »Die Züge stehen mehr, als dass sie fahren, und üb erfüllt sind sie obendrein. Und dann die Person enkontrollen ... aber jetzt sin d Sie ja fast am Ziel. Nu r mit dem Wetter haben Sie Pech geh abt. Ich ho ffe, Sie haben einen Regen sch irm dabei.« Hatte er zwar nich t, ab er er nickte lächelnd und vertiefte sich wieder in seine Gedanken. Saffy ging mit ihrem Sch reib zeug in s gu te Zimmer. Nu r hier hatten sie an diesem Ab en d das Kamin feuer angezünd et, und irgendwie tat es ih r tro tz aller Wid rigkeiten gu t, sich in dem Zimme r aufzuhalten , d as sie so hü bsch herg erich tet hatte. Saffy füh lte sich beim Sch reib en nicht gern ein geen gt, daher mied sie die Sessel un d setzte sich lieber an den Tisch. Sie räu mte ein Ged eck zu r Seite, darau f bedacht, d ie d rei an deren nicht du rcheinan derzu b ringen. Sie schenkte sich noch einen Whisky ein, setzte sich hin und schlug ih r Heft dort au f, wo sie zuletzt aufgehört hatte. Sie überflog die Seite, um sich wieder mit Adeles tragischer Lieb esg eschichte vertraut zu machen. Seufzend ließ sie sich von der geheimen Welt ih res Buchs umfangen. Ein Donnersch lag ließ Saffy zu sammen fahren und erinnerte sie daran, dass sie sich v o rgen o mmen h atte, die Szene umzu sch reiben , in der William seine Verlobung mit Ad ele lö ste.
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Die gute, ar me Adele. Wie p assend , dass ih re Welt wäh ren d eines Gewitters zu sammenbrach , bei dem der Himmel selb st einzustürzen schien! So mu sste es sein. Alle tragisch en Mo mente des Lebens sollten v on Urgewalten u ntermalt werden. Als Matthew sein e Verlo bung mit Saffy gelö st hatte, hätte es auch blitzen und donnern müssen. Sie hatten in der Biblioth ek au f dem So fa neben de r Terrassentür gesessen, und die Sonne hatte ihnen auf den Bauch geschienen. Ein Jahr war vergangen seit dem sch recklich en Abend in Londo n, seit der Premiere in dem finsteren Theater, seit das ab scheuliche Geschöp f sich au s dem Sch lo ssgrab en erhoben hatte und vor höllischen Qualen brüllend am Turm hochgeklettert war ... Saffy hatte gerade Tee für zwei eingeschenkt, als Matth ew zu sp rechen begann. »Ich glaube«, hatte er gesag t, »es wäre das Beste für uns beide, wenn wir einander freigeben .« »Ein ander ... freig eben? Ab er ich verstehe n ich t? « Sie blin zelte. »Lieb st du mich denn nicht meh r? « »Ich werd e dich immer lieben, Saffy.« »Aber ... waru m? « Sie hatte sich extra das sap hirblau e Kleid angezo gen , als sie erfah ren hatte, dass er kommen würde. Es war ihr bestes; es war das Kleid , das sie zu r Premiere getragen hatte. Er sollte sie bewundern, sie begehren, sie so sehr wollen wie an jenem Tag am See. Sie kam sich lächerlich vo r. »Warum? «, frag te sie noch einmal und ärgerte sich darüber, d ass sie so zaghaft klang. »Wir können nicht h eiraten , das weißt du so gu t wie ich. Wie sollen wir als Mann und Frau leb en, wenn du dich weigerst, d iesen Ort zu v erlassen? « »Ab er ich weigere mich doch nicht, ich sehne mich d anach, von hier fortzugeh en ...« »Dann k o mm mit mir, jetzt auf der Stelle ...« »Ich k ann nicht ...« Sie stand au f. »Ich habe es dir erklärt.« Sein Gesicht veränderte sich , Verbitteru ng verzerrte seine Züge. »Natürlich kannst du. Wenn du mich wirklich liebtest, würdest du mit mir gehen. Dann wü rd est du mit mir ins Auto steigen, und wir würden weit wegfahren von diesem schrecklichen, vermoderten alten Kasten .« Er war au fg estanden . »Ko mm, Saffy«, flehte er sie an , und jede Spu r von Enttäu -
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schu ng schien wie weggeblasen. Er zeigte mit seinem Hut in die Richtung , wo der Wag en stand . »Lass un s g ehen . Lass un s jetzt auf der Stelle weg fah ren, wir b eide zu sammen .« Am liebsten hätte sie noch einmal gesag t: »Ich kan n nicht«, und ihn inständig gebeten, sie doch zu verstehen, Geduld zu haben, auf sie zu warten ; ab er sie sch wieg. Ein lich ter Mo men t, und sie hatte begriffen, dass es nich ts gab , was sie sagen oder tun konnte, u m ih m ihre Situation begreiflich zu machen. Die lähmende Pan ik, d ie sie allein bei dem Gedan ken b efiel, d as Schloss zu verlassen; die sch warze und bo denlo se Ang st, die sie in den Klauen hielt, ihr die Lunge ein schnü rte und ih r das Atmen sch wer machte, sod ass sich alles zu drehen begann; d ie sie an diesem kalten, düsteren Ort gefangen hielt und sie sch wach und hilflo s mach te wie ein Kind. »Ko mm«, sag te er noch ein mal und hielt ih r die Han d hin. »Komm. « Er hatte es so zärtlich g esagt, dass sie sechzehn Jahre später immer noch ein woh lig er Schauder überlief. Sie hatte ihn un willkü rlich angeläch elt, o b wohl sie wu sste, dass sie au f einer steilen Klipp e stand, un ter ih r d as tosend e, dunkle Wasser, während d er Mann , den sie liebte, sie beschwor, sich von ihm retten zu lassen, ohn e zu ahn en, dass sie nicht zu retten war, dass sein Ko nku rrent so viel stärk er war als er. »Du h ast rech t«, sagte sie, sp rang von der Klipp e, weg von ih m: »Es ist wo hl fü r un s beide das Beste, wenn wir einand er freigeben.« Sie hatte Matthew nie wiedergesehen, und ihre Ku sine Emily eben so wenig, d ie nu r auf ihre Chance gewartet h atte, die immer das begehrte, was Saffy sich wünschte ... Es war nur ein Baumstamm. Ein Stü ck Treibho lz, das von der Strö mu ng des schnell an schwellen den Bach s mitgerissen word en war. Percy zog den Stamm an den Rand der Zu fahrt, flu chte üb er das Gewich t, wäh rend sich ihr ein Ast in die Sch ulter boh rte, wusste nicht, ob sie verärgert oder erleichtert darüber sein sollte, d ass sie die Suche jetzt fo rtsetzen musste. Sie war schon im Begriff, weiter in Richtung Straße zu gehen, als etwas sie inneh alten ließ . Eine seltsame Vo rah nung . Ein mu l miges Gefühl. Unentschlossen blieb sie im
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Regen stehen , sch aute zurück, zu dem verdunkelten Schloss hinau f. Zu d em nicht vollständig verdunkelten Schloss. Ein Lichtschein, klein, aber hell, hinter einem d er Fen ster. Im guten Zimmer. Der verfluchte Fensterladen . Hätte sie ihn do ch bloß ordentlich repariert. Es war der Fensterladen , der sie zu einer Entsch eidun g bewog. Das Letzte, was sie h eute Ab end g eb rau chen konnten, war Mr. Potts mit seiner Heimatsch utztruppe. Mit einem letzten Blick zu r Tenterden Road machte Percy keh rt und eilte zu m Schloss. Der Bus hielt am Straßenrand, und To m stieg au s. Augenblicklich machte der strömende Regen seinen Blumen, die sich bis dahin so tapfer gehalten hatten , endgü ltig d en Garau s. Einen Mo men t lang üb erleg te er, ob zerfledderte Blu men besser wären als keine, dann warf er sie kurzerhand in den Straß eng raben , der zu einem reißenden Bach angeschwollen war. Ein guter Sold at wusste, wann er den Rück zug anzutreten hatte, und schließ lich h atte er ja n och die Marmelade. Du rch den dichten Regen entd eckte er ein eisernes To r und tastete nach dem Griff, u m es zu ö ffn en. Als es unter sein e m Gewicht k reischen d nachgab, hob er den Blick zum tiefschwarzen Himmel, schloss die Augen und ließ sich die Regentropfen über die Wang en laufen. So ein Hundewetter! Ohne Regenmantel od er Schirm war er den Elementen schutzlos au sgeliefert. Er k am zu spät, er war vö llig du rch nässt, aber er war da. Er schlo ss das To r h inter sich , warf den Seesack über d ie Sch ulter und ging die Zu fah rt hoch. Gott, war d as fin ster. Verdunkelung in London war eine Sache, aber hier auf de m Land, wo das Mistwetter auch noch d ie Sterne abgeschaltet hatte, war ihm, als wü rd e er durch Pech waten . Zu sein er Rech ten sah er eine hoch au fragende schwarze Masse, noch dun kler als die Umg ebun g, da s musste der Cardarker-Wald sein. In dem Sturm sch ien en die Bau mwip fel die Zähne zu fletschen. Mit einem Schauder wandte er sich ab und dachte
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lieber an Jun iper, die im war men , trockenen Sch lo ss au f ihn wartete. Mit nassen Füßen stap fte er weiter, fo lgte einer Biegung , überquerte eine Brücke, unter d er ein reißender Bach floss, und immer no ch wand sich der Weg weiter den Hügel hinauf. Als ein Blitz den Himmel zerriss, blieb er stau nend stehen. Ein grandioser Anblick. Die Welt war in silb rig-weiß es Licht getau cht - heftig wo gend e Bäu me, das bleiche Gemäuer eines Schlosses auf dem Hügel, der Weg, der sich durch zitternde Felder schlän gelte, um dann wieder mit der Dunkelheit zu verschmelzen. In der grell beleuchteten Szenerie, die er wie ein Fotonegativ vor Augen hatte, war To m aufg efallen, dass er nicht allein in der reg nerisch en Nacht un terweg s war. Eine schmale männliche Gestalt ging vo r ih m den Weg hinau f. Tom fragte sich, wen es wohl außer ihm in einer solchen Nacht au s dem Hau s trieb; vielleicht wu rde ja no ch ein Gast im Schloss erwartet, der eb en falls zu so später Stund e ein traf, weil er au fgehalten wo rd en war. Der Ged anke ho b seine Stimmu n g, und er wo llte schon rufen - es war doch bestimmt besser, gemeinsam mit einem verspäteten Gefährten an die Tü r zu klopfen -, als ein gewaltiger Do nnersch lag sein Vo rhaben zun ich temach te. Er eilte weiter, den Blick auf den Hügel gerichtet, wo sich das Schloss befinden musste. Als er näher kam, bemerk te er etwas, das sich schwach von der Dunkelheit abhob. Er runzelte die Stirn, blinzelte; nein, er hatte es sich nicht eingebildet. Ein winziger goldener Lich tschein, ein beleuchteter Spalt in der Festung smau er. Er stellte sich vo r, dass das Juniper war, die auf ihn wartete, wie die Nixe im Märchen , die ih rem Lieb sten in stü rmisch en Nächten mit einer Latern e leuch tete, damit er sich er in d en Hafen fand. Entschlossen sch ritt er weiter au s. Wäh rend Percy und To m d u rch den Reg en stapfen, ist i m Inn ern von Schlo ss Milderh u rst alles still. Hoch o ben im Dachzimme r liegt Jun iper in dü steren Träu men ; unten im g u ten Zimmer lehn t sich Saffy, mü de vo m Sc h reiben , auf d er Chaiselongue zurück , kurz davo r, vo m Schlaf überman nt zu werd en. Hinter ihr prasselt das Kaminfeuer; vor ih r öffnet sich eine Tü r zu einem Picknick am See. Ein perfek ter Tag
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im späten Frühjahr 1 9 2 2 , wärmer vielleich t als erwartet, d er Himmel so blau wie feines venezianisches Glas. Man hat sich im See erfrisch t und ruht jetzt auf Decken, trinkt Cock tails und isst leckere San d wich es. Ein paar junge Leute setzen sich von den and eren ab, und die träumende Saffy folgt ih nen; sie beobach tet das jung e Paar gan z hinten, einen Ju ngen namen s Matthew un d ein hübsches sechzehnjähriges Mädchen namens Seraphina. Sie kennen sich seit ihrer Kindh eit, er ist ein Freu nd ih rer seltsamen Vettern au s dem Norden und wird daher von ih rem Vater im F amilien k reis akzeptiert. Viele Sommer sind sie gemeinsam durch Wiesen und Feld er gejagt, h aben Generationen v on Fo rellen im Bach gefangen und mit großen Augen an den jährlichen Erntefeuern gesessen. Aber jetzt ist irgendetwas zwisch en ihnen anders. Diesmal b rin gt sie in seiner Gegen wart kein Wo rt heraus; schon meh rmals h at sie bemerkt, dass er sie beobachtet mit einem Blick , der ih re Wan gen zu m Glüh en b ringt. Sie haben nicht meh r als d rei Wo rte gewechselt, seit er eingetroffen ist. Die Gruppe, der das Paar fo lgt, hat einen Platz gefund en , Decken werden nachlässig au f dem Bod en au sgeb reitet, eine Ukulele wird hervorgeho lt, es wird g eraucht un d gescherzt; die beid en halten sich am Rand e des Gesch ehens. Sie red en nicht miteinander und sehen sich nicht an. Sie setzen sich au f den Boden, tun so, als wü rd en sie den Himmel betrachten, Vögel beobachten u nd d as Spiel der Sonn en strah len au f den Blättern be staunen, während sie in Wirklichkeit nur an die kleine Lück e zwisch en ih rem Knie u nd seinem Schen kel denken können. An die elektrische Spannu ng, die d ie Lücke füllt, während der Wind flüstert, Blätter zu Boden taumeln und ein Star sein Lied erk ling en lässt. Sie stöhn t leise au f. Hält sich die Hand vor den Mund, damit niemand etwas merkt. Seine Fingerspitzen berü h ren ihre Hand. So leicht, dass sie es vielleicht gar nicht gesp ü rt hätte, wenn ihre Au fmerksamkeit nicht mit mathematisch er Präzision au f jeden Millimeter Entfern ung zwischen ihnen gerichtet wäre, auf seine atemb eraubende Nähe ... In diesem Mo men t verschmilzt die Träu mende mit ihrem jugend lichen Selb st. Sie sieht die Lieb en -
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den nicht mehr aus der Distanz, sondern sitzt selb st au f der Decke, die Bein e über Kreu z, h inten au f den Arm g estützt, mit klopfendem Herzen und d er unb ekü mme rten Freu de u nd Erwartun g eines jungen Mäd chen s. Saffy traut sich nicht, Matthew anzusehen . Sie wendet den Blick schnell den anderen zu, ist üb errascht, dass o ffenb ar niemand bemerk t hat, dass ih re Welt sich um h und ertach tzig Grad ged reht und vö llig verändert hat, während um sie heru m alles so geb lieb en ist, wie es war. Sie lässt den Blick an ih rem Ar m hinunterwand ern, ü ber ih r Handgelenk zu ih rer Hand, auf die sie sich stützt. Da. Seine Fin gerspitzen . Seine Hau t au f ih rer. Sie nimmt all ihren Mut zu samme n und lässt den Blick weiterwandern, über die Brücke, die er zwischen ihnen gebaut hat, zu seiner Hand, üb er sein Handgelenk sein en Arm h inauf, und sie weiß, gleich werden sich ih re Blicke begegnen. Aber plötzlich wird ihre Au fmerksamk eit abgelenk t. Von etwas Düsterem auf dem Hügel hin ter ihn en. Ihr Vater, ewig um sie beso rgt, ist ihn en gefolgt und beo b achtet sie von seinem Aussichtspun kt au s. Sie spü rt seine Augen au f sich, weiß, dass er sie im Blick hat, weiß, dass er mit angesehen hat, wie Matth ews Finger sich zu ih rer Hand bewegt haben . Sie senkt die Lider, errötet, und tief un ten in ihrem Bauch regt sich etwas. Irgendwie macht die An wesenheit ih res Vaters au f d em Hü gel, sein Gesichtsau sdruck, au ch wenn sie nicht weiß, waru m, ihr erst bewusst, was sie soeb en erlebt hat. Ih r wird de utlich , dass ih re Liebe zu Matth ew - denn n atü rlich ist d as, was sie emp fin det, Liebe seltsamerweise ih rer Zun eigun g zu ih rem Vater ähn elt, ih re m Wunsch, geschätzt zu werd en, dem an deren zu gefallen, dem unbändigen Bedürfnis, fü r charmant und intelligent gehalten zu werd en ... Saffy schlief tief und fest au f d er Chaiselongu e neben d e m Kamin, ein leeres Glas auf dem Schoß, ein sanftes Lächeln au f den Lipp en; Percy seufzte erleichtert. Das war wenigsten s etwas; zwar hing der Fen sterladen lose an ein er Ang el, und sie hatte auch keinen Hin weis darau f finden k önnen , was
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Junipers verlo rene Zeit verursacht haben konnte, aber zumindest an der häuslichen Fron t herrsch te Ruhe. Sie kletterte vom Fenstersims u nd sp rang das letzte Stück von d en Deck stein en herunter, darauf gefasst, im Morast zu versinken . Die Erde in dem eh emaligen Grab en war völlig durchweicht, das Wasser stieg schnell an und reichte ihr bereits bis über die Knöchel. Es war so, wie sie vermutet hatte, sie brau chte das richtig e Werk zeug, um den Fensterladen vernünftig zu befestigen . Percy stap fte zu r Küchentü r, wuch tete sie au f un d schlug sie rasch wieder zu , um das Unwetter au szusperren. Der Kontrast hätte größer nicht sein kön nen . Die warme, trockene Küche mit ihren Essensdämp fen und dem su mmen den elektrischen Licht war der Inbegriff von häuslicher Gemü tlichkeit, und am liebsten h ätte sie sich ih rer nassen Kleider en tledigt, der Gu mmi s tiefel und schlammig en So cken , sich vor dem O fen eingero llt und sich u m n ich ts meh r gekü mmert. Sie wollte nur noch schlafen in der kindlichen Gewissheit, dass irgendjeman d sich um alles kü mmern wü rde. Sie mu sste lächeln. Dann verscheuchte sie die tö rich ten Gedanken. An Schlaf war n icht zu denken . Sie blin zelte, weil ih r d as Wasser von den Haaren in die Augen lief, und mach te sich auf den Weg zur Werk zeugkiste. Sie würde den Fensterladen h eute Nacht ein fach provisorisch zunageln und ihn mo rgen bei Tageslicht ordentlich reparieren. Saffys Traum h at einen Sprung gemacht, Ort und Zeit sind and ers, aber d as zentrale Bild ist geblieben, wie eine dunkle Silhouette au f der Netzhau t, wenn man mit gesch lo ssen en Aug en in die Son ne blickt. Dadd y Saffy ist jetzt jün ger, ein kn app zwölfjäh rig es Mädchen. Sie steigt Stu fen hinau f, Mauern erheben sich zu beiden Seiten, und sie wirft einen Blick üb er die Schulter, denn Dadd y h at ih r gesag t, dass d ie Kran ken schwestern nicht mehr kommen , wenn sie es mitk riegen . Es ist das Jahr 1 9 1 7 , und es herrscht Krieg. Ih r Vater war weg, aber jetzt ist er wieder zu rü ck und , n ach dem, was die Krankenschwestern erzählt h aben , ist er nu r knap p dem Tod entronnen. Saffy geh t d ie Treppe hoch , weil sie und Dadd y ein neues Sp iel h aben . Ein geheimes Spiel, bei dem
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sie ihm von den Dingen erzäh lt, die ih r Angst machen, wenn sie allein ist, d ie seine Aug en aber vo r Freude au fleu chten lassen. Sie spielen es jetzt schon seit fünf Tagen. Plötzlich, im Traum, ist es der Tag zuvo r. Saffy steigt nicht meh r d ie k alte Steintrepp e hoch, sondern liegt in ihrem Bett. Sie sch reckt au s dem Schlaf. Allein und v eräng stigt. Sie streckt die Hand n ach ihrer Zwillingsschwester aus, wie sie es immer t ut, wenn sie einen Albtraum hat, aber das Laken neben ihr ist leer und kalt. Den ganzen Morgen g eistert sie durch die Korridore, versu cht die Tag e au szu füllen, die jede Fo rm u nd Bedeutung verloren haben, versucht dem Albtrau m zu entfliehen. Und jetzt sitzt sie mit d em Rück en an der Wand in der Kammer u nter der Wend eltreppe. Nu r hier füh lt sie sich sich er. Geräusch e wehen vo m Tu rm herab, d ie Mauern seufzen und sin gen, und wenn sie die Augen sch ließ t, hö rt sie es. Eine Stimme, die ih ren Namen flüstert. Einen kurzen glücklichen Momen t denkt sie, dass ih re Zwillingsschwester wied er da ist. Dann , wie du rch einen Nebel, sieht sie ihn . Er sitzt au f einer Ho lzb ank am Fen ster au f der anderen Seite, einen Gehstock auf dem Schoß. Es ist Dadd y, auch wenn er verändert ist, nicht läng er der stark e junge Mann, der vor drei Jah ren in den Krieg zo g. Er ru ft sie zu sich , u nd sie kann sich ih m nicht wid ersetzen. Sie geht langsam, h at Ang st vor ih m u nd seinen neuen Schatten. »Du hast mir gefehlt«, sagt er, als sie neben ihm steht. Und etwas in seiner Stimme ist so vertraut, dass all d ie Sehn such t, d ie sich in ih r au fgestau t hat, seit er weggeg ang en war, n ach auß en d rängt. »Setz dich n eben mich «, sagt er, »un d erzähl mir, warum du so verängstigt dreinschau st.« Und sie b eginnt. Sie erzählt ih m alles. Alles ü ber ih ren Traum, den Mann, der sie holen will, den fu rchterregend en Mann im Schlamm. A m Sch lo ss angeko mmen, sah Tom, dass das Licht nicht von einer Laterne kam. Das rettende Leuchtfeuer, d as d ie Seeleu te sich er nach Hause geleitet und dem au ch er gefolgt war, stammte in Wirklichkeit v on ein er elektrisch en Lamp e,
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deren Lich t du rch das Fenster eines der Zimmer im Schloss nach außen d rang. Ein Fensterladen hing lo se herunter, un d desh alb war das Ha us nicht vollständig verdunkelt. Er wü rde sich anbieten , ihn zu rep arieren. Von Juniper wusste er, dass die Schwestern sich ganz allein u m d as Haus kü mmerten, n achd em sie das wenige Personal, das ihnen g eblieben war, an den Krieg verloren hatten. Tom war nicht gerade ein großer Handwerker, aber mit einem Hamme r kon nte er zu r Not u mg ehen. Schon etwas zuversichtlicher watete er durch eine Pfütze in dem niedriger liegenden Streifen Erde, d er das Schloss u mgab, und stieg die Eingangsstufen hoch. Vo r der Tü r mach te er Inven tu r: Sein Haar, sein e Kleider, seine Füße hätten nicht nasser sein können, wen n er du rch den Kanal g eschwomme n wäre, um hierherzugelang en. Aber er hatte sein Ziel erreicht. Er nahm d en Seesack von der Schulter un d such te nach d em Marmeladenglas. Da war es. Er zog es h eraus, hielt es fest in der Hand und tastete es prüfen d ab, ob es kein en Sch aden genommen hatte. Es fühlte sich unverseh rt an. Vielleicht ging es ja bergauf mit seinem Glück. Lächelnd fu hr er sich mit der Hand du rchs Haar, um es in Ordnung zu b ring en; dann klop fte er un d wartete, das Marmeladenglas in der Han d. Fluchend schlug Percy mit der flach en Hand au f den Deck el der Werkzeugkiste. Herrgott no ch mal, wo war der verflixte Hammer? Sie zermarterte sich das Hirn , versuchte sich zu erinnern , wann sie ihn das letzte Mal b enutzt hatte. Sie hatte Saffys Hühnerauslauf rep ariert, die losen Fen sterb retter i m guten Zimmer und die Balustrad e im Trep penh au s des Turms... Sie konnte sich nicht meh r erinn ern , bei welch er Gelegenheit sie den Hammer w ieder in die Werkzeugk iste gelegt hatte, aber sie war sich ganz sicher, dass sie es getan hatte. Mit diesen Dingen ging sie ach tsam u m. Verdammt. Mit einer Hand griff Percy zwischen den Knöp fen ih res Regen mantels h indu rch in ih re Hosentasche und atmete erleichtert au f, als sie den Tabakbeutel zu fassen bek am. Sie zog ein Zigarettenblättchen herau s, glättete es und hielt es so , dass kein Wasser von d en Ärmeln , aus den Haaren und v on
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der Nase darauftropfte. Sie verteilte den Tabak en tlang der Falte, rollte das Blättch en ein, leck te es an und klebte es zu. Dann klop fte sie ein Zigarettenend e au f ih re Hand, zünd ete ein Streichho lz an, sog gierig den herrlich würzigen Rauch ein u nd atmete ih ren Ärger aus. Ein verschwundener Hammer hatte ih r heute Nacht gerade noch gefehlt, nach Junipers Rückk eh r und dem rätselhaften Blut au f der Bluse, der Neuigkeit, dass sie zu h eiraten beab sichtigte, gan z zu schweigen von ih rer Begegnu ng mit Lucy am Nach mittag ... Percy inhalierte noch ein mal und atmete dann tief au s. Saffy hatte es nicht so gemeint, es konnte nicht sein — sie wu sste nichts darüb er, was mit Lucy gewesen war, nichts über die Liebe und den Verlust, den Percy erlitten hatte. Percy war immer äuß erst vo rsichtig gewesen. Natü rlich kon nte ihre Zwilling ssch wester etwas gehö rt oder g esehen od er gespürt h aben , was sie nicht wissen sollte, aber wenn schon. Saffy war nicht der Typ, Percy mit ihrem Ku mmer zu konfrontieren. Sie wusste besser als jeder andere, was es b edeutete, seiner Lieb e beraubt zu werd en. Ein Geräusch. Percy hielt den Atem an und lau schte angestren gt. Nich ts war zu hören. Sie musste an Saffy denken, die sch lafend au f d er Chaiselongu e saß , das leere Whisk yglas au f dem Schoß. Vielleicht hatte sie sich bewegt, und es war zu Boden gefallen . Percy warf einen Blick zu r Deck e, wartete noch eine halbe Minute, dan n sagte sie sich, dass es so gewesen sein mu sste. Wie auch immer, sie hatte jetzt keine Zeit, h eru mzu steh en und üb er die Vergangenheit zu lamen tieren. Die Zigarette zwischen den Lippen, setzte sie ih re Suche nach dem Hammer fort. To m k lop fte no ch einmal u nd stellte d as Marmelad eng las neben d er Tür ab, damit er sich d ie Hände warm reiben kon nte. Das Haus mu sste ziemlich groß sein; man brauchte wahrscheinlich wer weiß wie lange, u m v on g anz ob en n ach un ten zu ko mmen . Nach einer Weile drehte er sich um, betrachtete das Regen wasser, das über die Dachtraufe schoss, und dachte, wie merk wü rd ig es war, dass man meh r fro r,
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wenn man durchnässt im Trocken en stand, als wenn man du rch strömen d en Regen g ing. Ih m fiel auf, d ass sich in un mittelb arer Näh e des Sch losses beso nders viel Wasser sammelte. Irgend wann , als sie in London im Bett gelegen hatten und er alles über das Schlo ss wissen wollte, h atte Ju niper ih m v on dem eh emalig en Schlossgraben erzählt, den ih r Vater nach dem Tod seiner ersten Frau hatte zuschü tten lassen . »Seine Trauer wird ihn dazu gebracht haben«, hatte Tom gesagt, der sich, wenn er Ju niper an sch aute, gu t vo rstellen konnte, wozu ein solch er Verlust ein en Men schen treiben kon nte. »Nicht Trauer«, hatte sie erwidert, wäh rend sie sich die Haarspitzen u m die Finger wickelte. »Eher Schu ldgefü hle.« Als er wissen wollte, was sie damit meinte, hatte sie ihn nu r an gelächelt, sich au f die Bettkante gesetzt u nd ih m ih ren nackten Rück en zugewandt, sodass er nicht and ers konn te, als ih re glatte Hau t zu streicheln und seine Fragen zu vergessen. Erst jetzt fiel ihm die Situation wieder ein. Schuldgefühle. Er fragte sich, was sie damit g emeint haben könn te, und nahm sich vor, sie d anach zu frag en, so bald er die Sch western k ennengelern t hatte, sobald Juniper und er ih re Neuigkeit verk ündet hatten, so bald sie zusammen waren, allein, un ter vier Au gen. Ein helles Dreieck erregte Toms Aufmerksamkeit, eine Spiegelung au f d en Pfützen . Es war das Licht au s dem Fen ster mit dem d efek ten Fen sterladen. Vielleicht ließ er sich ja ganz einfach reparieren , vielleicht h atte er sich nu r au s der Ang el gelöst. Eigen tlich kön nte er sich jetzt g leich daru m kümmern. Das Fen ster lag nich t seh r ho ch. Das wäre ruckzuck erledigt. Dann mü sste er nicht wieder in den Regen raus, nachdem er einmal i m Warmen und Trockenen war, und n icht zu letzt kon nte er damit b estimmt die Herzen d er Sch western erobern. Mit ein em Läch eln auf den Lippen stellte Tom seinen Seesack ab und eilte hinaus in den Regen.
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Seit sie sich mit dem Rücken zum p rasselnden Kamin feu er gesetzt hat, ist Saffy durch ein Labyrinth von Träumen geeilt. Soeben hat sie das Zentru m erreich t. Den Ort der Stille, wo alle Träume ihren Ursp rung haben und zu dem sie wieder zu rückkehren. Der Ort, der ih r schon lan ge v ertraut ist. Sie hat es scho n unzählige Male geträumt, schon seit ihrer Kindheit. Der Traum verändert sich nie. Wie ein Film, der immer wieder ab gespielt wird. Und unabhängig d avon, dass sie ihn kennt, ist der Traum i mmer wieder neu, der Schrecken immer wieder frisch . Er beginnt damit, dass sie au fwacht un d g laubt, in der realen Welt aufgewacht zu sein, bis sie feststellt, dass es um sie herum eigenartig still ist. Es ist kalt, und sie ist allein; sie schlüp ft aus dem Bett und stellt die Füße auf den Holzbod en. Ihre Kinderfrau schläft in dem kleinen Zimmer nebenan, aber ihr tiefer und regelmäßiger Atem, der normalerweise ein Gefühl von Sicherheit vermitteln wü rd e, signalisiert in dieser Welt nur unüberb rü ckbare Distanz. Saffy g eht lang sam ans Fen ster. Etwas zieht sie un widerstehlich dorthin. Sie k lettert au f d as halbhohe Bücherregal, rafft ihr Nachthemd um die Beine, weil es plötzlich eiskalt wird. Si e wischt die beschlagene Scheib e ab und sp äht hinaus in die Nacht. Percy h atte den Hammer g efunden . Nach lan gem Su chen und wild em Fluchen umschloss ihre Hand irgend wann den vertrauten, du rch jahrelang en Geb rauch glatten Stiel. Na en dlich, schn aubte sie, zog ihn unter den Sch raubenschlüsseln und Sch raubenziehern hervor und legte ihn neben sich auf den Boden. Öffnete d as Marmeladenglas mit d en Nägeln und schüttete sich einige in die Hand. Einen hielt sie gegen das Lich t, begutachtete ihn und kam zu d em Schlu ss, dass fün f Zentime ter reichen mu ssten, zu mindest fü r die no tdü rftige Reparatu r heute Nacht. Sie stopfte die Nägel in die Tasche ih rer Regenjacke, nahm den Hammer und ging durch die Kü che zu r Tü r.
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Sein Vo rh aben hatte sich do ch nich t so gu t an gelassen wie erh o fft. Er hatte einen steinernen Vo rsp run g un ter dem Fen ster falsch eingeschätzt, war abgeru tscht und in d en verschlammten Graben gefallen. Es war ärgerlich und so nicht geplan t, aber nach ein p aar k räftigen soldatisch en Flü chen denn schließlich war er Sold at — hatte er sich so fo rt wieder au fgerafft, die Hand über die Augen gelegt, u m d en Feind besser einschätzen zu k önnen , und dan n die Mauer mit größ tmöglicher Entschlossenheit erneut in Angriff genommen . Niemals aufgeben, wie sein Offizier gesch rien h atte, als sie sich ihren Weg quer du rch Frank reich gek ämp ft hatten. Niemals aufgeben. Endlich gelan g es ih m, sich au f das Fen stersims h och zuziehen. Zu m Glü ck konn te er sich in einem Sp alt zwischen zwei Steinen, wo der Mörtel herau sgebrochen war, mit einem Fuß ab stützen. Das Licht aus dem Zimmer war ein Segen, und Tom brauchte nicht lan ge, u m f estzu stellen, dass der Fen sterlad en n icht so ein fach zu befestigen war. Er war so auf seinen Kamp feinsatz fix iert gewesen, dass er dem Zimmer hinter dem Fen ster keinerlei Aufmerksamkeit geschenk t hatte. Als er jetzt hineinschaute, bot sich ihm eine Szenerie vollkommener Behaglichkeit. Eine hüb sche Frau , die neben dem Kamin schlief. Zuerst hielt er sie fü r Ju niper. Ab er die Frau zuck te zu samme n , und ih re Gesich tszü ge span nten sich an, un d im selb en Mo men t beg riff er, dass er nicht Juniper vor sich sah , sondern eine ihrer Schwestern. Das musste Saffy sein, vermutete er; die mü tterliche Schwester, die nach dem Tod von Junipers Mu tter an deren Stelle getreten war und sie g roßgezogen hatte; diejenige, die un ter Pan ikattacken litt und es nicht schaffte, das Sch lo ss zu verlassen . Während er sie betrachtete, riss sie ganz plötzlich die Augen au f, und vo r Überraschung hätte er be inahe den Halt verlo ren. Ih re Blick e trafen sich . Percy sah den Mann am Fen ster in dem Mo men t, als sie u m die Ecke bog. Das Lich t au s d em Zimmer beleu chtete ih n; eine d unkle Gestalt, wie ein Gorilla, der die Wand hochklet terte, sich an den Steinen fe stklammerte und in das gu te
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Zimmer spähte. Das Zimmer, in dem Saffy schlief. Percys Puls begann zu rasen . Ih r Leb en lang war es ih re Pflicht gewesen, ih re Sch western zu b eschützen . Sie umk lammert e den hö lzern en Stiel des Hammers. Die Nerv en zum Zerreißen ge span nt, rannte sie au f den Mann zu . Sch lammb edeckt und wie ein Einbrecher durchs Fenster späh end, so hatte er sich den Schwestern Blythe gewiss nich t p räsentieren wollen. Aber jetzt war er gesehen wo rden. Er konn te nicht ein fach hinuntersp rin gen , sich versteck en und so tun, als wäre nich ts gewesen . Er lächelte zög erlich; hob die Hand , u m freund lich e Absichten zu signalisieren, ließ sie ab er wied er sinken, als er beme rkte, dass sie ganz mit Schlamm bedeck t war. O Gott. Sie war aufgestanden, und sie lächelte überh aup t nicht. Sie kam auf ihn zu. Die groteske Situation hatte da s Potenzial, zu einer besonders b eliebten Anekdo te zu we rden . »Erinnert ihr euch noch, wie wir Tom k ennengelernt hab en? Wie er, von Kop f bis Fuß mit Schlamm bedeckt, am Fenster aufgetaucht ist und freundlich gewinkt hat? « Vo rerst blieb ih m n ichts andere s üb rig, als zu zu seh en, wie sie langsam au f ihn zukam, so als würde sie träumen. Sie zitterte, als würde sie so frieren wie er hier draußen im Regen. Sie hob die Hand , um das Fenster zu entriegeln, während er nach erk lären den Wo rten suchte, und dann nahm sie etwas von der Fensterb ank. Percy blieb wie an ge wu rzelt stehen . Der Mann v ersch wand . Vo r ih ren Aug en war er plötzlich ins Wanken geraten und au f die Erde gestü rzt. Sie schaute zum Fenster hoch; dort stand Saffy, zittern d, den Sch rauben schlü ssel in d er Hand . Ein harter Schlag. Er begriff nicht, was es war. Dann Bewegung. Er fiel, plötzlich und überraschend. Dann lag er auf dem Rücken . Etwas Kaltes an seinem Gesicht, Nässe.
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Geräusche, vielleicht Vög el, d ie sch rien und k reischten. Er zuckte und schmeckte Schlamm. Wo war er? Wo war Juniper? Regentropfen prasselten au f seinen Kopf, er spürte sie einzeln, wie eine Musik, so als wü rd en Saiten gezu p ft, die ein e sonderbare Melo die spielten. Sie war wun derschön, und er fragte sich , wieso er sie nicht kannte. Einzelne Trop fen, perfek t, jeder einzelne. Sie fielen auf die Erde und sättigten den Boden, sodass sich Flüsse b ilden un d Meere füllen konnten, und Menschen, Tiere, Pflanzen zu trinken hatten ... Es war alles so einfach. Er mu sste an ein Un wetter denken, als er noch ein kleiner Jung e gewesen war und sein Vater noch gelebt hatte. Tom hatte Angst gehabt. Es war d unkel u nd laut gewesen , und er hatte sich unter dem Kü chen tisch versteckt. Er hatte geweint, die Aug en zug ekn iffen und die Fäu ste geballt. Er hatte so heftig geweint, und sein eigen er Ku mmer hatte ihm so laut in den Ohren ged röhn t, d ass er nicht hörte, wie sein Vater ins Zimmer kam. Er wusste nur noch, dass der große Bär ihn vom B oden aufgelesen, in sein e riesigen Arme g ehob en und fest an sich gedrückt hatte; und dann hatte er To m v ersich ert, d ass alles in Ordnung war, und der süß sau re, wund ervolle Duft nach Tabak in seinem Atem h atte es b ewiesen . Aus dem Munde seines Vaters klangen diese Worte wie eine Zaub erfo rmel. Ein Versp rechen . Und To m hatte keine Ang st mehr gehabt... Wo hatte er die Marmelade gelassen? Die Marmelade war wichtig. Der Mann in der Parterrewohnung hatte ihm gesagt, dass es die beste war, die er je geko cht hatte; dass er die Bro mb eeren selb st gep flück t und dass er d ie Zuck errationen von meh reren Monaten geb rauch t hatte. Aber To m k onnte sich einfach nicht erinnern , wo er sie g elassen hatte. Er hatte sie g ehabt, so viel wu sste er. Er hatte sie in sein em Seesack vo n Lo ndon mitgeb racht, ab er dann hatte er sie h erau sg eno mmen un d auf den Bod en gestellt. Hatte er sie unter dem Tisch steh en lassen? Als er sich vo r dem Un wetter versteckt hatte, hatte er da die Marmelade mitg eno mmen? Er mu sste au fsteh en und sie such en, das wü rde er jetzt tun. Das musste sein, die Marmelad e war ein Ge -
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schenk. Er würd e sich aufmachen und sie ganz schnell finden, un d dan n wü rde er darüber lachen, denn er hätte sie ja au ch verlo ren haben können. Aber vorher würde er noch einen Mo ment au sruh en. Er war mü de. So mü de. Die Fahrt hierher hatte so lang e gedauert. Das Ge witter, dann der mühs ame Weg die Zu fahrt ho ch, den ganzen Tag lang Züg e un d Bu sse, die er beinahe verpasst h ätte, aber das Wichtigste war, dass die Fah rt ihn zu ihr geführt hatte. Er war so weit gelaufen; er hatte so viel gelesen, gelehrt, geträu mt, gewünsch t, so viel erho fft. Es war nur natürlich, dass er sich au sruh en mu sste, dass er einfach die Augen schließen und sich eine Pau se g önnen würde; nur ein bisschen ausruh en, damit er bereit war, wen n er sie wiedersah ... To m sch lo ss die Aug en, un d er sah Million en win zig er Sterne, die blinkten und sich h in und her b ewegten , und sie waren so wunderschön, und er wollte ihnen nu r n och zu sehen. Es gab nichts mehr auf der Welt, was er lieber tun wollte, als dazuliegen und diese Sterne zu betrach ten . Und als er d alag und sah, wie sie heru mwirb elten , frag te er sich , ob er sie vielleicht berühren konn te, die Han d ausstreck en und ein en fangen konnte, und dann sah er sch ließlich, dass sich etwas hinter ihnen verbarg. Ein Gesi cht, Junipers Gesich t. Sein Herz bekam Flüg el. Sie war da, endlich bei ih m. Sie war ganz nah, beugte sich zu ih m h erun ter, leg te ih m d ie Hand au f d ie Schulter und sp rach in san ften Wo rten zu ih m. Die Worte, sie schienen alles so vollkommen zu erklären, doch als er versuchte, sie zu wiederholen, zerrannen sie zu Wasser, un d in ih ren Augen sch immerten die Sterne, u nd au ch auf ihren Lippen, und kleine Lichter hing en schimmernd in ihren Haaren; und er konn te sie nich t meh r hören , o b wohl ih re Lippen sich bewegten und die Sterne blin kten , denn sie en tsch wand, bis es ganz dunkel um sie wurde; und auch er war dabei zu entschwind en. »Jun e ...«, flü sterte er, als die letzten kleinen Lichter zu flackern begannen und ein s nach dem anderen erloschen, als sch werer Sch lamm ih m d ie Nase, den Mund, die Kehle verstopfte, als schließlich alle Lu ft aus seinen Lung en entwich en war. Er läch elte, als ihr Atem seinen Hals liebkoste ...
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3 Juniper schreckte mit po chenden Kopfschmerzen und einem bitteren Gesch mack im Mund au s dem Schlaf. Ih re Aug en schmerzten. Wo war sie? Es war dunkel, es war Nacht, abe r von irgendwoher kroch sch wach es Licht herein. Sie blinzelte und nahm hoch über sich eine Zimmerdecke wahr. Die Balken waren ih r vertraut, und do ch stimmte irgend etwas nich t. Was war geschehen? Etwas musste gesch ehen sein , sie wu sste es, sie konn te es spüren. Aber was? Ich erinnere mich nicht. Sie dreh te den Kopf - langsam - und ließ das Gewirr einzelner, namenloser Objekte in ih rem Innern durcheinanderpur zeln. Sie sah sich um au f d er Suche nach Hinweisen, konn te ab er nichts erkenn en als ein leeres Blatt Papier, ein vollgesto p ftes Regal und einen sch malen Lichtstreifen, der durch eine ang elehn te Tü r ins Zimmer fiel. Juniper wusste, wo si e war. Sie befand sich im Dachzimme r von Schloss Milderhurst. Sie lag in ih rem alten Bett. Sie war schon lange nicht meh r hier gewesen. Es hatte ein and eres Dachzimme r g egeb en, sonn endu rch flutet, ganz anders als d as hier. Ich erinnere mich nicht. Sie war allein. Der Gedanke war ganz klar, so als h ätte sie ihn gelesen, schwarzer Text auf weißem Pap ier, und das Allein sein bedeutete Schmerz, ein e boh rende Wund e. Sie hatte damit gerech net, dass noch jemand anders hier bei ihr sein wü rd e. Ein Mann. Sie hatte einen Mann erwartet. Eine seltsame Vo rah nung üb erkam sie; sich nicht an das erin nern zu könn en, was in der ve rlo renen Zeit gesch ehen war, war normal, aber da war noch etwas anderes. Juniper v erhed derte sich im düsteren Gewirr ih rer Ged anken , aber obwoh l sie nicht sehen konnte, was u m sie h eru m lag , war sie erfüllt von einer Gewissheit, einer bedrückenden Angst, dass etwas Sch reckliches in ih rem Inn ern eingeschlo ssen war. Ich erinnere mich nicht. Sie schlo ss die Augen und lau schte angestreng t; au f irgen detwas, das ih r helfen k önnte. Es war nich ts zu hö ren v on 562
dem Treiben au f Londons Straßen, von den Bussen, den vielen Menschen, kein Gemu r mel au s den and eren Wohn ungen. Aber die Adern des Hauses ächzten, die Mauern seufzten , und da war noch ein and eres, anhaltendes Geräusch. Regen leichter Regen auf dem Dach. Ih re Aug en ö ffneten sich. Sie konn te sich an Regen erin nern. An ein en Bu s, der anh ielt. Sie erinnerte sich an Blut. Juniper setzte sich abrup t au f. Sie war so kon zentriert au f diese eine Sache, auf diesen kleinen Lichtblick der Erinnerung, dass sie ih re Kopfschmerzen vergaß . Sie erinnerte sich an Blut. Ab er wessen Blu t? Die Ang st verlag erte sich, streck te ih re Fühler au s. Sie b rauchte Lu ft. Im Dachzimme r war es p lötzlich stickig; die Lu ft war warm und feuch t un d sch wer. Sie stellte die Füße au f d en Holzb oden . Ih re Sach en lagen überall herum, aber sie hatte keinen Bezug zu ihnen . Irgend jeman d hatte sich bemüht, Ordnung zu schaffen in dem allgemeinen Du rchein ander. Sie stand au f. Sie erinnerte sich an Blut. Was b rachte sie dazu, ihre Hände anzuschauen? Was auch immer es sein mochte, sie schreckte davor zu rück. Etwas war an ihren Händen. Sie wischte sie hastig an ih rem Nachth emd ab , und diese Hand lung veru rsachte ihr ein vertrautes Kribbeln un ter der Haut. Als sie die Hände etwas höher hob, u m besser sehen zu kön nen, verschwanden die Flecken. Schatten. Es waren nur Schatten gewesen . Verwirrt, ab er auch erleich tert trat sie mit un sicheren Sch ritten an s Fenster, zog d en Verd unkelung svo rhang zu r Seite un d sch ob das Fen ster hoch. Ein e leichte frische Brise strich ih r über die Wangen. Die Nacht war mondlos, Sterne waren auch nicht zu sehen , aber Juniper brauchte kein Licht, u m zu wissen , was unter ih r lag. Die Welt von Milderhurst bed rückte sie. Im Unterho lz zitterten un sich tbare Tiere, im Wald mur melte der Bach , in der Ferne k lagte ein Vogel. Wo hielten sich eigentlich die Vögel au f, wenn es regnete?
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Da war noch etwas anderes, direkt unter ihr. Ein kleines Lich t, eine Lamp e, die an einem Stock hing. Jemand war da unten auf dem Ha ustierfriedhof. Percy. Percy mit einer Schaufel. Sie grub. Etwas lag auf dem Boden hinter ihr. Ein Bündel. Groß , reg lo s. Als Percy zur Seite trat, riss Juniper vor Schreck die Augen auf. Sie sandten rasend schnell eine Nach richt an ih r gequältes Hirn, das Licht in ihrem Kopf flackerte, und sie sah deutlich, nur einen ku rzen Moment lang, das schreck liche, furchtbare Ding, das sich do rt v ersteckte; das Bö se, das sie gespürt, aber nicht gesehen hatte, das ih r solche Angst eingejag t h atte. Sie sah es, sie gab ih m einen Na men , und das Entsetzen fuhr ihr bis in die Nerven enden. Du bist genau wie ich, hatte ih r Vater gesagt, bevor er ihr seine grausige Geschichte gebeichtet hatte ... Ein Ku rz schluss, u nd die Lichter in ih rem Kopf erlo schen. Verd ammte Hände. Percy hob die Zigarette, d ie ih r herunterg efallen war, vo m Kü chenb oden au f, steck te sie sich zwisch en d ie Lip pen u nd zü ndete das Streichho lz an. Aber sie war zu aufgewühlt. Ihre Hand zitterte wie Espenlaub. Die Flamme erlosch, und sie versuchte es noch einmal ... Da bemerk te sie den d unk len Fleck auf ihrem Handgelenk , u nd sie ließ erschrocken die Sch ach tel samt b ren nend em Streich holz fallen . Die Streichhölzer lagen verstreut au f den Stein fliesen, und sie kniete sich hin, um sie au fzulesen. Sie ließ sich Zeit, vertiefte sich in diese simp le Aufgabe, wickelte sie sich u m die Schultern wie ein en Man tel und mach te alle Knöp fe zu. Es war Schlamm an ih rem Handgelenk. Nichts als Schlamm. Nur ein kleiner Fleck, den sie übersehen hatte, als sie am Waschbecken gestanden und sich den Schlamm von den Händen, vom G esicht, von d en Armen geschrubbt hatte, bis ihre Haut fast blutig war. Percy hielt ein Streichho lz zwischen Daumen und Zeigefin ger. Schaute durch das Streichholz hindu rch , sah jedo ch nichts. Es fiel wieder au f den Boden .
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Er war wirklich sch wer gewesen. Sie hatte sch on viele Leichen angehoben, gemeinsam mit Dot; sie hatten Leute au s zerbo mb ten Häusern gerettet, sie in den Krankenwagen geladen und in s Lazarett geschleppt. Sie wusste, dass die Toten meh r wogen als die Freu nde, die sie zurückließen. Aber das hier war anders g ewe sen. Er war wirk lich schwer gewesen. Sie hatte gewusst, dass er b ereits tot war, als sie ihn au s dem Grab en gezogen hatte. Ob er du rch d en Sch lag gestorben oder im schlammig en Wasser erstickt war, k onnte sie nicht sag en. Ab er er war schon tot gewesen, das wusste sie. Sie h atte noch v ersucht , ihn wiederzubeleben, aber eher aus In stinkt, Ho ffnu ng h atte sie n icht. Sie h atte alles versuch t, was man ihr im Lazarett beig eb rach t hatte. Und es h atte g ereg net, und darüber war sie froh gewesen, d enn so ko nnte sie ih re verd ammten Tränen leugnen , die ih r in d ie Aug en g etreten waren. Sein Gesicht. Sie schlo ss die Augen, presste sie fest zusammen; sie sah es immer noch vor sich. Wusste, sie würde es immer wieder sehen. Sie ließ die Stirn au f die Kn ie sinken, und der feste Kontakt verschaffte ih r ein bisschen Erleichterung. Die Härte der Kniescheibe, ihre kühle Gewissheit, als sie sie gegen ih r heißes Gesich t d rück te, beruhigte sie; fast wie der Kontakt mit ein em and eren Men schen , einer Person, d ie beso nnener war als sie selb st, älter un d klüger u nd besser dafü r geeig net, die vor ihr liegenden Au fg aben zu bewältig en. Denn es würden viele Dinge auf sie zukommen. Sie würde der Familie einen Brief sch reiben mü ssen. Aber was sie ih nen mitteilen wü rde, wusste sie noch nicht. Jedenfalls nicht die Wahrheit. Dafü r waren sie zu weit gegangen. Es h atte ei nen ganz ku rzen Augenb lick g egeben, in dem sie sich hätte anders verhalten können . Sie hätte In sp ecto r Watk in s an ru fen und ihm d en ganzen Schlamassel darlegen können, aber das hatte sie nicht getan . Was hätte sie ih m au ch sag en sollen? Dass es nicht Saffys Schuld gewesen war? Also mu sste ein Brief an die Familie des Mann es geschrieben werden. Percy war keine Geschichtenerzählerin, aber Not macht be-
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kanntlich erfinderisch, und sie wü rd e sich sch on etwas ein fallen lassen. Sie hö rte ein Geräu sch u nd zu ckte zu samme n . Jemand war auf der Treppe. Percy versuch te ih re Fassung wiederzugewinnen un d wisch te sich mit der Han d üb er die nassen Wangen . Wütend au f sich selbst, auf ihn, au f die Welt. Au f jeden außer auf ihre Zwillingsschwester. »Ich habe sie wieder in s Bett gesteckt«, sagte Saffy, als sie hereinkam. »Du hattest recht, sie war aufgestanden un d fü rchterlich ... Perce? « »Ich bin hier hinten .« Ihre Kehle schmerzte vor Anspan nung. Saffys Kopf erschien über dem Tisch . »Was mach st du denn da un ten ... Ach Gott, Lieb es, k omm, ich helfe dir.« Während Saffy neben ih r hockte, die restlichen Streichhö lzer einsammelte und sie in die Schachtel tat, versteckte Percy sich hinter ih rer noch nich t angezündeten Zigarette und sag te: »Sie ist wieder im Bett? « »Ja. Sie war au fg estand en - die Tabletten sind wohl nicht so stark , wie wir ged ach t hab en. Ich habe ihr no ch ein e gegeben .« Percy rieb an dem S ch lammflecken an ih rem Han dg elenk und nickte. »Sie war vollko mmen au ßer sich , die Ärmste. Ich hab e mir größte Mühe g egeb en, sie davon zu üb erzeug en, dass alles gu t werd en wird, dass d er ju nge Mann n ur au fg ehalten wo r den ist und mo rg en ganz b esti mmt kommt. So ist es doch , nicht wahr, Percy? Er wird doch kommen? Perce? Was ist los? Warum kuckst du so ko misch? « Percy sch üttelte den Kop f. »Du mach st mir ja richtig An gst.« »Ganz bestimmt kommt er mo rg en «, antwortete Percy u nd legte ihrer Schwester eine Hand auf den Ar m. »Du hast recht. Wir müssen nu r Geduld haben.« Saffy war o ffensichtlich erleichtert. Sie reich te Percy die volle Streichholzschachtel und nickte zur Zigarette in Percys Hand. »Hier hast du sie, du wirst sie brauch en , wenn d u die alle rauchen willst.« Sie stand au f und strich sich d as zu en -
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ge g rün e Kleid glatt. Percy musste sich beherrschen, Saffy das Kleid nicht vom Leib zu reißen , zu weinen und zu klag en und zu zerstö ren. »Du hast na tü rlich recht. Wir mü ssen Gedu ld hab en. Junip er wird es mo rgen früh schon wieder besser gehen. In der Zwischen zeit sollte ich vielleicht den Tisch ab räu men .« »Das ist bestimmt das Beste.« »Natürlich. Es gibt doch nichts Trau rigeres als ein gedeck ter Tisch fü r ein Abendessen, das nicht stattgefunden hat ... Mein Go tt!« Sie stand an der Tü r und betrachtete das Chaos. »Was ist denn hier passiert? « »Ich h abe nicht au fgepasst.« »Un d was ist das? « Saffy trat näher h eran . »Das sieht doch au s wie Marmelad e, ein ganzes Glas voll. Was für eine Sch ande!« Percy hatte es an der Eing ang stür g efunden, als sie mit d er Sch au fel zu rü ckgek ommen war. Der Regen hatte au fgeh ö rt, die Wo lkendecke war au fgerissen, un d ein paar ü bereifrig e Sterne h atten die dunkle Himme lsd ecke durch b roch en. Sie hatte zuerst den Seesack gesehen , und d ann d as Marmeladenglas daneb en. »Wen n d u Hun ger hast, Perce, brin ge ich dir ein bisschen was von d em Kaninchen.« Saffy stand über die Scherb en gebeugt und räumte auf. »Ich h abe keinen Hunger.« Sie war in die Küche gekommen, hatte die Marmelad e und den Seesack au f den Tisch gestellt und lange betrachtet. Eine Ewigkeit war v ergangen, bis die Bo tschaft vom Kopf zur Hand g elangt war, d er ih r befahl, den Seesack zu ö ffnen und nachzusehen, wem er gehö rte. Sie hatte natü rlich gewu sst, dass er es sein musste, den sie beerdigt hatte, aber sich er war sicher. Mit zitternd en Fing ern un d klop fendem H erzen hatte sie d ie Hand au sgestreckt und dabei das Marmeladenglas v o m Tisch g estoßen . Was für eine unverzeihliche Versch wendung. I m Seesack hatte sich nich t viel befu nden . Unterwäsch e zum Wechseln, eine Brieftasche mit seh r wenig Geld und ohn e Adresse, ein in Leder gebundenes Notizbu ch. In diese m Notizbuch hatte sie die Briefe g efund en. Einen von Juniper,
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den zu ö ffnen sie nicht ü bers Herz b rach te, einen anderen von jemandem namen s Theo , einem Brud er, wie sie dem Brief hatte entnehmen kön nen . Denn diesen hatte sie gelesen . Sie war so tief g esunken , d ie Post eines Toten zu lesen, hatte mehr erfahren, als sie je über sein e Familie hatte wissen wollen - die Mutter, eine Witwe, die Schwestern und d eren kleine Kinder, und es gab einen Bruder, der geistig zurü ckgeb lieben war un d von allen besonders geliebt wu rde. Sie hatte sich dazu gezwung en, jedes Wo rt zweimal zu lesen; es war d ie un ausgeg o rene Vo rstellung , irgend wie etwas wiedergutmachen zu können, indem sie sich selbst bestrafte. Eine törichte Vorstellung. Es wü rd e keine Wied ergutmachung geb en fü r das, was geschehen war. Auß er vielleich t d urch Eh rlichk eit. Ab er gab es irgend eine Möglichk eit, ihnen zu sch reib en und die Wah rheit zu b erichten? Damit sie verstünden, wie es d azu gekommen war; dass es ein Unfall gewesen war, ein g rässlicher Un fall, und nicht im G ering sten Saffys Verschu lden; d ass Saffy, ausgerechnet die arme Saffy, die Allerletzte war, die dazu fähig wäre, ein em an deren Men schen einen Sch aden zuzu fügen ; dass ihr eigenes Leben eben falls ruiniert wo rd en war; dass es ihr trotz ih rer Träu me v on Lon don, trotz ihres Verlangens, das Schloss zu verlassen, n ie gelung en war, die Gren zen vo n Milderhu rst zu d urchb rechen , vo r allem n icht seit jenem ersten hysterischen Anfall im Theater; dass, wenn üb erhaup t jeman d die Schuld am Tod des jungen Mannes trüge, es ih r Vater wäre, Raymo nd Blythe ... Nein. Die Sache so zu sehen konn te man von niemand e m erwarten. Niemand würde nachvollziehen können, was es b edeutete, im Schatten dieses Bu ches au fzuwachsen . Voller tiefer Verbitterun g dach te Percy über das grauenhafte Vermächtnis des Modermann nach. Was heute Nacht gescheh en war, der Schaden, den die arme Saffy un wissen tlich angerichtet h atte - das war das Vermächtnis seiner Missetat. Er hatte ihn en Milto n vorgelesen, als sie noch klein waren: »Der Bö se fällt au f sich selb st zu rück .« Und Milto n hatte recht, denn sie bezahlten jetzt fü r die schlimme Tat ih res Vaters.
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Nein. Es wü rd e kein e Eh rlichkeit geben . Sie wü rd e der Fami lie etwas an deres schreiben, an diese Ab senderad resse, die sie in seinem Seesack gefunden hatte, Hen shaw Street, Lon don . Den Seesack selbst wü rde sie v ernich ten . Wenn nich t vernich ten , dann wen igstens ve rstecken. Das Familien archiv war vielleicht d er b este Ort dafü r - was fü r eine sen timentale Närrin sie do ch war: fähig, einen Toten zu begrab en, ab er un fähig , sein e persönlichen Sachen wegzu werfen. Die Wah r heit und die Leugnu ng derselben war ein e Last, die Percy wü rd e tragen mü ssen. Was ih r Vater auch getan hatte, in einer Hinsicht hatte er rech t gehabt: Es lag in ihrer Verantwo rtu ng, sich um ihre beiden Schwestern zu kümmern. Und sie wü rd e d afür so rg en, dass sie drei zusammenblieben. »Ko mmst du bald nach oben , Perce? « Saffy hatte die Mar me lade schon aufgewisch t u nd stan d mit einem Kru g Wasser in den Händen vor ihr. »Ich muss eb en noch einig e Dinge h ier un ten erledigen. Die Taschenlampe b raucht neue Batterien ...« »Ich bringe das rauf zu Juniper. Die Arme h at bestimmt Durst. Ko mmst du au ch bald? « »Ja, ich komme gleich.« »Halt dich nicht zu lange au f, Perce.« »Keine So rge. Ich b in bald bei euch .« Saffy zög erte am u n teren Treppen ab satz, dreh te sich no ch einmal zu Percy um und läch elte san ft, aber au ch ein bissch en n ervö s. »Wir drei«, sagte sie. »Das ist doch sch ön, nicht wah r, Perce? Wir d rei endlich wied er v ereint? « Saffy verbrachte die gan ze Nach t im Sessel in Junipers Zimmer. Ihr Hals war steif, und sie fror trotz der Decke, die sie sich u m d ie Kn ie gewickelt hatte. Dennoch blieb sie; ihr eigenes warmes Bett im Schlafzimmer unten stellte keine Versu chung d ar, nicht, wenn sie hier g eb raucht wu rd e. Saffy dachte manchmal, dass es für sie die glücklichsten Momente in ih rem Leben gewesen waren, als sie sich um Juniper kü mmern konn te. Sie hätte gern selbst Kinder g ehab t. Das hätte sie sich in der Tat seh r gewün scht.
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Wenn Jun iper sich regte, sp rang Saffy auf, streichelte die feuchte Stirn ih rer kleinen Schwester und fragte sich , welche Nebel und Dämonen ih r zu schaffen mach ten . Das Blu t auf ih rer Bluse. Das g ab wirk lich Anlass zu r Sorge, ab er Saffy weigerte sich, allzu viel darüber nachzudenken . Nich t jetzt. Percy würd e es rich ten. Gott sei Dank hatten sie Percy. Percy, die rettende Seele, die immer wu sste, was zu tun war. Juniper h atte sich wieder beruhigt, ihr Atem ging tief und regelmäßig, und Saffy setzte sich wied er hin. Ih r taten die Beine weh von der An spannung des Tages, und sie füh lte sich ung ewöhn lich ersch öp ft. Aber sie wollte n icht schlafen : In dieser Nacht hatte sie schon gen ug seltsame Ersch einun gen gehabt. Sie hätte die Tab lette ih res Vaters nich t nehmen sollen; sie hatte einen en tsetzlichen Albtraum g eh abt, als sie im g u ten Zimmer eingedöst war. Den selben Trau m k annte sie seit ih rer Kindheit, aber diesmal war er ausgesprochen realistisch gewesen. Es mu sste an den Tabletten g elegen haben und am Whisky, an der Au fregung des Ab end s, am Gew itter. Sie war wieder ein kleines Mädchen gewesen, allein im Dachzimme r. Etwas hatte sie g eweckt im Trau m, ein Geräu sch am Fen ster, und sie war au fg estand en , u m n achzu sehen. Der Mann, der an der Au ßenwand hochgeklettert war, war so schwarz wie Pech gewesen, wie jemand, der bei einem Brand verkohlt war. Bei einem Blitz hatte Saffy sein Gesicht gesehen. Die anmu tig e, verwegene Jugendlichkeit un ter der tück ischen Mask e d es Mod ermann s. Der überrasch te Blick, das beginnend e Lächeln . Genau so hatte sie es immer geträumt, als sie no ch klein war, genauso hatte ih r Vater es in sein em Bu ch b esch rieben . Die List des Moderman ns war sein Gesicht. Sie hatte etwas in die Han d geno mmen , wu sste nicht meh r, was, und hatte es ihm mit voller Wucht auf den Kopf geschlagen . Sein e Aug en hatten sich vo r Ver wun derung g eweitet, und dann war er gestürzt. War an de r Hauswand hinuntergerutscht und sch ließ lich im Grab en versunken, wo er hingehörte.
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An einem an deren Ort in dieser Nacht, in ein em Nachbardorf, d rückte eine Frau ih r Neugeb o renes an sich und fu h r sanft mit dem Daumen über seine pfirsich weiche Wange. Ihr Eheman n wü rd e erst viele Stunden sp äter n ach Hau se ko mmen , mü de v on seiner Nachtwache, und die Frau, imme r noch benommen von der plö tzlichen und trau matischen Geburt, wü rde die Einzelheiten bei einer Tasse Tee erzählen, von der Fahrt im Bus zu r Arbeit, von d en plötzlich ein setzenden Wehen, d er Blutung un d der pan ischen Ang st, dass das Bab y sterben könnte, dass sie sterb en kön nte, dass sie ih ren neu geb orenen Sohn nie wü rd e in den Armen halten können; und dann würde sie erschöp ft läch eln , zärtlich, und ku rz innehalten , u m sich d ie Trän en ab zuwischen , die ih r Gesicht wär mten, und sie wü rd e ih m von dem Engel erzählen, der n eben ih r am Straß enrand ersch ien en war, sich neben sie gekniet und ihr Kind gerettet h atte. Und es sollte eine Familiengeschichte werden, immer wieder erzählt u nd weitergegeben, in regnerischen Nächten a m Kamin zum Leben erweckt, heraufbeschworen , um Streit zu sch lichten , und bei Familien feiern wiedergeg eben . Und d ie Zeit würde verstreichen , Monat um Monat, Jahr um Jahr, Jahrzehnt um Jahrzehnt, bis am fünfzigsten Geburtstag jenes Kindes seine verwitwete Mu tter von dem g epo lsterten Stu hl am En de des Restau ranttisches au s zu sah , wie seine Kin der einen Toast au sb rachten und die Geschich te des Engels no ch einmal erzählten, der das Leben ihres Vaters gerettet hatte und ohn e den keiner von ihn en existieren würde. To m Cavill zog n icht mehr mit seinem Regiment in die Sch lacht n ach No rdafrika. Zu d em Zeitpunk t war er b ereits to t. Tot und begrab en, kalt in der Erde von Schloss Mild erhurst. Er starb, weil die Nacht regnerisch gewesen war. Weil ein Fen sterladen heru nterhing. Weil er einen guten Eindruck machen wollte. Er starb, weil viele Jahre zuvor ein eifersüchtiger Ehemann seine Frau mit einem anderen Mann in flagranti ertappt hatte. Lang e Zeit erfu hr nieman d etwas davon. Da s Gewitter verzo g sich, der Wasserspiegel sank, und der Cardark er-Wald b reitete seine schützenden Flügel üb er Schlo ss Mild erhu rst
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aus. Die Welt vergaß To m Cav ill, und alle Frag en nach seinem Sch ick sal v erlo ren sich in der Zerstö run g und den Trümmern des Krieges. Percy schrieb ih ren Brief, der die endgültige, entsetzliche Unwah rheit enthielt, die sie ih r gan zes Leben q uälen sollte. Saffy schrieb einen Brief, in dem sie au f die Stellung als Kindermädchen verzichtete - Juniper brauchte sie, was blieb ih r üb rig? Flugzeu ge flogen über das Schloss hinweg, der Krieg war aus, der Himmel klarte au f, die Jahre vergingen in steter Monotonie. Die Sch western Blyth e wu rd en alt und zu einem Ku rio su m i m D orf. Legenden begannen, sich um sie zu ranken . Bis eines Tages eine junge Frau zu Besuch kam. Sie war verwandt mit einer anderen, die vor langer Zeit dort gewesen war, und die Mauern be gan nen zu flü stern, weil sie sie wiedererkannten. Percy Blythe begriff, dass es an der Zeit war. Fün fzig Jah re h atte sie an ih rer Last getragen, jetzt war es an der Zeit, sich d avon zu befreien und Tho mas Cavills Akte end gültig zu schl ießen. Die Geschich te wü rde endlich zu einem Ende ko mmen . Das tat Percy und beau ftragte die ju nge Frau, das Richtig e damit anzu fan gen . Dann blieb ih r nu r noch eins zu tun. Sie versammelte ih re gelieb ten Sch western u m sich und sorgte dafür, dass sie tief schliefen und träumten. Und dann en tzün dete sie ein Streichho lz, in der Bibliothek , wo alles angefangen hatte.
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Epilog Seit Jahrzehnten wird der Dachbod en als Lagerrau m benutzt. Nichts als Kartons und alte Sessel und uralte Druckerzeugnisse. Das Gebäude selbst beh erbergt einen Verlag, und d er sch wache Geruch n ach Pap ier und Tinte h at sich in den Wän den und Böd en festgesetzt. Es ist das Jah r 1 9 9 3 . Die Renovierung hat Mo nate in An sp ruch geno mmen , aber jetzt ist sie en dlich abgeschlo ssen . Der Schutt ist weggeräu mt, die Wand , die irg end wann jeman d errichtet h atte, um au s dem zu gigen Dachbod en zwei Räume zu machen , ist abgerissen, und zu m ersten Mal seit fün fzig Jahren hat der Dachboden in Herbert Billings viktorianischem Haus in Notting Hill ein en neuen Mieter. Es klop ft an der Tü r, wo rau fhin eine junge Frau vom F ensterbrett springt. Es ist beso nders breit, wie gesch affen dafü r, es sich d ort gemü tlich zu machen . Sie fühlt sich von d e m Fen ster angezogen. Die Woh nung liegt nach Süden, sod ass sie immer Sonne hat, beso nders im Ju li. Sie mag d en Blick üb er den Garten, d ie Straße en tlang , und es mach t ih r Spaß, die Stare zu füttern, die sie seit einiger Zeit regelmäßig besuch en. Sie wu ndert sich über die merk wü rd igen dunk len Flecken au f der Fen sterbank, die fast wie Kirsch fleck en au sseh en u nd trotz d es frisch en weißen Lack s du rchschimmern . Als Edie Bu rchill die Tü r au fmacht, stellt sie üb errascht und erfreut fest, dass ihre Mutter sie besucht. Meredith hält ih r einen Geißblattzweig hin und sagt: »Der wuchs an eine m Zaun , und ich k onnte nicht wid erstehen , dir ein en mitzubrin gen. Nichts b rin gt so viel Leben in ein Zimmer wie Geißblatt, find est du n icht auch? Hast du ein e Vase?« Edie hat k ein e, noch nicht, aber sie hat eine Idee. Ein Glas, so wie sie früher benutzt wu rden , um Marmelade einzukoch en, ist wäh rend d er Renovierungsarbeiten aufgetaucht und steht jetzt neben dem Waschbecken . Ed ie füllt das Glas mit Wasser, steck t den Zweig hinein und stellt das Glas au f die Fen sterbank , wo es von der Sonne beschien en wird . »Wo ist Dad? «, fragt sie. »Hast du ihn h eute nicht mitgeb rach t? « »Er h at Dickens en tdeckt. Bleak House.«
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»Wen n das so ist«, sagt Edie, »ich glaube, dann k ann st du ihn für die nächste Zeit ab sch reiben .« Meredith lan gt in ih re Tasche, zieht ein en Stapel Blätter herau s un d wedelt da mit üb er dem Kop f. »Du hast es fertiggestellt!«, sagt Edie und klatsch t in d ie Hände. »Allerdings.« »Un d d as ist mein Exemplar? « »Ich habe es extra binden lassen.« Breit lächelnd nimmt Edie das Manu sk ript von ihrer Mutter entgegen. »Glückwunsch - d u h ast es geschafft!« »Ich wollte eigentlich warten, bis wir un s mo rg en sehen «, sagt Meredith und errötet, »aber ich mö ch te, dass du es als Erste liest.« »Das will ich doch ho ffen! Wann mu sst du zu m Un terricht? « »U m d rei.« »Ich begleite dich nach un ten «, sag t Ed ie. »Ich will Theo no ch b esuchen.« Edie h ält ih rer Mutter die Tür auf. Sie will ihr schon folgen, als ih r no ch etwas ein fällt. Sie ist sp äter no ch mit Ad a m Gilbert verabredet, um mit ih m au f die Neuerschein ung des Modermann bei Pippin Book s anzu stoßen , und hat ihm v ersprochen, ih m ihre Erstausg abe von Jane Eyre zu zeigen . Ein Geschenk von Herbert, als sie sich einv erstand en erklärt hatte, die Leitung von Billing & Brown zu überneh men. Als sie auf dem Absatz kehrtmacht, sieh t sie für den Bruchteil einer Sekunde zwei Gestalten au f der Fensterb ank . Ein en Mann und eine Frau, die sich beinahe an der Stirn berühren. Als sie einmal b lin zelt, sind sie wieder versch wunden. Nu r das Sonnenlicht ist noch au f der Fen sterbank zu sehen . Das passiert ihr nicht zum ersten Mal. Sie sieh t es am Rand ih res Blickfelds. Sie weiß, dass es nur das Spiel der Sonne au f den weiß gestrichenen Wänden ist, aber Edie ist eine Träu merin und stellt sich einfach vor, dass mehr dahintersteckt. Dass irg end wann in d er Wohn ung, d ie jetzt ih re ist, ein glückliches Paar gelebt hat. Dass diese beiden die Kirschflecken au f der Fensterbank hinterlassen haben. Dass ihr Glück in die Wände der Wohnung ged rungen ist.
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Denn jeder, d er sie besu chen kommt, sagt dasselbe, das s der Rau m eine besondere Au sstrah lung habe. Und es ist wahr. Ed ie kann es zwar nicht erklären, aber es stimmt , der Dachbod en h at tatsächlich ein e g anz besond ere Ausstrah lu ng; es ist ein g lück licher Ort. »Ko mmst du , Edie? « Meredith steckt den Kop f zu r Tü r herein, sie will au f keinen Fall zu sp ät zu dem Ku rs fü r k reatives Sch reib en ko mmen, an dem ihr so viel liegt. »Bin schon da.« Ed ie klemmt sich die Ausgabe von Jane Eyre unter den Ar m, überprüft ku rz ih r Au sseh en im k leinen Spiegel ü ber d em Waschbeck en und folg t eilig ih rer Mutter. Die Tü r schließ t sich hinter ih r und lässt die geisterhaften Liebenden wie so oft in der Stille u nd der Wärme allein zu rück.
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Danksagung Mein au frich tig er Dank gilt allen , d ie die ersten En twü rfe von Die fernen Stunden gelesen und ko mmen tiert hab en, insbesond ere Davin Patterson , Kim Wilk in s un d Julia Kretsch mer; mein er Freund in und Agentin Selwa Anthony, weil sie sich so wunderbar u m mich gekü mmer t hat; Diane Mo rton, weil sie sich die Mühe gemacht hat, die letzten Seiten du rch zuh ech eln ; und mein er ganzen Familie - den Mo rton s, den Patterson s und beson ders Oliver un d Lou is - und vielen Freund en, die es akzeptiert haben , dass ich mich so häu fig nach Schloss Mild erhu rst abgesetzt habe, und die mich ertragen hab en , wenn ich den Hüg el heruntergesto lpert kam, b eno mmen , zerstreu t u nd ein bissch en heimatlo s. Ich hab e d as g ro ße Glück, mit einem k ontinen tübergreifen den Lektoren team zusammenzuarbeiten; für ih re unermüdlich e Arbeit und endlo se Unterstützung, um Die fernen Stunden rechtzeitig in den Druck zu bringen, danke ich herzlichst: Annette Barlow und Clara Finlay bei Allen & Unwin, Australien; Maria Rejt, Eli Dryden und Sop hie Orme b ei Pan Macmillan, UK, außerdem Liz Co wen, deren u mfang reiche s Wissen mich immer w ieder verb lü fft. Gro ßen Dank schulde ich auch Lisa Keim, Judith Ke rr und den Mitarbeitern von Atria, USA, wie auch all den Verlegern für ih ren unermüd lichen Einsatz für mich und mein e Bücher. Dank auch an Robert Go rman bei Allen & Un win fü r sein e Hilfsb ereitschaft; an Sammy und Simon bei Bookhouse für die Geduld, d ie sie mit mir hatten, u nd fü r ih re Sorg falt beim Schriftsatz; an Clive Harris fü r den Hinweis, dass sich die Sp uren d es Zweiten Weltkriegs immer noch in London finden lassen, wenn man weiß, wo man suchen mu ss; an die Künstler und Designer fü r den wun derschönen Umsch lag en twu rf fü r Die fernen Stunden; an die Buchhändler und Biblio thekare überall auf der Welt, weil sie verstehen, dass Geschichten etwas Besonderes sind; und mein Dan k im An den ken an Herbert and Rita Davies. Und nicht zuletzt ein riesiges Dank eschön an mein e Leserin nen und Leser. Oh ne Sie wä re das alles nur das h albe Ver gnügen . 576
Die fernen Stunden begann mit einer einzelnen Idee: Es sollte um Schwestern in einem Schlo ss oben au f einem Hü gel gehen. Zur Inspiration dien ten mir gan z unterschiedliche Quellen: Illustration en, Foto g rafien, Landk arten, Gedichte, Tagebücher, demografische Studien, Websites zu m Thema Zweiter Weltk rieg , die Au sstellung »Children's War« im I mp erial War Museum, eigene Besuche in Schlössern und Landh äu sern, Ro ma ne und Filme au s den Dreißig er- u nd Vierzig erjahren, Gespenstergeschichten und Schau erro man e d es achtzehnten und n eunzehnten Jah rhunderts. All die Sachbücher zu nennen, die ich konsultierte, ist mir nicht möglich, ich nenne daher nur einige meiner Lieblingstitel: Nico la Beau man , A Very Great Profession ( 1 9 9 5 ) ; Katherin e Bradley-Hole, Lost Gardens ojEngland( 2 0 0 8 ) ; Richard Broad und Suzie Fleming (Hg.), Nella Last's War: The Second World War Diaries of »Housewife, 4p« ( 1 9 8 1 ) ; Ann De Courcy, Debs at War ( 2 0 0 5 ) ; Juliet Gard iner, Wartime Britain I939~I945 ( 2 0 0 4 ) ; Juliet Gardin er, The Children's War ( 2 0 0 5 ) ; Mark Girouard, Life in the English Country House ( 1 9 7 9 ; dt.: Das feine Leben aufdem Land: Architektur, Kultur und Geschichte der englischen Oberschicht, Campus-Verlag 1 9 9 4 ) ; Susan Good man, Children of War ( 2 0 0 5 ) ; Vere Hodgson, Few Eggs and No Oranges: The Diaries of Vere Hodgson 1940—45 ( 1 9 9 8 ) ; Gin a Hughes, A Harvest of Memories: A Wartime Evacuee in Kent ( 2 0 0 5 ) ; Nor man Longmate, How We Lived Then: A History of Everyday Life in the Second World War ( 1 9 7 1 ) ; Raynes Minns, Bomber & Mash: The Domestic Front 1939-45 ( I 9 8 8 ) ; Jeffrey Musson, The English Manor House ( 1 9 9 9 ) ; Adam Nicolson , Sissinghurst ( 2 0 0 8 ) ; Virginia Nicolson; Singled Out ( 2 0 0 7 ) ; Miranda Seymour, In My Fathers House ( 2 0 0 7 ) ; Ch ristoph er Simo n Syk es, Country House Camera ( 1 9 8 0 ) ; Ben Wick s, No Time to Wave Goodbye ( 1 9 8 9 ) ; Sandra Koa Wing, Our Longest Days ( 2 0 0 7 ) ; Mathilda WolffMö nckeberg , On the Other Side: Letters to My Children from Germany 1940—1946 ( 1 9 7 9 ; dt.: Briefe, die sie nie erreichten, Hoffmann & Campe 1 9 9 2 ) ; Philip Zieg ler, London at War 1939-1945 ( 1 9 9 5 )
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