dtv
London im Jahre 1999. Der Archäologe und Museumsdirektor Dr. David Lambert erhält die Nachricht, daß H. G. Wells’...
386 downloads
1529 Views
3MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
dtv
London im Jahre 1999. Der Archäologe und Museumsdirektor Dr. David Lambert erhält die Nachricht, daß H. G. Wells’ berühmte Zeitmaschine zurückgekehrt ist. Von Neugier getrieben, begibt er sich auf eine abenteuerliche Zeitreise ins Jahr 2500 – nicht ohne die Hoffnung, auf diesem Weg auch seine Geliebte zurückzugewinnen. Doch das London der Zukunft ist zu einem tropischen Dschungel geworden. Pumas und Tukane hausen in der verfallenen und menschenleeren Stadt, und in der Themse tummeln sich Piranhas und Haie. Was ist geschehen? Puzzlestein für Puzzlestein sammelt Lambert im Schutt der Ruinen und setzt ein beklemmendes Bild vom Untergang der menschlichen Zivilisation zusammen. »Eine spannende und romantische Hommage an die klassischen Zukunftsromane, ein zeitkritisches Abenteuer, bemerkenswert klug und elegant.« (Frankenpost)
Ronald Wright wurde in England geboren, studierte in Cambridge und lebt heute in Port Hope, Ontario. Seine Geschichte Amerikas aus der Sicht derer, die von Columbus entdeckt wurden, und seine Reiseberichte haben breite Anerkennung gefunden. Für ›Die Schönheit jener fernen Stadt‹ erhielt Wright zahlreiche renommierte Auszeichnungen, darunter: The David Higham Fiction Prize, Sunday Times (UK) Book of the Year, New York Times Book Review Notable Book of the Year, Globe and Mail Editor’s Choice.
Ronald Wright
Die Schönheit jener fernen Stadt Roman Deutsch von Lutz-W. Wolff
Deutscher Taschenbuch Verlag
Von Ronald Wright ist im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen: Hendersons Speer (24384) Für Janice Und für Max
Ungekürzte Ausgabe Oktober 2005 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München www.dtv.de © 1997 Ronald Wright Titel der kanadischen Originalausgabe: ›A Scientific Romance‹ (Alfred A. Knopf Canada, Toronto 1997) © 1998 der deutschsprachigen Ausgabe: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen Umschlagbild: © F. B. Regös Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten Druck und Bindung: Druckerei C. H. Beck, Nördlingen Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany • ISBN 3-423-20841-4
Was zählten die Opfer, die beim Vormarsch der Maschine von ihr zerstört wurden? War sie nicht auf dem Weg in die Zukunft? Emile Zola, La Bête Humaine, 1894
Wenn du der Träumer bist, bin ich dein Traum. Doch wenn du wachen willst, bin ich dein Wille und werde mächtig aller Herrlichkeit und ründe mich wie eine Sternenstille über der wunderlichen Stadt der Zeit. Rainer Maria Rilke, Das Stundenbuch, 1905
INHALT
Teil I Ein Brief aus der Vergangenheit 9
Teil II Nach London 97
Teil III Das schottische Stück 251
Teil IV Tithonus 355
TEIL I EIN BRIEF AUS DER VERGANGENHEIT
1 Eine Flaschenpost. Oder wenigstens eine Diskette in einem alten Honigglas. Ich hoffe, du findest sie, Bird. Ist aber sicher kein echtes Problem. Muß ja auffällig genug sein, in meinem Kielwasser. Eine Botschaft vor allem für dich, aber vielleicht auch für andere. Mach damit, was du willst. Ein Stück geistiges Eigentum für dich als Geschenk, neben den anderen Dingen, die ich dir hinterlasse. Du wirst von meinen Rechtsanwälten hören (gefällt dir wahrscheinlich nicht besonders, der Satz), aber keine Sorge, was sie zu sagen haben, bringt dir nur Vorteile. Vor allem natürlich die Wohnung. Manches von dem, was jetzt folgt, dürfte dir schon bekannt sein, aber ich dachte, ich hinterlasse lieber einen kompletten Bericht, für den Fall, daß du ihn als Beweismittel brauchst, oder für eine eventuelle Veröffentlichung. Entschuldige, was ich über dich schreibe, und über Anita. Du bist der einzige von uns, der noch übrig ist, Bird. Ich habe dir vergeben, und Anita sicher auch. Vielleicht hast du uns nicht vergeben. Das mußt du selbst wissen. Sei nachsichtig, wenn dir das eine oder andere falsch erscheint, oder unfair; aber du sollst ruhig erfahren, wie ich die Dinge sehe (gesehen habe?). Ich will ein ehrlicher Geist sein. 13
Einiges von dem, was ich dir erzählt habe, seit ich in deinem Leben wieder aufgetaucht bin, war nicht ganz zutreffend. Ich habe dich mit Erwartungen hier hinaus an die Themsemündung gelockt, die so nicht eintreffen werden. All die viele Arbeit, bloß damit ich verschwinden kann. Naja, nicht ganz; dir bleiben ja meine weltlichen Güter. An meinen Freund Charles Gordon Parker. Der Name kommt mir immer noch komisch vor. Hat deine Mutter in der Nacht, als du empfangen wurdest, wirklich Charlton Heston in ›Khartoum‹ gesehen? Oder war sie ein Bebop-Fan, wie du Anita erzählt hast? Aber wer hat denn 1967 in Millwall noch Bebop gehört? Andererseits gibt es wohl kaum jemand, der weniger wie Charlton Heston ist als du – und das meine ich als Kompliment. Um eine Frau wie Anita zu kriegen, braucht man mehr als ein gewinnendes Lächeln. Und bloß mit deiner Musik hast du sie auch nicht so lange gehalten, auch wenn du das damals gedacht hast. Anita hat vielleicht so getan, als wäre sie ein richtiger Jazz-Freak, aber es hat sie nicht wirklich interessiert. Das wußten wir beide. Du hast selber zu mir gesagt, sie könnte Buddy De Franco nicht von Mr. Acker Bilk unterscheiden. Jazz war für sie bloß so eine Marotte, genau wie diese lächerliche Pfeife. Bloß du hast darüber nie Witze gemacht. 14
Ich wußte gar nicht, daß sie dir die Pfeife damals geschenkt hatte. Ich hab’s erst gesehen, als sie mit deiner Handvoll Erde zusammen in ihrem Grab landete. Das war schön von dir, Bird. Anita hat an ein Leben nach dem Tode geglaubt (das tun wahrscheinlich alle Ägyptologen). Ich seh sie förmlich da unten sitzen, neben Osiris, und die Unterwelt mit Borkhum Riff vernebeln. Seltsam, daß wir uns im ersten Jahr in Cambridge nie begegnet sind. Vermutlich hast du einfach sämtliche Seminare geschwänzt. Aber wahrscheinlich haben wir doch in denselben Kneipen gesessen und sind auf denselben Parties gewesen. Wenn wir Geld hatten, waren wir in der Rose, sonst eher im Loco. Aber damit wir uns kennenlernten, brauchten wir diesen Südafrikaner mit seinem verrosteten alten Jaguar. Den konnte er sich auch bloß leisten, weil er uns mit seinen miesen Lithographien von Haustür zu Haustür geschickt hat. Es muß im Juni 1986 gewesen sein. Erinnerst du dich noch an den dicken Polizisten, der uns gestoppt und mit seiner Taschenlampe auf die Sitze geleuchtet hat, aus denen die Sprungfedern rauskamen? Ist das Ihr Fahrzeug, Sir? Glauben Sie, der hält mein Gewicht aus? Und der Südafrikaner mit seiner arrogantesten Stimme: Sie dürfen’s gerne probieren, Officer. Aber den Kapstadt-Akzent hörte man trotzdem. 15
Dann hat sich der dicke Typ auf die verrostete Karosserie geworfen, und die ausgebesserten Stellen haben geknirscht, aber es ist nichts gebrochen. Anita saß hinten zwischen uns und wurde richtig hochgeschleudert. Sie saß ganz senkrecht auf ihren herrlichen Haaren. Im Licht der Natriumlampen sahen sie aus wie flüssiges Gold. Du dagegen ganz dunkel, mit schwarzer Lederjacke und Krawatte. Wie ein Eisvogel, der auf seinem Ast lauert. David, das sind Anita und Bird. Also, eigentlich Charlie Parker. Und Saxophon bläst er auch. Du kannst von ihm lernen! Bird ist gepflegt und erfolgreich. Nicht ganz so charmant wie unsere schöne Anita, aber beinahe. Er hat im Spiegel gegrinst, weil die Karosserie gehalten hat und der Polizist uns laufen lassen mußte, und wir haben uns auf die Zungen gebissen, um nicht zu lachen. Wahrscheinlich hat er bloß nach Anita geschielt. Hat versucht, einen Blick aus ihren Augen zu erhaschen. Ach, Bird, sie hatte so herrliche Augen! Nicht wie die Südsee mit Riffen und Palmen, sondern blau, grün und grau wie die Nordsee oder wie der Atlantik. Vierzehn Jahre ist das jetzt her, Bird, und trotzdem sind die Bilder immer noch plastischer und heller als die Lithographien, die wir damals verkauft haben. Aber ich muß weitermachen; ich schulde dir eine Erklärung. Du 16
wirst mit einem Glas Bitter und einem Sandwich-Paket in der Hand aus dem King Canute kommen und mein »frühes Tauchboot« suchen … Und was dann? Was wirst du sehen? Eine Fata morgana? Auf den Wellen tanzende Elmsfeuer? Ich weiß es auch nicht genau. Aber was du siehst, wird sicher genügen, um dich davon zu überzeugen, daß der folgende Bericht der Wahrheit entspricht. Ich hoffe, du hast daran gedacht, den Camcorder laufen zu lassen. Damit hast du wenigstens eine Chance, auch ein paar andere Leute zu überzeugen. Die Geschichte, in die ich dich verwickelt habe, begann im Sommer 1988 nach unserem Examen. Du bist aus Cambridge weggegangen. Ich bin geblieben und habe weiter Archäologie gemacht. Ich wollte noch promovieren. Im Juni wurde ich einundzwanzig und konnte das Erbe meiner Eltern antreten. Ich verpachtete die Farm, und das genügte, um eine Universitätslaufbahn zu verfolgen. Ich glaube, der Grund dafür war vor allem, daß Anita weitermachte. Aber es hatte mich auch der Ehrgeiz gepackt. Ich war bei Skeffington in Alexandria gewesen, und dort hatte mich gebissen, was Anita ihre »Ratte mit den scharfen Zähnen« nannte. Damit meinte sie das neugierige, geschmeidige Nagetier aus dem chinesischen Kalender, das sich hartnäckig in die Knochen der 17
Zeit gräbt, um die berühmten Fragen Gauguins zu beantworten: Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Am Ende hat nur Anita weitergemacht mit Ägypten, wie du wahrscheinlich weißt. Dich konnten Skefs Bemühungen nicht von den Klassikern ablenken, und bei mir weckte der salzige Staub seiner Ausgrabungsstätten vor allem die Sehnsucht nach weniger kärglichen Orten. Ich träumte von bemoosten Statuen an warmen Meeren oder üppigen Tempeln im Urwald. Ich weiß noch genau, was du gesagt hast, als wir zu den Pyramiden kamen: So viel Sklavenschweiß, aufgetürmt für die Ewigkeit. So viele Opfer für die Verhandlungen mit dem Tod. Und Anita: Unsinn, Liebes. Damit kann man alles verderben. Aber du hattest natürlich vollkommen recht. Das alte Ägypten kann einen in Sachen Sterblichkeit durchaus überfordern: keine Theater, keine Sportstätten, kaum ein Palast, ja, nicht einmal Festungen, aber genügend Gräber und Begräbnisrituale, um die Menschheit bis zum Ende aller Tage damit zu versorgen. Ich wollte auf die Osterinseln oder nach Angkor, Kuelap oder Copán, bloß nicht in die Zentren der Alten Welt. Aber solche Forschungen hätten mich von Anita entfernt, und wer gibt einem heutzutage schon noch das Geld, geschweige denn die Erlaubnis, an solchen Orten zu buddeln? Im Lauf der Jahre habe ich sie noch alle 18
besucht – allerdings nicht, um zu graben (ich bin eine Art Experte für Vögel und Bäume geworden). Die unermüdlichen Reiseveranstalter haben überall Son et lumière installiert, unmittelbar außerhalb des Bildes stehen Fünf-Sterne-Hotels, und der »umgebende Dschungel« ist mit Stacheldraht eingezäunt wie ein seltenes Tier. Was sollte ich tun? Was konnte die Steinkolosse auf einer einsamen Pazifikinsel ersetzen? Woher sollte ich die Motivation für weitere Studien und vor allem ein Dissertationsthema nehmen? Die Antwort kam ganz überraschend, an einem sonnigen Nachmittag. Ich saß im Garten dieser alten Kneipe am Fluß, wo der Rugby-Club seinerzeit zu ermitteln versuchte, wie lange man ausschließlich von Bier leben kann. Du hattest Cambridge gerade verlassen, und Anita erholte sich – entschuldige, daß ich darauf zurückkomme – in aller Stille von dem bedauerlichen Zwischenfall beim Frühlingsfest. Ihr Handgelenk war verheilt, aber sie schlief immer noch unruhig und weinte nachts manchmal, ohne daß sie es merkte. Ich saß in einem Liegestuhl, tankte Sonne und Ale, beobachtete die Touristen, die auf dem Wasser herumruderten, und hörte mir ihre eigenartigen Gespräche an. Du weißt ja, wie so etwas klingt: Willst du lieber Kaffee oder vögeln? Nimm dir fünf Austern in meine Tasche, War das deine Mutter oder ein irischer Wolfshund? Erst an 19
dieser Stelle hab ich gemerkt, daß sie holländisch redeten. In diesem Augenblick kam ein Stocherkahn voller bierseliger Deutscher vorbei, die irgendein Lied über »schwedische Eisenbahnen« grölten. Trotzdem hatte ich eine Erleuchtung: Literatur und primitive Maschinen! (Das hatten wir auch gemeinsam, nicht wahr? Obwohl ich mehr für die Romantiker, für Blake und seine »satanischen Mühlen« schwärmte als für Cicero und bockige alte Motorräder.) Ich hatte meine neue Berufung: Industriearchäologie mit ein bißchen ideologiekritischem Schaum obendrauf. Vielleicht denkst du jetzt: was für ein kümmerlicher Ersatz. »Industriearchäologie« – war das nicht so, als ob man nur den kleinen Zeh ins Meer der Vergangenheit steckte, statt wirklich ganz einzutauchen? Aber die eigenartig halbmoderne Welt des späten 19. Jahrhunderts hat mich immer schon fasziniert. Ich wollte die Drachen der industriellen Revolution noch einmal so sehen, wie sie damals erschienen sind, als sie noch neu waren. Ich wollte die Träume und Alpträume nachvollziehen, die sie bewirkten. Mein Bücherregal füllte sich mit Titeln wie: ›Dampf und Dekonstruktion‹ oder ›Geschlechterrollen und Frühe Lokomotiven‹. Mit einem Schlag wurde ich mit der »Maschine als Metapher« vertraut: der Kolben als Phallus (18. Jahrhundert), die Eisenbahn als Nervensystem 20
(19. Jahrhundert), das Gehirn als Telefonzentrale (frühes 20. Jahrhundert), die Seele als Software (spätes 20. Jahrhundert) und immer weiter an der fließenden Grenze zwischen Mensch, Materie und künstlicher Intelligenz. Die Hardware machte mir allerdings echt Spaß. Die eisernen Ungeheuer der Viktorianer waren Überreste großer, unerforschlicher Wahrheiten. So schien es mir jedenfalls an diesem sonnigen Nachmittag am Ufer des Flusses. »Natürlich!« sagte Anita. »Maschinenkult! Furcht und Anbetung!« Das war in ihrer Wohnung, gegen Abend, beim Tee. Es war die schönste Zeit, die ich mit ihr hatte, der Sommer 1988. Du warst weg, und sie gehörte ganz mir – soweit sie überhaupt jemals jemandem gehörte. »Da ist natürlich an Dickens zu denken, ›Hard Times‹. Und an Zola. Laplace mit seinen Dämonen ist bestimmt auch eine Kerze wert. Und dieser Donner-und-BlitzMensch. Wie hieß er doch gleich?« Ihre Hand flog wie eine blasse Motte an ihren Hals und spielte nervös mit dem Medaillon, das du ihr geschenkt hattest. »Crosse? Ja, genau. Andrew Crosse. Freund von Kingslake. Dachte, er könnte insektenartiges Leben erzeugen, wenn er elektrischen Strom durch Stein leitete. Mary Shelley hat Vorlesungen bei ihm gehört. Goethes ›Zauberlehrling‹ nicht zu vergessen, und den Aufstand der Werkzeuge im ›Popol Vuh‹. Und dann gibt es natürlich immer noch 21
meinen Urahn, den großen William: ›Astronomye is an hard thynge, and evilforto knowe …‹ Mist! Jetzt hab ich’s vergessen. Irgendwas darüber, daß Geometrie eine Sünde ist, oder so.« Konnte Anita wirklich von Langland abstammen? Möglich war es tatsächlich. Es gibt ja Tausende Langlands. Der Mann ist schließlich vor über fünfhundert Jahren gestorben. Aber eins ist schon richtig: In ihrem Herzen hatte sie große Stücke von ihm. Was danach kam, überraschte mich mehr. Ich hatte das viktorianische Zeitalter immer als eine Epoche der ungetrübten Gewißheit gesehen, allerdings nur, solange ich Butler, Morris oder Richard Jefferies noch nicht gelesen hatte. Vor allem aber setzte Anita mich auf die Spur von H. G. Wells, dem verhinderten Naturwissenschaftler und zeitweiligen Assistenten von Thomas Huxley, dem Lehrer von A. A. Milne. 1895. Stell dir das vor! H. G. Wells veröffentlicht die ›Zeitmaschine‹. Die Tower Bridge mit ihrem stählernen Klappgebiß steht gerade erst seit einem Jahr im Londoner Nebel. In Covent Garden feiert Mabel Moll allabendlich Triumphe. Oscar Wildes ›Bunbury‹ ist ein irrer Erfolg, aber ihm selbst geht es dreckig: Gefängnis mit Zwangsarbeit, und seine Manuskripte werden ihm aus seinem Haus in Chelsea gestohlen. Auf der anderen Seite des Ärmelkanals kann sich der alternde Jules Vernes 22
daran erfreuen, daß seine jugendlichen Visionen von ›Paris im zwanzigsten Jahrhundert nach dreißig Jahren doch noch gedruckt werden. In New York wird Groucho Marx geboren, und in Abilene, Kansas, kommt Dwight D. Eisenhower in die Schule. Wie auch immer, am Ende haben sie mich tatsächlich promovieren lassen (Titel meiner Dissertation war: ›Mechanik als Methode: Ein Porträt des Ingenieurs als junger Mann‹), obwohl es zwischendurch ziemlich knapp war, als mich Anita verließ. 1993 verschaffte mir Skeffington ein zweijähriges Forschungsstipendium in Houston, was die Frage des Broterwerbs noch mal vertagte und mir Gelegenheit verschaffte, ein paar schöne vogelkundliche Reisen in Lateinamerika zu machen. Ich glaube, er hat gedacht, der Aufenthalt in Texas würde mir helfen, sie zu vergessen. Mit meiner neuen Forschungsrichtung konnte er ja nichts anfangen. Methoden, Geschlechterrollen, Diskurs … Ach, David! Glauben Sie nicht, daß dieses neumodische Zeug sehr riskant ist? Könnte doch sein, daß der ganze Kram in zwei Jahren schon ziemlich altmodisch klingt. Die Franzosen wissen genau, daß ihre Theorien eine artistische Spielerei sind; bloß die Amerikaner nehmen wieder mal alles ganz ernst. Skef ist natürlich längst emeritiert. Aber immer noch ganz der alte: kerngesund, geil und geschäftstüchtig. 23
Immer ein Auge für eine gute Figur und den eigenen Vorteil. Hat eine dreißig Jahre jüngere Frau und eine kleine Hobbyfarm in der Nähe von Cherry Hinton. Er hat ja immer eine Schwäche für dich gehabt, Bird, auch nach deinem hastigen Abschied aus Cambridge. Skef ist einer von diesen Uralt-Linken gewesen, und deshalb paßte ihm ein Cockney, der alte Sprachen studierte, gut in den Kram. Besuch ihn doch mal! Zeig ihm diesen Brief hier! Sprich mit ihm, Bird! Ihm schulde ich wahrscheinlich auch eine Erklärung. Er dachte, nach der Zeit in Houston wäre ich reif für eine Dozentenstelle am LSE oder MIT. Aber dann wurden plötzlich die Jobs knapp. Mindestens hundert Bewerbungen hab ich verschickt. Skef hatte es bald so satt, Empfehlungsschreiben für mich zu verfassen, daß er sagte, ich sollte sie selbst schreiben und seine Unterschrift fälschen. Auf diese Weise bin ich dann Kurator am Museum of Motion geworden, was ein ziemlich hochtrabender Name für die nostalgische Schrottsammlung ist, die sie aus der guten alten St. Pancras Station gemacht haben. Die frühen Motorräder würden dir vielleicht sogar gefallen: ein paar schöne Nortons, eine Scott und eine sehr seltene BSA mit Zwei-Zylinder-V-Motor von 1919 (unser jüngstes Ausstellungsstück, eigentlich sollen wir nur Sachen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ankaufen). Vor allem haben wir natürlich Lokomotiven, die 24
auf den alten Geleisen stehen wie erfrorene Kutschpferde. Naja, das meiste davon weißt du inzwischen ja sowieso, aber was jetzt kommt, kann ich dir leider erst jetzt sagen. Seit Anitas Begräbnis bin ich ziemlich verschwiegen, und das hat seinen Grund. Ende letzten Jahres, kurz nach Weihnachten, hat mich Skeffington angerufen. Völlig überraschend. Seit ich wieder in London wohne, hatten wir nicht mehr miteinander gesprochen. Ich hatte ihm nicht mal von der Stelle als Kurator erzählt. Er hat zwar viel für mich getan, aber ich hatte immer das Gefühl, daß er mich nicht ernst nahm. Ich glaube, er hat mich für ein Leichtgewicht oder einen Dilettanten gehalten. »Hallo, David! Fröhliche Weihnachten und ein gutes Neues Jahr! Schönes Millenium!« Wahrscheinlich hatte er ein bißchen zu tief in den Cognac-Schwenker geguckt. Jedenfalls hatte er Glück, daß ich den Hörer überhaupt abnahm. Normalerweise mache ich mich über Weihnachten dünn und fliege irgendwohin, wo sie keinen Christkindlterror verbreiten. Außer ihm und Anita hab ich das nie jemandem erzählt: Am Heiligabend 1978, als ich gerade elf Jahre alt war, sind meine Eltern gestorben. Sie konnten überhaupt nichts dafür, sie haben nie was getrunken. Aber der andere Fahrer war weniger rücksichtsvoll. Über zwanzig Jahre ist das 25
jetzt her, aber seitdem kann ich Weihnachten einfach nicht aushalten. Ich hätte, wie gesagt, nicht mal das Telefon abgehoben, aber ich erwartete einen Anruf von der Fluggesellschaft. Ich war gerade vom Roten Meer zurückgekommen, und dabei war mein Gepäck verlorengegangen. »David, wo sind Sie all die Jahre gewesen? Bloß gut, daß Ihre Nummer sich nicht geändert hat. Heutzutage sind die Leute so rastlos, keiner bleibt mehr an Ort und Stelle. Es ist so lange her, daß wir uns gesehen haben.« Er erzählte von Sarah, seiner neuen Frau (einer echten Trophäe, wie er durchblicken ließ), und ich von der Stelle im Museum of Motion. Er habe immer gehofft, ich würde diese unglückliche Liebe zu den technischen Spielereien der Neuzeit noch überwinden, sagte er seufzend, und mich den eigentlichen Problemen der europäischen Geschichte zuwenden. Damit meinte er das finstere Mittelalter, die barbarische Lücke. Aber das war sein Problem (seit Alexandria hatten sich seine Interessen ein bißchen nach Norden verlagert). »Mensch, David, drei oder vier Jahrhunderte zwischen dem Ende des römischen Reiches und dem Aufstieg der christlichen Herrschaft, die einfach durch den Rost gefallen sind! Ein weites Feld für die Forschung. Beowulf, König Artus, Gildas und Nennius. Reizt Sie das gar nicht?« Dann kam er zur Sache. »Arbeiten Sie eigent26
lich noch über Wells? Dann haben Sie bestimmt schon von diesem üblen Schwindel gehört, oder?« Ich hatte keine Ahnung, aber das wollte ich natürlich nicht zugeben. »Also, ich faxe es Ihnen. Sie werden es sicher sehr amüsant finden. Ich dachte immer, außer Ihnen würde sich niemand mehr für den alten Wells interessieren. Aber wie es scheint, gibt es doch jemand. Vielleicht ist es ein Konkurrent. Lassen Sie mich wissen, wenn Sie etwas herausfinden.« Ich ging zu Paper Tigers, direkt um die Ecke, und dort traf dann auch ein paar Minuten später ein ziemlich schlecht übermitteltes Fax für mich ein. Es handelte sich, wie es schien, um eine Art juristisches Dokument, das den Stempel der Rechtsanwälte und Notare Riddle & Barclay aus St. John’s Wood trug. Der Text zeigte eine zittrige Handschrift und trug die Unterschrift »Herbert George Wells«. Datiert war das Schreiben auf den 2. Mai 1946. (Das Original befindet sich zu Hause in meiner Wohnung in der linken oberen Schreibtischschublade, zusammen mit einem etwas älteren Entwurf dieses Briefes.)
27
AM 21. DEZEMBER 1999 zu öFFNEN To Whom It May Concern Bitte erlauben Sie mir, Sie gänzlich ohne Förmlichkeit anzusprechen, da ich keine Ahnung habe, welche Höflichkeitsfloskeln im Jahre 1999 üblich sein werden. Es ist mein Wunsch, daß dieses Dokument so schnell wie möglich in die Hände von jemand gelangt, der mit meiner Arbeit vertraut ist. Denn ich bin unbescheiden genug, zu hoffen, daß mein Name und meine Bücher auch an der Jahrtausendwende noch so weit bekannt sind, daß der eine oder andere junge Wissenschaftler sich ernsthaft mit meinen Werken beschäftigt. Wie auch immer, ich bitte Sie herzlich, die ungeheuerliche Geschichte ernst zu nehmen, die ich Ihnen zu erzählen habe, und ich hoffe, Sie wissen mein Vertrauen so weit zu schätzen, daß Sie Ihren Unglauben am Ende für kurze Zeit überwinden und tun, worum ich Sie bitte. (Es ist weder schwierig noch teuer oder gefährlich.) Wenn Sie das nicht versprechen können, dann lesen Sie die folgenden Seiten bitte nicht, sondern geben Sie den Brief an jemand anderen weiter. Natürlich kennen Sie die ›Zeitmaschine‹, meine wissenschaftliche Romanze, in der ich einen Zeitreisenden beschrieben habe, dem es gelingt, mit Hilfe einer Ma28
schine in die Zukunft zu reisen. Sie haben diesen Text wahrscheinlich als sozialkritischen utopischen Roman gelesen, in dem es um die Aufspaltung der Gesellschaft in arm und reich, um die Fähigkeit der Menschheit zu moralischem Fortschritt und um Gut und Böse ganz allgemein geht. Das ist natürlich alles vollkommen richtig. Aber wenn sie inzwischen nicht wieder zurückgekehrt ist (und ich bete zu Gott, an den ich nicht glaube, daß sie längst wieder da ist) oder das Geheimnis aus anderen Gründen inzwischen bekannt wurde (was durchaus sein könnte), dann wird wohl niemand, der älter als zwölf Jahre ist, auch nur einen Augenblick annehmen, daß eine solche Reise möglich ist und daß es eine Zeitmaschine tatsächlich gab. Als ich den Roman konzipierte, interessierten mich die wissenschaftlichen Einzelheiten zunächst überhaupt nicht. Die Zeitmaschine war lediglich ein technisches Hilfsmittel, um meine Ideen entwickeln zu können. Andererseits hielt ich es für klug, mich mit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen vertraut zu machen, damit ich mich nicht blamierte. Ich schrieb an Nikola Tesla in den Vereinigten Staaten, der damals mit seinen Erfindungen auf dem Gebiet der Elektrizität großes Aufsehen erregt hatte. Er hatte nicht nur den Drehstrommotor, den TeslaTransformator und hochfrequente Wechselströme er29
funden, sondern war auch ein ganz außergewöhnlicher wissenschaftlicher Visionär. Nichts erschien ihm unmöglich. So verfolgte er zum Beispiel den Plan, elektrischen Strom drahtlos über riesige Entfernungen zu transportieren, und machte unter anderem den Vorschlag, die ganze Erde zu elektrifizieren, um mit den Marsbewohnern Kontakt aufzunehmen, die er für die Urheber gewisser kosmischer Signale hielt, die seine Apparate aufgefangen hatten. Ich nahm an, daß ihn die Vorstellung einer Zeitreise interessieren würde. Der große Erfinder antwortete mir auch sehr höflich, verwies mich aber an eine seiner Schülerinnen, eine junge Wissenschaftlerin namens Tatiana Cherenkova, die ein brillanter Kopf sei und seine eigenen Leistungen gewiß bald übertreffen werde. »Schon heute«, schrieb er in seinem etwas extravaganten Englisch, »durchwandert sie geheime Bereiche weit außerhalb meiner Forschungen, und ich spüre, daß ihre Leuchtkraft meine bescheidenen Fähigkeiten längst überstrahlt. Ich wage vorauszusagen, daß diese hervorragende junge Wissenschaftlerin beispiellose Dinge hervorbringen wird, die unsere gesamte Zivilisation in Erstaunen versetzen.« Ich hielt das für typisch mitteleuropäischen Überschwang und nahm an, er wollte einfach einen lästigen Spinner (ich war ja damals bestenfalls einem kleinen Kreis von Londoner Freunden be30
kannt) an jemanden abschieben, dessen Zeit nicht ganz so kostbar und knapp wie die eigene war … Dennoch entwickelte sich eine relativ ergiebige Korrespondenz mit Miß Cherenkova. Sie teilte mir weit mehr über elektrische Felder, Gravitation, elektromagnetische Wellen und andere wissenschaftliche Theorien der damaligen Zeit mit, als ich je brauchte. Es wurde mir bald fast zuviel, und ich verwendete in meinem kleinen Roman auch so wenig davon, daß ich es nicht einmal für nötig hielt, mich öffentlich dafür zu bedanken. Aber ich schickte ihr natürlich ein signiertes Exemplar der Erstausgabe, und das arme Mädchen – sie war ja gerade erst dreiundzwanzig – bedankte sich überglücklich. Als Tesla 1897, zwei Jahre später, nach London kam, brachte er Tatiana mit, und ich verabredete mich mit ihr zum Tee. Nun ist es so (und dieser Teil meines Berichts fällt mir auch heute noch schwer, obwohl meine Leser vielleicht noch ungeboren sind, wenn ich dies schreibe), daß ich erst zwei Jahre zuvor wieder geheiratet hatte und meine zweite Frau, Amy Catherine Robbins, die ich immer nur Jane nannte, außerordentlich liebte. Aber ich war schließlich erst Anfang dreißig, und ein feuriger Geist im Körper eines schwachen Weibes hat mich noch allemal gereizt. Um es kurz zu machen: Nachdem wir monatelang beruflich miteinander zu tun gehabt hatten, 31
wurde Tania Cherenkova meine Geliebte. Ich mietete ein kleines Haus mit einer großen Werkstatt für sie – in der Nähe der Brompton Road – und half ihr in jeder Hinsicht bei ihrer wissenschaftlichen Arbeit, die jetzt eine neue und letztlich wohl tragische Richtung einschlug. Sie war besessen von meiner Idee einer Zeitreise und vertiefte sich immer mehr in die damit verbundenen technischen und theoretischen Fragen. Dabei ließ sie sich viele Tips von Tesla geben, ohne daß er je wußte, was sie im einzelnen vorhatte. Eines Tages erklärte sie dann, ihrer Meinung nach sei es möglich. Es sei, sagte sie, sehr viel einfacher, als die Leute sich vorstellten. Ja, es begann sie die Furcht zu verfolgen, es könnte ihr womöglich jemand zuvorkommen. Zunächst interessierte ich mich kaum für ihr Vorhaben. Ich dachte, es sei nur das Produkt ihrer Verliebtheit und das Fehlen von Teslas wissenschaftlicher Anleitung. An ihr selbst allerdings war ich nach wie vor interessiert. Ich gab ihr Geld (der Erfolg meiner frühen Romane erlaubte mir eine gewisse Großzügigkeit). Tesla hatte sie mit Lord Rayleigh und anderen Mitgliedern der Royal Society bekannt gemacht und ihnen gesagt, daß sie eine zweite Madame Curie werden würde (und das hätte sie vielleicht tatsächlich auch sein können). Gern stellte man ihr nicht nur die Laboratorien, sondern zum Teil auch 32
Ingenieure, Werkzeugmacher und andere Arbeitskräfte zur Verfügung. Allmählich wurde ich auch in das Projekt hineingezogen. Während ich diese Worte schreibe, hat der Mensch gerade die schreckliche Macht des Atoms gegen seinesgleichen entfesselt. Aber bis zum heutigen Tag scheint niemand zu wissen, daß es offenbar einen weitaus unkomplizierteren Weg gibt, um mit ein paar elektrischen Spulen und geeigneten Katalysatoren aus gewöhnlichen Elektrolyten gewaltige Mengen von Energie freizusetzen. Tania hatte diese ungefährliche, aber höchst ergiebige Methode entdeckt und benutzte sie als Antrieb für ihre Zeitmaschine, die sie allerdings immer nur einen »Zeitverdrängungsfeldgenerator« nannte. In Anbetracht der Richtung, die ihre Forschungen nahmen, habe ich mein ganzes Leben lang darüber geschwiegen. Aber da ich insgeheim hoffe, daß Tania noch lebt, muß ich dieses Schweigen jetzt brechen. Ich bin natürlich nie davon ausgegangen, daß sie Erfolg haben könnte. Ich habe ihr eigentlich nur deshalb geholfen, weil ich mit ihr Zusammensein wollte. Die arme Jane ahnte von alledem nichts. Ich vermittelte ihr vielmehr die Vorstellung, Tania und ich wären intensiv mit wissenschaftlicher Arbeit beschäftigt. Über ein Jahr lang pflegte ich diese Idylle und besuchte Tania mindestens einmal die Woche. Ich brachte stets Blumen und 33
Wein mit, und wenn wir eine Zeitlang an ihren Apparaten gearbeitet hatten, überließen wir uns der körperlichen Leidenschaft. Die Rolle eines braven Assistenten fiel mir etwas schwer, aber ich brachte ihr auch meine neuesten Manuskripte und Entwürfe mit und profitierte sehr von ihrem kritischen und bewundernden Auge. Wenn Sie Schriftsteller sind, wissen Sie ja, daß jeder Autor dringend Lob und Ermunterung braucht. Ohne diese Droge kann er gar nichts schaffen. (Jane las natürlich auch alles, was ich hervorbrachte, aber es war nicht ihr Lob, das ich begehrte.) Nach ungefähr fünfzehn Monaten geschah das Unvermeidliche: Meine Leidenschaft für Tania und ihre abenteuerlichen Pläne erlahmte. Ich ging seltener zu ihr. Ich verlor die Geduld mit ihren Vorträgen über das Zeitverdrängungsfeld, selbst ihr Lob für meine eigenen Arbeiten interessierte mich kaum noch. Jetzt war sie die Verrückte. Ich zog mich mit Kopf und Herz zurück. Wenn ich sie gelegentlich noch besuchte, dann allein deshalb, weil ich fürchtete, sie könnte sonst Jane über unsere Affäre aufklären oder – schlimmer noch – der Presse etwas erzählen. Silvester 1899 fand mein letzter Besuch bei ihr statt. Jane machte gerade ihr Nachmittagsschläfchen, als Tania mich anrief und dringend aufforderte, zu ihr zu kommen. Ich erkannte sofort, daß sie in höchster Aufregung 34
war. Ihre Augen brannten in einer Mischung von manischer Erregung und tiefer Furcht. Sie verlangte, ich sollte mich zu ihr auf das schmale Bett setzen, auf dem wir oft genug in ehebrecherischer Umarmung geschwelgt hatten. Diesmal hatte ich keine Blumen dabei, keinen Wein und kein Manuskript zu ihrer Begutachtung. »Ich hab’s geschafft!« sagte sie. »Der Generator ist fertig. Heute noch wird seine Jungfernfahrt stattfinden, und die Jungfrau werde ich selbst sein. Denn mit dieser Maschine ist es möglich, zurückzukehren in frühere Zustände des Daseins. Ich werde dich noch heute verlassen, H. G. Ich werde in meine Jugend und Unschuld zurückkehren.« Sie hatte den Verstand verloren, das wurde mir in diesem Augenblick klar. Sie hatte mir ja oft genug erklärt, daß jedwede Zeitreise, wenn sie denn überhaupt möglich war, nur eine Richtung haben konnte: in die Zukunft. Jede Reise in die Vergangenheit mußte, wie inzwischen jeder sogenannte »Science-fiction«-Autor weiß (oh, wie ich den Begriff hasse!) schon deshalb unmöglich sein, weil dabei unüberwindliche logische Probleme auftauchen: Der Reisende könnte ja zum Beispiel Vorfahren töten und damit seine eigene Entstehung verhindern etc. An diesem schrecklichen Nachmittag sagte mir Tania, daß sie zunächst eine Reise von genau einem Jahr ma35
chen wolle. Sie werde zur Probe vorwärts zum 31. Dezember 1900 fahren. Wenn das ein Erfolg wäre, würde sie für einen Augenblick in die Gegenwart zurückkommen und mir noch einmal kurz zuwinken. Dann wollte sie in den Dezember 1897 zurückkehren, als sie nach London kam und mich noch kaum kannte. Anschließend würde sie die Maschine zerstören und sowohl mit mir als auch mit der ganzen Zeitforschung Schluß machen. Statt eine Affäre mit mir zu beginnen, würde sie einfach mit Tesla nach Amerika zurückkehren. Ich erinnerte sie daran, wie oft sie selbst mir erklärt hatte, daß es unmöglich sei, in der Zeit zurückzugehen. Sie lächelte wie jemand mit einem großen Geheimnis. »Ich sehe das heute anders. Die Zeit ist nicht die Konstante, für die ich sie immer gehalten habe. Sie ist auch nicht linear. Sie ist abhängig von der Geschwindigkeit, mit der man sich bewegt. Ein Zeitreisender biegt die Zeit durchaus möglich, anzukommen, ehe man abreist.« Heute weiß ich natürlich, daß sie damit einige Überlegungen vorweggenommen hat, die Albert Einstein dann im Jahre 1905 veröffentlicht hat. Aber damals und unter den gegebenen Umständen klang das alles wie wirres Geschwätz. Ich flehte sie an, ihren Plan zu vergessen. Ich sagte ihr, sie brauche Erholung und Ruhe, um über alles nachzudenken. Sie solle sich eine Weile 36
zurückziehen, von mir und von London. Sie wollte nichts davon hören. Ich bat sie, die Maschine erst einmal leer oder mit einem Hund als Passagier auf die Reise zu schicken, aber sie sagte, wenn ich sie an ihrer Reise hindern wolle, müßte ich sie schon umbringen. Ganz ohne Vorsichtsmaßnahmen wollte sie sich allerdings nicht auf den Weg machen. Sie habe eine Automatik in die Steuerung eingebaut, sagte sie, die den Kurs korrigieren würde, wenn die Berechnungen des Piloten einen Fehler aufwiesen oder sonst irgendein Zwischenfall eintrat. Sie habe diesen Mechanismus so eingestellt, sagte sie, daß die Maschine genau an dieser Stelle wieder landen würde, und zwar genau in einem Jahrhundert. Warum gerade in einem Jahrhundert? fragte ich und versuchte vergeblich, sie in die Arme zu nehmen. »Weil du und ich in hundert Jahren vergessen sein werden«, sagte sie, indem sie sich losriß, »und sich niemand mehr an unsere Affäre erinnert. Außerdem setze ich natürlich auf den wissenschaftlichen Fortschritt. Im Jahre 1999 werden Zeitmaschinen eine Selbstverständlichkeit sein, und die Leute werden keine größeren Schwierigkeiten mit meinem Gefährt haben, als wir sie mit ein paar wildgewordenen Kutschpferden hätten. Sie werden mich sicher auf den Boden des nächsten Milleniums herabholen.« 37
Ich überlegte, ob ich sie zu ihrer eigenen Sicherheit niederschlagen und festbinden sollte, aber der gesunde Menschenverstand hielt mich zurück. Die Maschine konnte ja gar nicht funktionieren. Es gab also keinen Grund, Gewalt anzuwenden. Und wenn die Maschine doch funktionierte – sagte eine wenig ehrenhafte Stimme in meinem Inneren – dann war ich das Mädchen wenigstens los. Die Begleitumstände wären zwar ziemlich verdächtig, aber zumindest gab es kein Corpus delicti. Falls mich jemand fragen sollte, konnte ich jederzeit behaupten, ich hätte sie kaum gekannt und sie sei vermutlich verreist. Das wäre ja nicht mal gelogen gewesen. Die Maschine zu beschreiben, will ich gar nicht versuchen. Es sei mir nur die Bemerkung erlaubt, daß es ein ziemlich häßliches Ding war, so abweisend und massiv wie ein Panzerspähwagen. Aber wenn ich mich mit diesem Schreiben nicht vollkommen täusche, werden Sie das ja bald selbst sehen. Und ich bete und hoffe, daß Sie auch Tania bald kennenlernen. Sie wäre eine große Wissenschaftlerin geworden, wenn ich sie nicht verführt und dann zugelassen hätte, daß sie sich in einen unvorstellbaren Abgrund hineinstürzte. Was würde ich heute, an meinem Lebensende, wo ich alt und verbraucht bin, nicht darum geben, ihren Platz bei dieser Reise einzunehmen! 38
Denn die Maschine funktionierte tatsächlich. Das heißt, sie verschwand, tauchte aber nicht wieder auf, obwohl ich bis in die frühen Morgenstunden in Tanias Werkstatt wartete, ohne zu schlafen. Ich kehrte ein Jahr später zurück – mit dem gleichen Ergebnis. Ich schrieb Tesla einen vorsichtigen Brief, in dem ich ihm mitteilte, daß Miß Cherenkova spurlos verschwunden sei und die Polizei in London befürchte, sie sei vielleicht in den Fluß gefallen oder Opfer eines Verbrechens geworden. Gleichzeitig bat ich ihn, mich sofort zu benachrichtigen, falls er oder irgend jemand anderes von ihr höre. Aber man hat nie wieder von ihr gehört. Meine einzige Hoffnung ist jetzt, daß sie tatsächlich eine Notfallautomatik in ihre Maschine eingebaut hat. Es kann natürlich durchaus sein, daß sie mir das nur erzählt hat, damit ich sie nicht an der Abfahrt zu hindern versuchte. Aber es ist auch der einzige Hoffnungsschimmer, der mir am Ende dieser tragischen Geschichte verbleibt. Ein halbes Jahrhundert lang habe ich diese Schuld jetzt mit mir herumgetragen. Ich weiß, ich werde bald sterben. Wenn ich die Angelegenheit jetzt publik machen würde, müßte ich damit rechnen, daß man sie als Spinnerei eines alten Mannes abtut, der die Wirklichkeit nicht mehr von seinen Phantasien zu unterscheiden vermag. Ich werde deshalb bis zum Ende des Jahrhunderts warten, denn wenn die Menschheit ihren gegen39
wärtigen Kurs ohne größere Katastrophe beibehält, werden die Prinzipien von Tanias Maschine am Ende des Jahrtausends vermutlich bestens bekannt sein. Sollte das aber nicht der Fall sein, sollte diese Geschichte im Jahre 1999 noch genauso unwahrscheinlich wie im Jahre 1946 klingen, dann bitte ich zumindest um einen bescheidenen Vertrauensvorschuß. Was ich von Ihnen verlange, ist ja wirklich nicht viel: Begeben Sie sich am Silvesterabend in die Midnapore Mews No. 26, London, SW 3, oder, falls das Gebäude nicht mehr existiert, so weit in die Nähe wie möglich. (Den Zweiten Weltkrieg, davon habe ich mich überzeugt, hat das Haus überstanden.) Versuchen Sie auf jeden Fall, vor sechs Uhr abends einzutreffen. Sie müssen damit rechnen, bis zum nächsten Morgen zu warten. Verlassen hat mich Tania genau um 18 Uhr 44. Wenn man berücksichtigt, daß 1900 kein Schaltjahr gewesen ist, müßte sie also in den ersten Minuten des neuen Jahrtausends zurückkehren. Sie dürfen mich gern für verrückt halten, aber ich beschwöre Sie: Bitte tun Sie, worum ich Sie bitte, und retten Sie, wenn irgend möglich, das unglückliche Mädchen, das ich so jämmerlich verraten habe. H.G.W 13 Hanover Terrace 40
P. S. Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, daß die Bergung der Maschine Sie in jedem Fall reichlich für Ihre Mühe und etwaige Unkosten entschädigt. Wenn Sie ihr Geheimnis ermitteln, wird Sie das in den Rang eines Einstein erheben, und wenn ihre Prinzipien kein Geheimnis mehr sein sollten, werden Sie zumindest ein unschätzbares Zeugnis vergangener Technologie finden.
2 Dieser versteckte Appell an den Egoismus des Adressaalten H. G. Wells erwartet. Der Spaßvogel wußte Bescheid. Auch die Hinweise auf Nikola Tesla waren nicht ohne Reiz und ließen sich, bis zu einem bestimmten Punkt, überprüfen. Tesla war wirklich ein ebenso genialer wie verrückter Erfinder gewesen, der sich an allem und jedem versuchte. Einen Hinweis auf eine Tatiana Cherenkova fand ich in den mir zur Verfügung stehenden Standardwerken allerdings nicht. Normalerweise hätte ich es dabei belassen und die Sache an einen anderen Wells-Forscher weitergegeben (am besten einen, den ich nicht mochte), aber wir hatten Ferien, und die Ablenkung kam mir gelegen. Wer kann schon widerstehen, wenn er Detektiv spielen darf? Ein Blick in die Gelben Seiten belehrte mich, daß es die Kanzlei, bei der Wells seinen Brief hinterlegt hatte, tatsächlich noch gab. Aber als ich sie anzurufen versuchte, meldete sich der Anrufbeantworter: Vielen Dank, daß Sie Riddle & Barclay gewählt haben. Ihr Anruf ist uns sehr wichtig … Daraufhin rief ich Skeffington an, um herauszufinden, wo er den Brief herhatte. 42
»Na, von diesem Notar da. Joseph Riddle. Der Enkel des Burschen, bei dem Wells das Ding hinterlegt hatte. Klang am Telefon völlig echt.« »Aber warum hat er sich an Sie gewendet?« »Man soll es nicht glauben, aber der Mann hatte von Ihnen und Ihrer Arbeit gehört, David. Er hat im Internet nachgeschaut und einen Ihrer Aufsätze gefunden. Wie war das doch gleich? ›Unsichtbarkeit als Metapher‹ oder so …« »Metonymie.« »Wie bitte?« »›Unsichtbarkeit und Metonymie im Diskurs von H. G. Wells‹, in der ›Vierteljahresschrift für Bedeutung‹ …« »Ja, ja, genau. Jedenfalls wußte er gleich, daß Sie der Richtige sind. Dachte allerdings, Sie wären noch hier in Cambridge. Als er Sie nicht finden konnte, hat ihn das Dekanat an mich verwiesen.« »Hat es sonst noch irgend jemand gesehen?« »Nicht, daß ich wüßte, aber wahrscheinlich gibt es Kopien. Gehört wohl alles zu dieser Hysterie wegen der Jahrtausendwende, würde ich sagen. Warum sollte die angebliche Rückkehr dieser Tania wohl sonst in den ersten Stunden des neuen Milleniums stattfinden? Mein Gott, werd ich froh sein, wenn das in ein paar Tagen endlich vorbei ist!« Inzwischen scheint das alles schon so überholt, eine 43
mitternächtliche Leidenschaft, derer man sich am nächsten Tag schämt – dabei ist es doch alles erst ein paar Monate her –, aber damals schien wirklich die ganze Welt von einem kollektiven Chiliasmus ergriffen. Nostradamus verkaufte sich besser als Jeffrey Archer, in Wyoming wurden Rinder verstümmelt, in Melanesien blühte der Cargo-Kult wieder auf, auf den Feldern in England verbreiteten sich Kornkreise wie Herpes, in den Rocky Mountains warteten Aryanische Christen auf die Erleuchtung, die Bruderschaft der gerechten und harmonischen Fäuste tyrannisierte Hongkong, aus einem Dutzend Dubliner Kneipen wurden Erscheinungen gemeldet, vorwiegend von Finn MacCool. Während mathematische Pedanten unermüdlich versuchten, allen den Spaß zu verderben, indem sie erklärten, das neue Jahrtausend beginne »eigentlich« erst im Januar 2001. Das angebliche H. G. Wells-Dokument paßte wirklich verdächtig gut zum Zeitgeist. Skeffington vermutete, ein anderer Wells-Forscher wolle mich aufziehen, empfahl aber trotzdem, nach dem Köder zu schnappen und zu sehen, was dann passierte. Mir selbst kam noch eine ganz andere Idee: Vielleicht hatte Wells das Dokument tatsächlich auf seine alten Tage verfaßt, vielleicht war es eine mißglückte Selbstparodie oder ein indirektes Geständnis, daß er allem öffentlich geäußerten Feminismus zum Trotz doch ein 44
ganz gewöhnlicher Chauvinist war. Die schöne Tania konnte ja durchaus eine literarische Verkörperung von Rebecca West oder Amber Reeves sein. Vielleicht waren wir ja auf ein Stück authentische Metafiktion gestoßen (ein Wort, das der gute H. G. wahrscheinlich auch sehr gehaßt hätte). Es war der Nachmittag des 29. Dezember. Ich suchte die Midnapore Mews in meinem Stadtplan und fand sie auf Anhieb. Keine zwanzig Minuten von meiner Wohnung in Chelsea entfernt. Hab ich dir eigentlich erzählt, daß ich die Wohnung von meinem Vormund geerbt hab? Reverend Philip Wringham, der ältere Bruder meiner Mutter. Er war solange mein Vormund, bis er mit dem Gesetz in Konflikt geriet. Bei ihm konnte man sehr gut sehen, wo ich die blonden Haare und die großen Knochen herhabe. Sechs Jahre lang hab ich in seiner Obhut gelebt, allerdings war ich glücklicherweise die meiste Zeit im Internat. 1994 ist er gestorben, nicht einmal fünfundfünfzig ist er geworden. Pfeifenraucher. Zungen-, Kehlkopf- und Lungenkrebs. Ein Streichholz nach dem anderen hat er sich reingezogen, vom Tabak ganz zu schweigen. Nun ja, auf diese Weise hab ich die Wohnung geerbt, die du ja bald selbst sehen wirst. Sie ist ein bißchen düster, weil die Fenster nach Norden hinausgehen, aber für Londoner Verhältnisse ziemlich groß und behaglich 45
im Stil der Jahrhundertwende. Sie hat noch einen echten Kamin, und wenn man einen Maltwhisky hat, kann man den Winter schon aushalten. Als ich aus den Staaten zurück war und einen Job suchte, kam sie mir sehr gelegen, wenn ich die Erinnerungen an meine Jugend auch als sehr quälend empfand. Es ist mir nie ganz gelungen, den Pfeifenrauch und die Gegenwart meines Onkels ganz zu vertreiben. Allerdings konnte ich mich auch nie entschließen, die Räume mal tapezieren und streichen zu lassen. Wenn ich nach einer längeren Abwesenheit in die Wohnung zurückkehre, sehe ich sie jedesmal wieder mit den Augen eines kleinen Jungen. Mit den tränenlosen Augen eines kleinen Jungen, der »tapfer« sein sollte. Damals erschienen die Räume mir riesig: die altmodischen Zimmer waren wie Säle, der Flur so lang wie eine Bahnunterführung. Die Wasserrohre gluckerten in den Wänden, und dahinter hörte man Geräusche von Leuten, die man nicht kannte. Das Steckenpferd meines Onkels waren alte Spielzeugautomaten aus Deutschland. Die meisten waren natürlich verkrüppelt, konnten allenfalls noch mit den Augen rollen oder den Arm heben wie sterbende Grenadiere. Auf den ersten Blick schienen sie durchaus verlockend, aber sie waren das Spielzeug eines Erwachsenen, man durfte sie nicht berühren, und deshalb waren sie irgendwie unsauber. Die 46
Sachen sind alle noch da. Ich habe zwar daran gedacht, die besten Stücke in unser Museum zu bringen, bin aber nie dazu gekommen. Der lange Korridor wird nur von einem düsteren Lichtschacht erhellt, in dem die Tauben auf der Feuerleiter nisten. Ich hatte immer Angst vor einem Brand, weil ich mich davor ekelte, auf diese glitschigen Stufen hinauszumüssen. Ich dachte, ich würde gleich im vierten Stock abrutschen und mit zerschmetterten Knochen im Hof zwischen den Mülltonnen landen wie eine zerbrochene Puppe. Am Ende des Korridors dann das Bad mit seinen ewig tropfenden Hähnen und dahinter das »Laboratorium«, wo er seine Bunsenbrenner, Retorten und Chemikalien aufbewahrte. Das fremdartigste Ungeheuer im Herzen dieses Labyrinths aber ist eine Wimshurst-Maschine von ca. 1890. Sie steht unter einer schwarzen Samtdecke auf einem eigenen Tisch, und mit einer Handkurbel kann man ihren gegenläufigen Kupferscheiben und metallischen Bürsten ungeheure Mengen statischer Elektrizität abgewinnen. Vor Gericht wurde später gesagt, daß mein Onkel all diese technischen Apparate benutzt habe, um kleine Jungen in seine Wohnung zu locken und zu verführen. Ob das stimmt, kann ich nicht sagen, aber zutrauen würde ich es ihm schon. Ich war damals erst siebzehn, und als Verwandter brauchte ich keine Aussagen zu machen. 47
Früher bin ich gern durch die Straßen Londons gewandert, aber in letzter Zeit läßt das Vergnügen erheblich nach. Ständig zupfen einen Bettler am Arm; Spucke und Mundharmonikaklänge fliegen einem ins Ohr; hoffnungsvolle Straßenräuber verfolgen einen stundenlang, und seit die Leute ihre Chihuahuas gegen Dobermänner und Hirtenhunde eingetauscht haben, hat der Hundekot ein wirklich unangenehmes Kaliber. Vor ein paar Tagen hat mir eine zerlumpte Frau sogar ein Baby angeboten. Und das in London, der einzigen Metropole, die angeblich noch funktioniert! Trotzdem beschloß ich, einen Erkundungsgang durchzuführen – in jedem Fall eine gute Methode, um die jahreszeitlichen Dämonen zu verjagen. Das Zwielicht war zur Dämmerung geworden. Ich ging unter der Kuppel des Brompton Oratory vorbei, folgte dann einer schmalen Gasse dahinter und landete, mit dem Stadtplan in der Hand, nach ein paar kleineren Umwegen richtig in den Midnapore Mews. Was soll ich dir sagen? Die ehemaligen Stallungen waren der Traum jedes amerikanischen Künstlers. Solide Ziegelbauten, ca. 1860, mit schön gemauerten Architraven. Seinerzeit äußerst noble Unterkünfte für Pferde und Kutscher und bis vor kurzem immer noch sehr elegant. Erst in letzter Zeit hat die Einheitlichkeit des Ensembles gelitten, weil die verschiedenen Besitzer die 48
Fassaden unterschiedlich gestrichen oder verputzt haben. Alle diese Aktivitäten mußten allerdings schon einige Jahre zurückliegen. Vor zwei oder drei Häusern standen zwar noch ganz passable Autos, aber die meisten Wohnungen standen offensichtlich leer. An viele Türen waren Schilder genagelt, auf denen For Sale stand, oder To Let. Nummer 26 schien schon ziemlich lange auf dem Markt zu sein. Der Messingklopfer hatte Grünspan angesetzt, und durch eine fehlende Scheibe im oberen Stockwerk flogen die Spatzen ins Haus. Ein Besichtigungstermin konnte mit der Agentur Lomas & Hennessy vereinbart werden, wenn man Wert darauf legte. Den Modernisierungen der sechziger Jahre war das Haus zum Glück genauso entgangen wie den Schickimicki-Restauratoren der achtziger Jahre. Einige der alten Stalltüren in der Straße waren zugemauert und die ehemaligen Remisen in Ateliers oder Küchen umgewandelt worden, aber die von Nummer 26 waren noch original. Unter einer dicken Schicht schwarzer Farbe konnte man auf den Angeln noch den Namen des Herstellers lesen: Collinge, Lambeth. Seit Jahrzehnten hatte sie niemand geöffnet. Auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Haus standen zwei mit vertrockneter Erde und leeren Zigarettenschachteln gefüllte Pflanzentröge. Ich kletterte auf den 49
besser erhaltenen und warf einen Blick durch das Oberlicht über der Tür. Der dahinterliegende Raum war voller leerer Farbtuben, Flaschen und alter Zeitungen, zeigte aber immer noch das ursprüngliche Steinpflaster. Hier also hatte die angebliche Tatiana Cherenkova ihre Maschine gebaut, hier hatte sie mit H.G. Wells Wein getrunken und auf der schmalen Bettstatt erotische Spiele getrieben. Der Spaßvogel hatte einen guten Schauplatz für seine Erfindung gewählt. Die Tür war natürlich verschlossen. Aber aus dem Oberlicht hing ein dünner Draht. Irgend jemand war in das Haus eingedrungen und wohnte womöglich immer noch darin. Ich zog am Draht, und der Riegel schnappte zurück. Vorsichtig trat ich ein und rief zweimal laut: Hallo! Schweigen. Es roch nach nassen Tapeten, schmutzigen Abflüssen, Mäusen und Haarspray Auf der Treppe ins obere Stockwerk fehlte der Teppich, man sah nur die darunterliegenden nackten Holzstufen, die links und rechts noch Spuren von Grün zeigten. Im Staub auf den Stufen waren schmale Fußabdrücke zu sehen, die vermutlich von einer Frau oder auch einem Kind stammten. Oben fand ich ein Bad mit langen Rostfahnen unter den Hähnen und zwei Schlafzimmer. Im einen waren ein paar Ölgemälde auf primitive Fichtenholzrahmen gespannt (scheußliche epigonale Klecksereien im Stil des abstrakten Expressionismus). Im anderen lagen eine 50
Schaumstoffmatratze, ein Schlafsack und ein Karton mit weiblichen Utensilien: eine bestickte Handtasche, Lippenstiftreste, eine schwarze Strickjacke, weggeworfene Strumpfhosen. Die Küche war im Erdgeschoß, das Fenster ging auf einen kleinen Hinterhof und eine mit Glasscherben gespickte Ziegelmauer hinaus. Ein gußeiserner Herd, ein paar mit Draht geflickte Stühle, eine Tischplatte aus Sperrholz, die auf zwei Kisten ruhte, und in der Spüle eine wackelige Pagode aus Tellern und Tassen. Auf dem Tisch ein offenes Glas Marmelade, ein halber Laib Brot und auf einer Untertasse eine Handvoll lippenstiftverschmierter Zigarettenkippen. Die Mäuse hatten sich an den Nahrungsmitteln versucht und ihren Kot hinterlassen. Die Bewohnerin des Hauses war vermutlich kurz vor Weihnachten eingezogen und über die Feiertage verreist. Oder lagen die Dinge ganz anders? War die Bewohnerin des Hauses auch die Person, die den Brief geschickt hatte? Ich ließ alles so, wie ich es vorgefunden hatte, und ging wieder nach Hause in meine eigene Wohnung, die allerdings, wie ich dir gleich sagen möchte, auch nicht viel besser gepflegt ist. Du wirst eine Reinigungsfirma anrufen müssen, Bird, ich empfehle dir Scrubbers. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich das letzte Mal den Teppichboden gesaugt oder das Klo geputzt habe. 51
In der kurzen Zeit, wo ich bei ihr in der Belvoir Terrace gewohnt habe, war Anita ganz verzweifelt über meine Schlamperei. Du wärst immer so ordentlich gewesen, hat sie gesagt, obwohl du Musiker bist. Dabei hab ich mich wirklich angestrengt, als ich mit ihr zusammengelebt habe. Sie hatte so eine schöne, sonnige Wohnung. Ich habe das Geschirr gespült, das Bad geschrubbt, den Lorbeer geschnitten und mit Inbrunst den Müll rausgebracht. Aber sie fand trotzdem immer Flecken auf dem Geschirr oder eine Wollmaus in einer Ecke. Kein Wunder, daß sie eine so gute Archäologin war, sie hat eben auch auf die kleinsten Kleinigkeiten geachtet. Erinnerst du dich noch, wie wir einen Wagen gemietet und zu dritt in die Wüste hinausgefahren sind? Auf die Schlachtfelder? Die Straße, die von Alexandria nach Westen führte, glänzte wie Öl in der Sonne, und an jeder Raststätte steckte ein ganzes Mosaik von Kronenkorken im aufgeweichten Asphalt. Papier und Plastik wehte über die Straße, und auf dem ganzen Weg nach El Alamein lagen links und rechts der Fahrbahn zerrissene Reifen und rostige Büchsen. Jungs, meckert nicht, hat Anita gesagt, in ein paar Jahrhunderten leben wir davon, daß wir das Zeug wieder ausgraben. Archäologen kommunizieren zwar mit Göttern und Geistern, aber irgendwo sind wir auch Müllmänner. (Vor kurzem hat mich tatsächlich jemand gefragt, ob ich auf einer Müllkippe in 52
Peterborough Ausgrabungen durchführen könnte; der Bursche hatte ein Lotterielos zu früh weggeworfen!) Für Anita waren Ausgrabungen eine Art Gottesdienst, eine Methode, um die Entropie zu bekämpfen. Die Art und Weise, wie sie die Toten wieder zum Leben erweckte, war geradezu blasphemisch. Die Wände ihrer Schächte waren immer vollkommen lotrecht, die Schichten exakt erhalten, jeder Fund stand auf einem Sockel von Erde, sauber abgebürstet, numeriert und sorgfältig ausgezeichnet in ihrer zierlichen Handschrift, wenn fotografiert wurde. Wehe, wenn irgendein Sterblicher die Ausgrabung störte! Die kartoffelnasigen, rotgesichtigen Touristen, die gelegentlich in unsere Nähe kamen, ihre Kameras schwenkten und mit ihren ungeschickten Füßen Anitas Scherben verrückten oder Sand in ihre Gruben stießen, taten mir fast schon leid. Anita ignorierte sie mit so eisigem Schweigen, daß ihnen rasch das Blut in den Adern gefror. Dich ließen sie meistens in Ruhe, weil du so »einheimisch« aussahst, aber mit Anita und mir versuchten sie am Ende doch immer ein Gespräch anzufangen. Sagen Sie, Fräulein, was wollen Sie mit den Steinen da eigentlich? Ich hab mich ja nie getraut, was zu sagen, aber wenn Anita sie auf arabisch beschimpfte, haben sich die blöden Trottel dann sehr rasch in ihre Taxis verzogen. Aus irgendeinem Grund waren sie immer schrecklich beleidigt. 53
Zwei Tage später kehrte ich ungefähr um dieselbe Tageszeit zurück in die Midnapore Mews. Ich nahm ein Taschenbuch, ein Stück Pizza, eine Taschenlampe und eine Flasche McGee’s Yukon Thaw mit (ein etwas überstarker kanadischer Rum, in den ich mich unklugerweise verliebt habe). Auf diese Weise hoffte ich, sowohl den Anbruch des neuen Jahrtausends als auch das Gefühl der Frustration und Enttäuschung ertragen zu können, das mich unweigerlich überkommen würde, wenn der Abend verging, ohne daß irgend etwas passierte. Ich hatte beschlossen, genau das zu tun, was H.G. Wells verlangte. Was unter anderem daran lag, daß die konkurrierenden Angebote nicht unbedingt überzeugten: Weder die große Millenium-Gala mit Cliff Richard und Cilla Black, noch der Musikantenstadl aus Glasgow oder ›Wie ich die Geschichte zu Ende gebracht habe‹ (auf der Grundlage von Ronald Reagans Memoiren) konnten mich ernsthaft im Haus halten. Den ganzen Tag war leichter Nieselregen gefallen. In der Abenddämmerung kam Nebel auf, bedeckte die Themse und knabberte an den Dächern des West Ends. Ich stellte mich zunächst in eine Toreinfahrt am Ende der Straße, um zu sehen, ob noch irgend jemand anderes denselben Anweisungen folgte. Die Straßenlaternen schimmerten matt, ihr gelbes Licht schien aufgesaugt zu werden vom Pflaster. Ich stand wie unter einer Tau54
cherglocke im Nebel, der alle Geräusche verschluckte. Alles, was ich hörte, war mein eigener Atem und das Kratzen des Schals an meinem schlecht rasierten Kinn. Der Verkehr auf der Brompton Road schien erstorben. Selbst meine eigenen Schritte waren eigenartig gedämpft. In der Nummer 26 hatte sich eine Menge verändert: Das Oberlicht schimmerte hell, und aus dem Inneren dröhnte pulsierender Beat. Ich stellte mich auf den Pflanzentrog, um einen Blick in Tanias Laboratorium zu werfen. Der Boden war mit Matratzen und Kissen bedeckt, und der mit rötlichem Licht gefüllte Raum sah merkwürdig einladend aus. Die Künstlerin war zurückgekehrt und feierte eine Party Plötzlich erschienen zwei dunkle Gestalten im Bild, und ich ließ mich rasch von meinem Pflanzentrog fallen. Natürlich hätte ich die Sache einfach vergessen und nach Hause gehen sollen. Aber ich hatte mich schon mit ein paar ordentlichen Schlucken gekräftigt, und außerdem war schließlich Silvester! Ich klopfte also vergnügt an die Tür, als würde ich auf der Party erwartet. »Nina!« brüllte eine tiefe Stimme, als sich die Tür öffnete. »Noch einer von deinen Verehrern!« Aus einer Wolke von Hasch, Zigaretten und Weihrauch trat ein junges Mädchen hervor. Sie schien aus der Küche zu kommen. Wie in Trance bewegte sie sich zur Musik. Ihr 55
langes Haar wurde von einer mit Seidenpapier verhüllten Glühbirne rot überhaucht. Nicht nur die Haare, sondern auch ihr Lippenstift und ihre in Mascara schwimmenden Augen waren tiefschwarz, abgesehen davon war sie fast nackt. An den Brustwarzen trug sie kleine goldene Ringe. Sie schien nicht viel älter als sechzehn. Aus der Art, wie sie mich begrüßte, konnte man den Eindruck gewinnen, daß sie mich zwar kannte, aber nicht genau wußte, woher. »Willkommen auf meiner Party!« sagte sie, schlang ihren Arm um meinen Hals und küßte mich so heftig, daß unsere Zähne aneinanderstießen. Sie schmeckte wie ein Aschenbecher. »Wenn er dableibt, soll er endlich reinkommen!« schrie eine wütende Stimme. »Und macht die scheiß Tür zu!« Nina faßte mich an der Hand und führte mich in die Küche. Ich öffnete meine Tasche, zog unter allgemeinem Beifall die Flasche mit dem Rum heraus und stellte sie auf den Tisch. Der Raum war von flackernden Kerzen erhellt und mit typischen Londoner Hausbesetzern gefüllt: Retro-Freaks mit Stirnbändern und Samtjeans (du wirst dich kaum daran erinnern, die Dinger waren mal Mode, als wir noch in den Windeln lagen), drei oder vier Hell’s Queers in Lederklamotten und an der Spüle ein paar Anglo Attitudes mit Union Jack und Hakenkreuzen auf den runzligen Glatzen, die aus Marmeladengläsern 56
tranken. Die Attitudes mit ihren Tätowierungen waren ein bißchen beunruhigend. Auch der Neandertaler mit den dünnen schwarzen Linien auf dem rasierten Schädel wirkte nicht direkt tröstlich (eine Art Craquelé wie bei einem Frühstücksei, rein künstlerisch gar nicht reizlos, wahrscheinlich eine Neuentwicklung der Royal Academy). Die Frauen waren nicht so leicht einzuordnen, schon deshalb nicht, weil sie größtenteils ihre Kleider abgelegt hatten und in einem geschlossenen Kreis vor dem Herd saßen. Auf der Suche nach Feuerholz hatten die Attitudes gerade zwei Stühle zertrümmert und rissen jetzt die Bretter aus einem Regal. »Und wer bis’ du?« fragte der Eierkopf. »Professer Prune?« Er hielt mir sein Gesicht so dicht vor die Nase, daß ich seinen Körper- und Mundgeruch deutlich wahrnahm. Teils Stinktier, teils vergammelte Leber. Vielleicht habe ich wirklich ein bißchen lehrerhaft ausgesehen; außer mir trug niemand ausgebeulte Cordhosen und einen Pullover. »Ich bin David. Freund von Nina. Ich bin ein bißchen zu früh dran.« Letzteres war ein bißchen dämlich, die Party war ja offensichtlich schon eine Weile im Gange, aber ich war ziemlich nervös. Die anderen beobachteten uns sehr genau. »Ich suche jemanden. Hat sich hier jemand nach Wells erkundigt? H. G. Wells?« »Was für’n Wells?« 57
»Kenn ich nich’.« »Meinst du den Besitzer?« »Bist du etwa ’n Bulle?« »Nääh.« Eine irische Stimme. »Der ›Unsichtbare Mann‹. Den Füllm meinta.« Der Eierkopf sagte: »Der Unsichtbare Mann? Soll das heißen, der Bursche verschwindet, wenn wir ihm die Klamotten ausziehen?« Allgemeines Gelächter. »Hör mal, Kamerad«, sagte einer von den Attitudes, »wenn du hierbleiben willst, wirst du ein bißchen strippen müssen. Das hier ist eine Kostümparty.« Er zerrte an meinem Pullover. Eine fette Frau (Erdmuttertyp) öffnete den Reißverschluß meiner Hose. Innerhalb von Sekunden trug ich außer meiner Armbanduhr nichts mehr am Leib. »Ich weiß was!« schrie die Dicke. Sie rannte raus und holte eine große Handtuchrolle, wahrscheinlich aus einer öffentlichen Toilette geklaut. Damit wickelten sie mich ein, erst das eine Bein, dann das andere, wie eine Mumie. Ich wurde zu Boden geworfen und grob herumgedreht. Mein Gesicht landete kurzfristig in einer Bierlache voller ausgedrückter Zigaretten. »Den Zipfel müßt ihr draußenlassen!« schrie eine Stimme. »Und den Mund auch. Vielleicht brauchen wir seinen Mund!« 58
»Vielleicht brauche ich meinen Mund«, schrie ich und trat mit dem Fuß nach einem blassen Typen mit Hühnerbrust und narbengesprenkelten Armen, der aussah wie ein mexikanischer Jesus. »Vielleicht habe ich Lust, ein bißchen zu atmen.« »Okay, Mann. Nimm’s nicht so schwer.« Ein schlankes Mädchen aus Jamaika. Plötzlich war Nina wieder da und suchte mit ihren flackernden Augen in meinem Gesicht. Ich weiß, Bird, du hast eine Schwäche für junge Mädchen, aber du kannst dir nicht vorstellen, wie verloren, verletzlich und minderjährig dieses Kind aussah. »Ausatmen!« kommandierte sie. »Mach deine Lungen leer!« Sie zog an einer Wasserpfeife, legte ihre Lippen auf meine und füllte meinen Brustkorb mit Rauch. Dann legte sich von hinten eine Hand auf meinen Mund. »Luft anhalten, Mann! Du verlierst ja sonst alles!« Inzwischen bevölkerten die Gäste die Kissen in Tanias ehemaligem Labor, das jetzt zum Partyraum umfunktioniert worden war. Noch hatte nichts richtig begonnen. Eine große Boom-Box wummerte die neuen Hits der Oedipus Wrecks. Ich hockte auf dem Boden, lehnte mich an die Wand und träumte still vor mich hin. Es blieb mir nichts anderes übrig, als zu warten. Es trafen weitere Leute ein, und bald hatte man mich vergessen. Ich holte mir ein Glas Rum, verzog mich da59
mit in die dunkelste Ecke, trank aber nur langsam. Ich mußte ja fit sein, wenn irgendwelche Wells-Forscher auftauchten. Schließlich konnte es durchaus sein, daß einige meiner alten Widersacher ihre häßlichen Häupter erhoben. Lansing Larouche zum Beispiel, der seine Nase immer gleich in jedes Buch steckt, das ich gerade den sie den Tiefschürfer nennen. Nein, der würde nicht persönlich erscheinen, der rührte sich nicht gern von der Stelle. Aber James Clough vielleicht, der Mann fürs Grobe aus Manchester, Fachmann für frühe Untergrundbahnen. Der hatte den Wells-Brief garantiert wörtlich genommen und brachte gleich einen Krankenwagen für die zeitreisende Tania mit, wenn er auftauchte. Na, zumindest bin ich gut verkleidet, dachte ich. Wenn Larouche oder Clough hier erscheinen, erkennen sie mich in dieser Aufmachung bestimmt nicht. Ich bin tatsächlich der Unsichtbare Mann. Immer mehr nackte Körper kamen aus der Küche gezuckt, und bald war ein fröhliches Treiben im Gange: Blümchenketten, Doppeldecker, aber auch ganze Stapel von Leibern. Frauen, die mitten im Raum knieten und von allen Seiten bedient wurden, stille Slasher in den Ecken, die sich behutsam mit ihren Rasierklingen aufschlitzten. Die Musik wurde von den unappetitlichen 60
Geräuschen einer vielgliedrigen Orgie ergänzt, während der Geruch der frischen Körpersäfte sich ausbreitete. Du hättest dich wahrscheinlich sofort ins Getümmel gestürzt, aber ich hatte wieder mal Hemmungen wegen Henry IV Lohnt es sich, für einen Fick zu sterben? Nina war es offensichtlich egal, und Nina wollten sie alle. Ich sah zu, trank, lehnte verschiedene Vorschläge ab und erreichte im ozeanischen Toben der entfesselten Triebe den Vorhof einer sanften Bewußtlosigkeit. Meine Gedanken, soweit ich mich daran erinnere, konzentrierten sich mehr und mehr auf die Maschine. Ein häßliches Ding, so abweisend und massiv wie ein Panzerspähwagen. Ärgerlich knapp und ungenau war diese Beschreibung, aber sie enthielt doch den Hinweis, daß der Apparat womöglich eine Menge Schaden anrichten konnte, wenn er tatsächlich auftauchte. Würde uns das Teil erdrücken? Würden wir alle atomisiert werden? Und wenn es nun ein bißchen vom Ziel abkam und sich an einer Stelle breitzumachen versuchte, die schon von einem anderen massiven Körper besetzt war? Von einer Wand beispielsweise? Konnte das nicht eine Kernspaltung auslösen? Oder eine Fusion? Sollte ich die Leute nicht lieber evakuieren? Dann kam ich wieder zu Verstand. Vielleicht konnte man eine Zeitreise unter physikalischen Gesichtspunkten nicht vollkommen ausschließen, aber es war doch 61
vollkommen undenkbar, daß eine noch so brillante Erfindung des 19. Jahrhunderts dem gesamten 20. Jahrhundert die Schau stahl. Man brauchte sich wegen irgendwelcher technologischer Spätheimkehrer aus dem Jahre 1899 nun echt keine Sorgen zu machen. Die Orgie war beendet. Ich muß wohl etwas eingeschlafen sein. Häßliches gelbes Natriumlicht sickerte durch das Oberlicht von der Straße herein und beleuchtete erschöpfte, ölig glänzende Körper, die durcheinanderlagen wie die Opfer eines Massakers. Ein dumpfer, vibrierender Stoß durchlief das Gebäude. Man spürte ihn mehr, als daß man ihn hörte. Ein U-Bahnzug, tief unten in seiner rostigen Röhre. Aber es fuhren doch gar keine Züge. Nicht in dieser Gegend, und außerdem hatten wir einen Streik. War dieses Beben aus der Unterwelt womöglich ein Vorbote? Sagen wir, in sehr verkürzter Beschreibung dessen, was ich nicht beschreiben kann, daß ich in Panik geriet. Ich meine, ich habe nichts Überstürztes getan. Ganz im Gegenteil: Ich war wie gelähmt. Lange Zeit schien ein unsichtbares Gewicht, eine Art Inkubus, mich zu Boden zu drücken. Und in dieser Situation wuchs – mit der ganzen Kraft einer religiösen Erleuchtung – in mir die Gewißheit, daß jetzt das Undenkbare geschehen würde. Mit großer Anstrengung schob ich das Gewicht von mir 62
weg – es bedurfte dazu einer ähnlichen Überwindung wie beim Atemholen in einem Angsttraum, wenn man glaubt zu ertrinken. Ich muß in die Küche gehoppelt sein, denn dort fand ich mich wieder, die Reste der Mumienverpackung immer noch an den Beinen. Das Feuer im Herd war heruntergebrannt. Die Klappe stand offen, und einzelne Glutreste waren auf den Boden gefallen. Nur der Lichtschein des Feuers beleuchtete die Wände. Erstaunlicherweise hatte ein Drittel des hochprozentigen Rums überlebt, und ich scheine ganz genau gewußt zu haben, was ich jetzt tun mußte. Wie ein Brandstifter spritzte ich etwas Schnaps auf den Boden, trat zurück und warf ein brennendes Streichholz in die Alkoholpfütze. Blaue und orangerote Flammen schossen hoch und züngelten über die Schwelle. In Tanias ehemaligem Laboratorium wurden die Partygäste lebendig. Ich verschüttete noch etwas Alkohol im Flur und schrie: »Feuer!« Die nackten Körper sprangen auf, griffen hastig nach ihren Kleidern, rannten zur Tür und zerrten die Bewußtlosen mit sich. Ich rannte nach oben, brachte Nina ihre Sachen (sogar ihre Kunstwerke) hinaus auf die Straße und sagte, ich hätte schon eine Sirene gehört. Im Nu waren sie alle draußen. Man hörte das Klirren von Fahrradschlössern, zwei alte Autos knatterten hustend die Straße hinunter, dann herrschte völlige Stille. 63
Das Feuer erlosch. Meine Uhr, die ich meist etwas vorgehen lasse, zeigte vier Minuten nach Mitternacht. Ich knipste das Licht aus, verriegelte die Vordertür und wartete im Flur. Das einzige, was ich hörte, war das Blut in meinen Schläfen, das wie Wellenrauschen auf einem steinigen Strand klang. Es gibt nicht viel zu erzählen. Das wenige, was man sagen kann, klingt absurd. Eine Szene wie aus einem Frankenstein-Film. Ein kaltes, phosphoreszierendes Licht erfüllte den Raum. Blaue Schlangen krümmten sich an der Decke und ringelten sich an den Wänden herunter. Ich fragte mich gerade, ob sich dort vielleicht eine Alkoholwolke gebildet und jetzt neu entzündet hatte, als der ganze Raum von Kugelblitzen durchzuckt wurde. Ich war betäubt von einem Ton, den ich nicht hören konnte, von einem Krachen in meinem Inneren, von Detonationen in meinem Kopf. Eine gleißende Kugel aus Licht oder Feuer hatte sich in der Mitte des Raumes gebildet. Sie vergrößerte sich, bis sie den ganzen Raum füllte, gleichzeitig wurde sie blasser, bis sich ein dunkler, stachliger, in rasender Geschwindigkeit rotierender Körper herauslöste. Eine Art riesiger Seeigel aus Kupferstacheln, mal hart und massiv, dann wieder fast durchscheinend, schwebte unter der Decke. Aus den metallischen Extremitäten schlugen 64
wie Peitschenhiebe die Blitze. Auch der Dauerton, der all das begleitete, schien an- und abzuschwellen. Er oszillierte wie ein altes Radio, das die Sender nicht festhalten kann. Wie es schien, hatte das Monstrum Schwierigkeiten, sich in Raum und Zeit zu verorten. Heute scheint es mir, als ob meine damaligen Gedanken und Handlungen von einer rasenden Angst bestimmt worden sind. Anders kann ich mir nicht erklären, woher ich die übermenschliche Kraft und Entschiedenheit zu meinen weiteren Handlungen nahm. Als sich die Drehung der Maschine verlangsamte, erkannte ich durch Glasplatten geschützte Spulen und Schaltkreise, aber auch Griffe und Halterungen, die auf die Außenhaut aufgeschweißt waren. Irgendwie hatte ich plötzlich einen Stuhl in der Hand und schleuderte seine sperrigen Beine genau im richtigen Moment in eine wirbelnde Kabelschleife, die aus der Maschine heraushing. Die pulsierenden Blitze hörten abrupt auf. Das Ding fiel mit dem schweren Klirren einer Kerkertür auf den Steinboden.
3 Messrs. Lomas & Hennessy, Immobilien, hatten ihre Geschäftsräume in der Fulham Road, im ersten Stock eines Hauses, das unten einen Gemüsehändler beherbergte. Es überrascht daher nicht, daß im Treppenhaus ein leichter Kohlgeruch in der Luft hing. Die Maklerfirma hatte allerdings schon mal bessere Zeiten gesehen – die große Standuhr und der noble Empfangstisch stammten offensichtlich aus größeren Räumen, ebenso die Aktenschränke: massives Eichenholz mit Messinggriffen. Keiner der beiden Makler war anwesend. Lediglich ein furunkulöser Jüngling mit einer schwarzen Weste und offenem, leicht angeschmutztem weißem Hemd stand zu Diensten. Er zog das Pending heraus, blätterte in den Unterlagen und runzelte die Stirn. »Ich fürchte, die Eigentümer der Midnapore Mews sind zur Zeit nicht erreichbar«, sagte er. »Wenn Sie es eilig haben, Sir, können wir also nur zu den Bedingungen abschließen, wie sie hier festgelegt sind.« »Kann ich sie vielleicht selber anrufen?« »Ich fürchte nein, Sir. Alles, was ich hier habe, ist ein Firmenname und eine Postfachnummer auf Grand Cayman. Mr. Lomas weiß vielleicht Genaueres, aber der kommt erst in vierzehn Tagen zurück.« 66
»Was wollen Sie denn haben?« »Kauf oder Miete?« »Ich dachte an einen Mietvertrag für ein Jahr.« »Neunzehnhundertfünfzig pro Monat, plus Nebenkosten.« Er blickte auf und lächelte ein wenig servil. »Ich kenne das Objekt nicht persönlich. Muß wohl ein hübsches Haus sein.« »Nein, eigentlich nicht.« Ich machte eine bedeutsame Pause, als müßte ich noch überlegen. »Aber die Lage ist richtig. Ich werde es nehmen. Aber erst mal nur auf monatlicher Basis. Ich möchte so schnell wie möglich neue Bedingungen aushandeln.« Als nächstes schickte ich Skef ein ausführliches Fax: An: Prof. C.V. Skeffington The Bothy, Cherry Hinton Von: David Lambert 19 Oliphant Gardens, London SW10 3. Januar 2000 Schönes Neues Jahrtausend! Midnapore Mews No. 26 gibt es tatsächlich. Bin vorgestern dort gewesen, ganz wie »H. G. Wells« wollte. Ziemliche Enttäuschung! Das Haus ist leer und steht zum Verkauf. Ich bin mal reinge67
gangen (Hausbesetzer hatten die Tür aufgebrochen). Nichts als Schmutz, Nässe und Kälte. Kein Licht und kein Wasser. Ich bin trotzdem bis zur angegebenen Zeit dageblieben und habe den Beginn des Neuen Jahrtausends mit einem Taschenbuch und einer Flasche Rum gefeiert. Um drei Uhr morgens bin ich wieder nach Hause gegangen. Gekommen ist natürlich niemand – nicht einmal Clough. Wie es aussieht, sind wir einem üblen Streich zum Opfer gefallen. Es ist sicher das Beste, niemandem etwas davon zu erzählen. Sie werden wahrscheinlich nicht noch mehr Zeit mit diesem Unsinn vertun wollen, aber falls dieser Rechtsanwalt noch einmal anruft – würden Sie ihm bitte sagen, er soll mir das Originaldokument schicken? (Auf meine Kosten natürlich.) Dann könnte ich wenigstens feststellen, wann es verfaßt worden ist. Wenn es wirklich der gute alte H. G. gewesen ist, könnte man vielleicht mal irgendwo eine Fußnote daraus machen. Wenn ich das nächste Mal in der Gegend bin, komme ich Sie besuchen. Prost Neujahr! David Damit war ich nicht nur rechtmäßiger Mieter der Midnapore Mews, sondern hatte auch Skeffington abgeschüttelt. Daß die Besitzer des Hauses mich störten, war 68
wenig wahrscheinlich. Die würden bestimmt nicht so bald aus Grand Cayman herbeieilen. Ich feierte mit einer Portion Sushi bei Yoshiwara. Laß mich noch einmal auf das Erscheinen der Maschine in Tanias Laboratorium zurückkommen. Ich werde versuchen, die Ereignisse für dich zu rekonstruieren, aber was wirklich passiert ist, kann ich nicht sagen. Eidetisch hat sich mir vieles stark eingeprägt, dafür fehlt anderes völlig, wie bei einem Autounfall. Das pulsierende und schließlich ersterbende Dröhnen bei der Landung werde ich bestimmt nicht vergessen, es war wie der letzte mitternächtliche Glockenschlag aus dem Turm einer gotischen Kathedrale. Vor meinen Augen flimmerte ein Schleier aus Licht, jenseits dessen nachtschwarze Dunkelheit lag. Ich hatte große Angst, ich könnte dauerhaft blind werden (später stellte sich heraus, daß in der ganzen Straße die Sicherungen rausgeknallt waren). Ich weiß noch, daß ich in der Dunkelheit sagte: Okay. Machen wir ein Geschäft: du bist wie ein Einhorn. Wenn du an mich glaubst, dann werde ich auch an dich glauben. Bloß, um meine Stimme zu hören. Ich tastete mich an den nassen Wänden entlang zurück in die Küche und war froh, als meine Augen im Herd einen Lichtschein erkannten. Auf dem Tisch lagen Streichhölzer und eine Kerze. Nach einer Ewigkeit, so 69
schien es, ging ich damit zurück ins Laboratorium und machte Licht. Die Zeitmaschine war immer noch da. Der nächste Gedanke war, Tania zu retten. Oben auf der Maschine war eine Art Einstiegsluke mit einem großen Speichenrad auf dem Deckel. In meinem Zustand fiel es mir damals gar nicht leicht, auf den Stacheln der Maschine nach oben zu klettern und zwei Meter über dem Boden zu balancieren. Als ich das Speichenrad anfaßte, verbrannte ich mir die Hände. Ein leichtes Zischen, als der Überdruck entwich. Wegen der olfaktorischen Mischung von menschlichen und elektrischen Entladungen, die schon im Raum hingen, war ich mir nicht ganz sicher, aber die Maschine schien einen leichten Duft zu verströmen: heißes Bienenwachs, Kaminfeuer und ein blumiges, weibliches Parfüm. Der Gestank des Todes fehlte glücklicherweise vollkommen. Der Lukendeckel öffnete sich, und ich konnte ihn hochklappen. Natürlich kam es mir ein bißchen absurd vor, als ich ängstlich ins Innere rief: »Miß Cherenkova? Tania? Ist da jemand?« Ist da jemand? Drei- oder viermal muß ich diese Frage gestellt haben, wie bei einer spiritistischen Sitzung. Dann rannte ich zurück in die Küche und suchte, bis ich meine Taschenlampe fand, und kletterte mühsam wieder auf die Maschine. Meine Hände zitterten so, daß ich die Gegenstände im Strahl der Taschenlampe kaum zu 70
erfassen vermochte, aber nach und nach entstanden tatsächlich die Umrisse einer spätviktorianischen Zeitkapsel vor meinen Augen: eine Kreuzung zwischen einer Taucherglocke und einem Salonwagen mit schweren, burgunderroten Lederpolstern. An den Wänden gab es mehrere Instrumententafeln und Schalter, alle aus Mahagoni, Elfenbein, Glas und Messing gefertigt. Ich erkannte mehrere Chronometer und Potentiometer, andere Geräte und Skalen konnte ich nicht sofort identifizieren. (Wirklich schade, daß ich dir diese Dinge nicht vorführen konnte, aber dann hättest du sofort gewußt, daß es sich nicht um ein »frühes Tauchboot« handelte, wie ich dir erzählt habe.) Unmittelbar unter mir befand sich der Pilotensitz, eine schwere Eichenholzkonstruktion mit zahlreichen vernickelten Einstellknöpfen, Scharnieren und Hebeln, die an einen alten Zahnarztstuhl erinnerten. Für die Handgelenke und Fußknöchel gab es ziemlich schaurige Lederriemen, die aussahen, als ob sie auch in einer psychiatrischen Anstalt benutzt werden können. Die Lehne war nach hinten geneigt, alle Gurte waren geöffnet. Niemand befand sich an Bord. Wie lange es dauerte, bis ich mich von diesem Schrekken erholt habe, kann ich nicht sagen. Dann siegte die Neugier. Auf dem Pilotensitz lagen Kleider. Frauenkleider. Ein schwarzer Mantel aus Wolle mit Eichhörnchenkragen, ein Kleid mit langen Ärmeln, sehr schlicht, aber 71
in einem fantastischen Heliotrop, und ein paar schwarze Stiefeletten Größe 36. Das paßte in etwa zu einem Blaustrumpf des Fin de siècle. Ich beugte mich in die Maschine, fischte die Kleidungsstücke eins nach dem anderen heraus und untersuchte sie so gut es ging im Licht der Taschenlampe. Die Unterwäsche – ein elegantes Chemisette und ein Paar ziemlich frivole Spitzenhöschen aus Seide (ein Geschenk von Wells?) – war ein ganz anderes Thema. Die Sachen waren noch warm und weich, sie verströmten einen zarten, süßen Geruch und schienen in jeder Falte die Gegenwart ihrer Besitzerin anzuzeigen. Es war, als ob sie die Dinge erst vor wenigen Sekunden von ihrem Körper gestreift hätte. Über mir eine graue Scheibe. Das schwache Geräusch von Reifen auf nassem Asphalt. Im Mund der Geschmack von Galle und Schnaps. Ich hustete, sah auf die Uhr und stellte fest, daß ich den ersten Vormittag des neuen Jahrtausends bewußtlos im Inneren der Zeitmaschine verbracht hatte. Ich brauchte einige Zeit, um zu begreifen, wo ich mich befand oder zumindest zu sein schien. Erinnerungen an den Abend zuvor und eine fast schon psychotische Furcht setzten ein. Solche Gefühle sind dir ja nicht fremd, Bird. Aber es war kein Ecstasy-Trip, es war alles viel schlimmer. Der Schrecken lag darin, daß alles so 72
grausam real war. Das Normale und das Unmögliche standen sich kraß gegenüber. Ich war komplett irrsinnig. Nach ein paar Minuten kroch ich aus der Maschine heraus, wobei ich mir an den Stacheln das Schienbein aufschrammte. Der Schmerz war fast wohltuend. Ich wühlte in Ninas Küche herum, fand einen Topf und kochte mir einen Pulverkaffee. Der beste Kaffee, den ich je getrunken habe. Ich zwickte mich in die Backe, schnalzte mit den Fingern, leuchtete mir mit der Taschenlampe in die Pupillen und hielt mir ein brennendes Schwefelholz unter die Nase. Alle Sinne schienen zu funktionieren. Der einzige Hinweis, daß ich tatsächlich verrückt sein könnte, befand sich im vorderen Zimmer. Nun habe ich mir sagen lassen, daß psychotische Zustände beim jeweils Betroffenen stets völlig überzeugende Wahnvorstellungen auslösen. Vielleicht hätte ich Grund gehabt, mich freiwillig einer Behandlung in einer geschlossenen Anstalt zu unterziehen. Aber ich mag nun mal keine Krankenhäuser. Ich beschloß, mich an den Pakt mit dem Einhorn zu halten. Das Ding sah völlig real aus, also würde ich einfach so tun, als ob es auch existierte. Du weißt, ich bin ein mißtrauischer Mensch, nicht viel anders als du. Mein Instinkt ging sofort in Richtung Geheimhaltung. Wie auch anders? Hätte ich bei einer Zeitung anrufen und einem gelangweilten Redakteur 73
erklären sollen, daß bei Nacht und Nebel eine Zeitmaschine in Brompton gelandet sei? Da hätte man mich doch bloß ins Reich der Rentnerehepaare aus dem amerikanischen Mittelwesten verbannt, die behaupten, von einer fliegenden Untertasse entführt und zu unzüchtigen Handlungen mit Außerirdischen gezwungen worden zu sein. Oder es würden ein paar Herren in Nadelstreifen erscheinen, gefolgt von Geheimdienst-Experten. Man würde mich wochenlang verhören, während die Maschine irgendwo untersucht wurde. Dann würde der Apparat zum Staatsgeheimnis erklärt und ich zum Schweigen gebracht werden. Irgendeine anonyme Autorität würde mich in die Klapsmühle einweisen, und ich konnte den Rest meiner Tage töpfern und Leserbriefe an die ›Times‹ schreiben, die niemals gedruckt wurden. Eine öffentliche Probefahrt? Verlockend, aber der Gedanke an Tanias warme, leere Hüllen auf dem Pilotensitz genügte, um mich davon Abstand nehmen zu lassen. Der Druck der Vergangenheit, Skefs Lieblingsgedanke, hallte in meinem Kopf wider. Er hat vollkommen recht: Wenn einem etwas Großes und Schönes aus der Vergangenheit in die Hand fällt, ob man nun Archäologe ist oder nicht, spürt man die Verpflichtung, etwas damit zu tun, auch wenn man nicht weiß, was oder wie man es tun soll. Und man hat immer nur eine Chance, das Richti74
ge zu tun. Denn jede Ausgrabung ist immer zugleich auch Zerstörung. In den nächsten Tagen rührte ich die Maschine nicht an, außer um sie zu vermessen und in allen Einzelheiten zu fotografieren. Zunächst hatte ich die Absicht, die Bilder irgendwelchen Experten zu zeigen, aber je klarer mir wurde, was ich da hatte und daß ich durchaus bei Verstand war, desto größer wurde auch wieder mein gesundes Mißtrauen gegenüber der Fachwissenschaft. Nach und nach wurde mir die Maschine vertrauter. Jeden Morgen, wenn ich durch die Einstiegsluke hineinschlüpfte, befand ich mich in derselben Umgebung, die vom üppigen Rot der Lederpolster, vom dunklen Mahagoni der Holztäfelung, vom Messinggold und dem Muster des Orientteppichs auf dem Boden bestimmt wurde. Einmal setzte ich mich sogar auf den Zahnarztstuhl, entzündete eine von Tanias Zigaretten und blies Rauchringe durch die Luke nach draußen. Ach ja, diese Zigaretten hab ich bisher nicht erwähnt. Abgesehen von Tanias Kleidung waren sie das einzige Persönliche, was die Kapsel enthielt. Ein Logbuch, irgendwelche Notizen, Proviant, Ausrüstungsgegenstände oder dergleichen waren nicht aufzufinden, obwohl dafür reichlich Platz war. Das einzige, was ich in einer der Taschen in Tanias Mantel entdeckte, war ein silbernes Zigarettenetui mit einem Dutzend teurer Orientzigaretten (schwarzes Pa75
pier mit goldenem Mundstück, sehr würziger, feuchter Tabak) und ein paar Zeilen von einem Gedicht auf einem eng gefalteten blaßblauen Papier. And these again, these atoms, clustered stars Of bezelled lightning, instantly conglobed As passionate molecules, atomic pairs In most material wedlock interfused Insatiably, to throng in countless swarms, Hive upon hive of radiancy insphered And whirling through immensities of space. Kennst du das? Anita hätte es bestimmt erkannt, wenn es je gedruckt worden ist; sie hatte ein fabelhaftes Gedächtnis für Quellen. Am Anfang hab ich gedacht, die Verse wären von Wells, aber es ist nicht seine Handschrift. Vielleicht sind sie von Tania. Die Erregung dieser ersten Tage wurde dadurch gedämpft, daß ich so viele praktische Aufgaben lösen mußte – das Mieten des Hauses, die ganze Geheimhaltung. Ich strich die Oberlichter mit weißer Farbe und sicherte die Türen mit Stahlblech, Schlössern und Riegeln. Die Alarmanlage diente natürlich nur der Abschreckung. Um etwaige unerwünschte Besucher im Auge zu haben, installierte ich sogar ein paar versteckte Videokameras im Inneren und über der Haustür. 76
Nach außen allerdings hielt ich den Eindruck von Verlassenheit sorgfältig aufrecht und achtete sogar darauf, daß immer ein bißchen Müll auf der Straße herumlag. Dann begann ich die Werkstatt neu auszustatten. Als erstes brauchte ich ein paar starke Scheinwerfer, dann eine Werkbank und später auch einen PC und andere elektronische Ausrüstungsstücke. Daneben las ich natürlich sehr viel. Vor allem Tesla und seine Schüler, aber auch zahlreiche neuere Publikationen aus dem Bereich der Physik und Elektromechanik. Nachträglich war ich heilfroh, daß ich in der Oberstufe die naturwissenschaftlichen Leistungskurse gemacht und den Technikern im Museum so einiges abgeschaut hatte! Ich weiß bis heute nicht, wie die Maschine funktioniert. Ich bin nicht viel weiter gekommen als ein Stammeskrieger, der aus dem Urwald kommt und einen Range Rover klaut. Er stellt fest, daß es ein Gaspedal gibt und eine Bremse, daß der Wagen fährt, wenn er auf das eine, und daß er stehenbleibt, wenn er auf das andere tritt. Er lernt, das Lenkrad und die Kupplung zu bedienen. Er kommt sogar noch dahinter, daß der Karren Benzin trinkt. Aber was ein Verbrennungsmotor und ein Getriebe, ein Zündverteiler und ein Katalysator sind, wird er niemals erfahren. Und er braucht es auch gar nicht zu wissen. 77
Tanias Apparat scheint seine Zeitverdrängung dadurch zu bewirken, daß er eine Art elektrisches Plasma wie bei einem Kugelblitz erzeugt. Kugelblitze sind komische Dinger – sie durchschlagen Gebäude, erscheinen überraschend in Flugzeugen, und wenn sie ins Wasser stürzen, bringen sie es zum Kochen, ohne dabei zu verlöschen. Manche Physiker bezweifeln diese Beobachtungen, andere zweifeln an ihren sogenannten Gesetzen. Tesla war ein genialer Autodidakt und besaß, wie er sich ausdrückte, »die Kühnheit der Unwissenheit«. Für die herrschende Meinung darüber, was möglich oder unmöglich sei, fehlte es ihm an Geduld, und was andere für interessant oder uninteressant hielten, war ihm egal. Mit Kugelblitzen dagegen hat er sich ausführlich beschäftigt – ich habe Aufzeichnungen von ihm gelesen, in denen er sogar behauptet, er hätte im Laboratorium welche erzeugt. Wells hat, bei aller Unterstützung, die er von Tania erhielt, nie erklärt, welche Antriebsformen seine Maschine benutzte. Um das Gefährt in Gang zu setzen, brauchte sein Zeitreisender bloß einen Hebel zu ziehen, dann bewegte sich die Maschine ohne weiteren Antrieb, wie ein perpetuum mobile. Die wirkliche Maschine dagegen ist den ehernen Gesetzen der Thermodynamik durchaus unterworfen. Die zurückgelegte »Entfernung« ist abhängig von der zur Verfügung stehenden Energie. 78
Die beiden mit schweren Streben an die Maschine geschweißten Zylinder enthalten jeweils einen TeslaTransformator und seine Kraftquelle, die von Wells erwähnten »Elektrolyten«. Erst dachte ich, es wären irgendwelche Batterien, aber inzwischen glaube ich, daß Tania die Erfindung der sogenannten »kalten Fusion« vorweggenommen hat, von der man heute so viel redet, ohne daß ich dir sagen könnte, wie sie eigentlich funktioniert. (Alle möglichen Regierungen zahlen eine Menge Geld für Forschungen auf diesem Gebiet, trotz aller Kritik an den Mängeln. Sogar Hitachi und Mitsubishi sind an der Entwicklung beteiligt. Vielleicht solltest du deren Aktien kaufen, Bird.) Im Prinzip handelt es sich darum, elektrische Energie zu akkumulieren und in den Transformator einzuspeisen, der hochfrequente Wechselströme von einigen Billiarden Volt erzeugt. Trotzdem zeigen die Instrumente, daß Tania nur an eine maximale Reichweite von tausend Jahren gedacht hat. An der Ewigkeit gemessen, sind das natürlich nur Peanuts. Bis ins Jahr 802.701, das Zeitalter der Eloi und Morlocks, wird es ihre Maschine nie schaffen. Die technischen Unterlagen findest du in meinem Schreibtisch. Wahrscheinlich wirst du sagen, sie sind ziemlich dürftig, aber ich kann dir versichern, daß ich Monate gebraucht habe, um wenigstens das rauszukriegen. Im Museum, wo ich mich mit Krankheit entschul79
digt hatte, konnte ich mich ja nicht mehr sehen lassen, und auch in meiner Wohnung in Chelsea war ich nur selten. Ich war viel zu besessen von meinen Forschungen und hatte ständig Angst, jemand könnte die Maschine finden, wenn ich mal nicht in den Midnapore Mews war. Meine Ersparnisse (die vor allem aus dem Nachlaß meiner Eltern bestanden) schrumpften von Woche zu Woche. Wie ich mein früheres Leben wieder aufnehmen sollte, wenn das alles »vorbei« war – darüber machte ich mir keine Gedanken. Ich war von der Maschine und ihrer Erbauerin so fasziniert, daß ich mich von allen Freunden und Kollegen abkapselte. Nicht, daß ich viele gehabt hätte. Ich scheine die Kunst der Freundschaft verloren zu haben. Ach, Bird, die spontanen Besuche, die nächtlichen Überfälle, die hemmungslosen Geständnisse – ich bin nicht mehr dazu fähig. Man hat immer so viel zu tun, man ist immer so mißtrauisch und vorsichtig. Vielleicht wird man einfach erwachsen. Wie auch immer: Freunde wie dich und Anita habe ich nie mehr gehabt. Und das ist auch der Grund, weshalb ich dich jetzt – in letzter Minute – noch eingeweiht habe (wenn auch unter falschen Voraussetzungen). Hoffentlich nutzt es dir, Bird. Betrachte es als einen Versuch der Wiedergutmachung – für Anita, für mein jahrelanges Schweigen, für alles. Ich schlief nur wenig, aß grundsätzlich nur Fast Food: 80
Döner Kebabs, Fish’n’Chips und so weiter. Die kleineren Mahlzeiten bestanden aus Schokolade und Schnaps. Ich lebte wie Carlos oder wie der Schakal. Es war genau, wie Tesla schreibt: »Ich glaube, es gibt nichts Erregenderes für das menschliche Herz als die Gefühle, die einen Erfinder ergreifen, wenn er sieht, wie das, was sein Gehirn ersonnen hat, Gestalt annimmt und den ersehnten Erfolg hat … Solche Gefühle lassen einen Mann alles vergessen: Nahrung, Schlaf, Freundschaft und Liebe.« Liebe. In Chelsea waren Frauen ein- und ausgegangen, aber an Liebe hatte ich seit Jahren nicht mehr gedacht. Anita hatte mich für alle anderen Frauen verdorben. Die nach ihr kamen, stellten nie eine Gefahr für mich dar: Sie waren älter, verheiratet oder nur auf der Durchreise. Aber wer hätte es auch mit Anitas Geist, Aussehen, Bildung, Leidenschaft und Willenskraft aufnehmen können, ganz zu schweigen von ihrer Distanziertheit, diesem erstaunlichen Katalysator, der alle anderen Eigenschaften erst zu jener einzigartigen Legierung verschmolz? Anfang April nahm ich mal eine ›Times‹ beim Zeitungshändler mit, und als ich sie in der Küche in den Midnapore Mews auf den Tisch legte, kam die Seite mit den Todesanzeigen nach oben, und da war sie:
81
LANGLAND. – Am 2. April ist nach langer Krankheit die Ägyptologin Dr. phil. ANITA HILARY FORBES, geliebte Tochter von Gen. i. R. Malcolm Forbes Langland (Royal Highland Regiment) und seiner verstorbenen Gemahlin Winifred Dolores (geb. Betancourt) aus Malvern Hills, Dominica, West Indies, im Alter von 32 Jahren friedlich entschlafen. Die Trauerfeier findet am Freitag, dem 7. April, um 14 Uhr 45 in der St.-Osyth-Kirche in Mayfair und die anschließende Beisetzung auf dem Friedhof in Kensal Green statt. Anstelle von Blumen werden Spenden an Oxfam, Survival International oder Future Heritage erbeten.
Eine »lange Krankheit«? Anita sollte krank gewesen sein? Ein langes Leiden? Warum hatte uns niemand etwas davon gesagt, Bird? Sie ist doch nie krank gewesen, hatte doch gar keine Zeit. Hatte immer Besseres zu tun. Die Nachricht hat mich am Boden zerstört. Ich weiß, es klingt albern, aber jetzt kann ich’s ja sagen: Die ganze Zeit, während ich an der Maschine arbeitete, hatte ich irgendwo in den Tiefen meines Bewußtseins die Hoffnung, ich könnte irgendwie in die Vergangenheit damit zurückkehren. Nicht etwa aus beruflichen Gründen. Die Antike mit ihrem Dreck und ihren Gefahren reizte mich 82
wenig. Hast du mir nicht mal gesagt, die durchschnittliche Lebenserwartung im Alten Rom habe etwa neunzehn Jahre betragen? Außerdem war es irgendwie unsportlich, so ähnlich wie eine Erstbesteigung des Mount Everest mit dem Hubschrauber. Nein, meine Tagträume gingen in eine andere Richtung. Ich wollte die Zeit nur ein paar Jahre zurückdrehen. Ich wollte eine zweite Chance bei ihr haben, bei Anita. Und vielleicht noch meine Eltern hindern, am Heiligabend 1978 mit dem Auto loszufahren. Albern, ich weiß, aber auch Tania hatte ja davon geträumt, mit Hilfe der Maschine das Leben zu reparieren. Das Wetter an diesem Freitag war geradezu widerlich schön, erinnerst du dich? Der Himmel war strahlend blau, die Osterglocken bohrten sich durch den Rasen, der Müll des Winters wurde von einer frischen Brise beiseite gefegt, und man hatte das Gefühl, der Bürgersteig könnte jeden Augenblick abheben. Der Weg hatte mich angestrengt, vielleicht war es die Trauer, vielleicht auch das lange Einsiedlertum in den Midnapore Mews. Ich trug eine dunkle Brille, einen alten schwarzen Anzug und einen Homburg von Onkel Phil (für den Fall, daß Skeffington kam). Ich schwitzte natürlich. Daß du dort auftauchen könntest, hatte ich nicht erwartet. Aber bei so wenigen Leuten konnten wir uns ja schlecht übersehen, nicht wahr? Warum waren es eigentlich nur 83
so wenig? Kein Ehemann, kein Lover, kaum alte Freunde. Nur diese vertrocknete alte Gestalt (ein Verwandter?), drei oder vier zerrupfte Kollegen vom British Museum (Archäologen erkennt man doch immer an ihrem gebückten Gang und dem fest auf den Boden gerichteten Blick), zwei geschmeidige Attachés von der ägyptischen Botschaft, ein paar Klageweiber aus dem Hospiz (bestimmt nicht nach Anitas Geschmack), dieser bescheuerte Pfarrer mit seiner geistlosen Predigt. Daß er ausgerechnet Goldsmith zitieren mußte! ›And still the wonder grew/That one small head could carry all she knew‹ – zum Kotzen! Der einzige, den ich kannte, warst du. Menschen verändern sich, und ich habe für Gesichter kein gutes Gedächtnis, nicht nach zwölf Jahren. Du hattest nicht mehr die Gesichtsfarbe, die ich von dir kannte. Deine Haut sah nicht mehr aus wie poliertes Mahagoni, und obwohl du noch fast alles Haar auf dem Kopf hattest, waren doch der Glanz und die Spannkraft verschwunden. Du warst so stolz auf deine Farbe gewesen. Ich erinnere mich, daß du uns in Alexandria erzählt hast, dein Urgroßvater wäre einer der Mohawk-Indianer gewesen, die Lord Kitchener eigens aus Montreal geholt hatte, um den Sudan zu erobern. Du hast gesagt, du hättest dich an den Ausgrabungen Skeffingtons, bei denen ja tatsächlich nur ein paar alte Grafitti und In84
schriften entdeckt wurden (nicht gerade der Stein von Rosetta), überhaupt nur deshalb beteiligt, weil du den Nil sehen wolltest. Richtig sicher, daß du es warst, war ich mir erst, als du Anitas Pfeife in die Grube springen ließest wie ein freigelassenes Tier. Du hast gesehen, daß ich es bemerkt hatte. Es ist immer grausam, wenn man die Schrift der Zeit und der Schwerkraft in einem Gesicht sieht: Du warst plötzlich eine andere Generation, und ich war (wie du es zartfühlend ausdrücktest) ein schrecklicher Anblick. Minutenlang bin ich vor dem offenen Grab stehengeblieben und habe den Duft eingesogen, es war die erste frische Erde, die ich in diesem Jahr gerochen habe. Ich hatte gehofft, wir könnten danach noch über Anita und alles andere reden, aber du bist jedesmal völlig versteinert und hast nur in dein Bier gestarrt, wenn ich das Thema anzuschneiden versuchte. Es gab nicht gerade viel, worüber du reden wolltest, nicht wahr? Es tut mir wirklich leid, daß die Dinge in den letzten Jahren nicht so gut gelaufen sind für dich, Bird. Du sahst nicht mehr wie ein Eisvogel aus. Dein Rücken war krumm, und deiner Stimme hörte man’s auch an. Dein Cambridge-Akzent war verschwunden, du schienst wieder völlig zum Cockney geworden zu sein. In unserer Vergangenheit gibt es eine dunkle, verschlossene Kammer, die wir durchleuchten und auslüf85
ten müssen: Anita. Ich hab’ sie dir nicht »weggenommen«. Und ich hab sie auch nicht lange behalten (insgesamt nicht mehr als zwei Jahre, weniger als du). Es war ihre Entscheidung. Bitte sag nicht, den Toten die Schuld zuzuschieben, sei leicht und nicht gerade gentlemanlike. Ich will doch nur, daß du weißt, wie es war. Wenn du diese Zeilen liest, werde ich von dieser Welt genauso weit weg sein wie sie. Schuld ist sowieso nicht das richtige Wort. Anita war keine Frau, der man Schuld geben konnte. Sie war sich nur selbst verantwortlich, wie eine Katze. Sie bewegte sich auch wie eine Katze. An Wintertagen folgte sie in ihrer Wohnung der Sonne. Am Nachmittag lag sie dann mit einem Taschenbuch in der Wanne unter dem Westfenster, und der Sonnenuntergang umrahmte ihr Haar mit einem rotgoldenen Heiligenschein. Bei jemand anderem wäre solche hemmungslose Autonomie unerträglich gewesen, aber bei ihr wirkte sie so natürlich, daß sie ohne diesen Egoismus nicht die Frau gewesen wäre, die wir beide geliebt haben. Oder besser: Die wir beide lieben. Einen Teil der Schuld trifft natürlich Skeffington und die miese Stimmung bei seiner Ausgrabung. Nachdem du abgereist warst, wurde alles noch schlimmer, und vieles von dem, was danach geschah, ist nur zu verstehen, wenn man weiß, wie es damals in Alexandria war. 86
Ich habe Skeffington immer bewundert und betrachte ihn heute noch als meinen Freund, aber wenn er in die Wüste kam und auf der Ausgrabungsstätte den Herrn im Haus spielte, wurde er ganz unerträglich. Sein Sinn für Humor vertrocknete wie ein Wasserloch in der Sonne. Er war wie besessen: nervös, kleinlich und professoral. Seine endlosen Vorträge waren entsetzlich. Am schlimmsten war es, wenn er in seiner Djellabah zum Abendessen erschien. Er dachte, er sähe wie Lawrence of Arabia aus, mich hat er immer an den Hirten aus dem Krippenspiel erinnert. Warum war er bloß mit dem Essen so geizig? Archäologische Exkursionen sind ohnehin schon spannungsgeladen genug – Dampfkochtöpfe voller Eifersucht und brodelnder Hormone, auch ohne daß man acht oder neun junge Leute auf halbe Ration setzt. Ich erinnere mich noch, wie sich unsere Blicke jeden Abend an der Platte mit Falafel festklammerten, die Latif neben der zischenden Lampe abstellte. Immer hofften wir, daß die Zahl sich leicht teilen ließ, und wenn das zweifelhafte Fleisch und der knappe Reis herumgereicht wurden, beobachteten wir uns gegenseitig wie Pokerspieler im Wilden Westen. Wir waren chronisch ausgehungert wie arabische Hunde. Dazu noch die unvermeidliche sexuelle Spannung, und schon gab’s Ärger. Wann immer ich konnte, stopfte ich mich mit den Erdnüssen voll, die ich 87
den Beduinenmädchen abkaufte. Und prompt kam Anita zu mir ins Zimmer, küßte mich schwesterlich auf den Mund und flüsterte: David, ich bin so scharf auf deine Nüsse. Niemand war überrascht, als du dich mit Skef gestritten hast und abgehauen bist. Er hatte es nicht besser verdient. Allerdings wußte keiner von uns, daß du auch einen Krach mit Anita gehabt hattest. Ich war der einzige, dem sie es erzählt hat, und das auch erst später. Gott ist mein Zeuge, daß ich dagegen gekämpft habe, Bird: Ich hab schon die bloße Möglichkeit ihrer Liebe geleugnet. Es schien so völlig undenkbar. Es schien so einfach, den Status quo zu erhalten: du und Anita ein Paar (und für mich schon fast ein Ersatz für eine Familie) und ich der solide Eckpfeiler in unserem pythagoräischen Dreiecksverhältnis. Isolation ist für jemanden wie mich der natürliche Zustand. Man durchbricht sie nicht leichtfertig, wenn man weiß, daß die Einsamkeit bei ihrer Rückkehr noch schwerer zu ertragen sein wird als zuvor. Du brauchst kein Archäologe zu sein, um zu wissen, daß nichts und niemand ewig lebt. Wußtest du eigentlich, wie sehr ich dich beneidet und bewundert habe? Nicht nur wegen Anita. Ich habe dich auch um deine alte Mutter beneidet, um deinen Schwung und deine Lässigkeit, deinen East-End-Witz und das kühle Bewußtsein, daß dir die Welt alles schul88
dig sei (bei mir hatte ich immer das gegenteilige Gefühl). Ich habe dich darum beneidet, daß du unehelich warst – das war irgendwie schick (und ein Elternteil war tausendmal besser als gar keins). Vor allem hab ich dich um deine Musik beneidet, die wie ein unerschöpflicher Reichtum aus einem tiefen, gefährlichen Abgrund hervorqoll. Wenn nachmittags bei der Siesta der Wind richtig stand, konnten wir dich draußen in der Wüste hören, wie du wunderbare Klangteppiche webtest. Und als du abgereist warst, wurde die Wüste plötzlich öde und langweilig. Ich erinnere mich noch an den Abend in den Drei Weisen Affen, als du dein Saxophon rausgeholt und zu der Bauchtänzerin auf die Bühne gestiegen bist, um ein bißchen Charlie Parker und Sidney Bechet in die Vierteltöne und klatschenden Trommeln der arabischen Combo zu mischen. Anita war so begeistert und stolz auf dich, daß sie innerlich glühte und ein Licht auf ihrer marmorweißen Haut erschien, wie ich es nie zuvor gesehen hatte. Sogar den schmierigen Barbesitzer hast du bezaubert, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, daß er gebildeten Touristen den Eindruck vermittelte, in seiner Bar sei Lawrence Durrells ›Alexandria-Quartett‹ entstanden. Ich erinnere mich aber auch, wie du morgens um zwei betrunken an ihre Tür im Lager gepocht und gebrüllt hast: Laß mich rein. 89
Ich hab ’ne Flasche Wein, und den Arsch hab ich mir auch gewaschen. Anita war tagelang sauer, aber heimlich hat sie es geliebt, daß du so ein Satan warst. Du warst genauso zum Mitgefühl fähig wie sie, allerdings war das eine viel zu persönliche Sache, als daß du sie jemals gezeigt hättest. Später, als du weg warst, hat mir Anita erzählt, was du für Awad getan hattest, den ägyptischen Arbeiter, dessen Tochter so krank war. Niemand hat davon gewußt, und du hast es nicht anders gewollt. Wir hatten schon miteinander geschlafen, als sie es mir erzählt hat, aber in jeder anderen Hinsicht waren wir völlig loyal, sind es immer geblieben. Laß uns die guten Tage nicht vergessen, Bird! Laß uns die Sonnenuntergänge in Pharos und die abendlichen Kutschfahrten in die Stadt nicht vergessen. Weißt du noch, wie sie den Geruch der Pferde geliebt hat? Wie gemütlich es war, wenn wir eng aneinandergeschmiegt auf dem ungezieferverseuchten Sitz saßen? Nachdem du gegangen warst, hat Skeffington das Portemonnaie ein bißchen weiter aufgemacht, aber seine üble Laune und die magere Verpflegung trieben Anita und mich immer noch bei jeder Gelegenheit in die Stadt. Ganze Abende lang saßen wir mit salzigen und fettigen Fingern unter den palmenförmigen Messinglampen und den ausgestopften Krokodilen,. futterten Krabben und gebratene Wachteln und ließen kühles 90
Bier durch unsere Kehlen strömen. Und nach dem Essen griff sie regelmäßig zu ihrer Pfeife und ließ duftende Haschwölkchen über die braunen Fotos mit Straßenszenen aus der Zeit vor dem Krieg und gerahmten Versen von Cafavy treiben: Eine Haut von Jasmin in der Nacht … Ein Abend im August … war es wirklich August? Ich kann mich kaum noch erinnern … Diese Augen, diese herrlichen Augen … Nun ja, es war wirklich August. Die Exkursion stand kurz vor dem Ende. Nur ein Fehlstart in unserer Beziehung, eine vorzeitige Blüte im Treibhaus der Situation, aber nicht ohne Folgen. Du warst seit drei, vier Wochen weg – wahrscheinlich warst du schon in Khartum. Trotzdem erkannte ich nicht, daß sie mir freie Bahn lassen wollte. Ich redete mir ein, ich sei dabei, euch zu helfen. Ich half euch dabei, wieder zusammenzufinden, dachte ich. Ja, das war ziemlich naiv. Aber glaub mir, es schien ganz unvorstellbar – und dann war es plötzlich zu spät. Daß Anita mich wollen könnte, hielt ich für genauso wahrscheinlich wie eine Erhebung in den Adelsstand. Später – in Cambridge – erschien es dann völlig logisch, so logisch wie eine langsame Kollision zwischen Schiffen, die sich nicht ausweichen können. 91
Eine Woche vor dem Ende der Ausgrabungen wanderte sie mit mir hinaus zu dem deutschen Panzerwrack in der Wüste, um den Sonnenuntergang zu betrachten. Merkwürdig, wir waren so tief im alten Ägypten versunken, aber am meisten haben mich die roten, verrosteten Panzerwracks in den Dünen beeindruckt. Gestrandete Krustentiere, sauber und fleischlos, obwohl die Männer, die darin verbrannt waren wie Ketzer auf dem Scheiterhaufen, durchaus noch in der Erinnerung lebten. Wir redeten davon, wie es sein würde, wenn wir wieder nach Hause zurückkamen. England! sagte sie. Curry, giftgrüne Erbsen, Autobahnen und verwischte Turner-Himmel. Monatelang keine Blumen, außer in den hängenden Gärten von Babylon. Und Bird. Was um Himmels willen soll ich mit dem guten Bird machen? Weder sie noch ich sahen die braune Korkenzieherwolke am Horizont, die vom Himmel herabwirbelte. Die Chamsin-Saison war ja seit Monaten vorbei. Die erste Warnung war der Sand in unseren Augen. Wir wandten uns vom Sonnenuntergang ab, und als wir uns umdrehten, war der Himmel vor uns so schwarz wie das Blut einer frischgeschlachteten Ziege. Der Sturm zog unglaublich schnell auf. Wir rannten los, aber es war schon zu spät. Das Panzerwrack war ungefähr drei Kilometer von unserem Lager entfernt. Wir konnten die Augen nicht öffnen und stolperten blind über Büsche 92
und Steine. Einmal traten wir auf etwas Weiches. Es erhob sich Geschrei. Allah! Allah! Wir waren über eine Gruppe Beduinen hinweggestürmt, die sich unter ihren Decken in einen Wadi geduckt hatten. Wir rannten noch ein paar hundert Meter weiter, dann begriffen wir, daß es aussichtslos war. Wenn wir überleben wollten, mußten wir das gleiche tun wie die Araber. Zum Glück hatten wir auch eine Decke dabei, denn die Stahlplatten des Panzers konnten in der Sonne sehr heiß werden. Wir fanden einen schmalen Graben, legten uns zwischen zwei Felsen auf die Seite und breiteten die Decke über uns. Selbst in diesem Schutzraum war die Luft von unerträglich heißem Staub und Sand geschwängert, der überall eindrang, unsere Ohren wie ein Stundenglas füllte und in der Feuchtigkeit unserer Münder und Nasen zu Lehm wurde. Bald wurde es unmöglich zu sprechen. Ich werde nie den würgenden Geschmack vergessen: salzig, abgestanden, tot und doch lebendig, so als enthielte dieser Staub die ganzen zehntausend Jahre ägyptischer Zivilisation, seit der erste Samen gesät und der erste Ochse ins Joch gespannt wurde. Türkische, arabische und römische Knochen; ptolemäische Mumien von Katzen, Schakalen und Menschen; Fleisch- und Natronmoleküle; Müll aus dem Alten und dem Neuen Königreich, Böden aus prädynastischer Zeit; Überreste von Alabaster, Fayencen, Lehm 93
und Kleidern; fossile Blütenpollen von Pflanzen, die gelebt und geatmet hatten und irgendwann durch die Gedärme von Pharaos, Fellachen und Ziegen gerutscht waren. Es war, als ob die Erde, in die wir uns den ganzen Sommer hineingewühlt hatten, jetzt gegen uns aufgestanden wäre, um uns zu begraben. Und wenn der Sturm noch ein bißchen länger gedauert hätte, wäre es womöglich auch so gekommen, denn der Sand drückte unsere Decke zusammen und drohte uns mit der zunehmenden Last zu ersticken. Später haben wir erfahren, daß uns die Beduinen, über die wir gestolpert waren, in ihrer Angst für Dschinns gehalten hatten. Die Ägypter redeten noch wochenlang von dem Sandsturm, den sie für ein böses Vorzeichen hielten. Seit den Zeiten der Pharaonen war der Nil jedes Jahr über die Ufer getreten und hatte seinen Schlamm so vorhersehbar verteilt, daß sie ihre Felder nach dem Kalender bestellten. Aber seit der AssuanDamm gebaut worden und das alte Bündnis mit dem Fluß gekündigt worden war, vertrocknete der Schlamm in Nubien und wurde vom Wind weggetragen, und das Land wurde salzig. Das Geschenk der Götter wurde den Ägyptern entzogen, weil sie den Versuch gemacht hatten, es unter ihre Kontrolle zu bringen. Eine Temperaturveränderung weckte uns. Die Hitze war verflogen, und kalte Nachtluft strömte unter die 94
Decke wie ein erfrischender Bach. Wir schoben die Sandmassen von uns herunter, und die Sterne schauten herab. Die Luft war so klar, daß man die Lichter von Alexandria, die sonst eine große Dunstglocke illuminierten, kaum sah. Wir niesten, schlugen uns den Staub von den Kleidern, untersuchten unsere Schrammen und Kratzer, sangen und lachten und tanzten, wie betrunken von unserer Befreiung. Dann sanken wir zwischen die Felsen und liebten uns im Sand bis zum Morgen. Die Ausgrabungen wurden beendet, und die große Ägyptenrundfahrt, die wir zu dritt geplant hatten, machten wir jetzt zu zweit. Anita erkletterte jeden Pylon, stieg zu jedem Sarkophag hinunter, übernahm mehrmals ohne Zögern das Ruder einer Feluke, übte vergnügt ihr Arabisch und wehrte lachend die Männer und Knaben ab, die sie voller Ehrfurcht und Gier zu begrapschen versuchten, sobald ich den Kopf wandte. (Ein Mann in Karnak bot mir dreitausend Pfund für Anita; ein Mann in Kom Ombo bot ihr zweihundert für mich. Die Leute hatten klare Preisvorstellungen.) In Luxor stachen uns Flöhe, in El Amarna wurden wir von Wanzen gepeinigt. In Memphis versuchte uns ein junger Amerikaner ein Mumienbein zu verkaufen, er brauchte dringend Geld für den Heimflug. Diese heimliche Frühblüte unserer Liebe dauerte genau einen Monat. Dann mußten wir nach Cambridge 95
zurückkehren und unser Studium fortsetzen, als wäre nichts gewesen. Mit kleinen Bemerkungen zeigte sie mir, daß sie es nicht ernst meinte. Untreue nach einem Streit: zählt nicht. Mann woanders: zählt nicht. Im Ausland: zählt nicht. Wir brauchen also kein schlechtes Gewissen zu haben. Reisen erweitert den Horizont. Anita war nicht bereit, mir zu sagen, was den Bruch mit dir herbeigeführt hatte. Sie war nicht bereit, dich zu verraten. Was wohl auch bedeutete, daß sie dich keineswegs aufzugeben bereit war. Bitte nimm dieses Geständnis so, wie es gemeint ist. Wir dürfen uns über das Andenken Anitas nicht streiten, sondern müssen glücklich sein, daß wir sie gekannt haben. Aber was haben wir schon von ihr gewußt? Hast du jemals irgendwelche Familienangehörigen oder Freunde außerhalb unserer Clique kennengelernt? Ich nicht. Alles, was sie mir je erzählt hat, war, daß ihre Eltern schon ziemlich alt seien und auf einem Landgut auf der Insel Dominica lebten – alter Plantagenadel. Nach England kamen sie nie; ihre Mutter litt unter Flugangst, und ihr Vater konnte das Klima nicht vertragen. Selbst seine alljährliche Wallfahrt zu Lord’s hatte er aufgegeben. Wenn sie nicht in Cambridge war, wohnte sie bei einem älteren Cousin, einem ehemaligen Verleger, in Wimbledon Common. Auch den habe ich nie 96
kennengelernt, ich habe mich nie danach gedrängt und wurde auch nicht eingeladen. Vielleicht war das diese eigenartige Gestalt in der Kirche. Jedenfalls niemand, zu dem man hingehen und sagen konnte: Ich kannte Ihre Cousine. Sie war mal meine Geliebte. Wie ist sie gestorben? Es schien immer unmöglich, mehr über sie zu erfahren, als sie bereit war, dich wissen zu lassen. Als ich sie kennenlernte, fiel mir gleich auf, daß sie mich ausfragte, von sich selbst aber gar nichts erzählte. Ich nahm mir vor, sie das nächste Mal reden zu lassen, aber das gelang mir fast nie. Sie redete zwar, und es war ein Vergnügen, wenn man ihr zuhörte, aber sie erzählte nie etwas von sich selbst. Und wenn sie mal etwas erzählte, dann war es ganz beiläufig und schien zu den anderen Eindrücken nicht recht zu passen, so daß man nie ein zusammenhängendes Bild gewann. Bei einem Widerspruch hab ich sie allerdings auch nie erwischt. Ihre Gegenwart mußte genügen – sie war wie ein ungewöhnliches Kunstwerk, Herkunft unbekannt. Ich weiß nicht, ob ich dir das erzählen sollte, es ist so intim, aber die ganze Zeit über, als wir zusammen waren, hat sie mich nie beim Vornamen genannt, wenn wir allein waren. Sie sagte immer nur Mr. Lambert. Am Anfang, glaube ich, wollte sie damit sagen, daß unsere Affäre zwischen Fremden stattfand, daß das Hier und Jetzt nicht zählte und wir keinen Verrat an dir übten. 97
Aber zugleich war es von starker erotischer Kraft, so als ob man in Kleidern Sex hatte. An dem Tag, als sie mich wieder David nannte, wußte ich, daß ich sie verloren hatte. Sie verließ mich im Jahre 1990 und ging zum zweiten Mal nach Ägypten. Ihre Auskünfte über das Grabungsprojekt waren recht vage (es waren irgendwelche Deutschen beteiligt), und wie lange es dauern würde, sagte sie auch nicht. Solange ich noch dort war, kehrte sie nicht mehr nach Cambridge zurück. Jedenfalls habe ich sie nicht gesehen und auch nichts von ihr gehört. Obwohl unsere Beziehung schon zwei Wochen vorher zu Ende gegangen war, brachte ich sie nach London zum Flughafen. Warum sie mich verlassen hat, weiß ich bis heute nicht, aber vielleicht weißt du ja mehr. Im Lauf der Jahre hab ich mir oft vorgestellt, daß ihr zwei euch versöhnt und sogar geheiratet habt. Ich schrieb Briefe nach Luxor, in die Oase Dakhla, nach Heliopolis und nach Assuan. Zwei Postkarten kamen. Die erste war verletzend, nicht ganz ihrer würdig (wenn auch nicht unkomisch): ein sonniger, levantinischer Strand, eine israelische Briefmarke und dazu der Vermerk: Topless in Gaza. Mit Dave. Nehme täglich die Pille. Keine Unterschrift. Irgendwie hoffte ich immer, das war eine Fälschung, die »Dave« mir geschickt hat (wer immer das gewesen sein mag). Die zweite war echt Anita: 98
der unvollendete Obelisk von Assuan, der größte Monolith, den die Ägypter je zu errichten versucht haben, zerbrochen im Steinbruch liegend, dem Mutterleib, der zugleich auch sein Grab wurde. Und auf der Rückseite drei Worte aus dem Totenbuch, drei Worte von Aten: Ich bin Gestern, in der grünen Tinte, die sie so mochte. Sag mir eins, Bird, wenn wir uns in der nächsten Welt treffen: Hat sie dich Mr. Parker genannt, wenn ihr allein wart?
4 Vier Wochen später bin ich mit frischen Blumen auf dem Friedhof gewesen und habe gesehen, daß jemand (du?) Nymphea-Lotus und Vergißmeinnicht hingestellt hatte. Außerdem war ein Grabstein aufgestellt worden. Truth telleth that love is May no sin on her be seen
the treacle of heaven who useth that spice
Es heißt, die Liebe sei Manna vom Himmel; niemand soll Schuld an der finden, die solche Speise gewährt. Nur Anita konnte sich so einen Grabspruch ausgedacht haben. Und niemand anderes hätte es wohl gewagt, die Verse ihres Vorfahren so locker zu variieren. Anitas Tod hatte die Faszination, die vom Geheimnis der Zeitmaschine ausging, relativiert, der Bann war gebrochen. Ich unterbrach meine fieberhafte Arbeit in den Midnapore Mews und bemühte mich herauszufinden, wo Anita zuletzt gelebt hatte und wie sie gestorben war. Der Vikar von St. Osyth war zu keinerlei Auskunft bereit. Nicht einmal den Namen des Beerdigungsinstituts wollte er nennen, bis ich herausfand, daß er meinen Onkel Phil gekannt hatte (möglicherweise auch im fleischlichen Sinne). Das lockerte ihm die Zunge. Die 100
Leute von der »Trauerhilfe« schickten mich zu einer Ärztin in der Harley Street – einer Frau Dr. Six (falls du selbst auch versuchen willst, mit ihr zu reden). Ich sage »versuchen«, weil sie nicht gerade sehr nett war. »Woher wissen Sie meinen Namen?« war ihre erste Frage. »Ich kann unmöglich über meine Patienten mit Ihnen reden. Das muß Ihnen doch klar sein.« Sie kam mir vor wie eine dieser energischen, arroganten Internatsleiterinnen, die schon als kleine Mädchen Klassenälteste waren. »Ich will Sie ja gar nicht verleiten, gegen Ihre Schweigepflicht zu verstoßen, Frau Doktor«, sagte ich. »Aber es gibt medizinische Gründe für meine Frage. Persönliche medizinische Gründe.« »Wenn Sie damit andeuten wollen, was ich vermute, was Sie andeuten wollen, dann ist es Sache Ihres Hausarztes, mit mir Kontakt aufzunehmen und umgekehrt. Ihre Vorgehensweise ist höchst ungehörig.« Dann fing sie an, die Papiere auf ihrem Schreibtisch zu ordnen. Sie hatte sehr kräftige, männliche Hände und trug keinen Ehering. An den Wänden hingen zahlreiche Fotos von Segelbooten und stürmischem Meer, dazu die Frau Doktor mit zerzaustem Haar, klaren Augen und Öljacke. »Ich hab keinen Hausarzt. Bin seit Jahren nicht mehr beim Doktor gewesen – nicht mehr, seit ich in Cam101
bridge studiert habe. Der Mann ist längst im Ruhestand, nehme ich an.« Sie erklärte sich bereit, mir einen Termin zu geben, am nächsten Dienstag, außerhalb ihrer Sprechstunde, privat. Sie empfing mich in ihrer Praxis, einem sonnigen Regency-Arbeitszimmer mit Chintz-Vorhängen und einem großen Marmorwaschbecken in einer Ecke. Ich sagte ihr, daß ich mich seit Monaten nicht mehr wohlgefühlt hätte und daß die Symptome – Schlaflosigkeit, Antriebsschwäche, gelegentlich Durchfall – immer auffälliger würden. Das war ja nur allzu wahr. Dann fragte ich sie erneut nach Anita, aber darauf ging sie erst gar nicht ein. »Ich habe mich bereit erklärt, Sie zu untersuchen. Mehr nicht.« »Hören Sie, ich bin jahrelang mit Anita Langland zusammengewesen. Wenn sie an AIDS gestorben ist, haben Sie die Pflicht, mich zu informieren. Darf ich also davon ausgehen, daß es nicht AIDS war?« »Na schön. Ich kann Ihnen bestätigen, daß Ms. Langlands HIV-Test negativ ausgefallen ist.« Ihre Augen waren müde und traurig, so als wäre sie früher freundlich gewesen, diese Freundlichkeit aber durch Erfahrung erschöpft worden. Ich stand auf, um zu gehen, aber sie bestand darauf, mich zu untersuchen. Sie schien entgegenkommender zu werden, so als ob die Neugier stär102
ker wäre als ihre Verachtung. »Ich habe mich bereit erklärt, Sie zu untersuchen, also werde ich Sie auch untersuchen. Außer den Dingen, die in der Zeitung stehen, gibt es noch ein paar andere Sachen. Könnten Sie sich jetzt bitte freimachen und hinlegen?« Sie hörte mich ab, klopfte und betastete mich, ließ sich aber zu keinerlei Erklärung herab. Monatelange Vernachlässigung, schlechte Ernährung, Überarbeitung und Sorgen hatten ihre Spuren bei mir hinterlassen. Sie ordnete verschiedene Untersuchungen an: Blutproben, Urinproben, Stuhlproben, Tomographie, alles mögliche. Kein Befund. Sie sagte, ich sollte mich besser ernähren, Sport treiben, Vitamine schlucken und Mineralien. Insgesamt habe ich sie in diesem Frühjahr dreimal besucht. Jedesmal wurde sie etwas offener. Wie es scheint, ist Anita vor ungefähr einem Jahr aus Ägypten zurückgekommen, wo sie an der amerikanischen Universität in Kairo gelehrt hat. Sie hatte Untergewicht und war sehr schwach, außerdem neigte sie zu kataleptischen oder kataplektischen Anfällen (keiner dieser Fälle wurde klinisch beobachtet). Sie wurde auf drei verschiedene Arten von Gelbsucht, ein Dutzend Tropenkrankheiten und natürlich auch HIV untersucht. Es wurde nichts außer ein paar harmlosen Parasiten gefunden, den üblichen Myrmidonen von Kleopatras Rache. Dennoch verfiel sie immer mehr und konnte bald nicht mehr für sich selbst 103
sorgen. Im November kam sie ins Krankenhaus. Fünf Monate später war sie nicht mehr am Leben. Zuletzt wog sie gerade noch dreißig Kilo. Es tut mir leid, Bird. Das alles ist für mich genauso schmerzlich wie für dich. Aber ich dachte mir, du willst es auch wissen. Das Schlimmste ist, daß sie begonnen hatte, den Verstand zu verlieren. Dr. Six wollte sich nicht eingestehen, daß sie keine Ahnung hatte, worum es sich handeln könnte, nicht den Schatten einer Diagnose. (Das war vielleicht auch die Ursache für ihre Feindseligkeit.) Das einzige, was ihr einfiel, war eine bisher unbekannte Form des HIV-Virus, die sich mit den bekannten Untersuchungsmethoden nicht nachweisen ließ. Anita hatte ihr von der Bluttransfusion erzählt, nach dem schrecklichen May Ball im Juni 1988 in Cambridge. Damals wurden die Blutkonserven noch nicht überprüft, was bedeutet, daß wir vielleicht schuld sind an ihrem Tod. War es meine Schuld, weil ich dich niedergeschlagen habe? Oder deine, wegen der Axt? Oder war Anita selbst schuld, weil sie den Arm hob? Mein Gott, warum mußten wir uns wie Barbaren benehmen? Ich weiß noch, was Anita sagte, als sie aus dem OP kam und ich mich zu entschuldigen versuchte: Vergiß es. Vergeßt es beide. Wir Menschen sind nun mal Barbaren, und wir werden auch nie etwas anderes sein. Aber kann das eine Entschuldigung sein? 104
»Ich glaube, wir müssen uns darüber im klaren sein«, sagte Dr. Six bei meinem letzten Besuch, »daß wir in einer Zeit leben, wo einige Krankheiten – wirklich nur einige wenige – sich auszubreiten scheinen, die sich schneller verändern, als wir sie zu erkennen und zu behandeln vermögen. Manche Mikroben sind dem medizinischen Fortschritt immer ein paar Schritte voraus.« Sie zeigte auf einen Stapel medizinischer Fachzeitschriften auf ihrem Schreibtisch. »Um Streptokokken der Gruppe A zu behandeln, braucht man heute eine Dosis Penicillin, die zweitausendmal stärker ist als zur Zeit der Erfindung des Penicillins. Wenn es einem überhaupt noch gelingt, sie unter Kontrolle zu bringen. Deshalb bin ich gern übervorsichtig, wenn ein Patient Symptome mit unspezifischer Ätiologie zeigt. Vor zehn Jahren hätte ich nicht viel Schlimmeres als chronische Übermüdung, Pfeiffersches Drüsenfieber oder Gelbsucht vermutet … Aber diese Zeiten sind vorbei. Ich möchte, daß Sie mit mir in Kontakt bleiben. Es geht Ihnen jetzt schon viel besser als bei Ihrem ersten Besuch, und ich bin neunundneunzig-Komma-neun-Prozent sicher, daß es wirklich nur Übermüdung war. Aber wir dürfen dieses Zehntel Prozent nicht aus dem Auge verlieren, nicht wahr? Ich möchte Sie wirklich herzlich bitten, sich gelegentlich bei mir zu melden.« Das war nicht gerade beruhigend. 105
Ich fühlte mich keineswegs sehr viel besser, und die Erklärungen und Versicherungen von Dr. Six stimmten mich mißtrauisch. Im Juni und Juli waren zweimal Nachrichten von ihr auf meinem Anrufbeantworter. Sie bat mich um Rückruf, was ich ignorierte. Ich war wieder völlig mit der Zeitmaschine beschäftigt, näherte mich aber immer deutlicher meinen wissenschaftlichen Grenzen. Ich wußte einfach nicht genug über Zeit und Elektrizität. Ich beschloß, ein oder zwei Physikern, die sich in den letzten Jahren bei den Diskussionen über das Zeit-Phänomen relativ undogmatisch gezeigt hatten, einen anonymen Bericht über meine Entdeckung zu schicken. Es muß Anfang August gewesen sein, als ich eines Morgens aufwachte und feststellte, daß ich nicht aufstehen konnte. Ich lag im Bett und konnte mich nicht bewegen. Ob es ein physisches oder ein psychisches Problem war, was mich so vollkommen lähmte, vermochte ich nicht zu sagen. Ich war einfach so schwach wie ein Waschlappen. Es dauerte zwanzig oder dreißig Minuten. Während ich so dalag, fielen mir all die kleinen Dinge wieder ein, die ich ignoriert hatte: Durchfälle, Schwindelgefühle, eine Erkältung, die nicht mehr aufhören wollte. Ich hatte schlecht geschlafen in den vergangenen Wochen, war oft von Alpträumen geweckt worden. Meist war ich im Dunklen eingesperrt in der Zeit106
kapsel und versuchte verzweifelt, Licht zu machen. Immer waren die Streichhölzer naß, immer brachen die Köpfe ab oder die Schachtel fiel mir aus der Hand. Am Ende brachte ich dann meist doch noch ein schwaches Flämmchen zustande, und dann sah ich auf dem Pilotenstuhl eine junge Frau mit leeren Augenhöhlen und roten Haaren. Eine junge Frau wie Anita, seit über hundert Jahren tot. Im Verlauf der Monate hatte ich mir angewöhnt, mit dieser Frau zu sprechen bei meiner einsamen Arbeit. Ich erzählte ihr von meinen Plänen, meinen Sorgen, von den Ereignissen des Tages. Manchmal glaubte ich kurz vor dem Einschlafen das Rascheln von Satin oder Hyazinthenduft wahrzunehmen. Es gab Tage, da erwartete ich, daß sie jeden Augenblick auftauchen würde, daß ich sie mit meiner Arbeit zurückholen könnte. Es würde an der Tür klingeln, und dann würde sie dastehen: eine eigenartig gekleidete junge Frau mit roten Haaren vor mir auf der Straße. Mr. Lambert? Mein Name ist Tatiana Cherenkova. Sie kennen mich wahrscheinlich nicht, aber ich habe früher mal hier gewohnt. Ich glaube, ich habe etwas vergessen. Darf ich hereinkommen? Ich dachte, der Anfall wäre vielleicht auf radioaktive Strahlung vom Bildschirm oder die starken elektrischen Felder zurückzuführen, denen ich mich bei der Arbeit ausgesetzt hatte, und beschloß, Dr. Six nun doch anzu107
rufen. Sie war angeblich »sehr froh«, von mir zu hören. Sie bat mich in ihre Praxis, ließ mich vor ihrem Schreibtisch Platz nehmen und saß lange wie eine Gottesanbeterin mit zusammengelegten Handflächen da, während sie überlegte und behutsam ihre Fingerspitzen küßte. Schließlich schlug sie die Hände flach auf den Tisch. »David, ich hätte Ihnen vielleicht doch etwas mehr sagen sollen über Ihre Freundin, Ms. Langland. Ich bin nicht ganz ehrlich gewesen. Wenn die nächsten Angehörigen auf der anderen Seite des Atlantiks wohnen, ist es manchmal nicht einfach. Ms. Langlands Vater ist … Ich habe nur einmal mit ihm telefoniert. Und Sie hatten mir gesagt, Sie seien schon seit zehn Jahren nicht mehr mit Ms. Langland zusammengewesen. Deshalb dachte ich, es wäre besser, wenn ich …« »Haben Sie versucht, ihren Cousin zu erreichen? Verleger im Ruhestand oder so etwas. Wohnt in Wimbledon.« »Ach, das wußte ich nicht.« Dr. Six hob wieder die Arme, und ich bedauerte, daß ich etwas gesagt hatte. Ich fürchtete schon, sie würde nun doch nichts erzählen, aber dann sagte sie: »Was wissen Sie über BSE?« Ich schwieg. » Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. Rinderwahnsinn.« »Ich esse schon lange keine Steak-und-Nieren-Pasteten mehr.« 108
Sie erläuterte mir, was ich größtenteils schon wußte: daß irgend jemand Anfang der achtziger Jahre auf die kriminelle Idee gekommen war, zerkleinerte Überreste von kranken und toten Schafen als sogenanntes »Tiermehl« an Kühe zu verfüttern und damit eine Rinderseuche ausgelöst hatte, bei der sich das Gehirn der Tiere zu einer schwammigen Masse zersetzt. In welchem Maße sich die Krankheit auf den Menschen übertragen hat, weiß heute niemand, denn die Inkubationszeit bei Menschen beträgt bis zu dreißig Jahren. Geparden, Tiger, Bären, Wölfe und andere Zootiere, die mit minderwertigem britischem Rindfleisch ernährt wurden, starben als erste. Dann folgten Hunde und Hauskatzen, auch solche, die lediglich Büchsennahrung erhielten, was darauf hinweist, daß der Erreger nicht durch Kochen zerstört wird. Die Möglichkeit, daß auch andere, sekundäre Bereiche befallen sind (Gelatine, Milch, Käse, ja, vielleicht sogar der Boden selbst), läßt sich nicht länger ausschließen. Mit einem Wort, was mir Dr. Six erzählte, war eines der übelsten Beispiele für Arroganz, Gier und Dummheit seit der Entlarvung von Contergan. »Wir werden erst in fünf oder zehn Jahren wissen, wie groß das medizinische Problem in diesem Land wirklich ist«, sagte Dr. Six, legte wieder die Hände zusammen und starrte nachdenklich vor sich hin. Dann fing sie sich, stand abrupt auf und begann, ein Bild an 109
der Wand zu betrachten, das einen Katamaran in schäumender See zeigte. »Was ich Ihnen bisher nicht gesagt habe, ist folgendes. Wir haben ein paar Gewebeproben aus Ms. Langlands Körper entnommen. Der Befund war nicht eindeutig, aber doch sehr beunruhigend. Die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit ist schwer zu erkennen. Aber es ist nicht auszuschließen, daß Ms. Langland damit infiziert war.« Sie schob mir einen Ordner mit farbigen Fotografien über den Tisch, die aussahen wie Tapetenmuster von William Morris: Bilder von Gewebeproben aus Anitas Gehirn. »Die Diagnose ist, wie gesagt, unschlüssig, David. Höchst spekulativ. Drei Spezialisten haben sich mit diesen Mikro-Aufnahmen beschäftigt. Einer kann nichts Unnormales entdecken, einer ist sich nicht sicher, der dritte glaubt, da könnte was sein. Ich selbst kann die Daten leider nicht beurteilen. Aber ich weiß, daß einige ihrer Symptome, zum Beispiel die extreme Abmagerung, nicht zur Creutzfeldt-Jakob-Krankheit passen.« »Aber sie hat doch gar nicht hier gelebt. BSE ist doch ein britisches Problem. Und Sie haben mir doch selbst erzählt, daß sie in Ägypten gelebt hat.« »Der Rinderwahnsinn ist vor allem in Großbritannien aufgetreten. Das stimmt. Aber wir haben unsere Rinder und unser Rindfleisch in alle Welt exportiert. Engländer, die im Ausland leben, geben sich oft große Mühe, 110
um britisches Rindfleisch, Corned beef in Büchsen, Würstchen und solche Dinge zu kriegen. Außerdem gibt es die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit in Nordafrika auch unabhängig davon. Ich habe gehört, daß sie in Libyen sehr häufig auftritt, weil die Araber gern die Augen von gebratenen Schafen essen. Außerdem kann sie sich die Krankheit natürlich schon zugezogen haben, ehe sie England verließ. Aber ich muß noch einmal betonen, daß es keinerlei Beweis dafür gibt, daß Ms. Langland überhaupt CJK hatte oder daß die Krankheit weit genug fortgeschritten war, um sie zu töten.« Ach, Bird, ich verstehe das alles nicht. Wieso können sie es bei Kühen und Katzen feststellen, aber nicht bei Anita? Die Ärztin stellte ihre Äußerungen in den Raum wie Schachfiguren. Jede einzelne war harmlos genug, aber zusammen bildeten sie eine unangreifbare Position. Die Krankheit war keineswegs neu. Aber sie war äußerst selten gewesen. Entweder weil sie nur wenige Schafe gehabt hatten oder weil nur wenige Leute die falschen Teile der toten Schafe gegessen hatten oder weil die Leute früher längst an anderen Krankheiten gestorben waren, ehe Creutzfeldt-Jakob sie erwischte. Es gab nichts, was man für Anita hätte tun können. Der Erreger ist immer noch unbekannt. Die Experten streiten nach wie vor, ob es sich um Viren, Viroide oder Prionen han111
delt (eine Art wildgewordenes Eiweiß). Sehr häßlich, Bird. Deine grauen Zellen werden von diesen Mistviechern aufgefressen, ähnlich, wie Maden sich durch Gorgonzola arbeiten. Das Gehirn sieht nachher aus wie ein Schwamm. »Scrapie« heißt die Krankheit bei Schafen, weil sich die kranken Tiere wie wild an Bäumen und Zaunpfählen reiben. Und heute sitzen diese ekligen kleinen Erreger vielleicht in uns allen: England wird von seinem Roastbeef erledigt. »David? Hören Sie mir noch zu? Es scheint so, als gäbe es eine gewisse Übereinstimmung zwischen den von Ihnen geschilderten Symptomen und dem, was Ms. Langland am Anfang über ihre Krankheit gesagt hat. Deshalb möchte ich, daß Sie einen neu entwickelten Test machen. Ich glaube, wir sollten eine Biopsie machen.« »Sie meinen, Sie wollen mir ein Loch in den Kopf bohren und Stückchen von meinem Gehirn rausholen?« Nein, so sei es nicht ganz, erwiderte sie, aber ich hörte schon nicht mehr zu. CJK ist schwer zu erkennen, unheilbar und auf andere Menschen (ausgenommen Kannibalen) nicht übertragbar – was sollte es also für einen Sinn haben, danach zu suchen? Was sollte es für eine Verbindung zwischen Anitas Krankheit und mir geben? Dr. Six wies darauf hin, daß Anita und ich gegen Ende der achtziger Jahre zusammengelebt hätten, als 112
die Infektionsgefahr am größten war. Wir hätten doch sicher dieselben Dinge gegessen? Wollte ich es denn nicht einfach wissen? Nein, sagte ich. Lieber würde ich noch ein paar Jahre in Ungewißheit leben als mit der sicheren Aussicht auf einen schrecklichen Tod. Wenn ich die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit hätte, dann hätten sie praktisch auch alle anderen Leute. Sie könne ja den anderen Patienten die Köpfe aufbohren, ich würde mir erst dann Sorgen machen, wenn ich anfinge, mich an Bäumen und Zäunen zu reiben. Ich mietete ein Postfach, schickte Fotokopien meines Berichts über die Zeitmaschine an verschiedene Wissenschaftler und fuhr zwei Wochen nach Wales, um in den Bergen zu wandern. Es war herrlich dort im September: goldene Tage, sternklare Nächte und morgens knisternder Reif auf den Wegen. Als ich nach London zurückkam, lagen keinerlei eilige Anfragen vom Rutherford oder vom MIT vor. Der einzige Brief in meinem Postfach kam vom Institute of International Achievement und gratulierte mir zu meiner Nominierung als Genie des Jahrzehnts. Ich brauchte nur noch meine Goldmedaille und meine persönliche Ernennungsurkunde entgegenzunehmen und 499 Pfund auf ein Konto in Kalifornien zu überweisen. Vor meiner Haustür wartete keine physikalisch-naturwis113
senschaftliche Abordnung. War ja wohl auch nicht zu erwarten. Wer sollte schon den Brief eines Mannes beantworten, der behauptete, eine Zeitmaschine in seiner Garage zu haben? Ich ging wieder in die Bibliotheken, in der Hoffnung, noch mehr Material über Tesla, Wells oder Tania zu finden. Aber ich ertappte mich immer wieder dabei, daß ich vor dem Regal mit den medizinischen Zeitschriften stand und einen merkwürdigen Vers in meinem Kopf hörte: Creutzfeldt-Jakob unweigerlich tödlich Veränderungen im Gehirn betrifft neuerdings auch jüngere Menschen Geistesschwäche mit Verlust der Bewegungskoordination (gelegentlich auch umgekehrt) Dauer bis zum Tod durchschnittlich ein Jahr. Wahrscheinlich verwandt mit Kuru, verbreitet bei Eingeborenen im Hochland von Neu-Guinea, die bei rituellen Anlässen die Gehirne ihrer Toten verzehren.
114
Am 22. September, der Tag-und-Nachtgleiche, wenn die Sonne im Äquator steht und für alle Orte der Erde um 6 Uhr auf- und um 18 Uhr untergeht (ich interessiere mich für diese Dinge, weil mein Geburtstag auf die Sommersonnenwende im Juni fällt), hatte ich einen weiteren Anfall von Bewegungsunfähigkeit. Diesmal lag ich noch länger erstarrt im Bett und hörte Mutters goldbronzierte Uhr klicken. Das Glockenspiel war abgestellt, aber jedesmal, wenn wieder eine Viertelstunde vorbei war, durchlief der Mechanismus sotto voce eine Folge von mechanischen Knacklauten. Dann wurde ich erlöst. Ich war schlaff und naß wie ein leerer Taucheranzug. Um eine Tasse Tee zu machen, brauchte ich eine Stunde. Danach waren jedes Stolpern, jede Ungeschicklichkeit und jeder Ausrutscher verdächtig. Alles war verdächtig: Wenn ich aus dem Haus ging und schon an der Brompton Road vergessen hatte, wozu; wenn ich plötzlich bei Harrod’s stand und nicht mehr wußte, warum und wie ich hingekommen war; wenn ich eine Seite drei- oder viermal las, ohne daß ich es merkte. An manchen Tagen aß ich zweimal zu Abend, an anderen gar nicht. Manchmal hörte ich einen Wagen mit laufendem Motor vor der Tür, und wenn ich nachsah, war es nur ein Tinnitus, ein Klirren in meinem Ohr. Oder eine fette, vibrierende Larve, die sich in mein Gehirn fraß. Die 115
Wochentage waren mir so fremd und unheimlich geworden wie der aztektische Kalender. Sonn-Tag, MondTag, Donars-Tag: welcher kam zuerst und warum? Was hatten sie zu bedeuten? Welche Mächte bestimmten unseren zeitlichen Kredit? Erdbeben, Geier und Tod, soviel ich wußte. Stell dir einen Tag vor, der Tod heißt! Diese Zeichen überzeugten mich, daß ich verloren bin: Messrs. Creutzfeldt & Jakob haben mich fest in den Krallen. Winzige Aggressoren wühlen sich von Zelle zu Zelle und rekrutieren mein eigenes Eiweiß in ihre Armee wie Ausbrecher, die eine Gefängnisrevolte entfesseln. Womöglich wuchern und wühlen sie längst in uns allen, außer in den wenigen rechtschaffenen Vegetariern. Gesegnet sind die Tofu-Esser, denn sie werden das Erdreich besitzen. Wenn dir das zu pessimistisch vorkommt, Bird, dann darfst du nicht vergessen, daß ich nicht mehr ich selbst bin. Es gibt gute Tage und schlechte; wochenlang geht es mir wieder besser, . und meine Wahnvorstellungen erscheinen mir völlig verrückt. Aber die schlechten Tage kommen immer wieder zurück – Tage, an denen ich wie eine erstarrte Eidechse im Bett liege, in einer Welt ohne Sonne, unfähig, auch nur ein Körperteil zu bewegen. Es wird immer schwieriger, das Ich vom Nicht-Ich zu unterscheiden. Auf rätselhafte Weise scheine ich verantwortlich zu sein für alle 116
Schmerzen der Welt. Die Zeitmaschine, Tanias gewaltige Nicht-Anwesenheit, die Nachrichten aus aller Welt und der Zustand meiner unmittelbaren Umgebung, der Tod von Anita … Ohne daß ich wußte, was ich dort wollte, besuchte ich das Pflegeheim, wo sie gestorben war. Ich war es ihr schuldig, die Treppengeländer zu berühren, die sie berührt hatte, und dieselbe Luft zu atmen wie sie. Vielleicht wollte ich mit dem Tod flirten, der einst bloß eine abstrakte Vorstellung gewesen war und jetzt ein so zäher Verfolger. Das Emily-Chadwick-House war ein Heim nur für Frauen. Laura-Ashley-Vorhänge, farbiges Glas in den Fenstern, Makramee, Pflanzenkübel mit Palmen und am Empfang ein Gesicht, das Männer mit äußerstem Mißtrauen musterte. Kein Wunder, das Haus beherbergte fast ausschließlich HIV-Opfer: ausgemergelte Wangen, dürre Gliedmaßen, Augen wie Pferde in einer brennenden Scheune. Sie waren alle so freundlich: Sie berührten meine Hände, ihre Augen sagten, daß sie umarmt werden wollten, aber ich konnte es nicht, ich mußte ja fürchten, daß sie mir in den Armen zerbrachen. Auch konnte ich die heiße, stickige Luft nicht ertragen, die geschwängert war vom Gestank der Desinfektionsmittel. Sie gaben mir einen Umschlag mit einem PolaroidFoto, das sie zunächst nicht gefunden hatten, als Anitas 117
Zimmer geräumt worden war. Es war das Foto, das ich an dem Tag gemacht hatte, als Anita nach Ägypten abgereist war. Anita stand neben ihrer Lieblingsstatue, der blutdürstigen Löwengöttin Sekhmet im British Museum. Sekhmet, die mächtig und grausam zugleich war. Die Vorsteherin bestand darauf, daß ich zum Essen blieb. Außer uns saßen nur wenige Heimbewohnerinnen im Eßzimmer. Die meisten konnten das Besteck nicht mehr halten. Es gab Schellfisch in holländischer Sauce. Der Fisch war so jung und mager, wie er jetzt immer ist, wie ein zwölfjähriges Mädchen. Erinnerst du dich noch an die großen Sprüche der Entwicklungshelfer? Bring einem Mann das Fischen bei, und du verschaffst ihm ein Leben lang Nahrung. Von wegen! Der Mann hat den Ozean leergefischt, und seine zwölfjährige Tochter verkauft sich auf den Straßen von Bombay. Aufatmend ließ ich das Heim hinter mir und sog die naßkalte Luft ein. Auf einem verblaßten Zebrastreifen am Ende der Straße begegnete ich einem graubärtigen, glatzköpfigen alten Mann, dem ein großer, roter Papagei hinterherlief. Ehrlich. Ein roter Papagei mit drei langen, zerfledderten Schwanzfedern, die hinter ihm herschleiften wie die Schleppe eines Monarchen. Komm, Flaubert, du alter Racker, wir müssen nach Hause. Eine besoffene Stimme, sicher aus dem Norden. Eine Kette trug Flaubert nicht. Er humpelte ein bißchen, seine 118
Greifzehen waren für Spaziergänge nicht besonders geeignet. Die Hälfte seiner Federn fehlte, statt des Urwalds hatte er nur diese schmutzige Großstadt, und seine einzige Gesellschaft war ein verrückter Penner, und doch war der Papagei ungebrochen. Sein Piratenauge funkelte verwegen, er würde nicht aufgeben! Ich beschloß, mir eine Pistole zu kaufen, koste es, was es wolle. Denn das kann ich dir sagen: Der Gedanke an Selbstmord läßt dich ruhig schlafen. Ich werde nicht friedlich abtreten.
5 Dabei will ich es belassen. Zum Thema Gesundheit will ich mich nicht mehr äußern. Du kannst ja deine eigenen Schlüsse ziehen. Nur noch soviel: Nach dem Anfall im September ließ ich mich zu einer Biopsie überreden. Die Argumente dafür und dagegen hatten sich zwar überhaupt nicht geändert, aber es ist eben sehr schwer, die Augen geschlossen zu halten, wenn das Schicksal bereit ist, den Schleier zu heben. »Sie werden nichts vermissen«, sagte Dr. Six mit ungewohntem Humor. »Bei jedem Vollrausch verlieren Sie mehr graue Zellen.« Im OP zeigten sie mir noch den Bohrer – sieht gar nicht so schlimm aus –, und dann gaben dieselben drei Auguren, die schon Anitas Gehirn untersucht hatten, ihre Prophezeiungen ab. Diesmal waren sie schon richtig entschieden: Zwei Ja-Stimmen, eine Enthaltung. Da gab’s nicht viel zu zweifeln oder zu hoffen. Aber plötzlich gab es viel zu erinnern. Jetzt war ich auch ein Opfer, und dieser Status erlöste mich von meinem Überlebenden-Syndrom, versöhnte mich mit den erstarrten Gesichtern und unvollendeten Gesprächen in meinen Träumen. Gesprächen mit meiner Mutter und meinem Vater und Merlin, meiner Katze, die mir weg120
lief, weil sie London und meinen Onkel nicht ertragen konnte, so daß ich am Ende völlig allein war. Der erste Ferientag zu Hause, nach Monaten im Internat! Diese vielen Gerüche! Rosenduft und Scheuerpulver, eine Honigtorte im Ofen, Mutters Duft im Kleiderschrank (aus dem ihr Nerzmantel vor meiner Heimkehr entfernt worden ist, um Platz für meine Sachen zu schaffen). Beim Tischdecken hat sie immer gesungen. Die verhaßte Schuluniform abgestreift, Jeans angezogen und runter zum Brombeergebüsch, wo ein dunkler, erdiger Tunnel in die Ranken hineinführte. Nachsehen, ob die Kaninchen noch da sind! Und dann waren die Brombeeren weg, und an ihrer Stelle ragten nur vertrocknete, halb ausgerissene Strünke aus dem Boden. Die Dornen hatten nichts genutzt gegen Feuer und Stahl. Ich erinnere mich noch gut an Vaters alte grüne Strickjacke mit den Lederflecken auf den Ellbogen. Ich weiß noch, wie ich geheult und mit den Fäusten gegen seine Brust geschlagen habe. Auf Armeslänge hält er mich von sich weg. Meine Wut irritiert ihn, verlegen lächelt er zu meiner Mutter hinüber und sagt, was er immer sagt: Tut mir leid, David. Ich weiß, daß es schwer für dich ist. Kopf hoch, alter Junge. Ich bin auch mal in deinem Alter gewesen. Aber du mußt verstehen, daß Brombeerhecken und Kaninchen einfach lästig sind. Wenn die Farm erst einmal dir gehört, dann wirst du 121
rasch begreifen, daß ich recht habe. Du wirst mir dankbar sein. Die Hecken sehen vielleicht ganz hübsch aus, aber sie sind eine Brutstätte für Ungeziefer und Unkraut. Der Fortschritt läßt sich nicht aufhalten. Man muß mit der Zeit gehen, sonst enden wir auch noch wie der alte Carrington oben im Tal. Der verdient jedes Jahr weniger. Du fährst doch auch gern mal ans Meer, David, nicht wahr? Und ein neues Fahrrad möchtest du auch haben, oder? Irgendwo muß das Geld dafür herkommen. Die Erzeugerpreise gehen jedes Jahr ein Stück runter. Aber so leicht war ich nicht zu bestechen. Ich weiß noch, wie ich nach ihm getreten und geschrien habe: Ich hasse dich! Du hast die kleinen Kaninchen getötet! Du hast ihnen ihr Haus abgebrannt! Du bist ein Mörder! Ich hasse dich! Ich wünschte, du wärst tot! Viel Spaß mit diesen Erinnerungen, Bird! Ich brauche sie nicht mehr. Ich habe in letzter Zeit so viele solche Gespräche mit den kleinen Anthropophagen in meinem Schädel gehabt. Trotzdem kommen die Erinnerungen immer wütender aus ihrem Bau, nach all den Jahren der Verdrängung sind sie rasend vor Hunger. Ich sitze in der Circle Line mit einem Sixpack neben mir auf der Bank und fahre endlos im Kreis. Sogar in der Rushhour will sich niemand neben mich setzen. Ich treibe mich in Brixton und am Lavender Hill herum, aber niemand sucht mit mir Streit. Ich bin unsterblich, weil ich längst 122
tot bin. Der Aufenthalt in der Todeszelle hilft einem, sich zu konzentrieren. Die beschwerliche Kette alltäglicher kleiner Entscheidungen wird endlich zerrissen. Um materielle Konsequenzen der eigenen Handlungen braucht man sich keine Sorgen mehr zu machen. Mit einem Wort, alles ist möglich. Man kann tun, was man will. Jeder kann seine eigene Liste aufstellen: eine Kreuzfahrt in die Antarktis, alles ins Warentermingeschäft investieren, einen Lehrstuhl in Cambridge stiften, einen Politiker umbringen, einen Umweltvergifter vergiften, einen glücklichen Tod in einem Jaguar oder einem Luxusbordell suchen, eine Terrorgruppe gründen, eine Audienz beim Papst besuchen und ihm deine Ansichten über Geburtenkontrolle erläutern – es fiele mir da noch einiges ein. In meinem Falle war es natürlich eine Reise mit der Zeitmaschine, versteht sich. Es heißt, in Kalifornien gäbe es massenhaft Tiefkühlhallen, in denen wohlhabende Leichen auf die Auferstehung warten, wenn eine glänzende Zukunft in der Lage ist, ihre erstarrten Herzen und Lungen zu reparieren und ihnen neues Leben einzuhauchen. Wie lange wird es wohl dauern, bis es eine Therapie für CJK gibt? Zehn Jahre? Ein ganzes Jahrhundert? Hängt wohl davon ab, was man unter medizinischem Fortschritt versteht. Ich allerdings kann morgen schon abreisen und mich persönlich davon überzeugen! 123
Oder soll ich lieber in die Vergangenheit reisen und noch mal von vorne anfangen? Meine Eltern am Heiligabend nicht wegfahren lassen? Vegetarier werden? Anita vor dem englischen Essen warnen, und vor den Männern? Aber kann man denn überhaupt zurück? Ich habe viel darüber nachgedacht. Mein Instinkt sagt mir, daß Wells recht hatte: Eine Rückwärtsbewegung in der Zeit konnte nicht funktionieren. Vielleicht war das Tanias Fehler. Vielleicht hat sie wirklich versucht, in das Leben vor ihrer Begegnung mit Wells zurückzukehren und dabei gegen ein kosmisches Gesetz verstoßen, das den Hymen der Vergangenheit schützt. Und dann? Was ist dann geschehen? Hörte sie auf zu bestehen? Wurde sie entkörperlicht? Gestorben ist sie wohl nicht, das hört sich zu prosaisch an. Nur ihre Maschine reiste führerlos weiter, bis zur Jahrtausendwende. Die Zukunft schien mehr zu versprechen. Zumindest brauchte man bei einer solchen Reise nicht gegen die sogenannte Kausalität und die Mainstream-Physik zu verstoßen. In seiner Abhandlung ›Zur Elektrodynamik bewegter Körper‹ von 1905 sagte Einstein voraus, daß für Gegenstände von geringer Schwerkraft oder großer Geschwindigkeit ein Zeitsprung in die Zukunft nicht nur möglich, sondern unvermeidlich sei. Atomuhren haben die Richtigkeit dieser »speziellen Relativitätstheorie« 124
nachgewiesen. Selbst in den Raumschiffen der NASA, die sich noch mit kindlicher Langsamkeit vorwärts bewegen, vergeht die Zeit langsamer als auf der Erde. Je größer die Geschwindigkeit, desto größer der Zeitsprung. Ein Reisender, der sich annähernd mit Lichtgeschwindigkeit vorwärts bewegte, konnte durchaus in eine Welt zurückkehren, die in seiner Abwesenheit Hunderte oder Tausende von Jahren gealtert war. Meine Arbeitshypothese war die, daß es Tania geschafft hatte, genau diesen Effekt zu erzielen. Die Zeitsprünge ihrer Maschine werden durch eine Art Auf-derStelle-Laufen erzeugt. Eins war jedenfalls klar: Im Inneren der Kapsel waren seit dem 19. Jahrhundert nur wenige Sekunden vergangen. Sie brachte die schweflige Atmosphäre und den Kohlendunst der zahllosen Kaminfeuer mit, die London damals erwärmten, aber alle Metallteile waren noch blank, und es hatte sich keinerlei Staub angesammelt. Tanias Parfüm lag noch in der Luft, ihre Kleider waren körperwarm und frisch gewaschen. Ich werde also in die Zukunft reisen. Und wenn ich dort Heilung finde und den Mut, das Schicksal noch einmal herauszufordern, dann werde ich vielleicht den Rückwärtsgang einlegen und zu Anita und zu meinen Eltern zurückkehren. Dann werde ich versuchen, zerstörte Leben wiederherzustellen und mein eigenes zu verändern. Und dann werden wir, wie es im Geistertanz 125
der Komantschen heißt, unser Leben noch einmal leben. Und wenn es fehlschlägt? Dann werde ich eben scheitern. Ein starker Abgang ist es allemal. Eleganter jedenfalls als eine Kugel. Den ganzen Herbst hindurch bastelte ich an meiner Ein-Mann-Arche-Noah. Erst ein paar Tage, ehe ich zu dir kam, bin ich damit fertig geworden. Die Arbeit schützte mich vor zuviel Grübelei und brachte auch eine nachhaltige körperliche Besserung mit sich. Über die Geheimnisse des altertümlichen Geräts dachte ich nicht länger nach, sondern brachte es einfach in Ordnung. Ich hatte nicht vergessen, was die Maschine beim Landen für Schwierigkeiten gehabt hatte. Wenn ich nicht eingegriffen hätte, wäre sie womöglich weiter durch die Jahre getrieben. Tanias Instrumente lagen ausgebaut auf der Werkbank. Trotz ästhetischer Bedenken hatte ich beschlossen, sie durch digitale Technologie zu ersetzen. Die Arbeit der mechanischen Rechenmaschine voller Messingskalen, Zahnrädern und Schneckenwellen, wie sie Tania benutzt hatte, um bestimmte Kalenderdaten definieren zu können, konnte ein Laptop mühelos übernehmen. Der Chronometer war zwar von ausgezeichneter Qualität, aber keine Atomuhr. Eine neue Ausrüstung war allerdings teuer; ich mußte mir etwas einfallen lassen, um Geld zu beschaffen, und ich 126
hatte auch schon eine Idee. Kurz nachdem ich den Posten beim Museum übernommen hatte, erhielt ich einen Katalog und eine Visitenkarte von einem gewissen P. I. (Powie) Kraus, B.A. Er war Chef einer Firma in Los Angeles, die sich Bruneis Kindom Antiques nannte und auf wissenschaftliche Antiquitäten (Schwerpunkt: 19. Jahrhundert) spezialisiert war. Du findest seine Adresse in meiner Wohnung, aber ich sage dir gleich, daß er nicht auf alte Motorräder steht, und die Wimshurst-Maschine habe ich ihm auch schon vergeblich anzudrehen versucht. Die Dinger gibt’s angeblich dutzendweise in den Vereinigten Staaten. Kurz nach der Visitenkarte kam Powie selbst. Er führte mich zum Essen ins Claridge, behandelte mich mit Bollinger, bis ich nicht mehr stehen konnte und mietete mir ein Hotelzimmer. »Unter der Haut«, sagte er, »gibt es doch gar keinen Unterschied. Engländer, Amerikaner. Wir sprechen doch letztlich dieselbe Sprache.« Seine Hände, sein Mund, ja, sogar seine Ohren bewegten sich dabei heftig, nur seine Chamäleon-Augen waren starr auf meine gerichtet. Er blinzelte kein einziges Mal. »Die Sprache der Kunst. Sie und ich, David, sind Kenner. Wir graben doch nicht in der Vergangenheit, um deren Schätze zu klassifizieren und dann für irgendwelche dummen, rotznasigen Schuljungen unter Plexiglas auszustellen. Wir lieben diese Dinge. Wir wissen ihre ästhetischen Werte zu 127
schätzen. Wir wollen sie berühren. Wir wollen sie haben. Diese Dinge sind wie schöne Frauen für uns – oder schöne Knaben, wenn das mehr Ihr Geschmack ist. Ich habe keine Vorurteile, darf ich Ihnen noch etwas einschenken? Ich meine, wir mögen es nicht, wenn Schönheit eingesperrt und von irgendeinem vertrockneten Akademiker bewacht wird, der sie nicht zu behandeln versteht. Nichts für ungut, Sie wissen schon, was ich meine. Für meinen Geschmack ist ein echter HarrisonChronometer genauso ein Kunstwerk wie ein Leonardo.« An dieser Stelle schwenkte Powie die leere Flasche, damit der Kellner sich mit der neuen beeilte. Auf seine Art war er ganz unwiderstehlich. »Alles, worum ich Sie bitte, David, ist, daß Sie Augen und Ohren offenhalten für mich, hier in London. Unser Gebiet ist ja durchaus überschaubar. Die Etats der Museen sind äußerst beschränkt. Nehmen wir mal an, es taucht etwas ganz Erstklassiges auf. Schön und einzigartig. Ein dunkles industrielles Juwel. Nehmen wir mal an, Sie können es nicht für das nationale Kulturerbe sichern, weil die Mittel nicht ausreichen. Sehen Sie, und das ist der Punkt, an dem ich ins Spiel komme. In solchen Situationen möchte ich, daß Sie zum Telefonhörer greifen. Dafür wäre ich dankbar. Dafür wäre ich Ihnen wirklich sehr dankbar.« 128
Und damit keine Zweifel bei mir entstanden, welche Formen Powies Dankbarkeit annehmen konnte, warteten, als ich endlich flüchten konnte, zwei Dinge in meinem Hotelzimmer: ein Briefumschlag mit einem Scheck und ein Callgirl. Ich hab den Scheck natürlich nicht eingelöst. Aber jetzt kramte ich Powies Visitenkarte heraus und rief ihn an. Mitte Oktober wolle er nach London kommen, sagte er. Wir verabredeten uns spät am Abend in meiner Wohnung in Chelsea. Als er den Chronometer und die Rechenmaschine sah und liebevoll in die Hand nahm, wußte ich sofort, daß ich verlangen konnte, was ich wollte. »Wo zum Teufel haben Sie so gut erhaltene Sachen gefunden?« Powie leckte sich die Lippen. »Sieht ja aus, als wäre es erst gestern gemacht worden!« Er erwartete aber wohl keine Antwort. Fälschungen von dieser Qualität lassen sich gar nicht herstellen, und er kannte die viktorianische Technologie viel zu gut, um nicht zu wissen, daß die Stücke absolut echt waren. Wie sich zeigte, war er auch ein guter Beobachter. »Schauen Sie mal«, sagte er und reichte mir seine Juwelierslupe. Ich brauchte eine Weile, aber dann sah ich ebenfalls, was er entdeckt hatte. In die klare Lackschicht auf dem Zifferblatt hatte jemand in zierlicher viktorianischer Handschrift ein Datum geritzt: AD 2500. 129
Das Herz schlug mir bis zum Hals, aber Powie war viel zu versunken, um mich zu beachten. Wahrscheinlich habe ein Astronom das Gerät benutzt, sagte ich, um Sonnenfinsternisse und Konjunktionen vorauszubestimmen – wer sonst rechnete schon so weit voraus in die Zukunft. Das schien ihm zu genügen. Es gefiele ihm, sagte er, wenn die Dinge noch Spuren der ursprünglichen Besitzer aufwiesen. Wir suchten nach weiteren Spuren und Hinweisen, fanden aber nichts mehr, weder den Tag noch den Monat. Die neuen Geräte einzubauen war leichter, als ich gedacht hatte. Nicht komplizierter, als wenn man ein kleines Flugzeug nachträglich mit einer elektronischen Zündung und modernen Navigationshilfen ausstattet. Den Laptop (eine Oyster) programmierte ich nach drei verschiedenen Methoden der Zeitmessung: dem Gregorianischen Kalender, der Julianischen Periode und zur Sicherheit auch noch nach dem Maya-Kalender. Der Fehler der meisten Kalender besteht darin, die Monate und Jahre zu zählen, was immer Ungenauigkeiten verursacht. Die Grundeinheit irdischer Zeitmessung ist der Tag. Wells wußte das. Der Geschwindigkeitsmesser ist eines der überzeugendsten Details in seinem Roman. Scaligers Julianische Periode, deren Nullpunkt am 1. Januar 4713 v. Chr., 12 Uhr westeuropäischer Zeit, liegt, beträgt jeweils 7980 Jahre, aber was die Astronomen besonders zu schätzen 130
wissen, ist natürlich die durchlaufende Tageszählung, das Julianische Datum. Noch großartiger sind die Langzeitperioden der Mayas mit ihrem Zwanzigersystem. Ich brauchte eigentlich nur die unteren Maßstäbe, das Tun und das Katun, aber ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, auch das Alautun einzugeben, das immerhin 64 Millionen Jahre braucht, um eine Stelle vorzurücken. Beruflich hat uns die Zukunft nie sehr interessiert, Bird, nicht wahr? Unser Erkenntnisinteresse war auf die Vergangenheit gerichtet, die linke Seite des Janus. Die Mehrzahl der Futurologen und Propheten geht unweigerlich in die Irre, auch wenn sich manche Prophezeiungen von selbst erfüllen und gelegentlich jemand mit Glück und Phantasie einen Volltreffer landet. In seiner Erzählung ›The World Set Free‹ hat H.G. schon 1914 einen Atomkrieg geschildert. William Morris prophezeite schon 1890, daß die schlimmsten Auseinandersetzungen zwischen den Kommunisten und der herrschenden Klasse um das Jahr 1952 stattfinden würden. Und im Jahre 1971 gab es im ›Daily Telegraph‹ mal einen satirischen Artikel, in dem »berichtet« wurde, die letzten Sozialwohnungen seien abgeschafft, die Telekom sei privatisiert und Ronald Reagan zum Präsidenten der USA gewählt worden. Erinnerst du dich noch an den Flugpionier und Uni131
versalgelehrten J. W. Dunne? Anita war begeistert von seinen Ideen. Das abgegriffene blaue Exemplar seines Buches, das sie am Talaat Harb antiquarisch erworben und mir zum zwanzigsten Geburtstag geschenkt hat, steht heute noch in meiner Wohnung. Du hast dich immer mächtig aufgeregt, wenn wir über seine »Ahnungen« und Einblicke in die unmittelbare Zukunft diskutiert haben, die er aus seinen (und nicht nur seinen) Träumen zu destillieren versuchte. Das sei doch alles Unsinn, hast du gesagt, und du könntest nicht verstehen, wie intelligente Leute ihre Zeit mit solchem Quatsch vertrödeln könnten. Anita hat dir deinen Unglauben nicht abnehmen wollen. Sie war der Meinung, du hättest selbst solche Visionen, wolltest das aber nicht wahrhaben. Dunnes komplizierte Theorie hab ich auch nie verstanden. Es hatte etwas damit zu tun, daß sich Wirbel in der Zeitströmung bilden. Richtig ist aber, daß ich solche Erlebnisse oft genug selbst gehabt habe. Ungefähr drei-, viermal im Jahr (als Kind sogar noch öfter). Der Ausblick auf den kommenden Tag betraf allerdings immer nur kleine, unbedeutende Dinge. Der Gewinner beim Derby oder Aktienkurse waren nie dabei. Die Masse der Beweise liegt auf der anderen Seite: bei den zahllosen Kriegen und Erdbeben, die ohne Warnung über die Menschheit hereinbrechen, bei selbstgemachten Katastrophen wie Bhopal oder BSE. Die Zeit ist 132
vielleicht tatsächlich, wie Unamuno gesagt hat, ›eine Quelle, die in der Zukunft entspringt‹, aber das Wasser ist dunkel, und wir sind augenlose Fische. Archäologen sind keine Astrologen, sondern Nekromanten; sie streben nach Einsicht in die Vergangenheit, nicht nach Prognosen. Gemeinsam mit den Astrologen ist uns allerdings eins: Auch wir suchen nach regelmäßig wiederkehrenden Mustern. Und der Preis dafür ist der Verlust der Unschuld. Wer kann denn seit Freud noch Freude, Liebe oder Eifersucht empfinden, wer kann sich als soziales Wesen fühlen, ohne das frostige Bewußtsein animalischer Ängste, die von den Schrekken der Kindheit, von Scheiße, Blut, Sex und Tod sprechen? Das ist bei uns Archäologen nicht anders. Der Blick nach hinten läßt die Gegenwart aufbrechen, und unsere Belohnung besteht in der Einsicht, daß keine Kultur »normal« ist oder unvermeidlich; daß keine ein Patent auf Weisheit und Unsterblichkeit besitzt; daß Kulturen so wie Individuen geboren werden, blühen und sterben; daß sie am Ende von denselben Eigenschaften, Antriebskräften, Werten und Überzeugungen, die sie hervorgebracht haben, am Ende auch wieder zerstört werden. Anita, du und ich, wir haben – jeder auf seine Weise – das schmale Band der menschlichen Zivilisation für unsere Studien gewählt: die hektischen zehntausend Jahre 133
seit der neolithischen Revolution. Ein Hundertstel der Zeit, die wir schon auf der Erde sind, wenn man dem Homo sapiens eine Million Jahre gibt. Zum Teil war natürlich Skeffington daran schuld. Wer Affenknochen ausbuddeln will, braucht nicht bei mir zu studieren, sagte er immer. Skef schätzte besonders die Trümmerfelder zwischen einer Kultur und der nächsten: Ägypten zwischen den Pharaonen und Mohammed; Europa zwischen Konstantin und Karl dem Großen. Ich erinnere mich noch gut, wie er im Schatten der Sphinx auf einem bockigen Kamel saß und deine Beschwerde über die Sklaverei im alten Ägypten abschmetterte: Zivilisation ist immer eine Pyramide. Der Mensch lebt ständig über seine Verhältnisse. Es herrschen immer nur wenige über die Masse. Der Trick besteht darin, daß man der Umwelt und den Mitmenschen immer neue Kredite abzupressen versucht. Mitte November war ich dann endlich soweit. Wie weit sollte ich fliegen? Meine Vorsicht riet mir natürlich zu einem Testflug. Vielleicht sollte ich zunächst nur einen kleinen Hüpfer riskieren? Ein Jahr oder zwei? Ich hatte allerdings Angst, die Maschine könnte möglicherweise nur ein einziges Mal funktionieren, und es hatte ja keinen Sinn, in einer Zeit zu landen, die wahrscheinlich weder den entscheidenden medizi134
nischen Fortschritt noch irgendwelche anderen exotischen Neuigkeiten bereithielt, die meine letzten Erdentage hätten aufhellen können. Also lieber zehn Jahre? Oder ein ganzes Jahrhundert? Oder noch mehr? Ich fühlte mich wie jemand, der seine Heimatstadt noch nie verlassen hat und plötzlich eine Urlaubsreise plant. Mit dem Rucksack nach Kathmandu? Tauchen auf den Fidschi-Inseln? Neuguinea? Oder lieber bloß die Isle of Wight? Ich brauchte dringend ein gutes Reisebüro. Der Verdacht liegt nahe, daß die Zukunft auch nicht mehr das ist, was sie mal war, daß man statt in Bora Bora doch nur in Bournemouth herauskommt. Wir leben schon sehr lange von den Ersparnissen der Natur, und es gibt Anzeichen dafür, daß unser Konto überzogen ist. Ich habe das Gefühl, wenn ich bloß ein paar Jahrzehnte oder auch drei, vier Generationen weit reise, könnte ich böse in der Scheiße landen. Ich habe mich deshalb entschlossen, Tanias Vorbild zu folgen und in die Mitte des neuen Jahrtausends zu fliegen. Wenn schon, denn schon. Fünfhundert Jahre, das sollte reichen für ein bißchen medizinischen Fortschritt. Tja, und während du mit klappernden Zähnen auf der nassen Marsch vor dem King Canute stehst und diesen Bericht liest, sollst du auch wissen, Bird, daß ich lange darüber nachgedacht habe, wo ich abfliegen soll. Ich wußte ja, daß ich an derselben Stelle wieder landen 135
muß. Ich brauchte eine weiche, verlassene Stelle. Es mußte also am Meer sein, auf diesen ausgedehnten Marschen voller Salzgras und Schlick an der Küste von Essex. Ein paar kleinere Veränderungen wird es hier vielleicht geben, Ebbe und Flut, tektonische Verschiebungen. Aber wenn ich kein allzu großes Pech habe, werde ich wohl höchstens etwas tiefer ins Wasser platschen oder ein paar Meter hochgehoben werden. Das sollte die Kapsel mühelos aushalten. Das Lederpolster an den Innenwänden wirkte sehr beruhigend, aber ich hatte keine Lust, die nächsten fünfhundert Jahre (auch wenn sie noch so verkürzt waren) auf dem gräßlichen Zahnarztstuhl zu verbringen. Also kaufte ich mir beim Fulham Auto Recycling (ehemals Hammersmith Scrap) einen Porsche-Sitz aus hellbraunem Leder mit Automatikgurten und Kopfstütze. Der Verkäufer war ein riesiger Dockarbeiter mit Schnauzbart. Der Porsche, sagte er, sei von einem der steinernen Löwen am Trafalgar Square demoliert worden. Frontalzusammenstoß. Totalschaden. Aber dieser smarte Yuppie kam hinter dem Lenkrad hervorgeklettert ohne den kleinsten Kratzer. Einen besseren Sitz finden Sie nirgends, Kumpel. Sicherheitshalber verpaßte ich der Kapsel noch einen Schwimmring (einen brandneuen Traktorschlauch) und verkleidete alle außenliegenden elektrischen Teile 136
mit Plastik, so daß die Maschine nicht nur schwimmfähig, sondern auch vollkommen wasserdicht war. Ich kaufte mir einen Klepper, eine leichte Campingausrüstung, gefriergetrocknete Nahrung, Wasserreinigungstabletten, einen Geigerzähler, eine handliche Wetterstation und eine große Kiste Yukon Thaw. Ferner gehören zu meiner Ausrüstung noch sämtliche Ordnance-Survey-Karten der Britischen Inseln (Maßstab 1:50.000) auf CD-Rom, Meßtischblätter von Groß-London, ein altes doppelläufiges Gewehr (Schrot und Kugel), das ich von einem Trödler am Lavender Hill gekauft hatte, ein großer Erste-Hilfe-Kasten mit vielen Arzneimitteln und ein medizinisches Handbuch, eine Polaroidkamera (um den Eingeborenen im Ernstfall ein paar nette Bildchen schenken zu können), Regenkleidung, ein großer Rucksack, Zeichenblöcke und Stifte, wiederaufladbare Batterien und ein Ladegerät mit Solarzellen. Als Handelsware nehme ich Zigarren, venezianisches Glas, Schweizer Offiziersmesser, Vergrößerungsgläser, Seide und Jeans mit. Den Rest meines Geldes habe ich in Gold eingetauscht, natürlich nur kleine Münzen. Die Videokamera habe ich nicht mitgenommen (sondern dir überlassen). Ich werde ja kein Tourist sein, sondern mehr so eine Art Einwanderer (außerdem krieg ich immer einen steifen Hals von dem Ding). Statt 137
dessen habe ich lieber noch einen zweiten Oyster-Laptop mitgenommen. Diese praktischen Dinge waren naheliegend und unterschieden sich nicht sehr von den Vorbereitungen für eine Ausgrabung. Schwieriger war die Frage, was für kulturelles Gepäck ich in meiner Arche mitnehmen sollte. Ich konnte den Photius spielen. Ich konnte aber auch Desert Island Discs mitnehmen. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr bedrückte mich die Verantwortung. Würde ich eher ein Botschafter der Zivilisation sein oder ein Wilder? Was schuldete ich der Zukunft, und was sollte ich ihr lieber ersparen? Was sollte ich mit Machiavelli, Marx und Clausewitz machen? Und was mit der Heiligen Schrift? Was ist, wenn sie eine Heilige Inquisition haben? Was ist, wenn sie den Wahren Gott vergessen haben? Sollte ich ihn wieder ins Geschäft bringen? Zu guter Letzt nahm ich eine King-James-Bibel mit, aus literarischen Gründen. Die Klassiker mitzunehmen stand für mich außer Frage, aber wie sollte ich sie definieren? Natürlich kamen nur elektronisch gespeicherte Daten in Frage, aber auf CD gibt’s bloß lauter alte Kamellen, und der abendländische Kanon hatte wahrscheinlich gute Chancen, auch ohne meine Hilfe zu überleben. Andererseits: Was bedeutet schon Kanon. Eigentlich ist der ohnehin ziem138
lich rudimentär: riesige Kontinente versinken, und ein paar Bergspitzen bleiben übrig. Vielleicht sollte ich mich eher um die Unterschätzten und Vernachlässigten kümmern? Um die mittelalterlichen Romanzen, um den Stabreim, um australische Felsmalereien, peruanische Knotenschnüre, meroitische Stelen und polynesische Sternkarten? Kann ich überhaupt damit rechnen, daß die Leute noch Englisch verstehen? Wer hätte denn in den Jahrhunderten zwischen Antike und Mittelalter damit gerechnet, daß der Dialekt einer wüsten Horde von blonden Seeräubern einmal die führende Weltsprache sein würde? Hätte es nicht genausogut Baskisch, Ketschua, Quiché, Kaschubisch oder Mende sein können? Und in der Musik? Schon die schmalste Auswahl dessen, was wir heute hören, hätte die Kapsel hoffnungslos überladen. Von den Hirtenflöten der Anden, ghaund den üblichen Verdächtigen ganz zu schweigen. Was sollte aus der Architektur und Bildhauerei, aus der Malerei und der Politik, der Polyphonie, den Präraffaeliten, der Prosodie, der Proktologie, dem Protokoll, der Pyrotechnik und den Lehren des Pythagoras werden? Um nur einiges zu nennen, was mir gerade so einfiel. Natürlich nahm ich die wichtigsten Nachschlagewerke auf CD-Rom mit: die Britannica, das OED, den Grove und 139
zwei Lyrik-Anthologien. Danach hatte ich nur noch für ein paar Taschenbücher (vom ›Greene Knight‹ bis Graham Greene) und drei Hardcover Platz: die ›Zeitmaschine‹, meine Dissertation und den alten blauen Dunne, den mir Anita geschenkt hat. Du siehst, am Ende stand ich wieder am Anfang: Desert Island Discs. Ich werde der Zukunft kaum die großen Erkenntnisse mitbringen, aber ich werde ihnen zeigen können, was mir gefällt. Und wenn sie alles schon kennen und über meine Auswahl lächeln, kann ich die Sachen immer noch in den Antiquariaten verkaufen. Wenn das Ende der Geschichte tatsächlich der Markt ist, werde ich den ganzen Ramsch verscherbeln und meine Tage als Rentner beschließen. Was hättest du mitgenommen? Wahrscheinlich mehr Jazz. Und dein Saxophon. Du bist ja einer der Glücklichen, die ihre eigene Musik machen. Seien wir mal optimistisch: Mein medizinisches Problem wird erfolgreich behandelt, und ich verdiene meinen Lebensunterhalt als Experte für die Endzeit der industriellen Revolution. Ich kann ja alle Gegenstände, die meine Kollegen aus der Zukunft als »religiöse Kultobjekte« bezeichnet haben (wie Archäologen das immer tun, wenn ihnen nichts Richtiges einfällt), aus eigener Anschauung identifizieren: Rubiks magischen Würfel, Glockenspiele, Dildos, Handys, Spielautomaten und 140
Raumschiff-Enterprise-Modelle. Ich kann ihnen Beckett oder die Bedeutung von Andy Warhol erläutern und Christo auspacken. Ich kann Baudrillards Beziehungen zu Donald Duck und Mickey Maus untersuchen. Ich kann ›Finnegans Wake‹ übersetzen! Es wird ein einziges gigantisches Fest! Und es wird mein Fest. Wer könnte schon die Frechheit haben, mir widersprechen zu wollen? Tja, Bird, vor einer Woche bin ich fertig geworden. Und dann bist du ins Spiel gekommen. POSTSKRIPTUM. Vor Canvey Island, 30. November 2000. Zwölf Uhr mittags. Ebbe. Jetzt ist alles bereit; die Kapsel schwimmt auf der vom seichten Wasser bedeckten Sandbank zwischen dem Ufer und dem ausgebaggerten Schiffahrtskanal. Außer einem kleinen Ölfleck, ein paar Flundern, ein paar unreifen Koprolithen und einem dürftigen Konfettischleier von Möwen kümmert sich niemand um uns. Du bist immer noch in der Saloon Bar des King Canute, um dir ein Glas Bitter und ein Sandwich-Paket für unseren Lunch geben zu lassen. Aber ich werde nicht mit dir essen. Das Wetter ist trübe und böig. Wolkenfetzen treiben über den Himmel, und der Regen fegt einem mit tausend Nadelstichen über die Haut. An so einem Tag 141
fällt es einem nicht schwer, dieses Land zu verlassen. Obwohl – ich werde es ja gar nicht verlassen. Ich laufe lediglich so schnell auf der Stelle, daß mich niemand mehr sieht. Erinnerst du dich noch an Speedy Gonzales? Die schnellste Maus von Mexiko? Es ist gemütlich in meinem burgunderroten Boudoir, und die schimmernden grünen Augen rings um mich herum zeigen mir, daß ich, wenn alles gutgeht, bald im Jahre 2500 sein werde, am Julianischen Tag Nummer 2.634.500 oder, nach Zählung der Mayas, am 14.4.15.0.17. Zweimal habe ich diesen Brief auf Disketten kopiert. Eine etwas ältere Fassung findest du in meiner Wohnung, diese letzte Fassung werde ich jetzt gleich in ein altes Honigglas stecken und kurz vor dem Abflug aus der Einstiegsluke werfen. Das wird meine letzte Handlung zu meiner Zeit sein; denn ich glaube eigentlich nicht, daß ich noch einmal zurückkomme. Mach’s gut, alter Freund! Vielen Dank! Und vergib mir!
TEIL II NACH LONDON
1 Ein Ort voller Licht, eine Ebene, peitschender Wind, eine flach hingestreckte Gestalt auf dem Sand. Dunkelheit. Der Mann erwacht, steht unsicher auf, berührt seine Augen. Ich bin blind. Sein Gesicht wird von Händen berührt. Seine Brust. Seine Lenden: Ich bin nackt. Schritte im Sand. Dämmerung. Keine Sonne, nur ein Halbkreis von Licht. Eine Lichtkuppel über einer welligen Schüssel aus Sand. Eine Frau mit feurigem Haar und schimmernder Haut, die ihm den Rücken zukehrt. Wer bist du? Sie wendet sich um! Ich kenne dich! Sie runzelt die Stirn: Sie funktioniert also noch. Wo und wann und wer sind wir? Hier draußen gibt es keine Jahre und Namen. Ich hätte es mir denken können. Allerdings. ›Es geht ein Wagen ohne Pferde, das Unheil füllt mit Weh die Erde.‹ Ein Fahrzeug ohne Fahrerin, und doch bist du an Bord geklettert. Tania! Ein halb verwischter Traum? Oder ein Abdruck der rasenden Fahrt durch fünf Jahrhunderte auf der Netzhaut? Innerhalb der Kapsel gab es keine Möglichkeit, die Vorwärtsbewegung zu messen. Man wußte nicht, ob sie sich drehte wie ein Kreisel oder schaukelte, ob sie sprang oder stillstand, während sie durch die Jahrzehn144
te fegte. Ja, man wußte nicht einmal, ob sie die Zeit überhaupt hinter sich ließ. Die Kräfte, von denen ich geschüttelt wurde, schienen auch weniger auf normale Bewegung als vielmehr auf Verzerrungen im Gravitationsfeld zurückzuführen zu sein. Mir war, als würde ich komprimiert. Ich fühlte mich massiver und dichter, wie ein Neutronen-Stern. Wahrscheinlich habe ich auch das Bewußtsein verloren. Dann kam ein Traum von mir und Tania oder Anita oder einer anderen Sehnsuchtsgestalt. Es war eine Vision von symphonischer Fülle, aber geblieben ist mir nur das dünne Echo, das ich gerade notiert habe. Dann – ich kann mich kaum noch daran erinnern – kam der Übergang zur Diffusion. Ich wurde gewichtslos und schien kaum noch einen Abdruck auf dem Polster zu hinterlassen. Eine herrliche Leichtigkeit erfaßte mich. Es war wie in einem Flugtraum, wenn man nur die Arme ausbreiten muß, um zu schweben, und sich fragt, warum man nicht immer so über allem dahingleitet. Dieser Zustand ging jählings zu Ende. Ich wurde in die Gurte geschleudert, nach hinten gepreßt und wieder nach vorn gerissen, bis ich erneut das Bewußtsein verlor. Als ich wieder erwachte, schaukelte ich immer noch heftig. Aber bald wurde mir klar, daß es sich um eine durchaus vertraute Bewegung handelte, was ich da 145
spürte: Es war das Schlingern eines kleinen Bootes in stürmischer See. Ich war »gelandet«; die Kapsel schaukelte im Meer. Meine Uhr besagte, daß eine Stunde und sieben Minuten vergangen waren. Das Einstein-Paradox? Oder hatte ich einfach etwas über eine Stunde in einer kleinen, schwankenden Kapsel gesessen und mich von den Wellen herumschleudern lassen? Ich weiß nicht, was ich mehr fürchtete, als ich die Luke öffnete: den enttäuschenden Anblick meines wütenden Freundes, der mit dem Camcorder im strömenden Regen herumstand, oder die unvorstellbaren Schrecken eines Landes, das mir noch fremder sein würde als das England der Tudors. Aber es hatte geklappt – will sagen: Ich war irgendwo angekommen, wo es anders war als zuvor. Ich habe jetzt einen ganzen Tag gebraucht, um mich zu sammeln und das zu notieren. Was immer geschieht, ich muß dieses Tagebuch unbedingt fortsetzen. Schon um mir selbst zu beweisen, daß ich noch lebe. Ich stecke den Kopf ins Freie wie ein ausgebrütetes Küken und sehe einen wolkenlosen Himmel, eine glutheiße Sonne, türkisfarbenes Wasser, eine dunkelgrüne Mangrovenküste in der Entfernung und davor eine sandige Insel mit ein paar Büschen und Palmen. 146
Ich krieche aus meiner stachligen Muschel, werfe Anker auf dem geriffelten, mit Seegras bewachsenen Sandgrund in vier Metern Tiefe. Dann schwimme ich durch das schimmernde, warme Wasser zum Strand. Ein Ruck. Nach langer Reise wieder festen Boden unter der Füßen. In der Sonne sitzen, die Zehen im feuchten Sand. Das lässige Plätschern der Wellen, die über den Strand spülen. Krabben, die über die Steine am Ufer huschen wie die Hände eines Pianisten über die Tasten. Ein Himmel voller Pelikane und Fregattvögel, die wie Flugsaurier aussehen. Der weiche, weibliche Geruch des Meeres und der Regenwald mit seiner Hitze. Ein neuer Himmel, eine neue Erde. Nur wo? Hat sich die Erde unter mir weitergedreht, als ich durch die Zeit schwebte? Bin ich doch noch in Bora Bora gelandet? Ich glaube, in meinem tiefsten Inneren hatte ich nie damit gerechnet, daß die Maschine wirklich funktionieren könnte. Daß sie mich umbringen könnte, hatte ich für wahrscheinlich gehalten, aber nicht, daß tatsächlich eine Zeitreise stattfinden könnte. Was klappt schon jemals so, wie geplant? Ich dachte daran, daß die Polynesier die Segelschiffe der Weißen als Boten der Sonne verehrt und kleine Plattformen gebaut hatten, um sie von dort aus mit ihren Gebeten gen Himmel zu schicken, und schon über147
fiel mich die Lust, ebenfalls so eine heilige Stätte zu errichten. Ich wollte ein Zeichen setzen, daß ich existierte. Plötzlich die überraschende Erkenntnis: Die Steine auf der Sandbank sind gar keine Steine. Es handelt sich um weiche, rote Ziegelstücke. Schiffsballast, den irgendein alter Segler vor langer Zeit hier abgeladen hat? Nein, erst vor kurzem habe ich solche Ziegel gesehen. Der King Canute war aus solchen Ziegeln gemauert. Mein Gott, was ist geschehen? Erschrocken schwamm ich zurück und strampelte mich so dabei ab, daß ich kaum zurück an Bord klettern konnte. Als ich wieder zu Atem kam, holte ich hastig meine Karten, den Kompaß und meinen Sextanten, verpackte alles in einen wasserdichten Behälter und brachte alles auf die Sandbank. Als nächstes holte ich das Faltboot, das ich gleich in der Originalverpackung an Land schaffte. Ich habe nicht lange gebraucht, um festzustellen, daß sich die Sonne trotz der tropischen Hitze, mit der sie herabbrennt, genau dort befindet, wo sie sein muß – am 30. November auf 51°30’ nördlicher Breite. Meine eigene Position genau zu bestimmen, ist nicht so einfach, denn wie es scheint, ist der Meeresspiegel um einige Meter gestiegen. Die Themsemündung ist mindestens 148
eine Meile breiter geworden. Canvey Island ist in den Wellen versunken. Nur der kleine Hügel, auf dem der Gasthof gestanden hat, scheint übriggeblieben zu sein (wenn diese Ziegel denn tatsächlich die Überreste des King Canute sind). Dichte Vegetation am Ufer verdeckt alle anderen Wahrzeichen. Ich baute das Faltboot zusammen – es war gut, die aufkommende Panik mit einer konkreten Tätigkeit unterdrücken zu können – und paddelte Richtung Ufer. Die Ebbe hatte eingesetzt, und das Wasser gurgelte leise durch hohe Stützwurzeln; Moskitos fielen über mich her, und die knubbeligen Knie der Mangroven stießen mich zurück in den Fluß. Hoch über meinem Kopf hingen Bärte von Seegras und Tang in den Ästen, die vertrockneten Überreste vergangener Springfluten. Eine Weile folgte ich der Küste, entdeckte einen großen Stachelrochen, einen hastig flüchtenden Hummer und einen Schwarm schlanker Streifenbarben. Hier und da glaubte ich zwischen den Bäumen kleine Erhebungen zu erkennen, vielleicht die Überreste von geborstenen und überfluteten Dämmen und Deichen, die jetzt so rätselhaft wie Festungen der Eisenzeit wirkten. Eine Annäherung ans Festland war nicht möglich, es gab keinen Strand, keine Lichtung und keinen Kanal durch die Bäume. Vom Menschen und seinen Werken war nichts zu sehen. Keine Flasche, keine Plastiktüte, 149
kein Stück Treibholz, das Spuren von Axt und Säge zeigte. Schließlich paddelte ich – jetzt schon einigermaßen beunruhigt – nach Süden in Richtung des Schiffahrtskanals. Von hier aus, fast in der Mitte des Flusses, konnte ich über die Bäume am Ufer hinwegsehen und erkannte am Horizont einige palmenbestandene Hügel, die ein halbwegs vertrautes Profil zeigten. Aber wenn es tatsächlich die Hügelkette von Rayleigh war, was ich da sah, dann war die Stadt von dichtem Dschungel verborgen, und es gab keine Möglichkeit, durch die Sümpfe dorthin zu gelangen. Die Ebbströmung von London her war hier draußen viel stärker als in der Nähe des Ufers, aber das Wasser war klar und grün – so als gäbe es weder Städte noch Landwirtschaft, so als wäre die Erde ganz ungestört. Wahrscheinlich ist die Themse nicht mehr so sauber gewesen, seit Caesar von Gallien herüberkam. Bin ich allein? Oder haben unsere Nachkommen die Probleme des Daseins gelöst? Haben sie die Bevölkerungszahlen im Griff? Haben sie Eigennutz und Gemeinnutz ins Gleichgewicht gebracht und unsere Hinterlassenschaften zum Nationalpark gemacht? Die Stille gab keine Antwort, und das Schweigen ringsum war betäubend. Ein Abgrund ohne Echo. Ich sank über dem Paddel zusammen, erschöpft und ver150
zweifelt. Was nun? Was hätte Tania getan? War sie ebenfalls in dieser warmen Wasserwelt gelandet? War sie rasch mal schwimmen gegangen und hatte vergessen, die Handbremse anzuziehen? Hätte sie nicht eine Warnung in der Kapsel zurücklassen können? Vielleicht sogar eine Landkarte? Ein paar Notizen in der Kapitänskabine der Marie Celeste? Ich wäre am liebsten gleich weiter nach Westen gefahren, nach London, gegen die Ebbe in Richtung der untergehenden Sonne, so als könnte eine bloße Willensanstrengung die Zeit anhalten, das Wasser umkehren lassen und den Tag verlängern, bis ich Gewißheit hatte, was mir bevorstand. Aber die Sonne stand schon sehr niedrig und konnte jeden Augenblick hinter den schwarzen Gewitterwolken im Westen verschwinden. Ich wendete und paddelte mit aller Kraft auf meine Sandinsel zu. Der Himmel verdüsterte sich unter den aufkommenden Wolken, und ein plötzlicher Guß ließ die Südseefarben aus der Landschaft verschwinden. Ich zog das Boot unter einen kleinen Baum mit Blättern, die wie Pingpong-Schläger aussahen, und drehte es um. Dann schwamm ich zurück zur Maschine. Ich bleibe über Nacht unter Deck. Die Luke lasse ich nur einen winzigen Spalt offen. Die Kapsel tanzt auf den Wellen wie ein Stechapfel. Lange kann man es in der 151
Maschine nicht aushalten. Ich wünschte, ich hätte ein Fenster oder wenigstens einen Ventilator. Bird hat schon einen langen Bericht erhalten, und ich habe dir eine Kopie davon beigelegt. Wenn du sie zuerst liest, kann ich mir einige Erklärungen sparen. Aber von jetzt an will ich für dich schreiben, Anita. Deine Chancen, meinen Brief zu erhalten, sind auch nicht viel schlechter als die aller anderen Menschen, die ich mal gekannt habe. Eigentlich hängt es nur davon ab, ob diese Kapsel hier einen Rückwärtsgang hat und ob ich mich traue, ihn zu benutzen. Zehn Jahre habe ich um dich getrauert, als du noch gelebt hast; seit acht Monaten trauere ich um deinen Tod; aber jetzt und hier – wo ich womöglich eine ganze Welt betrauern muß – können wir vielleicht einen neuen Anfang machen, Anita. Wenn ich erledigt habe, was ich hier tun muß, werde ich zu dir zurückkehren, Liebes. Wir werden uns in Assuan treffen, auf der Terrasse des Old Cataract Hotels. Am Vorabend deines Geburtstags neunzehnhundert … ach, ich glaube, das Jahr können wir später noch festlegen. Die Sonne wird wie eine blutige Träne in den Hügeln hinter der Elefanteninsel versinken und die Wüste und deine Haare rot glühen lassen. Ich werde dir diesen Brief geben, und dann werden wir unser Leben noch einmal leben. 152
Weißt du, daß ich versucht habe, dich in Ägypten zu finden? Ein spontaner Entschluß, als ich zur Weihnachtszeit wieder einmal aus England wegwollte. Ich habe in Assuan angefangen, deshalb kenne ich die Sonnenuntergänge in der Hotelbar so gut. Natürlich bin ich viel zu spät gekommen. Deine Postkarte hatte schon jahrelang auf meinem Kaminsims gestanden, leicht gebogen und ziemlich vergilbt. Du warst nicht mehr da, und in Assuan erinnerte sich auch niemand an dich. Niemand hatte eine Vorstellung, bei welchem Team du sein könntest und wo dieses Team Ausgrabungen machte. Ich bin hinausgefahren zum Steinbruch, ich wollte den großen, unvollendeten Obelisken berühren, von dem ich wußte, daß du ihn berührt hast; denn auch die Liebe zu Steinen ist etwas, das uns verband. Einen regelrechten Akt des Vandalismus habe ich da draußen im Steinbruch begangen: Wenn du dir die Graffiti auf der Südseite sorgfältig ansiehst, findest du (in grüner Tinte) folgende Inschrift: Ich bin das Gestern, ich kenne das Heute, ich bin der Phoenix, der das Verzeichnis der Schöpfung bewahrt und aller Dinge, die noch nicht geschaffen sind – DL. Siehst du, ich habe es nachgeschlagen; das Zitat war nicht vollständig, und die Bedeutung ist auch eine andere, als du mir weismachen wolltest. Ich suchte die Deutschen in Luxor, die Kanadier in 153
Dakhla, die Polen in Heliopolis und die Amerikaner in Ma’adi heim. (Die Botschaft in Kairo war wegen der Feiertage geschlossen.) Alle kannten dich, erzählten freundschaftlich von dir, waren voller Bewunderung für deine Arbeit. Manche hatten sehr genaue Vorstellungen davon, wo du sein könntest, aber alle ihre Hinweise führten ins Nichts: zu Ausgrabungen, die schon beendet waren (oder noch gar nicht begonnen), zu verschlossenen Büros oder leeren Räumen und zu Archiven, die von Bränden zerstört worden waren. Meine Suche wurde bald zur sinnlosen Farce. Ich begegnete immer wieder denselben Leuten. Ich litt unter Durchfall und mußte mich mitten in meinen Erkundigungen hinter Akazienbüsche und Felsen zurückziehen. Ich vernachlässigte mein Äußeres. Ich wurde von Fundamentalisten mit Steinen beworfen, von Kindern bestohlen, erhielt Angebote von Zuhältern und Strichjungen. Langgesichtige Kopten liefen wie Gespenster hinter mir her und riefen: Catoliki? Catoliki?
1. Dezember Ein Zwicken und Zwacken. Die Morgenröte schiebt ihren Fingernagel in die offene Luke, die Wolken haben sich in ein dünnes Fischgrätmuster verwandelt. 154
Eine orangefarbene Sonne brennt in den Dunst. Ich stecke ein paar Sachen in meinen wasserdichten Behälter und schwimme zum Frühstück zum King Canute: fünfhundert Jahre alte Eier und fünfhundert Jahre alter Schinken auf einem Lagerfeuer aus Treibholz gebrutzelt. Erinnerst du dich noch an die Fernsehspots, wo ein City-Gentleman mit hochgeschlagenem Kragen durch das Schneetreiben hastet und plötzlich auf einer tropischen Insel ankommt? Club Med war das, glaub ich. Und anschließend immer dieselbe Frage: Das waren jetzt dreißig Sekunden. Können Sie auch eine Woche aushalten? Entschuldige den Galgenhumor. Sobald ich über das alles hier nachdenke, kriege ich schreckliche Angst. Ich stehe noch ganz am Anfang, aber irgendwie sieht es nicht so aus, als stünde eine Mayo-Klinik gleich um die Ecke. Und ich muß auf jeden Fall so lange hier bleiben, bis der Akkumulator wieder genügend Spannung aufgebaut hat: zwei Monate, um weitere fünfhundert Jahre zu hüpfen, vier Monate, wenn’s ein ganzes Jahrtausend sein soll. Wie lange bleibt ein Schiffbrüchiger eigentlich bei Verstand? Zumindest bin ich meine eigene Gesellschaft gewöhnt. Archäologie ist keine schlechte psychologische Vorbereitung für den Ernstfall. Wir haben unser Leben den Ruinen, Scherben und Knochen gewidmet; nicht 155
Fleisch und Blut, sondern das Knochengerüst der Kultur ist unsere Sache; wir fühlen uns wohl bei den Toten. Jetzt, nach dem Essen, geht es mir besser. Die Sonne erzeugt wieder dieses Feriengefühl der unbegrenzten Möglichkeiten. Wie lange wird es noch dauern, bis mich die Wächter erwischen? Wann wird der Hubschrauber über mir auftauchen und der Lautsprecher brüllen: Löschen Sie sofort dieses Feuer! Während ich so auf das gekräuselte Wasser hinaussehe – es weht noch eine angenehme, kühle Morgenbrise –, wird mir plötzlich bewußt, daß mein Gesicht und meine Unterarme brennen. Ich habe mir einen Sonnenbrand geholt – mit zwei Stunden Paddeln an einem Nachmittag mitten im Winter. Wahrscheinlich summen jenseits des Nationalparks die Kühlaggregate, um die Löcher in der Schutzhülle unseres Planeten zu flicken. Ich hätte nie gedacht, daß ich mir kalten Nieselregen wünschen würde, aber jetzt bin ich soweit. Und jetzt muß ich Pläne machen. Als erstes muß die Maschine entschärft, gesichert und irgendwo fest verankert werden, damit sie mir nicht abhaut. Zweitens muß ich ein brauchbares Lager errichten, und als drittes werde ich eine Reise nach London machen.
156
Abends Erschöpft. Ein anstrengender Tag. Gegen zehn war es über dem Dschungel so heiß geworden, daß ein leichter auflandiger Wind wehte. Gegen elf stand das Wasser hoch unter den Mangroven. Ich nahm die Kapsel hinter dem Faltboot ins Schlepp und bugsierte sie ins seichte Wasser am Ende eines kleinen, schattigen Inlets. Die zähen, alten Bäume, die den schmalen Wasserarm umstanden, sahen aus, als ob sie schon manchen Sturm überlebt hätten. Ich vertäute die Kapsel mit einem Netzwerk von Leinen, die ich an den kräftigsten Wurzeln festmachte, ließ die Luft aus dem Schwimmreifen und sah zu, wie sich das Fahrzeug in sein Schlickbett senkte. Nichts von alledem war angenehm oder leicht, denn ich war verhüllt wie ein Imker, um nicht von der Sonne und den Fliegen verbrannt und aufgefressen zu werden. Wenn es jetzt im Winter schon so heiß ist, wie wird es dann erst im Juli? Den Rest des Tages habe ich auf der Insel mein Lager errichtet: eine Feuerstelle aus Ziegeln, eine weiche Stelle unter einem Mandelbaum, wo ich das Zelt aufgestellt habe, eine Plastikplane, um Regenwasser aufzufangen und eine Wäscheleine zwischen zwei Palmen. Ob ich nun wirklich allein bin oder nicht: Sicher ist, daß ich 157
mich noch nie so allein gefühlt habe. Selbst beim Trekking in der Wildnis hat man doch immer irgendwelche noch so beiläufigen Zeichen der Zivilisation wahrgenommen: einen Zigarettenstummel im Gras, das Brummen eines Außenbordmotors in der Entfernung oder den Kondensstreifen eines Flugzeugs am Himmel. Hier erinnern mich nur noch die Ziegel am Ufer und meine eigenen Habseligkeiten an die Spezies, zu der ich gehöre. Abgesehen davon gibt es nur dich. Und Bird natürlich, den ich noch vorgestern hier an dieser Stelle gesehen habe, auch wenn es mir vorkommt, als ob es schon Jahre her wäre. Dem Himmel sei Dank, daß es so viele Tiere hier gibt. Bei Sonnenuntergang bin ich schwimmen gegangen, und plötzlich tauchte eine große Meeresschildkröte neben mir auf. Ihr Rückenpanzer war bestimmt so groß wie ein Eßtisch. Sie hat mich zweimal umkreist und tauchte dann, um mich von unten zu inspizieren. Sie blieb minutenlang an meiner Seite, bis ich zum Strand zurückkehrte. Wenn ich ein Pedro Serrano oder Alexander Selkirk wäre, könnte ich heute abend Schildkrötensuppe und Stew essen und hätte einen Schildkrötenpanzer als Regentonne. So weit bin ich noch nicht.
158
Bird war ziemlich schweigsam, als er mich im Lastwagen hier an die Themsemündung gebracht hat (ob er an dich gedacht hat?). Er hatte die Scheibe heruntergekurbelt und sich in regelmäßigen Abständen in der hohlen Hand eine Zigarette angezündet. Als wir durch Stepney kamen, wo wir seine Tasche holten und die Plane über dem »frühen Tauchboot« überprüften, fiel mir auf, wie verkommen die Wohnblocks hier waren. Reihenweise Garagen, in denen die kaputten Fahrzeuge wie tote Bienenlarven lagen, zertrampelte Rasenflächen und müllbedeckte Spielplätze mit verkrüppelten Schaukeln und Rutschbahnen. Ganz selten sah man noch Überbleibsel der Stadt, wie sie vor dem Krieg war, und die Fenster der ehemals gemütlichen Eckkneipen, der Railway Arms oder des Lamb and Flag waren mit Brettern vernagelt wie die letzten Stücke eines vertrockneten Kuchens. Es wurde dunkel, und ehe wir auf die A13 gelangten, steckten wir über eine Stunde im Stau. Dann fuhren wir durch Kiesgruben, Schotterhaufen und Marschen. Als wir den Damm nach Canvey Island erreichten und ich sah, wie stark der Verkehr war, begann ich mich zu fragen, ob ich wirklich den richtigen Startplatz gewählt hatte. Ich war erst einmal auf der Insel gewesen, vor vielen Jahren, als ich mit einem Freund und dessen Vater einen Segelausflug gemacht hatte. Wir hatten von Brightlingsea nach Barnes segeln wollen, als uns ein 159
Sturm überrascht und gezwungen hatte, in Canvey zu ankern. Damals hatte Canvey nur aus Marsch- und Weideland bestanden, das Dorf war ein etwas kümmerlicher Badeort, der vor allem von Tagesausflüglern aus dem East End aufgesucht wurde. Der Yacht Club, in dem wir über Nacht festmachten, war nicht viel mehr als ein großes Stauwasserbecken mit einem hölzernen Bootssteg, ein paar Benzinpumpen und einem Gasthof. Dahinter lagen ein Bauernhof und vielleicht ein paar Bungalows. Naiverweise hatte ich gedacht, es hätte sich nicht viel geändert, seither. Aber dem war nicht so. Die ehemaligen Wiesen waren dicht mit Einfamilienhäusern bebaut, und obendrein gab es noch eine Ölraffinerie. Der Yachtclub war geschlossen und von einem hohen Eisenzaun umgeben. Das Schlimmste allerdings war die Befestigung aus Zement und Erdwällen, die um die ganze Insel herumlief. Bird und ich suchten vergeblich nach der alten Rampe, auf der ich meine Maschine hatte ins Watt hinausfahren wollen. Überhaupt schien es schwer, eine hinreichend abgelegene Stelle für die Startvorbereitungen zu finden. Allmählich war es spät geworden, schon nach zehn. Wir überlegten, ob wir zurück aufs Festland und weiter nach Foulness hinausfahren sollten, aber Bird wollte ein Bier und dazu etwas essen. »Laß uns hier im Gasthof übernachten, Dave. Am Morgen sieht alles ganz anders 160
aus. Wir können ja früh aufbrechen.« Ich war plötzlich sehr müde, und der King Canute sah wirklich einladend aus. Es war ein niedriger alter Gasthof aus Ziegeln und Balken, direkt am Wasser. Wahrscheinlich hatten hier die Austernfischer gezecht, als es in der Themse noch Austern gab, die man essen konnte. In der niedrigen Gaststube gab es einen Kamin und eine sehr attraktive Bedienung. Zum ersten Mal seit langer Zeit straffte Bird seine Schultern, und sein Haar wippte. Ich bestellte zwei Pints und Chicken Pie und fragte nach einem Zimmer. »Lieber zwei Zimmer«, sagte Bird und sah dem Mädchen dabei fest in die Augen. »Mein Kumpel schnarcht wie ein Igel. Außerdem ist es immer schön, ein eigenes Zimmer zu haben. Man ist da viel … ungestörter, nicht wahr?« Er machte sich offenbar Hoffnungen. Sie sah auch wirklich gut aus. Keinen Tag älter als neunzehn. Schwarze Strumpfhosen und ein knapper Body unter einer weißen Strickjacke, dazu blondes Haar. Die Ohren von oben bis unten voll goldener Ringe, ein bißchen wie ein Spiralblock. In der Lippe trug sie einen Zirkon; im West End war das passe, aber im Osten von London noch nicht. Ich habe mir nie sehr viel aus dem neuen Primitiv-Look gemacht, aber bei diesem Mädchen sah er gut aus. Eine richtige Essex-Frau. Sie hieß Elaine und hatte nie woanders gelebt als hier auf der Insel. »Dann ist dein Vater wohl der Besitzer?« sagte Bird. 161
Ich sagte, er sei immer so neugierig. Er hieße nun einmal Parker. Sie hatte ein leichtes Lachen. »Nein, ich arbeite bloß hier. Ist das beste Pub und das älteste Gebäude hier auf der Insel. Sie haben bestimmt gemerkt, daß wir auf einer kleinen Anhöhe stehen.« Sie lachte noch einmal. Ich hatte den Hügel tatsächlich bemerkt, als wir vom Parkplatz heraufkamen. Es waren zwar nur ein paar Meter, aber wenn das Umland so flach ist, fällt so etwas doppelt auf. Sie zapfte ein Bier für einen einsamen, älteren Stammgast, der einen Anorak trug und aufmerksam zu uns hersah. Es war keine Saison für Touristen. Bird bestellte noch eine Runde. »Deshalb heißt es auch der King Canute.« Wie ein Schachgroßmeister beim Simultanspiel nahm Elaine ihre Gespräche immer genau dort wieder auf, wo sie aufgehört hatte. »Früher hieß es Goat and Boat. Haben Sie je von der großen Flut von 1953 gehört? Die ganze Insel stand unter Wasser, bloß der Gasthof hier nicht. Meine Mutter hat mir davon erzählt. Das Wasser kam direkt bis an die Schwelle, dann blieb es stehen. Der Besitzer war damals Rays Vater. Er hat sich in die Tür gestellt und geschrien: Verschwinde, geh weg! Vor zwei Jahren war es wieder dasselbe. Das Wasser kam direkt bis an die Schwelle. Die blöde Mauer da unten hat überhaupt nichts genutzt.« 162
»Wann haben sie die denn gebaut? Ich war früher schon mal hier, kann mich aber gar nicht daran erinnern.« »Weiß ich gar nicht genau. Letztes Jahr wurde sie höher gemacht, aber dagewesen ist sie schon vorher.« Sie hob die Stimme, um in die Public Bar hinüberzurufen. »Ray? RAY!« »Jaah.« (Ziemlich undeutlich vor dem Hintergrund eines Videospiels und eines Dart-Wettbewerbs.) »Ray, wie lange steht die Mauer schon?« »Was meinst du?« »Die Mauer hier unten. Der Hochwasserdeich.« »Na, so ungefähr zehn Jahre, würde ich sagen.« Bird lehnte sich lächelnd über die Theke, und seine Blicke lagen wie zwei Hände auf ihrem Körper. »Noch eine Frage, Elaine. Wo könnte man ein Boot zu Wasser lassen? Ich meine, in aller Stille.« »Wozu denn das?« An dieser Stelle übernahm ich die Sache. Wir hätten ein größeres Boot zu Wasser zu lassen, sagte ich. Es sei so schwer, daß wir eine Rampe dafür brauchten. Wir hätten nicht sehr viel Zeit, sondern müßten mit der Ebbe morgen früh auslaufen. Wir wollten einen Freund überraschen, deshalb möchten wir nicht, daß uns jemand sieht.« »Elaine, hast du ihn wirklich nicht erkannt?« fragte 163
Bird, um meine schwache Geschichte zu retten. »Macht nichts, meine Liebe. Es ist ihm lieber, wenn er inkognito bleibt. Es kann ziemlich lästig werden, wenn man so berühmt ist wie unser Dave.« Elaines dunkle Wimpern hoben und senkten sich, während sie mich amüsiert musterte. »Ach, komm!« »Aber, Elaine, er ist wirklich berühmt. Cowes, Freemantle, America’s Cup – hat er schon alles gesegelt.« Bird schnickte eine Camel aus seiner Packung und fing sie geschickt mit den Lippen. »Ich übrigens auch, ich bin seine Crew.« Er dämpfte verschwörerisch seine Stimme und fegte den Rauch weg. »Wir reden allerdings nicht gern darüber. Wir wollen keine Publicity, die Paparazzi und die Skandalreporter von der ›Sun‹ verfolgen uns sowieso dauernd. Und die Konkurrenz ist auch ständig hinter uns her. Verstehst du jetzt, warum wir unser neues Boot gern unbeobachtet zu Wasser lassen wollen?« »Ray? Ray!« »Jaah!« »Wo kann man hier ein Boot zu Wasser lassen … ohne daß es jemand sieht?« »Wieso willst’n das wissen?« »Ach, hier sind zwei Gentlemen. Segler.« »Du meinst wohl Schmuggler, was?« 164
Wir selbst bekamen den boshaften Ray nie zu Gesicht, aber Elaine ging nach nebenan und kehrte mit den nötigen Informationen zurück. Der Jachthafen war zwar geschlossen, aber wenn man hinter dem Parkplatz nach links an einem alten auszementierten Schiffsrumpf vorbeifuhr, der im Zweiten Weltkrieg als Sperrboot gedient hatte, dann kam man auf einen schlammigen Schotterweg, der zu einem Loch im Zaun und dann auf einer zementierten Rampe zum Wasser hinausführte. »Ray sagt, Sie müssen auf den Schrott achten. Und der Schlamm ist ziemlich giftig, den muß man gleich abwaschen. Die Leute haben da rostige Fässer und Chemikalien abgeladen, und –« Elaine unterbrach sich mitten im Satz. »He, sagt mal, ihr gehört doch nicht etwa auch zu diesen Schweinskerlen? Dann könnt ihr euch nämlich verpissen! Die Insel hier ist meine Heimat!« »Keine Sorge, Elaine«, sagte Bird. »Wenn du morgen früh genug mit mir aufstehst, wird es mir eine Ehre sein, dir das Narrenschiff in allen Einzelheiten zu zeigen.« Ich warf ihm einen wütenden Blick zu, aber seine Blicke waren fest auf Elaine gerichtet, und seine Stimme war so samtig wie die eines Late Night DJs geworden. »Hören Sie mal«, sagte sie. »Warum sehen Sie mich denn so an? Wachsen meine Augenbrauen zusammen?« »Wie zwei verlassene Eisenbahngeleise, meine Sü165
ße.« Sie lachte, und es klang, als klirrten die goldenen Ringe in ihren Ohren. Wie es weiterging? Na, du kennst ja Bird.
Donnerstag, 2. Dezember Früh aufgestanden, um auf der Themse nach London zu fahren. Das Paddeln machte kaum Mühe, weil die Flut mich schob, und ich leichten Rückenwind hatte. Die künstlichen Uferbefestigungen scheinen alle untergegangen zu sein, und die Ölraffinerien und Kraftwerke, die sonst wie eine Allee von Sphinxen am Wasserweg nach London standen, um den Besucher zu grüßen, schienen auch verschwunden zu sein. Mangroven und Palmen säumen das Ufer, und mit dem Faltboot liegt man zu tief im Wasser, als daß man darüber hinwegsehen könnte. Ab und zu ragt zwar irgendwas aus dem Dschungel heraus, aber alles ist so dicht in Lianen und Blätter gehüllt, daß man hohe Bäume und Schornsteine nicht zu unterscheiden vermag. Wenn diese Ziegel auf der Sandbank nicht wären, müßte ich glauben, im Mesozoikum gelandet zu sein. Es muß so gegen zehn Uhr gewesen sein, als ich einen weiteren Beweis für die wirklichen Verhältnisse erhielt: 166
Vor einem blauen Canaletto-Himmel erschienen zwei schwarze Ausrufezeichen mit einem schiefen Bindestrich dazwischen, der den Fluß überspannte. Die Queen-Elizabeth-Brücke in Dartford. Ich brauchte eine lange Stunde, bis ich sie endlich erreichte, und meine hastigen Paddelschläge waren immer noch die einzige menschliche Regung auf einem Fluß, der einmal die verkehrsreichste Wasserstraße der Welt war. Ich versuche, dir das alles ganz ruhig und konzentriert aufzuschreiben, denn ich möchte dir einen möglichst professionellen Bericht geben. Vielleicht bin ich der einzige lebende Chronist dieser Zeit hier in London, und ich weiß ja, wie dankbar ich als Wissenschaftler war, wenn ich bei der Erforschung der dunklen Winkel unserer Geschichte mal auf einen Zeugen stieß, der halbwegs genaue Aussagen machte. Wie ich mich gefühlt habe (und immer noch fühle), als die Brücke näherkam, kannst du dir sicher vorstellen: Aus der anfänglichen Erregung wurde bald Enttäuschung und entsetzliche Angst, als die Gewißheit meine Eingeweide erfaßte und mir jegliche Kraft raubte. Wenn die verwitterten Ziegelsteine in Canvey eine erste Andeutung waren, so bildete der Anblick der Brücke einen unzweifelhaften Beweis. Die eben noch brandneue Brücke in Dartford ist auf schreckliche Weise gealtert. Der Beton ist pockennar167
big, nein, schlimmer noch, wie von Lepra befallen, vom Wind zerfressen, von rostigen Zysten bedeckt. Pelikane sitzen auf den Trägern und Kabeln wie Matrosen in der Takelage eines gestrandeten Windjammers. Dicke Stahltrossen sind aufgespleißt und abgerissen, die Fahrbahn scheint nur noch wie durch ein Wunder über dem Wasser zu hängen, und das Wunder wird immer dünner. Aus den Rampen sind große Stücke herausgebrochen und abgestürzt, überall liegen große Platten im Wasser wie prähistorische Megalithe. Wir hatten uns damit beschäftigt, wie sich ein Kalksteinfries auf einem Triumphbogen, die Granitplatte auf dem Sarkophag eines ägyptischen Königs, Ziegel und Mörtel einer römischen Wasserleitung oder das Mauerwerk eines Stufenturms in Mesopotamien im Lauf der Jahrhunderte verändert. Wir mußten wissen, was Sikkerwasser bei Lehmziegeln, Termiten bei Eisenholzbalken und saurer Regen bei Marmorkaryatiden anrichtet. Aber wieviel Zeit es brauchte, um eine Konstruktion vom Ende des 20. Jahrhunderts so zuzurichten, das wußte ich nicht. Zeit und Hitze. Die Ratte nagt. Was war bloß geschehen? Es hatte offensichtlich eine Erwärmung gegeben. Aber war es tatsächlich der Treibhauseffekt, den die Wissenschaftler vorausgesagt hatten? Oder hatte es an168
dere Gründe gegeben? Gründe, für die man nicht die Menschen verantwortlich machen konnte? Hatte ein Komet die Erde getroffen? Hatte sie wieder mal einen ihrer Malariaanfälle? Ich erinnere mich, daß Skeffington mal gesagt hat, die Gletscher könnten sich durchaus mal wieder nach Süden bewegen und die Sandsteintürme von Cambridge zermahlen. Wir sollten uns allerdings keine Sorgen machen deswegen. Wir hätten ja seit der letzten Eiszeit immerhin zehntausend Jahre gehabt. Zeit genug, um unser Essen und uns selbst zu zähmen und an einem Dutzend fruchtbarer Orte zwischen Peru und Peking so etwas wie eine Zivilisation zu erfinden. Und es gebe auch keinen Grund, am Fortbestand der milden Witterung zu zweifeln. Andererseits gebe es neuere Hinweise, daß solche langen Schönwetterperioden eher zu den Ausnahmen im Erdklima zählten. Bohrungen im ewigen Eis auf den Gletschern der Polkappen hätten gezeigt, daß starke Klimaschwankungen manchmal nicht im Verlauf von Jahrtausenden, sondern im Verlauf von Jahrzehnten erfolgt seien. Wenn das Boot mal ins Schaukeln gerät, wenn die Sommer immer heißer und die Winter immer kälter werden, wenn Hurrikane und Schneestürme über die Kontinente hinwegfegen, dann kann das Klima schnell kippen. Da genügen dann schon vierzig Jahre. 169
Es gibt keinen unmittelbaren Beweis, daß wir das Boot zum Kentern gebracht haben, aber der Zeitpunkt dieser Klimaveränderung ist natürlich verdächtig. Der große Scheiterhaufen, auf dem wir innerhalb weniger Jahrzehnte sämtliche Kohlen-, Öl- und Holzvorräte verheizt haben, war sicher keine besonders gute Idee. Oder sind die Raketen womöglich doch noch geflogen? Ist die Welt vom Gesang der Wasserstoffbomben zur Ruhe gebracht worden? Daß wir die Erde mit einem großen Knall verlassen könnten, hat ja immer zu unserem Selbstverständnis gehört. Da waren wir ja irgendwie stolz drauf, genau wie irgendein Arschloch mit Todeswunsch und dazu passendem Sportwagen. Aber vielleicht war die Rache der Natur ja schneller. Sechs Milliarden Zentner Affenfleisch auf unserem übervölkerten Planeten sind eine appetitliche Mahlzeit für die Mikroben. Ach, Anita, wer wüßte das besser als du und ich. Ein guter Archäologe zieht keine voreiligen Schlüsse! Also will ich mich lieber zurückhalten. Wer hat das Ende Roms herbeigeführt? Die Pest? Die Erschöpfung des Bodens? Die Ziegen? Die Dürre? Wasserleitungen aus Blei? Verrückte Kaiser? Korruption? Das Christentum? Die Barbaren? Abgelenkt von solchen Gedanken, merkte ich zu spät, daß der einzige Teil der Brücke, der noch zugänglich 170
war – eine Rampe, die sich aus einem schlammigen Altarm des Flusses erhob – bereits von anderen Bewohnern besetzt war. Ein mit Pomade frisierter Rundkopf erschreckte mich dermaßen, daß ich fast mein Faltboot umgekippt hätte. Bald gesellten sich noch weitere Köpfe dazu, die sich neugierig hoben und senkten, und dann war plötzlich die ganze Brüstung von einer Bande bärtiger Vagabunden besetzt. Als sie merkten, daß ich vor ihrem Lagerplatz anlegen wollte, wurden sie böse. Sie fletschten die Zähne, bellten und rollten die Augen. Zum Glück hatte ich das Gewehr mitgebracht. Ich paddelte ein Stückchen zurück und feuerte in die Luft, woraufhin sich ein Schneesturm von weißen Vögeln erhob. Die Seelöwen verstummten abrupt, so als könnten sie gar nicht glauben, was sie da gerade gehört hatten. Ich feuerte noch einmal, direkt über den Schädel eines mächtigen Bullen hinweg, der mir der Anführer zu sein schien, und jetzt endlich fielen sie von der Brücke wie Maden von einer auferstandenen Leiche. Dort, wo der Beton zu den ehemaligen Kassenhäuschen ins Wasser hinabtaucht, hat sich eine Art Kiesbank gebildet. An dieser Stelle legte ich an und zog mich an den rostigen Stahlspeeren hoch. Die unteren Teile der Fahrbahn sind mit Überresten von Fischen, Seelöwenkot, Schlick und Algen bedeckt (du kannst dir den Ge171
stank sicher vorstellen). Diesen Bereich hatte ich allerdings bald überwunden und gelangte in eine Zone, wo sich das Salzgras und zähe Büsche im geborstenen Asphalt festgesetzt haben. Ja, und hier sitze ich jetzt, genieße den frischen Wind und esse, während ich die Tastatur des Laptops bediene, ein Sandwich. »In großer Einsamkeit auf einem geborstenen Pfeiler der London Bridge zu sitzen und die Ruinen von St. Pauls zu zeichnen …« Hinsichtlich der Einsamkeit hatte Macaulay recht, auch wenn dies nicht die Brücke ist, an die er gedacht hat. Das Merkwürdige ist – oder vielleicht war das auch zu erwarten – daß es keineswegs still ist um mich herum. Ich höre Stimmen. Oder besser: Ich sage Dinge. Dinge, die wir zueinander gesagt haben, wortwörtlich nach all diesen Jahren. Gespräche mit dir und Bird, mit Fremden, mit mir selbst, Fragmente von Gedichten und Büchern, oft auch rätselhafte Stellen, von denen ich gar nicht gewußt habe, daß ich sie kenne. Ich ertappe mich dabei, wie sie aus mir herausströmen, wie ein Lied, das man nicht vergessen kann; und meine Stimme klingt zugleich fremd und vertraut, so als benutzte ich eine tote Sprache. Unsere Sprache. Ich bin allein mit allem, was sie enthält. Mit den Fragmenten, die ich auswendig kann, und denen, die ich in der Kapsel mitgebracht habe. Oder haben mich die falschen Bücher verrückt gemacht wie 172
Don Quichotte? Haben die düsteren Visionen von Mary Shelley, Shiel und Richard Jefferies mich in den Wahnsinn getrieben? Diese ganzen Lügengeschichten, die in der ersten Blüte des technischen Zeitalters zu mitternächtlicher Stunde erschienen, als die Menschheit begriff, daß sie von nun an die Mittel zum Selbstmord besaß? Wenn diese leere Zukunft aber bloß eine Selbsttäuschung ist, dann ist sie leider verdammt konkret. Ich habe Blasen an den Fingern, einen scheußlichen Sonnenbrand, und die Hitze ist unerträglich. Der Beton unter meinem Hintern ist hart. Ich muß mich ständig kratzen, weil die Mückenstiche so jucken, und der Schweiß, der mir in den Augen brennt, schmeckt salzig, wenn ich ihn am Ende im Mund habe. Die Sinnestäuschung ist allumfassend und konsistent. Ich könnte kotzen vor lauter ontologischem Schwindelgefühl. Und damit sind wir wieder bei denselben Unbegreiflichkeiten wie ganz zu Anfang, als die Maschine zurückkam. Woher weiß ich, was ich weiß? Und wer ist dieses Ich, das es weiß? Du hast diese Art von Gedankenspielen immer gemocht, aber unbeschadet aller akademischen Arroganz war ich immer heilfroh, wenn ich alle Fragen, auf die es keine Antworten gibt, den Propheten überlassen konnte, und den Franzosen. ›Il n’y a rien dehors du texte.‹ Na, wir werden ja sehen. 173
Unter dem ganzen Gerümpel, das mir Onkel Phil hinterließ, gab es auch einen Feldstecher, der vermutlich einst auf dem Turm eines deutschen Atlantik-U-Boots benutzt worden ist. Ein klobiges Gerät, dieses Zeissglas, mehr als doppelt so groß wie moderne Ferngläser, aber ich habe es immer gemocht. Jetzt spähte ich damit nach Süden, in Richtung Sevenoaks und Tunbridge Wells. Über eine Woge von grünem Urwald hinweg, unter dem die Ruinen von Dartford liegen mußten, sah ich in der Entfernung die Hügelkette der North Downs wie eine Herde von Walen mit einer dünnen Kruste von Bäumen auf den Kreiderücken. Ich glaube, sogar dir hab ich nie von unserer Farm erzählt. Auch sie hat ihre Stimmen, die bisher allerdings nur als Schweigen in meiner Seele präsent waren. Otten Hall Farm (in ihrer Frühzeit hat es dort einmal Otter gegeben): vierhundert Hektar Land in einem Tal bei Tunbridge Wells. Ein vierhundert Jahre altes Fachwerkhaus mit braunen Ziegeln und schwarzen Eichenbalken, die Ecken mit den Planken elisabethanischer Schiffe bewehrt. Die Schornsteine zeigen wie Kanonenrohre zum Himmel. Seit zweiundzwanzig Jahren bin ich dort nicht mehr gewesen, aber unser Bauernhof steht mir lebendiger vor Augen als jedes andere Haus, in dem ich seither gewohnt habe. Es hatte eine lange Zufahrt mit weißem Kies, drei runde Hopfen-Darren (ich hielt sie 174
für Windmühlen ohne Flügel) und einen terrassenförmigen Garten mit sorgfältig geschnittenen Eibenhecken und niedrigen Natursteinmauern, die durch Rosenbüsche und Obstbäume zu einem dunklen, von hohen Bäumen umstandenen Weiher herabführten. Ich habe Leuten nie getraut, die mir erzählen wollten, sie könnten sich noch daran erinnern, wie sie im Kinderwagen saßen, aber ich erinnere mich, aus meinem herausgefallen zu sein. Es ist kalt, ein lauter Wind, ein Rechteck voller grauem Himmel, ein kahler Zweig oder zwei, schwarze Dornensträucher, die im Wind zittern; der kühle Luftzug des Verlassenseins, Kindergeschrei, das sich im Sturm verliert wie der Schrei einer Möwe. Ich setze mich auf, und die Dornen reichen noch weiter, der Wind wird noch lauter und kälter. Aber ich weiß, wie ich es wieder warm machen kann. Ich weiß, was ich machen kann, damit es aufhört. Vor und zurück, vorund zurückschaukeln, bis die Federn quietschen. Es schaukelt, und du wachst auf, du setzt dich auf, und wir schaukeln zusammen. Im selben Rhythmus, ein Fleisch. Und dann rumms! Wie soll man das, was man später begriffen hat, von dem Reptilienwissen trennen, das sich sprachlos an die einsame Kälte und das Himmelsrechteck erinnert? Keine Worte: nur ein Gefühl. Ein Gefühl, das bewahrt worden ist, obwohl man es nicht hätte aufheben sollen, so wie die letzte Mahlzeit im 175
Magen einer Moorleiche, die vor zweitausend Jahren ertränkt wurde. Eine Mahlzeit, die frisch genug ist, um noch heute gegessen zu werden. Es heißt, ohne Sprache, mit der wir unsere Erfahrungen ordnen und aufzeichnen, kann es keine Kenntnis der Welt geben. Aber ich weiß, daß die Leute sich irren. Ich erinnere mich an diesen Himmel, diese Kälte, diese bedrohlichen Bäume, das Zischen und Flattern des Windes – obwohl ich damals mit Sicherheit kein Wort dafür hatte. Tiere können sich auch ohne Worte erinnern, wo es etwas zu fressen gibt und wann man weglaufen muß. Und Tiere sind wir ja sicher. Was man einem Pferd bis zu seinem zweiten Lebensjahr beibringt, wird es bis zu seinem Lebensende nicht mehr vergessen. Das Pferd von Sitting Bull zum Beispiel hatte in der Wild West Show, in der sein Besitzer aufgetreten war, viel gelernt. Als der alte Medizinmann 1890 in der Schlacht von Wounded Knee erschossen wurde, erinnerte sich das Tier an die Tricks, die es im Zirkus gelernt hatte. Während sein Besitzer starb, begann es zu tanzen, und die Sioux sagten, es tanze den Geistertanz, mit dem die zahllosen Toten wieder zum Leben erweckt und die Weißen verjagt werden sollten. Statt dessen wurden sie alle von der US-Kavallerie getötet. Und auch ich erinnere mich. Die Federung des Kinderwagens wurde lauter, der Himmel sprang, der Himmel sprang, der Himmel 176
sprang. Dann der erhebende Moment, der Abschuß, das Gefühl der Freiheit, wenn der Himmel davonfliegt und die Erde sich hebt. Das Klirren von Metall, der Aufprall und ein Erdrutsch von Schmusetieren und warmen Dekken, unter denen man völlig verschwindet. Und dann der Nachhall: Die Eltern kommen gerannt, im Gesicht Angst und Bestürzung, widerwillige Bewunderung in der Stimme: So ein Racker! Ein solider Kinderwagen! Und zwei Stützen! Die Frau im Laden hat gesagt, eine würde auf jeden Fall reichen! Man wird ins Haus getragen, weg aus dem Grau und der Kälte, weg aus dem schrecklichen Wind und dem schneidenden Schweigen. Jedenfalls bis morgen. Zweiundzwanzig Jahre ist es jetzt her, daß mit unserem Bauernhof Schluß war (oder, wenn du willst, fünfhundertzweiundzwanzig), aber selbst, wenn es mir möglich wäre, mich dreißig Meilen weit durch diesen Dschungel zu schlagen, könnte ich auf gar keinen Fall mehr dorthin zurück. Unser alter Bauernhof gehört zu den zwei oder drei Orten auf dieser Insel, die ich nie wieder besucht habe und die ich auch nie wieder aufsuchen werde: Otten Hill Farm, das Krankenhaus von Aldworth Park, wo meine Masern ausgeheilt wurden, als meine Eltern starben, und, ja, du kannst es dir vielleicht denken, der Corpus Ballroom in Cambridge. Orte, die in der Erinnerung gefroren sind. Orte, wo etwas begraben 177
liegt; Gebiete, die man auf keiner Landkarte findet, die verschwunden sind aus der Geographie wie früher manche Gegenden in der Sowjetunion. Was würde ich denn dort vorfinden? Grundmauern und Überreste der Schornsteine, irgendwo im wuchernden Dschungel? Ist unser Haus vielleicht geplündert und abgebrannt worden, oder hat man es einfach einstürzen lassen? Oder leben in den alten Mauern womöglich noch Leute? Ist England die Heimat eines degenerierten Stammes, der zwischen Ruinen und Abfallhaufen dahinvegetiert, oder liegen irgendwo hinter den Wäldern die gepflegten Gärten von Ästheten wie William Morris und seinen Jüngern? Otten Hall Farm würde ihnen gefallen, es war einmal ein schöner Ort.
2 Samstag, den 4. Dezember, Dartford Bridge Ich werde diese Brücke zu meiner Zwischenstation machen, bis ich in London eine passende Unterkunft finde (immer vorausgesetzt, daß ich dort leben will). Die Stelle ist zwar etwas windig für mein Zelt, aber zumindest liegt sie hoch und trocken, und vor allem, was an Land lauert, bin ich hier sicher. Ach, Anita, ich habe kaum geschlafen, seit ich die Alte Welt verlassen habe, obwohl ich einen ganzen Becher Rum getrunken habe, bevor ich zu Bett ging. Es ist gar nicht so sehr der Wind und die Wellen, es sind auch nicht die plötzlichen Schreie aus den" Bäumen am Ufer, wenn der eine frißt und der andere stirbt; nein, was mich wachhält, ist die Stille. Die Seelöwen bleiben auf den unteren Rampen und stören mich wenig, aber die Pelikane sind frecher. Sie hokken auf der Brüstung, klappern mit den Schnäbeln und gieren mit glänzenden Augen nach meinem Frühstück wie alte Männer bei einer Strip Show. Andererseits ist es gar nicht so übel, ein bißchen Gesellschaft zu haben. Jetzt bin ich schon zweimal hier herauf gepaddelt und habe keinerlei kulturelle Aktivität beobachten können: 179
Es gibt keinen Rauch, keinen Lärm, keinen Abfall. Nicht das geringste. Aber wenn hier Fische und Tiere leben können, dann gibt es bestimmt auch Menschen. Nur wo? Und was sind das für Menschen in dieser Welt? Einfache, glückliche Naturvölker, die friedlich im Urwald herumhüpfen? Oder eher Feinschmecker alter Schule? Ich drehe ich mich jedenfalls ständig um. ›Es war herrlich, all diese überwucherten Dörfer und Städte zerfallen und wieder zu Erde werden zu sehen … Die Stadt war jetzt schon ländlicher als das Land, und das nicht von Menschen Gemachte wurde bald alles.‹ Shiel, 1901. Das waren die perversen Phantasien unserer Generation: Wie angenehm, in unseren behaglichen Häusern zu sitzen und sich eine Erde vorzustellen, die von der Last der Menschen befreit war. Sich vorzustellen, wie Tiere und Pflanzen, saubere Luft und sauberes Wasser zurückkehrten. Wir beide, du und ich, hatten auch diesen Traum (wie hast du eigentlich Kairo so lange ausgehalten, mit seinem Verkehrschaos?). Du hast immer regelmäßig für Future Heritage gespendet. Wußtest du, daß Future Heritage der legale Arm der Earth Commandos war? Du hattest wohl nichts dagegen, daß gelegentlich ein bißchen Plastiksprengstoff an Bord eines Nuklearschiffes gelangte, eine Haftmine an einem Walfänger klebte, Treibnetze abgeschnitten und Redwoods 180
mit Nägeln gespickt wurden, damit die Kettensägen zerrissen. Ich habe ihnen auch geschickt, was ich konnte. Was wäre denn die Alternative gewesen? Wegsehen, bis die ganze Welt zur Wüste oder bestenfalls zum Rübenacker wurde? Jetzt allerdings, wo die Wildnis wieder die Oberhand hat, flößt sie mir, genau wie unseren Ahnen, vorwiegend Furcht ein. Ich fürchte mich vor der nächtlichen Dunkelheit jenseits des Feuers, vor dem pfadlosen Dschungel, vor dem Abgrund am Rande der Welt, vor dem Geheimnis einer Schöpfung, die ich nicht verstehe. Außerdem besteht ein Riesenunterschied zwischen den primitiven Zuständen, die vor der Kultur liegen, und jenen, die nach der Kultur kommen! Diese Wildnis hier ist nicht jungfräulich, sondern alt und verbraucht, gespickt mit Risiken von Menschenhand. Ich bin zwar sehr für die Wälder, aber sind die auch für mich? Erinnerst du dich eigentlich an die Queen-ElizabethBrücke? Oder war sie noch gar nicht gebaut, als du gegangen bist? Bist du überhaupt nach England zurückgekehrt vor dem Ende? Warum hast du dich nicht mal gemeldet, verdammt? Ich habe gewartet wie ein Apostel und mich vergeblich gefragt, was ich denn getan oder nicht getan hatte und was ich tun sollte. Schließlich warst du ja zweimal zu mir gekommen, einmal in Alex 181
und einmal in Cambridge. War es da so abwegig, auf eine dritte Wiederkehr zu hoffen? (Okay, ich hör ja schon auf. Versprochen.) Ich muß ziemlich oft über den Stahl und Asphalt dieser Brücke gebraust sein, wenn ich die Ringautobahn nach Süden benutzt habe. Der Gegenverkehr wurde ja nach wie vor durch den Tunnel geleitet. Hat dir Bird je erzählt, wie wir mal mit einer seiner alten Maschinen da unten steckengeblieben sind? Eine Ariel Square Four mit Beiwagen. Die Fenster völlig blind und vergilbt, die Polsterung stank nach nasser Reißwolle, Mäusen und vergammeltem Gummi. Am Schluß mußten wir die ganze Nacht darin zubringen, deshalb kann ich mich an den Geruch so genau erinnern. Er hatte das Ding »von einem alten Zausel in Bexley« gekauft, und ich weiß noch genau, wie aufgeregt er war, als er mich anrief und fragte, ob ich ihm helfen könnte, das Monster zu holen. Ich sollte auf seiner eigenen Maschine, der weinroten Triumph (genannt »Springheel Jack«, du hast sicher auch einige unvergeßliche Touren damit gemacht) hinter ihm herfahren, falls die Ariel den Weg nach Cambridge nicht schaffte. Wie so häufig gab es unten im Tunnel einen endlosen Stau, und der Motor der Ariel wurde heiß. Auf den Auspuff tropfte Öl, und es stiegen dichte Rauchwolken auf. 182
Bird mußte den Motor abstellen, und natürlich sprang die Maschine dann nicht mehr an, als der Verkehr weiterrollte. Irgend jemand gab uns ein Seil, und ich schleppte die Square Four in eine stille Seitenstraße in Grays. Bird störte das alles gar nicht. Er fing an zu basteln. Ist sie nicht herrlich? Schau dir diese Gußteile an! Richtige Kunstwerke. Mir wäre es lieber, sie würden einfach bloß funktionieren, sagte ich. Die haben noch nie funktioniert und werden auch nie funktionieren. Totale Fehlkonstruktion, Dave, ein Vier-Zylinder-Motor. Die hinteren Zylinder müssen ganz einfach heißlaufen. Aber die amerikanischen Sammler sind ganz wild auf die Dinger. Sie erwarten gar nicht, daß irgendwelche englischen Maschinen je funktionieren. Solange sie nur recht exzentrisch und großartig aussehen. Das genügt den Yankees vollkommen. Als er endlich aufgab, war es stockdunkel. Außerdem regnete es. Die Kneipen hatten geschlossen, ein Gasthof war weit und breit nicht in Sicht, und die Triumph hatte kaum noch Benzin. Also endeten wir in dem modrigen Beiwagen wie zwei leere Flaschen in einer Aktentasche. Intimer möchte ich mit einem Mann nie mehr werden. Ein paar Tage später hatte Bird dann ein paar Ersatzteile aufgetrieben, und wir kehrten nach Grays zurück, um die Maschine zu holen. Na ja, der gammelige Beiwagen war auch noch da, 183
das schöne alte Motorrad aber war liebevoll mit Acetylen amputiert worden. Nördlich der Themse ist das Land flacher, aber auch mit dem Feldstecher sieht man außer glitzernden Sümpfen und kleinen Hügeln, unter denen sich wahrscheinlich irgendwelche Ruinen verbergen, nicht viel. Im Westen stehen etwa fünfzehn Meilen entfernt die Säulenstümpfe hoher Gebäude. Der untere Teil befindet sich unter dem Horizont. Das muß die City sein. Im flimmernden Mittagslicht, das vor Hitze und Feuchtigkeit zittert, kann man unmöglich erkennen, ob es noch spiegelnde Scheiben oder nur nackte Skelette sind, was man sieht. Wenn ich mich nur etwas genauer erinnern könnte, wie sich die Skyline Londons von dieser Brücke aus darstellte. Aber früher war das Wetter ja immer schlecht, und das Brückengeländer war eigens so konstruiert, daß man auf die Fahrbahn schaute und nicht in die Gegend. Eigenartig, daß ich jetzt eben dieses Geländer dazu benutze, um meine Ellenbogen mit dem Fernglas darauf zu stützen. Ein Gebäude allerdings erkenne ich gut: einen großen Turm, abseits und etwas näher als die anderen. (A toure on a toft – ich werde immer Langland hören in deiner Stimme). Die Canary Wharf, das größte Bürogebäude auf der Isle of Dogs und das höchste Bauwerk in 184
Großbritannien bei meiner Abreise, errichtet in der Raserei der Thatcher-Jahre. Londons überflüssigste Sensation, hat es Bird mal genannt, abgesehen von der Monarchie. Aber er war auch auf der Isle of Dogs geboren, in Millwall, und deshalb vielleicht etwas voreingenommen in seiner persönlichen Mythologie. Hinsichtlich der Canary Wharf jedenfalls hatte er eine klare Einstellung: Scheiß-plutokratische Hybris! So leer wie das Buch der italienischen Kriegshelden! Geschieht ihnen recht! Soviel er wußte, hatte das Projekt seine Erbauer finanziell ruiniert, und wie so viele wackere Vertreter des neoliberalen Turbo-Kapitalismus hatten sie augenblicklich den Staat um Hilfe gebeten, als sich die Dinge nicht so entwickelten, wie sie gedacht hatten. Sie brachten die Regierung dazu, mit Steuergeldern eine schicke kleine Hochbahn auf der Isle of Dogs zu bauen (vollautomatisch), und vermieteten die Büros für nahezu nichts. Trotzdem standen auch im Jahre 2000 noch ganze Stockwerke leer. Aber die Canary Wharf ist natürlich auf jeden Fall einen Besuch wert – vielleicht ist sie inzwischen der Kanarienvogel im Kohlenschacht der Geschichte.
185
5. Dezember, nachmittags, Isle of Dogs Ich habe die Brücke heute morgen um neun verlassen, getragen von einer starken Flut, die mich rasch voranbrachte. Gegen elf setzte Gegenwind ein, und ich blieb näher am Ufer, um nicht zuviel paddeln zu müssen. Trotz der Brise war es sehr heiß, und ich bedauerte, daß ich mich unter der gnadenlosen Sonne nicht ausziehen konnte. (Ich wünschte, ich hätte einen Hut mitgebracht. Ein großer Strohhut wäre das beste; wenn ich irgendwo geeignetes Material finde, werde ich mir was zu flechten versuchen.) Auch heute hatte ich wieder lange halluzinatorische Passagen, in denen ich mich ganz dem Augenblick hingab und nur das Wasser, den Wind, das Blätterrauschen und die Tiere am Ufer wahrnahm. Den Aufenthalt in der Natur habe ich ja immer geliebt. In den höheren Mangroven hingen Flughunde wie schäbige alte Lederjacken und warteten auf die Nacht. Ein Tukan mit einem großen gelben Schnabel segelte vor mir vorbei. Grellrote Papageien kamen kreischend aus dem Dschungel, flogen quer über den Fluß und verschwanden in den hohen Bäumen, die sich auf den ehemaligen Fordwerken in Dagenham erhoben. Ich überlegte, ob ich dort landen sollte – die Veränderungen der Automodelle hätten vielleicht als Chronik der Vergangenheit herhalten können. 186
Aber Fabrikruinen sind gefährlich, und es erschien mir auch unwahrscheinlich, daß die Karosserien das schwülwarme Klima überlebt haben könnten. Nein, was ich brauchte, war ein Gegenstand, in dem die Krise zum Zeichen erstarrt war. So etwas wie die Fresken von Bonampak, auf denen man einen MayaKönig sieht, dem Gefangene vorgeführt werden. Das Fresko trägt ein Datum, aber es ist nicht vollendet, und dort, wo die Schreiber den großen Sieg hätten darstellen sollen, ist die Wand leer. Dieses Schweigen aber ist aussagekräftiger als alles, was sie hätten aufschreiben können. Der Roding, einst begradigt und von Kanälen und Schleusen gefesselt, fließt jetzt träge, aber ungehemmt in die Themse. Von einer Schlammbank, auf der ein Dutzend Winkerkrabben hin- und herrannten und ihre großen Scheren schwenkten, trug der Wind einen leichten Schwefelgeruch über das Wasser. Vom City Airport und den Albert-Docks keine Spur. Hier und da, wo das Ufer nicht vom Dickicht überwuchert war, sah ich Hügelrücken und Steinhalden, die sich beim näheren Hinsehen als Überreste von Gebäuden erwiesen: behauener Granit, Beton, verrostete Träger und große Haufen verwitterter Ziegel. Die Themse hat unsere Viadukte und Lagerhäuser weggeschwemmt und neue Ufer daraus geformt. 187
Von einem Faltboot aus kann man nicht viel sehen – es liegt zu tief im Wasser. Obendrein ist es eng: Man fühlt sich wie ein Fuß im Schuh. Ich ließ mir viel Zeit, glitt lautlos dahin und spannte meine Sinne an, um Lagerfeuer zu riechen oder Stimmen, Gelächter, Hunde, Musik oder Trommeln oder sonst irgend etwas zu hören. Aber alles, was ich hörte, waren nur die Geräusche des Dschungels – ein schrilles Schwirren, Kratzen, Vibrieren, Rülpsen und Schreien, das abrupt zu verstummen schien, wenn ich vorbeifuhr, so als wollte es sagen: Du gehörst nicht dazu, deine Stadt ist seit Jahrhunderten tot. Immer wieder stürzt die Ungeheuerlichkeit dessen, wo ich mich befinde, auf mich herunter. Nackt irre ich durch dieses riesige Grabmal, meine ehemalige Heimat. Ist es überhaupt denkbar, daß es irgendwo auf der Welt anders aussieht? Die Kulturen der Vergangenheit waren lokal und stützten sich auf ein begrenztes Öko-System. Wenn eine unterging, entstand anderswo eine neue. Unsere Kultur dagegen war weltumspannend geworden, und ihre komplexe Vernetzung und Größe hatte sie außerordentlich verwundbar für jedwede Veränderung auf der Erde gemacht. Die globale Erwärmung mußte ungeheure Dürreperioden und Hochwasser hervorgebracht haben. Man konnte sich die vernichteten Ernten, das Ende des Handels, die Flüchtlingsströme und die 188
verzweifelten Notmaßnahmen gegen den Hunger leicht vorstellen. Es bewegt sich etwas unter dem Dach der Lianen. Ich erstarre, und die Bewegung hört auf. Eine schwere Gestalt im Schatten der Blätter, wuchtig und grau. Nichts Menschliches. Ein Nilpferd, denke ich, aber dann sehe ich den eigenartigen Rüssel – zu lang für ein Schwein, zu kurz für einen Elefanten. Ein Tapir, der gekommen ist, um zu trinken. Der Fluß erweiterte sich zu einem dampfenden flachen See. Von Norden mündet der Lea. Dahinter nimmt der Hauptkanal seine Abkürzung durch die ehemaligen West-India-Docks und macht die Isle of Dogs zu einer richtigen Insel. Das alte Flußbett vor Greenwich ist zu einem stillen Seitenarm voller Seerosenfelder und Wasserhyazinthen geworden. Bald ragte Canary Wharf vor mir auf – ein achthundert Fuß hoher Turm, leicht schief auf seinem Fundament von Londoner Lehm. Hybris? Vielleicht. Aber Größenwahnsinn war auf dieser Insel nichts Neues. Ich erinnere mich noch gut, was mir Bird alles über das große eiserne Schiff erzählt hat, das Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Insel gebaut worden ist. Es hieß Leviathan und war fast so lang, wie die Canary Wharf hoch ist. Einer seiner Vorfahren war beim Bau des Schiffes gestorben. Er war einer von den Schweißern gewesen, deren Skelette man in den was189
serdichten Luftkammern fand, als das Schiff abgewrackt wurde. Welches Götzenbild ist wohl die Apotheose des Viktorianischen Zeitalters mit seinen grauenhaften Menschenopfern? Der Crystal Palace? Der Eiffelturm? Die Brücke über den Firth of Forth? Oder waren es, wie ich in meiner Dissertation behauptet habe, zwei gigantische Schiffe, Leviathan und Titanic! ›An Form, Gestalt und Farbe wuchs des Schiffes stolzer Leib, in stummer, schattenhafter Ferne wuchs der Berg aus Eis.‹ Was immer im Norden an die Canary Wharf grenzte, ist weggespült worden. Der Beton ist rauh und abgefressen, und das jetzt auf dem höchsten Stand stehende Wasser strömt durch ein algenbewachsenes Loch in einen Keller und schwappt dumpf dröhnend in der Dunkelheit hin und her. Das Hochwasser steht meterhoch über dem früheren Ufer, und an den Wänden sieht man noch höhere Marken. Abgesehen von seiner leichten Schrägneigung ist der Turm ganz gut durch die Jahre gekommen. Hier und da hängen noch Reste der Metallverkleidung herunter, und auch auf den unteren Stockwerken haben einige Fenster sogar noch ihr Glas, obwohl aus vielen dunklen Höhlen nur Moos und Flechten herauswachsen. Das pyramidenförmige Glasdach, das ehemals das Licht spiegelte wie die goldenen Türme 190
Ägyptens, ist heute nur noch eine wirre Perücke, die auf die breiten, grünbewachsenen Simse der oberen Stockwerke herabhängt wie auf eine Halskrause. Südlich des Turms bedeckt der Dschungel die Ruinen benachbarter Hochhäuser. Ich paddelte in eine schmale Einfahrt mit überhängenden Ästen hinein und landete an einer großen, glatten Betonplatte, die schräg ins Wasser hineinreichte. Es war jetzt kurz nach Mittag. Die Vögel schwiegen, und die Themse blinkte wie ein Heliograph hinter den Blättern. Der Untergrund war ein modriger Steingarten: bröckelnder Zement, Ziegel und Steine und dazwischen Moose und Farne. Unterholz gab es wenig zwischen den Stämmen der hohen Bäume, nur Philodendren und andere Schattengewächse. Die tropische Vegetation ist mir ein Rätsel. Wie ist sie bloß hergekommen? Im Magen von Zugvögeln? Oder ist sie aus Afrika heraufgewandert, Meter für Meter, als der Planet sich erwärmte? Aber wenn die Bäume vom Äquator kamen, wie hatten sie dann die Sahara durchquert? Die alten Tropen mußten doch längst verdorrt sein. Konnte es am Äquator anders aussehen als auf dem Mars? Ich arbeitete mich einen Abhang hinauf. Die Luft war feucht und seifig. In den dünnen Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach drangen, tanzten Millionen Insekten und summten wie Transformatoren. Ein azurglänzender blauer Morpho flatterte an mir vorbei – ein 191
Schmetterling, so groß wie eine Taube. Würgfeigen hatten die unteren Stockwerke erklettert und versperrten die Fensterhöhlen mit ihren Luftwurzeln. Ins Innere des Turms gab es nur einen einzigen Weg: eine glaslose Fensterhöhle in der Nähe der Schutthalde, die sich vor mir erhob. Erstaunlicherweise schien ein schmaler Weg zu diesem Eingang zu führen, nicht viel mehr als eine Spur im Moos. Was, wenn jemand dort wohnte? Neben einem großen Baum blieb ich stehen, um meine Umgebung zu prüfen. Plötzlich hatte ich das dringende Bedürfnis, Wasser zu lassen, ohne Zweifel Nervosität. Den blassen Stamm erkannte ich als Kapokbaum, und als ich mich umsah, erkannte ich Zedern, Robinien und einen großen Mahagonibaum. Und plötzlich begriff ich: diese Bäume waren nicht aus Afrika nach Norden gewandert, sondern aus dem Arboretum in Kew ausgebrochen! Und auch die kleineren Pflanzen auf dem Urwaldboden, die sich um die Stämme ringelten und die Fenstersimse bedeckten, waren Flüchtlinge aus botanischen Gärten und Millionen Wohnzimmern. Ficus benjamini und Avokados, Oleander und Epiphyten, Orchideen und Roter Jasmin und alle möglichen anderen Zierpflanzen, die ehedem aus Belize nach Belsize verschleppt worden waren, hatten ihre Eigentümer überlebt und die Britischen Inseln erobert. 192
Ich hatte mich dem dunklen Fenster bis auf wenige Schritte genähert, als die Dunkelheit in Bewegung geriet. Aus dem schwarzen Rechteck glitt etwas heraus, das noch schwärzer war. Ein großer Hund? Ein Wolf? Warum hatte ich mit so etwas nicht gerechnet? Wenn die Gartenpflanzen wild geworden waren, mußte das Land auch von verwilderten Hunden, Katzen und allen möglichen anderen Raubtieren wimmeln. Mein Gewehr und meine Machete hatte ich nicht zur Hand, sie lehnten unten an dem Baum, an dem ich angehalten hatte. Blindlings war ich in die Falle getappt. Jetzt trat das Wesen ganz aus der Deckung, blieb stehen und kam dann ein paar Schritte den Pfad herunter. Es bewegte sich nicht wie ein Hund. Eine Wolke zog über die Sonne, und in der plötzlichen Dunkelheit konnte ich nicht erkennen, ob das Tier mich bemerkt hatte. Es hob den Kopf und schnupperte. Mein Gott, ich hatte ihm gerade direkt vor die Haustür gepinkelt! Dann wurde es plötzlich wieder hell. Es war eine riesige schwarze Katze. Der Kopf war gedrungen und eckig, die Ohren rund. Das heißt, eigentlich war es nur ein Ohr, das andere schien zu fehlen. Der Körper, von der Nase bis zur Schwanzwurzel, war ungefähr einen Meter lang. Der Schwanz war kräftig, geschwungen und fast genauso lang wie der Körper. Das Tier blieb gelassen, als es mich 193
sah. Es musterte mich ohne Angst. Sein Blick zeigte lediglich die kühle Neugier einer Katze, die jemand Neuem begegnet. Was hast du zu bieten? schienen die gelben Augen zu fragen. Was habe ich zu verlieren? Aber das war kein Nachkömmling einer Hauskatze, sondern ein ausgewachsener Puma. Ich hatte noch nie einen schwarzen gesehen, aber bei einem Hotelbesitzer in Guatemala hatte ich mal einen gelben Puma kennengelernt, der so zahm war, daß er mir die Pfoten auf die Schultern legte und mir mit seiner Reibeisenzunge übers Gesicht leckte. Vielleicht war es diese Erinnerung, die verhinderte, daß ich in Panik ausbrach. Und weil ich ruhig blieb, blieb der Puma es auch. Er schnürte langsam um mich herum, bis er meine Witterung aufnehmen konnte. Inzwischen war er so nahe, daß ich sehen konnte, wie seine Nüstern sich öffneten und schlossen, wenn er Atem holte. Seine Schnurrhaare waren weiß und bildeten einen aufreizenden Kontrast zu seinem schwarzen Fell. Das Tier war sicher schon einige Jahre alt, und die topasfarbenen Augen waren tief und intelligent. Ich erwiderte den Blick (irgend jemand hatte mir mal erzählt, Raubtiere ließen sich davon beeindrucken), aber diese Katze hätte auch dem Blick Wyatt Earps standgehalten. Sie näherte sich bis auf drei Meter und schnupperte noch einmal. Nichts in ihrer Haltung deutete darauf hin, daß sie etwa 194
zum Sprung hätte ansetzen wollen. Sie war einfach nur neugierig. Nach einem langen Augenblick stieß sie ein Knurren aus – Begrüßung und Abschied zugleich. Dann verschwand sie im Schatten des Waldes. Ich setzte mich ins Boot und fuhr ein paar Meter weit hinaus auf den Fluß, um mein Mittagessen unbehelligt von Raubtieren zu mir zu nehmen. Der Käse hatte zu schwitzen begonnen und roch etwas streng in der Hitze, ich spülte ihn mit Rum herunter. Eine eigenartige Ruhe. Die Begegnung mit dem Puma hatte mir eins klargemacht: Er hatte in seinem ganzen Leben noch keinen Menschen gesehen. Er wußte einfach nicht, daß der Mensch einst zum Herrn über alle Fische im Meer, alle Vögel unter dem Himmel und alle Tiere auf der Erde eingesetzt worden war. Den Rest von meinem Käse werde ich dem Puma dalassen. Als Dank dafür, daß er mich nicht gefressen hat. Und außerdem, weil er mich an Graham erinnert. Eine unserer Nachbarinnen auf der Farm war eine liebenswerte, leicht verrückte alte Dame, die streunende Katzen in ihrem Haus aufnahm. Miss Frank. Sie hatte Dutzende von ihnen. Wenn man bei ihr vorbeikam, sah man überall Katzen: gelbe, weiße und getigerte, stolze Perser und gewöhnliche Hauskatzen. Eines der auffälligsten Tiere war ein großer, schwarzer Kater, dem das 195
linke Ohr fehlte. Aus Verehrung für den amerikanischen Evangelisten Billy Graham hatte ihn Miss Frank Graham getauft. Zweimal im Jahr kam die RSPCA mit einem roten Lieferwagen, fing den größten Teil der Katzen ein und schaffte sie weg. Miss Frank lief dann tagelang Amok. Halbbekleidet rannte sie durch die Straßen, mit wirren Haaren, und heulte die Namen der Vermißten zum Himmel hinauf. Sie beließen ihr immer drei oder vier, und Graham gehörte zu diesem inneren Kreis. Er war im Dorf wohlbekannt, wurde aber nicht sehr gemocht; denn er belästigte kastrierte Kater (unter anderem auch Merlin), die weder seine religiösen noch seine sexuellen Neigungen teilten. Man hörte ein gräßliches Jaulen, dann stürzte Mutter hinaus, und nach einiger Zeit wurde Merlin gefunden: zerkratzt und zerbissen, getränkt in Urin und allen möglichen schleimigen Absonderungen. Trotzdem mochte ich Graham. Er war ein Einzelgänger, ein Ausgestoßener, und das gefiel mir.
Abends, wieder auf der Brücke in Dartford Ich habe dir viel zu berichten. »Graham« ließ sich nicht mehr blicken, und nachdem ich gegessen hatte, kehrte ich an Land zurück und nä196
herte mich vorsichtig seinem Fenster. Im Inneren roch es nach Katze und fauligem Fleisch. Eine Puma-Höhle, voller Nagetierknochen, roten und grünen Federn und dem Kopf eines Hundes (oder vielleicht war es auch ein Reh oder Hirsch). Aber auch ein dünner Unterarm, halb vertrocknet, mit grausamen Bißspuren. Der Arm eines Kindes! Wie bei Kipling! Der Kinderarm im Schnabel des Geiers, du kennst die Geschichte. Ich hörte einen Schrei und sein widerhallendes Echo, und es dauerte eine Weile, bis ich begriff, daß ich selbst es war, der da schrie. Nichts war mir jetzt noch vertraut, ich war mir selbst fremd geworden. Zu wem gehörten diese Augen und Ohren, diese Hände mit dem Gewehr in der Hand? Ich sprang auf, um wegzulaufen, stieß mir dabei den Kopf und war fast froh darüber, denn der Schmerz brachte mich zurück in die Realität. Ich sah dich und deinen Tod; so viele Tode, daß mir der grüne Wald so stinkend und faul erschien wie die schlammigen Schützengräben in Flandern. Dann entdeckte ich die langen, feingliedrigen Finger und ein Stück Fell an der Hand. Ein Affenarm! Ich lachte – ein bißchen zu laut, glaube ich, so als gäbe es irgendwo Zuhörer. Dann machte ich mich auf den Weg nach draußen. Aber plötzlich hörte ich eine Stimme, die meines Vaters: Wenn du jetzt wegläufst, Davy, wirst du nie mehr zurückkommen. 197
Wie erstarrt blieb ich sitzen, ohne auf die feuchte Erde unter mir und den Gestank zu achten. Voller Angst beim Gedanken an Graham lauschte ich auf die Geräusche von draußen. Aber der Dschungel war völlig mit sich selbst beschäftigt. Nach langer Zeit hatte ich mich wieder soweit unter Kontrolle, daß ich meine Erkundung fortsetzen konnte. Grahams Höhle war vermutlich ein Büro, vor fünfhundert Jahren, aber das ist eine Vermutung, die vor allem auf meinem Insider-Wissen beruht (ein Vorteil, den kein Archäologe vor mir gehabt hat). Der ursprüngliche Fußboden liegt heute unter einer dicken Kot-, Sand- und Schlammschicht, so daß der Raum niedrig und eng wirkt. Die Decke ist von einem Ausschlag kleiner weißer Stalaktiten bedeckt, die aus dem Beton herauswachsen. Auch die Wände sind von kalkigen Streifen bedeckt, aber hier fand ich auch Abdrücke menschlicher Hände – ganz ähnlich wie die in den alten arabischen Häusern in Alexandria. Ich untersuchte sie mit meiner Taschenlampe. Es waren Schablonenzeichnungen, ganz ähnlich wie die in den Höhlen der Dordogne, deren Bewohner vor zwanzigtausend Jahren die Farbe noch mit dem Mund auf die Wände gesprüht hatten. Felsmalereien sind schwer zu datieren. Aber ich hatte Glück. An einigen Stellen hatte sich so viel durchsich198
tiger Kalk darauf abgesetzt, daß kein Zweifel an ihrem Alter bestand. Wahrscheinlich stammten sie noch aus den ersten Jahren des Verfalls. Bestätigt wurde dies auch durch die grellen Farben, die mit Sicherheit aus einer Spraydose kamen. Jenseits der Hände lag ein weiterer, dunklerer, weniger mit Schlamm gefüllter Raum, den Graham offenbar nicht benutzte. Die Wände waren größtenteils frei von Kalkablagerungen, und ich entdeckte farbige Graffiti mit stark stilisierten Buchstaben: DROYD, CUCKOO, PLATTMACHER. Außerdem Hakenkreuze und Union Jacks, übersprüht mit ARMY OUT! und GOD IS WON OF US. Der Raum führte zu einem Gang, der am anderen Ende mit einer durchgerosteten Stahltür versperrt war. Ein Fußtritt, und eine Flut von Licht brach herein, augenblicklich von Tausenden Flügeln wieder verdunkelt. Tauben! Es war eine Halle mit großen, glaslosen Westfenstern. Auf dem Boden sah es aus wie in einem Hühnerstall. Der Taubenmist lag meterhoch und bildete einen üppigen Nährboden für die verschiedensten Pflanzen und kleinen Bäume, deren Blätter sich alle zur Sonne hin neigten. Wenn sich die Dinge seit unseren Tagen nicht sehr geändert hatten, waren das wahrscheinlich die Redaktionsräume der ›Daily Trumpet‹. War nicht der Besitzer ein Spezi der Bauunternehmer gewesen? Wie Bird gesagt hätte: Wenn es irgendwelche Armen gibt, 199
um die solche Leute sich kümmern, dann sind es jene armen Leute, denen gleich ein paar Millionen fehlen. Wenn das eine Zeitungsredaktion war, gab es dann hier irgendwo Druckerpressen und Druckplatten? Konnte ich womöglich die letzten Schlagzeilen noch auf den Druckplatten finden? Nein, Unsinn! Die Zeitungen hier gehörten natürlich längst zum elektronischen Zeitalter, die eigentlichen Druckerpressen standen irgendwo weit entfernt in einer billigen Fabrikhalle. Ich wanderte durch mehrere Räume, die alle wie Taubenschläge aussahen. Erstaunlich ist, wie leer sie waren. Aktenschränke, Schreibtische, Computerterminals, Kabel – alles spurlos verschwunden. Wenn solche Artefakte noch irgendwo sind, dann liegen sie tief im Taubenmist, und sie auszugraben wäre zumindest sehr lästig. Auch hier waren die Wände von Kalk überzogen, aber der Beton darunter sah schwarz aus. Ich schlug einen der Stalaktiten herunter, und was ich fand, war Ruß. Es hatte ein Feuer in diesen Räumen gegeben. Was ich brauche, ist ein Blick von oben. Erst dann kann ich beurteilen, was eigentlich los ist. Wir haben uns – weil es Lifte gab zu unserer Zeit – an die Vorstellung gewöhnt, ein Saftkarton sei eine gute Form für ein Gebäude. Aber ohne elektrischen Strom ist so eine Turmbesteigung sehr lästig. In der fledermauserfüllten Dunkelheit einer unbeleuchteten Nottreppe fünfzig 200
Stockwerke hochzuklettern, war mir heute einfach zuviel. Nach drei, vier Stockwerken kehrte ich um. Wenn ich wirklich da rauf will, muß ich früh aufstehen und stocknüchtern sein. Architekten! Was sie uns für einen Schrott verkauft haben! Räume ohne Fenster, Fenster, die man nicht aufmachen konnte, Treppen wie aus einem Alptraum. Als wäre Neon ein Ersatz für Tageslicht, als könnte frische Luft durch Lüftungsschächte ersetzt werden. Ich weiß, du hast mich immer für einen Spinner gehalten, was mein Bedürfnis nach frischer Luft anging, aber was ist schon ein Raum ohne Fenster? Eine Gruft. Wieder auf Grahams Stockwerk, und von dort aus noch weiter hinunter ins Atrium, eine gewaltige Halle, die das ganze Erdgeschoß ausfüllte. Fenster und Türen waren zum Fluß hin offen, die Kassettendecke schien sich in den Lichtreflexen des Wassers zu kräuseln. Der Boden war unter Schlamm und Binsen verborgen, aber an den Wänden sah man noch grünen Marmor. Zu beiden Seiten verschwanden breite Treppen im schwarzen Wasser. Gegenüber dem Haupteingang lag ein überlebensgroßer stämmiger Mann auf dem Rücken. Er trug einen dreiteiligen Anzug. Der eine Fuß war vorgeschoben und sollte wohl Fortschritt und Entschlossenheit ausdrükken, aber jetzt, wo die Figur auf dem Rücken lag, sah das gehobene Bein eher aus wie eine unentschlossene Turn201
übung. Die Bronze war mit Grünspan, Schlamm und Kalk überzogen, aber man sah noch, wie ein entschlossenes Kinn und ein Stiernacken aus einem offenen Kragen aufstiegen. Die Krawatte war merkwürdig (sicherlich eine Mode der Zukunft). Dieser Lord Copper war vermutlich der Besitzer der ›Daily Trumpet‹ gewesen (oder einer seiner Nachfolger). Ich kratzte ihm den Schlamm und Vogelkot vom Gesicht, mußte aber feststellen, daß es völlig zerstört war. Dies allerdings war nicht das Werk der Zeit: Der Haß und die Gewalt, mit dem die Nase, der Mund und die Augen zertrümmert worden waren, ließen sich nicht übersehen. Der Bronzestatue des Zeitungstycoons war es nicht anders ergangen als den Standbildern antiker Tyrannen. Eine volle Stunde lang wühlte ich noch im Schlamm, weil ich hoffte, einen Namen oder ein Datum zu finden, aber da war nichts. Dieser Ozymandias, der einst die Welt mit seinen Ansichten beglückt hatte, blieb so rätselhaft wie die Ahnenstatuen der Osterinseln. Das ständige, widerhallende Geräusch von herabtropfendem Wasser, die Papageienschreie, das Zischen des Windes und das Plätschern der Themse waren plötzlich unhörbar geworden. Und auch das Schweigen der Statue und das Schweigen allen menschlichen Seins wurde zur erdrückenden Last. Aus dem Nichts erhoben sich Worte, um dieses Schweigen zu füllen: ›Wo ist jetzt 202
eure stolze Stadt, die der Natur trotzte und der besiegten Elemente spottete? Wo sind jetzt eure Dampfmaschinen, eure Telegrafenapparate, eure Druckmaschinen … Was nutzen euch die Bankreserven?‹ Richard Jefferies, 1885. Wie alle wahren Pessimisten hat er recht behalten am Ende. Die Sonne sank hinter den Bäumen, und das Licht im Inneren des Turms ließ nach. Wenn ich noch vor Einbruch der Dunkelheit nach Dartford zurückwollte, mußte ich aufbrechen. Die Fahrt flußabwärts war angenehm. Ich glitt mit der Strömung dahin, Wind und Sonne im Rücken. Die Baumwipfel glänzten wie Honig im Licht der untergehenden Sonne. Furcht und Melancholie verflüchtigten sich, und ich war wieder einigermaßen zufrieden mit mir: Ich hatte die ersten Erkenntnisse über London gewonnen.
Freitag, den 10, Dezember, Dartford Während der beiden folgenden Tage regnete es. Eine weiches Nieseln ohne Wind. Das Tal der Themse war erfüllt von Nebel wie ein Gletscher, die Türme eingehüllt in Wolken. London hat also immer noch seinen Nebel und seine Tauben. 203
Am Dienstag klarte es auf und blieb bis heute trocken. Ich habe fast die ganze Woche gebraucht, um die Vorräte und meine Ausrüstung aus der Maschine zu holen und hier auf die Brücke zu bringen. Am Anfang war alles recht einfach. Morgens fuhr ich mit der Ebbe flußabwärts, und abends kehrte ich mit der Flut zurück wie ein Pendler. Aber die Gezeiten verschieben sich jeden Tag um eine Stunde, und gegen Ende der Woche war es immer schon dunkel, wenn ich zurückkam. Zum Glück war der Himmel wolkenlos, und der Herr der Gezeiten beleuchtete meinen Weg. Irgendwann muß ich jetzt nach London umziehen und eine systematische Suche beginnen, solange ich noch gesund bin. Eine langwierige und gefährliche Aufgabe, aber was ist denn die Alternative? Soll ich mich auf die Sandbank setzen wie ein Schiffbrüchiger aus dem Witzblatt, bis die Maschine wieder startklar ist und mich in ein anderes Zeitalter fliegt? Nein, es muß noch irgendwo Überlebende geben, wahrscheinlich irgendwo in den Bergen im Norden. Es gibt immer ein paar Individuen, deren Schicksal anders verläuft, weil sie genetisch im Vorteil sind oder einfach bloß Glück haben. Deren Nachfahren muß und werde ich finden. Es war kein angenehmes Gefühl, als ich die letzte Fahrt von der Kapsel zurück machte. Der Himmel weiß, wie 204
lange es dauern und was alles geschehen wird, ehe ich sie wiedersehe. Tanias Maschine ist der einzige Überrest aus unserer Zeit, der nicht zur Ruine und zum Grabmal geworden ist, und auch sie wird von einem Geist heimgesucht: der geisterhaften Abwesenheit ihrer Erbauerin. Jedesmal, wenn ich nach Canvey zurückkam, erwartete ich, Tania am Ufer zu finden. Und während ich die letzten Ausrüstungsgegenstände herausnahm, hatte ich ständig das Gefühl, daß sie mir über die Schulter sah und über meine vulgären Umbauten, den Porschesitz und die Computersteuerung, die Stirn runzelte. Oh, Tania, sagte ich dann immer, ich kann nicht hier bei dir und der Maschine bleiben. Hier in den Sümpfen ist nichts zu holen. Und ich kann die Kapsel schließlich nicht nach London schleppen. Wenn ich nur wüßte, welche Gestalt du jetzt hast?!
3 Montag, der 13. Dezember, Dartford Die Pelikane werden immer dreister. Jetzt haben sie schon angefangen, Schachteln aufzureißen und an meinem Zelt zu zupfen, um mich zu wecken (es war ein Fehler, ihnen Abfälle zuzuwerfen). Gestern Abend war der Himmel rot, aber die Sonne heute hat den Dunst und die wenigen Wolken schnell aufgezehrt. Ich werde noch eine Stunde warten, bis die Flut kommt, aber es sieht so aus, als wäre heute ein guter Tag, um Canary Wharf zu besteigen. Okay, Anita, ich will ehrlich sein. Ich hätte es vielleicht schon früher tun können. So schlecht ist das Wetter gar nicht gewesen. Aber ich habe gezögert. Ich habe Angst vor diesen endlosen dunklen Treppen, sie erinnern mich zu sehr an Mantlow Tower. Wir waren damals in Devon, ich war acht oder neun. Meine Eltern hatten ein Ferienhaus gemietet für vierzehn Tage, ein niedriges, kühles Cottage mit gefliestem Boden, in dem es nach Erde und Wachs roch. Auf dem Hügel ungefähr eine Meile dahinter stand die Ruine eines Herrenhauses (in Wirklichkeit nur eine aufgeputzte Fabrikantenvilla), das vor Jahrzehnten völlig 206
ausgebrannt war. Die Gegend war offenes Weide- und Ackerland mit schönen Hecken, aber rund um das falsche Herrenhaus erhob sich ein undurchdringliches, von einer hohen Gartenmauer geschütztes Dickicht aus Flieder und Rhododendron. Alles, was man von der Villa sah, war ein halb von Mammutbäumen und Schuppentannen verdeckter Giebel, aber ein Stück weiter weg, am Rande des Gartens, erhob sich ein schlanker Turm. Man hätte ihn für einen Schornstein halten können, wären da nicht die schmalen gotischen Fenster und die zinnenbewehrte Aussichtsplattform am oberen Ende gewesen. Unwiderstehlich für ein Kind von neun Jahren. Natürlich war mir streng verboten, auch nur in die Nähe zu gehen. Ein kleines Mädchen war vor ein paar Jahren gestorben, als es den Turm zu erklimmen versuchte. Es war aus einem Fenster gefallen und hatte sich an einem eisernen Gitter zu Tode gespießt. Das, sagte Trevor Penhaligon, der Junge aus dem Dorf, mit dem ich mich angefreundet hatte, war natürlich nur ein Märchen, das die Erwachsenen erfunden hatten, um kleinen Kindern Angst zu machen. Trevors halbes Gesicht war von einem großen, portweinfarbenen Muttermal überzogen, das ihn aussehen ließ wie einen Spaniel. Die anderen Kinder nannten ihn Patch. Daß wir uns angefreundet hatten, war nicht weiter er207
staunlich: Wir waren beide Außenseiter. Er wegen seines Gebrechens und ich, weil ich ein Fremder war. Eines Abends, nach dem Essen, als die Sonne schon untergegangen war und der Westen im zartrosa Licht des Spätsommers glühte, kletterte Patch mit mir über die Mauer. Bald standen wir vor dem Turm. Die Tür stand offen, denn der Riegel mit dem Vorhängeschloß schien schon vor längerer Zeit aus der Verankerung gerissen worden zu sein. Es war zu dunkel, um die Tafel über dem Eingang zu lesen. Ich habe sie erst Jahre später entziffert: In liebevoller Erinnerung an den Chorherrn Charles Ludley Musgrave und Emily Isabel Musgrave, geb. Tunnicliffe, errichtet am zehnten Jahrestag ihres tragischen Todes von ihren dankbaren Kindern Everard, Veronica und George. 29. März 1897. Keine weiteren Einzelheiten. Die hölzerne Wendeltreppe machte einen sehr soliden Eindruck; den Turm zu besteigen schien einfach, und ich folgte Trevor dicht auf dem Fuß. Nach jeder dritten oder vierten Drehung wurde unser Weg vom Abendlicht beleuchtet, das durch eine glaslose Fensteröffnung hereinfiel. Aber das Dach war wohl brüchig geworden, denn je weiter wir nach oben kamen, desto glitschiger und feuchter wurden die Stufen. Einige bogen sich bedenklich unter meinem Gewicht. Ich sagte, wir sollten umkehren, aber Trevor schnaubte verächtlich. Ich war der einzige Junge, der mit ihm spielte, und 208
das wollte er gründlich genießen. Fledermäuse flatterten um unsere Köpfe und tauchten durch die Fenster ins Freie. Dann knirschte und krachte es plötzlich, und Trevor stieß einen Schrei aus. Der Sturz war gar nicht so schlimm – er fiel nur einen Absatz tief. Aber ein Nagel verfing sich in seinem Auge. Es war das auf der portweinfleckigen Seite von Trevors Gesicht. Ich wurde erst von der Polizei und dann von meinem Vater verhört, der mich in einen großen Ohrensessel schob und mir mit strenger Miene erklärte, er würde es unweigerlich merken, wenn ich zu lügen versuchte. Es war nicht meine Schuld gewesen, aber ich merkte rasch, daß weder die Polizei noch mein Vater mir glaubten; sie unterstellten mir, ich hätte mir Trevors Bedürfnis nach Freundschaft zunutze gemacht. Daß man mir nicht glaubte, machte mich viel unglücklicher, als wenn ich wirklich schuld an dem Unfall gehabt hätte. Zwanzig Jahre später kam ich wieder einmal in Mantlow vorbei, auf dem Weg zu einer BAA-Konferenz. Nachdem ich ein, zwei Bier getrunken hatte, fragte ich den Wirt der örtlichen Kneipe nach Trevor. Sechs Monate lang habe er eine Augenklappe getragen, sagte der Wirt. »Sah aus wie ein Pirat. Aber wissen Sie was? Patch hat ihn keiner mehr genannt. Das Auge allerdings hat er verloren.« 209
Ich fragte, was aus ihm geworden sei. »Wer sind Sie eigentlich?« »Mein Name ist Lambert. David Lambert.« Der Mann putzte weiter an dem Bierglas in seinen Händen herum. Dann sagte er: »Du meine Güte! Waren Sie nicht der junge Bursche, der ihn dazu angestiftet hat? Ja, genau! David, der feine Knabe aus Kent.« Er stellte das Glas beiseite und betrachtete mich. »Und Sie können Trevor hier nirgends sehen, Sir?« Am Kamin standen ein paar Farmer in Gummistiefeln und Jerseys, die Frauen saßen am Tisch in der Ecke, drei Skinheads, die Darts spielten. »Nein, eigentlich nicht. Aber soweit ich mich erinnere, war die Geschichte auch anders. Ich wäre nie da reingegangen, wenn Trevor nicht …« Ich drehte mich wieder um. Auf der Theke neben meinem Bier lag ein Glasauge. Und aus dem Gesicht des Wirts sah mich ein Stück nacktes, vernarbtes Fleisch an. »Trevor! Mein Gott. Entschuldige, ich hab dich gar nicht … Es ist so lange her. Und du hast dich ziemlich …« Er nahm das Auge von der Theke und setzte es wieder ein. (Ein ziemlich ungewöhnliches Geräusch begleitete diesen Vorgang.) »Plastische Chirurgie. Phantastisch, nicht wahr? Den einen Flecken wird man los und kriegt dafür einen neuen.« Es war doch deine Idee, wollte ich sagen. Du hast mich 210
angestiftet. Aber das wäre sinnlos gewesen. Er hatte seine Geschichte. Ich hatte meine.
Canary Wharf, vormittags So, das war jetzt eine schöne Tour, auch wenn ich kurz vor dem Ziel noch völlig durchnäßt wurde. Ein plötzlicher Schauer. Ich suchte unter einem Baum auf dem Südufer Schutz, aber die schweren Tropfen schlugen sehr schnell durch die Blätter, und die Stechfliegen waren so schlimm, daß ich weiterpaddeln mußte. Habe mich sowieso schon überall wundgekratzt. Ich war kaum ein paar hundert Meter weitergefahren, als der Himmel sich aufhellte und ich im Schatten eines großen Guajakbaums eine zuckende Bewegung wahrnahm. Es war Graham! Seine schwarze Schwanzspitze zuckte, der restliche Körper lag lang ausgestreckt auf einem dicken horizontalen Ast, die Pfoten baumelten entspannt in der Luft. Er blinzelte mir zu und schüttelte den Kopf, als wollte er sagen: Das ist wirklich ein gräßliches Wetter!
Auf der Spitze! Früher Nachmittag Der Aufstieg war mühselig. Zahllose Moskitos in den unteren Stockwerken. Fledermäuse überall, zum Teil in 211
dicken Klumpen wie Weintrauben, wenn man sie mit der Taschenlampe anleuchtet. Vom Gestank ganz zu schweigen. Ein Moschusgeruch, der mich an Tikal und an die Mesa Verde erinnerte. Es war gut zu wissen, daß Graham sich nicht im Gebäude befand. Er schien zwar heute morgen sehr freundlich, aber vielleicht hatte er bloß keinen Hunger. Feuertüren versperrten den Zugang zu den einzelnen Stockwerken. Ein- oder zweimal versuchte ich sie zu öffnen, aber sie waren völlig festgerostet und ließen sich nicht bewegen. Ich zählte die Stockwerke und fragte mich die ganze Zeit, ob ich wohl oben irgendwo aus dem Treppenschacht herauskommen würde. Das 29. Stockwerk war offen. Die Feuertür fehlte, war vielleicht bei den Unruhen herausgerissen oder zerstört worden, die das Gebäude irgendwann heimgesucht hatten. Ich bahnte mir einen Weg in eine leere Büro-Etage, deren Fenster noch alle intakt waren. Hier gab es keinen Schmutz, keine Pflanzen, keine Fledermäuse und keine Tauben. Hier war es noch genau wie vor fünfhundert Jahren. Die Sonne strahlte herein, und obwohl das Glas viel zu trüb und vernarbt war, um einen echten Ausblick zu erlauben, konnte ich mir sehr gut vorstellen, wie ein Immobilienmakler die Aussicht gerühmt hätte. Die einzigen Spuren der Jahrhunderte waren die Stalagtitenund Stalagmitenbärte an der Decke und auf dem Fußbo212
den. Irgendwelche Überreste von Innenwänden, abgehängten Decken, zerfallenen Möbeln oder Büromaschinen waren nicht aufzufinden. Die ganze Etage war leer und war es immer gewesen. Die bisherigen Hinweise – die unbenutzten Büroräume, die fehlenden Neubauten und ein hochentwickelter Dschungel – deuteten darauf hin, daß es nach meiner Abreise aus dem 21. Jahrhundert nicht mehr lange so weitergegangen war wie zuvor. Hatte es einen Militärputsch gegeben (ARMY OUT!) oder eine kurzlebige Erholung unter einem neuen Belisarius? Irgend so etwas war denkbar. Aber wo waren die Leute geblieben? Selbst wenn die Bevölkerung um neunzig Prozent gefallen war wie im nachkolumbianischen Amerika, mußten doch noch einige Millionen übrig sein. Wo waren sie? Als ich mich der Spitze näherte, wurde es im Treppenschacht heller, und eine warme Brise kam mir entgegen. Beides war mir willkommen. Wurzeln streiften mein Gesicht. Der Ausgang war durch eingestürzte Eisenträger, gesplittertes Glas, geborstene Aluminiumrahmen und dichtes Strauchwerk versperrt, durch das ich mich mühsam hindurchzwängen mußte. Die letzten drei, vier Meter waren eine echte Quälerei, so als ob man sich aus einer Höhle herauskämpfen muß. Das pyramidenförmige Dach ist auf das Stockwerk darunter gefallen. Ich kam auf einer großen, quadrati213
schen, mit windzerzausten Bäumen und Sträuchern bewachsenen Plattform heraus, umgeben von unregelmäßigen Zinnen, den Überresten der Pfeiler, die früher das Dach trugen. Die großen Lücken dazwischen waren früher die Aussichtsfenster des obersten Stockwerks. Der Wind ist beunruhigend stark hier oben. Er saugt und stößt in plötzlichen Böen, und der Turm stöhnt und ächzt wie der Mast eines Schiffes. Ich mußte mir die Aussicht mit der Machete freischlagen, weil mir die Zweige an der Gebäudekante so ins Gesicht peitschten, aber dafür liegt London jetzt unter mir wie das gelobte Land. Da unten ist genug zu finden, um eine ganze Nation von Archäologen ein Jahrhundert lang zu beschäftigen. Es ist gar nicht abzusehen, wo das Ruinenfeld endet. Was ich vor mir habe, ist ein wogender Dschungel (im Nachmittagslicht brokkoligrün), durchbrochen von den Windungen der Themse, die sehr viel breiter ist als in unseren Tagen, und großen Sumpfgebieten, die aussehen wie mottenzerfressener Samt. Ungefähr zwei Meilen westlich stehen die Wolkenkratzer der City wie die Geschütztürme einer vor Anker versenkten Schlachtflotte. Kleine Glas- und Metallteile glitzern in der Sonne, als schickten sich die Bewohner Lichtsignale von Wrack zu Wrack. Im großen und ganzen stimmt die Skyline mit meiner 214
Erinnerung überein. An die Börse und das NationalWestminster-Gebäude erinnere ich mich genau, die Namen vieler anderer hab ich mir nie gemerkt. Ich denke, daß noch genug von ihnen stehen, um einen großen Knall auszuschließen. Aber welcher Art ist die Krankheit gewesen? Der jämmerliche Zustand der einst so stolzen Türme, die verrutschten Perücken und eingesunkenen Fensterhöhlen, die eingestürzten Stahlkonstruktionen und die triumphierende Vegetation sind ein schockierender Anblick – so als fände man einen jungen und gesunden Menschen plötzlich tot und halbverwest im Gebüsch. Stepney und Poplar, hinter mir fast im Schatten, zeigen ein unregelmäßiges Schachbrettmuster von Giebeln und eingestürzten Dächern unter den Baumwipfeln. Irgendwo da unten liegt Waterloo Villas, Birds letzte Behausung, wo ich vor knapp drei Wochen noch in einer ganz anderen Welt stand. Sein Telefon war abgestellt, und er hatte meinen Brief nicht beantwortet. Ich mußte ihn persönlich aufsuchen, damit er mir beim Transport der Zeitmaschine half. Um ihn leichter zu überzeugen, hatte ich eine Flasche Malzwhisky in meine Tasche gesteckt. Du weißt ja, wie Bird den Rauchgeschmack der westlichen Inseln liebte. Wenn du unterwegs warst oder keine Lust hattest, ihn zu besuchen, haben wir oft nächtelang in seiner 215
Bude in Cambridge gesessen. Ich erinnere mich gern an diese Nächte auf dem Dachboden, hoch über den Schieferdächern der Stadt. Man sah sogar einen Streifen von Jesus Green. Wir tranken Talisker, rauchten Hasch und Selbstgedrehte, hörten Jazz und ordneten in unseren Gesprächen die Welt. Was Maschinen anging, war Bird ein strenger Dekonstruktivist, und deshalb wurde der Geruch des Whiskys stets durch den leichten Öldunst ausgebauter Dominator- und Speed-Twin-Vergaser intensiviert. Er redete damals viel über dich. Er hatte Angst, dich zu verlieren. Er konnte sich nicht vorstellen, was du an ihm gut fandest. Er fürchtete, daß es nur die Musik war. Aber ich glaube, da irrte er sich. Ich erinnere mich noch an einen Abend, als wir ungefähr zwei Wochen lang Lithos verkauft hatten. Du hattest gerade dein Verhältnis mit Bird angefangen. Nach getaner Arbeit stiegen wir in den Jaguar, und Bird sagte mit seinem typischen verlegenen Lachen: Wir gehen jetzt miteinander. Sie wollte ja schon immer einen proletarischen Lover. Im selben Augenblick kam ein Laster vorbei und beleuchtete dein angestrengtes Lächeln. Birds Bemerkung war der Wahrheit wohl ein bißchen zu nahe gekommen, nicht wahr? Stepney war ja immer schon eine üble Gegend. Deshalb ging ich am Vormittag hin, wenn die schlimmsten Typen im Bett liegen, um ihren Rausch auszuschlafen. 216
Bird hatte eine Erdgeschoßwohnung. Sein Fenster war mit Stacheldraht und Eisenstangen befestigt. Nur zwei von den Scheiben waren kein Sperrholz. Die Tür bestand aus einer Stahlplatte und hatte drei Sicherheitsschlösser. Vor dem Haus stand eine Tonne mit stinkendem Unrat und den nicht mehr rettbaren Teilen verschiedener Motorräder. Ich klopfte, bis mir die Knöchel wehtaten. Keine Antwort. Ich zog ein altes Rohr aus der Mülltonne und schlug es auf die Eisenstangen am Fenster wie der Besucher einer Irrenanstalt, der die Insassen ein bißchen aufziehen will. Ein bleiches Gesicht erschien hinter den Scheiben. Eine Hand winkte. Dann wurden die Riegel der Stahltür geöffnet. Bird trug ein Handtuch um die Hüften. Seine Gesundheit hatte sich nicht verbessert, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte, bei deinem Begräbnis. Sein schimmerndes schwarzes Haar, das einmal so metallisch geglänzt hatte wie das Gefieder der Stare im Frühling, war leblos und stumpf. Sein Gesicht sah aus, als wäre es geschrumpft, und die Augen standen noch enger als sonst. Seine Züge waren die eines typischen East-End-Bewohners geworden: geprägt von jahrhundertelanger Unterernährung und lauernder Aufmerksamkeit. Seine Haut war so grau wie die einer Katze. Er starrte mich sekundenlang an, dann kam die Erkenntnis: »Ach, du bist das. Komm schnell rein!« Er zeigte auf die Wohnzimmertür. »Da 217
rein. Da kannst du Moira gleich guten Tag sagen. Ich würde dich ja gern vorstellen, aber ich muß erst mal scheißen.« Er verschwand im Korridor. Das Haus roch nach Curry, schmutziger Wäsche, Zigarettenstummeln in leeren Bierbüchsen und dem unvermeidlichen Motorenöl. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich auf dem Kaminsims eine weiße Porzellan-Büste von General Gordon und auf der Matratze darunter eine junge Schwarze, die mit dem Gesicht nach unten in den lila Laken lag. Bird kam zurück, hob sein verbeultes Saxophon auf und blies ihr ein Coltrane-Riff ins Ohr. »Moira! Steh auf, gib meinem alten Kumpel Dave die Hand!« Moira hustete, schüttelte sich und blieb liegen. »Laß das arme Mädchen schlafen! Ich bin deinetwegen da.« »Was kann ich denn für dich tun? Eine Autoreparatur? Du hattest immer so deine Probleme mit dem Verbrennungsmotor. Nicht ganz dein Jahrhundert, wenn ich nicht irre.« »Hast du meinen Brief nicht gekriegt?« »Kann sein. Tut mir leid. Weiß nich.« Er zeigte auf das Chaos im Zimmer. »Ich hatte zuviel zu tun.« Seine Augen musterten mich von Kopf bis Fuß. »Sag mal, Dave, bist du krank? Du siehst aus, wie ich mich fühle.« 218
Wir setzten uns. »Du solltest dich lieber mal selber ansehen«, sagte ich. »Mir geht’s gut, auch wenn’s vielleicht nicht so aussieht. Nichts Lebensgefährliches jedenfalls. Bloß Weiber, Schnaps und Dementia – wie üblich.« Bird nahm ein Päckchen Camels vom Tisch (einer leeren Obstkiste), zog eine Zigarette heraus, warf mir einen einladenden Blick zu und steckte sich dann selbst eine an, als er sah, daß ich ablehnte. Ich überreichte ihm den Whisky. Er zog den Korken heraus und warf ihn zur Seite. Immer noch der alte Bird – wenn er eine Flasche aufmachte, dann wußte er, daß er sie auch austrinken würde. Anders als an jenem Tag im April kam diesmal ein Gespräch in Gang. Es schien eine stillschweigende Übereinkunft zu geben, daß der Streit über dich beigelegt war und die Erinnerung an dich uns nicht mehr trennte, sondern eine Verbindung zwischen uns herstellte. Ich weiß bis heute nicht, ob du Bird je wiedergesehen hast. Er hat es mir nicht gesagt, und ich habe nicht danach gefragt. Wir sagten überhaupt nicht viel über dich, auch wenn du unser Trinkspruch warst: To absent friends. Er redete ziemlich viel über andere Frauen, was wahrscheinlich nur den Sinn hatte, daß er nicht über dich reden wollte. Er erzählte von einer japanischen Cellistin, mit der er zusammengelebt hatte, als er aus Cambridge wegging; er erzählte, daß er bei seiner Mutter 219
gewohnt hatte, bis sie gestorben war; er erzählte von einer Ménage à trois mit zwei catalanischen Lyrikerinnen, die er Vita Brevis und Ars Longa genannt hatte. Ich hatte den Eindruck, daß diese Frauen alle auch einen wesentlichen Beitrag zu seinem Lebensunterhalt beisteuern mußten. Daß er sogar noch Examen gemacht hatte, wußte ich auch nicht. »Rite, David. Rite haben mir die Ärsche gegeben. Du weißt ja, was das bedeutet.« »Die Note, mit der man in Cambridge die ungeliebten Versager abfertigt.« »Psst! Wir wissen das. Aber es gibt noch Gegenden der Welt, wo diese Dinge nicht so bekannt sind. Ich hätte beinahe einen hübschen kleinen Lehrauftrag an der Jefferson Davis School of Political Science gekriegt, in Kentucky Die Amerikaner wissen die klassische Bildung Gott sei Dank noch zu schätzen. Und sie kennen unser System nicht. Sie hätten mir die Überfahrt und alles Übrige gezahlt. Aber dann haben sie in letzter Minute irgendwie doch noch erfahren, daß ich eigentlich Musiker bin. Zum Glück hatte ich meine Motorräder. Damit habe ich eine Zeitlang ganz gut verdient. Du würdest dich wundern, was man für eine klapprige alte Beeza kriegen kann, in den richtigen Kreisen. Ganz zu schweigen von einer Vincent. So eine hatte ich nämlich. Ich kannte einen alten Sammler, der hatte seine Black Sha220
dow komplett auseinandergenommen, um sie während der Winterpause in Ruhe erneuern zu können. Bis zur letzten Schraube hatte er sich die richtigen Ersatzteile mühsam zusammengesucht – und dann ist seine eigene Pumpe stehengeblieben, ehe er das Ding wieder zusammenbauen konnte. Ich hab der Witwe das ganze Gerümpel für ’n Appel und ’n Ei abgekauft. Ich hab die Maschine wieder zum Laufen gekriegt – eine heikle Sache, das gebe ich zu – und für fünf Millionen Yen verkauft. Aber auf dem Markt ist auch nicht mehr viel los. Die Leute haben einfach kein Geld mehr. Nicht mal die japanischen Reiskönige.« Alles, womit Bird zuletzt noch seinen Unterhalt verdient hatte, waren ein paar Stunden Musik- und Schauspielunterricht an einer nahegelegenen höheren Schule gewesen. Aber auch das hatte ein plötzliches Ende genommen. »Du kennst mich ja«, sagte er. »Ich bin ein Mann, der Kontakt braucht und menschliche Wärme. Und ich hab immer eine Schwäche für schwarze Mädchen gehabt. So etwas kann ein Problem sein, wenn man in loco parentis arbeitet.« Ich warf einen Blick auf Moira. Sie hatte verdammt schmale Hüften. »Du meine Güte, Bird. Das ist doch nicht etwa eine von deinen Schülerinnen?« 221
»Jetzt nicht mehr. Sie haben mich ja rausgeschmissen. Qualis artifex pereo!« »Was hast du dir dabei gedacht? Hast du denn keine Angst, sie könnten dich einsperren? Mit so etwas sind sie jetzt sehr genau.« »Das ist eine lange Geschichte, Dave. Langweilig. Ich hab keine Lust mehr, darüber zu reden. Im Prinzip war es so, daß ich im falschen loco war, als die parentes hereinkamen.« Er zog an seiner Zigarette und entließ eine blaue Rauchwolke. Mit seinem Jazz war es ihm nicht viel besser ergangen. Anpassung und Geschmeidigkeit waren nie seine Sache, ganz im Gegenteil, sein Jähzorn war ja berüchtigt. Außerdem waren die anderen Musiker immer eifersüchtig auf seine mühelose Genialität. Früher oder später wurde er überall rausgeschmissen, und am Ende spielte er bloß noch im Ramrod, einer Schwulenkneipe in der Nähe der Gloucester Road. »Vorne war alles voll mit Hell’s Queers. Du hast ihre Motorräder sicher oft vor der Tür stehen sehen. Einige von denen hatten auch Geld. Hinten spielte eine prima Combo – zwei, drei Schwarze aus New Orleans, der Schlagzeuger war Nigerianer. Ich bin da jede Woche einmal gewesen. Bin auf die Bühne gegangen und hab ein bißchen ins Horn gestoßen. Eine Art Jam-Session. Ich dachte, es wäre alles großartig.« Bird machte eine 222
Pause und starrte verloren auf die schmutzigen Scheiben. »Eines Abends, als ich zwischendurch mal ein Bier trinken wollte, gingen diese drei Typen aus dem Publikum auf mich los. Der erste hat mein Sax genommen, der zweite reißt mir das Bier aus der Hand und schüttet es mir in den Schalltrichter. Und der dritte sagt: ›Üb gefälligst woanders!‹ Das ist jetzt ein paar Monate her. Seither hab ich nicht mehr öffentlich gespielt.« Ich erzählte ihm meine Geschichte, und Teile davon waren auch richtig. Der ewige Student, ein paar Geschäfte mit wissenschaftlichen Geräten aus dem 19. Jahrhundert. Die Erbschaft und den Job im Museum erwähnte ich nicht, du erinnerst dich sicher, wie er die Leute mit privaten Mitteln verachtete, die anderen Leuten in Cambridge die Studienplätze wegnahmen. Obwohl ich natürlich nicht zur Liga der wirklich wohlhabenden Stipendiaten gehörte. »Das wird dich interessieren, Bird«, sagte ich. »Der Prototyp eines Tauchboots, das im Burenkrieg eingesetzt werden sollte. Ich brauche ein bißchen Hilfe, um es in der Themse zu Wasser zu lassen. Das Ding ist noch völlig funktionstüchtig. Erstklassiger Zustand. Wie neu. Wir brauchen es nur auf einen Laster zu laden und an der richtigen Stelle ins Wasser zu werfen. Keine Probleme.« 223
»Und wie kommst du gerade auf mich?« »Ich kenn sonst niemand, dem ich trauen könnte. Irgendwie fällt es mir schwer, neue Freunde zu finden. London ist keine freundliche Stadt. Hat mir nie gefallen, in London zu leben. Wird mir auch niemals gefallen.« Ich machte eine Pause. »Das Ganze muß natürlich geheim bleiben, bis zum richtigen Moment. Sub rosa. Nicht mal das Imperial War Museum hat so ein Ding.« Bird zuckte leicht mit dem Kopf. Er fischte sich noch eine Camel aus seinem Paket, zögerte aber, sie zu entzünden. Er hielt seine schwarzen Augen fest auf den Boden gerichtet, als hoffte er, dort einen Wurm zu fangen. »Und wo hast du das Ding geklaut?« fragte er schließlich. Er dachte wirklich, daß ich es gestohlen hätte. Tatsächlich hatten wir ja mal in betrunkenem Zustand auf einem Dorfplatz eine alte Kanone mitgehen lassen. Ich erzählte ihm, ich hätte das Tauchboot von einem amerikanischen Sammler gekauft, der das Ding bei einer Versteigerung erworben, dann aber festgestellt hatte, daß ihm die Frachtkosten nach Los Angeles ein bißchen zu hoch waren. Er habe statt dessen lieber ein paar kleinere wissenschaftliche Geräte mitgenommen, die ich ihm anbot. Jetzt wolle ich einen kräftigen Medienrummel in Gang bringen, um Geld für die Industrie-Archäologie locker zu machen. 224
»Wir lassen es in Mucking oder Canvey in aller Stille zu Wasser. Wir überprüfen, ob alles in Ordnung ist, dann schleppen wir die Kapsel bis zu den Houses of Parliament. Du müßtest das Motorboot fahren und mit der Videokamera alles aufzeichnen. Englands Eisernes Erbe – du weißt schon. So etwas zieht. Da ist vielleicht sogar ein dauerhafter Job drin für uns beide. Wir müssen es bloß richtig anstellen. Wenn du keine Lust hast, okay Aber du mußt versprechen, daß du keinem Menschen etwas erzählst.« »Ich bin durchaus interessiert, Dave. Klar mach ich mit.« Am folgenden Montag mietete ich einen Lastwagen mit einem Kran und wartete auf Bird in den Midnapore Mews. Er war absolut pünktlich und sah ziemlich fit aus. »Wem gehört denn die Bruchbude da?« Seine Augen schauten begierig. »Diesem Ami. Warte, bis du die Werkstatt gesehen hast!« Ich führte Bird in Tanias Atelier, und er stieß einen leisen Pfiff aus. Er marschierte einmal um die Zeitmaschine herum, dann hockte er sich hin und betrachtete sie im Detail. »Wenn das Ding wirklich brandneu war«, sagte er, »warum hast du dann diesen ganzen neuen Kram drangeschraubt?« »Das Ding war ein Prototyp. Es ist nie benutzt wor225
den. Der Pilot sitzt im Inneren, und ich habe keine Lust, damit unterzugehen.« Das schien ihn zufriedenzustellen. Er trat zurück. »Weißt du, wie das Ding aussieht?« »Ein Seeigel mit Kopfhörern? Eine Roßkastanie mit den Ohren unseres erlauchten Monarchen in spe?« »Nee. Es sieht aus wie ein Virus. Scheußliche Dinger, mein Freund. Kleine Todessternchen in deinem Blut.« Zeit für den Abstieg. Noch ein gründlicher Rundblick und ein paar Eintragungen auf der Landkarte mit genauen Richtungsangaben über die Sachen, die ich mir vielleicht aus der Nähe ansehen werde (ich habe schließlich keine Lust, noch mal hier raufzuklettern). Nein, Liebes, in der ganzen Zeit, die ich hier oben zugebracht habe, habe ich keine Lichtung und kein Schiff gesehen und auch nirgendwo eine Rauchwolke. Eine Merkwürdigkeit ist mir jetzt aber doch aufgefallen – am Anfang hab ich es gar nicht gesehen: Ein paar Kilometer im Norden, fast am Horizont, gibt es eine auffällige grüne Linie. Ganz gerade und regelmäßig, viel heller als der umgebende Wald. Ich bin ziemlich sicher, daß sie der Trasse der alten M 11 folgt. Auch an anderen Stellen, allerdings noch weiter weg und weniger gut zu erkennen, gibt es solche hellgrünen Linien, alle in der Nähe von Autobahnen und Schnellstraßen, scheint mir. 226
Sie scheinen ungewöhnlich gepflegt – viel zu frisch und gerade in dieser Verlassenheit. Man könnte fast glauben, daß irgend jemand oder irgend etwas die Zugangswege nach London offenzuhalten versucht.
15. Dezember Ich wünschte, ich hätte es dabei belassen, wäre wieder zur Themse hinuntergestiegen und schnurstracks zu meinem windigen Lager in Dartford gefahren. Aber es gab auf der Canary Wharf noch etwas zu entdecken. Ich wünschte, daß ich diese Entdeckung nicht gemacht hätte, aber du wirst sie vielleicht etwas ruhiger betrachten. Du bist ja schließlich ein Profi. Es war auf dem 10. Stock. Meine Augen hatten sich wohl an die Dunkelheit gewöhnt, oder ich war beim Aufstieg einfach unaufmerksam gewesen, jedenfalls entdeckte ich noch eine zweite offene Feuertür. Sie schien mit einem Schweißgerät geöffnet worden zu sein. Hinter der Tür war es dunkel, was erklärte, warum ich sie zuvor nicht bemerkt hatte. Das Rätsel der Dunkelheit, wo Licht hätte sein sollen, war schnell gelöst: Die Fenster waren hastig zugemauert worden. Ich fand eine schwere Eisenstange und hebelte im Interesse der Wissenschaft ein paar von den Hohlblocksteinen her227
aus, um Licht in die Sache zu bringen. Die Steine krachten weit unten ins Laubwerk, und ganze Schwärme von Fledermäusen fetzten mir um den Kopf wie die ›Vögel‹ von Hitchcock. Es heißt, zur Archäologie gehöre eine gewisse Begabung, ein Instinkt, ohne den man nichts findet. In diesen Räumen hier lag ein Geheimnis. Ich stocherte mit meiner Eisenstange in einem von Fledermausdung überzogenen Haufen und stieß auf Widerstand. Es war da etwas verborgen. Vorsichtig begann ich zu graben – eine mühselige, schmutzige Arbeit. In den oberen, frischeren Schichten wimmelte es nur so von golden schimmernden Kakerlaken, aber was ich am Ende fand, war eine Gruppe von menschlichen Skeletten. Aufgrund der Größe und Anordnung kam ich zu dem Ergebnis, daß es sich um fünf Erwachsene handelte, von denen vier männlich gewesen sein mußten. Alle trugen eiserne Hand- und Fußschellen. Gefangene, offensichtlich. Vielleicht Geiseln. Vielleicht die Bosse der ›Daily Trumpet‹? Nun, das wäre wohl ein bißchen zu spekulativ. Zwischen den Knochen lag auch eine Münze – ein billiges Aluminiumding, das ich zunächst für einen alten französischen Franc hielt. Aber der Prägewert betrug eintausend Pfund. Das Datum war größtenteils weggefressen; alles, was ich lesen konnte, war zweitausendirgendwas und die Inschrift auf dem Rand: Henricus IX D. 228
G. Rex. Heinrich der Neunte. Was war wohl aus William geworden? Und aus dem Euro? Vor einem der Fenster war eine Feuerstelle mit einem Abzug nach draußen. In der Asche lagen noch einige relativ gut erhaltene Überreste der Brennmaterialien, zu denen offenbar auch Möbel gehört hatten. Es lagen aber auch angebrannte Knochen auf den rußigen Steinen. Ich habe mich für Knochen nie sehr interessiert (genausowenig wie du) und deshalb die meisten Tutorien von »Piltdown« Bartle geschwänzt, aber daß es sich um Menschenknochen handelte, war nicht zu übersehen. Und man sah auch, daß sie auseinandergeschnitten, aufgebrochen und ausgesaugt worden waren. Canary Wharf war Schauplatz einer kannibalischen Mahlzeit gewesen. Vielleicht hatte man versucht, die Geiselnehmer auszuhungern, und das war die Antwort? Vielleicht liegen irgendwo unter dem Fledermauskot noch Spuren der entscheidenden Schlacht? Warum hatte niemand die Opfer beerdigt? Wo sind die Leichen der Angreifer? Warum hat man das Gebäude danach nicht gereinigt? Ich kann mir das alles nicht vorstellen. Aber daß am Ende der Geschichte Vernunft und Anstand oder überhaupt irgendein rationales Verhalten herrschen, war ja wohl auch kaum zu erwarten. Oder bin ich zu vorschnell? Es steht dir frei, deine 229
eigenen Schlüsse zu ziehen; ich versuche lediglich, meine Befunde so genau wie möglich zu protokollieren. Wenn du mit meinen Schlußfolgerungen nicht einverstanden bist, dann ist das dein gutes Recht und vielleicht sogar deine Pflicht. Ohne weitere Grabungen und entsprechende forensische Untersuchungen kann ich nicht genauer sagen, was in diesen Räumen passiert ist. Und dazu habe ich weder die Nerven noch die entsprechende Ausrüstung. Ich habe seither keinen Fuß mehr in das Gebäude gesetzt und gedenke das auch in Zukunft nicht wieder zu tun. Ich weiß, das ist nicht gerade professionell. Es wurde von uns erwartet, daß wir beim Anblick von Leichen kaltblütig blieben. Wir haben Schädel zersägt, Zähne aus fleischlosen Kiefern gezogen und Beckenknochen zerteilt, um die Spuren des Geburtsvorganges zu finden. Aber ich bin nicht in der Lage, diesen Raum erneut zu betreten. Ich will mir einfach nicht vorstellen, was wir für Scheußlichkeiten in England erlebt haben könnten.
4 Bei der Begegnung mit diesen Ruinen durchläuft man die ganze Skala der Trauer, Anita. Ich tue so, als hätte ich es begriffen und akzeptiert, aber kaum denke ich, es könnte mir nichts mehr anhaben, da erhebt in den Wäldern von Rotherhithe ein Tinamu seine Stimme, und schon erfaßt mich das allerschwärzeste Elend, weil ich das Gefühl habe, wieder aufs Neue vom Tod aller Menschen und aller Dinge zu hören, die ich geliebt habe. Ja, ich trinke zuviel, aber da es vermutlich nur noch eine Kiste Rum auf der Welt gibt, ist die Gefahr, zum Alkoholiker zu werden, wohl nicht allzu groß. Die beste Zuflucht besteht darin, aktiv zu sein und ein ausgefülltes, bewußtloses Leben zu führen. Was also soll ich jetzt tun? Nach Tania suchen? Eine Expedition zu den eigenartigen grünen Linien? Oder soll ich ganz pragmatisch vorgehen und mir ein festes Quartier suchen? Ich könnte dort schreiben und arbeiten und ein paar Exkursionen durchführen, bis ich Leute treffe und erfahre, was hier passiert ist, oder ohne Antwort weitersegeln muß. Keine Frage: Ich muß Tania suchen. Ich muß zu den Midnapore Mews!
231
Heute, an diesem schönen, stillen Donnerstagmorgen, lagen kühle, dünne Dunstschleier über dem Wasser, als ich in aller Herrgottsfrühe aufbrach. Ich hatte auf einer busch- und baumbestandenen Sandbank am Rand der Leamouth-Sümpfe mein Zelt aufgeschlagen und gut geschlafen. Die Themse war ruhig, aber im Dschungel raschelten und pfiffen die Vögel. Ich paddelte stetig, und meine Brust zerteilte die nach allen möglichen Gewürzen duftenden Dunstschleier. Hinter der Isle of Dogs war der Fluß träge und stark mit Schilf bewachsen. Er hat sich stark ausgebreitet und bedeckt nicht nur das gesamte Limehouse-Becken, sondern auch große Teile von Wapping. Erst am Tower wird er wieder schmaler. Zerfallenes mittelalterliches Gemäuer bildete eine Art Steilufer, dahinter lag ein schattiges Altwasser, und etwas zurückgesetzt in den Bäumen erhob sich ein schartiger Turm. Von der Tower Bridge steht noch ein lianenüberwucherter Pfeiler im Wasser wie eine künstliche Ruine. Oben auf der Spitze war ein großes, unordentliches Nest zu erkennen, aus dem sich ein Fischadler auf die Wasserfläche herabstürzte. Ich richtete den Feldstecher eben noch schnell genug in seine Richtung, um zu sehen, wie seine mächtigen Fänge einen großen Barsch packten. Aber als sich der Adler wieder emporschwang, gelang es dem Fisch, sich freizuzappeln, und er fiel aus 232
einigen Metern Höhe zurück in den Fluß. Die Wellen brodelten, und ich erkannte eine Dreiecksflosse im Wasser. Haie! Mein Boot schien mir plötzlich so dünn wie eine Papiertüte. Von London sieht man wenig hinter den grünen Mauern, die den Fluß säumen. Daß es überhaupt Gebäude gibt, ahnt man nur aufgrund der mächtigen Buckel unter der Vegetation. Alle Brücken sind eingestürzt und haben lediglich einzelne Pfeilerstümpfe hinterlassen. Von der St.-Pauls-Kathedrale war nichts zu sehen, wenn sie überhaupt noch existiert. Die herrliche gotische Fassade der Houses of Parliament ist ins Wasser gerutscht und hat ein Labyrinth von Kammern bloßgelegt, die von Mynah-Vögeln und Trogons kolonisiert worden sind (glaube ich). Bloß Big Ben ist stehengeblieben. Er sieht aus wie eine Tempelruine in Angkor. Die Uhr ist weg, und aus den Fensterhöhlen wachsen Feigen. Ich paddelte flußaufwärts bis zum Heizkraftwerk an der Lots Road, von dem die U-Bahn ihren Strom bezog. Heute ist es nur noch als großer Ziegelhaufen an der Mündung des Chelsea Creeks erkennbar. Meine Wohnung war direkt dahinter. Ich hatte mir überlegt, daß es wahrscheinlich das Vernünftigste wäre, von dort aus den vertrauten Weg zu Tanias Werkstatt zu suchen. Aber dieser Teil der Stadt ist völlig unzugänglich: Ähnlich wie zu den Zeiten, ehe es London gab, ist Chelsea ein 233
riesiger Sumpf. Die Häuser stehen knietief im schlammigen Wasser, die Straßen sind verkrautete Kanäle voller Algen und Schlingpflanzen. Der Gesamteindruck ist heiter und venezianisch. Ganz wie in der berühmten Depesche des britischen Botschafters: »Straßen voller Wasser, erbitte Anweisungen.« Ich brauchte den halben Vormittag, um mich zur King’s Road durchzuschlagen, wo sich das Land aus der Gezeitenzone hebt. Von da an blieb mir nur noch eine allgemeine Kursbestimmung anhand der wenigen stehengebliebenen Fassaden mit ihren endlos sich wiederholenden Erkerfenstern und Vordächern. Die Straßen waren auch hier noch ein sumpfiges Binsen- und Schilfdickicht, und es erwies sich als einfacher, über die relativ wenig bewachsenen Schutt- und Ziegelhaufen der ehemaligen Häuserreihen zu klettern, als sich auf den Fahrbahnen vorwärtszukämpfen. Trotzdem brauchte ich für die nächste Meile fast eine Stunde. Das Problem war unter anderem, daß offenbar vor einigen Jahren ein Waldbrand die meisten Bäume zerstört hatte und jetzt der nachwachsende Dschungel um die Oberhand kämpfte. Endlich starrte das Brompton Oratory wie ein rauchgeschwärzter Hindutempel auf mich herunter. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Wenn dieser Brand nun einen menschlichen Ursprung gehabt hatte? Aber wenn 234
Tania oder sonst irgend jemand hier lebte, müßte es dann nicht auch andere Spuren geben: einen Pfad, den Widerhall von Äxten im Wald, eine Rauchfahne oder den Duft einer Mahlzeit? Dieses eingravierte AD 2500, das mich so fasziniert hat, als es Powie auf dem Zifferblatt von Tanias Chronometer entdeckte, erscheint mir jetzt als sehr dürftige Hoffnung. Und das Fehlen von Monat, Tag und Stunde führt zu logischen und physikalischen Problemen, die ich nicht zu lösen vermag. Wenn sie im selben Jahr hier eingetroffen ist, aber unsere Ankunft nicht synchronisiert war (wie wäre das möglich gewesen?), existieren wir dann überhaupt in derselben Zeit? Wie breit ist die sich überschlagende Welle, die wir Gegenwart nennen? Ist sie breit, geduldig und großzügig oder schmal und flüchtig wie ein Laserstrahl? Werden wir in der Lage sein, uns zu entdecken, uns zu begegnen? Oder bewohnen wir benachbarte, aber streng getrennte Zeitebenen, die so unterschiedlich sind wie Hiroshima am 6. August 1945 um 8 Uhr 14 und Hiroshima um 8 Uhr 15? Das einzige, was ich vielleicht erhoffen kann, ist irgendeine Spur von ihr. So etwas wie ein ausgetrunkenes Glas, einen Hauch von Parfüm oder ein warmes, eingedrücktes Kissen in einem anderweitig leeren Raum. Mit einer detaillierten Landkarte und meinem Stadtplan in der Hand suchte ich nach dem Weg, den ich im 235
Dezember vor einem Jahr gegangen war, als ich den Anweisungen von H.G. Wells zum ersten Mal folgte. Ich zweifle nicht, daß ich die Nummer 26 auch gefunden habe. Wenn nicht, dann liegt sie in einem eingestürzten Bereich in der Mitte des Blocks. Einen Unterschied macht es nicht. Die Ruinen sind hier genauso wie überall sonst: ein Türstock, ein Schornstein und ein überwachsener Schutthaufen. Hier ist niemand gewesen; kein von Frauenhand geschleuderter Blitz hat diese Bäume verbrannt. Mein Fuß war seit Jahrhunderten der erste, der auf diese Schwelle gesetzt wurde. Wirklich gut erhalten und wie eine letzte Erinnerung an die Werke menschlichen Schaffens war nur noch ein Stück der rückwärtigen Hofmauer, aus dem sogar noch Flaschenscherben herausragten. Ich setzte mich auf einen Stein und weinte. Ich wollte es einfach nicht glauben. Ich hoffte, entgegen allem Augenschein, daß sie doch irgendwo war. Daß sich zwischen uns nur eine leichte Phasenverschiebung befand, die sich auf die eine oder andere Weise beseitigen ließ wie ein Schleier. Es ist dies nicht das erste Mal in meinem Leben, daß ich mich durch Zufälle, Vorzeichen und Ungleichzeitigkeiten genarrt fühle. Es ist mir schon oft so vorgekommen, als oh die Ereignisse von unsichtbarer Hand gelenkt werden, von Kräften, die sich am Rande meines Bewußtseins davonstehlen, ohne daß ich sie 236
je zu Gesicht kriege. Und wenn ich längst tot bin und diese ganze grüne Hölle des Zweifels nur ein Land der Phantasie? Was dann? Ich glaube nicht an ein Weiterleben des Ichs nach dem Tod, aber das heißt ja nicht, daß der Augenblick des Todes nicht unendlich sein kann, jedenfalls subjektiv.
22. Dezember, Tower of London Ohne die Hoffnung, Tania zu treffen (sehr groß war diese Hoffnung ja ohnehin nicht gewesen), schien mir London noch leerer als vorher. Jetzt war auch die letzte Aussicht auf menschliche Gesellschaft geschwunden, und auf den dunklen Ufern rechts und links der Themse blieb mir nur die Last millionenfach gelebten Lebens, das seit Jahrhunderten versunken war. Als ich nach Dartford zurückkam, war es schon Nacht. Ich war vier Stunden lang gepaddelt, die letzten beiden schon beim Licht der Sterne. Auf der Sandbank am Leamouth konnte ich nicht haltmachen, denn im Licht der Taschenlampe sah ich dort rote Augenpaare funkeln. Ganz offenbar Krokodile! Es war höchste Zeit, eine vernünftige Bleibe zu finden. Ich beschloß, einen Ort zu suchen, der schon zu unserer 237
Zeit alt gewesen war. Ein ehrfurchtgebietendes Plätzchen mit solidem Mauerwerk und respektablem Charakter. Am Samstag machte ich mich gleich frühmorgens vor der Mittagshitze auf den Weg und steuerte die kleine Bucht an, die ich vor dem Tower entdeckt hatte. Das erste, was ich fand, waren die Raben. Nicht etwa jene schäbigen alten Pfaffen, die früher auf dem Rasen herumtanzten und den Kindern die Bonbons aus der Hand stahlen, sondern die weißhalsigen afrikanischen Schildraben. Außerdem zahlreiche Schwalbenweihen und Bussarde, die sich von dem ernähren, was die Flut an den Uferrändern zurückläßt. Sie schienen mich scharf zu beobachten, als ich neben dem Verrätertor, wo der Fluß die äußere Befestigung durchbrochen hat, in das stille Becken hineinglitt, das sich heute zwischen den Mauerresten befindet. Zu Füßen des Blutturms setzte ich das Boot auf den Sand. Die meisten Gebäude – soweit ich sie bisher erforscht habe – sind noch recht gut in Schuß, mit Ausnahme der Schatzkammer, die in verdächtig großen Stücken in der inneren Festungsmauer herumliegt, so als hätte sie jemand gesprengt, um sich die Kronjuwelen zu holen. Eine ganze Reihe von Unterkünften bot sich hier an. Das Gewölbe unter dem White Tower zum Beispiel war unversehrt, aber nicht sonderlich einladend. Ich ging weit genug hinein, um ein paar alte Kanonen wie Kroko238
dile im Schlamm und in der Dunkelheit liegen zu sehen. Die Kapelle ein Stockwerk höher sah schon besser aus, ein normannisches Juwel. Durch die Fensteröffnungen strömte das Licht, während die Tauben hinausflatterten. Die unteren Fenster allerdings waren mit Beton ausgegossen, was den Zugang erheblich erschwerte. Ich dachte an das ehemalige Quartier Sir Walter Raleighs, wo der alte Haudegen immerhin dreizehn Jahre lang gelebt und seine ›History of the World‹ verfaßt hatte. Ich erinnerte mich noch gut daran, wie gemütlich der Kamin, das große Himmelbett und der Schreibtisch ausgesehen hatten, als ich seinerzeit von Onkel Phil durch den Tower geführt worden war. Der gute Onkel hat sich damals solche Sorgen gemacht, ob die Eiserne Jungfrau, das Streckbett und die aufgespießten Köpfe der Staatsverbrecher nicht zuviel für mich wären! (Keine Sorge, Davy, so etwas wird heute nicht mehr gemacht!) Bedauerlicherweise waren sowohl die Deckenbalken weggefault als auch der Fußboden. Aber der Wakefield Tower, der im 19. Jahrhundert mit gewaltigen, wenn auch nicht ganz echten Gewölben rekonstruiert worden ist, erwies sich als äußerst brauchbar. Zuerst mußte ich allerdings ein paar andere Bewohner ausräuchern: An der Decke klebten Wespennester. Eine Familie großer Nagetiere (Nutrias?) machte sich rasch davon, als ich 239
auftauchte. Ihnen fehlte Grahams Gelassenheit. Was mich daran erinnert, daß ich die große schwarze Miezekatze vermisse. Ich habe die ganze restliche Woche gebraucht, um meine Sachen von Dartford hierher in den Tower zu bringen und mich einzurichten. Ich habe ein paar von den fehlenden Scheiben ersetzt (das Glas habe ich mir aus den anderen Gebäuden geholt) und den Kamin von Vogelnestern befreit. Aus dem Bast der Corozo-Palmen habe ich mir einen Hut geflochten – jetzt sehe ich wahrscheinlich aus wie eine Mischung aus einem Goucho und einem Kuli. Und damit mir die Mäuse nachts nicht über den Bauch laufen, habe ich mir ein Lager aus Weidenruten gebaut. Demnächst werde ich auch einen Tisch für mein Logbuch und einen Stuhl haben. Wer sagt’s denn, daß es nicht gemütlich sein kann in diesem alten Gemäuer, das schon tausend Jahre auf dem Buckel hatte, als England den Löffel abgab? Die letzten fünfhundert Jahre sind doch für diese Mauern nur das stille Rentenalter nach einer langen Karriere gewesen. Sicher, es hat ein paar Scheußlichkeiten im Tower gegeben – Foltern, Enthauptungen und Kindsmord – aber das berührt mich nicht weiter. Im Burggraben kann man hervorragend angeln. Gestern habe ich einen fetten Piranha gefangen. Als Köder 240
diente mir eine Maus. Du siehst, als Schloßherr bin ich ganz souverän. Darf ich dir meine Karte geben? David Lambert, König der Fischer.
24. Dezember 2500 Heiligabend; wie immer ein böser Tag; du weißt ja. Ich erinnere mich noch gut, wie du den Whisky in dich reingeschüttet hast an dem Abend, als ich dir zum ersten Mal davon erzählte. Nackt auf dem Flokati vor dem Kamin, dein Haar vom Feuerschein überglänzt, während der duftende Haschrauch aus deinem Pfeifchen im Schornstein verschwand. Elf Jahre! Du Ärmster! Das muß ja schrecklich gewesen sein. Wie haben sie es dir bloß gesagt? Mein Gott, ich hab mich so bemüht, mich zu öffnen, die letzten zehn Jahre aufzuschließen und dir zu vertrauen. Aber die Tür blieb verschlossen, es rührte sich nichts. Du sollst wissen, daß es mir leid tut. So leid, wie es einem Menschen nur tun kann. Bist du deswegen gegangen? Weil ich dich dort nicht hineinlassen konnte? Ich glaube, am Anfang hat es dich angelockt. Ein Geheimnis, ein versiegeltes Zimmer – das interessiert wohl jeden, und eine Ägyptologin erst recht. Aber wenn 241
es gar keine Aussicht gibt, das Rätsel zu lösen, dann wird man seiner irgendwann müde. Du hast gegraben und gegraben, aber es blieb immer noch eine Schicht unberührt. Wahrscheinlich hatte ich Angst, du könntest die Grabkammer leer finden, wenn du sie jemals erreichtest: nichts als ein paar Scherben und Staub; allenfalls noch ein Fluch. Das sind natürlich nachträgliche Überlegungen, damals hatte ich keine Ahnung. Wir waren ja noch nicht mal am Ende vom Anfang. Wir waren noch dabei, uns zu erforschen, unsere Vergangenheiten und unsere Körper. Wir waren dabei, die Lust und Freundschaft, die wir in Ägypten gehabt hatten, in wahre Liebe zu verwandeln. Du machst mich verrückt. Ich möchte lachen. Ich möchte schreien und in die Luft springen. Ich kann gar nicht genug von dir kriegen. Ist das nicht Wahnsinn? Und ich: Nur Liebe und Wahnsinn können die Welt auf diese Art anhalten. Wir waren im Hangchow zum Essen gewesen (du hattest gesagt, MSG machte dich immer scharf). Wir hatten vorher schon etwas getrunken und konnten den Kellner nicht richtig verstehen. Er winkte dich in eine Ecke des Raumes, wo eine gläserne Lostrommel mit einer Kurbel stand – ein Glücksrad. Du hast daran gedreht und einen kostenlosen Nachtisch gewonnen. Später, als wir im Bett lagen, hast du mir deine neueste 242
Tätowierung gezeigt, dein Aten, eine kleine rote Sonne hoch in deiner weißen Achselhöhle. Ich liebte den Geschmack von Salz, Sonne und Sex, den ich aus dieser Höhle leckte. Ein herrlicher, exotischer Karibik-Geschmack, von dem ich nie genug kriegte. Du warst stolz auf deine Tätowierung, weil sie so brutal war. Bird hatte recht: Du hattest einen Hang zum Proletkult. Du warst des Weißbrots müde, du wolltest keinen Pimm’s No. 1 mehr auf dem Rasen von Dominica, du hattest die fröhlichen Polospieler und Tennisprofis satt mit ihrem flockigen Lachen. Bird war gefährlich und dunkel, ein gefallener Engel, der mit seinem Saxophon in verräucherten Kellern seine schwarze Magie übte. Und ich? Was hab ich dir bedeutet? Kein Jazz, kein Cockney; lediglich das Geheimnis einer versiegelten Gruft? Nein, ich weiß noch etwas: Du mochtest meine perversen Neigungen. Du hast deinen französischen Akzent angelegt und gesagt – Oh là là! Ihr Engländer seid alle so abartig. Ach, Anita! Was wir haben, und was wir verlieren! Weihnachten – die Nacht des Weinens. Eine kindliche Etymologie, die kein Erwachsener mehr entwurzelt. Und jedes Jahr wird es schlimmer, denn der Zeitschorf wird wieder heruntergekratzt, und die Wunde noch empfindlicher. Warum läßt man sich bloß von Jahresta243
gen beeindrucken? Geht das nur mir so? Warum führe ich einen Kalender, den sonst niemand führt? Der so überholt ist wie ab urbe condita oder das katun-Rad. ›Wie große schwarze Ochsen treibt Gott die Jahre durch die Welt, ich aber werde unter ihren Hufen zertreten.‹ Ich gebe meinem Laptop die Schuld (was ein bißchen ungerecht ist, schließlich schreibe ich das alles auf seinen Tasten). Ich brauche ihn bloß einzuschalten, und schon sind sie alle versammelt: Tag, Monat, Stunde, Minute, Sekunde. Auch die letzten Silben der Zeit werden hier aufgezeichnet. Jedes kleinste Stück vom Schatz des Lebens, das Stück für Stück Vergangenheit wird. Ein häßliches Leben, sehr britisch und wahrscheinlich kurz, obwohl ich mich derzeit eigentlich ziemlich gut fühle. In dieser Hinsicht fühle ich mich im neuen London sogar besser als im alten. Ich sollte auf alle Uhren und Kalender verzichten, diese ganze knauserige Buchhaltern der sogenannten Zivilisation. Aber wie führt man ein Tagebuch ohne Tage? Als Kind, nach dem Tod meiner Eltern, habe ich immer wieder die großen Tragödien gelesen – den Tod König Harolds, die Ermordung von Atahualpa, die Messerstecherei, bei der Christopher Marlowe den Tod fand, den Untergang der Titanic, den Kreuzestod Christi – und jedesmal gehofft, der Ausgang könnte einmal anders sein. Mußte der Pfeil denn immer das Auge des 244
Königs durchbohren? Mußte Pilatus denn immer seine Hände waschen? Mußte der betrunkene Autofahrer denn immer in dieser einen Sekunde am Heiligabend den Zündschlüssel umdrehen? Warum ließ die Zeit sich nicht anhalten? Warum ließen sich nachträglich keine Vorkehrungen treffen? Warum ließ sich das Schicksal nicht korrigieren und reparieren? Warum kann man ein Tonband zurückspulen, aber nicht eine Stunde? Warum war die Zukunft so formbar wie Ton, und die Vergangenheit so hart wie ein Diamant? War das fair? Die Zeit war ein Tyrann. Die Zeit war schuld an allem. Ich legte ein Dossier über meinen Feind an. ›Die Zeit ist der Allesverschlinger‹ (Ovid). ›Die Zeit ist der Reiter, der die Jugend zureitet‹ (George Herbert). ›Die Zeit ist eine große Konferenz, die unser Ende vorbereitet‹ (Djuna Barnes). Oder die Mystiker: ›Die Zeit ist eine Quelle, die in der Zukunft entspringt‹ (Unamuno). Die Skeptiker: Ach halte nicht viel von der Zeit‹ (Nabokov). Die Pragmatiker: ›Die Zeit ist eine Erfindung der Natur, um zu verhindern, daß alles auf einmal passiert‹ (anonym). Die Hoffnungsvollen: ›Die Zeit wird rückwärts laufen und das goldene Zeitalter bringen‹ (Milton). Kindisch, ich weiß. Aber ein Geisterhemd zu tragen hilft auch nichts, die Kugeln töten dich trotzdem. Deshalb behalte ich die Zeit im Auge. Gefängnisinsassen tun 245
das eigentlich immer. Sie ist unser Wärter, und ich werde ausbrechen.
Zweiter Weihnachtsfeiertag 2500 Mit Hilfe einer Flasche Yukon Thaw kam ich durch. Den ganzen Heiligabend habe ich auf einer Brustwehr über dem Wasser gesessen und den einsamen Finger der Tower Bridge angestarrt. Ich habe Rum und Schweigen getrunken und mich ganz sachte aufgelöst im milden Licht des Orion. Alle Lichter des Himmels haben heruntergestrahlt, unbeeindruckt; und ich habe mich daran zu erinnern versucht, wie es gewesen ist, als wir das Schweigen und die Dunkelheit ausgelöscht hatten, als sich eine orangefarbene Kuppel aus leuchtenden Wolken über dem nächtlichen London erhob und die Sirenen Tausende von privaten Tragödien herausschrien: eine Überdosis, eine Vergewaltigung, eine Brandstiftung, einen Selbstmord. Und jetzt nur noch Sterne, Zikaden und Frösche und meine traurigen Lieder. Stille Nacht, Heilige Nacht. Keine Festbeleuchtung, keine Sternsinger, niemand, der noch in letzter Minute Geschenke einkauft, keine Buden mit heißen Kastanien, kein Bing Crosby, keine norwegische Tanne auf dem Trafalgar Square, kein Frost, kein 246
Schnee, kein Nieselregen, keine Predigt, kein Truthahn, keine Ansprache unseres Monarchen. Keine Polizistin, die nach dem kleinen David fragt und dann ihre schreckliche Nachricht herausstottert. Gegen Mitternacht erschien im Osten ein Licht am Himmel und kam auf mich zu. (Ich weiß, was du denkst.) Ein oder zwei Fliegende Holländer sind immer noch unterwegs: Spione, die niemand mehr haben zum Ausspionieren, Telstars, die nichts mehr sagen und senden. Er flog über Greenwich hinweg, schien über dem beschnittenen Turm der Canary Wharf noch einmal kurz innezuhalten und stürzte dann in einem blau-weiß-roten Flammenspiel unter den westlichen Horizont. In den frühen Morgenstunden, als der Rum schon niedrig stand und sich weiße Nebel aus der Themse erhoben, war irgendwo hinter mir in der City ein asthmatisches Keuchen zu hören, erst leise, dann unglaublich laut. Ein schroffes, aggressives Bellen. Dann wieder keuchendes Atmen, wie ein Sittenstrolch am Telefon; dann ein lange in den Ruinen nachhallendes Brüllen von ungeheurer Gewalt. Ich hielt den Atem an; das gespannte Schweigen war schlimmer als zuvor das Gebrüll. Dann kam eine Antwort. Meilenweit entfernt, in Knightsbridge oder Westminster, erhob sich ein rasselndes Brüllen. Erst nur eine Stimme, dann fielen andere ein. Ein Crescendo, als sei 247
die tote Stadt noch einmal erwacht und beklagte ihr Schicksal. Ich war völlig erstarrt. Es war fast genauso beängstigend wie der Augenblick, als Graham aus seiner Höhle herauskam. Dann wurde mir klar, daß ich Stimmen dieser Art schon gehört hatte: Es waren bloß harmlose Brüllaffen. Gestern habe ich sie dann gesehen: Sie hockten auf einem hohen Ebenholzbaum neben der St.-Pauls-Kathedrale: große, rotbraune Tiere mit FragezeichenSchwänzen und besorgten Gesichtern. Sie konnten leicht durch die Baumkronen springen, ich aber hatte eine mühselige Reise vom Tower Hill hinter mir. Jede Bewegung in der Nähe der ehemaligen Bankpaläste und Hochhäuser war wie ein Spähtrupp durch vermintes Gelände. Glasscherben, die sich beim Absturz in junge Bäume gebohrt haben, sind bis in Hand- oder Augenhöhe gewachsen und versperren den Weg wie aztekische Obsidianschwerter. Gehärtete Stahl-, Glas-, und Plastikplatten sind zu Bergen von Diamanten zersplittert, aber manche sind auf weichen Boden gefallen und lauern jetzt wie riesige Rasierklingen unter den Blättern. Es gibt auch unterirdische Gefahren – die Wurmlöcher der ehemaligen Untergrundbahn sind an vielen Stellen eingebrochen und überflutet, und auch die natürlichen Wasserläufe im Stadtgebiet haben sich 248
aus den gemauerten Kanälen und Tunneln befreit, in die sie von den viktorianischen Ingenieuren eingesperrt worden waren. Man geht auf einer ganz passablen Asphaltstraße, und plötzlich steht man vor einem metertiefen, gurgelnden Loch oder einem Einsturztrichter voll Wasser und Schutt. Mit geruhsamer Altertumsforschung hat das nichts zu tun. Diese Ruinen hier sind keineswegs harmlos; nichts in der klassischen Antike war mit solchen Risiken und Fallen gespickt wie diese zerfallene Stadt. Der Weg durch Eastcheap und Cannon Street war mühsam genug, aber die Watling Street war regelrecht blockiert. Vier oder fünf eng nebeneinanderstehende Panzersperren aus Beton, die mit Spanischen Reitern aus verschweißten Stahlträgern verstärkt worden waren. Dahinter war die schmale Straße mit ihrer herrlichen Aussicht auf Christopher Wrens Kathedrale von flachen, terrassenförmig ansteigenden Stahlbetonbauten ohne Fenster, Türen oder Treppen gesäumt. Gesichtslose, häßliche Bunker mit einem Hauch von Hollywood, wie mir schien. Trotzdem: St. Pauls am Weihnachtstag allein für mich zu haben, war so schön, daß ich den mühsamen Weg nicht bereute. Die Kathedrale war ja in den letzten Jahrzehnten immer mehr von Banken und Versicherungen und anderen Zitadellen des Mammons eingezwängt 249
worden. Aber im Verfall erwies der liebe Gott sich als haltbarer: Die große Kirche war immer noch anmutig, die Bankpaläste aber hatten ihre schimmernden Außenhäute verloren und sahen aus wie die verrosteten Parkhochhäuser von Beirut. Wrens herrliche Kathedrale ist nahezu unversehrt, nur die Kuppel ist skalpiert wie ein weiches Ei. Ästhetisch ist das kein großes Problem. Licht strömt von oben herein und überflutet Marmor und Mosaiken. Die goldenen und farbigen Mosaiksteinchen; Christus in seiner Majestät über dem verschwundenen Altar – all das gibt der Kirche einen byzantinischen Glanz, den ich schon ganz vergessen hatte. Ich fühlte mich wie in der Hagia Sophia. Es waren die privaten Züge, die mich in das London unserer Tage zurückbrachten. Zum Beispiel dieser Gedenkstein: TO GENERAL SLIM (1891-1970) REMEMBERANCE FROM A YOUNG GIRL IN SINGAPORE. Eine Wolke zog über den Himmel, aber danach strahlte die Sonne mit neuer Kraft durch das Loch in der Kuppel herein, unter dem sich grüne Büsche und Bäume wie Weihrauch erhoben. Vom dunklen Kirchenschiff aus gesehen war dieser Lichtstrahl eine romantische Vision à la Blake, und ich erwartete, Engelschöre und alle Propheten zu hören. Aber die einzigen Geräusche stammten vom Flügelschlag der Mauerschwalben hoch oben in der Flüstergalerie. Außerdem wurde mir plötz250
lich ein regelmäßiges Tropfen bewußt, fast wie eine Wasseruhr aus dem alten Ägypten. In all der Helligkeit, Stille und Trauer wünschte ich dringend, ich wäre ein gläubiger Mensch. Ich wünschte, ich könnte mich an diesem Weihnachtstag hinknien und als letzter ein Gebet in dieser Kathedrale sprechen. Gott hat die Welt so geliebt … Hat er das wirklich? Ich erinnere mich noch gut, daß ich meinem Onkel erklärt habe, ich könnte nicht an einen Gott glauben, der meine Eltern getötet und mich den Therapeuten ausgeliefert hatte. Wie könne denn ein Glaube wahr und alle anderen falsch sein? Denn auch mit zwölf oder dreizehn war mir schon klar, daß die Religionen das Werk von Menschen waren. Wenn ihre Wahrheiten so universell waren, warum hatte Gott dann seinen Sohn (oder auch seine Tochter) nicht zu den Chinesen, den Tahitianern oder den Tasmaniern geschickt? Warum hatte er so viele Völker so lange im Dunklen gelassen? Warum durften sie die frohe Botschaft erst von den mörderischen Konquistadoren erfahren? Und war es nicht eigenartig, daß Gott nur die Juden erwählt haben sollte? Woraufhin Onkel Phil zum salbungsvollen Pfarrer wurde. Du, David, möchtest also mit Gott rechten? Und dann fing er an mit dem Sündenfall, dem freien Willen und den ganzen anderen Spitzfindigkeiten, die sich die Theologen ausgedacht haben, um die Kleider ihres Kai251
sers zu flicken. Leute wie wir, meine glaubenslose Geliebte, sind leider ein bißchen zu schlau: Wir sind zu klug, um zu knien; aber leider nicht klug genug, um eine plausible Alternative zu schaffen. Eine Weltanschauung von der Stange ist einfach viel billiger als irgendwelche Designer-Ideen. (Hast du dich am Ende rückversichern wollen? Oder war St. Osyth’s einfach eine praktische Entscheidung?) Alles, was ich wußte, war, daß ich nichts wußte. Über Jehova konnte ich bestenfalls sagen, daß er wichtige Informationen zurückhielt und ein bißchen zu überzeugt davon war, daß seine Ziele die Mittel rechtfertigten. Die Juden, sagte Onkel Phil, haben ein Sprichwort: Der Mensch denkt, Gott lacht. Das kannst du als Zusammenfassung des Buches Hiob betrachten. Wo bist du gewesen, David, als ich das Fundament für die Erde gelegt habe? Erklär es mir, wenn du es verstehst. Kannst du den süßen Einfluß der Plejaden binden und des Orion Schwertgehänge lösen? Kannst du mit dem Angelhaken den Leviathan fangen? Das Wetter war auch am Neujahrstag warm und trokken, die Hitze am Mittag stechend. Die Affen schliefen in den Bäumen, die meisten Vögel verstummten, nur die Insekten schnarrten weiter, aber ihr ständiges Lärmen war ein Bestandteil der Stille – nicht anders als das 252
Rauschen eines Bergbachs oder das Donnern der Brandung. Ich erforschte die Flußufer, mit dem Boot und zu Fuß, und ergänzte meine Ernährung mit Krebsen und Muscheln. Ich esse täglich einen Palmherzen-Salat (dafür kann man praktisch jede junge Palme verwenden), außerdem Kokosnüsse, Datteln, Bambussprossen, wilde Bananen und Avokados. Wenn ich Lust auf Süßigkeiten habe, suche ich mir ein paar Zuckerrohrstengel. Für einen Schiffbrüchigen lebe ich gar nicht schlecht. Die Dinge, die ich vermisse, will ich gar nicht erst aufzählen; die Liste ist einfach zu lang. Und du stehst ganz obenan. An Cocktail-Oliven, eine warme Dusche, ein frisches Bier oder Schweinepasteten zu denken, ist dagegen fast schon gefährlich. Meinen Rasierapparat hab ich in die Themse geworfen. Ich bade jeden Tag in der kleinen Bucht unterhalb meines Turms, wo es keine Krokodile und Haie gibt (Piranhas tun einem nichts, hab ich gehört, solange man keine offene Wunde am Leib hat. Ich hoffe, das stimmt). Anschließend sitze ich an meinem Privatstrand unter der Palme, von der mein Hut stammt, und lausche dem Gesang der Zikaden. Wenn ich mir ein bißchen Mühe gebe, kann ich das Echo unserer Maschinen darin erkennen: das Dröhnen der Düsenflugzeuge, das Heulen von Sirenen, das leise Rattern einer Nockenwelle.
253
Ich habe mehrere archäologische Exkursionen unternommen, aber die Ergebnisse waren enttäuschend. Es ist mehr unter Wasser, als ich gedacht habe; vieles, was von der Canary Wharf aus wie Urwald aussah, ist in Wirklichkeit Sumpf. Der Boden ist von einem zähen Netz aus Wurzeln, alten Kabeln und Stahlbewehrungen durchzogen und gespickt mit Glassplittern, halbverbrannten Plastikplatten, zerbrochenen Ziegeln, verrosteten Motorblöcken und Überresten von Karosserien. Ich brauche Pumpen, eine Taucherglocke, Sägen, Siebe, Hebezeug und was weiß ich noch alles. Aber alles, was ich habe, ist meine Machete, ein Klappspaten und ein alter Spachtel aus unserer Zeit in Alexandria. Ich habe im Wasser zwei Bücher und ein paar Disketten gefunden, aber die Bücher waren wie nasses Brot und die Disketten voll Brandblasen. Praktisch alle Gebäude scheinen unter dem Feuer gelitten zu haben. London muß ausgesehen haben wie die Bronx. Die älteren Bauwerke haben es insgesamt besser überstanden als die Neubauten. Von den Sachsen bis zu Edward VII. wurde eben für Jahrhunderte gebaut, und nicht bloß für dreißig Jahre. Und statt der Erdanziehung mit Verbundbauweise und komplizierten Materialien zu trotzen, benutzten sie die physikalischen Gesetze, um ihre Gebäude aufrechtzuhalten. Wolkenkratzer sind zwar ungeheuer dynamisch, aber sie werden in 254
aller Stille von chemischen Kräften zerfressen. Regen und Grundwasser sickern ein, lösen Mineralien aus dem Beton, verwandeln den Zement in Kalk und lassen die Bewehrungen rosten. Die Glas- und Plastikverkleidungen stürzen herab, und am Ende stehen nur noch rostige Skelette im Dschungel, die zum Teil so aussehen, als wären sie niemals fertiggebaut worden.
6. Januar 2501 Epiphanias, der Tag, an dem die Heiligen Drei Könige vors Haus und die Weihnachtskugeln zurück auf den Dachboden kommen. Gestern war ich wieder mit dem Angelhaken am Burggraben, um mir ein Abendessen zu fangen. Es war noch zu früh am Nachmittag, und nicht einmal die Piranhas wollten beißen, aber ich hatte nichts gegen ein, zwei ruhige Stunden am Wasser. Nach einiger Zeit hörte ich ein leises Plätschern, und vom gegenüberliegenden Ufer kamen ein paar Wellen über den Graben. Hatte ein Fisch angebissen? Nein, eigentlich hatte es nicht so geklungen. Die Einsamkeit hatte angefangen, auch das letzte bißchen Verstand noch zu unterminieren, über das ich verfüge. Schon seit Tagen plagte mich wieder die Vorstellung, daß die Dinge ganz anders waren, als sie zu 255
sein schienen; daß ich nicht in unserer Zukunft gelandet war, sondern irgendwo anders; und daß ich auch gar nicht allein war. Auch jetzt beim Angeln hatte ich wieder das Gefühl, eine Art Versuchstier zu sein, das sich in der Hand eines allmächtigen, grausamen Wissenschaftlers befand. (Ist das nicht die condition humaine par excellence?) Wie heißt es bei Mary Shelley? ›Die Welt war gar nicht tot, sondern ich war verrückt … Ich war von einer Zauberkraft geblendet, die mir jeden Anblick auf Erden erlaubte, aber all ihre menschlichen Bewohner vor meinen Augen verbarg.‹ Schon wieder das Don-Quichotte-Syndrom: von Lügenmärchen induzierte Sinnestäuschungen. Was Cervantes allerdings nicht erkannt hat: Gute Bücher machen einen viel verrückter als schlechte. Wer kann sich noch für gesund halten, wenn er Kafka gelesen hat, oder Orwell? ›Wenn du dir ein Bild machen willst von der Zukunft, dann stell dir einen Stiefel vor, der einem Menschen ins Gesicht tritt – immer wieder, für immer.‹ In meinen Träumen sehe ich das Entsetzen auf den Gesichtern in der Canary Wharf. Und auf allen Gesichtern, auf denen ich wahrscheinlich täglich herumtrample. Jedesmal, wenn ich darüber nachdenke, lande ich mit meinen Überlegungen unweigerlich bei den glatten, grünen Straßen im Norden. Wer bewegt sich auf diesen Straßen? 256
Noch mehr kleine Wellen im Burggraben. So, als ob dort jemand im Verborgenen schwimmt, unter den Zweigen am gegenüberliegenden Ufer. Es war albern, sich hinter diesem Graben sicher zu fühlen. Aus den Safari-Parks und Zoos konnte alles mögliche entkommen sein. Katzen können sehr gut schwimmen, selbst wenn sie das Wasser angeblich nicht mögen; auch Bären und Wölfe können gut schwimmen. Plötzlich spürte ich hinter mir eine Bewegung, und noch ehe ich reagieren konnte, tauchte in den Büschen eine schwarze Gestalt auf. Graham. Das verstümmelte linke Ohr war nicht zu verwechseln. Er legte sich kaum fünf Meter entfernt auf den Boden. Sein Ohr bewegte sich zuckend bei jedem Geräusch. Ich erstarrte und wagte nicht, mich zu rühren. Meine Angelschnur ließ ich im Wasser, und bald hatte einer angebissen. Ein Piranha. Graham sah zu, wie ich ihn hereinholte. Ich hatte keine genaue Vorstellung, wie ein schwarzer Puma in freier Wildbahn aussehen sollte, aber dieser gut sehen, auch wenn das Fell glänzte. Ich schlug dem Fisch den Knüppel über den Schädel, schnitt den scheußlichen Kopf ab und hielt Graham den Rest hin. »Hier, Pussy«, sagte ich mit einer Stimme, die ich seit Jahren nicht mehr benutzt hatte. »Der Fang des Tages.« Wie die Edelsteine in einem Götzenbild starrten die 257
topasfarbenen Augen mich an, aber der Blick war intelligent und forschte nach meinen Absichten. Graham blinzelte, stand auf und kam näher geschlendert. Drei Meter entfernt blieb er stehen. Ich legte den Fisch auf einen flachen Stein. Wieder ein geduldig prüfender Blick, dann eine ausgestreckte Pfote. Wie blitzende Messer erschienen die Krallen und senkten sich in mein Geschenk. Er schnupperte sorgfältig – ganz Katze (und so gar nicht wie ein Hund) – mißtrauisch und selbstverantwortlich, ausschließlich dem eigenen Wohlbefinden verpflichtet bei jeder Entscheidung. Graham fraß langsam, ließ die Gräten krachen, schüttelte den Kopf und warf mir Blicke zu, als wollte er fragen, ob er wirklich alles allein fressen dürfe. »Du bist ein Panther mit guten Manieren«, sagte ich. Als er fertig war, stand er auf und ließ sich seufzend neben mir fallen. Sein Rücken berührte fast schon mein Bein. Ohne lange nachzudenken, streichelte ich seine Flanken. Er drehte mir den Kopf zu und schloß genüßlich die Augen. Ich massierte die knochigen Schulterblätter und die starken Muskeln darunter, ich packte die lose Haut an seinem Hals und wühlte mit den Fingerspitzen in seinem Fell. Er ließ sich das eine Weile gefallen, dann rollte er auf den Rücken, und ich stellte fest, daß Graham ein wissen Alter. 258
Wie sollte ich sie jetzt nennen? Barbara? Helen? Penthesilea? Nein, es war mein Privileg, die Welt zu benennen; sie würde weiter Graham heißen. Ich streichelte ihre Brust, und die Zitzen streiften dabei meine Handflächen. Sie begann zu schnurren. Das Geräusch war so regelmäßig und laut, daß ich im ersten Augenblick dachte, ich hörte ein Auto. Ein Schauder lief mir über den Rücken. Wenn ich nun tatsächlich unter Beobachtung stünde? Wenn eine fremde Intelligenz mich für ihre Versuche mißbrauchte? Wenn ich gleich in einem gekachelten Laboratorium aufwachte? Ich dachte an Nadeln und Elektroden, an selbstgefällige Männer in weißen Kitteln, die über Zwangsmittel und medizinische Instrumente verfügten und sich im Besitz einer übergeordneten Wahrheit befanden. Bitte, Mr. Lambert, kommen Sie mit, und machen Sie uns keinen Ärger. Aber die Hand, die sich auf meine Schulter gesenkt hatte, war nur Grahams Pfote, die mir sagte, daß ich nicht aufhören sollte, sie zu streicheln. Ach, Graham, Licht meines Lebens! Dem Himmel sei Dank, daß er dich zu mir geschickt hat! Sonntag, den 9. Januar, abends Es war jetzt tagelang sonnig. Am Freitag habe ich einen Durchbruch versucht. Ich wollte den Rosetta-Stein fin259
den, der das Schweigen bricht und mir alles erklärt. Wo sonst sollte ich danach suchen als im British Museum? Wahrscheinlich wirst du sagen, ich hätte diesen Ort aus sentimentalen Gründen gewählt, weil es der letzte Ort war, an dem wir zusammen gewesen sind, und vielleicht hast du recht. Ein windiger Aprilnachmittag, nasse Fahrbahnen, trübes Licht, Reifen, die im Regen singen. Wir trafen uns in der Cafeteria, ehe ich dich nach Heathrow hinausfuhr, und ich machte noch schnell dieses Foto von dir, neben deiner Lieblingsstatue, der Löwengöttin Sekhmet, ausgegraben von Mrs. Benson und Mrs. Gorlay Ich habe das Foto immer noch bei mir, neben meinem Lager im Tower. Sie haben es mir in dem Hospiz gegeben, wo du gestorben bist: eine löwenköpfige Göttin aus glattpoliertem schwarzem Stein und eine blasse junge Frau – die linke Hand an der Kehle und das Herz schon an den Ufern des Nils. Das Museum erreichte ich, indem ich den Fleet bis zur Clerkenwell Road hinaufpaddelte – noch ein Fluß, der sich seine Oberflächenrechte zurückgeholt hat. An einer Stelle kam ich zu einer durch Schutt und Eisenträger gebildeten Stromschnelle und mußte umtragen, aber insgesamt war es immer noch praktischer, das Boot zu nehmen, als den ganzen Weg zu Fuß durch den Dschungel zu gehen. Am Freitag nachmittag habe ich in den Hauptausstellungsräumen ein paar Grabungen ge260
macht, aber es zeigte sich rasch, daß hier nicht mehr viel zu finden war außer den Trümmern des Dachstuhls. Vor der Räumung muß das Museum vollkommen evakuiert worden sein. Ist alles in irgendeinen »Führerbunker« gebracht worden? Oder ist das Museum privatisiert und »rentabel« gemacht worden? Vielleicht steht deine löwenköpfige Göttin jetzt neben einem Swimming-pool in Orange County, der mittlerweile genauso verlassen ist wie der Heilige See von Karnak, den sie in Ägypten zurückließ. Ich übernachtete in den Mauern des Museums, ohne ein Dach über dem Kopf, aber dafür umgeben von allen Geräuschen des Dschungels, bis ich meine Kopfhörer aufsetzte und mich mit einem Klavierkonzert von Grieg in den Schlaf wiegte. Am nächsten Morgen wollte ich mir schon einen anderen Platz für meine Forschungen suchen (meinen ehemaligen Arbeitsplatz in St. Pancras vielleicht?). Aber dann hatte ich Glück und fand direkt vor dem British Museum einen alten Mahagoni-Baum, den der Sturm vor einigen Wochen gefällt hatte. Der Stamm hatte mit den Wurzeln einen dicken Batzen Erde aus dem Boden gerissen, die ich ohne große Mühe untersuchen konnte. Ein echter Glücksfall für einen Archäologen. Das Loch vor dem Windwurf war voll Wasser gelaufen, aber mit Hilfe meines Spatens konnte ich feststellen, daß sich 261
darunter in etwa anderthalb Metern Tiefe ein glatter, harter Boden befand: das Straßenpflaster von damals. Ich konnte also erwarten, daß mir der Windwurf eine komplette stratigraphische Abfolge vom Ende des 20. Jahrhunderts bis zur »Gegenwart« zeigte. Die älteste Schicht war ein schwerer, mit Holzkohle und Asche versetzter Lehm. Sie enthielt Glasscherben, darunter den Hals einer Whiskyflasche (Johnnie Walker, der Form nach), einen Plastikbecher, ein Stück verbrannten Autoreifens, verschiedene Kabel und Rohre und Trümmer vom Portikus des Museums. Der beste Fund war ein Stapel Zeitschriften. Angesengt und durchweicht waren sie offenbar für den Zeitschriftenhändler oder für die Müllabfuhr auf die Straße gelegt worden. Ich brauchte eine volle Stunde, um sie vorsichtig auseinanderzuschälen. (Es war, als müßte ich ein zerdrücktes Blätterteighörnchen aufblättern.) Ganz in der Mitte fand ich das einzig lesbare Stück. Irgendwas über Flaubert? Ich ließ die Seite in der Sonne trocknen, und die Überschrift wurde erkennbar: ›I am Madame B. Ovaryx. Ich hatte der Erde einen Band ›Reader’s Digest‹ entrissen. Die Ausgabe vom Oktober 2026. Das Datum beweist nicht viel. Das Heft war vielleicht schon zehn Jahre alt, als der treue Leser es endlich wegwarf. Aber zumindest weiß ich jetzt, daß die Zivilisation auch eine Generation 262
nach meiner Abreise noch existierte (wenn du bereit bist, ›Reader’s Digest‹ als Existenzbeweis der Zivilisation hinzunehmen). Ich kehrte wieder zu meinem Windwurf zurück und kratzte weiter zwischen den Wurzeln herum. Auf diese Weise fand ich weitere Scherben, ein bißchen verrosteten Modeschmuck und zwei Patronenhülsen (entweder ein Karabiner oder ein leichtes Maschinengewehr), zwei Bruchstücke einer Soßenschüssel (Weidenmuster) und eine sehr gut erhaltene Schuhsohle (Joggingschuhe, Größe 11, und natürlich von Puma – du verstehst, was ich mit den dauernden Vorzeichen meine?!). Die Funde sind vielleicht ein wenig banal, aber ihre Banalität ist auch sehr beruhigend. Es besteht jetzt kein Zweifel mehr: Es handelt sich um Überbleibsel unserer Zukunft. Ich bin kein Opfer des Wahnsinns oder der Euphorie, und ich werde nicht von Gespenstern verfolgt. Auch die Viren haben mein Gehirn noch nicht aufgefressen. Ich bin einfach bloß ganz allein in diesen kolossalen Ruinen.
Dienstag Naja, ganz allein auch wieder nicht. Kaum daß ich wieder zum Tower zurückgekehrt war, erschien Graham in 263
meiner Nähe. Ihr Auftauchen scheint immer häufiger zu werden und mit meinen Essenszeiten zusammenzuhängen. Sie kommt allerdings nicht jeden Tag. Ich gebe ihr immer etwas zu fressen. Der Gedanke, daß eine Katze dieser Größe hungrig sein könnte, ist einfach nicht sehr behaglich. Ich gönne ihr die Fische. Sie sind leicht zu fangen, und es ist so schön, mit Graham zu plaudern. Noch eine verrückte Liebe, nicht anders als du, meine Schöne, und Tania, die ich noch immer nicht kenne. Ich habe im Lexikon nachgeschlagen: Puma (Ketschua), der, Kuguar, Berglöwe, Puma concolor, amerik. Art der Katzen, wiegt bis zu 80 kg und wird von den Schnurrhaaren bis zur Schwanzspitze bis zu drei Meter lang. Der P. streift am Tage bis zu 100 km umher und muß alle zwei Wochen eine größere Beute schlagen, um überleben zu können. Wegen der stark verkleinerten natürlichen Lebensräume taucht der P. neuerdings auch am Rand der Siedlungen auf. Gelegentlich finden sich verwilderte Exemplare auch auf dem europäischen Festland und den Britischen Inseln. Obwohl er in der freien Natur scheu und einzelgängerisch lebt, haben Pumas in Gefangenschaft oft schon enge Beziehungen zu Menschen entwickelt. Der P. ist die größte schnurrende Katze.
264
Ehe ich das Museum endgültig wieder verließ, fischte ich noch einmal gründlich in dem trüben Wasserloch, das der Windwurf hinterlassen hatte, und löste dabei ein flaches, rechteckiges Stück galvanisiertes Blech von der Größe einer Anschlagtafel vom Boden. Die eine Seite war mit einer Plastikschicht überzogen, die früher wohl einmal durchsichtig, jetzt aber vollkommen trüb war. Ich konnte einige Buchstaben darunter erkennen, und deshalb machte ich mir die Mühe, die Tafel mit in den Tower zu nehmen und sie in aller Ruhe zu säubern. Ich habe sie zwei Tage in Palmöl gelegt, und der Text läßt sich jetzt besser entziffern, als ich gedacht hätte. Nicht ganz der Rosetta-Stein, aber … na ja, was meinst du?
PROVISIONAL GOVERNMENT OF HIS MAJESTY’S ARMED FORCES
Notverordnung Nr. 81 Sommerevakuierung von Groß-London Alle transportfähigen Personen mit eigenen Fahrzeugen werden hiermit aufgefordert, sich an den bekannten Sammelstellen im Bereich der Ringautobahn einzufinden (den für Sie nächstgelegenen Sammelpunkt entnehmen Sie bitte der untenstehenden Übersichtskarte). Die 265
Evakuierung wird durchgeführt nach folgendem Zeitplan: PA mit den Anfangsbuchstaben A-D: Montag, den 2. April bis … (unleserlich) … besonderer Unterstützung bedürfen, wenden sich an unseren Notdienst unter der Nummer 0181-666-5 … (unleserlich) Sammelpunkt 23: South Mimms. Die Fahrzeuge sind auf der Standspur der M 25 zwischen den Ausfahrten 22 und 24 abzustellen. Soweit möglich, sind auch die Böschungen und Freiflächen neben der … (unleserlich) … innern daran, daß der Parkplatz der ehemaligen Welcome Break-Raststätte und die gesamte A 1 (M) nördlich der M 25 bis auf weiteres für alle Privatfahrzeuge gesperrt sind. Der Abtransport erfolgt durch Fahrzeuge der Territorial-Armee … (unleserlich) Abfahrtzeiten: Täglich zwischen 8.00 und 18.00 Uhr stündlich zur vollen Stunde. Ärgerlich, daß kein Datum draufsteht. Aber das Welcome Break, wo wir immer unseren Cappuccino getrunken haben, kennen wir ja noch, genauso wie den gräßlich bürokratisch-militärischen Jargon! Sogar die Vorwahlnummer ist noch dieselbe – diese Anschlagtafel muß aus einer Zeit stammen, die nicht weit von unserer entfernt war. Was mir gar nicht gefällt, ist der Ausdruck »transportfähig«. Was bedeutet das? Wovor sind die Menschen geflohen? Vermutlich vor der Hitze, aber ist 266
das schon alles gewesen? Vielleicht bin ich wieder mal vorschnell in meinen Schlußfolgerungen, aber der Tonfall dieser Notverordnung klingt ziemlich verzweifelt. Hat es sich wirklich bloß um einen jahreszeitlich bedingten Umzug in den kühleren Norden gehandelt? Oder war das schon die endgültige Räumung der Hauptstadt, die man als zeitweilige Maßnahme ausgegeben hat, um den Widerstand der Bewohner zu mindern und keine Panik ausbrechen zu lassen?
Freitag, den 14. Januar Der Durchfall ist wieder da, und ein dauerndes Frösteln – vielleicht habe ich nur zu viele Avokados und wilde Pfefferschoten gegessen, aber die Symptome erinnern mich doch daran, daß ich nicht unbegrenzt Zeit habe. Ich muß zu den grünen Streifen vorstoßen. Hier in der Gegend habe ich genug getan. Seit mehreren Tagen hat es immer wieder geregnet. Kein sanftes Nieseln wie früher, sondern kurze, prasselnde Tropengewitter. Der Himmel ist den ganzen Tag blau, die Sonne sticht mit grausamer Hitze herunter, und dann türmen sich am Nachmittag plötzlich Wolken auf wie Gischt an einem großen Wasserfall und entleeren sich im Verlauf einer Stunde. Ich verbringe diese 267
Stunden auf meinem Lager, die ›Suche nach der verlorenen Zeit‹ in der Hand und Billie Holiday oder King Oliver in den Kopfhörern, um nicht daran denken zu müssen, wie sich der Wind an den Mauern wundkratzt. An manchen Abenden mache ich auch Feuer. Graham hat ihre Angst vor den Flammen verloren, sie liegt ausgestreckt neben mir, räkelt sich in der Wärme und schnurrt wie ein Diesel, während die Brüllaffen am Parliament Square und St. Paul’s heulen.
5 18. Januar, mittags. In der Nähe von Walthamstow Ich bin beim ersten Morgenlicht aufgebrochen und der roten Sonne entgegengefahren. In rascher Fahrt bin ich durch den Schatten der Canary Wharf und eine kühle Nebelbank geglitten. Nur von ferne hörte ich das Wasser im Untergeschoß des riesigen Turms schwappen. Die Sittiche und Mynahs fraßen kreischend die Palmfrüchte, aber ich fühlte mich trotzdem sehr einsam. Graham ist letzte Nacht abrupt davongepirscht, als ich Zelt und Schlafsack im Faltboot verstaute. Das Packen scheint sie verärgert zu haben, sie ließ den Schwanz hängen und ging, ohne noch einmal zu nicken oder mich mit der Schnauze zu stubsen. Sie kann meine Exkursionen nicht leiden. Nach Norden in den Lea vorzustoßen und der Themse den Rücken zu kehren, war herrlich. Ein neues Gewässer, eine leichte Brise, an den Ufern zierliche weiße Reiher und die stärker werdende Sonne im Rücken – es war wie ein neues Leben, und Tausende von neuen Möglichkeiten schienen sich mir zu eröffnen. Selbst Isaak Walton dürfte kaum schönere Tage auf dem Wasser gekannt haben. 269
Ich hatte mir vorgenommen, dem Lea bis zur M 25 zu folgen. Die Ringautobahn überquert den Fluß etwas östlich von Waltham Cross. Eine Entfernung von zwanzig Meilen flußaufwärts, dafür würde ich mindestens acht Stunden brauchen, und selbst wenn ich für den Rückweg nur vier Stunden ansetzte, würde ich es nicht mehr bis zurück zum Tower schaffen. Ich mußte irgendwo am Lea übernachten. Als ich noch zur Schule ging, war ich häufig zum Rudern auf diesem Fluß, allerdings weiter oben, in der Nähe von Broxbourne. Wenn meine Erinnerungen noch zutreffen, müßte die Fahrt eher angenehm sein, und ich müßte auch die Autobahn schon von weitem sehen können, was mir sehr lieb ist. Die zahllosen Straßen- und Eisenbahnbrücken, die früher den Unterlauf des Lea überquerten, waren bisher kein großes Hindernis. Nur zwei davon sind noch nicht unter Wasser, und auch die waren nur noch kümmerliche, rostzerfressene Skelette unter einer Last von Blättern und Schlingpflanzen. Die Hackney Marshes waren weit komplizierter: ein Labyrinth von Kanälen, Sümpfen und Altwässern. Zweimal mußte ich in Sackgassen umkehren, einmal mußte ich umtragen und mehrfach mußte ich das Boot durch Sümpfe und Flachwasser treideln. Die letzte halbe Stunde habe ich damit verbracht, mir die Blutegel von den Beinen zu zupfen.
270
Abends Den ganzen Nachmittag hatte ich gegen einen lästigen Wind anzukämpfen, der über das ehemalige King George Reservoir fegte, das heute ein flacher, gras- und binsenbewachsener Steppensee ist. Einmal sah ich einen äsenden Wasserbock, der furchtlos sein tropfendes Kinn hob, um mich zu betrachten, als hätte er noch nie ein Wesen meiner Art gesehen. Jenseits der Gezeitenmarke, die sich weit oberhalb des früheren Meeresspiegels und viel weiter landeinwärts abzeichnet, stieß ich auf die Überreste alter Schleusen und Wehre. Riesige Steine von der Ummauerung der alten Kanäle und ein eingestürzter eiserner Steg mit einem eingegossenen Datum: 1835. Meine Aufgabe wäre weit leichter zu lösen, wenn das einundzwanzigste Jahrhundert mit seinen Jahreszahlen genauso großzügig gewesen wäre wie das neunzehnte. Aber nach dem Ersten Weltkrieg kam das Anno Domini irgendwie aus der Mode. Lag das am Übergang vom Stein zum Beton? Am Ende der Steinmetzkunst? Oder hatte es eine tiefere Bedeutung? Hatte es mit den Millionen Toten zu tun? War sich die Zivilisation ihrer selbst nicht mehr so sicher wie vor 1914? Lange ehe ich mein Ziel erreichte, wurde es dunkel. Ich mußte mich mit einem kalten Abendessen begnügen 271
und mein Lager auf einem Hügel am Ostufer hinter den Ruinen einer Siedlung aufschlagen, die auf meiner Karte den Namen Pick’s Farm trug. Wenn man bedenkt, was das einmal für ein dicht besiedeltes, geschäftiges Land war! Man brauchte doch bloß die Landkarte aufzublättern, und man fand keinen Quadratkilometer, auf dem nicht ein Haus, eine Straße, eine Fabrik, eine Eisenbahnstrecke, ein Friedhof, eine Burgruine, eine Römerstraße, ein Wallgraben aus der Eisen- oder ein Hügelgrab aus der Bronzezeit vermerkt gewesen wäre. Seit zehntausend Jahren ist England nicht mehr so verlassen gewesen.
Mittwoch, den 19. Januar Beim ersten Tageslicht stand ich auf. Als Frühstück hatte ich bloß eine Handvoll Reis und eine Tasse kalten Tee, den ich schon gestern morgen gekocht hatte. Kein offenes Feuer, solange ich nicht sicher sein kann, daß ich allein bin. Die Stadt und ihre Vororte liegen hinter mir, und ich bin jetzt im Epping Forest. Das sind jetzt die ersten Wälder, die schon immer Wälder gewesen sind, aber auch hier haben die tropischen Arten, die London bede272
cken, alle Bäume und Sträucher der gemäßigten Zonen verdrängt. Früher war das ein trauriges Wäldchen, bedrängt und zerschnitten von Autobahnen und Schnellstraßen, von Einfamilienhäusern und wuchernden Bungalowsiedlungen eingekreist und belagert. Die Ulmen waren als erste gestorben, dann erstickten die Eichen und Ahornbäume im Smog. Im Unterholz und Gestrüpp wurden Mordopfer, alte Matratzen und chemischer Abfall gelagert. ›The woods decay, the woods decay and fall / The vapours weep their burthen to the ground / Man comes and tills the field and lies beneath / And after many a summer dies the swan.‹ Heute sind die Bäume stattlich und groß. Ich fühle mich wie ein Waldläufer, wie Lederstrumpf im Land der Mohikaner. Ein unbehagliches Gefühl. Ein Bogenschütze irgendwo in den Bäumen könnte mich mit Pfeilen spikken wie den heiligen Sebastian.
Später Ein paar Stunden lang lag Nebel über dem Fluß und den Marschen. Ich war froh, mich ungesehen bewegen zu können. An der Schleuse in Enfield fanden sich weitere Spuren unserer industriellen Vergangenheit: gemauerte Bögen neben dem Wasser wie ein römischer Aquä273
dukt. Die alten Gewehrfabriken, glaube ich. Auf der anderen Seite ein paar Ruinen von Wohnhäusern. Hier hatten die Menschen gelebt, deren Waffen die Grundlage waren für die Schaffung des Britischen Weltreichs. Die Mauern warfen das feuchte Echo meiner Paddelschläge zurück. Dann kam die Rammey Marsh, wo ich nichts außer Schilf und Binsen sah – und einen einsamen Bunker. Wahrscheinlich sind ringsum die schrecklichsten Dinge verborgen: unter den Zedern dort, hinter jener Fabrikmauer. Wahrscheinlich nährt sich der Dschungel von Tod und Verwesung, holt sich etwas von dem zurück, was die Menschheit an Schulden hinterlassen hat bei ihrem kläglichen Abgang. ›The many men, so beautiful! / And they all dead did lie: / And a thousand slimy things / Lived on; and so did I.‹ Plötzlich war die Brücke da: ein mächtiger Stahlklotz hoch über mir wie ein Schlachtschiff vor meinem Bug. Im sanften Nebellicht sah sie völlig intakt aus, und meine Gedanken begannen zu rasen. Ich zitterte bei der Vorstellung, was das wohl bedeuten mochte. Dann hörte ich ein hohles Dröhnen, und als ich in die Schatten unter der Brücke eintauchte, sah ich, wie das Wasser über einen abgestürzten Träger rauschte. Eine Art Felsenschwalben, die dunkler und größer war, als ich sie kannte, hatte unter der Fahrbahn eine 274
Kolonie gebildet, und einzelne Vögel schossen angriffslustig auf mich herunter. Ich ließ mich ein bißchen zurücktreiben und setzte das Boot auf eine Sandbank. Keine Krokodilspuren, zum Glück. Die Betonpfeiler waren (von Lagerfeuern?) geschwärzt und mit Graffiti besprüht, ähnlich wie auf der Canary Wharf: Abdrücke von Händen, Monogramme und Insider-Sprüche. Eindeutig das Werk von Banden, die unter der Brücke gelagert oder gelebt hatten. Jetzt kam der Augenblick der Wahrheit. Ich kletterte durch dichte Guajavabüsche die Böschung hoch, bis ich den Rand der Autobahn erreichte, und als ich die alte Fahrbahn betrat, sanken meine Stiefel in einen herrlichen, ebenmäßigen Rasen. Die Sonne hatte die oberen Nebelschichten weggebrannt, und überall zeigte sich blauer Himmel. Die Hitze leckte mir übers Gesicht, und als ein leichter Wind die letzten Nebelfetzen in die Baumwipfel trieb, schien die grüne Rollbahn – was sich da vor mir ausbreitete, sah tatsächlich wie ein geheimer Flugplatz im Dschungel aus, wo verdächtige Ladungen ausgetauscht werden – immer länger zu werden und erstreckte sich bald bis zum Horizont. Ich trat in den Schatten der Büsche zurück, holte den Feldstecher heraus und unterzog die Umgebung einer eingehenden Prüfung. Das Ganze war völlig verrückt. Die M 25 führte durch dichten Urwald, 275
aber am Rand der Fahrbahn, dort, wo früher die Standspur gewesen sein mußte, hörten die Bäume und Büsche und alles dschungelartige Wachstum abrupt auf. Irgend etwas verhinderte, daß sie auf dem Rasen Wurzeln schlugen. Hier und da lagen Bäume über der Fahrbahn, aber es war offensichtlich, daß sie erst vor kurzem umgestürzt waren. Alles, was auf den Rasen fiel, schien alsbald darin zu versinken. So, als wäre er Treibsand. Das Gras zeigte keinerlei Tritt- oder Fahrspuren. Es war auch kein Wildverbiß zu erkennen. Weder Antilopen noch Hirsche, weder Kaninchen noch andere Nagetiere schienen sich davon zu ernähren. Trotz ihrer ungewöhnlichen Beschaffenheit hatte die Straße dieselbe Aura völliger Verlassenheit wie alles andere auch. Ich ließ mich auf Hände und Knie fallen, um den Rasen genauer zu inspizieren – und bedauerte diese übereilte Handlungsweise sofort. Die Grasnarbe bestand aus Myriaden von spitzen, scharfkantigen, mit Widerhaken besetzten Halmen, von denen keiner länger war als mein Daumen. Winzige Dolche ließen meine Handflächen bluten, bohrten sich durch meine Jeans und ließen sich nur mühsam aus dem Stoff herausreißen, als ich wieder aufstand. Ich marschierte auf die Mitte der Fahrbahn und stieß mit meiner Machete hinein. Sie versank bis zum Griff. Ich schnitt ein kreisrundes Stück Rasen heraus und stieß die Klinge dann an der tiefsten Stelle des 276
Loches erneut in den Boden. Wieder versank sie fast bis zum Griff, ehe sie die alte Fahrbahnoberfläche berührte. Das Zeug war wie Torf oder Moos. Obendrauf strahlend grün, darunter trocken und braun. Allerdings mußt du dir diesen Torf nicht etwa weich, sondern hart wie Stahlwolle vorstellen. Er scheint sich in Jahrhunderten aufgebaut zu haben. Nichts anderes scheint darauf wachsen zu können als der Rasen, aus dem er entsteht. Aber was war das für Rasen? Wo kam er her? Und wie war ihm diese erstaunliche Machtübernahme gelungen? Die Evolution strebt nach Vielfalt, und die Natur bevorzugt komplexe Lebensgemeinschaften gegenüber jeglicher Monokultur, wie jeder bestätigen kann, der selbst einmal einen Rasen frei von Unkraut zu halten versucht hat. Dieser Gedankengang half mir weiter. Wie war doch der Name gewesen? Luxusrasen? Supergras? Euroturf? Landhausgrün? Ist ja egal. Es war jedenfalls ein Riesenskandal. Wahrscheinlich hast du in Ägypten kaum was davon gehört. Aber mich hat das damals sehr fasziniert. Ein ökologisches Lehrstück! Es ging um einen umweltfreundlichen Rasen, der keinerlei Pflege mehr brauchte. Keinen Dünger und kein Gift, keine Bewässerung und kein Mähen. Alles höchst lobenswert. Die Entwicklungsabteilungen der gentechnische Industrie hatten einen dramatischen 277
Wettlauf entfesselt. Der erste, der den Superrasen anbieten konnte, würde riesige Profite machen, das war klar. Allein schon die Golf-Industrie würde Milliarden bezahlen. Das Konzept, wenn ich mich recht erinnere, bestand darin, genetisches Material von Pflanzen, die in der Lage sind, Stickstoff aus der Luft aufzunehmen, mit der Schädlingsresistenz mancher Schmetterlingsblütler (wie zum Beispiel Derris) und der Fähigkeit bestimmter Bäume zu kombinieren, artfremde Konkurrenten schon an der Wurzel mit Gift abzutöten. Es wurde mit den Genen von Wüstenpflanzen experimentiert, um die Notwendigkeit der Bewässerung zu vermindern. Von Anfang an kontrovers war die Diskussion um die Nutzung der Wachstumshemmer im menschlichen Schamhaar. Es gab Berichte über verdächtige Todesfälle und Industriespionage. Du weißt ja, solche Sachen, die man über einsame Erfinder und Autos hört, die nichts als Leitungswasser brauchen. Diesmal war an den Geschichten aber tatsächlich was dran. Es gab Einbrüche in Laboratorien, Computernetze wurden geknackt und Datenbanken geplündert. Einer der Genforscher, ein erfahrener Hobbytaucher, ertrank im Urlaub mit leeren Sauerstofflaschen. Ein anderer würgte auf einem unbeschrankten Bahnübergang den Motor ab. Und ein japanisches Forscherteam starb auf schreckliche Weise nach einem Fugu-Festessen in der Kantine. 278
Trotz dieser Rückschläge wurde ein erfolgreicher Prototyp entwickelt. Das Produkt durfte aber wegen zahlreicher juristischer Einsprüche nicht auf den Markt gebracht werden. Das neue Gras erschreckte die Umweltschützer, aber auch die Chemiekonzerne, die Gartengerätehersteller und sogar die Ölindustrie. Greenpeace erhielt riesige anonyme Spenden für eine Keepthe-grass-off-Kampagne. Die Earth Commandos, die bis dahin als eine Art Baader-Meinhof-Bande der Ökologie galten, erhielten Anrufe von Staranwälten, die sich erboten, Supergras-Saboteure kostenlos zu vertreten. Supergras, so befürchtete man allgemein, könnte das schlimmste Unkraut aller Zeiten werden. Wie es scheint, waren diese Befürchtungen nicht unbegründet. Das Zeug war eine grüne Wüste, die jede andere Lebensform erstickte. Wahrscheinlich hat es jede breite, trockene Asphaltoberfläche erobert. (Die Straßen in London waren wahrscheinlich zu naß und zu schmal.) Vielleicht ist es aber auch absichtlich gesät worden, als es mit den Autos vorbei war. Aber von mir aus soll das Supergras leben! Statt mir meinen Weg durch England mühsam mit der Machete freischlagen zu müssen, kann ich jetzt auf dieser grünen Autobahn wie ein Montags-Golfer dahinschlendern!
279
Schlafenszeit, wieder im Tower Als ich nach einer anstrengenden Paddeltour am späten Abend endlich wieder zu Hause war, hatte sich auf meinem Lager ein großes schwarzes Katzenvieh ausgestreckt. (Ich kann das nicht leiden, mit ihren scharfen Krallen hat sie mir schon einmal ein Loch in meine Luftmatratze gemacht. Es ist zwar nur ein Sonderangebot vom Britomart, aber trotzdem ganz unersetzlich.) Eine halbe Stunde lang ignorierte mich Graham, dann blickte sie einmal kurz über die Schulter, als wollte sie sagen: Wer zum Teufel bist du, und wieso wagst du es, mich zu stören? Schließlich gähnte sie ausgiebig – ein ziemlich furchterregender Anblick – und trottete angewidert nach draußen.
Donnerstag Fünf Wochen jetzt in dieser unwirklichen Stadt. Die letzten vierundzwanzig Stunden hat es ununterbrochen geregnet. Der Mauerbogen über meinem Bett hat zu tropfen begonnen, und am Kamin ist Wasser heruntergeflossen. Dein Foto ist ein bißchen naß geworden, das einzige, was ich von dir habe. Trotz des scheußlichen Wetters ist Graham nicht wiedergekommen, so als woll280
te sie mich dafür bestrafen, daß ich ohne sie einen Ausflug gemacht habe. Oder weiß sie etwas von meinen Plänen? Was für Pläne? In London bleiben, in den Ruinen wühlen und Flinders Petrie spielen, bis ich tot umfalle? Zur Maschine fahren und die Reise fortsetzen? Oder den grünen Autobahnen folgen, nach Norden? Wenn du dich nicht entscheiden kannst, Davy, dann mußt du immer den kühnsten Weg einschlagen. Das war die Maxime meines Vaters. Und wie erkennt man den kühnsten Weg? Das ist einfach. Das ist der, vor dem du am meisten Angst hast. Also nach Norden. Ich will endlich wissen, ob ich allein bin. Aber meine Katze wird mir fehlen.
6 Samstag, der 29. Januar, Middleton School, Essex Die Tage werden länger – zehn Stunden lang bleibt es jetzt hell, aber die Hitze ist noch erträglich, außer am Mittag. Nach einwöchigen Vorbereitungen habe ich London am Siebenundzwanzigsten verlassen. Ehe ich abgefahren bin, habe ich mir Früchte getrocknet, Fisch geräuchert und meinen Unterschlupf im Tower zugemauert. An Vorräten aus der Alten Welt sind mir noch Haferflocken und Reis, drei Dutzend Fertiggerichte und viereinhalb Flaschen Rum geblieben. All diese Sachen zu transportieren wird ein Problem werden, wenn der Fluß schmaler wird und ich das Boot zurücklassen muß. Meine Kleider, das Zelt, das Gewehr und den Laptop muß ich ja schließlich auch tragen. Andere Zukunftsreisende hatten mehr Glück. Alle Fortbewegungsmittel der Zivilisation standen zu ihrer Verfügung, sie brauchten sich ihrer nur zu bemächtigen. Ich habe bloß das Boot und meine Beine und ein großes Fragezeichen hinsichtlich meiner Gesundheit. Wie war das eigentlich bei dir, Liebste? Ein stetiger Verfall? Oder gab es Phasen der Besserung, in denen du 282
hoffen konntest, das Todesurteil sei aufgehoben oder gar nicht gefällt worden (so geht’s mir manchmal)? Fachleute vermuten, die durchschnittliche Lebenserwartung nach einer Creutzfeldt-Jakob-Diagnose reiche von drei Monaten bis zu zehn Jahren, was ziemlich deutlich zeigt: Sie haben eigentlich keine Ahnung. Inzwischen bezweifle ich schon, daß ich überhaupt krank bin. Vielleicht war das Ganze doch bloß psychosomatisch? Vielleicht habe ich nur nach einem Grund gesucht, diese abenteuerliche Reise zu machen? Aber du bist tot (und Bird ging es auch nicht besonders). Wenn unsere Alte Welt tatsächlich so am Ende ist, wie es scheint, dann fliege ich einfach immer weiter, bis ich eine Zeit der spiegelblanken Kliniken, der Wunderheilmittel und kostenlosen medizinischen Versorgung erreicht habe. Und wenn ich die Zeit gefunden habe, kehre ich zu dir zurück und bringe dir Heilung oder nehme dich mit in die Zukunft, und dann leben wir endlich für immer zusammen. Ich wiederholte meine Reise zur M 25, und diesmal brauchte ich nur einen Tag. Das Boot lag zwar tiefer im Wasser, aber ich kannte den Weg. Als ich die Autobahnbrücke erreichte, regnete es und wurde schon dunkel. Deshalb schlug ich mein Zelt an derselben Stelle auf, wo auch schon andere gelagert hatten, unter der Brücke am Ufer, und mein Feuer beleuchtete flackernd die an den 283
Pfeiler gesprühten Sprüche: ICH WAR INNER HÖLLE UNN BIN WIEDER DA. DU WIRSS GEBORN, VERTRÖLSS DIE ZEIT UNN KRATZZ AB. LEBEN ISS EINE SEXUELL ÜBERTRAGENE KRANKEIT. Am Morgen entdeckte ich, daß die Böschung der M 25 und herabgestürzte Teile der Brücke das Wasser auf der nördlichen Seite des Tals zu einem großen See aufgestaut haben. Betonplatten, Stahlträger, Treibgut, Schlamm und nachwachsende Vegetation haben einen Biberdamm von gewaltigem Ausmaß gebildet. Ich beschloß, einen Vorstoß in Richtung der alten Schule zu unternehmen, die ich unfreiwillig so lange besucht hatte. Das bedeutete für mich, daß ich mein Boot zunächst einmal mühsam umtragen mußte, vorbei an entwurzelten Bäumen, rostigen Schiffsrümpfen und Überresten von Lastwagen. Aber dann kam ein wunderbares Dahingleiten über den flachen See, der von tausenden von Wasservögeln bedeckt war. Neben Enten und Gänsen entdeckte ich Kormorane, Reiher, Störche und sogar den heiligen Ibis. Halbversunkene Fabrikmauern ragten aus dem Gewässer, und aus allen Fensterhöhlen hingen mächtige Schilfnester wie mißglückte Weidenkörbe heraus. Kein Lüftchen rührte sich, und ich dachte daran, wie wir damals in Kôm Ombo auf dem Nil gesegelt sind. Deine rosa Mütze und die Sonnenbrille und das schlaffe Segel der Feluke. 284
Am oberen Ende des Sees traten die Wälder wieder ans Ufer, und der Lea floß wieder im alten Bett. Das war die Gegend, wo ich als Gymnasiast gerudert bin. Nein, eigentlich war ich bloß Steuermann. Du hättest damals keinen Blick auf mich verschwendet. Ich war ein kleiner, magerer Bursche, der die Ruderpinne bediente und die Galeerensklaven mit schriller Stimme anfeuerte: Riemen flachlegen. Eintauchen! Rücken gerade! Pullen! Pullen! Kann einem ganz schön zu Kopf steigen, wenn man fünfzehn ist. Meine eigene Ertüchtigung beschränkte sich auf die viertelstündige Fahrt mit dem Fahrrad zum Bootsschuppen. Ich genoß diese Fahrt durch den Galleyhill Wood und die Straßen von Broxbourne, wo immer Schwangere und junge Mütter herumliefen, die so offensichtlich die Geheimnisse der Fortpflanzung kannten und mich deshalb sehr faszinierten. Gelegentlich ruderte ich selbst in einem schmalen Skiff, dessen Rumpf kaum breiter war als meine Hüften. Dabei ging es mir weniger um die sportliche Seite der Sache als vielmehr um das Alleinsein. Ich suchte stille Seitenarme, wo die Weiden weit übers Wasser hinaushingen und die Gärten bis ans Ufer kamen. Ich glitt an Hollywoodschaukeln, umgedrehten Booten und leeren Sommerhäusern vorbei und fragte mich, warum die Besitzer nie Zeit hatten, um das Leben dort zu genießen. 285
Weißt du, Lambert, was dein Problem ist? Du hast nicht die richtige Einstellung. Kein Enthusiasmus. Dir ist einfach alles egal. Schuldig entsprechend der Anklage; besonders der Enthusiasmus für »meine« Schule fehlte mir völlig, dieser alberne Chauvinismus, den sie uns wie eine schwarze Blume einzupflanzen versuchten. Es war mir scheißegal, ob die Schule bei irgendeinem Wettkampf gewann oder nicht. Die Regatten allerdings mochte ich, denn da gab es meistens ein Bierzelt. Im Schummerlicht unter den Zeltbahnen achtete niemand darauf, daß ich zum Alkoholkonsum noch zu jung war. An einem dieser bierseligen Nachmittage endete dann auch meine Karriere beim Zweiten Achter. Ich hatte gedacht, wir wären Gott sei Dank aus dem Rennen, aber dann wurde eine andere Mannschaft nachträglich disqualifiziert, und wir mußten noch einmal antreten. Zu diesem Zeitpunkt war ich schon bis oben abgefüllt mit Guinness, und mein Gehirn schwamm wie ein Goldfisch in seinem Aquarium. Wir waren das mittlere von drei Booten, was schon in nüchternem Zustand erhebliche Steuerkünste verlangt. Aber diesmal verfingen wir uns erst in den Ruderblättern des einen und dann in den Ruderblättern des anderen Bootes und fielen dementsprechend zurück. Der Trainer stand totenbleich auf dem Treidelpfad am Ufer. Aber meine Pechsträhne war noch nicht zu Ende. An einer Flußbiegung versuchte ich 286
etwas abzukürzen und kam einem alten Bootssteg zu nahe. Wir hatten ein herrliches altes Boot aus feingeschliffenem Mahagoni, mit einer Außenhaut so dünn wie Papier. Ein unter Wasser verborgener Eisenträger schlitzte den Rumpf auf, und ehe wir’s uns versahen, saßen wir bis zu den Hälsen im Wasser. Aus der damaligen Zeit ist nicht viel geblieben: Hier und da ein paar Fundamente, von Eisenhut und Sonnenblumen fast begraben. Der Fluß führte damals ein schmieriges Doppelleben; teils Abwasserkanal, teils Freizeitgewässer. An jedem Wehr stand gelber Schaum. Heute ist er so klar wie Jasmintee. Ich erinnere mich noch gut an die Hausboote mit ihren Fernsehantennen und gekräuselten Vorhängen, an die weißgesichtigen Bläßhühner und die schwarzgesichtigen Schwäne, an die Stockenten, Moorhühner und Moschusenten, die sich ihr Leben zwischen leeren Bierdosen, Chipstüten, aufgeweichten Brotkrusten und schillernden Ölschlieren einrichteten. Von alledem war nichts mehr da. An ihrer Stelle gab es jetzt weiße Reiher, Kraniche, Weihen und eine trübsinnige Geier-Synode auf einem abgestorbenen Baum. Papageien und Eidechsen rascheln im Laubwerk, die Nasenlöcher der Alligatoren treiben auf dem Wasser wie dicke Blasen, und die Luft ist erfüllt vom süßen Geruch der verfaulenden Mangofrüchte am Ufer. Ich 287
starrte diesen tropischen Lea an und fragte mich: Wie lange wird das so bleiben? Ist das die neue Ordnung der Welt in den nächsten zehntausend Jahren? Oder heizt sich das Treibhaus immer noch mehr auf? Wird die Erde bald so heiß wie die Venus, wo es Säure regnet vom Himmel und der Boden wie geschmolzenes Blei ist? Gegen Mittag erschien etwas am Ufer und begleitete mich wie ein Schatten. Es war mir mindestens so unbehaglich wie früher unser Trainer, der mit dem Fahrrad hinter uns herfuhr. Der Schatten verfolgte mich seit einer guten halben Stunde, blieb aber immer hinter Blättern und Ästen verborgen, so daß ich ihn nicht zu Gesicht kriegte. Dann hörte ich vor mir das Rauschen eines Baches, der in den Lea mündete. Was immer mich verfolgte: an dieser Stelle mußte es umkehren oder sich zeigen. Eine große, schlanke Gestalt tauchte ins Wasser und schwamm auf mich zu. Ein schwarzer Kopf mit nur einem Ohr. Ich fuhr zu einer Sandbank, Graham rollte sich auf den Rücken, und wir balgten im Sand. Ach, es war gut, sie wiederzusehen! Ihr Fell war naß, sie roch mächtig nach Katze, ihre harten Pfoten mit den behutsam zurückgezogenen Krallen streichelten meine Schultern und Arme. Ich kann mit dir und mit Bird reden; ich kann 288
mich selbst sprechen, singen und Gedichte hersagen hören; aber Graham ist auf der ganzen weiten Welt das einzige Geschöpf, das ich berühren kann und das sich von mir streicheln läßt. Sie zu verlassen, war schrecklich gewesen. Ich konnte ihr ja nichts erklären. Schon Tage, ehe ich tatsächlich wegfuhr, hatte sie den Kopf hängen lassen, schnurrte kaum noch, verweigerte ihr Futter und kotzte mir einmal sogar auf den Boden. Daß sie mir folgen könnte, wäre mir nie eingefallen. Jetzt, wo sie da ist, erscheint es mir völlig logisch. Die Gegend hier gehört wahrscheinlich durchaus noch zu ihrem Revier. Vermutlich folgt sie einem ganzen Netz von Wegen und Wechseln, von denen ich gar nichts weiß. Landkarten und Erinnerungen binden mich an eine Landschaft von früher, die es größtenteils nur noch in meinem Kopf gibt. Ich lebe im Schatten der Menschen; sie lebt im menschenlosen Hier und Jetzt. Die Sonne stach herunter, der Wald und seine Geschöpfe verfielen wie jeden Mittag in lähmende Stille, und ich erlitt einen weiteren Anfall von Nostalgie, meiner ewigen Krankheit. Middleton School, das Exil meiner Jugend, hatte auf dem östlichen Ufer des Flusses gestanden, kaum eine Meile entfernt. Warum also nicht? Es war schon ein ziemlich perverses Heimweh, das mich dorthin trieb, denn das einzige, was ich an der Schule 289
gemocht hatte, war die Tatsache, daß sie mir Onkel Phil vom Leib hielt. Ich zog das Faltboot hoch auf die Sandbank und vertäute es sorgfältig. Meinen Rucksack und das Zelt nahm ich mit für den Fall, daß sich Middleton als brauchbarer Ort für meine Grabungen erwies. Graham lief auf einem Wildwechsel vor mir her, hielt aber immer wieder an, um zu sehen, ob ich ihr auch folgte. Das gelang mir fast ohne Mühe, nur ab und zu mußte ich mit der Machete nachhelfen, um den Weg freizuschlagen. In weniger als einer halben Stunde kamen wir zu der überwachsenen, schmalen Landstraße, die früher von Waltham Abbey nach Bumble’s Green geführt hatte. Schwieriger war es dagegen, die Auffahrt zum Schultor zu finden, aber nach weiteren zehn Minuten entdeckte ich einen verfallenen Turm im Tudorstil – die eine Hälfte des Torhauses. Die andere Hälfte lag als frischer Trümmerhaufen unter einer Gruppe von Bäumen mit dunkelgrünen, glänzenden Blättern. Ich hatte dieses Torhaus geliebt, denn es war das einzige, was von Middleton Hall übriggeblieben war, jenem kleinen Herrenhaus, wo Königin Elizabeth sich im Jahre 1596 aufgehalten hatte, um der Uraufführung von Shakespeares ›Sommernachtstraum‹ beizuwohnen (jedenfalls wurde das immer behauptet). Im 18. Jahrhundert hatte man das alte Haus abgerissen, um Platz für einen klotzigen Kasten im klassischen Stil mit fran290
zösischem Garten zu schaffen. Damit hatten sich die Besitzer (Nachfahren des Dramatikers Thomas Middleton) finanziell ruiniert, und um 1820 herum wurde aus dem Schloß eine Schule. Graham und ich schlenderten unter großen, weit auseinanderstehenden Bäumen über die ehemaligen Sportplätze. Der Boden hier war nie von britischen Farmern vom Typ meines Vaters ausgelaugt worden, und dementsprechend stark waren die Stämme. Der Rugbyplatz, auf dem ich manchen kalten Nachmittag beim zwangsweisen Jubeln verbracht hatte, war jetzt vom Gesang der Zikaden erfüllt. Middleton voor! Rote Gesichter und rituelles Gebrüll: Die Römer haben uns geplagt, bis wir sie endlich fortgejagt! Die Dänen haben uns geschunden, doch heute sind sie ganz verschwunden! Nur wir sind hier und bleiben da! Vivat Middletonia! Aber heute kam das Gebrüll nicht von frierenden Schuljungen, sondern von einer Horde Tempelaffen in den Ruinen der Kirche. Der Anblick von Graham, der leise an ihnen vorbeischlich, gefiel ihnen gar nicht. Mein Vater war ein Getreidefarmer mit Oxfordakzent. Mit Ausnahme zweier Irischer Setter konnte er Tiere nicht ausstehen. Allenfalls ein paar streunende Katzen duldete er in der Scheune zur Bekämpfung der Mäuse. Merlin, mein Kater, durfte nur deshalb ins Haus, weil ich ihn schon als stachliges rotes Kätzchen bei mir 291
versteckt hatte. Merlin hatte kurzes Haar. Er war nicht nur sehr arrogant, sondern glücklicherweise auch intelligent genug, um das Gift nicht zu fressen, mit dem mein Vater regelmäßig das ungewollte Leben im Bereich unseres Bauernhofs dezimierte. Wie oft fand ich tote Katzen mit stumpfem Fell und einem anklagenden Blick in den qualvoll verzerrten Gesichtern! Und immer sagte mein Vater: Eines Tages wirst du es mir danken, Davy! Wenn du erst mal so alt bist wie ich und die Farm dir gehört, dann wirst du sehen, daß ich nur das Beste gewollt habe! Mein Vater war genau wie meine Mutter und ihr Bruder Phil ein treues Mitglied der anglikanischen Kirche und glaubte fest an die Eschatologie der Agrarwissenschaft. Glaubst du nicht auch, Davy, daß uns der liebe Gott den Verstand gegeben hat, damit wir ihn benutzen? Jedes Jahr kaufte er größere Maschinen, raffiniertere Pflanzenschutzmittel und anderes, neu entwickeltes Saatgut, um den Fortschritt der Welt zu befördern. Rühr das Zeug bloß nicht an, Davy, das verbrennt dich vom Schlund bis zum Hintern! Der Mann von ICI gehörte fast schon zur Familie, er war unser Beichtiger und seelischer Unkrautvernichter. Die Namen chemischer Düngemittel tropften wie biblische Mysterien von seinen Lippen. In meinem Kopf stellten sich geheimnisvolle Verbindungen zwischen Ammoniak und Ammonitern, 292
Herodes und Herbiziden, Phosphor und Philistern her. An ihren Taten konnte ich sie erkennen, an ihrem frömmelnden Geruch und ihren grausamen Urteilen. Ich wuchs heran, und alle Plätze, die ich liebte, wurden vernichtet: Hecken wurden abgebrannt, Heideland umgepflügt, Bäche und Teiche vergiftet. Elritzen und Kaulquappen trieben wie Zigarettenstummel auf dem Wasser und verschwanden dann völlig. Geh da lieber nicht mehr ins Wasser, Davy, man weiß, ja nie. Der Endsieg gegen die Molche. Die meisten dieser Siege wurden errungen, wenn ich im Internat war. Nach drei Monaten Exil kam ich nach Hause, und nichts wurde gesagt. Mein Vater und meine Mutter tauschten nervöse Blicke und redeten in ihrem privaten Jargon miteinander. Dann machte ich mich auf den Weg, um zu angeln, Schmetterlinge zu fangen oder Vögel zu beobachten. Und fand einen Wald, der nur noch ein Haufen Baumstümpfe war und einen Acker, der plötzlich dreimal so groß war. Wieder einmal hatte das Erwachsenenreich zugeschlagen: Ihre Welt war größer geworden und meine geschrumpft, als ob es Indianerland wäre. Ich glaube, so kommt es, daß man sich in die Vergangenheit verliebt und den perversen Wunsch entwickelt, die Zeit anzuhalten: Man will dem Tod den Stachel nehmen und die Siege des Grabes rückgängig machen. Ich führte einen Guerrillakrieg für die geheimen Plätze und 293
die kleinen Geschöpfe, die einem Einzelkind die Geschwister ersetzen: Zucker in den Tank der Kettensäge, Fußtritte für hydraulische Pumpen, eine Mischung aus Zement und Nägeln in das gefräßige rote Maul des neuen Mähdreschers, in dessen Namen die jüngsten Annexionen durchgeführt worden waren. David, du bist ein kleiner Maschinenstürmer. Solche Leute können wir hier nicht gebrauchen, und das weißt du auch. Was sollen wir bloß mit dir machen? Sollen wir dich in eine Erziehungsanstalt schicken? Du weißt doch, was das ist? Das ist ein Gefängnis für böse Kinder, die das Eigentum anderer nicht respektieren. Worauf ich sagte: Ich wünschte, du wärest tot. Und als der Winter kam, wurde dieser Wunsch Wirklichkeit. Mein eigenes Herz klagt mich an, der Mörder meiner Eltern zu sein. Und vor diesem Gerichtshof gibt es niemals einen Freispruch. Im Kreuzgang neben der Kapelle hingen zahlreiche steinerne Tafeln mit Namen: Rektoren, Schulsprecher, siegreiche Cricket- und Rugbymannschaften und natürlich die ehemaligen Schüler, die in den Kriegen zerfetzt worden sind. Einige der Tafeln hingen noch an den Wänden, obwohl das Dach des Kreuzgangs längst eingestürzt oder von den Bäumen weggesprengt worden ist. Graham trottete davon, als ich mir Notizen zu machen begann, und ließ mich allein mit den Toten. 294
1914-1918 Der große Krieg für die Zivilisation Gedenke der Söhne unserer Schule, die im Dienst des Königs gefallen sind für Freiheit und Gerechtigkeit. Ob im Frieden oder im Krieg, laßt uns dienen, wie sie gedient haben. Wir halten ihre Schwerter in Ehren. Zwei der Tafeln waren übriggeblieben. Able bis Babcock und Richards bis Slater – das genügte, um die Gesamtzahl auf ungefähr fünfhundert Namen zu schätzen. Nach einigem Stochern im Schutt fand ich eine weitere Tafel aus der Blütezeit der Nation und der Schule: Zulukrieg, Afghanistan, Ägyptenfeldzug, China-Expedition, Westafrika, Sudan, Burenkrieg, Tibet-Mission. Zwischen 1870 und 1900 gab es im Empire kaum ein Jahr ohne Blutopfer (von denen des Feindes zu schweigen). Natürlich hingen diese Tafeln alle schon da, als ich hier zur Schule ging, aber ich kann mich nicht daran erinnern, sie je mit Bewußtsein gesehen zu haben. Wer liest schon, was auf Kriegerdenkmälern steht? Wichtig ist bloß, daß sie da sind; ihre Bedeutung ist bestens bekannt. Und die Vorstellung, daß sie bei den Lebenden irgendwelche Gedanken ausgelöst hätten, ist ziemlich 295
absurd, oder? Der Mörtel an all den herrlichen Kriegerdenkmälern in Flandern war noch nicht ganz getrocknet, da ging’s schon wieder los in Europa. Nach dem Großen Krieg für die Zivilisation kam die nächste Liste. Für den Zweiten Akt wieder fünfhundert Namen. Der Tag ging zu Ende, ehe ich gefunden hatte, was ich eigentlich suchte. Die Dämmerung ertränkte den Wald wie eine Flüssigkeit, die vom Boden aufstieg. Ich schreibe dir auf einem edlen ionischen Kapitell im östlichen Teil des Säulengangs sitzend, den Laptop im Schoß, während aus den Wäldern die Glühwürmchen blinken.
Später Lautes Katzengeschrei hat mich aus einem Nickerchen hochschrecken lassen. Ich rief nach Graham und fürchtete schon, sie hätte einen rivalisierenden Puma getroffen oder einen anderen Feind. Oder ließ sie sich gerade begatten? Der Lärm kam immer näher, und die Wände des baumbestandenen Innenhofs warfen das Echo gleich mehrfach zurück. Am Ende erschien sie mit einer baumelnden Beute im Maul. Ein Affe. Sie legt ihn mir vor die Füße. »Sag mal, Graham, du erwartest doch hoffentlich nicht, daß ich das esse?« Ein Schnurren wie ein Bus im 296
Leerlauf. Felis concolor, die größte der schnurrenden Katzen. Das ist genau das, was sie erwartet. In den letzten Wochen habe ich sie in meiner Behausung gefüttert; jetzt revanchiert sie sich für die Einladung und bittet mich zu einer Mahlzeit in ihrem Revier, dem Dschungel, der einmal England genannt worden ist. Vom gastronomischen Standpunkt aus kann man gegen gegrillten Affen nichts einwenden. Das Problem liegt im Bereich von Moral und Ästhetik. Die Verwandtschaft ist einfach ein bißchen zu nahe. Wenn das Haar abgesengt ist, sieht so ein Affe aus wie ein verhungertes Kind. Aber es wäre flegelhaft gewesen, das Geschenk abzulehnen. Wir verspeisten den gebratenen Affen, und ich muß sagen, er schmeckte weit besser, als die Dinge, die ich in den vier Jahren gegessen habe, als ich hier zur Schule gehen mußte. Ich erinnere mich noch gut an den höhlenartigen Speisesaal und seine Gerüche: eine üble Mischung aus ranziger Butter, ungewaschenen jungen Burschen, nassen Wischlappen, Spatzenkot und dem Gestank der Tagesmahlzeit, der einem voll ins Gesicht schlug, wenn man die Halle betrat. Das Schlimmste waren montags die Nieren: wie gekochte Unterwäsche. Zum Einschlafen setzte ich mir die Kopfhörer auf und hörte einen von Birds alten Songs: ›Petite Fleur‹ von Bechet.
297
30. Januar, neun Uhr morgens Eine Nacht voller Träume von der Art, wo man beim Aufwachen glaubt, unser Alltagsbewußtsein sei bloß eine Täuschung und das richtige Leben finde im Traum statt. Shakespeare war anwesend und führte persönlich Regie. Das Stück wurde unter einer alten Eiche neben dem Tor aufgeführt, und ich war Zettel, mit einem Eselskopf auf den Schultern (ziemlich real, innen war er noch blutig). Und Pyramus hat gesungen: Nun bin ich tot Und lieg im Kot; Oh Seele nicht verdirb … Nun stirb, nun stirb, nun stirb. Und dann traf ich Titania im Mondlicht, und sie hatte deine Stimme: Die Menschen beten, daß der Winter kommt. Die Nacht hört weder Lied noch Dankgebet … Durch die Zerrüttung weit und breit ändern Sich Jahreszeiten .., tauschen Die Kleider unter sich – die Welt wird irr An ihren Früchten, weiß nicht, wer was ist. Und diese ganze üble Brut des Bösen Entspringt aus unserm Streit und Widerspruch. 298
Titania hatte einen russischen Akzent. Und Shakespeare stand neben mir und schüttelte wütend das Manuskript. Kapierst Du nicht, Du Esel? Sie ist nicht Titania, sie ist Tatiana! Damit wachte ich auf und war überzeugt, jetzt wüßte ich genau, wo Tania sich aufhält. Meine Vertraute ist auf die Jagd gegangen, während ich schlief, obwohl sie eigentlich nicht hungrig sein kann nach gestern abend. Diesmal brachte sie – nun, entweder ist es ein kleiner Emu oder ein Kasuar. Ich habe mir eine Keule fürs Abendessen genommen und ihr den Rest überlassen. »So«, sagte ich beim Frühstück, während sie mich gelangweilt beobachtet hat (Porridge interessiert sie nun mal überhaupt nicht), »jetzt willst du also die Ernährerin spielen, ja?« Sie saß aufrecht wie eine Königin und blinzelte äußerst zufrieden. Die ExtraRationen bedeuten, daß ich noch etwas länger hierbleiben kann. Als Grabungsstätte ist Middleton sehr vielversprechend – und im Gegensatz zu allen Archäologen der Forschungsgeschichte habe ich den Vorzug, daß ich sie noch zu Lebzeiten kannte.
Abend Heureka! Drei große abgestürzte Tafeln und zahlreiche kleinere Bruchstücke. Tafeln aus dem 21. Jahrhundert – 299
mit Jahreszahlen. Wie es scheint, kamen Latein und Vaterlandsliebe wieder in Mode: DULCE ET DECORUM EST PRO PATRIA MORI EMERGENCY HOME GUARD 2033 Es müssen mindestens tausend Namen sein. Dabei ist die Liste noch unvollständig; das Enddatum ist nie eingetragen worden. Sie sind in Gruppen eingemeißelt worden. Die ersten noch in alphabetischer Ordnung, die letzten ziemlich durcheinander, in ungeschickten, verwackelten Buchstaben, wie man sie aus der Endzeit des Römischen Reichs kennt. Es waren auch Frauen und Mädchen dabei, z.B. Amanda Blackwell 14.5.20209.8.2036. Nur sechzehn Jahre alt geworden. Der letzte, den ich gefunden habe, ist Arnold Wu. Er ist am 15. November 2039 gestorben, mit siebzehn. Sonst habe ich im Kreuzgang nichts weiter entdeckt. Und was weiß ich jetzt? Daß der Krieg oder Bürgerkrieg mindestens sieben Jahre lang dauerte und daß er böse endete. War diese Emergency Home Guard das Werk derselben Militärregierung, die London evakuiert hat? Und gegen wen oder was ist sie aufgestellt worden?
300
Montag Heute habe ich mir das Hauptgebäude vorgenommen. Es wurde immer nur School House genannt, aber es gab noch acht oder neun andere Wohn- und Unterrichtsgebäude. An die Namen der anderen kann ich mich nicht mehr erinnern, ich weiß nur noch, daß die alte Quarantänestation, die im Zeitalter der Reihenuntersuchungen und vorbeugenden Impfungen nicht mehr gebraucht wurde, einige Jahre nach meinem Weggang vor einigen Jahren in das Thatcher House für Mädchen umgewandelt worden sein muß. Auf dem ehemaligen Cricket-Feld vor dem Hauptgebäude hat vor ungefähr einem Jahr ein Sturm die Bäume umgerissen. Ich mußte einer Menge wild durcheinanderwachsender neuer Dornensträucher und Schlingpflanzen ausweichen und wäre fast in einen Graben voller stachliger Akazienbüsche und Feuerameisen gefallen. Das Gebäude ist vor langer Zeit ausgebrannt. Die Hitze muß gewaltig gewesen sein; denn die Balken im Inneren sind alle verbrannt und die Decken heruntergestürzt. Die Außenmauern dagegen sind fast unversehrt, und sogar die reich geschmückten Schornsteine ragen wie italienische Grabmäler aus den Baumwipfeln auf. In der Mitte gibt es einen Lichtschacht, der die älteren Teile des Gebäudes von der Küche, der Wäscherei 301
und den Quartieren des Hauspersonals abtrennt, die im 19. Jahrhundert angebaut worden sind. Dieser Lichtschacht war wie ein Leichenschauhaus weiß gekachelt, damit das von oben hereinsickernde Tageslicht möglichst oft reflektiert wurde. Ich weiß noch genau, wie schrecklich sich alle Geräusche hier anhörten – alle Rufe, jedes Geschirrklappern und alle Flüche hallten geisterhaft wider. Hier hatte das Feuer offenbar keine Nahrung gefunden, und deshalb waren die meisten Kacheln noch da. Es hallte, als ich in den Schacht hineinrief, und weit oben in den überhängenden Sträuchern stob ein Krähenschwarm hoch. Das Knattern ihrer Flügel war so laut wie ein Hubschrauber. Im unteren Bereich waren die weißen Kacheln mit Moos überwachsen, aber ich entdeckte an einigen Stellen ein noch grüneres Grün und legte nach einigem Kratzen eine rohe Wandmalerei frei, die mit Spraydosen aufgesprüht war. Am Anfang war sie schwer zu erkennen, aber bald wurde deutlich, daß ich aufgereihte menschliche Gestalten im Profil vor mir hatte. Es schien sich um eine Art Parade zu handeln: einige Dutzend Männer, Frauen und Kinder in Fesseln, demütig und gebeugt, von Dämonen gepeinigt. Einige der Gefangenen schienen gefoltert worden zu sein, deutlich sah man das Blut unter ausgerissenen Fingernägeln hervorspritzen. Daneben saß eine ganz in Rot 302
gemalte, überlebensgroße Gestalt, die mir direkt ins Gesicht sah. Der Teufel. Er hatte ein Bocksgesicht mit kleinen Kreuzen als Augen und hielt in jeder Hand ein Zepter. Sein Thron war aus menschlichen Knochen gemacht wie auf einem Totentanz aus dem 14. Jahrhundert. Die Wände ringsum bedeckte ein Fries von eigenartig grellen roten Pentagrammen. Darüber verschiedene Inschriften: SATAN WARTET. NUR DAS ENDE ISS MEIN FREUND. Und, ganz eindeutig: NUN STIRB NUN STIRB NUN STIRB. Du kannst dir sicher vorstellen, welcher Schwindel mich bei dieser letzten Zeile erfaßte. War das wieder einmal eine meiner Vorahnungen gewesen, was ich geträumt hatte? Vielleicht. Aber in diesem Fall könnte man auch die örtliche Shakespeare-Tradition verantwortlich machen. Mir geht’s auch ohne böse Omen schon dreckig genug. Ich glaube übrigens trotz des Zitats nicht, daß diese Malerei von Middleton-Schülern ausgeführt worden ist. Ich vermute, daß sie aus der Zeit nach 2040, aus der Zeit nach dem Brand stammt, als man keine Gedenktafeln mehr meißelte. Aber das gibt der scheußlichen Zeichnung und den wackeligen Buchstaben nur umso mehr Autorität.
303
Dienstag, den 1. Februar Gestern abend war ich sehr froh, Graham bei mir zu haben. Sie ist alle Schwärze, die ich brauche. Die Bibliothek heute morgen war eine Enttäuschung. Nichts als Lehm, Asche und Mücken. Die Bücher sind wieder Baumstämme: Bambusstengel, dick wie Regenrinnen, und ein gewaltiger Banyan mit zahllosen Luftwurzeln, dessen Blätter sich wie eine grüne Wolke über den Mauern erheben. Im ehemaligen Büro des Rektors, wo ich früher mehrfach der Prügelstrafe ausgesetzt worden war (»Half« Nelson war ein häßlicher kleiner Arschpauker mit einer Stimme wie ein Fasan), hatte ich diesmal mehr Glück. Das Gebäude scheint zum Zeitpunkt des Brandes schon nicht mehr in Benutzung gewesen zu sein (vielleicht sollte es auch renoviert werden), jedenfalls fand sich im Kellergeschoß unter einer festen, luftundurchlässigen Schlammschicht eine Menge Schutt und Gerümpel. Wir waren verwöhnt von Ägypten, Anita! Wäre das Land der Pharaonen so feucht wie die britischen Inseln gewesen, hätte wohl schwerlich ein Fetzen Papyrus oder eine Mumie überlebt. Aber die Konservierung in nassem Lehm ist fast genausogut wie die völlige Exsikkation in der Wüste, deshalb widmete ich mich dieser Grabungsstelle den ganzen Tag. 304
Zuerst fand ich wenig Informatives, nur ein bißchen Delft und Wedgwood, ein verbogenes Uhrpendel und einen merkwürdig vertrauten Shiva Nataraja. Darunter lagen ein paar alte Langspielplatten, bei einigen waren sogar die Titel noch lesbar: ›Best of the Boston Pops‹, ›Lawrence Welk’s New Year‹ und ›Zamfir Blows Your Mind‹. Diese kleinen Kostbarkeiten stammen vermutlich aus Nelsons Privatsammlung; die Schule muß sie geerbt haben, als er beim Old Boys’ Dinner an seinem Nachtisch erstickt ist. Am Nachmittag machte ich einen weit bedeutsameren Fund: eine Anzahl Kupferplatten, die wohl irgendeinem Hobby gedient haben. Die Platten waren mit den Überresten alter Aktenordner vermischt, und während die meisten der in Plastik eingehüllten schriftlichen Unterlagen völlig zerstört waren, sind zwei der Blätter, die zufällig zwischen die Kupferplatten gerutscht waren, noch lesbar. Vor mir liegt ein handgeschriebener Brief (Was? Keine e-mail?) an einen der Schüler. Verfaßt hat ihn offenbar seine Mutter.
305
Old Rectory, Whitwell, HC/143-6553 Mr. Jeremy Unwin Churchill House, Middleton School
26. März ’31
Liebster Jeremy, dies ist der schwerste Brief, den ich in meinem ganzen Leben schreiben mußte. Wir wissen, daß Du in Middleton sehr fleißig gearbeitet hast. Auf Deine Zeugnisse und darauf, daß Du Kapitän der Zweiten Fußballmannschaft bist, sind wir sehr stolz. Alle unsere Freunde sagen, wir könnten uns freuen, daß wir so einen Sohn haben. (Wenn wir Dir das bisher noch nicht so gesagt haben, dann nur, damit es Dir nicht zu Kopfe steigt.) Du weißt, daß ich arbeitslos bin, seit die Renten- und Krankenversicherung aufgelöst worden sind. Aber inzwischen ist auch das Einkommen Deines Vaters auf ein Viertel dessen gesunken, was es wert gewesen ist, als Du vor drei Jahren in Middleton angefangen hast. Bei Landrover werden immer mehr Leute entlassen, und wenn es die Aufträge von der Army nicht gäbe, hätten sie inzwischen genauso schließen müssen wie Hyundai und die anderen. Wir haben eine große Hypothek aufnehmen müssen, und den Patrician haben wir verkauft. Ich fahre jetzt mit dem Bus nach Welwyn, außer wenn mich Flo gelegentlich mitnimmt. 306
Um es klar zu sagen, Liebling, wir können uns das Schulgeld für Middleton nicht mehr leisten. Ich habe das Mr. Digby schon vor einiger Zeit mitgeteilt und ihn gefragt, ob es irgendwelche Freiplätze gibt. Aber Middleton bietet keine mehr an, und die Industrie vergibt schon lange keine Stipendien mehr. Was bedeutet das für Dich? Also, wenn Dir nicht noch irgendwas einfällt, bleiben, glaube ich, nur zwei Alternativen: 1. Wir könnten versuchen, Dich auf der Gesamtschule Welwyn unterzubringen. Du könntest Deinen Abschluß machen, und wenn die Dinge sich endlich bessern, könntest Du vielleicht noch Medizin und Biologie studieren. 2. Du lernst hier zu Hause und machst Dein Abitur als Externer. Wenn Du Dich auf Physik und Chemie spezialisierst, wird Dein Vater alles tun, um Dich bei LR unterzubringen. Je mehr wir darüber nachdenken, desto mehr sind wir für den zweiten Vorschlag. Die Gesamtschule würde Dir nach Middleton wahrscheinlich sehr schwerfallen. Schon die Art und Weise, wie Du sprichst, würde Dich zum Außenseiter machen, und selbst wenn Du den übelsten Dingen entgehst, muß man immer noch an die Gewalt denken. Allein im letzten Jahr hat es dort über sechzig Attacken mit Spritzen gegeben. In der Zeitung steht, jeder dritte Schüler dort wäre jetzt posi. Ich weiß, daß es Dir sehr schwerfallen wird, die Bio307
logie aufzugeben. Schon als kleiner Junge wolltest Du unbedingt Arzt werden. Du warst noch nicht mal sieben, und ich hab Dich gefragt, was Dir daran so wichtig wäre. »Ich will die Leute gesund machen, so wie Du, Mama.« Du kannst Dir vorstellen, wie ich mich darüber gefreut habe. Aber jetzt ist die Vorstellung, daß Du Medizin studieren könntest, einfach entsetzlich. Bitte verbrenn das beiliegende Flugblatt, wenn Du es gelesen hast, ich hätte es eigentlich gar nicht haben dürfen. Die Leute im Gesundheitswesen infizieren sich zu T … (unleserlich) … Die Laboratorien und Krankenhäuser können nichts … (unleserlich) … jahrzehntelanger Antibiotikamißbrauch … (unleserlich) … nach Hause und beende Deine Ausbildung hier. Es gibt ja genügend erstklassige Lehrer, die Dich nur allzu gern unterrichten würden. Sie brauchen alle dringend Geld, die armen Kerle, und wir können sie für einen Bruchteil des Schulgelds haben, was Middleton kostet. Bitte schreib uns bald. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie schrecklich das alles für uns ist. Wir … (unleserlich) … eigentlich niemand. Wir kennen mindestens ein Dutzend junge Leute, von denen manche sogar in Cambridge und Oxford studiert haben, die als Wäscheausfahrer und Wachleute arbeiten. Mach’s gut und schreib uns bald. Mutter 308
P. S. Beiliegend noch eine Kleinigkeit, um Dich aufzuheitern. Nimm Freddie mit, es wird ihr sicher gefallen, und sie ist so gern mit Dir zusammen (hat sie mir selbst erzählt!). Und mach Dir wegen uns keine Sorgen. Uns geht’s ja immer noch besser als vielen anderen. Eine Antwort auf dieses Schreiben, wenn sie denn überhaupt in die Akten von Rektor Digby gelangt ist, habe ich nicht gefunden. Auch das Flugblatt ist nicht erhalten (wahrscheinlich hat der Junge die Anweisungen seiner Mutter befolgt). Statt dessen lag ein bunter Zettel bei, zu dem wohl damals zwei Eintrittskarten gehört haben. Das stark imprägnierte Papier war in erstaunlich gutem Zustand. Auf der Vorderseite war ein verblaßter rosa Elefant zu sehen und dazu die Überschrift: »BIORAMA! Nordeuropas Größtes Zooseum!« Behutsam drehte ich das durchweichte Papier um: Besuchen Sie unser Zooseum, und sehen Sie Jumbo, unseren Elefantenbullen! Wir haben Jumbo vom Zoo in Whipsnade erworben, der sich hier in den Hügeln bei Luton befand. Er wurde auf humane Weise unsterblich gemacht und steht jetzt in seiner ganzen gewaltigen Größe vor Ihnen. Leihen Sie sich einen VR-Helm und sehen Sie Jumbo durch die 309
Steppe wandern! Wenn Sie diesen lebensecht rekonstruierten Dickhäuter sehen, werden Sie sich in die Zeiten zurückversetzt fühlen, als noch Hunderte dieser Giganten in Afrika lebten. Die Hälfte aller Einnahmen von Biorama gehen an BioDiverCity, unser globales Kryogen-Tierreich, wo mehr als 50.000 Embryonen aller Gattungen darauf warten, daß sie wieder auf der Erde umherstreifen können. Sehen Sie im Biorama die Welt der Natur! A division of Vatican Disney © Biorama 2029
7 3. Februar, abends. In der Nähe von Hatfield Es ist gut, wieder unterwegs nach Norden zu sein. Middleton war ja fast, als ob ich in meinem eigenen Grab herumwühlte. Hinter Hertford schrumpfte der Lea zu einer Kette von Tümpeln und Untiefen. Ich versteckte das Faltboot heute morgen in einem Eisenbahntunnel und begann meine Wanderung auf der A1 oder, wie der romantische Bird gesagt hätte, auf der Great North Road. Wenn ich Glück habe, ist sie den ganzen Weg bis nach York, Newcastle oder Edinburgh mit Supergras bewachsen. Wie weit muß ich denn überhaupt? Woher soll ich wissen, wann es genug ist? Ich glaube, ich sollte lieber nicht allzu gründlich darüber nachdenken. Insgeheim stelle ich mir immer noch vor, daß ich eines Tages über einen Hügel komme und vor mir grüne Wiesen und ein kleines Haus mit einem Rauchwölkchen über dem Dach sehe. Ein rotes Wägelchen steht am Wasser, Enten quaken, und Kinderstimmen sind zu hören. Wie es dann weitergeht, weiß ich nicht. Ich füttere meine Phantasie nur deshalb mit solchen idyllischen Bildern, weil ich sonst nicht schlafen könnte. 311
Andererseits fühle ich mich körperlich besser als seit vielen Jahren. Ich hoffe bloß, das bleibt auch so, denn mein Gepäck wiegt über zwanzig Kilo, obwohl ich es schon auf drei Hemden, ein Paar Ersatz-Jeans, die dünnste Isomatte und eine einzige, mickrige Flasche McGee’s reduziert habe. Ab sofort gibt’s nur noch Trockenfutter: Haferflocken, Reis, Fertiggerichte und natürlich etwaige Beute, die Graham und ich unterwegs machen. Wenn ich den Laptop und den Sonnenstromgenerator weglassen würde, wären das acht oder neun Pfund weniger, aber dann müßte ich mehr Papier und Bleistift mitnehmen. Außerdem hätte ich keine Musik mehr und keine Nachschlagewerke; ich könnte meine Taschenlampe nicht wieder aufladen und keine Disketten mehr lesen, die ich unterwegs vielleicht finde. Ich bleibe also weiter computerisiert. Am Rand von Hertford bin ich gestern an einer Schlucht vorbeigekommen, wo sich der Fluß durch eine Deponie gefressen hat. Eine riesige Müllhalde voller Glas, Rost und Plastikfetzen, die wie abgerissenes Klopapier im Wind flatterten. All diese Dinge, Anita! Langspielplatten von Zamfir, Yo-Yos, Xylophone, Waffeleisen und Wohnwagen, Verandamöbel, Tennisschläger und Tamagotchis, Unkrautvertilger, Spielzeugeisenbahnen und Skistöcke, 312
Rasenmäher und Raketen, Phonomöbel, Querflöten, Ölraffinerien, Nippes, Miederwaren und Milchtüten, Lippenstifthülsen, Kaffeemaschinen, Kernkraftwerke und Kunstpflanzen, Jalousienschränke, Joggingschuhe und Joysticks, Isolierkannen, Hi-Fi-Türme und Halogenlampen, Geschirrspülautomaten, Golfbälle, Freizeithosen, Farbfernseher, Eckbänke, Dunstabzugshauben, Camcorder, Bademäntel, Bohrmaschinen und Bodys, Abendkleider, Abfalleimer, Aktenkoffer und Allradgetriebe – all diese herrlichen Dinge, deren Summe die Welt war, diese Dinge, die wir machen und kaufen mußten, damit wir etwas zu tun hatten, damit wir uns amüsieren konnten, Arbeit und Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung hatten – alles bloß künftiger Müll. Einst wurden sie der geschundenen Erde entrissen, geschmolzen, gegossen, gesponnen, gewebt, poliert und geschliffen; einst waren sie ein wesentlicher Fortschritt, begehrenswert, unverzichtbar. Und puff! Zehn Jahre später, am Ende der Saison, sind sie out, passé, peinlich, unmöglich, altmodisch und verschwinden in der Abstellkammer, im Keller, in der Kleidersammlung oder gleich auf dem Müllplatz, im Graben, auf dem Meeresgrund oder im Endlager. »Wenn die Erde neu bevölkert würde«, konnte sich Verney noch rühmen, »würden wir, die verlorene Rasse, unseren Nachfolgern keine verächtliche Hinterlassen313
schaft übergeben.« Das mochte im Jahre 1826 vielleicht noch eine gewisse Berechtigung haben, aber wer könnte das jetzt noch behaupten? In unseren letzten hundert Jahren haben wir mehr Chaos und Dreck hinterlassen als in den vier Millionen Jahren zuvor. Eins ist allerdings praktisch: Ein Teil des Plastikmaterials zersetzt sich in kohlesäurehaltigem Boden und hinterläßt bloß dünne Flocken, die wie fossile Eierschalen zerbrechen, wenn man sie berührt. Manchmal kannst du richtig hören, wie der vollgemüllte Planet vor Erleichterung seufzt. Vielleicht ist diese Hitze ja nur so eine Art Fieber, mit der die Erde die Schadstoffe ausschwitzt? Jetzt denkst du wahrscheinlich: Was macht sich der Kerl für Gedanken? Warum macht er sich solche Sorgen wegen des Eindrucks, den wir bei unserer Nachwelt hinterlassen? Vor allem, wenn sowieso keine da ist? Ich weiß es auch nicht so richtig. Vielleicht hat es damit zu tun, daß wir beide, du und ich, schon immer ein Herz für Verlierer gehabt haben. Genau wie Oscar Wilde waren wir beide der Ansicht, daß Erfolg im Grunde vulgär ist. Das war der Grund, weshalb wir Bird geliebt haben, und deshalb hast du mich geliebt. Auch deinen melancholischen Ahnherrn, der am Ende einer tausendjährigen Tradition immer noch Stabreime schrieb, während Chaucer sich mit seinen Reimen die Zukunft sicherte, hast du aus diesem Grunde geliebt. 314
Und Echnaton, den Außenseiter unter den Pharaonen, und die Earth Commandos. Und die Erde selbst. Alles Verlierer, die in Schönheit starben. Du selbst allerdings – du warst kein Verlierer. Nicht, wie du dein Leben gelebt hast. Nur im Verlust deines Lebens. Und selbst da warst du noch Avantgarde. Als die Erde endlich ein Mittel gefunden hatte, um die Menschheit loszuwerden, warst du eine der ersten, die fielen. Jetzt, wo die Menschen weg sind – und damit vielleicht die größten Verlierer seit dem Ende der Dinosaurier –, können wir sie jetzt vielleicht endlich lieben, unsere Rasse?
Sonntag, den 6. Februar Drei Tage unterwegs und jeden Tag fast zwanzig Meilen – nicht schlecht für jemanden, der von einer tödlichen Krankheit befallen und beladen ist wie ein Packesel und noch dazu auf knöchelhohem Rasen dahinwandern muß. Zuerst war es, als ob ich über ein endloses Bett laufen müßte, aber inzwischen habe ich einen langen Groucho-Schritt eingeübt, bei dem ich mich am Ende kräftig mit dem Fußballen abstoße. Der Rasen federt besser zurück als meine teuren Sportschuhe, und ich komme gut voran. 315
Die Langeweile ist das Problem: Es gibt keine Berge, keine Schluchten, keine unübersichtlichen Kurven, jeder Schritt und jeder Anblick ist vorhersehbar. Ich bewege mich mit drei Meilen pro Stunde auf einer Straße, die für achtzig gebaut worden ist. Trotz der gelegentlichen Schreie und Rufe hinter den grünen Mauern des Waldes umgibt mich eine gewaltige Stille. Keine knatternden Motorräder, kein zischender Rolls, kein ratternder Käfer. Vor und hinter mir nichts als Rasen zwischen Wänden aus Blättern, nur der Lichteinfall ändert sich im Laufe des Tages. Ich bin dankbar für jedes Hindernis, für eingestürzte Brücken, vom Sturm gefällte Bäume und Hochspannungsmasten. Solche Stellen sind auch deshalb interessant, weil sich hier Wildwechsel finden. Deutlich erkennt man die Spuren von Hirschen und Schweinen, Hunden und Katzen der verschiedensten Größen, sogar Nagetiere bahnen sich ihren Weg durch die Lücken im Rasen. So werden die Hindernisse zu Höhepunkten des Tages. Graham gleitet wie Öl durch den Busch. Den Rasen, der ihr die Pfoten zerschneiden würde, vermeidet sie sorgfältig. Sogar meine Schuhsohlen haben zu leiden begonnen. Es müssen schon ein paar sehr aggressive Gene in dieses Gras reingemischt worden sein. Kinder könnten auf diesem Rasen jedenfalls nicht spielen.
316
Gestern und heute nachmittag hat es fast ununterbrochen geregnet. Die Trasse folgt der alten Römerstraße: schnurgerade und flach, nur in Stilton biegt sie ein wenig nach Westen. Ach, was gäbe ich für ein Stück Stiltonkäse, ein knuspriges Brot und ein Bier! Und du an meiner Seite und dein wogendes Haar in meinem Schoß. Mein Lager habe ich in der Kirche von Water Newton aufgeschlagen, einem Dorf aus herrlichem Sandstein auf dem ersten Hügel, den ich seit Tagen gesehen habe. Der Kirchturm ragt steil aus den Baumwipfeln auf wie eine versteckte Rakete, und von oben hat man einen ausgezeichneten Rundblick. Im Süden und Osten ist das Land regelrecht mottenzerfressen: ein unregelmäßiges Muster von sumpfigen Pandanuswäldchen, Binsenhöckern und Marschen, hinter dem das weit ins Binnenland von East Anglia vorgestoßene Meer glitzert. Das ideale Gelände für Jaguare und Krokodile – ich bin heilfroh, die Mauern der alten Kirche, ein Feuer und meine große Katze bei mir zu haben. Ich habe genügend Zeit in den ehemaligen Tropen verbracht, um zu wissen, daß der Dschungel seine Karten immer erst auf den Tisch legt, wenn es zu spät ist. Wenn man kein eingeborener Jäger oder kein sehr erfahrener Kameramann ist, sieht und hört man nur wenig. Aber als ich so auf dem Kirchturm saß und dem Sonnenuntergang zusah, kam es mir doch ungewöhn317
lich still vor. Brüllaffen habe ich schon seit zwei Tagen nicht mehr gehört. Ich war froh, wenigstens ein paar Papageien im gelben Licht durch die Bäume segeln zu sehen, als die Sonne in die Wolken sank, noch einmal kurz aufleuchtete und dann wie ein Streichholz erlosch. Montag, in der Nähe von Grantham Dinner im Ram Jam Inn, wenn ich das Gewölbe hier an der Straße richtig identifiziert habe. Nur ein paar Meilen von Sir Isaac Newtons Geburtsort entfernt. Es wird Zeit, dein Valentinsgeschenk zu verfassen, meine große, romantische Liebe! Was glaubst du, wem Bird die Schuld gegeben hat? Findest du nicht, daß er mindestens genauso schuld war wie wir? Es wurde dir ja sichtlich zuviel, immer nur als seine schicke blonde Nummer zu laufen. Ich habe gesehen, wie du das Gesicht verzogen hast, wenn du dachtest, es sieht niemand. Und irgendwann hast du begonnen, dich hinter einer Wand aus Pfeifenrauch zu verstecken. Trotzdem war diese Pfeife natürlich sehr attraktiv – deine blassen Finger im Tabak, das Flämmchen zwischen deinen lackierten Nägeln, dein saugender, pustender Mund und die Rauchwölkchen. Bitte erzähl mir jetzt nicht, eine Pfeife sei manchmal wirklich bloß eine Pfeife! 318
Wasser, Feuer oder Erde? Welches Element sollen wir dafür verantwortlich machen, daß wir im Frühling 1988 von der Ouvertüre zum Ersten Akt übergingen? War es diese Fahrradtour zu den Nine Wells? Das elektrische Dinner in meiner Wohnung? Oder unsere Flucht in den Norden, dieser letzte, nicht mehr zu verschleiernde Verrat? Das Wasser waren die Nine Wells, die geheimnisvolle Quelle von Hobson’s Conduit. Bird war nicht bereit, sich aufs Fahrrad zu setzen. Was keinen Motor hat, kommt für mich nicht in Frage. Er hatte nie Zeit und keine Bedenken, dich in Gesellschaft eines guten Freundes alles mögliche unternehmen zu lassen. Er hatte Vertrauen. Du hattest dir ein Herren-Rad mit zehn Gängen, stark geschwungenem Lenker und einem langen, schmalen Sattel geliehen. Es war herrliches Wetter, du hattest weiße Shorts an und deine blaue Bluse unter den Brüsten zusammengeknotet. Beim Picknick unter den Weiden bildete der getrocknete Schweiß ein filigranes Muster auf deiner Haut. Du hast deinen Arm ausgestreckt. Schau nur, wie salzig ich bin. Ich habe deine Hand genommen, ich habe gekostet, und du hast den Arm nicht weggezogen. Ich möchte dich küssen, hast du gesagt. Aber ich werde es nicht tun. Warum nicht. Weil wir nicht dürfen. Es wäre nicht fair. Für keinen von uns. Ich bin keine Heilige und bestimmt keine 319
Jungfrau, aber ich bin ein katholisches Mädchen – auf meine Art wenigstens. Und ich hob noch ein paar Fäden Anstand am Leib. Bei mir ist es immer alles oder nichts. Ich werd nicht hinter Birds Rücken herumvögeln. Und in Ägypten? War das nichts? Die Art und Weise, wie du gelacht hast! Nach einem Streit zählt nicht. Mann woanders zählt nicht. Im Ausland zählt nicht. Und es zählt auch nicht, wenn man das Flugticket schon in der Hand hat. Es war der erste heiße Tag des Jahres, die Hemden klebten uns an den Rücken, und wenn wir auf den Pedalen standen, kühlte der Wind uns die Schenkel. Wir fuhren durch sonnige Wiesen und Felder, dunkle Alleen und Hohlwege. Die Sonne stand schon tief, als wir nach Cambridge zurückkamen, und Hobson’s Wasser strömte ruhig neben uns her. Ein frischer Gruß aus den Wäldern. Auch in der Trumpington Street war das Wasser noch bei uns in seiner steinernen Rinne, als wir erhitzt und keuchend vor der Rose standen. Hast du noch Zeit? fragte ich. Wofür, David Lambert? Und ich hab auf deine Zehen und auf deine schmutzigen Knöchel gestarrt und auf die Spritzer neben deinem Rückgrat. Auf die winzigen rotblonden Härchen in deinem Nacken. Warum schaust du mich so an? (Ich muß wie ein Irrer gestrahlt haben.) Was denkst du? Ich denke, daß ich jetzt gern dein Fahrradsattel wäre. Mister Lambert!
320
Mittwoch, den 9. Feb. mittags, Newark-on-Trent Ich saß am Ufer des Trent und angelte. Der Fluß sah recht unschuldig aus – wie dunkler Tee – und strömte rasch durch die Marschen. Ein Schneegestöber von Möwen flatterte über mich hin. Bald hatte ich einen großen Wells erwischt, ein häßliches Biest von ungefähr acht oder neun Pfund. Sein Maul war mißgestaltet wie eine verbogene Schere, und die Zahnreihen paßten nicht aufeinander. Er sah aus wie die Schreckensbilder über deformierte Fische aus den Großen Seen: schiefe Mäuler, verquollene Augen, Krebsgeschwüre, verkümmerte Geschlechtsorgane. Alles Folgen der Chemiebrühe, die Nordamerika in seine Gewässer gespült hat. Beim bloßen Anblick meiner Beute wurde mir schlecht. Wenn die Menschen ausgestorben sind, sagte ich zu Graham, dann war das mehr als verdient. Der Fischgeruch hatte Graham verleitet, einen Streifen Superrasen zu überqueren, und jetzt schüttelte sie ihre Pfoten, um die Widerhaken loszuwerden. Ich wollte den unappetitlichen Fisch ins Wasser zurückwerfen, aber sie packte ihn und knurrte, als ich ihn noch einmal anfassen wollte. Ich beschränkte mich auf kalten Reis, Palmherzen und ein Stückchen Emubraten, der nicht mehr ganz frisch war, während sie den Wells verzehrte. Anschließend saßen wir beieinander, und ich kraulte 321
ihr gedankenverloren den Kopf. Auch bei ihr, wie bei vielen anderen Tieren, war das Fell an den Ohren recht dünn. Bis jetzt hatte ich immer angenommen, daß sie ihr Ohr bei irgendeiner hitzigen Rauferei oder beim Kopulieren eingebüßt hätte. Jetzt kam mir plötzlich der Gedanke, daß sie womöglich nie zwei gehabt hat. Meine anatomischen Kenntnisse sind zu gering, um das zu beweisen, und mein Urteil ist vielleicht getrübt. Aber wenn es so wäre? Was würde das für das Erbgut der Säugetiere auf dieser Insel bedeuten? Womöglich fühlt sie sich ja nur deshalb zu mir hingezogen, weil sie keinen Panther-Partner hat? Vielleicht ist Graham ja genauso selten wie David. Wir hatten doch versprochen, alles wieder schön sauber zu machen, nicht wahr? Aber wir haben es immer wieder aufgeschoben wie kleine Kinder, die ihr Zimmer nicht aufräumen wollen. Dann sind wir weggegangen und haben unseren Dreck liegenlassen. Irgendwo flußaufwärts, in den kinderlosen Ruinen von Nottingham, Stoke und Derby sind Tanks gerissen, Akkumulatoren geplatzt und Trommeln mit radioaktivem Abfall, Dioxin und anderen Chlorverbindungen verrostet. Tonnen von unzerstörbaren, hochgiftigen Abfällen sind ins Grundwasser und in die Flüsse gesickert. Vielleicht geht das sogar immer noch weiter. Vielleicht explodieren heute noch diese Zeitbomben, Jahrhunderte 322
nach dem Ende der Produktion. ›Slowly the poison the whole blood stream fills … The waste remains, the waste remains and kills.‹ Das habe ich sowieso nie verstanden: Wenn man früher seiner Großmutter Arsen in den Tee geschüttet hat, wurde man wegen Mord eingesperrt, aber wenn man mit irgendeinem leichtsinnigen technischen Verfahren ein ganzes Land vergiftet hat, mußte man schlimmstenfalls eine Geldstrafe zahlen. Wer ist eigentlich dafür eingesperrt worden, daß er dich und mich mit BSE umgebracht hat?
Freitag abend, nördlich von Pontrefact, Yorkshire Jenseits von Newark führte mich die Straße östlich am Peak District, an Sheffield, Manchester und Leeds vorbei. Die Luft war trockener hier, und ich schwitzte weniger. Der Sherwood Forest ist niedrig und spärlicher bewaldet als die großen Dschungelgebiete im Süden. Die Bäume sind gedrungener und stehen weiter auseinander – vor allem Eukalyptus, Akazien, blattlose Baobabs mit dickbäuchigen Stämmen und zervelatwurstartigen Früchten. In der Nähe von Doncaster begann die Savanne, und das Supergras, das bisher im Vergleich zu den Blättern 323
des Waldes recht blaß ausgesehen hatte, wurde plötzlich das Grünste, was es weit und breit gab. Ich hatte erwartet, daß ganz England von Regenwäldern bedeckt ist, aber anscheinend habe ich jetzt schon die Nordgrenze der Dschungelzone erreicht. Oder ist die Trockenheit nur ein örtliches Phänomen? Vielleicht befinde ich mich einfach im Regenschatten der Pennines. Wirklich eindrucksvoll war eine Herde von zwanzig oder mehr Känguruhs, die das Supergras auf der Straße mit einem einzigen Satz überwanden und in den langen Schatten der Abendsonne davonsprangen. Leben! Graham verfolgte sie ein Stück weit, mußte aber bald aufgeben. Es regnet, trotz des Steppenklimas, und ich habe Zuflucht am Autobahnkreuz 33 genommen, wo die M62 die A1 überquert. Trocken ist es unter der Brücke, aber ansonsten ist dieser Lagerplatz scheußlich. Mein Feuer beleuchtet blasenwerfenden Beton, rostige Stalaktiten, verblassende Handabdrücke und den alles dominierenden Slogan: LASST DIE BIMBOS RUHIG BRATEN. Unter der Brücke gibt es rohe Wände aus Schuttbrokken, Motorblöcken und Lehm – so als hätte eine kleine Bande von Desperados versucht, eine dauerhafte Unterkunft oder vielleicht sogar eine Festung zu bauen. Das Bauwerk ist natürlich längst hinfällig, und der wütende 324
Wind treibt den Regen von beiden Seiten her unter die Brücke. Graham aalt sich in der Wärme des Feuers und zuckt bei jedem Donnerschlag zusammen. Wenn die Blitze durch die niedrigen Wolken herunterkrachen, steht sie auf und macht einen Kontrollgang durch die Schatten, die uns umgeben. Ich habe die Graffiti an der Autobahn gesammelt. Es sind manche alte Bekannte darunter: GIBT ES INTELLIGENTES LEBEN AUF DER ERDE? oder: DAS LICHT AM ENDE DES TUNNELS ISS AUS und: SCHLUß MIT DEM WAHNSINN! (Den hab ich schon immer gemocht, der paßt überall.) Interessanter ist das, was ich das WatlingOeuvre nenne. Dazu gehören Sprüche wie: WIR WOLLEN WATLING, WATLING = LAW & ORDER, WATLING RULES, OK? Ich habe den Namen an den verschiedensten Stellen gefunden. Zunächst habe ich gedacht, er bezieht sich auf den Bunkerkomplex in der City von London. Aber hier an der Wand lese ich: GENERAL WATLING mit einem Männerkopf im Profil. Es scheint also eine konkrete Person gegeben zu haben, ganz offenbar einen Caudillo, der sich entweder nach der Watling Street genannt oder dort seine Bunker gebaut hat, weil er ohnehin Watling hieß. Im Verhältnis zu den anderen Graffiti wirkt das Watling-Oeuvre geradezu professionell. Als spontaner Ausdruck der öffentlichen Meinung kommt es wohl nicht in Betracht. Man hat den Eindruck, daß hier be325
rufsmäßige Werbekolonnen am Werk waren, die sich eines populären Ausdrucksmittels bedienten, um Volksempfinden vorzutäuschen. Dementsprechend häufig ist das Watling-Oeuvre auch von Dissidenten übermalt: WALLY ISS EIN WIXXER oder: ARMY-SCHWEINE RAUS! 12. Februar, mittags Wir brachen auf, als der Regen gegen zehn Uhr vormittags aufhörte. Die Straße führte zum Aire hinunter, der früher in den Humber mündete. Aber im Osten liegt das Tal nur noch unwesentlich über dem Meeresspiegel. Es windet sich durch dunstige Mangroven- und Schraubenbaumwälder, und am Ende sieht man schon die Nordsee blinken. Die Ufer des Flusses sind dicht bewaldet, aber dahinter wird der Busch dünner und trocken. Überall im Kakteendickicht finden sich Überreste viktorianischer Industriebauten. Graham legte sich auf einen sonnigen Felsen, wahrscheinlich war sie müde nach ihrer schlaflosen Nacht. Ich pflückte ein paar Kaktusfeigen und verzehrte sie im Schatten einer alten Fabrik. Unwillkürlich mußte ich an die alten Dampfdrachen denken, die einst in diesen Mauern gekeucht hatten. Es war eine Stadt der Maschinen und hohen Schornsteine, aus denen unendliche Rauchschlangen herausquollen, die 326
sich niemals entwirrten. Es gab darin einen schwarzen Kanal und einen Fluß, den eine stinkende Brühe rot gefärbt hatte, es gab hohe Hallen voller Fenster, in denen es den ganzen Tag ratterte. Der Kolben der Dampfmaschine fuhr darin monoton auf und nieder wie der Kopf eines von melancholischem Wahnsinn ergriffenen Elefanten. Die Stadt enthielt einige große Straßen, die sich alle recht ähnlich waren, und viele kleine Straßen, die sich noch ähnlicher waren und von Leuten bewohnt wurden, die sich erst recht ähnlich waren und täglich zur selben Stunde aus dem Haus gingen und wieder zurückkehrten, deren Schritte auf dem Pflaster ganz gleich klangen, die alle dasselbe arbeiteten und für die jeder Tag genauso war wie gestern und morgen …
Die Französische Revolution ging mit Napoleon zu Ende, die Sowjetunion schaffte sich selbst ab, aus den amerikanischen Revolutionären von 1776 wurden die Weltpolizisten. Aber die industrielle Revolution ließ sich nicht aufhalten. Einmal entzündet, brannte sie immer weiter, mit unbestechlicher Logik. Was Dickens angeht, hattest du recht. Mit einem einzigen Satz hat er die Logik der Neuzeit umrissen: »Von nun an war jeder Zoll menschlichen Lebens, von der Geburt bis zum Tode nur noch ein Handel über die Theke.« 327
Hätte es denn anders laufen können? Ist der gute Samariter immer ein schlechter Betriebswirt? War der Kapitalismus, diese »Maschine zum Sprengen von Grenzen«, von vornherein eine Selbstmordmaschine? (Und war der Marxismus irgendwie besser, ganz zu schweigen vom Kalten Krieg zwischen beiden?) Oder waren alle menschlichen Systeme dazu verurteilt, unter dem Gewicht ihrer eigenen Widersprüche zusammenzubrechen? Zum Beispiel die Maya-Tempel. Sie wuchsen höher und höher, während der Dschungel mit Obsidianäxten abgeholzt wurde. Oder die Osterinseln, wo doch jeder sehen konnte, daß die Ressourcen begrenzt waren: Auch der letzte Baum wurde gefällt, um das letzte Götzenbild aufzurichten. Der Regen spülte die Erde ins Meer, die Menschen hungerten und fraßen sich gegenseitig, weil sie nicht flüchten konnten; denn ohne Bäume gibt es auch keine Kanus. Feuer. Es muß knapp einen Monat nach der Fahrradtour gewesen sein. Da hast du plötzlich vor der Tür gestanden in London mit drei Flaschen australischem Wein, um die neue Bude einzuweihen. Wo ist denn Bird? Der konnte nicht kommen, läßt dich aber schön grüßen. (Bird hätte natürlich niemals »schön grüßen lassen«.) Ich fürchte, Mister Lambert, du wirst mit mir vorlieb nehmen müssen. Warum sagst du eigentlich dauernd »Mister 328
Lambert« zu mir? Daraufhin hast du mir mit einem ochsenblutroten Fingernagel die Lippen verschlossen. Du hattest dein langes Empire-Baumwollkleid an (das Bird immer dein Fick-mich-Kleid nannte). Du hast einen großen Strohhut getragen und die Sandalen mit den Knöchelriemen, die mich immer ganz scharf machten. Was ist denn das für ein kurioses Ding? Ein Spielzeug, stammt ungefähr von 1890. Eine Wimshurst-Maschine, vermutlich nach ihrem Erfinder benannt. Erzeugt künstliche Blitze. Wenn wir gegessen haben, werde ich sie dir vorführen. Dann wirst du etwas ganz Wunderbares erleben. Ach, werd ich das? Mein Onkel Phil hatte immer die Rolläden heruntergezogen, die noch aus der Zeit des Blitz stammten und völlige Verdunkelung herbeiführten. Dann mußte ich mich auf zwei dicke Gummiplatten stellen und zwei Messingstangen in die Hände nehmen. Die Drähte, die von diesen Stangen wegführten, waren mit einem gewebten Schlauch isoliert, der sich trocken und steif wie eine Schlangenhaut anfühlte. Dann hörte ich ein knirschendes Getriebe und ein immer schriller werdendes Sirren, während sich die Messing- und Glimmerscheiben an den Kupferbürsten vorbeidrehten. In der Finsternis wurde ein Feuerrad sichtbar. Meine Hände prikkelten, wenn die Elektronen durch sie hindurchflossen und sich in meinem Fleisch niederließen. Irgendwann 329
ließ das Surren der Maschine allmählich nach und wurde zum trauervollen Diskant, um schließlich mit einem Geräusch zu enden, das an das Rascheln von trockenen Blättern auf einem Kellerfenster erinnerte. Dann hörte ich die leise Annäherung meines Onkels und spürte seinen rasselnden, nach Tabak und Alkohol stinkenden Atem, den Mundgeruch seiner Seele, wenn er sich in der Dunkelheit vor mir aufbaute. Streck deine Zunge heraus, Junge, und du wirst etwas Wundervolles erleben. Sich schmatzend öffnende Lippen und dann seine Zunge, die vorschnellte wie eine Muräne. Ein stechendes Brennen, ein greller Blitz, der uns einhüllte, als der Funke zwischen uns übersprang, und dann sein Mund auf meinen Lippen, um den Schmerz wegzuküssen. Das Feuer hat auch deine und meine Zunge verbunden. In der Dunkelheit hörte ich, wie du mit dem Fuß aufgestampft hast. Was tust du? So bin ich ja noch nie geküßt worden! Willst du mich verführen oder willst du mich umbringen? Das ist wirklich nicht nötig. Weitaus bescheidenere Mittel genügen. Ich spürte, wie dich ein Zucken durchlief und fürchtete schon, du hättest einen Stromschlag oder gar einen Herzstillstand erlitten. Anita? Ist alles in Ordnung? Danke, bestens. Ich fühle mich sogar ein bißchen mehr als in Ordnung. Ach, ja. (Dabei dachte ich an Ägypten.) So ist das ja immer bei dir. Nicht immer, Mister Lambert. Nur in der richtigen Gesellschaft. 330
Später hab ich dich im Bad abgeseift und dabei an allen Stellen berührt, von denen dir deine Mutter gesagt hat, du dürftest sie nur berühren, wenn ein Stück Stoff dazwischen ist. Mein Gott, du hast ein lasterhaftes Gesicht. Du siehst aus wie der Teufel! Oder wie eine der sieben Todsünden. Und ich: Wenn ich wählen darf, nehme ich Wollust und Faulheit.
Terrybridge Erde. Oder um genauer zu sein: die Great North Road. Ungefähr eine Woche später bist du wieder über Nacht zu mir gekommen und hast dich strikt geweigert, irgendwelche Fragen, Bird betreffend, zu beantworten. Wir frühstückten rohe Eier in Burgunder und fuhren, ehe wir’s uns anders überlegten, nach Schottland. Wir mußten per Anhalter fahren, aber mitgenommen zu werden war mit dir kein Problem. Es war für uns beide die erste Reise in den Norden, und obwohl ich die Gegend auch nicht besser kannte als du, war ich stolz auf meinen Eingeborenen-Status. Es war mir ein Vergnügen, einer Übersee-Engländerin wie dir meine Heimat zu zeigen. Und es gab ja auch viel zu sehen: Die Häuserreihen wurden dünner, statt Ziegelbauten sah man Steine; die Landschaft wurde herber und wirkte weniger 331
beansprucht; bei jeder Fahrtunterbrechung wurde der Dialekt dicker und gutturaler, die nordischen und sächsischen Vokale massiver. Auch du wirst diesen Anblick hier wohl nicht vergessen haben. Wir kamen über den Hügel, und dann führte die Autobahn in ein Tal voller Betonklötze und eine einzige, traurige Bemühung um Modernität: eine Fabrik wie ein umgekipptes Piano. Tür die moderne Architektur, hast du gesagt, hatten die Briten noch nie ein Talent, was? Es fehlt ihnen einfach das Engagement. Das dramatische Bauwerk war offensichtlich ein Kraftwerk: ein Dutzend weiße Kühltürme, die vor dem schwarzen Fluß wie kleine Vulkaninseln aussahen. Der Dampf aus ihren Mäulern stieg kerzengerade in den stillen Morgen, bis er in einer gewissen Höhe eine geschlossene weiße Wolkendecke über das Tal breitete. Da unten liegt sie immer noch neben dem Fluß – die Ferrybridge Power Station –, sechs von den Türmen stehen noch, die anderen sind übereinandergesunken und bilden einen heroischen Faltenwurf aus weißem Beton, der ein bißchen an die Oper von Sydney erinnert. Zwei Uhr mittags Vergiß nicht, Davy, daß es alles noch viel schlimmer sein könnte. Mein Vater war immer sehr aufmunternd. Die 332
Dinge sind aber tatsächlich viel schlimmer geworden. Graham hat mich verlassen. Gerade eben, vor ein paar Minuten. Sie ist weg, Anita! Und ich habe das dumpfe Gefühl, sie kommt nie mehr zurück. Das ist nicht die Tageszeit, wo sie auf die Jagd geht. Ich habe eine Dreiviertelstunde lang auf dem Laptop geschrieben, ganz in Erinnerungen versunken, und als ich hochsah, hab ich gemerkt, daß sie nicht mehr da war. Ich hab ihren Namen gerufen und auch von weither eine Antwort erhalten. Ungefähr eine halbe Meile in der Richtung, aus der wir gekommen sind, saß eine schwarze Gestalt auf der Straße. Sie war steif und starr wie eine Porzellankatze im Souvenirladen. Ich rief sie noch einmal. Wieder gab sie Antwort, rührte sich aber nicht von der Stelle. Es war ungewöhnlich, daß sie sich auf Supergras setzte. Ich hatte Angst, sie könnte verletzt sein, stellte rasch den Laptop beiseite und ging zu ihr hin. Sie schüttelte den Kopf und blinzelte zur Begrüßung. Was ist denn los? fragte ich. Sie antwortete, indem sie die Straße verließ und im Busch ein Stück nach Süden, Richtung London, trottete. Zeit zum Umkehren, sagte ihr heiseres Knurren, los, komm! Arme Graham! Die Ruinen der Menschheit sind nicht dein Problem, und ich kann dir auch nicht erklären, was mich daran interessiert. Vielleicht solltest du wirklich auf die Isle of Dogs zurückkehren. Aber ich kann jetzt nicht aufgeben! Nicht, 333
nachdem ich schon so weit gekommen bin. Verstehst du das nicht? Ihre Antwort war ein weiteres Nrrrrrrrp! Sie trottete noch ein Stück weiter, drehte sich um, machte einen Buckel und warf mir einen schmerzlichen Blick zu. Sie war schon seit zwei Tagen sehr unruhig. Seit aus dem Dschungel dieser dünne Buschwald wurde. Dieses Land war ihr fremd, sie kannte seine Fauna und Gerüche nicht. Wir waren außerhalb ihres Lebensraums. Schon ihre Verfolgung der Känguruhs war ja nur halbherzig gewesen – sie hatte eigentlich gar keins gewollt. Ich legte ihr die Arme um den Hals, und zögernd begann sie zu schnurren wie ein stotternder Motor. Wir müssen uns für eine Weile trennen, altes Mädchen. Warte in London auf mich. Entweder bei dir auf der Canary Wharf oder bei mir in meiner Bude im Tower. Sie blieb noch ein paar Minuten und leckte mir die Tränen vom Gesicht mit ihrer Reibeisen-Zunge. Dann stieß sie ein klagendes Maunzen aus und verschwand mit hängendem Schwanz zwischen den silbernen Blättern des Eukalyptus.
8 Dienstag, den 25. Februar, gegen 22 Uhr, Fountains Abbey, Yorkshire Am Samstag, als mich Graham verließ, kam ich nur noch bis an den Stadtrand von Wetherby Ich schlief in einer Kirche, ziemlich schlecht, und wachte erschöpft auf. Der Schlafsack war an den Beinen naß, es war Tau oder Regen gefallen. Ein häufiges Ärgernis, aber an diesem Morgen war es der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Ich lag durchfroren, naß und elend auf meinem Lager, und meine Muskeln taten so weh, als hätte ich Grippe. Hatte ich mir einfach zuviel zugemutet? Wurde ich langsam alt? Muskelkater? Oder waren die Prionen in meinem Gehirn wieder aufgewacht und gruben ein paar neue Tunnel durch die kleinen grauen Zellen? Schlechte Träume hatten mir den Rest gegeben; ich hatte die ganze Nacht mit irgendeiner Sisyphus-Arbeit verbracht. Ich brauchte fast eine Stunde, um mich soweit zusammenzureißen, daß ich aufstand und Feuer anmachte. Vergeblich sah ich mich nach Graham um. Dann fiel es mir wieder ein. Gott, ich brauchte sie so sehr! Das Leben ringsum war so kümmerlich – der tropische 335
Reichtum war nur wie eine dünne Algenschicht auf einem sterbenden Tümpel. Hatte es überhaupt einen Sinn, weiterzugehen? Vielleicht konnte ich Graham noch einholen, wenn ich rasch kehrtmachte? Aber wahrscheinlich hatte sie längst einen Vorsprung von fünfzig Meilen, und die Wanderung nach London wäre eine einsame Reise. Und wie sollte es dann weitergehen? Im Traum hatte ich ein langes Gespräch mit meiner Mutter geführt, während sie das Silber putzte. Sie hatte mir das Wappen ihrer Familie gezeigt (ein liegender Eber); aber am Ende jeder dieser Unterredungen stand immer dasselbe: Du bist eine Enttäuschung für deinen Vater und mich. Mary Lavinia Lambert, geborene Wringham. Ich hatte während meiner Wanderung nicht viel an sie gedacht. Du läßt für andere Frauen keinen Raum, Anita! Meine Mutter – das ist eine Nerzstola, ein berauschendes Parfüm im Kleiderschrank, ein tränenüberströmtes Gesicht auf dem Bahnsteig, Flötenmusik im oberen Stockwerk, eine bestimmt Art, Rüben zu kochen, eine klare Stimme am Telefon, ein bestimmtes Resedagrün bei Kashmirpullovern und diese altmodische Art, über England zu reden, bei der man das Gefühl hatte, es handle sich um eine große Familie, in der man sich an bestimmte Dinge erinnerte, in der es bestimmte Verheißungen und bestimmte Erwartungen gab. Wir hatten einmal das größ336
te Weltreich aller Zeiten gehabt; wir hatten Hitler geschlagen; wir hatten die Sprache mit dem größten Vokabular, die besten demokratischen Institutionen, das ideale Gleichgewicht zwischen Kirche und Staat und eine tausendjährige Monarchie, die viel besser war als diese dummen amerikanischen Präsidenten, nicht wahr? (In diesem Punkt hatte sie sogar recht, im Weißen Haus saß damals Richard Nixon.) Dieses nationale Wir hat mich später immer sehr an meine Mutter erinnert, auch wenn man es meist nur von Leuten hörte, die sogar noch ein bißchen älter waren als sie. Es erinnerte mich an eine Tote und an ein England, das irgendwann in den fünfziger Jahren abgestorben war, lange ehe du oder ich auf die Welt kamen. Mit elf ist man noch nicht sehr analytisch. Ich bin erst viele Jahre später darauf gekommen, daß die elterliche Einheitsfront, die immer als einstimmige Realität dargestellt wurde (So sind die Dinge nun mal, Davy), vielleicht gar nicht so monolithisch war, wie sie immer erschien. War meine Mutter wirklich immer derselben Ansicht wie Vater? War sie einverstanden mit seiner rücksichtslosen Ausbeutung des Landes, seinem Fortschrittsglauben, seiner Leidenschaft für halbrohes Rindfleisch, seiner Vorliebe für Sherry und bestimmte Privatschulen? Ging es bei uns zu Hause nach ihrem Willen oder nach seinem? 337
Es waren Tage der Einsamkeit und des Verlorenseins. Stumme Schreie, stille Zweige, nur Insektenzirpen: das Schrillen der Zikaden, das man augenblicklich vergißt. Ich vermißte die klagenden Rufe der Tinamus, die huschenden Papageien und die kreischenden Affen. Vor allem aber vermißte ich meine große, schwarze Miezekatze. Nördlich von Wetherby war das Land trocken, trotz der Regenfälle. Erst vor wenigen Wochen hatte offenbar ein Waldbrand gewütet. Die Eukalyptusbäume, ein paar Eisenholzbäume und die Agaven hatten den Brand überlebt, aber das Unterholz war weg. Aus der Asche kamen gerade erst wieder die ersten grünen Schößlinge hoch. Die Böschungen der Autobahn waren schwarz, aber der Rasen war kaum angesengt. Wie es scheint, ist dieses Übergras auch feuerfest. Natürlich ist mir der Superrasen sehr nützlich, aber in gewisser Weise ist dieses letzte funktionierende Artefakt auch entsetzlich. Wie ein Zombie, der seine Herrn und Meister längst überlebt hat, trotzt dieser Gen-Rasen einer Natur, die sich an ihren Peinigern endlich gerächt hat. Die Devils Arrows waren nicht mehr so spektakulär wie damals, als du mit mir hier warst, aber ich erkannte ihre dunklen Umrisse hinter einigen kalkweißen Geisterbäumen durchaus noch. Erinnerst du dich? Ein amerikani338
scher Air-Force-Mann hatte uns damals in seinem Pickup mitgenommen. Er war auf dem Weg nach Hause nach Cincinnati. Wenn sein Wagen das Steuer nicht links gehabt hätte, hätten wir die Steine womöglich gar nicht gesehen. Die Meißel eines Riesen, die stumm und unnahbar in einem Haferfeld standen, dicht neben den dahinrasenden Autos. Jetzt war der Eindruck noch stärker: Aus der Entfernung sahen sie aus, als wären sie gerade erst aufgestellt worden. Aber als ich näherkam, sah ich deutlich, wie unsagbar alt diese Steinzeugen waren. Das harte Vulkangestein ist voller Rinnen, wie Eis, das der Regen zerfurcht hat. Das Wasser hat jedes Jahr ein paar Atome mitgerissen, und das fünfzig Jahrhunderte lang, Buddhas Definition der Ewigkeit. Übelkeit überfiel mich. Ich setzte mich auf einen umgestürzten Megalithen. Das Feuer hatte auch hier das Unterholz weggebrannt; der große Stein lag auf der Seite wie ein gestrandeter Wal. Auf seiner Außenhaut glitzerten kleine Kristalle. Der Horizont war wolkenlos, aber die Sonne verfinsterte sich und wurde schwarz. Die Welt begann sich zu schütteln, und der Himmel hüpfte. Auf und nieder, auf und nieder, auf und nieder … Als es wieder hell wurde, lag ich gelähmt auf dem Rücken und war mir selbst vollkommen fremd, genau wie damals in den Midnapore Mews. Ich war zwei Stunden ohne Bewußtsein gewesen. Liebste, ist es so, wenn’s 339
geschieht? Du mußt ein bißchen kürzertreten, sagte ich mir. Such dir eine schöne Stelle, wo du dich ausruhen kannst. Nimm dir Zeit, um ein bißchen zu fischen und Nahrung zu sammeln, iß was Ordentliches – Salate und Wildbret. Versuch den Schmerz der Trennung von Graham zu überwinden, wasch deine Sachen, bau dich seelisch und körperlich wieder auf. So bin ich hier in diesem alten Zisterzienserkloster gelandet, in Fountains Abbey. Der kleine Umweg nach Westen war kein großes Problem, weil das Unterholz weggebrannt ist, und ich war froh, die Tretmühle des unnatürlichen Rasens endlich einmal verlassen zu können. Den Gärten ist es schlimmer als dem ehemaligen Kloster ergangen. Chimären, Greif und Einhorn sind entflohen. Selbst den Tempel der Ehrfurcht, wo wir uns an die Wand gelehnt und im Stehen geliebt haben, kann ich nicht mehr finden. Außer Erinnerungen, Verlusten und Stille ist hier nichts zu fürchten: die Zeit, als du und ich noch so jung waren. Hör auf! Hier drin riecht es so komisch. Jetzt nicht! Und was machen wir, wenn jemand kommt? Dein Haar, mit dem du uns eingehüllt hast wie mit einem Burnus; dein Shampoo hat nach Kokosmilch gerochen. Du bist ein schmutziger Teufel, Mister Lambert. Ich bin dabei, mich in dich zu verlieben. Warum ist Sex im Stehen bei 340
den Methodisten verboten? Weiß nicht, sag du’s mir! Weil man dabei zum Tanzen verführt wird. Ich wohne in der Krypta, einem riesigen Gewölbe auf Dutzenden von dicken Säulen; wahrscheinlich ist das heute eins der größten noch erhaltenen Dächer in England. Erinnerst du dich noch, wie uns eine Busladung Japaner hier überrascht hat? Ich habe heute Stunden damit verbracht, diesen Bericht auf den neuesten Stand zu bringen. Auch als das Feuer erloschen war, schrieb ich noch weiter und hob nur ab und zu den Kopf, um die im Licht meines Bildschirms blaß schimmernden Säulenreihen zu betrachten.
Donnerstag, 17. Februar Es geht mir in jeder Beziehung wieder viel besser. Ich lebe nicht schlecht, sammle Obst und Früchte, setze auch mein Gewehr ein (davon habe ich lieber Abstand genommen, als Graham noch bei mir war). Zum Abendessen hatte ich einen Fasan (das vermute ich jedenfalls, genau konnte ich diesen tropischen Vogel nicht definieren). Köstlich. Das Tal rings um die alte Abtei hat ein ganz eigenes Mikroklima, es scheint, als erstrecke sich ein Finger des 341
Regenwaldes bis hier in den Norden. Oder ich habe den Regenschatten der Pennines endgültig verlassen. Es hätte Graham hier gefallen: ein hohes Blätterdach, erfüllt vom Kreischen der Kapuzineraffen, Tukane, Papageien und Sittiche. Heute nacht habe ich auch wieder das Heulen der Brüllaffen gehört, und heute morgen habe ich ihren Schlafbaum gefunden – ein großer Kapokbaum, der über dem ehemaligen Abort der frommen Brüder wächst. ›In der ehemaligen Latrine wurden große Mengen von Sennesblättern und anderen Abführmitteln gefunden.‹ Ich weiß noch genau, wie die ganzen alten Zausel im Tea-Shop fast an ihren Rosinenbrötchen erstickten, als du das aus dem Führer vorgelesen hast. Glaubst du, daß die langen Stunden des Gebets zur Verstopfung geführt haben? Oder wollten die Brüder bloß sicher sein, daß sie nicht zur Unzeit von ihren Bedürfnissen überrascht wurden? Im Hirschgarten gibt es ein paar Gebäude, von denen ich den Eindruck habe, daß sie dort noch nicht gestanden haben, als wir hier waren. Nicht besonders eindrucksvoll, aber sie machten mich neugierig: vier Schornsteine, jeweils achtzig oder hundert Meter voneinander entfernt. An die darunterliegenden Heizkessel bin ich nicht herangekommen, es lagen zu viele zerbrochene 342
Ziegel darüber. Aber ich habe die Fundamente einer großen Holzbaracke gefunden. Solche Gebäude können hier wohl kaum errichtet worden sein, solange die Abtei eine nationale Sehenswürdigkeit war. Sie müssen aus der Zeit des Notstands stammen. Eingeklemmt unter dem Wurzelwerk der Dschungelriesen habe ich auch noch ein schweres Kettenfahrzeug gefunden. Erst dachte ich, es wäre ein Panzer, aber dann entdeckte ich die Schaufel – ein Bulldozer.
Freitag nachmittag Wieder auf der Straße, und das eintönige grüne Fließband trägt mich nach Norden. Über mir hängt eine Messingsonne, und meine Ohren sind erfüllt von Händel und den ›Riders on the Storm‹. Nein, das müssen wir ändern. Heute ist ein Tag für Swing. Zum grünen Kilometerfressen brauche ich Bennie Goodmann und Artie Shaw. Nach Schottland ist es jetzt nicht mehr weit, aber je näher ich komme, desto unwahrscheinlicher scheint es mir, daß ich dort eine Antwort finde. Ich frage mich dauernd, ob die Dinge woanders noch besser sein können. Ob die Maschinen in Kanada, in der Antarktis und in Alaska noch laufen? Was ist aus Amerika mit all sei343
nem Glanz und den strahlenden Limousinen geworden? Und ich komme immer wieder zum selben Ergebnis: Die Stürme müssen die ganze Welt erfaßt haben, und keine noch so moderne Gesellschaft hat sie überstanden. Das muß aber nicht heißen, daß es keine Überlebenden gab; wahrscheinlich waren sie ausgedünnt und gedemütigt, aber wenn es sie noch gab, machten sie mit Sicherheit weiter. Auf einer vorindustriellen Basis, vielleicht sogar ohne Landwirtschaft, lebten sie wieder so, wie wir alle während neunundneunzig Prozent unserer Karriere auf Erden gelebt haben. Oder ist dieser Geisteszustand – diese Hartnäckigkeit, wie mein Vater gesagt hätte – bloß Ausdruck einer Wahrnehmungsstörung? Wehre ich mich einfach bloß gegen die Tatsache, daß alles vorbei ist? Daß die Ereignisse, welcher Art sie auch immer gewesen sein mögen, das Ende für uns gebracht haben? Daß es jenseits der Berge kein Shangri-La und keine Vergessene Welt gibt, wo die menschlichen Dinosaurier noch leben? Trotzdem übt Edinburgh einen starken Sog auf mich aus, genau wie jedes Ziel, wie ein Berggipfel oder wie eine gesunkene Galeone. Laß uns auf Auld Reekie trinken, das Athen des Nordens!
9 Freitag, 25. Februar, abends, Edinburgh Castle Ein Lastwagenfahrer aus Northumberland, ein echter Geordie, hatte uns mitgenommen und den ganzen Weg nach Edinburgh Musik aus den sechziger Jahren gespielt. Ich weiß gar nicht mehr, wo wir übernachtet haben – irgendwo in der georgianischen »Neustadt« – aber ich erinnere mich noch genau an das klamme Bett, an die Straßenlaterne vor dem Fenster, die samtbraunen Vorhänge, die Duschkabine, die wie eine nasse Telefonzelle war und das winzige Waschbecken (Hörst du das Geräusch des Ein-Hand-Waschens, hast du gesagt, denn für beide Hände war nicht genug Platz). Ach ja, und natürlich die köstlichen gebratenen Kippers, mit denen uns die Landlady morgens wieder zu Kräften brachte nach unseren langen Nächten. Ich war noch spät weggerannt, um etwas zu trinken zu holen. In der Eile hatte ich eine Flasche Talisker gekauft (ohne daran zu denken, daß der dich an Bird erinnern würde), und du sagtest: Whisky ist eine feine Sache, Lambert, aber ich will ein Gedicht. Ich sah dich schmollend auf der Bettkante sitzen, die Arme nach hinten gereckt, um dein schwarzes französisches Kleid aufzumachen. Und ich nahm meine Zuflucht zu Wyatt: 345
When her loose gowne did from her Shoulders fall, And she me caught in her armes long and small, And therewithall, so swetely did me kysse, And softly sayd: deare hart, how like you this? Mit solchen Erinnerungsfragmenten bin ich in diesen Ruinen gestrandet. Edinburgh war eine letzte Hoffnung, und was hab ich gefunden? Nun, zumindest wirkt Edinburgh nicht ganz so zerstört wie London, Hertford und Newcastle. Ich habe sogar den Eindruck, daß die Pflanzen noch irgendwie planmäßig wachsen: Oleander, Jasmin und Bougainvillea zum Beispiel an Wegen und Türstöcken. Und an einer Straße in der Nähe der Burg stehen vier oder fünf Tulpenbäume aufgereiht nebeneinander – vielleicht die letzten Überlebenden einer Allee. Wenn ich nicht irre, haben die Leute hier noch lange relativ friedlich gelebt, als die Erdatmosphäre schon begonnen hatte, sich zu erhitzen. Den Stadtrand habe ich gestern abend erreicht und mein Nachtlager auf dem Gipfel von Arthurs Seat aufgeschlagen. Während man aufsteigt, findet man zahlreiche subtropische und Gebirgspflanzen: Edelkastanien, Himalaja-Zedern, Magnolien, Teakholzbäume und Korkeichen. Ich beschaffte mir ein paar Zedernäste als Matratze und baute mein Zelt unter einer großen Pinie auf, 346
während der Duft der harzigen Nadelbäume mich in Heimweh ertränkte. Im letzten Licht erschien ein kleiner Fuchs, um mich zu beobachten. Er wirkte mehr erstaunt als geängstigt. Ich erinnerte mich an unsere Spaziergänge auf diesem Hügel und die Geschichten, die dich so entzückten: König David I. von Schottland, der einen großen Hirsch mit einem Splitter des Kreuzes abwehrte; der junge Laird Dalcastle, der von seinem teuflischen Bruder mit Hunden gehetzt wurde. Ich sah uns versteckt in den Felsen, in einer Flut von Wärme, dein Gesicht mit deinen meergrünen Augen und die gelben Abendwolken, die von deinem Haar überstrahlt wurden. Na schön, ich war in letzter Zeit kein guter Korrespondent, aber ich dachte, es wäre besser, mich zu beeilen. Es ist nur noch ein Monat bis Frühlingsanfang, dann kann es nicht mehr lange dauern, bis eine Hitzewelle oder bis der Monsun kommt. Also bin ich marschiert wie ein Deutscher – und hab mich auch so gefühlt (toi, toi, toi!). An Newcastle bin ich auf der Umgehungstraße vorbei und habe dann die Küstenstraße genommen. Auf den Klippen zwischen Berwick und Ayton gab es riesige Kolonien von Fregattvögeln, Pelikanen und Seelöwen. Der Kot lag so dick, daß nichts mehr darunter wuchs, nicht einmal Superra347
sen. Es war ein Tag der salzigen Winde und weiten Fernblicke über das Meer. Die Nordsee ist allerdings nicht mehr die trübe Brühe, wie wir sie gekannt haben, jetzt ist sie wie blaugrüne Seide, türkis- und aquamarinfarben, und weit draußen gibt es ein Korallenriff mit einer weißen Brandungslinie. Als ich nach Westen ins Tiefland kam, kehrte der Regenwald üppig zurück. Die A1 führte ständig durch dichten Dschungel, bis ich hier in die Stadt kam. Dann wurde das Supergras hart unter den Füßen und erstarb im Schatten der abblätternden Stuckfassaden und Sandstein-Ruinen. Von da an mußte ich mich mit der Machete durch Röhricht und Dornsträucher schlagen. Von nun an werde ich hier oben in der St. Margaret’sKapelle schlafen, wo eine frische Brise die Moskitos fernhält und ich einen Überblick über ganz Edinburgh habe. Die Kapelle ist das älteste Gebäude und eins der besten. Im Inneren lagen ein paar alte Knochen, ohne Zweifel die Hinterlassenschaft eines größeren Raubtiers, aber sie waren alle trocken und fleischlos, deshalb nehme ich an, der Mietvertrag ist erloschen. Ach, ich vermisse Graham so!
348
Sonntag Sich in der Stadt umzusehen war gar nicht so einfach. Riesige Bambusstauden und wilder Mango bedecken die kopfsteingepflasterten Gassen der Altstadt. Der Nor’ Loch ist zurückgekehrt und hat den Hauptbahnhof unter Wasser gesetzt, auch das Baimoral Hotel ist zur Hälfte ins Wasser gesunken. Die Zimmer und Korridore sind aufgerissen wie im Schnittmodell eines Architekten. Einige Stockwerke werden von Tauben und Papageien, andere von Languren bewohnt. Das Denkmal für Sir Walter Scott steht immer noch auf seinen dürren Beinchen, es ist allerdings so überwachsen, daß es aussieht wie ein südindischer Tempel, besonders die Widerspiegelung im gekräuselten Wasser des Nor’ Lochs. Zwei lesbare Graffiti: WATLING – DIE RICHTIGE EINSTELLUNG und DEATH TO MACBEATH [sic]. Macbeth? Von einem Felsen unterhalb der Burg aus bin ich morgens in aller Frühe und spätnachmittags schwimmen gegangen und habe mich unter einem blühenden roten Jasmin trocknen lassen: ein Feuerbaum von rosa Blüten und ein herrlicher, süßer Duft! Das Fischen macht Spaß hier. Piranhas gibt es keine mehr, aber ich habe ein paar brauchbare Barsche gefangen.
349
Dienstag, 1. März Heute hab ich dir viel zu erzählen. Den gestrigen Tag habe ich in der Großen Halle des Schlosses verbracht. Ich fand ein paar grünspanüberzogene Bronzestücke, Glasperlen und zwei Halbedelsteine, die vielleicht von einem Schild oder Knauf stammen. Alle Funde lagen in einer Schicht von Asche und Holzkohle. Irgendwelche Spuren späterer Nutzung waren nicht festzustellen. Nach dem Mittagessen untersuchte ich die Mauer an der Stirnseite. Unmittelbar oberhalb des Kamins war eine aufgebrochene Stelle, als wäre dort eine Plakette oder ein Standbild gewesen. Ich riß ein kleines Bäumchen aus der Feuerstelle und fand tatsächlich Bruchstücke eines Reliefs. Daß es sich um ein postmodernes Stück handeln mußte – für archäologische Zwecke definiere ich den Begriff postmodern jetzt einmal so, daß er alles umfaßt, was nach meiner Abreise von unserer Zivilisation noch erzeugt worden ist –, konnte man schon daran sehen, daß es aus Betonguß bestand. Es gelang mir, das Doppelporträt eines Mannes und einer Frau zu rekonstruieren, die wie das Präsidentenehepaar einer Bananenrepublik aussahen. Darunter war eine Schriftrolle mit dem Motto des königlich-schottischen Wappens: Nemo me impune lacessit. Zunächst war ich versucht, das Bild350
nis primitiv zu nennen, aber das stimmte nicht ganz. Es war ein Propaganda-Stück wie jedes Tyrannenporträt, von Ramses bis Mao, und als solches war es durchaus wirkungsvoll. Der Niedergang lag in der Botschaft, nicht in der Ausführung. Der Mann hatte das energische Kinn, die kantigen Gesichtszüge und das wohlwollende, leere Grinsen des typischen Filmstars. Das Gesicht der Frau war weitaus intelligenter, aber nicht gerade wohlwollend: ein raubvogelhaftes Lächeln mit einem billigen hormonalen Rictus. Auch die Zutaten waren recht epigonal: eine breite Schärpe, bombastische Epauletten, ein vulgäres Halsband und zwei Krönchen, die zu einer Landwirtschaftsausstellung gepaßt hätten. Löwe und Einhorn sahen aus, als stammten sie aus einem Comic. Der untere Teil des Bildes und die Inschrift waren zerstört. Ich suchte lange in den Trümmern am Boden und versuchte, das Puzzle zusammenzusetzen. Was ich schließlich rekonstruierte, war dies: … TIES KING MALC … … GARET … USE OF … ATLIN … … MINI 2.4. Die Bedeutung kann ich nur erraten: Their Majesties King Malcolm and Queen Margaret, (Founders?) of the House of Watling, Anno Domini 204.? 351
Sieht so aus, als hätte dieser Cromwell die Krone nicht ausgeschlagen. War Malcolm sein richtiger Name? Oder ein klug gewähltes Echo alter schottischer Namen? Nachdem ich meine Britannica konsultiert habe, glaube ich, daß eher letzteres zutrifft. An welchen Malcolm wollte Watling wohl erinnern? Die beiden Malcolms vor Duncan? Oder Malcom Canmore, Duncans Sohn, der 1057 Macbeth erschlagen hat? Verlaßt euch bloß nicht auf Shakespeare, sagte unsere Geschichtslehrerin immer. Sie hatte so recht: Dem Dichter ist auch hier nicht zu trauen. Für die keltischen Schotten (im Gegensatz zu denen, die sich mit den englischen Weichlingen vermischt hatten) war keineswegs Macbeth, sondern Duncan der Thronräuber. Und der wirkliche Macbeth hat Duncan nicht etwa ermordet, sondern in offener, ehrlicher Feldschlacht besiegt. Aber wer will schon auf eine gute Story mit Hexen, düsteren Geheimnissen und blutigen Kleidern verzichten, bloß wegen der langweiligen Tatsachen? Nein, unser wackerer Watling wollte sich bestimmt auf Malcolm Canmore berufen. Denn dieser Malcolm war nicht nur ein Sohn von Duncan und seit 1058 König von Schottland, sondern hat obendrein im Jahre 1068 Margaret, die Schwester von Edgar Aetheling geheiratet, der nach dem Tod von Harold in der Schlacht von Hastings der rechtmäßige Erbe des englischen Throns 352
war. Allerdings hat ihm das nicht viel genutzt: England fiel nach 1066 an William den Eroberer, während der arme Edgar als Flüchtling im Schloß zu Edinburgh hockte und von Rache träumte. Eigenartig, daß heute das Mittelalter so viel besser erforscht ist als die Jahrzehnte nach unserer Zeit. Wenn wir geblieben wären und überlebt hätten, wären wir vermutlich über sechzig gewesen, als London evakuiert wurde, und über siebzig, als Watling sich krönen ließ. Irgendwelche anderen postmodernen Artefakte scheint es in der Großen Halle nicht zu geben. Asche und Holzkohle bedecken eine kurze Dynastie. Erst beim Scottish War Memorial hatte ich heute nachmittag etwas mehr Glück. Ich erinnere mich noch gut an die feierlich-düstere Atmosphäre dieses Gebäudes, als wir hier nach Hinweisen auf deine Vorfahren suchten. Im Gegensatz zur Großen Halle, in der es einfach gebrannt hat, ist das Innere des War Memorials systematisch zerstört worden. Zuerst dachte ich, das wäre einfach das Werk von Vandalen. Aber dann fiel mir auf, daß die viktorianischen Gedenktafeln in der Apsis, die uns so besonders bombastisch und imperialistisch erschienen, offenbar schon lange vor der Zerstörung entfernt worden waren. Am Boden lagen Bruchstücke, deren kümmerliche Bildhauerei und Kalligraphie eindeutig 353
»postmodern« waren. Hier hatte jemand eine ganz andere Gedenkstätte zu schaffen versucht. Kannst du dir vorstellen, daß eine Militärregierung das zugelassen hätte? Hätte ein Watling erlauben können, daß die Erinnerung an die Gründer des britischen Weltreichs ausgelöscht wurde? Nein, was hier geschehen war, gehörte zur Epoche nach Watling, war möglicherweise lange nach Watling geschehen. Mittwoch morgen Letzte Nacht ein heftiges Gewitter, die Schloßruinen waren in Wasser und Magnesiumlicht getaucht. Unter dem Gewölbe der St. Margaret’s-Kapelle lag ich zwar trocken, wurde aber von zahllosen Träumen über die Vergangenheit gequält. Die behagliche Welt von gestern mit ihren Regenschirmen und Taxis, mit Zentralheizung, Curry und Bier, weichen Kissen und der zärtlichen Berührung einer Frau umgab mich, bis ich erschrocken hochfuhr und mir meiner fürchterlichen Verletzlichkeit und Hilflosigkeit wieder bewußt wurde. Ein Stolpern, ein Unfall, eine Blinddarmattacke, und ich muß sterben wie ein verwundeter Soldat im Schützengraben, den der Wundbrand erwischt hat. Von den Viren in meinem Kopf ganz zu schweigen. Schluß mit dem feigen Gewimmer! Heute werde ich noch einmal im Memorial graben. 354
Und wenn es mich nicht weiterbringt, werde ich endgültig mit dieser Buddelei aufhören, das Buch schließen und nach London zurückkehren, ich werde in die Kapsel steigen und mich von diesem Zeitufer abstoßen. Ich werde, wenn möglich, zu dir zurückkehren, meine Liebe, und wir werden unser Leben noch einmal leben.
Mittwoch abend Das Graben war mühselig, besonders, nachdem die Sonne durch die Bäume gedrungen war, die hier oben doch ziemlich dünn sind. Aber weil es mein letzter Anlauf war, ließ ich mich nicht abschrecken. Die Wände der Apsis sind nach außen gekippt, was für eine Explosion im Inneren spricht. Der Schutt, den ich beiseite räumen mußte, bestand im wesentlichen aus kaputten Ziegeln und Putz von der Decke. Gegen elf Uhr stieß ich auf eine geborstene Zementplatte unter dem Hauptfenster. Ein Sarkophag, dachte ich. Aber es war wohl der Sitz eines Thronsessels, dessen Rückenund Armlehnen fehlten. Er hätte allerdings besser zu einer Bushaltestelle gepaßt als zu einem Nationalheiligtum. Ich zerschlug ihn also endgültig (selbst aus dieser Entfernung spüre ich, wie du dich empörst), um zu sehen, was darunter war. Was ich fand, war ein unbehau355
ener Felsblock, der ungefähr die Größe und das Aussehen eines abgeschabten Handkoffers hatte. Wenn ich nicht das rostige Loch an der Seite gesehen hätte, wo irgendwann einmal eine Eisenstange oder ein Kabel befestigt war, hätte ich ihn vermutlich einfach als gewöhnlichen Teil des Gebäudes betrachtet. Aber der Stein kam mir eigenartig bekannt vor. Ich hatte ihn als Kind schon einmal gesehen. In Westminster Abbey. Inzwischen bin ich sicher, daß es sich um den Stone of Scone handelt, auf dem die alten schottischen Könige gekrönt wurden, ehe Edward der Erste ihn gestohlen hat und schimpflich unter den königlich-englischen Arsch packte. Was war das für ein Königreich, das dieser Watling hier errichtet oder besetzt hatte? Gab es Elektrizität, Benzin, Dampf und Schießpulver? Und wenn ja, für wie lange? Wie groß ist die kritische Masse, um eine Gesellschaft wie unsere am Leben zu halten? Wenn der Beginn der Neuzeit in die Jahrhunderte fällt, als das Wissen der westlichen Welt zu umfangreich für einen einzelnen wurde und das Spezialistentum auftrat, dann beginnt die Postmoderne – streng genommen – mit dem Ende der Spezialisten. In der Nähe des Krönungssteins fand ich mehrere zerschlagene Reliefplatten – ähnlich wie die gestrigen, aber jünger und gröber. Das Material war Gipskalk. Das Geheimnis des Portland-Zements war offensichtlich 356
verlorengegangen, und die Fähigkeit und Energie, mit Naturstein zu arbeiten, hatte wohl auch niemand mehr. Die Platten waren vermutlich oberhalb des Throns angebracht. Es wäre vorstellbar, daß die Apsis des War Memorials zu einem Thronsaal umgebaut wurde, als die Große Halle im Schloß abgebrannt war. Auf den Stuckplatten waren etwa vier oder fünf Thronbesteigungen verewigt, dann scheint diese Praxis abgeschafft worden zu sein. Wenn man die erste Tafel in der Großen Halle dazu nimmt und für jeden Herrscher etwa eine Generation rechnet, könnte dieser Überrest des Vereinigten Königreichs fortbestanden haben bis zum Ende des 22. Jahrhunderts. Auf einem der Trümmer ist noch ein Datum Bedeutung ist wirklich gesichert. Wenn es bloß Münzen gäbe! Insgesamt wohl das, was man erwarten kann, Anita: Eine Rutschbahn in die Barbarei. Was aber keineswegs erklärt, warum es gegenwärtig keine Barbaren hier gibt.
Mitternacht An den nassen Tagen auf dem Marsch konnte ich die Taschenlampen nur sparsam benutzen, denn ich 357
brauchte alle Sonnenenergie für den Computer und hatte keine Zeit, die Akkus aufzuladen. Jetzt, wo ich etwas zur Ruhe gekommen bin und viel Sonnenschein habe, konnte ich mir sogar den Luxus gönnen, ein Buch zu lesen – ein richtiges Buch. Die meisten Bücher sind in London. Ich habe bloß ›The Incomplete Burroughs‹ (William, nicht Edgar Rice) und ›The Waves‹ mitgenommen (das ist so schön dauerhaft; ich bin nie weiter als bis Seite neun gekommen). Ich las gerade ›Junkie‹, als mir plötzlich wieder einfiel, daß künstliches Licht oft verborgene Einzelheiten einer Grabungsstätte enthüllt, die man im Tageslicht nicht bemerkt. Also ging ich im Licht der Sterne noch einmal hinunter zur Apsis, die tagsüber heiß und stickig war, und jetzt kühl und so schwarz wie das Innere einer Kamera dalag. Ich ließ den Strahl meiner Taschenlampe noch einmal über das Watling-Oeuvre gleiten, Stück für Stück, aus verschiedenen Richtungen. Wieder war dem Archäologen das Glück hold. Erik wez hier from Cassel Nessie. 31-11-2389. Einem kopflosen Torso auf den üppigen Hintern gekratzt. Das ist jetzt kein verblaßtes Graffito aus den 2040ern mehr, sondern ein Lebenszeichen von einem anderen menschlichen Wesen aus der jüngsten Vergangenheit sozusagen. Einem schriftkundigen menschlichen Wesen. Nun ja, ganz so schriftkundig war Erik nun auch wieder nicht 358
(ich habe sein Gekritzel schon einigermaßen geordnet). Und der »31. November« läßt ihn nicht gerade als Kalenderexperten erscheinen, aber wenn dieser Erik tatsächlich vor etwas mehr als 111 Jahren hier war, dann muß es hier in Schottland irgendwo eine relativ komplexe Gesellschaftsform geben. Eine zivilisierte Gesellschaft, Anita! Aber wo könnte das sein? Donnerstag, 3. März, nach einem späten Frühstück Es muß drei Uhr morgens gewesen sein, als ich schließlich in den Schlafsack kam. Bis in die frühen Morgenstunden habe ich weiter nach jüngeren Spuren gesucht, aber die einzige neue Botschaft aus der Vergangenheit war ein gekritzeltes LANG LIV MACBEATH auf einem Türstock. Kein Datum. Brüllaffen scheint es so weit nördlich keine zu geben, aber andere Nachtgeschöpfe haben mich wohl gehört und gesehen. Ein gewaltiges Crescendo von Stimmen baute sich über Edinburgh auf – wahrscheinlich Wölfe oder wilde Hunde, ein großes Rudel auf Arthur’s Seat und ein zweites, das vom Parthenon auf Calton Hill herüberheulte. Mein Laptop weiß nichts von einem »Castle Nessie«, aber der Name weist natürlich auf Loch Ness hin, diese 359
lange Wunde in der Erdrinde in der Mitte der Highlands, was meinst du? Ein großer See wäre sicher ein vernünftiger Aufenthaltsort – große Gewässer mildern das örtliche Klima erheblich. Loch Ness ist der größte See Großbritanniens, sechsunddreißig Kilometer lang und bis zu dreihundert Metern tief. Seine Temperatur hat sich im Verlauf der Jahrhunderte vermutlich erhöht, aber der Temperaturanstieg war gewiß sehr allmählich, so daß sich das Leben anpassen konnte. Außerdem liegt der See zwischen den höchsten Bergen der Insel, so daß es verschiedene Vegetationsstufen und damit Ausweichmöglichkeiten gibt, wenn das Wetter sich ändert. Wenn es tatsächlich Überlebende gibt, dann ist das Hochland am Great Glen bestimmt ein guter Ort, um nach ihnen zu suchen. Ein weiter Weg, mindestens eine Woche, wenn die Straße nicht allzu schlecht ist, aber ich werde gehen.
10 5. März, abends. In der Nähe von Perth Nur leichtes Gepäck: kein Computer, nur ein paar Landkarten und dieses Notizbuch. Kleider zum Wechseln, Schlafsack und Zelt, trockenes Essen, das Gewehr, die Machete, Kompaß, Fernglas und (mein einziger Luxus:) die letzte Flasche McGee’s. Den Firth of Forth erklärte ich zum Rubikon – ein Trick, mit dem ich mich zum Aufbruch motivierte, ehe die Zweifel mich übermannten: Wenn ich heil rüberkam, würde ich meinen Weg fortsetzen. Von der großen Eisenbahnbrücke, die gebaut wurde, als Tania noch ein kleines Mädchen war, sind nur zwei Pfeiler übriggeblieben, die weit draußen im Firth auf ihren Inseln stehen wie Flugsaurier mit ausgebreiteten Flügeln. Die Straßenbrücke ist in etwas besserem Zustand, der Nordturm ist zwar in die Knie gegangen, weil der salzige Wind aus den Stahlträgern zerbrechliches Filigran macht, und Teile der Fahrbahn sind ins Wasser gestürzt, aber die Tragseile reichen immer noch bis auf die andere Seite hinüber. Wie eine hungrige Katze kletterte ich über die nackten, dick mit Vogelnestern und Guano bedeckten Kabelstränge, siebzig Meter hoch über den tür361
kisfarbenen Wellen. Mehrfach mußte ich kreischende Möwen abwehren, die mir die Augen aushacken wollten. Bloß gut, daß es nicht regnete. Am Nachmittag war ich drüben, und seither bin ich gut vorangekommen – einfach die M 90 hoch auf einem federnden Fairway aus grünem Rasen. Mein Lager habe ich in einer Unterführung mit gut lesbaren Anzeigen aufgeschlagen: FORD BRINGT DAS ELEKTROAUTO und KAPITULATION VOR HITLER (Die Musical-Sensation!). Außerdem, als Palimpsest, die üblichen Handabdrücke und Graffiti: Posse Comitatus – Wir können und wir wollen. Gott strafe die Sassenachs! Puddingkanaken MacBeath-Squad Rebellen? Pop-Gruppen? Todesschwadronen? Das Licht des Feuers reicht gerade eben aus zum Schreiben. Der Laptop hat mich verwöhnt, ich hatte schon völlig vergessen, wie mühsam es ist, die Dinge von Hand zu notieren.Ich konnte mal wieder nicht einschlafen, weil ich mich so anstrengen mußte, nicht daran zu denken, was für ein Empfang mir bevorsteht, wenn ich Eriks Leute wirklich finde. 362
Montag, 7. März, mittags Endlich Pitlochry, und diesmal gibt’s keinen einzigen Andenkenhändler. Bloß ein einzelner steinerner Turm ragt noch über die Baumwipfel, vielleicht eine Ecke des fürstlichen Hotels, das wir uns nicht leisten konnten. Auf einem eisernen Briefkasten, ein paar Meilen zuvor, habe ich die Buchstaben VR gefunden, Trollopes Geschenk an die Archäologen. Wir haben damals eine ganze Reihe von Autos anhalten müssen, um durch die Highlands zu kommen, in jenem Frühling. Auf den Bergen lag ein Hauch von Schnee, am Fluß entlang reckten kahle Bäume die blattlosen, schwarzen Äste, während auf den Abhängen neu angelegte Kiefernplantagen aufmarschiert waren wie napoleonische Infanterie. Erinnerst du dich noch an die Schafhirtin in ihrem Landrover (Whiskyfahne, Haare am Kinn und die linke Hand dauernd auf meinem Knie), die uns als »hiestorisches Facktum« erzählte, daß Pontius Pilatus der Sohn eines römischen Soldaten und einer Piktenfrau gewesen sei? Daß er seine Tage am Ufer des Tay beschlossen und täglich zwei Liter Whisky gesoffen habe, um seine Schuld am Tode Gottes darin zu ersäufen?
363
Dienstag abend, Dalwhinnie Die Kastanien rösten im Feuer, und ein Fisch liegt zum Grillen bereit. Im Westen ragt Ben Alder über dem See auf, umgeben von rosigen Wölkchen. Man könnte denken, man befindet sich in einem unberührten Fleckchen der Pyrenäen. Ich sitze neben der alten Whiskybrennerei, hier wurde mal ein guter Malt gebraut, wenn ich nicht irre. Der Weg über den Drumochter Paß heute nachmittag war mühselig. Die Straße war an vielen Stellen durch Murenabgänge versperrt, die den Superrasen unter sich begraben haben. Aber es ist viel kühler hier oben, subtropisch, beinahe alpin, und die Sonne steht noch nicht so hoch am Himmel, daß ich viel davon abkriege. Das ist auch besser so, denn ich habe meinen Hut in Edinburgh gelassen. Hinter Blair Atholl hörten die Dschungelbäume endgültig auf, und große Edelkastanienwälder standen neben der Straße. Es war nicht schwer, ein paar Kastanien zu finden, die noch schön prall waren. Weiter oben kamen dann wieder Araukarien oder »Chilenische Schuppentannen«, die auf dem Umweg über Englands Pfarrgärten aus den Anden hierher verschlagen worden sein dürften. Es gibt mehr Tiere hier oben, oder vielleicht sehe ich einfach bloß häufiger ihre Spuren, weil mich Unterspü364
lungen, Erdrutsche, umgestürzte Bäume oder Sümpfe zwingen, die stachlige, grüne Rasenbahn zu verlassen, die alle anderen Lebewesen meiden. An einem Bach in der Nähe des Passes erlebte ich heute nachmittag einen Schock: In das schlammige Ufer waren nackte Fußabdrücke gepreßt. Meine Suche nach menschlichen Wesen erschien mir plötzlich sehr unklug. Ich stellte mir vor, daß mich fremde Augen beobachteten, und mußte an diesen alten Gag aus dem Londoner Zoo denken, das Schild mit der Aufschrift: Das gefährlichste Tier der Welt, das über einem Spiegel angebracht war. Aber die Spuren erschienen mir bei näherem Hinsehen doch etwas zu breit, fast wie Hände. Konnte sich der Körperbau des Menschen innerhalb von zwanzig Generationen so ändern? Dann sah ich vor den Zehen die Krallenabdrücke. Bären! Eigentlich finde ich Bären weniger beunruhigend. Seither habe ich noch mehr auf Fußabdrücke geachtet als bisher und tatsächlich auch Spuren von weiteren Bären, Hunden oder Wölfen, Katzen (großen und kleinen), Füchsen und Hirschen gefunden. Außerdem sind mir die Fußabdrücke eines großen Vogels aufgefallen, wahrscheinlich ein besonders großer Truthahn oder ein Kasuar. Es huschen auch eine Menge kleinerer Vögel auf dem Boden herum, möglicherweise verwilderte Hühner, die sich allmählich ihrer Urform wieder annähern. 365
Die Hähne sind prächtig gefiedert. Eigenartig, daß es keine Hufspuren von Pferden oder Rindern gibt. Im Dschungel können sie vielleicht nicht leben, aber das offene Buschland in Nordengland hätte ihnen eigentlich zusagen müssen. Und hier im Hochland müßte es auch Nachkommen von Schafen, Ziegen oder Eseln geben. Die Zahl der verwilderten Haustiere ist bislang recht kurz: Katzen, Hunde, Hühner, Schweine und (?) Truthühner.
10. März, abends, Loch Alvie Gestern und heute hat es ununterbrochen geregnet. Die Wolken hingen bleiern bis auf die Bäume herunter. Es ging nur sehr langsam voran. Stundenlang marschierte ich durch einen Wolken-Wald unter tropfendem Spanischem Moos. Gestern abend war ich zu naß und entmutigt, um etwas zu schreiben, und auch heute geht’s mir kaum besser. Es gibt auch nicht viel zu berichten – immer nur dieses dumpfe Trotten auf dem grünen Band der alten Straße und die Arbeit mit der Machete, wenn Bäche und Sümpfe im Weg sind. Die Stille und das Fehlen aller Hinweise auf menschliches Leben haben meine Erregung (und meine Ängste) wieder gedämpft. Wahrscheinlich habe ich völlig vorei366
lige Schlüsse aus dem Gekritzel dieses Erik from Cassel Nessie gezogen. Das Datum war einfach falsch. Es hätte mir doch auffallen müssen, daß auch dieses Fragment nicht auf der Oberfläche lag, sondern tief in der Erde gesteckt hat. Aber hat es das überhaupt? Um ganz ehrlich zu sein: Ich weiß gar nicht mehr, wo dieses spezielle Stück Gips eigentlich herkam; ich hatte ja zunächst nicht gedacht, daß es irgendwie wichtig sein könnte. Mit einem Wort, ich habe die elementare Sünde aller Archäologen begangen: unvollständige Ausgrabungsaufzeichnungen. Ich habe mich schon fast überzeugt, daß ich besser aufgeben sollte.
Freitag morgen Der Morgen hat mich gerettet, zumindest für einen weiteren Tag. Ich habe lange geschlafen, bis die Sonne sich über den Cairngorms erhob, über den See kam und vor mein Zelt trat. Ich erwachte aus einem äußerst orientalischen Traum – ich befand mich als Sultan in einem Saal voller Odalisken, die alle nur dein Gesicht hatten, Anita. Der Gesang der Vögel erfüllte die Wälder. Ich zog mein Fernglas heraus und musterte die umliegenden Berge, ob ich irgendwo eine Lichtung oder einen Hin367
weis auf die von Erik erwähnte Festung ausmachen könnte. Aber die Wälder bildeten eine geschlossene grüne Decke, deren Tönung sich allerdings in den verschiedenen Höhenlagen subtil änderte; aus den Atlaszedern wurden Amerikanische Pechkiefern, aus den Kiefern wurden Chilenische Araukarien. Einige Bäume hatten kurze, blaugrüne Nadeln und schokoladenbraune Stämme, die im oberen Bereich rot wurden und sich schälten wie schlecht gewickelte Zigarren. Erst sah ich nur einige wenige, dann stellte ich fest, daß die Gipfel von Cairn Gorm und Ben MacDui fast völlig von ihnen bedeckt waren: Schottische Kiefern! Eingeborene Bäume, die sich zumindest in einem Teil ihres angestammten Reviers behauptet haben. Was für ein Anblick und was für ein bedeutsames Omen! Porridge mit Kastanien hat noch nie so gut geschmeckt, vor allem nicht, wenn man ihn mit Anlasserflüssigkeit runterspült – einem Schuß Schnaps in der letzten Tasse Kaffee, die ich vielleicht je sehen werde. Anschließend trank ich gleich weiter, direkt aus der Flasche. ›Inspiring hold John Barleycorn! What dangers thou canst make us scorn!‹
368
Abends, in den Wäldern am Slochd-Paß Mittags erreichte ich den Fluß Dulnain. Kurz danach verläßt die A 9 das sumpfige Tal und führt über die Berge nach Inverness. Ungefähr auf halbem Weg wird die Straße abrupt von einer Schlucht unterbrochen und setzt ihren Anstieg dann fort. Ich mußte ziemlich mühsam durch die Büsche bis auf den Grund des Einschnitts hinabklettern, wo die eingestürzte Brücke auf den Eisenbahngeleisen lag wie ein Skelett aus der Urzeit. Der Aufstieg auf der anderen Seite war technisch einfacher, aber sehr anstrengend. Vorläufig befand ich mich noch in der Zone der Atlaszedern und Araukarien. Ich hatte gehofft, am Paß in das nostalgische Reich der Schottischen Kiefern zu gelangen, aber vor einiger Zeit hatte hier oben wohl ein Waldbrand gewütet. Die Stämme wurden lichter, und bald hatte ich eine riesige, von herrlichem, gelbem Ginster überwachsene Brache voller kleiner Grasflecken, Tümpel und Bergseen vor mir, aus der nur vereinzelte schwarze Baumstümpfe aufragten. Zahlreiche Seerosen hatten sich in der Sonne geöffnet, und ich hörte Frösche ins Wasser plumpsen, wenn ich vorbeikam. Beflügelt von diesem Anblick beschleunigte ich meine Schritte und hoffte, bald ein Panorama vor mir zu haben, wie wir es seinerzeit in den Highlands gekannt haben. Aber als 369
ich den Paß erreichte, zogen von der anderen Seite dichte Nebelschwaden herauf. Der Weitermarsch vollzog sich in einer kalten, klaustrophobischen Wolke, die Sichtweite betrug kaum zehn oder zwanzig Meter. Am Rand dieser Zwergenwelt ragten wie verhüllte Wegelagerer und Räuber unförmige, bedrohliche Felsen und Baumstümpfe auf. Ich blieb stehen und nahm einen stärkenden Schluck aus der Rumflasche. Wäre ich nicht stehengeblieben, wären sie mir wahrscheinlich aus dem Wege gegangen und ich hätte sie nie zu Gesicht gekriegt. Am Anfang dachte ich, es wären Hirschkühe. Sie waren ungefähr von dieser Größe, vielleicht sogar etwas größer. Sie hatten lange Hälse und neugierige, kluge Gesichter, die sich alle zugleich zu mir hindrehten. In diesem Augenblick, als die Neugier auf beiden Seiten die Furcht noch in Schach hielt, wurde der Nebel plötzlich dünner, wir konnten uns genauer in Augenschein nehmen, und ich erkannte, daß es Lamas waren. Die arrogante Nase, die Kaninchenohren, die braunen Schlafzimmeraugen mit den langen Wimpern und das dichte Fell waren mit nichts zu verwechseln. Es war wie eine Filmaufnahme; jede Einzelheit dieser Begegnung hat sich tief eingeprägt und ist mir auch jetzt, 370
Stunden danach, noch präsent. Zwei der Tiere waren braun, eins schwarz und das andere braunweiß. Und als sie sich umdrehten und wegrannten, habe ich bunte Bänder von ihren Ohren flattern sehen, ehe sie wieder im Nebel verschwanden. Sie haben Besitzer.
TEIL III DAS SCHOTTISCHE STüCK
1 Edinburgh, dritte Maiwoche Eine lange, aber keineswegs ereignislose Pause, Anita. Aber zuerst muß ich rasch etwas aufschreiben, was ich in meinem Kopf gespeichert habe wie auf einer CDRom; meine Denksportübung, mein Überlebenstraining, mein Trost: Die Spalten in der Tür sind mein Stonehenge. Ich verfolge auf dem Boden den Mond und die Sonne und bezeichne die Stunden mit Strichen im Lehm. Denn wenn die Tür sich zweimal täglich öffnet, ist das Licht zu hell, die Welt zu groß, als daß ich etwas sehen könnte. Dann bin ich geblendet. Sie sagen, die stinkende Pfütze am Boden sei meine. Sie stoßen mein Gesicht hinein und fragen: Warum beschmutzt du dein Lager? Aber ich weiß, das ist nicht mein Wasser. Das kommt durchs Dach. Oder vielleicht war’s der Wärter. Sie sagen, ich bin böse und verrückt – ich höre sie streiten – aber in einem sind sie sich einig: daß ich sterben soll. 374
Ich sei kein Mensch, sagen sie und nennen mich »Es«. Was sagt es? Was will es fressen? Wann wird es sterben? Daß ich zwei Beine, zwei Arme, zwei Ohren wie sie habe, daß ich ein Gesicht, eine Stimme und eine Seele habe, ist ihnen egal. Daß wir verwandte Sprachen sprechen, daß wir uns bald verstehen werden, auch. Hornie, Hangie, Malkie, Sassenach, Southron, Deil, Kelpie, Gow und Worricow – sie haben tausend Worte Haß und Furcht für mich. Sie brachten mir Quecksilber, eine ganze Schüssel, zum Trinken. (Ach, was ich da für ein Gesicht sah!) Sie brachten mir Salzwasser, Ätzkalk, Brei, den Fötus eines Lamas, Knoblauchzehen, das erste Blut eines Mädchens, den ersten Samen eines Knaben, Pech und mein eigenes Wasser, wie sie behaupten. Wie ein altes Schiff bin ich aufgebockt, ausgekratzt und durchbohrt worden. Ihre Flöhe und Läuse, ihre Ratten und Mäuse haben mein Blut getrunken und mein Fleisch gefressen, und immer noch zweifeln sie an meinem Wesen. Bist du ein Gespenst? 375
Wo kommst du her? Aus einem fernen, heißen Land mit Seen und Bergen ganz wie euren. Doch damit mach ich es nur schlimmer. Es wäre ihnen lieber, wenn ich aus Edinburgh, aus Perth, von den Hebriden käme. Aus Luft gebildet wäre über dem See, der Erde entsprungen oder dergleichen. Seht her, sag ich, seht diese Hände und Füße. Sind sie nicht so wie eure? Kommt her, berührt die Wunde hier und diese Knochen! Sagt: Bin ich nicht ein Mensch wie ihr? Die Dinge, die ich höre: Am Morgen wird der Stahl geschliffen; das Schmatzen der Füße und Lamahufe im Schlamm; Gelächter und Flüche, die Spottgesänge der Kinder vor meiner Tür; das Stöhnen der Gedärme bei Tage, das Stöhnen der Liebe bei Nacht. Draußen Hähne und Eulen, und eine Ratte im Verputz meiner Höhle. Und die Geräusche der Freiheit von jenseits der Mauern: der Papageienschrei und Wind in den Bäumen, ein Rabe, der ins Tal hinunterruft, 376
und die Wellen, die am Ufer die Kiesel des Schicksals neu mischen. Die Dinge, die ich sehe, wenn der Wärter mit dem Essen kommt und das Licht nicht zu hell ist: Abfall und dürre Hunde auf zertrampeltem Boden; manchmal ein Geier hinter der Küche; wüste Mauern aus rohen Steinen, Schrott und Gerümpel – ein Puzzle unserer alten Welt. Dinge, die ich nicht höre: kein Muh und Mäh und Schweinequieken, kein Schnauben, Wiehern, Motorbrummen und auf den Wegen keine Räder. Soooo. Das wär’s. Ich hab’s im Computer. Das ist die kärgliche Ernte meiner ersten Tage nach der Wiedervereinigung mit der Menschheit. Tage der Furcht und des Elends, das brauche ich wohl nicht zu sagen. Ich hatte nicht nur vor denen Angst, die mich gefangenhielten, sondern auch vor der eigenen Schwäche und Sprachlosigkeit. Vor der Unfähigkeit, mich mit Worten oder Taten zu verteidigen. Ich hatte Angst, an Leib und Seele zu zerbrechen. Ich machte möglichst kurze Strophen, jeden Tag nur ein paar Zeilen, denn ich wußte ja nicht, wie viele ich 377
würde bewahren müssen vor der vergehenden Zeit und wann ich wieder Papier und Bleistift haben würde – wenn ich mein Gefängnis überhaupt überlebte. Eine Gefangenschaft dieser Art scheint immer lebenslänglich, und die meiste Zeit hat man das Gefühl, im Warteraum des Todes zu sitzen. Aber ich glaube, jetzt muß ich doch erst mal zu dem Punkt zurückkehren, wo ich an jenem nebligen Märztag die Lamas entdeckte und bald darauf mein Notizbuch verlor. Dann kann ich dir den Rest viel besser erzählen. Von Lamazucht verstehe ich gar nichts. Deshalb wußte ich damals, bei meiner ersten Begegnung mit ihnen, auch nicht, was ich jetzt zu erwarten hatte. Waren die Lamas normalerweise allein auf der Weide? Oder waren die Hirten irgendwo ganz in der Nähe? Es war nur noch eine Stunde Tageslicht übrig, und so beschloß ich, mich zurückzuziehen. Der entscheidende Kontakt, jener heikle Augenblick, wenn zwei Welten zusammenstoßen – Cook in der Kealakekua-Bucht, Pizarro vor den Tempeln von Peru – fand besser an einem neuen Tag statt. Der Morgen kam ohne Sonnenaufgang; nur der Nebel wurde etwas heller. Aus Schwarz wurde grau, und aus grau wurde weiß. Ich verbrachte mehrere Stunden mit den nötigen Vorbereitungen: Das Gewehr, das Zelt und andere Dinge, die niemand finden sollte, vergrub ich. (Mein Lager hatte ich abseits der Straße aufgeschlagen, 378
wo der Wald völlig unberührt war.) Ich brachte meine Aufzeichnungen auf den neuesten Stand und legte sie in das Erdversteck zu den anderen Sachen. Das Risiko, das ich so unbekümmert eingehen wollte, erfüllte mich plötzlich mit Panik. Was sollte ich tun? Den erstbesten Menschen ansprechen und sagen: Bringen Sie mich zu Ihrem Anführer? Genau das mußte ich tun – oder ein für allemal umkehren. Um elf kam die Sonne heraus und erfüllte die Schatten mit Leben. Die Wälder begannen zu dampfen. Ich badete in einem Bergsee, wusch meinen Bart und meine Haare, die voller zerquetschter Blutsauger und Harztröpfchen waren. Ich zog ein frisches Hemd, frische Unterwäsche, Socken und Jeans an. Nach einem raschen Mittagessen machte ich mich auf den Weg und nahm nur noch einen kleinen Nylonsack mit Kastanien, eine Plastikplane, Kleider zum Wechseln und den allerletzten Rest Rum mit. Geschenke für die Eingeborenen hatte ich nicht – die Havannas und das Gold waren in London – aber notfalls konnte ich auch diese Kleinigkeiten verschenken. Vielleicht wurde Plastik hier so geschätzt wie Seide zur Zeit Marco Polos. Am frühen Nachmittag stand ich zum zweiten Mal am Slochd-Paß, der, wie sich jetzt zeigte, durch einen großen, mit Flechten überwachsenen Grenzstein markiert 379
war. BEI GOTT IST KEIN DING UNMÖGLICH, lautete die verwitterte Inschrift. Und ohne ihn ist alles erlaubt, hatte jemand daruntergekritzelt. Der Nebel lag jetzt unter mir. Das grüne Band der alten Straße schwang sich den Abhang hinunter, an manchen Stellen durch eine hohe Böschung gegen Sümpfe und Senken gesichert, an anderen rücksichtslos durch den Felsen gesprengt, bis sie schließlich irgendwo im Nebel versank. Ein Ausblick wie ein Kindertraum vom Himmel: Überall am Horizont ragten einzelne Gipfel aus den weichen, wolligen Wolken. Unterhalb der Wolkendecke lagen der Moray Firth, das Moor von Culloden, wo die Clans ihre letzte Schlacht schlugen, und das Tal des Great Glen mit Inverness, wo König Duncan (wie Shakespeare behauptet) von Macbeth erstochen wurde. Das war alles lange her und von der kleinen Oase menschlichen Lebens hier vielleicht längst vergessen. Dieses eigenartige Relikt unserer Rasse war womöglich auf völlig unvorhersehbare Weise verändert und verkümmert. Eins allerdings hatten diese Menschen mit Sicherheit mit mir gemein: Wir waren beide Überlebende einer fünfhundertjährigen Reise. Ihre Gene waren durch zwanzig Generationen gereist; meine waren aus eigener Kraft innerhalb von fünfzehn Wochen hierher gelangt. Ich war der Hase, sie waren die Schildkröten. Der Nebel war genauso dick wie am Vortag. Die per380
fekte Tarnkappe. Aber wenn er mich verbarg, dann verbarg er auch das Unbekannte. Nach einer halben Stunde erschien die Sonne als kleine blanke Scheibe am grauen Himmel, ein Rabe krächzte, und meine Sicht erweiterte sich abrupt auf einige hundert Meter. Ich befand mich wieder auf einer leicht abschüssigen Weide, deren Gras mit Felsen und verbrannten Baumstämmen durchsetzt und an vielen Stellen mit feurigen Rhododendron- und Azaleenbüschen akzentuiert war. Diesmal sah ich gleich mehrere Dutzend Lamas auf einmal. Und auf einer kleinen Anhöhe unmittelbar vor mir drei unverkennbar menschliche Gestalten, die mir den Rücken zukehrten. Sie saßen auf dem Boden und trugen grobe Mäntel oder Ponchos in den Farben ihrer Tiere. Auf dem Kopf hatten sie breite Strohhüte, ganz ähnlich dem, den ich mir in London gemacht hatte. Die groben Kleider, die exotischen Haustiere und die vom Feuer veränderte Landschaft machten mir noch einmal überdeutlich, wie groß die Kluft war, die mich von diesen Menschen trennte. Wenn ich mich im Nebel an sie heranschlich, würde ich sie zu Tode erschrecken. Aber natürlich war ich es, der Angst hatte. ERIK WEZ HIER FROM CASSEL NESSIE … LANG LIV MACBEATH. Was waren das für Leute? Wie ein Spinnenmännchen bei seinem schicksalhaften Liebeswerben war ich gefangen zwischen Zwang und Panik. Ich mußte mich schleunigst 381
zurückziehen, leise wie ein Spanner davonschlüpfen, still und ungesehen. Aber meine Nerven lassen mich bei solchen Gelegenheiten immer im Stich. Mein Atem wurde schneller und kürzer, und dann folgte das unvermeidliche Husten. Die Hirten drehten sich um. Und kreischten. Es waren Mädchen oder Frauen – zwei kurze, gedrungene und eine große, schlanke, die Gesichter dunkel im Schatten der Hüte. Sie hatten die Nachmittagssonne im Rücken, ich sah praktisch nur ihre Umrisse mit weißen Zähnen und Augäpfeln. Sie dagegen konnten mich gut sehen. Dichte Nebelschwaden zogen zwischen uns auf. Blindlings über Felsen und alte Baumstümpfe stolpernd, floh ich den Abhang hinauf, zurück in die Sonne und tief in die Wälder, bis ich die Orientierung verlor. Als ich wieder zu Atem kam, war ich froh, daß ich mich verirrt hatte. Ich baute mir ein Regendach aus Stöcken und Plastik, verzehrte ein freudloses, kaltes Mahl und war froh, als die Nacht kam. Aber einschlafen konnte ich nicht. Ich lag stundenlang wach, und während ich den letzten Rum trank, überlegte ich, was ich jetzt tun sollte. Morgen mußte die Entscheidung fallen. »Morgen und morgen und dann wieder morgen« – Macbeth ließ mich die ganze Nacht 382
nicht in Frieden, Zeile um Zeile quoll aus meinem Inneren herauf wie beim Laienspiel in der Schule: Und morgen und dann morgen und dann morgen, So kriecht’s im Schleicheschritt von Tag zu Tag Zur letzten Silbe hin im Lebensbuch; Und alles Gestern hat nur Narrn geleuchtet Beim Gang zu Dreck und Tod. In den frühen Morgenstunden trieben meine Eingeweide mich hoch. Es war stockdunkel, der Himmel mondlos und voller Wolken. Ich stolperte ein paar Schritte beiseite, hockte mich hin und wurde fast zerrissen vom Durchfall. In den Pausen zwischen Krämpfen lauschte ich in den Wald: der Geigenklang der Äste im Wind, Grillenzirpen, Froschquaken, der Ruf einer Eule. Noch eine Eule. Merkwürdig, daß dieser Vogel in den verschiedensten Kulturen so eine düstere Bedeutung hat. »Wenn die Eule schreit, stirbt der Indianer«, heißt es in Lateinamerika. Die Eule ist ein Symbol der Klugheit, aber auch des Bösen und fast immer des Todes. Ein dicker Wollsack senkte sich auf meinen Kopf, und ich wurde von kräftigen Fäusten gepackt. Dunkelheit und der Geruch von nasser Wolle, Ruß, Erde und Dung nahmen mir für Sekunden den Atem. Ich verlor den Boden unter den Füßen. Meine Handgelenke und Knöchel wurden zusammengebunden und eine lange Stange 383
dazwischengeschoben. Dann wurde ich aufgehoben und wie ein totes Wildschwein weggetragen. Ungefähr eine Stunde lang wurde ich durch die Dunkelheit befördert, ohne daß jemand auch nur ein Wort sprach. Vielleicht fürchteten sie, daß ich nur einer von vielen sein könnte. Dann wurde ich grob abgesetzt und gefesselt auf die Seite gelegt, während die Männer schliefen, die mich zum Gefangenen gemacht hatten. Ich hörte sie schnarchen und furzen. Sehen konnte ich nichts, denn ich hatte nach wie vor den Wollsack über dem Kopf. Vor Sonnenaufgang standen sie auf und aßen hastig. Bis ungefähr zwölf Uhr mittags trugen sie mich ohne Halt, dann hörte ich Stahl auf Feuerstein schlagen und roch brennenden Zunder. Sie kochten – dem Geruch nach waren es Bohnen – und saßen dann wartend ums Feuer herum. Die Hitze war schrecklich. Keinen Augenblick lang wurde der schmutzige Sack von meinem Kopf entfernt. Flöhe oder Läuse krochen mir übers Gesicht und am Hals herunter ins Hemd. Aber ich sagte nichts; ich hörte nur zu. Erinnerst du dich noch an die Kneipe in Glasgow, wo wir fest überzeugt waren, daß alle gälisch sprachen, bis uns bestimmte Wörter dies und fuck jenes, aber auch ein paar Fußballergebnisse – zeigten, daß die uns unverständliche Sprache doch Englisch sein sollte? Ge384
nauso ging’s mir jetzt auch. Sie sprachen mit leisen, wachsamen Stimmen. Es hätte Baskisch oder Ungarisch sein können, so wenig verstand ich. Aber nach und nach traten die Wörter und Sätze doch klarer hervor. Es war eine Form des Schottischen, von unserem Englisch ungefähr genauso weit entfernt wie das Langlands. Oder sagen wir besser Dunbar – hat der nicht ungefähr fünfhundert Jahre vor unserer Zeit hier oben geschrieben? Das weißt du besser als ich. Ich erinnere mich noch gut an deine brillante Darbietung von ›Tua Mariit Wemen and the Wedo‹ bei Anna Laus Hochzeit, insbesondere an die Stelle, wo die Frau ihren Mann ane bumbart, ane dron bee, ane bag full of flewme nennt. Eine wilde Hummel, eine Drohne und ein Beutel voll Rotz. Ich beherrsche die Umgangssprache des 26. Jahrhunderts bis heute nicht flüssig. Meine Beschäftigung damit war am Ende dann doch ein wenig zu kurz. Aber ich verstehe im allgemeinen schon, was gemeint ist (und aus Gründen, die ich noch erläutern werde, wurde ich sogar noch besser verstanden). Ein Tal ist immer noch ein glen, ein See ist ein loch, ein Haus ist ein hoose, ein Bach ist ein burn. Das gutturale Sprechen und die Zusammenziehungen, das gerollte R, die langen Vokale, die Überbleibsel aus dem Altenglischen und die knorrigen Entlehnungen aus dem Gälischen und Nordischen sind erhalten geblieben. Aber es sind natürlich viele 385
Wörter verlorengegangen, und die Bedeutung mancher Neuprägungen konnte ich nur zu erraten versuchen. Eine junge Frau schien den Vorschlag zu machen, daß man mir Nahrung und Wasser geben müsse. Im nachhinein glaube ich, daß die Unterhaltung ungefähr folgendermaßen verlief: »Was ist, wenn er stirbt? Was wird der Laird sagen?« »Die Sorte stirbt nit.« (Ein brummiger alter Mann.) »Lasst ihm doch wenigstens etwas Luft.« (Die Stimme des Mädchens.) »Du wirst ihm die Maske nit abnehmen. Du wirst dir den Malkie nit ansehen.« »Och, er ist kain Hangie. Du hast ihn gestern nit gesehen, Kenneth. Ganz blont. Sieht aus wie Jaisus.« »Du sollst nit den Herrn lästern!« Das Mädchen war also eine der Hirtinnen, die mich gestern gesehen hatten. Es war nicht das erste Mal, daß ich mit Jesus verglichen wurde. Vor allem in Lateinamerika war mir das häufig passiert. Meine blonden Locken und blauen Augen paßten einfach gut zu den Millionen Christusbildchen, die sich die Leute früher ans Armaturenbrett klebten. Nach ein paar Stunden ging’s weiter. Ich wurde wieder in ein Boot gepackt. Vermutlich war es ein Einbaum, denn es bewegte sich schwerfällig, und jedesmal, wenn das Paddel die Bordwand streifte, tönte es dumpf. Wir 386
überquerten einen schmalen See. Loch Ness konnte es allerdings nicht sein, dafür war die Reise zu kurz und das Wasser zu ruhig. Aber als wir die andere Seite erreicht hatten, schienen die Männer gelassener zu werden, so als fühlten sie sich jetzt sicher. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit ging es bergabwärts ins subtropische Unterland oder einen tiefergelegenen Talgrund. Die Luft war stickig, und der Wollsack wurde noch lästiger. Ich glaubte, das Zischen und Klingeln der Wellen auf einem Kiesstrand zu hören, und fragte mich, ob wir wohl am Firth von Inverness waren. Am nächsten Morgen hörte ich eine jüngere Männerstimme, die ich bisher noch nicht kannte – offenbar ein Bote des Mannes, den sie den Laird nannten. Ich war inzwischen sehr schwach und so durstig, daß ich keinerlei Hunger verspürte, als mich die Frühstücksgerüche umwehten. Als ich den leichten Schritt des Mädchens hörte, bat ich sie um Wasser. Sie reagierte mit einem heftigen Psst! Aber sie hatte mich durchaus verstanden. Wörter wie Wasser ändern sich nicht. Ich hörte sie mit den anderen verhandeln. Zehn Minuten später wurde ich auf die Füße gezerrt und von hinten festgehalten – was allerdings kaum notwendig war, denn meine Hände waren noch immer gefesselt. »Du bist all so von Vlaisch und Bluot, ja?« Ein älterer Mann, der mir direkt ins Ohr zischte. 387
»Nicht mehr lange, wenn ich nichts zu trinken kriege.« Ich versuchte laut und deutlich zu sprechen, aber mir klebte die Zunge am Gaumen. »Es redet!« Vor Überraschung warf er mich fast zu Boden. »Wo’s Kenneth?« »Unten paim Currach.« Die wohlklingende Stimme des Mädchens. »Okay, Mailie. Aber halt saine Ougen gedeckt.« Okay. Das moderne Wort war irgendwie tröstlich. Einen Augenblick lang vertrieb es die mittelalterliche Atmosphäre jenseits des Wollsacks. Ängstliche Finger nestelten an der Schnur um meinen Hals, der Wollsack wurde bis zu meiner Nase hochgeschoben, und ich konnte die frische Morgenluft einsaugen. »Ruhig!« sagte das Mädchen. Ich tat wie befohlen, und alsbald berührte ein irdenes Gefäß meine Lippen. Das Wasser war herrlich kühl, frisch und voller Mineralien. Wie hatte ich nur je etwas anderes trinken können? Speziell dieses kanadische Frostschutzmittel, das immer noch in meinem Magen brannte und wesentlich zu meiner inneren Austrocknung beigetragen hatte? Und zu meiner Gefangennahme wohl auch. Wäre ich nüchtern gewesen, hätten sie mich kaum so mühelos einsacken können. Ein leises Pfeifen ertönte, und meine Kapuze wurde hastig heruntergezogen. Der Anführer, Kenneth, kam wieder zurück. 388
Sie gestatteten mir, mit gefesselten Füßen bergab zu hoppeln. Wir befanden uns offenbar doch nicht am Meer. Die frische Luft, die ich für kurze Zeit hatte einatmen dürfen, war dafür der Beweis. Es hatte keinerlei Beigeschmack von Salz, Mangroven oder Muscheln gegeben, nur den leichten Pilzgeruch von Süßwasser. Ich hörte, wie Nessie erwähnt wurde: das mußte Loch Ness sein. Im Rückblick würde ich sagen, daß ich meine zweite Nacht in Gefangenschaft in der Nähe der Stelle verbracht habe, wo du und ich damals gezeltet haben: Unter den alten Eichen und Buchen neben der ehemaligen Militärstraße am Südufer. Erinnerst du dich noch? Kaum hatten wir unser Zelt aufgeschlagen und ein Feuer gemacht, da kam so ein knurriger alter Typ im Schottenrock mit Räuberbart, buschigen Augenbrauen und drahtigen Locken unter der Mütze und streckte die Hand aus. Wir verlangen sechs Pfund fünfzig fürs Campen. Sogar du hast keine Lust gehabt, mit ihm zu streiten, Anita. Anscheinend wurde es meinen Begleitern jetzt klar, daß sie mich ohne meine Mithilfe nicht in das Currach setzen konnten. Und um ihnen helfen zu können, mußte ich etwas sehen. Der jüngere Mann, dessen Namen ich nicht kannte, diskutierte mit dem älteren namens Kenneth. Er habe ohnehin den Auftrag, mich am anderen Ufer ohne Wollsack abzuliefern. Der Laird wollte eine 389
richtige Show. Sie nahmen mir die Fesseln von den Fußknöcheln und befreiten meinen Kopf, packten mich aber gleichzeitig fest an den Armen. Wir standen auf einer Anlegestelle aus grob behauenen Steinen. Über großen Kokospalmen und verschiedenen tropischen Hartholzbäumen war soeben die Sonne aufgegangen. Jenseits der langen Schatten lag der aquamarinblaue See, dessen glatte Oberfläche nur hier und da vom Kielwasser kleiner Ruderboote gefurcht wurde. Die wenigen Segel, die ich erblickte, hingen schlaff von den Masten. Wir befanden uns direkt gegenüber der Urquhart-Bucht, an deren Ufer sich große, kultivierte Flächen mit Grasland oder Getreideaussaat erstreckten. Oberhalb der Bucht und der Felder erhoben sich dunkle Waldberge, die in einem Nebelstreif verschwanden und ein Stück weiter oben als nackte Walfischrücken wieder erschienen. Unmittelbar uns gegenüber erkannte ich den mächtigen Burgfried von Urquhart Castle, dessen Mauern vom Morgentau glänzten. Weiter landeinwärts, jenseits des kleinen Flusses, der in die Bucht mündet (du erinnerst dich vielleicht an die Erlen- und Weidengebüsche), waren noch weitere Gebäude zu ahnen, von denen man freilich nur einige Giebel und etwas Mauerwerk sehen konnte. Kleine Rauchwölkchen erhoben sich wie Ausrufezeichen in der windstillen Luft. Eine lebendige Stadt! Ich kann dir gar nicht 390
sagen, welche Freude – und zugleich Angst – mich erfüllte, als ich nach fünfzehn Wochen und fünfhundert Meilen voller Verfall und Ruinen diese Stadt sah. Als hätte ich Leben auf dem Mars gefunden. Die Männer, die mich gefangen hatten, standen während der ganzen Zeit, die ich brauchte, um diesen zeitlosen Anblick in mich aufzunehmen, hinter mir und hielten mich fest. Wie sie aussahen, wußte ich nicht. Erst als mich Kenneth und der Bote des Lairds zur Anlegestelle gestoßen und in den Currach gesetzt hatten, konnte ich sie in Augenschein nehmen. Ihr Anblick überraschte mich so, daß ich mich hastig nach dem jungen Mädchen und dem dritten Mann umdrehte, die am Ufer zurückblieben. Alle vier waren vollkommen schwarz. Auf der Überfahrt war es leichter, das Boot zu betrachten als meine Begleiter. Der Jüngere, dessen Name wohl Rob oder Hob war, hatte die Ruder ergriffen, während Kenneth neben mir im Heck saß. Jedesmal, wenn ich die Augen zu einem von ihnen erhob, fluchte der Mann an den Rudern, und Kenneth piekte mich mit einem Dolch, den er in seinem Gürtel mitführte. Sie fürchteten meine Augen, und besonders die verstohlenen Blicke, die ich dem am Ufer zurückgebliebenen Mädchen nachschickte. Von den drei Frauen, die ich bei den Lamas gesehen hatte, war sie die schönste und schlankste. Trotz der zunehmenden Hitze trug sie auch 391
jetzt noch das lange Tuch, das sie auch in den Bergen angehabt hatte. Über der Brust wurde es von einem alten Suppenlöffel gehalten, dessen Stiel sie zu einer Nadel geschärft hatte. Die Männer hatten formlose Wollhemden übergeworfen, die im Grunde nicht mehr als Säcke mit einem Loch für den Kopf waren. Beide Geschlechter trugen haarige, etwas über knielange Woll-Kilts, aber weder Schuhe noch Strümpfe. Im Schatten waren sie barhäuptig, aber draußen auf dem See setzten sie ihre Hüte auf, und ich bedauerte rasch, daß ich meinen eigenen in Edinburgh zurückgelassen hatte, denn ich holte mir den schlimmsten Sonnenbrand seit meinem ersten Tag auf der Themse. Ach, herrje, das schien so lange her, und meine damaligen Hoffnungen auf eine schöne, neue High-Tech-Welt kamen mir heute so schrecklich naiv vor. Das Boot war ein zerbrechliches, ungefähr zwanzig Fuß langes Gefährt. Es bestand aus einem weißen Gerippe, das mit rohen Häuten bespannt war. Die Nähte waren mit Harz oder Pech abgedichtet. Das schlaff herunterhängende Segel war nicht mehr als eine Schilfmatte, wie auf einem polynesischen Auslegerboot. Die grobe, häßliche Kleidung und das kümmerliche Boot waren bei genauerem Hinsehen nicht einmal mittelalterlich; im Grunde war ich hier in der jüngeren Steinzeit gelandet. Als Hob (das war wohl die richtige Aussprache) uns 392
halbwegs über den See gebracht hatte, kam ein geheiltes Kommando von Kenneth, und Hob hob die Ruder. Der Alte kramte in einem Ledersack, bis er schließlich ein irdenes Trinkgefäß und eine Whiskyflasche herauszog. Letztere unterschied sich nicht von denen aus unserer Zeit, allerdings fehlte das Etikett. Er goß ein paar Tropfen in das Gefäß, murmelte ein paar unverständliche Worte und leerte den Becher über die Bordwand ins Wasser. Diesen Vorgang wiederholte er sechsmal an Steuerbord, sechsmal an Backbord und sechsmal am Heck. Nach der Opfergabe für den See schenkte Kenneth für sich und Hob einen herzhaften Schluck ein, der mit einem Trinkspruch auf Nessie! gekippt wurde. Ich dachte: sechs, sechs, sechs: die Zahl des Tieres? (Für einen anglikanischen Geistlichen war Onkel Phil ungewöhnlich interessiert an der Offenbarung des Johannes gewesen.) Viele Dinge waren in den letzten fünfhundert Jahren verschwunden, aber das Ungeheuer gehörte offenbar nicht dazu. »Was lebt hier im See?« »Vische«, sagte Hob. »Sind die groß?« »Schluss mit dem Geschwiddel!« Kenneth hob drohend sein Messer, und die Muskeln spannten sich unter der schwarzen Haut, obwohl er mindestens sechzig sein mußte. Er war nicht so groß wie der andere, aber stäm393
mig, und hinter seiner entschlossenen Haltung stand der Wille eines unbarmherzigen Zuchtmeisters. Der Jüngere hatte ein freundliches, offenes Gesicht und wirkte trotz seines dünnen Bärtchens fast kindlich. Ich hatte den Eindruck, daß er mit dem Mädchen etwas hatte oder zumindest gern etwas mit ihr gehabt hätte – gar zu sehnsüchtig hatte er zu ihr zurückgeschaut, als wir ablegten. Ich sehe von einem Buch auf, von dessen Inhalt ich nichts mehr weiß, und starre durch ein ovales Fenster in einer beigen Plastikwand hinaus. Das Bullauge einer 747. Ich sehe von meinem Buch auf, starre durch die geisterhafte Spiegelung meiner Gesichtszüge hindurch nach draußen und bin überwältigt von der Unwahrscheinlichkeit des Fliegens. Ich drehe mich um und sage (zu dir? Ja, du bist es, mit deinem Essenstablett auf dem Klapptischchen vor dir): Wer hätte gedacht, daß die Luft so dick ist, daß mehrere tausend Tonnen Metall darin schwimmen können wie Walfische? Und du: Wer kann erwarten, daß die Millionen Teile dieses Apparats immer perfekt funktionieren? Es heißt, wenn man aus dem Flugzeug gerissen wird, kommt man unten nackt an. Der Wind zerrt einem die Kleider vom Leib wie ein Lustmörder. Dann sehe ich Flammen aus dem silbernen Rumpf schlagen, spüre, wie die Kabine abtrudelt, und höre die 394
Schreie. Die Schreie und eine derbe Hand, die mich schüttelt, der Fischgeruch auf dem Boden des Bootes, die nasse Wolle und der Schweißgeruch meiner Begleiter, die mich mit großen Augen anstarren, als ich erwache (sind sie betrübt oder froh, daß ich noch nicht tot bin?). Das Schreien (oder war es ein Wehklagen?) kam von einer großen Menschenmenge, die sich vor dem Schloß versammelt hatte. Ob sie wirklich so groß war, kann ich allerdings nicht sagen; es lag noch ein ganzes Stück stilles Wasser vor dem Bug unseres Bootes, und jemandem, der seit Monaten kein anderes menschliches Wesen mehr gesehen hatte, wäre wohl auch noch die bescheidenste Versammlung gewaltig erschienen. Vermutlich standen etwa zweihundert Personen auf dem steinigen Strand und dem hölzernen Landungssteg, an dem zahlreiche Einbäume und Currachs vertäut lagen. Als wir näher kamen, erkannte ich, daß meine Begleiter typisch für die Bewohner des Tals waren: Auch alle am Strand Versammelten waren schwarz. Die Schattierungen allerdings variierten; das matte Schwarz von Fotokarton war genauso vertreten wie glänzendes Ebenholz und ein tiefes Indigo. Das hellste Braun war walnußfarben. Große Hüte verbargen die Haartrachten, aber es schien nicht nur afrikanische oder melanesische Kraus- und Wuschelköpfe mit Dreadlocks zu geben, sondern auch glattes, oft zu Zöpfen geflochtenes, aber 395
meist eher struppiges Haar. Fast alle Männer trugen Bärte. Solange ich den Wollsack trug, hatte sich mein Erkenntnisdrang zwangsläufig auf die Sprache dieser Menschen beschränkt – jetzt mußte ich feststellen, daß ihre Sprache in keiner Weise zu ihrem Aussehen paßte. Wo konnten sie herkommen? In unseren Tagen war die Anzahl von Schwarzen, die in den Highlands lebten, vermutlich verschwindend gering. Aber wenn die Vorfahren dieser Menschen aus der glühenden Tropenhitze oder aus den Slums der Städte geflüchtet waren, warum sprachen sie dann alle wie Rob Roys oder Bravehearts? Wie war es ihnen gelungen, hier Fuß zu fassen, und der Katastrophe zu entkommen, die das übrige Großbritannien zum Schweigen gebracht hatte? Und was war aus den richtigen Rob Roys geworden – den rothaarigen Kelten, den nordischen Blondschöpfen und den dunkelhaarigen, milchgesichtigen Pikten? Wir legten unterhalb des Schlosses am Landungssteg an. Die Zuschauer schienen nicht bloß neugierig, sondern auch gespannt und ängstlich zu sein. Hunde bellten, und über uns schrien die Möwen, aber aus der Menge kam nur ein dumpfes Murmeln, als ich meinen Fuß an Land setzte. Ohne Hut, mit blondem Haar und immer röter werdendem Gesicht, ein blaues Baumwollhemd, Jeans und Joggingschuhe am Körper – ich hob 396
mich tatsächlich sehr von der Masse der Bevölkerung ab. Die vorderste Linie wich zurück, als ich auf sie zuging; und aus dem Hintergrund ertönte ein Murren. Ein Trupp von Bewaffneten nahm mich in Empfang. Die Burschen sahen schon etwas bedrohlicher aus. Ihre Kilts zeigten eine Art Tartan, ihre Hüte waren aus Leder (und erinnerten entfernt an Borsalinos), sie trugen breite, braune Gürtel und deftige Knüppel. Ich wurde wieder an den Füßen gefesselt, meiner Schuhe beraubt und in Richtung des alten Schlosses gestoßen. Die Menge, die uns zu folgen versuchte, wurde grob abgedrängt. Urquhart Castle war offenbar stark renoviert worden, seit wir es damals besuchten und in seinen gewaltigen Mauern herumstolperten. Die Umbauten schienen allerdings sehr ad hoc erfolgt zu sein und nahmen keinerlei Rücksicht auf den Geist der Epoche. Der Hauptturm war wieder aufgemauert und mit Schieferplatten und Ziegeln verschiedener Herkunft gedeckt worden. Löcher in den Außenmauern waren mit Felsbrocken, Hohlblocksteinen, Eisenklumpen und bröckeligen Ziegeln geflickt worden. Die eindrucksvollste Ergänzung, die ich allerdings erst wahrnahm, als wir die Menge hinter uns hatten, war eine Doppelreihe von senkrecht aufgestellten Autokarosserien, die sehr an die Menhire von Carnac erinnerten. Vielleicht haben sie früher einmal eine militärische Funktion als Panzersperren oder 397
Feuerstellungen gehabt, denn sie stehen genau an der schmalsten Stelle der Landenge, die das Schloß vom Festland trennt. Ich erkannte einen Jaguar, einen Benz und ein paar amerikanische Limousinen – alles große Modelle aus den letzten Jahren des Wohlstands. Irgendein Laird des 21. Jahrhunderts hatte offenbar sämtliche Garagen von Inverness und die U. S. Air Base in Cawdor geplündert, um diese Sammlung zustande zu bringen. Ich war erstaunt, daß die Karosserien nicht längst verrostet waren, aber wie es schien, wurden sie regelmäßig mit Harz oder Pech überzogen. Die drei besterhaltenen Wagen bildeten vor dem Haupttor der Burg einen Triumphbogen: zwei senkrecht stehende Cadillacs und ein Rolls Royce als Architrav. Nach diesem Trilithon aus Stahl kam das ursprüngliche Tor, und als wir beide passiert hatten, befanden wir uns im äußeren Burghof. Hier fanden sich ganz wie in früheren Zeiten die Unterkünfte der Dienerschaft, Lagerhallen, Schuppen und Ställe aus Holz, ein Taubenschlag und eine niedrige Küche mit einem stämmigen Schornstein. Ich hatte das Gefühl, einen Scheunenhof vor mir zu haben. Hühner, Truthühner, Hunde und Katzen stolzierten herum oder sonnten sich auf der festgetretenen, mit abgenagten Maiskolben und Knochen bedeckten Erde. Der ganze Hof stank nach ranzigem Fett, Latrinen und einem gewaltigen Misthaufen. Ich wurde 398
hastig in Richtung des Hauptturms befördert, zu jener mächtigen, fünfstöckigen Trutzburg, deren Kamine, Schlafräume und Wendeltreppen dich so bezauberten, als wir damals hier waren und bis zum regenverhangenen Ausblick auf den See und die bedrohlichen Berge hinaufstiegen. Wie hieß noch gleich der örtliche Historiker mit den Mick-Jagger-Lippen, der sich auf den Zinnen so begeistert mit dir unterhielt? Du hattest die Schotten in deiner Familie erwähnt, die Forbes-Linie, und er geriet ganz außer sich vor Entzücken, weil hier im 12. Jahrhundert irgendein Krieger dieses Namens gelebt hatte. Das meiste hab ich längst vergessen – er hat mindestens eine Stunde lang fabuliert –, aber einiges ist doch hängengeblieben. Vor allem die farbigen Namen der Helden: der Rote Barde, Alexander der Listige, der Wolf von Badenoch. Der Hammer der Schotten und Robert the Bruce. Jahrhundertelang herrschte das Chaos, während Urquhart mal den Königen in Edinburgh, mal den Macdonalds von den Inseln gehörte, die immer wieder durch den großen Glen nach Osten vorstießen »wie ein Dolch durch die Rippen von Schottland«. (Anschließend wurde es allerdings ziemlich unangenehm, als der Schmutzfink dir im Kerker an die Wäsche wollte, aber daran laß uns besser nicht denken.) Zwei Mann hielten in mehr oder weniger korrekter 399
Haltung Wache. Die heraldischen Symbole auf dem Gipswappen über dem Torbogen konnte ich nicht recht erkennen; es schien sich um die Köpfe irgendwelcher Tiere und gekreuzte Schwerter oder Dolche zu handeln – das Ding war schon ziemlich zerbröckelt – aber immerhin war das Motto zu lesen: Sleep No More. Wir gelangten in eine dunkle Halle, die das gesamte Erdgeschoß einnahm. Das Kommando machte halt, und der Anführer marschierte die Treppe hinauf. Meine Augen hatten Zeit, sich an das dämmrige Licht zu gewöhnen, die Luft war erfüllt von Weihrauch und dem Geruch der Palmöl-Lampen, der stark an verbrannte Margarine erinnerte. Ich entdeckte zwei Feldgeschütze und mehrere alte Kanonen, einen großen V-Zweizylindermotor (von einer Harley? Bird hätte es sicher gewußt) und den starren Blick einiger alter Computer- oder Fernsehbildschirme. An der Stirnseite der Halle hing ein lebensgroßes Kruzifix mit einem blonden, ausgezehrten, blutigen Christus, dessen blaue Augen unter der Dornenkrone verzweifelt zum Himmel gekehrt waren. Links und rechts von ihm hingen ein paar Ölgemälde in sehr schlechtem Zustand, die möglicherweise eine Ahnengalerie bildeten. Zu Füßen des Kreuzes hingen zwei struppige, haarige Schädel mit weit ausladenden Hörnern – die Köpfe von Hochlandrindern, ganz ohne Zweifel. Die Südwand war asymmetrisch gestaltet: ein Fahr400
radsattel mit darüberhängendem Lenker, eine Verkehrsampel, eine verkehrt herum hängende Küchenuhr und ein schönes, birnenförmiges Urinal von Villeroy & Boch (Porzellan). Die Zusammenstellung war in ihrer Wirkung beachtlich, einerseits verblüffend, andererseits sehr vertraut. Das zusammengeräuberte Nest einer diebischen Elster? Oder das Werk eines Kenners mit Sinn für modernes Design? Der Wachoffizier kehrte zurück, ehe ich das Ensemble ganz zu deuten vermochte. Ich wurde gepackt und die Treppe hinaufgestoßen. Zwei Mann gingen voraus, der Rest folgte. Wir traten in eine zweite Halle, unmittelbar über der ersten. Die rohen Planken, die ich unter meinen Füßen spürte, waren hier und da mit Bärenfellen bedeckt. Die Fensterläden waren geschlossen, und dichte bläuliche Rauchschwaden von den ÖlLampen an den Pfosten eines Baldachins kreuzten das spärliche Sonnenlicht, das durch die Schießscharten einfiel. Auf einem erhöhten Podium standen mehrere Höflinge und ein klobiger Thron. Auf dem Thron saß ein Mann. Ein sehr großer Mann, man könnte sagen: ein Riese. Auf dem Kopf trug er einen Sombrero, verbeult und mottenzerfressen, aber mit üppigem Silberschmuck. Offenbar ein echtes antikes Stück, eine wahre Galaxie von einem Sombrero, der gut zu einem Revolutionshelden 401
oder einem erfolgreichen Mariachi-Sänger gepaßt hätte. Im Schatten darunter ein gedunsenes, sehr dunkles Gesicht mit geröteten Bernhardineraugen und einem dikken, graumelierten Bart, der wie ein Wasserfall über die breite Brust floß. Ansonsten trug der Riese eine ärmellose schwarze Pumaweste (der Kopf des Raubtiers fletschte in Höhe des Magens die Zähne), einen Kilt mit erkennbarem Royal Stuart-Tartan, die typische schottische Felltasche, Hirschfänger und Stiefel aus Krokodilleder (ungefähr Größe fünfzehn). Das war sie nun endlich, die schicksalsschwere Begegnung des fremden Herrschers mit dem weißen Eindringling, die Konfrontation zweier Welten. Würde er mir blumig und höflich begegnen wie seinerzeit Montezuma dem Cortez: »Mein Herr, Ihr seid erschöpft und müde«? Oder verächtlich wie Atahualpa, der die Bibel auf den Boden schleuderte und angewidert die Nase über die stinkenden Barbaren rümpfte, die ihn beim Bad zu stören wagten? Die Geschichte der Konquistadoren lehrt, daß es sich für den Neuankömmling empfiehlt, unsäglich arrogant aufzutreten. Ich hätte dem Laird unverzüglich mitteilen sollen, daß ich Gottes persönlicher Botschafter sei, daß alles, was er bisher geglaubt hatte, völliger Quatsch sei, und daß er mir, wenn er nicht bis in alle Ewigkeit im Fegefeuer brutzeln wolle, vollständigen Gehorsam schulde. Dann hätte ich hinzu402
fügen müssen, ich könnte seine Seele vielleicht gerade noch retten, wenn er mir sein gesamtes Gold, seine Frauen und Töchter, sein Königreich und sein Leben alsbald überließe. Aber so etwas funktioniert natürlich sehr viel besser, wenn man in feinsten Stahl aus Toledo gekleidet und von ein paar hundert Desperados begleitet ist, an deren Musketen die Lunten schon glimmen, während die Eingeborenen links und rechts an den Pocken dahinsiechen. Ich dagegen war verschnürt wie ein Kapaun, mit einem schmutzigen Lappen als Knebel im Mund, umgeben von einem Schlägertrupp als Eskorte, und wenn irgendwer an Seuchen litt, dann war ich es. Die Wachen stießen mich auf den Boden und verknoteten meine hinter dem Rücken gefesselten Hände mit den Riemen an meinen Fußknöcheln. »Kann es sprechen?« »Kenneth sagt ja, mein Laird.« Daraufhin ließ der Laird mir den Knebel aus dem Mund nehmen. Nach wie vor kniete ich mit Lederriemen gefesselt auf dem Boden und sah vermutlich aus wie der Strichjunge in einem homoerotischen Film. Der Laird erhob sich von seinem Thronsessel, trat bis auf einen Meter an mich heran und rief: Cock-a-leekie? Oder jedenfalls dachte ich das. Wenn er redete, entwickelte sein Bart ein recht obszönes Eigenleben, und der rote 403
Mund sah wie der Schnabel eines Oktopus aus. Ich gab keine Antwort, und er wiederholte seine Frage noch einmal langsamer. Allmählich begriff ich. Er wollte wissen, ob ich aus »Castle Reekie« stammte. »Ich werde sprechen, wenn Eure Männer mich losbinden, und keinen Augenblick früher.« Der Laird setzte sich wieder, seufzte und gab einen leisen Befehl. Einer der Wächter entzündete eine Fackel. »Röste ihn mal ain pisschen, dann sehn wir schon, ob er singt.« (Das jedenfalls, glaube ich, hat er gesagt.) Die nach Kiefernharz duftende Fackel knisterte, als der Wächter sie mir ins Gesicht hielt. Dann roch es nach verbranntem Haar und Fleisch, und ich spürte einen stechenden Schmerz. Ich sagte: »Castle Reekie? Was ist das?« Worauf sie alle in Lachen ausbrachen. Ich ahnte zwar, daß sie Edinburgh meinten, wollte aber lieber nicht fragen, denn jede Vertrautheit mit der schottischen Geographie hätte mich bestimmt in noch größere Schwierigkeiten gebracht. Auf ein Nicken des Lairds hin, brannte der Wächter den Riemen durch, mit dem meine Hände an die Füße geknüpft waren. Jetzt erzählte ich meine Geschichte. In den langen Stunden seit meiner schändlichen Gefangennahme hatte ich viel Zeit gehabt, mir etwas auszudenken. Ich behauptete also, ich käme aus Llareggub in Wales – der 404
einzig gebirgigen Gegend in Großbritannien, die weit genug von Schottland weg war, daß sie nichts darüber wissen konnten. Auch dort, sagte ich, gebe es eine kleine Gemeinschaft von aufrechten Bauern und Fischern, die das Ende der übrigen Welt überlebt hätten. Wir hätten zwar überlebt, aber es ginge uns ziemlich schlecht (so daß wir auch keine Bedrohung darstellten). Wir hätten kaum noch Saatgut und Zuchtvieh und litten auch sehr unter Inzucht. Schreckliche Mißbildungen hätten sich seit einigen Jahren gehäuft, von denen blasse Haut und blonde Haare nur die harmlosesten seien. Mit einem Wort: wir seien in großer Gefahr. In seiner Verzweiflung habe der Laird von Llareggub beschlossen, vier junge Männer von edler Herkunft auszuschicken, die andere Menschen suchen sollten. »Einer ist nach Süden und einer nach Osten gegangen, einer fuhr übers Meer, und ich bin nach Norden gekommen.« Der Laird lauschte meinen Worten, und seine Augen standen wie eingelegte Zwiebeln unter seinem gewaltigen Hut vor. Schließlich hob er den Kopf und ließ den Blick durch den Raum gleiten. »Wir haben Perichte«, sagte er, weniger zu mir als zu seinen Gefährten, »die schon alt waren, als hier in Castle Nessie noch mein Urgrossvater, Erik der Kühne, geherrscht hat. Und alle diese Perichte besagen, dass in den Heisslendern niemen mehr lebt, seit 405
Gott die Gentiles verprannt hat. Niemen.« »Die Gentiles?« »Na, Leute wie dich. Du bist kaine Missgepurt, sage ich. Ich sage, du bist ain Malkie, ain Spook, ain Pink, ain Plaichgesicht, ain Goy, ain Stossball, ain milchgesichtiger Narr … Wie soll ich’s dir ploss erkleren?« Er entließ einen zischenden Seufzer, so als hätte sein gewaltiger Körper plötzlich ein Leck. »Du bist aine Person ohne Farwe!« Er wartete auf eine Reaktion von mir, aber als keine kam, wandte er sich dem hellen Kreuz einer Schießscharte zu. »Wo kommst du wirklich her? Und warum schnoperst du in unserm Tal herum?« Ein heikler Augenblick. Jetzt mußte ich ihnen was bieten. Meine ersten Worte waren kläglich, aber dann kam Macbeth mir zu Hilfe: »In Llareggub gibt es hohe Berge genauso wie hier. Und die Seen sind fast genauso tief und lang. Wir wissen von euch nicht mehr, als ihr von uns. Euer Volk und meins sind Inseln jenseits des Horizonts. Wir stehen an gegenüberliegenden Ufern einer See von Verzweiflung. Ach, armes Land! Man kann’s nicht unsere Mutter nennen, nur noch Grab; wo schweres Leid modernes Glück erscheint und gute Männer sterben, eh’ der Strauß an ihrer Mütze welkt.« Ob sie meine feierliche Rede nun wiedererkannten oder nicht, zumindest ließen meine Äußerungen sie 406
zögern. Der Laird blies sich wieder zu seinem normalen Umfang auf und starrte nachdenklich in den Saal, das Ebenbild von Orson Welles. Hinter ihm auf dem Podium standen noch drei weitere, nach den örtlichen Maßstäben reich gekleidete Personen: eine Frau und zwei Männer. Die Frau trat näher an den Thron heran, beugte sich vor, bis ihr Gesicht unter dem Rand des Sombreros verschwand, und flüsterte dem Laird fast fünf Minuten lang etwas ins Ohr. Der Laird nickte mehrmals, und am Ende lächelte er. »Macht ihn los.« Und er streckte mir seine gewaltige Pranke entgegen. »Macbeth von Macbeth.« »David Lambert … Von Lambert.« Seine blutunterlaufenen Augen begannen zu zwinkern, und plötzlich wurden meine Finger in seiner Hand zerquetscht wie ein Stück altes Papier. Die Gewalt kam so unerwartet und bildete eine solche brutale Verletzung von Sitte und Anstand, daß ich die Knochen brechen hörte, ehe ich den Schmerz spürte.
2 Ein nasser, schlammiger Boden. Finsternis. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand, und ob jemals Tageslicht seinen Weg in dieses Loch finden würde. Ich dachte, daß es vielleicht das Verlies unter dem Turm war, wo dir damals der örtliche Historiker, nachdem er seine Frau zum Auto geschickt hatte, seine unappetitlichen Anträge machte. Aber diese Überlegungen kamen erst nach und nach; geweckt hatten mich scheußliche Schmerzen – die Hand war schlimmer als die Brandwunde in meinem Gesicht – und meine erste Sorge bestand darin, das Ausmaß der Beschädigungen zu prüfen. Ich versuchte, mit den Fingern der linken die Knochen der rechten Hand abzutasten, aber das Fleisch war so geschwollen und empfindlich gegen jede Berührung, daß ich nur noch mehr Nahrung für meine Ängste erhielt. Ein Gefangener zu sein, war schlimm genug, aber verletzt zu sein, war viel schlimmer. Ich dachte an das menschenleere England, das mir gehört hatte. Ich dachte an das Lager im Wald, wo ich meine Sachen vergraben hatte, während der kostbaren Stunden, als ich von diesen Leuten schon wußte, aber sie nichts von mir. Warum hatte ich diesen Vorteil und diese Freiheit vergeudet? Ich verfluchte diese Horde von Wilden, wünsch408
te, sie wären genauso tot wie der Rest und ich wieder allein mit meinem leeren Land. Wie gern würde ich hier weggehen, zu meiner Maschine zurückwandern und in eine schöne neue Welt segeln, wo es solche Menschen nicht gab. War das Tanias Schicksal gewesen? Es war lange her, daß ich an sie gedacht hatte. Ihr Verschwinden schien mir jetzt nicht mehr so unerklärlich: sie war irgendwo gelandet, wo es so ähnlich wie hier war – wir sind schließlich, wie du immer gesagt hast, seit jeher Barbaren und werden es auch bis in alle Ewigkeit bleiben. Man hat ihr die Kleider vom Leib gerissen und sie auf der Stelle ermordet. Konnte es nicht so gewesen sein? Tania ermordet, ihre Maschine spinnt sich vor den Augen der verblüfften Mörder in ihren Kokon ein und fliegt in die Vergangenheit zurück? (Naja, so ganz logisch war das wohl nicht. Warum sollten die Eingeborenen Tanias Kleider zurückgeworfen haben in die Kapsel? Aber das ist mir erst später aufgefallen.) Als ich so in meinem Verlies saß, Anita, mußte ich bei dieser Vorstellung von Gewalt vor allem an die Nacht des Frühlingsballs in Cambridge denken. May Ball hieß die Veranstaltung, aber fand sie nicht traditionell erst im Juni statt? (Ach, wie haben wir Engländer solche Dinge geliebt: Mai-Bälle im Juni; Public schools, die privat waren; ein Prince of Wales, der nicht 409
aus Wales stammte, usw. Ich weiß noch, daß Bird immer sagte: Wenn auf einem Schraubschlüssel half-inch steht, und er ist in Wirklichkeit größer, dann kommt er aus England.) Der wahnsinnige Schmerz, den du gespürt haben mußt! Der Schock! Diese erstaunliche Fontäne von Blut! War es das, was dich getötet hat, Liebe? Nicht das vergossene Blut, sondern die Transfusion, die man dir danach verabreichte? Eine Transfusion des schleichenden Todes in deine jungen, blauen Venen? Es hat so viele Tode und schreckliche Fehler in meinem Leben gegeben; viel zu oft habe ich die Zeit am Schlafittchen packen und zur Umkehr zwingen, viel zu oft die hastige, gedankenlose Geschichte neu schreiben wollen. Irgendwie schien Bird von unserer Flucht in den Norden und unseren stillen Tagen in Schottland keine Kenntnis genommen zu haben. Und wenn er doch davon wußte, dann hast du es mir nie gesagt. Nein, er kann eigentlich nichts gewußt haben. Hätte er dich denn sonst mit mir zum Ball gehen lassen? Austern, Kaviar und Wildschweinbraten, die besten Weine und die ganze Nacht hindurch Tanz, eine verträumte Kahnfahrt in der Morgendämmerung, ein kicherndes Bad im Fluß, teils mit, teils ohne Abendkleider, Champagnerfrühstück und so weiter – zu so etwas schickt man doch die Liebe seines Lebens nicht mit seinem besten Freund, wenn man den beiden nicht traut! 410
Oder doch? Wenn man ein Mann wie Bird ist, würde man so etwas tun? Daß er sich die Eintrittskarten nicht leisten konnte, habe ich von Anfang an nicht geglaubt. Wenn Bird Bargeld brauchte, hat er es immer irgendwie auftreiben können. War es Grausamkeit, daß er eine öffentliche Szene suchte? Der Gute hatte ja ein paar ziemlich harte Kanten. Oder wollte er dir damit etwas beweisen? Wollte er dir zeigen, daß er nicht so rettungslos an dir klebte, wie du dachtest? Hast du ihn damals kommen sehen? Oder hat er dich genauso überrascht wie mich? Hattest du schon den Verdacht, er könnte auftauchen? Hast du – entschuldige bitte die Frage – womöglich versucht, Bird deinerseits auch etwas zu beweisen? Wolltest du ein bißchen am Käfig rütteln? Das gelbe Ungeheuer Eifersucht wecken? Wolltest du ihn dazu bringen, daß er seine verdammten Motorräder, seine schlechten Noten und sogar sein Saxophon mal vergißt bei dem Gedanken, er könnte dich an seinen alten Freund David verlieren? Vielleicht können wir eines Tages bei Sonnenuntergang darüber reden, auf einer Marmorterrasse am Nil. Ich wurde von zwei oder drei verschiedenen Wärtern bewacht. Sie kamen stets verhüllt wie Rosenbüsche im Winter. Unterscheiden konnte ich sie nur an ihren Silhouetten, ihrem Geruch und den unterschiedlichen Ge411
räuschen, die sie bei ihrer Arbeit machten. Sie sprachen nie mit mir. Sie traten ein und stellten eine Schüssel mit Brei, einen Maiskolben oder eine Scheibe Haferkuchen hin. In einer Ecke an der Tür stand eine Art Katzenklo: ein Korb mit Sand, daneben eine Handvoll Moos. Diese eher bescheidenen sanitären Einrichtungen wurden täglich erneuert. Bitte frag mich nicht, warum sie sich wegen der Pfütze auf dem Boden so aufführten; das muß wohl ihre Art von Psychoterror gewesen sein. Sie wollten mich kleinkriegen. Diese Burschen waren nicht die Gestapo, aber sie waren ein durchaus überzeugender Ersatz. Ohne Zweifel war mein Stuhlgang Gegenstand wahrsagerischer Bemühungen von Seiten des sogenannten Doktors, der mich von Zeit zu Zeit untersuchte und dabei eine Fülle magischer Substanzen benutzte. Die Hausbesuche dieses Quacksalbers waren die einzigen Gelegenheiten, bei denen ich jemals das Licht sah. Er mußte mich sehen können, und auf diese Weise sah ich auch eine Menge von ihm. Der Mann war eine Mischung aus einem Schreiner und einem Schamanen: Er trug Dreadlocks und schielte (nach außen), er war ständig angetrunken (Whisky) und schleppte eine Werkzeugtasche mit sich herum, die mehr an eine Baustelle erinnerte als an eine Klinik: eine rostige Laubsäge, ein verchromter Klauenhammer (sein ganz besonderer 412
Stolz), eine Pferdespritze, verschiedene geknickte Einmalspritzen, die aussahen, als wären sie irgendwelchen vorzeitlichen Junkies aus den Armen gefallen, eine Fliete, verschiedene Meißel und Stecheisen, ein Kruzifix, ein abgeschabtes Tarotspiel, ein Rektalstöpsel und ein großer Blasebalg, dessen Anwendungsbereiche ich mir auf gar keinen Fall vorzustellen bereit war. Für meine Verbrennung und meine Hand interessierte er sich nur wenig, abgesehen davon, daß sie mir Schmerzen bereiteten. Er sollte feststellen, ob ich ein Mensch war, das war offensichtlich der Auftrag des Lairds. Und so rubbelte der Doktor auf meiner Haut herum und schnupperte an meinem Atem, spähte in meinen Schlund und inspizierte die Ohren, schlug mir aufs Knie mit seinem Hammer und schob mir seinen kalten Meißel in den Hintern. Seine Bemühungen, eine Spermaprobe zu gewinnen, erregten allerdings nur ihn selbst. Am Ende mußte er eine völlig verhüllte Frau holen, um das gewünschte Ergebnis zu erreichen. Ich weiß bis heute nicht, wer es war. Das arme Ding jedenfalls zitterte vor Angst, dennoch gelang es ihr irgendwie, ihre Finger unter Kontrolle zu bringen. Ich überlegte, ob ich ihnen sagen sollte, daß meine Körperflüssigkeiten womöglich giftig sein könnten, aber ich entschloß mich dagegen: eine solche Erklärung hätte meine Behauptung, ein normaler Mensch zu sein, nur geschwächt. 413
Ich denke, am Schluß hat er sich zu dem klugen schottischen Verdikt »bewiesen ist gar nichts« entschlossen. In der siebten Nacht jedenfalls schlief ich im Kerker ein und erwachte an einem viel besseren Ort. Ich lag auf dem Rücken und starrte in einen dunklen Kegel aus Stangen und Dachstroh, der voller kleiner brauner Wespennester und Spinnweben war. Um mich herum erhob sich eine mit Lehm verputzte, weißgestrichene Mauer aus Feldsteinen. Der Putz wies schwarze Schimmelflecken auf. Die Unterkunft hatte einen Durchmesser von ungefähr vier Metern. Sie ähnelte einer afrikanischen Hütte und roch wie eine Scheune. Fenster, Stühle, Kisten oder anderes Mobiliar gab es nicht. Tageslicht drang durch die schmalen Lücken zwischen dem oberen Rand der Mauer und den Dachbalken und durch das Loch in der Tür herein, das mit einer dünnen Pergamentschicht bespannt war. Die Türe selbst bestand aus dicken Bohlen. Ich lag auf einer hölzernen Bettstatt, die mit klumpigen Lamafellen und Binsen bedeckt war und etwa ein Drittel des Raumes ausfüllte. Man hatte mir eine braune Wolldecke über den Körper gezogen. Meine Kleider waren nirgends zu sehen. Ich war über und über mit Insektenstichen bedeckt. Trotzdem fühlte ich mich ausgeruht und war hungrig. Ich stand auf, hüllte mich in die Decke und versuchte, die 414
Tür aufzustoßen. Sie öffnete sich bereitwillig, und vor mir lag der obere Burghof, den ich am Morgen meiner Ankunft nicht hatte sehen können. Dieser Hof gehörte zum ältesten Teil des Schlosses, der Hügelfestung aus der Eisenzeit. Meine Hütte war nicht die einzige auf dem Hof, aber die anderen wurden offenbar nur als Speicher für Mais und Getreide benutzt. Es war früher Nachmittag. Ein Wächter hatte mich entdeckt und rief etwas in Richtung der Küche. Ich setzte mich auf die Bettkante und ließ die Tür offenstehen. Der Wind wirbelte über den Hof, zerzauste das Gras und die Brennesseln unter der Burgmauer und trug eine Welle von chaucermäßigen Gerüchen über die Schwelle: vergammeltes Fleisch und Abfall; Urin, Stroh und Dung; seifigen Koriander, der in den Dachsparren hing. Intime Gerüche, die uns zu unserer Zeit von Kühlschränken, Plastikbehältern und Kanalisationsrohren erspart wurden. Zehn Minuten später kam eine schlanke junge Frau. Sie klopfte, nahm ihren Hut ab, hängte ihn an einen Haken neben der Tür und trat ängstlich herein. »Dain arm Gesicht!« Sie beugte sich über mich. »Ich dachte, sie hätten dich auf der anderen Seite des Sees zurückgelassen«, sagte ich. Sie schien sich zu freuen, daß ich sie wiedererkannte. Meine Haut brannte schmerzlich, als sie die Brandwunde mit Salzwasser abtupfte. Sie sagte, die Männer des 415
Lairds hätten sie »heut am fruen Morn« mit dem Currach geholt. Meine Umsiedlung aus dem Kerker ins bäuerliche Sanatorium war so überraschend für mich, daß ich keine Ahnung hatte, wieviel Zeit vergangen sein mochte. Hatte ich im Koma gelegen? »Was haben wir heute für einen Tag?« fragte ich. Sie sagte, wir hätten Dienstag. »Und wir haben auch immer noch März?« Darauf machte sie einen eigenartigen kleinen Schmollmund und hob eine Augenbraue, so als hätte ich etwas Unangemessenes oder Unverständliches gefragt. Ansonsten schien sie mich aber gut zu verstehen, obwohl unser Gespräch sehr viel mühsamer und aufgrund der ständigen Suche nach geeigneten Synonymen, erklärenden Gesten und Umschreibungen sehr viel umständlicher war, als es jetzt hier erscheint. Sie war nur ungefähr einen Zoll kleiner als ich. Es lag etwas Reserviertes, ja sogar Melancholisches in ihrem Wesen. Ich sagte ihr meinen Namen und streckte die Hand aus, aber sie hielt ihre Hände züchtig gekreuzt vor der Brust. Vielleicht war ein Händedruck zwischen Männern und Frauen nicht üblich. Ihr Name war Mailie – ich erinnerte mich daran, daß sie von den anderen so genannt worden war, als ich noch den Wollsack über dem Kopf hatte. »Einfach nur Mailie?« 416
»Ainfach nur Mailie. Mailie Macbeth.« Eine verlegene Pause. In der Stille hörte ich plötzlich die Wespen: das schwere Dröhnen, wenn sie mit ihrer Last hereinkamen, ihr selbstvergessenes Summen, wenn sie den mitgebrachten Lehm an die Wand klebten. Mir schwindelte bei dem Gedanken, ich könnte wieder einmal alles mißverstanden haben. Hast du je einen Schotten kennengelernt, der sich Macbeth genannt hätte? Ich auch nicht, wenn man von einer Figur im Fernsehen und einem modernen Lyriker mal absieht. Shakespeare hatte den Namen doch ein für allemal so unmöglich gemacht wie Hitler den Namen Adolf. Wie wahrscheinlich war es dann, daß die einzigen Überlebenden in ganz Großbritannien ein schwarzer Klan mit Namen Macbeth waren? »Ist jeder hier ein Macbeth?« »Fast jeder«, sagte Mailie. »Ausser ain paar Macdonalds und Grants. Und den McMalkies in Glen Africa.« »Malkies? Mich haben die Leute doch einen Malkie genannt. Sehen die McMalkies aus wie ich?« Sie lachte. »McMalkies sind von ganz andrer Art als ain Malkie. Lass ploss niemen so etwas hören! McMalkie ist ploss ain Name. Sie sind genau wie wir. Aber du – ich find, du siehst wie Jaisus aus.« Mailie Macbeth war ein kluges Mädchen und ließ sich von meinem schrecklichen Anblick nicht einschüchtern. Trotz der Traurigkeit, die gelegentlich wie ein kühler, 417
nachmittäglicher Wolkenschatten an einem sonnigen Berghang über sie hinzog, war sie sehr lebhaft und temperamentvoll. Sie sagte, sie sei siebzehn und lebe im Haushalt des Lairds. Sie stand sehr gerade und straff wie eine Tänzerin, die Hände noch immer vor der Brust überkreuz. Meine Blicke glitten über ihre hohen Bakkenknochen, ihre Stupsnase und ihr energisches Kinn. Sie hatte ein sanftes, leicht blatternnarbiges, aber keineswegs entstelltes Gesicht. Die Glanzpunkte waren ihr leicht geöffneter, feuchter Mund und das schwarze, in einem langen Zopf bis zur Taille fallende Haar. (Bird hätte sich da bestimmt rasch in die größten Schwierigkeiten gebracht.) Von Natur aus glattes Haar, keineswegs so afrikanisch, wie man hätte denken können. Diese Menschen waren eine sehr gemischte Rasse. »Was ist denn ein Malkie?« fragte ich. Ein langes Schweigen; und ich glaubte schon, sie wolle es mir nicht sagen. Aber sie dachte bloß nach. »Ain Auslender. Ain Waghorn. Ain Sassenach. Aine Art Tuivel.« »Hast du jemals einen gesehen?« »Ich? Nain! Von den Malkies reden nur die Alten.« Sie schüttelte den Kopf, um das Thema zu wechseln. »Ich soll dich futtern, nit redn.« Ich fragte nach meinen Kleidern. Sie verschwand für eine halbe Stunde, aber als sie 418
zurückkehrte, brachte sie mir nicht meine eigenen Sachen, sondern ein Hemd und einen Kilt, wie sie die anderen trugen. Ich akzeptierte beides ohne Protest. Sie brachte auch eine Schüssel mit Eintopf: Kartoffeln, Mais, Zwiebeln, dazu ein paar undefinierbare Fleischbrocken und Kutteln, vermutlich vom Lama. »Aufessen!« befahl sie, als ich ein Stück herausfischte und inspizierte. »Du hast Glück, im Fassenmond so was zu kriegen. Das ist nur, weil du so swechlich aussiehst.« Fastenmond? Wenn sie in der Lage waren, Ostern zu berechnen, dann konnte auch das Datum, das ich in Edinburgh gesehen hatte, einigermaßen korrekt sein. Als sie mich gefangen hatten, war der Mond in seiner zunehmenden Phase gewesen. Also würde Ostern in diesem Jahr spät sein, am letzten Sonntag im April. Ich fragte Mailie, warum gerade sie ausgesucht worden war, um für mich zu sorgen. Was denn mit ihren Lamas sei? »Maine was?« »Deine Herde. Deine Tiere.« »Die Ssafe? For die gibt es Megde g’nug.« Ihr Gesicht verdüsterte sich, und das Lispeln in ihrer Stimme erstarb. »Ang … der Laird hat mir gesagt, ich soll kommen. Ich bin saine … Kussine. Hob hat ihm gesagt, du … naja, du möchtest mir mehr vertraun als ainem andern.« Ich brannte natürlich darauf zu erfahren, warum sich das 419
Verhalten des Klans mir gegenüber so verändert hatte. Warum hatten sie mich überhaupt am Leben gelassen? War es eine politische Frage? Sahen einige mich als Bedrohung und andere als Chance? Hinter Mailies Zögern war ein Hauch von Intrige zu ahnen, aber ich beschloß, nicht weiter nachzuforschen, ehe wir uns nicht besser kannten. »Gibt es denn noch eine andere Art Schafe?« »Welche Art hast du gesehn? Es gibt gesseckte und braune, swarze und solche mit Ringen …« »Nein, ich meine viel kleinere, wollige Tiere, die mäh machen.« Sie kicherte über das Blöken, an dem ich mich versucht hatte, aber dann runzelte sie das Gesicht. Ich sagte, in Wales hätten wir noch eine andere Sorte Schafe als hier, und obendrein auch Ziegen, Pferde, Schweine und Kühe. »Von den’ hab ich gehört. In unserem Puch. Und dann gibts noch Oxen und Esel.« Sie drehte an ihrem Zopf. »Hier haben wir sie nie gesehn. In den Weidern gibts Eber, Wölfe und Löwen.« Die Löwen waren wahrscheinlich Pumas, vermutete ich. Eins der Tiere schmückte ja auch den Laird. Wo es Lamas gab, gab es auch Pumas, das erschien logisch. Graham hätte sicher gern hier gewohnt – aber es hätte wahrscheinlich einen katastrophalen Eindruck gemacht, wenn ich sie dabei gehabt hätte. 420
»Und die Ochsenköpfe in der großen Halle?« fragte ich. Aber ich mußte erst eine ganze Weile erklären, ehe sie mich verstand. »Das sind doch kaine Oxen!« Sie war schockiert und beinahe ängstlich. »Die hat der grosse Macbeth dem Tier abgesnitten.« Der Ton ihrer Stimme machte nur allzu deutlich, daß dieses Ungeheuer mindestens so bedeutsam war wie »das Buch«. Den Inhalt der Sage erfuhr ich von Mailie so nach und nach. Das Tier, auch als Nessie oder Auld Hornie bekannt, lebt im Loch Ness. Ursprünglich hatte es sieben Köpfe. Jede Nacht verlangte einer dieser Köpfe einen Menschen zum Fraß. Aber dann hatte Macbeth der Große das Tier in einen Hinterhalt gelockt und ihm zwei Köpfe abgeschlagen, einen am Sonntag und einen am Samstag. Seither frißt es nur noch Lamas – und auch das nur an Werktagen. Die einheimische Kleidung machte meiner Haut zu schaffen. Ich kratzte mich an der Hüfte und an der Schulter und dachte an Onkel Phil, der im Sessel am Kamin saß und aus der Offenbarung des Johannes vorlas. »Wie ging das noch mal?« sagte ich, mehr zu mir selbst. »Ich sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Häuptern den Namen der Lästerung.« 421
»Sstill! Das darf man ausserhalb der Kirk nit sagen!« Sie raffte ihre Sachen zusammen und rannte davon. Einige Tage lang blieb Mailie meine einzige Besucherin, obwohl ich auch einige andere Leute – Köchinnen, Wächter und ein paar schmutzige Kinder – aus der Entfernung sah, wenn ich die übelriechenden Latrinen in der Außenmauer benutzte. Sie wichen meinem Blick aus und beschleunigten ihre Schritte, aber ich spürte ihre hitzige Neugier im Rücken. Mailie war offenbar die einzige, die keine Angst vor mir hatte. Wie es schien, hatte sie den Auftrag, meine Gesundheit wiederherzustellen, mein Vertrauen zu gewinnen und mich hinsichtlich meiner Identität auszuhorchen. Ich beschloß, mehr von ihr zu erfahren, als ich ihr erzählte; denn ich hatte inzwischen den Verdacht, daß sie keineswegs nur die »Cousine« des Lairds war. Am Ende der zweiten Woche war mein Gesicht fast abgeheilt und meine Hand nur noch wenig geschwollen. Ich konnte jetzt meine Knochen ertasten, und wie es schien, war nur der kleine Finger gebrochen. Ich war begierig, die Stadt zu erkunden, das ehemalige Drumnadrochit, das jetzt Drumnorrit hieß. Deshalb fragte ich Mailie, ob der Laird mir wohl erlauben würde, am nächsten Sonntag mit in die Kirche zu gehen, und sie versprach, ihn zu fragen. 422
Am Samstag vormittag erschienen zwei Wachen vor meiner Tür und begleiteten mich in den Thronsaal. Dort warteten Macbeth und seine Frau, die auf einem etwas kleineren, weniger geschmückten Thron saß. Die Fensterläden an einem der Ostfenster waren geöffnet und ließen etwas Sonne und heiße Luft vom See herein. Lady Macbeth war jünger als ihr Gemahl, etwa Mitte dreißig, sehr aufrecht, ausgezehrt um die Augen: eine schöne Frau, die von einem unstillbaren Hunger gequält wurde. Ihr schwarzes Haar, in dem sich weiße Fäden kräuselten, war zu einem Zopf geflochten und um die Stirn gewunden wie bei einer Griechin. Ihr Schultertuch wurde von einer großen silbernen Brosche mit einer komplizierten piktischen Tierdarstellung gehalten (ein Kunstwerk aus dem achten oder aus dem zwanzigsten Jahrhundert?). Ihr langer karierter Rock reichte bis zu den schwieligen Füßen in Ledersandalen hinunter. Auf ihrem Schoß lag ein asthmatisch keuchender Pekinese – ein Fellmop mit Augen. (Ein Schoßhund mit Stammbaum in dieser Umgebung? Wahrscheinlich ein zufälliger Atavismus.) Die Halle sah nicht mehr ganz so düster aus wie am Tag meiner Ankunft. Ich entdeckte ein paar breite Wandteppiche und ein gräßliches orangefarbenes Cloqué aus einer Hotelbar, das in dieser Umgebung wie eine mittelalterliche Tapisserie aussah. Silbrige CDs – 423
immerhin – waren reihenweise auf die Balken genagelt wie Hufeisen. Über dem Thron hingen ein Wappenschild aus Gips und zwei Metalltafeln mit lesbaren Aufschriften. Auf der einen stand: Das historische Schottland begrüßt Sie auf Urquhart Castle. Zum Son-et-lumière-Parkplatz. Das andere war ein Firmenschild: FORSCHUNGSSTATION GREAT GLEN für Saatgut und Tierzucht Drumnadrochit, Glen Urquhart Für Unbefugte kein Zutritt Auskünfte beim Innenministerium, Inverness Raum 101 »Ich hab beschlossen, mich zu dainen Gunsten zu entscheiden«, sagte die tiefe Stimme hinter dem Bart. »Trotz der gegenteiligen Ansicht mainer Lady« Die Frau des Lairds sah mich wütend an. »Du wirst mit in die Kirk gehen, als main Gast. Aber wenn du den Mund aufmachst oder kainen Respekt zeigst, dann bist du ain toter Malkie. So, und jetzt sag uns, was du hier willst.« Er lehnte sich erwartungsvoll zurück, und das Holz unter ihm ächzte wie ein altes Schiff unter seinem Gewicht. Meine Augen schweiften zu dem Wappenschild über seinem Kopf hinauf, das wesentlich besser erhalten war als sein verwittertes Gegenstück draußen. Die Ochsenköpfe saßen auf Dra424
chenhälsen mit Schuppen, und unter dem Motto Sleep No More stand in großen Buchstaben: LANG LIV MACBEATH. Dieselbe eigenartige Schreibweise, die ich von den Graffiti her kannte: Mac Beath Squad. Lady Macbeth (oder MacBeath, aber die klassische Form ist mir lieber) rückte ungeduldig herum und seufzte. Der Hund sprang von ihrem Schoß. Mit einem scharfen Ruck war ich wieder im Hier und Jetzt. »Mit Erlaubnis Eurer Lordschaft«, sagte ich, »würde ich gern eine Weile bleiben und das Erfolgsgeheimnis von Glen Nessie studieren, ehe ich nach Llareggub zurückkehre. Wenn es Euch gefällt, werde ich meinem eigenen Herrn empfehlen, zwischen den beiden Königreichen Beziehungen aufzunehmen« (die großspurige Ausdrucksweise schien dem Laird zu gefallen). »Wir könnten Saatgut und Haustiere anbieten, die Glen Nessie nicht hatte …« »Seid ihr Christen?« »Oh, ja! So gläubig, wie Ihr nur wollt. Wir gehen nicht nur sonntags, sondern jeden Tag zur Kirche.« Er sagte, er halte auch jeden Tag einen Gottesdienst ab. Ich könne ja gern einmal kommen, der größte Teil seiner Gemeinde könne sich allerdings nur einmal wöchentlich aufraffen. Er winkte zwei Wachen mit ledernen Hüten. »Zeigt ihm die Krypt, dann pringt ihn nach Hause.« 425
Dann wandte er sich wieder mir zu. »Wir peginnen jetzt mit dainer Erziehung. Irgendwelche faulen Tricks, und du endest wie die Scheisskerle im Keller.« Ich versicherte ihm, ich würde keine Tricks versuchen, und fügte hinzu, beim ersten Mal, wenn ich in die Kirche ginge, müsse mich jemand begleiten, damit ich mich nicht versehentlich respektlos benähme. Ich dächte da zum Beispiel an Mailie. Der Laird nickte und wandte sich dann mit einem leichten Zögern an seine Gemahlin. Mir fiel ein Muttermal an ihrem Kinn auf, das aussah, als ob sie es gerade blutig gekratzt hätte. Die Männer führten mich in den Keller unter dem Burgfried. Ihr Schweiß und die ungewaschene Wolle auf ihren Körpern erfüllten die stickige Luft auf der Treppe mit einem strengen Geruch. Am unteren Ende der Wendeltreppe sanken meine Zehen in weichen Lehmboden (meine Schuhe hatte mir Mailie nicht zurückgeben dürfen). Der vorderste Wächter pflanzte seine Pechfackel auf, und bald erfüllte schwarzer Rauch das Gewölbe. Er sammelte sich über unseren Köpfen und suchte vergeblich nach einem Abzug. Ich bin sicher, du kannst dich an diesen widrigen Ort mit seinen zahllosen aufgeweichten Papiertaschentüchern und dem beißenden Pissoirgeruch gut erinnern. Jetzt war in der Mitte des Raumes eine adrette Pyramide aus menschlichen Schädeln errichtet, von denen einige wie Straußeneier im Licht 426
glänzten, während andere mit Fledermauskot bedeckt waren. Irgendwelcher Verwesungsgeruch lag nicht in der Luft, die Schädel mußten schon alt sein. »Malkies, nehme ich an?« Der Wächter nickte und warf mir einen trotzigen Blick zu. Ein zahnloses Piratenlächeln voller Stolz und Drohung überzog sein haariges Gesicht. »Aye, Malkies. Und ain paar Macdonalds, hab ich gehört.« »Das ist aber sicher schon eine Weile her, seit der letzte dazugelegt wurde?« Die sollten sich bloß nicht einbilden, sie könnten mich mit diesem politischen Schmierenstück einschüchtern. Diese blanken Schädel erschreckten mich wenig. So etwas war doch schon zu unserer Zeit ein Klischee – man denke nur an die Totenköpfe auf den SS-Uniformen. Es interessierte mich allenfalls, was diese Pyramide über das dunkle Zeitalter aussagte, das ich übersprungen hatte. »Aye, lange Zeit. Du pist der erste seit den Tagen von Macbeth dem Kuehnen. Falls du ain Malkie pist, um Vergebung.« »Wie lange wäre das her?« »Es gibt kain Lebenden, der sich daran erinnert.« »Aber wir sind jederzeit pereit!« sagte der andere und schüttelte seinen Knüppel. »Aye.« Eine Pyramide von ungefähr zwölf Fuß in der Breite 427
und Länge, mit einer Höhe von acht Fuß. Wieviel Schädel mochten das sein? Ungefähr tausend? Das mathematische Problem überstieg meine Fähigkeiten. Soweit ich sehen konnte, kamen die Schädel von kräftigen Erwachsenen. Wahrscheinlich waren es Gefallene oder Kriegsgefangene. Viele waren von Keulen oder Äxten zertrümmert. Am Sonntag brachte mir Mailie noch einen alten Hut, um meine örtliche Tracht zu ergänzen, dann machten wir uns auf den Weg in die Kirche. Die stickige Luft des Burghofs mit seinem eingeschränkten Horizont und dem jahrhundertealten, drohenden Mauerkranz endlich einmal zu verlassen, durch das Trilithon aus Stahl auf den Abhang hinauszutreten und die Wiese hinunterzugehen, war herrlich. Am liebsten wäre ich wie ein junger Hund durch die Karosserien-Allee des Lairds getobt, ohne auf meine bloßen Füße zu achten. Mailie allerdings ging würdigen Schrittes, und ich paßte mich an. Wir kamen an dem Steg vorbei, wo ich an Land gebracht worden war. Abgesehen von einem halben Dutzend Currachs und ein paar hoffnungsvollen Pelikanen lag er jetzt gänzlich verlassen. Mauerschwalben verließen ihre Nester unter den Pechnasen des Burgfrieds und stürzten sich auf die Moskitos über unseren Köpfen. Banquos kirchenliebende Schwalben! 428
›Wo der gern haust und heckt, hab ich bemerkt, dort ist die Luft sehr lind‹, sagte ich und dachte: Daß sie einmal so lind werden könnte, hat sich Shakespeare wohl schwerlich vorstellen können. Die Urquhart Bay war ein spiegelnder, mit dunklen Booten besetzter Schild. Es hatte nachts geregnet, aber die Sonne war schon wieder sehr stark. Umgedrehte Einbäume lagen wie Seelöwen auf dem Halbrund des Ufers und verströmten leichten Fischgeruch. Der Wasserstand im Loch Ness ist ungefähr um drei Meter gefallen. Man erkennt es an den alten Ufermauern, die jetzt auf dem Trockenen liegen, und am Neuland unterhalb des alten Niveaus. Das Mündungsdelta des Urquhart ist nicht länger mit Bäumen bestanden, und auf dem Weg zum Ufer gibt es kaum Schatten. Der Laird will seine Leute sehen, und er will, daß sie ihn sehen. Abgesehen von einer Reihe Königspalmen am Strand, gab es nur die Avokados, Macadamien und Zitrusbäume, die zwischen den schmalen Maisfeldern wuchsen, die Mailie als »Rundales« bezeichnete. Ob das Ackerland dem Laird oder den Leuten, einzelnen Besitzern oder dem Klan gehörte, konnte Mailie nicht richtig erklären. Die Frage erschien ihr offenbar merkwürdig. Ich vermute, in der Praxis ist der Unterschied nicht so wichtig: In einer menschenleeren Welt ist das ängstliche Streben nach Besitz wahrscheinlich abgeflaut, und der Drang 429
zum Zerstören von Grenzen ist genauso verrostet und vergessen wie alles andere. Angebaut wurden Mais, Bohnen und Kürbisse, die drei amerikanischen »Schwestern«, bei denen die Bohnen den Stickstoff binden und sich an den Maisstauden hochranken, während die Kürbisse das Unkraut niederhalten. Der Mais stand in Blüte, sah aber trotzdem kläglich aus. Die höchsten Spitzen reichten mir allenfalls bis zur Schulter. Das war nicht die üppige Pflanze, wie wir sie kannten. Auf den Feldern war niemand zu sehen, und auch die Gottesdienstbesucher aus dem Schloß hatten ihren Aufbruch offenbar so geplant, daß sie uns nicht über den Weg liefen. Raben schrien unverschämt aus den Redwoods am Berghang, und weit oben kreiste ein Adler. Von irgendwo war Dudelsackpfeifen zu hören. Nach all der Verlassenheit, die ich gesehen hatte, wirkte Drumnadrochit wie eine Großstadt auf mich – ich fühlte mich bedrängt und beengt von den Leuten, von den überall herumrennenden Kindern und bellenden Hunden. Das Schloß ist bizarr, aber nicht sonderlich überraschend, mehr oder weniger, was man vom Sitz eines Kriegsherrn der Postmoderne erwartet. Aber die Stadt ist anders, sie erinnert in allem an die Städte, wie wir sie gekannt haben, und sie ist gerade deshalb so herzzerreißend, weil sie zur Hälfte bewohnt und zur Hälfte zerstört ist. 430
Wir wanderten durch schlammige, in der Sonne dampfende Straßen. Bougainvillea wucherte über die Mauern der Gärten, wo man Orangen- und Zitronenhaine erblickte. Die Leute schlurften auf schwieligen Füßen zur Kirche. Mit ihren Ponchos aus handgesponnener Wolle sahen sie aus wie Weihnachtsbäume mit Hüten. Ein paar grinsten ängstlich, wenn sie Mailie sahen, und warfen mir einen hastigen Blick zu. Ein paar halbwüchsige Knaben mit harten Augen und wilden Haaren waren allerdings etwas kühner. Sie stimmten zur Melodie von ›Here we go round the Mulberry Bush‹ einen Spottgesang an: What’ll ye dae when the wee Malkies come? What’ll ye dae when the wee Malkies come? Und so ging es hundert Meter lang weiter, immer und immer wieder dieselbe Zeile. Mailie starrte zornig geradeaus, mit geröteten Augen und Tränen auf den Wangen. Die meisten Häuser sind alt, und viele stehen leer – die Balken und Strohdächer verfaulen, die Gärten bersten von Sonnenblumen, Akaziensträuchern und Agaven. Geht die Bevölkerung auch jetzt noch zurück? Nein, Mailie bestritt das. Sie sagte, die Häuser würden immer verlassen, wenn das Familienoberhaupt starb, und eine Generation später von den Enkeln wieder neu aufge431
baut. Ein junges Paar braucht bloß genug Freunde und Verwandte zusammenzutrommeln, das Gestrüpp zu roden, die Steine neu anzustreichen und ein neues Dach zu errichten, wenn es ein eigenes Heim haben will. Wohnungsmangel gibt es also bestimmt nicht. »Da hat der alte Griffe gewohnt«, sagte Mailie, als wir an einem kleinen Bauernhof aus Balken und Feldsteinen vorbeikamen. Die Dachsparren waren noch gut erhalten, auch wenn das Stroh weg war. »Neununddreissig ist er geworden. Kaine Frau, kaine Kinder. Wirklich aine Ssande. Er hatte zwischen den Painen aine … Geswulst.« Sie beugte sich so dicht zu mir heran, wie es unsere Hüte erlaubten, und senkte die Stimme. »Es heisst, er hat saine Klouten im Sack herumtragen müssen. Jahrelang! Im letzten Sommer wollte er dann nit mit uns in die Perge. ›Freunde‹, hat er gesagt, ›ich will, dass ihr was for mich tut: Reisst das Stroh von mainem Haus, damit ich hier vom Pett aus die Sterne sehn kann.‹« Sie nahm den Hut ab, legte den Kopf zurück und blinzelte in die Sonne. »Vier Monde speter kam’ wir wieder zurück, und Griffe war immer noch da. Lag auf dem Rücken, nur noch Knochen! Aber es heisst, er hette gelechelt.« Ich dachte: Mit neununddreißig schon alt? Wilde Wellensittiche zwitscherten in den Gärten, und vom Stadtrand kam das Scheppern einer alten Glocke. Ich hatte Schwierigkeiten, das heutige Dumnorrit mit 432
dem flüchtigen Eindruck in Einklang zu bringen, den wir damals hatten. Die heute benutzten Wege stimmen mit den Trassen der alten Teerstraßen nicht überein, die offenbar vor langer Zeit gesperrt und aufgerissen worden sind. Auch die Hauptdurchgangsstraße oben am Berghang ist schon vor Jahrhunderten mit kalifornischen Redwoods bepflanzt worden. Viele davon sind in der Zwischenzeit gefällt worden, oder abgestorben durch die Erwärmung, aber die Überlebenden sind immer noch eindrucksvoll. Mailie erzählte, daß sich der Klan nach der Ernte zu Beginn des Sommers in verschiedene höhergelegene Täler zurückzog, besonders in den »Glen Africa«, wo der Laird auf einer Insel in einem abgelegenen See sein Sommerhaus hatte. (Wahrscheinlich meinte sie den ehemaligen Glen Affric, der westlich des Urquhart liegt. Erinnerst du dich noch? Wir sind damals hinaufgefahren, um ein Steinzeitgrab und die letzten Reste des schottischen Urwalds zu sehen.) Dort oben bauen die Leute auf kleinen, terrassierten Feldern in Höhenlagen bis zu tausend Metern Kartoffeln, Yamswurzeln und ein nussiges Getreide an, das sie Kinoo nennen, während die halbwüchsigen Kinder und jungen Leute wie Mailie auf den kühlen Weiden am Ben Attow und Ben Nevis das Vieh hüten. Der Great Glen wird zwischen Mai und September zu heiß, trotz der mäßigenden Wirkung von 433
Loch Ness. Nur wenige Angehörige des Klans – vor allem die Alten, die den sommerlichen Umzug strapaziöser finden als den Aufenthalt in der Hitze – bleiben zurück, um die wilden Tiere aus der Stadt und dem Schloß fernzuhalten. Die Kirche war nicht ganz, was ich erwartet hatte. Ich konnte mich an die damalige Kirche der Stadt nicht erinnern, lediglich an die kleine Kapelle, die zu einem Bed-and-Breakfast umgebaut worden war. Aber Mailie und die anderen Gottesdienstbesucher strebten auf ein hochgetürmtes Sandsteingebäude mit zahlreichen Giebeln und Schornsteinen zu, das in beherrschender Lage am Hang lag. Wir gelangten auf einen unregelmäßigen Platz mit Überresten einer Asphaltdecke. Erst da fiel mir ein, woher ich die viktorianischen Erkerfenster und den vage jakobinischen Stil kannte: Es war das alte Drumnadrochit-Hotel an der Straße nach Inverness! Als du und ich hier waren, beherbergte es die Official Loch Ness Monster Exhibition. Wenn ich mich recht erinnere, haben wir deren Attraktionen seinerzeit widerstanden, abgeschreckt von einem Plesiosaurus aus Zement, der in einem Springbrunnen neben dem Busparkplatz plantschte. Der gesamte Nordflügel des Hotels ist nicht mehr vorhanden. Die Bresche ist zugemauert worden wie 434
eine Amputationsnarbe, und was übrig ist, ähnelt einer überdimensionalen Doppelhaushälfte. Der Erhaltungszustand des übriggebliebenen Teils ist recht gut. Das Dach ist schiefergedeckt, und in den wichtigsten Fenstern ist Glas. Es handelt sich zwar nicht um die Originalscheiben, aber sie haben offenbar zusammengekratzt, was sie fanden, und in bleierne Rähmchen gegossen. Das Glockenläuten war ohrenbetäubend aus dieser Nähe. Die Glocke selbst hing in einem Holzgestell auf dem Balkon in der Fensterfront; sie wurde ähnlich wie bei den Japanern mit einem horizontal aufgehängten hölzernen Klöppel geläutet. Ich war mittlerweile recht müde – der Weg vom Schloß war immerhin zwei Meilen weit, und ich hatte seit zwei Wochen kaum Bewegung gehabt. Aber als ich den Laird mit seinen gewaltigen Fleischmassen und seinem Sombrero auf dem Balkon stehen und den Glockenstock schwingen sah, mußte ich mir auf die Lippen beißen, um nicht laut herauszuplatzen. Der Anblick war unglaublich komisch. An der Tür blieben die Leute stehen, um uns den Vortritt zu lassen. Über dem Eingang konnte ich ein verwittertes Datum erkennen: AD 1882. Bänke oder sonstiges Gestühl gab es nicht in der Kirche, nur Schilfmatten und eine Lage trockenes Gras auf den Steinplatten. Die Gottesdienstbesucher begrüßten sich mit leisen 435
Worten, mit einem Lächeln und einem Nicken, legten ihre Hüte alle auf einen Haufen, bewegten sich zu ihren angestammten Plätzen und hockten sich in ordentlichen Reihen im Schneidersitz auf den Boden. Mailie führte mich zu einem Platz ganz vorn. Sie forderte mich auf, alles genauso zu machen wie sie und drückte mir aufmunternd die Hand, als wir uns setzten. »Kommt deine Familie auch?« fragte ich leise, und sie legte ihren Finger auf den schönen Mund. Es waren ungefähr vierhundert anwesend: Männer, Frauen und Kinder, deren feierlicher Ernst immer wieder von Babygeschrei und dem Winseln einsamer Hunde auf der Straße akzentuiert wurde. Pläng, pläng, pläng – immer wieder unterbrach die dumpfe Stimme der Glocke die leisen Schritte der Erwachsenen, die Balgereien der Kinder und das hirnlose Kollern eines Truthahns im Hof. Lady Macbeth und Kenneth, die ich als potentielle Feinde sah, waren nicht anwesend. Auch viele andere fehlten, aber Mailie hatte mir gesagt, das sei nichts Besonderes. Sie würden wahrscheinlich zum Abendgottesdienst kommen. Wie es scheint, haben Stadt, Schloß und Umgebung ungefähr zweitausend Einwohner. In Aussiedlerhöfen und kleinen Weilern mögen noch einmal zweitausend wohnen. Manche Familien bleiben das ganze Jahr über 436
»up glen« in den Bergen, ein paar verbringen den größten Teil ihrer Zeit auf der Jagd, andere haben kleine Siedlungen am Rand von Inverness bezogen, wo sie in den bei Flut zur Hälfte unter Wasser stehenden Ruinen nach Metall, Plastikmaterial, Glas und Artefakten schürfen. Farbige Kunststoffe, die nicht spröde geworden sind, werden wie Bernstein bearbeitet. Viele Frauen tragen tropfenförmige Ohrringe und Perlenketten aus Plastik. Auch Mailie trug zwei rote Kronenkorken im Ohr, die Macbeth ihr geschenkt hatte und auf die sie sehr stolz war. Alles in allem höchstens fünftausend Menschen. Fünftausend von fünfzig Millionen. Wenn die Weltbevölkerung überall so gefallen ist, dann hat sich unsere Zahl wieder auf denselben Stand reduziert wie zu der Zeit, als wir noch auf die Mammutjagd gingen. Ich glaube, ich hatte irgendeinen strengen presbyterianischen Ritus erwartet. Aber die Kirche war üppig mit geradezu katholischem Schmuck ausgestattet: Es gab einen schön verzierten, allerdings an einer Seite angesengten Lettner, ein Taufbecken und eine neogotische Kanzel aus Sandstein mit leicht beschädigten Reliefs. In den Fenstern glühte rotes und blaues Glas. Besonders auffällig war eine Reihe von fünf monolithischen Säulen aus poliertem rosa Granit, die in der Mitte des Haupt437
schiffs standen und das schwere Dachgerüst trugen. Diese Säulen mußten schon vor langer Zeit hergebracht worden sein, als es noch Maschinen oder zumindest viel mehr Arbeitskräfte gab als heute. »Es heisst, wir hetten früher aine andre Kirk gehabt, die stand unten am See«, flüsterte Mailie. »Aber dann kamen die Malkies, an ainem Sonntag, als alle Leute drin waren, in ainem grossen, feuerspeienden Ssiff. Das Feuer flog in die Kirk und brannte sie nieder. Mit allen Frauen und Kindern, die drin waren! Danach, als Cassel Nessie gegen Cassel Reekie marschierte, haben unsere Menner immer gesrien: For die Kirk! For die Kirk!, wenn sie ainen Malkie erslugen.« Auch der Gottesdienst zeigte Anklänge an eine der Hochkirchen und leitete sich vermutlich von der Schottischen Episkopalkirche ab. Der Laird las aus dem Gebetbuch der Anglikanischen Kirche, der guten alten elisabethanischen Fassung, die auch Onkel Phil (das muß man ihm lassen) heimlich sehr schätzte, obwohl sein Bischof natürlich verlangte, daß er die dünnblütige moderne Fassung benutzte. Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt. Der HErr behütet dich, der HErr ist dein Schatten über deiner rechten Hand, 438
Daß dich des Tages die Sonne nicht steche, noch der Mond des Nachts. Ehre sei dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist. Wie es zu Anfang war, wie es ist und immer sein wird: Welt ohne Ende. Amen Kein Wunder, daß sie keine Probleme hatten, mich zu verstehen, wenn sie jede Woche das kraftvolle Englisch aus der Zeit vor tausend Jahren hörten. Ohne Hut war Macbeth eine äußerst eindrucksvolle Gestalt. Er führte seine Gemeinde durch Gebete und Lieder, packte das mit einem steinernen Adler geschmückte Pult mit den Fäusten und donnerte von der Kanzel herunter. Seine Augen waren schmerzlich gerötet, und seine Stimme dröhnte wie eine Lawine. Er las aus einer King-James-Bibel. »Jesaia, Kapitel Vierundzwanzig«, rief er und warf mir einen prüfenden Blick zu, ehe er seine Augen auf das Buch senkte: Siehe, der HErr macht das Land leer und wüste, und wirft um, was drinnen ist, und zerstreuet seine Einwohner. Das Land wird leer und beraubet sein; denn der HErr hat solches geredet. Das Land stehet jämmerlich und verderbt; der Erdboden nimmt ab, und verdirbt; die Höchsten des Volks im Lande nehmen ab. Das Land ist entheiligt von seinen Einwohnern; denn sie 439
übertreten das Gesetz und ändern die Gebote und lassen fahren den ewigen Bund. Darum frisset der Fluch das Land; und die darin wohnen sind verzweifelt. Darum verdorren die Einwohner des Landes, also daß wenig Leute übrigbleiben. Eitel Wüstung ist in der Stadt blieben, und die Thore stehen öde. Verlasset euch auf den HErrn ewiglich; denn Gott der HErr ist ein Fels ewiglich. Und er beuget die, so in der Höhe wohnen; die hohe Stadt niedriget er, ja, er stößet sie zu der Erde, daß sie im Staube liegt. HErr, unser Gott, es haben wohl andre Herren über uns geherrscht denn du; doch sie sind tot, sie werden nicht leben, sie sind abgestorben und stehen nicht auf; denn du hast sie heimgesucht und zunichte gemacht all ihr Gedächtnis. Du hast das Volk vermehrt, O HErr, du hast das Volk vermehrt! An dieser Stelle fiel die Gemeinde ein und wiederholte den letzten Vers: Du hast das Volk vermehrt, O HErr, Du hast das Volk vermehrt! Ruhm und Ehre, Du hast alle Grenzen des Landes erweitert. Wunschdenken. Nach seiner Lesung hob der Laird den Blick, und sein 440
Atem brodelte in den Nüstern. Er blieb eine Weile stumm stehen, als ob er unsicher wäre, wie er anfangen sollte – aber das war nur eine Methode, die Aufmerksamkeit seiner Gemeinde zu steigern. »Wie manche von euch wissen und andre jetzt gesehn haben, ist ain fremder Wanderer zu uns gekommen. Aus den Wolken von jenseits der Berge. Aus dem Süden, aus den Heisslendern, durch das Land von Qual und Angst, woher die Löwen kommen, die Viper und die feurige, fliegende Schlange. Wir wissen nur, was er uns sagt. Wir wissen nichts von dem Ort, von dem er erzelt – von sainer Heimat an ainem andern See, in andern Hügeln als unseren. Manche von euch mögen sagen, dass unser altböser Feind ihn geschickt hat, andere werden sain helles Haar und saine weisse Haut betrachten und sich sagen, dass er vielleicht ain Bote des HErrn ist. Denn ist er nicht so schön wie Unser Lord of the Loch?« Er machte eine Pause, um die Wirkung seiner Anspielung noch zu verstärken. Die Gemeinde seufzte verwirrt und verzückt. »Er ist erst kurze Zeit bei uns. Die Bedeutung sainer Ankunft ist noch unklar, aber erinnert euch: Der HErr hat uns gesegnet und unsere Feinde zu Boden geworfen, so dass sie seit über hundert Jahren nicht mehr gegen uns kamen. Ich frage euch also: Würde uns der HErr 441
jetzt ainen Feind schicken, der schwach und waffenlos und so plaich ist, dass er sain Gesicht nicht in der Dunkelheit verbergen kann?« Wieder eine Pause; wieder ein kollektives Einatmen. »Unser Besucher sagt, dass er unter der Haut genauso ain Mensch ist wie wir, geschaffen als Gottes Ebenpild, das den HErrn lobt. Er sagt, er sei ain verlorener Bruder, der Hilfe bei uns sucht. Ich frage euch, würde auch nur ainer von euch ainen verlorenen Bruder von sainer Tür weisen?« An dieser Stelle sah der Laird mit traurigen Augen auf seine Gemeinde und wartete, bis hier und da empörte Rufe wie Nain! und Pfui, Schande! erschallten. »Und deshalb sage ich euch: Dieser Fremde ist ain Gast unter uns. Niemand soll ihm etwas zuleide tun, solange er uns nichts tut. Kainer werfe den ersten Stein. Macbeth von Macbeth heißt Lambert von Lambert in unserer Mitte willkommen. Wir begrüßen ihn hier beim Volk des HErrn in Glen Nessie!« Der Laird ließ seine blutunterlaufenen Augen väterlich auf mir ruhen und lächelte freundlich. Anschließend mußte ich das Heilige Abendmahl nehmen, was ich mein Lebtag noch nicht getan hatte (in meinem Widerwillen gegen Onkel Phil hatte ich eine Konfirmation strikt verweigert), und die geheuchelte Ergriffenheit erfüllte mich mit den übelsten Vorahnun442
gen. Ich forderte das Schicksal heraus. Aber der Weg zu ihren Herzen war nun einmal die Religion, und man muß sich in sein Schicksal fügen, wie die Leute vom Ness sagen. Auch bei der Kommunion herrschte im wesentlichen der anglikanische Ritus, nur daß die Oblate aus Maismehl und der Wein ein ziemlich stark verdünnter Whisky von allerdings hervorragender Qualität war – mild und dunkel und ein klein wenig modrig. So etwas Gutes konnte unmöglich selbstgebraut sein. Irgendwo im Glen mußte es ein Versteck mit fünfhundert Jahre altem Whisky geben, der allerdings leider für den rituellen Gebrauch reserviert war. Das Kurioseste war der Kelch: ein langstieliges Martiniglas, Waterford, circa 1950.
3 Ich machte es mir zu Gewohnheit, die Kirche so oft wie möglich zu besuchen. In der Regel ging Mailie mit mir, und wir saßen immer in der ersten Reihe, so daß ich kaum beobachten konnte, wer sonst noch da war. Einoder zweimal spürte ich das feindselige Auge von Kenneth im Nacken, aber auf Hob, der mich über den See gerudert hatte, stieß ich noch öfter. Ob sie ein Liebespaar waren, wollte mir Mailie nicht sagen, aber er war mit Sicherheit der einzige, der sie jemals liebevoll ansah. Wenn wir durch die Stadt gingen, fragte ich sie immer wieder, wo ihre Eltern wohnten und welches ihr Haus sei, aber sie stellte mich weder ihrer Familie noch irgendwelchen anderen Bürgern je vor. Meinen Fragen wich sie leichtfüßig aus und erzählte mir statt dessen lieber irgendwelche Geschichten wie die vom alten Griffe mit den geschwollenen Hoden. Aber auch daraus gelang es mir, ein Bild der Gesellschaft zu destillieren, die mir so fremd und zugleich so vertraut war. Du und ich, wir haben uns für Sozialanthropologie nie sehr interessiert, oder? Leere Paläste haben uns mehr interessiert als Hütten voller Ungeziefer, saubere Knochen schienen attraktiver als das schmutzige Fleisch. Aber hier im Tal wurde ich wider 444
Willen zum Ethnographen. Um zu überleben oder um zu entkommen, mußte ich die Rolle akzeptieren und ausfüllen. Überdies war ich von den Folgen meiner Reise ohnehin so überrascht und verwirrt, daß ich auf dogmatische Unterscheidungen zwischen toten und lebenden Welten, zwischen Vergangenheit und Zukunft, Prophetie und Geschichtsschreibung nicht mehr in gleicher Weise bestehen mochte wie früher. Mailies Erzählungen bewiesen, daß der Glen eine abergläubische, streng gemeinschaftlich und asketisch organisierte Stammesgesellschaft beherbergte. Nur der Laird, seine Frau und seine engsten Gefolgsleute erhoben sich über den Rest der Bevölkerung, und auch das wohl mehr aus Tradition als aus Notwendigkeit. Vor Jahrhunderten, als die Bürgerkriege noch tobten, waren die Stammesmitglieder vermutlich noch zahlreicher, und es bedurfte einer stärker gegliederten Hierarchie. Der Neo-Macbeth-Klan war durch einen langen Kampf mit einem rücksichtslosen Feind geformt worden. Über diesen Kampf hatten sie sich definiert, daraus war ihr Überleben erwachsen. Genau wie das Schloß ist der Laird ein Überbleibsel einer kriegerischen Vergangenheit, heute zwar überholt, aber doch der Amboß ihrer Kultur. Auch heute noch fürchten sie Angriffe aus dem »Feindesland«, auch heute noch glauben sie, daß sie nur die göttliche Gnade vor den barbarischen Teufeln jen445
seits der Berge beschützt. Kein Wunder, daß sie mehr Altes als Neues Testament lesen. Du und ich, wir wissen, daß es keine Malkies mehr gibt. Vielleicht gibt es irgendwo im Norden oder Westen der Britischen Inseln noch andere Menschen, aber ich bezweifle es stark. Andererseits haben Mailie und andere gelegentlich die Macdonalds erwähnt, und der Laird zeigte mir eines Tages sogar die Überreste eines wohlbekannten gelben Doppelbogens aus Plastik und erklärte, das sei die Kriegsstandarte des Lords von den Inseln gewesen. Ist es denkbar, daß während der eigenartigen Renaissance historischer Traditionen und ethnischer Ressentiments, die sich in der Zerfallsphase des Staates in Großbritannien ausbreitete, tatsächlich eine rivalisierende Guerillabande das Markenzeichen der Fast foodKette als Wappen benutzte? Oder schiebt sich die Vergangenheit in ihren Köpfen einfach zu einem unentwirrbaren Knäuel zusammen, so daß die alten Feinde und die Hamburgerkette zu einer unauflöslichen Einheit verschmelzen? Aber selbst wenn die alten Feinde inzwischen verblaßt sind, gibt es doch zahlreiche aktuelle Gründe zur Sorge. Mailies Erzählungen waren voll von Totgeburten, Krankheit, Hungersnöten, frühem Tod und ausgestorbenen Familien. Sie führen das kurze, harte Leben von Bauern. Wenige werden älter als fünfzig, in kaum einem 446
Haus wird nicht um Eltern oder Kinder getrauert. Fruchtbarkeit ist ihnen so wichtig, daß sie über Polygamie und Polyandrie mit Nachsicht hinweggehen. Wenn ein Ehepartner unfruchtbar ist, wird das Nötige oft genug von einem jungen Mann oder einer jungen Frau übernommen. Solche Arrangements mit »Cousins« und »Cousinen« werden öffentlich kaum je erwähnt, aber die Leute wissen über die subtilen Beziehungen zwischen manchen Männern und ihren Stellvertretern im Bett ebenso Bescheid wie über das Verhältnis zwischen manchen Frauen und den jungen Mädchen, die ihr Kind getragen haben. Mailie erzählte allerdings stets nur von anderen; von sich selbst oder Hob sprach sie nie. Vielleicht waren sie und Hob die großen Hoffnungen des Lairds (irgendwelche Königskinder hatte ich nirgends im Umkreis des Schlosses gesehen), aber natürlich durfte niemand erwähnen, daß der edle Stamm von Macbeth solcher Hilfe bedürftig sein könnte. Womöglich war das Mailies großes Geheimnis. Jetzt, wo ich mich etwas freier bewegen konnte, war das Leben in Castle Nessie gar nicht mehr so schlecht. Etwas Abstand zu gewinnen entsprach durchaus meiner einsiedlerischen Natur. Andererseits konnte es auch riskant sein, wenn ich mich so isolierte und die Meinungsbildung in der Stadt und im Schloß nicht verfolgte. Das 447
einzige, was mich körperlich störte, war der Schmutz. Für Hygiene interessierten sich die Angehörigen des Klans nicht übermäßig. Ich mußte mehrfach um Erlaubnis bitten, ehe der Laird mir gestattete, im See zu baden. Er konnte partout nicht einsehen, warum jemand so etwas tun wollte. Eines herrlichen Nachmittags wanderte Mailie mit mir zu einer flachen Bucht im Westen unterhalb der alten Uferstraße hinaus, wo mein weißer Arsch weder eine Menschenmenge noch das Ungeheuer Auld Hornie anlocken würde. Der See nippte leise über den Kiesstrand, und die Berge am Horizont glühten in der Sonne wie reife Äpfel. Ich schaute begierig auf die Palmen am anderen Ufer, auf den moosgrünen Waldsaum und einen weiß gischtenden Wasserfall in den Felsen. Da drüben winkte die Freiheit. Ich brauchte bloß über die Monadliath-Kette nach Edinburgh und weiter nach England zu wandern, dann kamen irgendwann London und Graham, Canvey Island und Tanias Zeitkapsel. Die Maschine war inzwischen sicher aufgeladen und bereit für eine weitere Zeitreise. Tausend Jahre? Ich zog mich aus, ging ins Wasser und kraulte los wie ein australischer Schwimm-Star. Aber meine Hand tat immer noch weh, so daß ich nicht mit aller Kraft paddeln konnte, und mein ganzer Oberkörper war durch die erzwungene Muße der letzten Wochen geschwächt. 448
So beschränkte sich meine Vorführung auf ein paar Meter. Heute, dachte ich, geht es nicht, aber irgendwann schwimme ich einfach immer weiter. Ich stoppte, trat Wasser und sah mich nach Mailie um, die laut schreiend am Ufer hin und her rannte. Meine Schwimmkünste waren ihr vollkommen fremd, und sie dachte, daß mich ein Krokodil am Fuß gepackt hätte, oder das Monster. Ich beruhigte sie, lockte sie ins flache Wasser am Ufer und versuchte, ihr Rückenschwimmen, Brustschwimmen oder Kraulen beizubringen. Sie behielt ihre Wollsachen an, was dem Unterricht hinderlich, insofern aber doch nützlich war, als sie der Säuberung dringend bedurften. Die Sonne sank genau im Westen, und der Berg hinter uns schickte einen langen Schatten über den See, während die Gipfel auf der anderen Seite im letzten Hauch des Abendlichts erröteten. Als Mailie vom Schwimmen genug hatte, setzten wir uns ins seichte Wasser. Kleine, warme Wellen spülten um unsere Körper. Bald war es fast völlig dunkel, aber die Luft blieb mild und zärtlich. Mailie legte mir ihre Hand aufs Gesicht. Das tat sie jeden Morgen, um meine Verbrennung zu säubern, aber diesmal war die Berührung nicht klinisch. Ich küßte sie leicht auf die Nase, und ihre Hand griff nach der aus einem Löffel gefertigten Nadel an ihrem Busen – verzeih, daß ich diese Dinge so 449
ausführlich berichte, Anita, es geschieht nicht umsonst. Sie zog die Nadel heraus und steckte sie in den Sand. Das Schultertuch öffnete sich, und meine Hand berührte ihre großen, glatten, vor Nässe glänzenden, auberginefarbenen Brüste. Mailie zitterte und seufzte. Mit einem Ruck erhob sie sich auf die Knie und zog mein Gesicht zu ihrer linken Brustwarze hin, die langgezogen, geschwollen und von den handgesponnenen Kleidern leicht aufgerauht war. Ich umschloß diese fingerhutgroße Knospe mit meiner Zunge und zog sie an meinen Gaumen. Mailie ermunterte mich mit einem weiteren Seufzer. Dann schoß mir ihre heiße Milch in den Mund. Halb erstickt und erschrocken fuhr ich zurück, aber ihre Finger hielten meinen Kopf und mein Haar fest gepackt. Ich hatte das Gefühl, daß sich mein Körper selbständig machte und im Wasser davontrieb, während mein Kopf zwischen ihren harten Händen und der reichen Quelle an meinen Lippen eingezwängt war. Ich konnte mich an keine Muttermilch erinnern, es gab kein Echo aus meiner Kindheit und keinen Präzedenzfall für diese Mischung aus mütterlicher Zärtlichkeit und sinnlicher Wollust, erzwungener Kindlichkeit und wachsender Gier. Mailie ließ auch später nur sekundenlang lokker, um meinen Mund von der erschlaffenden an die gefüllte Brust zu führen. Wir wanderten schweigend am Ufer zurück. Wir 450
aßen, ohne zu sprechen. Aber fast die ganze Zeit weinte Mailie stumm vor sich hin. »Willst du es mir erzählen?« fragte ich. Schweigen. »Wo ist es?« Wieder Schweigen. Dann: »Es ist überhaupt nit.« »Totgeboren?« »Nain.« »Weggenommen?« »Totgemacht.« Sie stieß das Wort so leise zwischen ihren Schluchzern heraus, daß ich mich fragte, ob ich es wirklich gehört hatte. Sie war auch nicht bereit, noch mehr zu sagen, weder jetzt noch später. Aber jeden Abend gab sie mir die Brust, entweder am See oder in meiner Hütte. Zurückweisen ließ sie sich nicht. Sie war siebzehn, und ich fast doppelt so alt, und doch war ich ihr Baby. Ich versuchte, Distanz zu gewinnen. Haben wir, du und ich, nicht mal einen italienischen Film gesehen, wo ein halb ohnmächtiger Mafiaboß auf seinem Totenbett so gesäugt wird? Gesund war die Muttermilch bestimmt für mich, denn inzwischen mußte auch ich mit den üblichen Fastenspeisen vorliebnehmen. Aber für Mailie kann es weder körperlich noch seelisch sehr gesund gewesen sein. Ich mußte mich vor allem mit meinen Zähnen zurückhalten. Sonst kriegte sie womöglich noch 451
Henry, CJD oder was immer ich sonst habe. Beißen und Kratzen, sagt man, gehört zum Liebesspiel der Schotten, aber zwischen Mailie und mir durfte es dergleichen nicht geben. Ich war wie eine Haftmine an der zerbrechlichen Arche des Klans und konnte jederzeit explodieren. Die Menschen hier balancierten am Abgrund des endgültigen Aussterbens. Ich konnte sie nach zwanzig Generationen versenken – ich konnte sie zu den Dinosauriern, zum Dodo und zum Moa hinab auf den Grund der Evolution schicken. Das Ungeheuer, das sie fürchten mußten, war ich. Meine häufigen Kirchenbesuche schien der Laird als Zeichen dafür zu nehmen, daß ich auf der Seite der Engel stand, und das war mir ganz recht. Aber was hatte ich eigentlich vor? In der Routine meiner Tage – Morgenandacht in der Kirche, Siesta, Nachmittagsspaziergang und Bad mit Mailie (ja, ganz allmählich und vorsichtig wurde ich auch ihr Geliebter) – verlor ich die Frage Wie ist das alles gekommen? und schon gar meine Suche nach Diagnose und Therapie aus den Augen. Es ging mir wie jemandem, der so lange Ferien macht, daß er jedes Interesse an seinem Leben zu Hause verliert: Die Gegenwart begann, die Vergangenheit zu begraben. Wieder bezweifelte ich, daß ich krank war. Im Rückblick erschien mir die tödliche Krankheit bloß wie ein Vor452
wand, um aus einem stagnierenden Leben zu fliehen. Ich hatte jetzt eine Hängematte in der Hütte, und dort verdöste ich die Mittagshitze, während über mir die Wespen summten. Ich war damit zufrieden, wenig zu tun. Ich kam sogar auf den Gedanken, einfach zu bleiben: Mailie heiraten, Berater des Lairds werden, mich als Verkünder von Wandel und Wiedergeburt etablieren. Du kannst dir sicher vorstellen, was für ein verführerischer Gedanke das war – ein kultureller Heroe, ein großer Mann in einer geschrumpften Welt, der einäugige Leonardo im Lande der Blinden zu werden. Diese Vorstellungen wurden noch von einer Entdekkung genährt, die ich in jener Zeit machte. Du weißt, wie so etwas geschieht – manche Einsichten bleiben lange außerhalb der bewußten Wahrnehmung und geraten dann plötzlich ins Blickfeld, während man im Sessel seinen Tagträumen nachhängt oder nachts auf der Autobahn fährt. Oder du hörst einem Song zu, und eine Zeile, die du nie richtig verstanden hast, wird plötzlich glasklar. Vor allem in der Kirche ging mein Gemüt in dieser Weise auf Wanderschaft. Eines Sonntags war ich wieder einmal ganz in Erinnerungen versunken. Ich dachte an Skef und seinen »Druck der Vergangenheit« und daran, daß du es ziemlich erschreckend genannt hast, »wenn die Toten mehr Lärm als die noch Ungeborenen machen«. Außerdem mußte ich an den Typen in 453
St. Johns denken, der nach einem LSD-Trip verrückt wurde. Ich hab ihn mal im Krankenhaus besucht, während ihm die Glukose aus dem Tropf in die Armvene lief. Er konnte nämlich nichts essen, denn jedesmal, wenn er sich zu Tisch setzte, war er augenblicklich umgeben von den munteren Gesichtern seiner Ahnen und toten Verwandten, von der Tante Mary bis zu den Großeltern und Ur-Ur-Ur-Urgroßeltern. Regencygecken saßen neben Roundheads, königstreuen Kavalieren und Nonnen, kurzgeschorenen Normannen, bärtigen Wikingern, Römern, alten Briten in selbstgefärbten Gewändern, bräunlichen Steinzeitbauern und haarigen Geschöpfen, deren Hände wie Klauen waren, wenn sie nach den Krankenhausmahlzeiten schnappten. Und als ich aufschreckte, war ich mitten im Vaterunser und merkte plötzlich, daß die Worte nicht stimmten: Vater unser, der Du im Himmel bist, Deinem Namen werde geheiligt … War es nur der Dialekt? Ich hörte noch genauer zu und versuchte mich dabei an das zu erinnern, was ich auswendig wußte. Der 23. Psalm war gespickt mit geradezu kindischen Fehlern: Der HErr ist der Schafhirt, dir wird nichts mangeln … An einem der nächsten Tage las der Laird aus der Schöpfungsgeschichte: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe … So weit, so gut. Erst im fünften 454
Vers geriet der Laird aus der Bahn: Und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Und eines Tages war Abend und Morgen. Und Gott sprach: Es werde eine Festung zwischen den Wassern … Und die Festung nannte er Himmel. Und so ging es weiter, ein verderbter Text. Archaische Wörter und Wendungen, die sie nicht mehr verstanden, waren durch Wörter ersetzt worden, die ihnen bekannt waren, auch wenn die neuen Wörter keinen Sinn ergaben. Andererseits hatte ich die Bibel gesehen: Der Einband hatte Risse und Wurmlöcher, die Seiten waren dünn und stockfleckig, aber sie waren durchaus noch lesbar. Ich beobachtete, wie die geröteten Augen des Lairds über die Seiten dahinglitten, und alsbald wurde mir klar: Das waren nicht die Augen eines Lesers, sondern die Augen von jemand, der vorgibt zu lesen. Seine Bibellesungen waren reine Gedächtnisleistungen. Mailie hatte mir schon erzählt, daß nur die unmittelbare Familie des Lairds »die Kunst des Buches« besaß. Nur, er hatte sie gar nicht. Der ganz Klan bestand schon seit längerem aus Analphabeten. Und ich war der einzige, der es wußte. Die Ehre, auf die ich gern verzichtet hätte, kam über mich ohne Vorwarnung. Lord und Lady Macbeth bestellten mich in den Thronsaal und baten mich höflich 455
und in aller Form, beim Passionsspiel zu Ostern die Rolle des Jesus zu übernehmen. Du verstehst sicher, daß mir das nicht paßte. Ausgerechnet Gottes Sohn zu sein, hat noch nie zu meinen Wahnvorstellungen gehört. Unsere Irrenanstalten waren ja voll von Erlösern, die ständig damit beschäftigt waren, die Wechsler aus der Cafeteria zu treiben, oder wie Gekreuzigte an der Wand hingen und Eli, Eli, lama asabthani auf den frisch gebohnerten Korridor schrien. Wenn der echte Christus in unserer modernen Zeit auf Erden gewandelt wäre, wäre er vermutlich auch in so einer Anstalt gelandet – jedenfalls bis sie ihn wieder losgelassen hätten auf die Gesellschaft. Auf dem Weg zur Arbeit in St. Pancras bin ich jeden Tag an Ihm vorbeigekommen; er hatte einen Einkaufswagen, ein paar Plastiktüten, eine ziemliche Fahne und streckte immer die rechte Hand aus: Hassmanemaak, Scheff? Nicht so poetisch wie das Gleichnis vom Nadelöhr und dem reichen Mann, aber in etwa dieselbe Idee. Meine Antwort verlangten sie auf der Stelle. Zum Nachdenken blieb keine Zeit, und ich hatte auch keine Gelegenheit, Mailie danach auszuhorchen, worauf das Ganze hinauslaufen sollte. Es blieben mir praktisch nur ein, zwei Minuten, während Lady Macbeth ihren Hund tätschelte, der zu ihren Füßen geschlafen und zufrieden vor sich hin gestunken hatte, bis er mit einem lauten 456
Furz aufwachte. Natürlich gab ich meine Einwilligung. Wenn man die Wahl hat, entweder ein Gott zu sein oder ein Teufel, dann ist es wohl besser, das obere Stockwerk zu nehmen, obwohl die Gesellschaft ja unten viel interessanter sein soll. Meine Aktien stiegen sofort. Ich wurde in ein Gästezimmer neben der Küche verlegt – frühes postmodernes Tudor, ein luftiges Erkerfenster mit Ausblick über den See, ein Kamin und als Sofa ein echter CadillacRücksitz. Vielleicht haben hier vor langer Zeit die Edinburgher Gesandten gehaust, als die Friedensverhandlungen zwischen Cassel Ness und Cassel Reekie geführt wurden (wenn es denn solche je gab). Ich mußte an den Tower und meine große schwarze Miezekatze denken, die sich an Regentagen vor dem Kamin räkelte und von mir wollte, daß ich etwas gegen das Wetter unternähme. Jetzt hatte ich Mailie, die allerdings nie über Nacht blieb. Sie sei meine Maria Magdalena, sagte der Laird, und schien damit anzudeuten, ich dürfe ihre Rolle so breit auslegen, wie es mir gefiel. (Wollte er ein paar neue Gene in seinem Stammbaum, notfalls auch weiße? Oder hoffte er, meine Gegenwart würde ihr über die Krise hinweghelfen? Solange sie stillte, würde sie wohl kaum erneut empfangen.) Lady Macbeth warf mir ein dünnes Lächeln zu. Ich hatte das Gefühl, sie hatten sich auf dieses Angebot geeinigt, aber aus höchst unter457
schiedlichen Gründen. Sie gaben mir sogar meine eigenen Kleider zurück. Allerdings nicht meine Schuhe. Die Rolle sei gar kein Problem, versicherten sie. Die Passionsspiele fänden jedes Jahr statt, und die meisten Schauspieler seien sehr routiniert und könnten ihre Rollen vollkommen auswendig. Ich fragte nach jemandem, der mich einweisen könnte. Ob mir vielleicht der Mann helfen könnte, der die Rolle vor mir gespielt habe? Leider, sagte Lady Macbeth, habe mein Vorgänger im vergangenen Jahr einen tödlichen Unfall gehabt: Sein Currach war bei einem Sturm gekentert, und er hatte sich in den Netzen verfangen. Aber die Rolle sei denkbar einfach: Auf dem Vorplatz der Kirche mußte ich den Prozeß über mich ergehen lassen, dann folgte die Via Dolorosa zum Schloß, das Kreuz stünde vor dem Trilithon aus Stahl. Außer den Worten Christi, die in der Bibel stünden, müsse ich kaum etwas sagen. Und was in der Bibel stünde, brauche sie mir ja wohl nicht zu erklären? Die Proben würden in der nächsten Woche beginnen. Macbeth spielte immer den Kaiphas, Lady Macbeth war die Gottesmutter, die römischen Soldaten waren die Wachen, und für den Pilatus gab es jedesmal zahlreiche Freiwillige. Ich hoffte bloß, daß sie nicht Kenneth gewählt hatten. Aber so war es natürlich.
458
Ein paar Tage später wartete ich nach dem Gottesdienst auf den Laird, um eine weitere Lockerung meines Hausarrests bei ihm zu erwirken. Wo lagen die Grenzen? Durfte ich den Fluß hinaufwandern? Durfte ich auf dem Loch segeln? Alle anderen hatten die Kirche inzwischen verlassen. Macbeth schlug die Bibel zu, und ein Lesezeichen fiel auf den Boden. Ich bückte mich, um es aufzuheben, aber ehe ich es ihm übergab, drehte ich es unwillkürlich um, so daß ich die Schrift lesen konnte. »Du beherrschst sie also, die Kunst.« Beim Klang seiner abgrundtiefen Stimme fuhr ich zusammen. »Ja, ein wenig. Ich kann ein paar Worte lesen.« Der Laird nahm mir das Papier aus der Hand, legte es sorgfältig zurück in die Bibel und holte tief Luft. Dann krachte eine mächtige Faust auf das Pult. »Versuoch es lieber nit, Macbeth zu verarschen!« »Okay. Ich kann genausogut lesen wie Ihr.« Bei einem Schotten merkt man schnell, wenn er wütend wird. Der Bart des Lairds bebte, und sein Mund verzog sich zu einer zähnefletschenden Grimasse. »Mann, helst du mich for ’n Kaffer?« Seine Augen schienen plötzlich den gesamten Platz vor mir auszufüllen, und nur langsam legte sich seine Wut wieder. Die Luft entwich wie eine Sturmbö aus seinen Lungen, und er schrumpfte etwas zusammen. »Du hast mich vortragen hörn.« Es war ihm wieder eingefallen, daß er sich in 459
der Kirche befand. Ich glaube auch, er war ein einsamer Mann, der froh war, daß er aus der Einsamkeit seiner Macht mal herauskonnte. »Main Vater konnte noch etwas lesen. Grossvater konnte es genauso wie du – auch leise, for sich selbst. Und main Urgrossvater konnte noch … schreiben. Es heisst, als er jung war, ist er ganz allain nach Edinburgh gegangen, ins Land des Feindes, und hat an die Wende geschrieben. Ich hab noch ain paar Sachen, die er von dort mitgepracht hat. Vielleicht kannst du mir sagen, was sie bedeuten.« »Hieß er vielleicht Erik?« Seine Freundlichkeit hatte mich unvorsichtig gemacht. »Aye! Erik. Macbeth der Kuehne. Woher zum Tuivel kannst du das wissen?« »Ich bin da vorbeigekommen, in Edinburgh. Ich hab’s nur abgestritten, weil ich Angst hatte, Ihr würdet mich für einen Feind halten. Ich hab gelesen, was er hingeschrieben hat: ERIK WAS HERE FROM CASSEL NESSIE.« »Ach, das muss herrlich aussehen!« Macbeth wandte sich zum Ostfenster mit seinen blutroten Glasbrocken und starrte hinaus in die Ferne. Die triumphale Kritzelei seines Urgroßvaters in den Ruinen von Edinburgh stand vor seinem inneren Auge wie der Trajansbogen in Benevent. Als der große Augenblick vorbei war, fragte ich: »Ist 460
seither jemand dort gewesen?« »Nain. Ist nicht notwendig. Main Grossvater hat gesagt, es lege alles am Poden. Erledigt.« »Und warum stehe ich dann immer noch unter Verdacht, ich wäre ein Malkie? Warum reden die Leute, als fürchteten sie einen Angriff?« »Manche Dinge bleiben besser in der Familie. Es schadet nichts, wenn die Leute was haben, wovor sie sich fürchten. Und es ist auch besser, wenn sie glauben, sie sind nicht allain.« Natürlich, ein Kriegsherr brauchte den Krieg. »Hast du jemen davon erzelt?« »Kein Wort. Diese Dinge sind bei mir sicher. Bleibt auf dem Weg, die schwankenden Gemüter mit fremdem Streit auf Trab zu halten.« »David Lambert!« Wieder ein Seufzer. »David Lambert von Lambert! Was soll ich ploss mit dir machen?« Und dann: »Komm morgen nachmittag zu mir.« An diesem Abend konnte ich lange nicht einschlafen. Macbeth wußte jetzt, daß ich ihn bloßstellen konnte, daß ich in Edinburgh gewesen war, daß ich gelogen hatte. Ich war zur Bedrohung geworden. War es womöglich höchste Zeit, das Tal zu verlassen? Einen Currach zu stehlen? Über den See zu schwimmen? Aber selbst wenn es mir gelang, ans andere Ufer zu kommen, würden sie mich schnell wieder einfangen. Ich konnte 461
ihnen ohne meine Schuhe nicht weglaufen. Am Ende fiel ich doch in Schlaf, schreckte aber gleich wieder hoch, weil mich ein Alptraum geweckt hatte. Ich schwitzte wie ein Käse. Gott war ich in meinem Traum gewesen. Ich schwebte über der Erde, und herrliche Landschaften zogen unter mir hin wie die Bilder in Reiseprospekten. Vor allem die kanadischen Rockies waren äußerst eindrucksvoll – kobaltblaue Seen und jaspisfarbene Douglastannen. Nach einiger Zeit merkte ich, daß sich eine Menschenmenge unter mir versammelt hatte und zu mir hinaufschaute, als ob ich Superman wäre. Ich winkte freundlich und hoheitsvoll zu ihnen hinunter, und sie riefen zu mir herauf, rühmten meinen Namen und sprachen Gebete. In diesem Augenblick fing ich an, mir Sorgen zu machen. Du weißt schon: Versagensangst. Erwarteten diese Leute da unten womöglich mehr von mir, als ich zu leisten vermochte? Als Gott oder Gottes Sohn (ich schien irgendwie beides zu sein oder sogar die ganze heilige Dreieinigkeit) – worin bestanden eigentlich meine Pflichten? Gab es Grenzen meiner Macht? Gleichzeitig bemerkte ich, daß ich nicht mehr so hoch flog. Und im selben Maß, wie ich an Höhe verlor, verloren die Leute ihren Respekt. Bald konnte ich ihre gerunzelten Stirnen erkennen. Es wurde immer schwieriger, oben zu bleiben. Wo ich zuvor noch mühelos dahingeglitten war, ruderte und stürzte ich jetzt wie eine ver462
wundete Wildgans. Die Gesichter unter mir wurden höhnisch, ich hörte hämisches Gelächter und Spottverse, und dann wurden sie regelrecht feindselig. Sie fühlten sich von mir betrogen. Der Kerl, den sie zum Gott gemacht hatten, erwies sich als Scharlatan. Ich sah ihre wütenden Finger, ihre roten, geifernden Münder, die scharfen weißen Zähne. Ich fiel wie ein nasser Lappen zu Boden und erwachte, als sie mich in Stücke rissen. Die Sonne erhob sich, schien kurz auf meine Wand und verlor sich in einer Wolkenbank aus grauem Zement. Der See wurde schwarz, und den ganzen Vormittag fiel lustloser Regen. Kein Lüftchen regte sich. Ich nahm den Regen zum Anlaß, um nicht in die Kirche zu gehen; vor unserer Verabredung am Nachmittag wollte ich dem Laird nicht begegnen. Ich war doch sehr mit den Nerven herunter, mein Verstand arbeitete äußerst langsam, und ich war hundemüde. Der Alptraum wirkte noch stundenlang nach; es erschien mir ganz offensichtlich, daß sie mich umbringen wollten. Der Christusdarsteller des letzten Jahres war vermutlich auch nicht beim Fischen ertrunken. Die Schädel im Burgverlies gehörten allesamt meinen Vorgängern. Das Osterfest wurde hier wörtlich genommen. Glücklicherweise wächst an den Hängen oberhalb des Loch Ness ein passabler Kaffee, einer der wenigen Luxusartikel hier im Tal. Aber auch hier war er kostbar, 463
und es war nicht einfach, welchen zu kriegen. Mailie hatte nie welchen, und der Laird gab mir die erste Tasse Ness-Kaffee auch erst, als ich mich bereit erklärt hatte, den Christus zu spielen, aber jetzt konnte ich mir jederzeit in der Küche welchen bestellen. Ich hatte schon gar nicht mehr gewußt, wie sehr ich die schwarze Brühe vermißte. Nach zwei Tassen fühlte ich mich besser, und meine Befürchtungen erschienen mir paranoid. Selbst der neueste Schädel auf der Pyramide mußte mindestens hundert Jahre alt sein, und es waren auch viel zu viele, um Überreste des alljährlichen Passionsspiels zu sein. Außerdem, was konnte ich schon unternehmen? Wenn sie mich umbringen wollten, konnten sie das jederzeit tun. Macbeth war allein, als ich in den Thronsaal geführt wurde. Ein gutes Zeichen. Er schickte seine Wachen weg, erhob sich von seinem Sessel, marschierte zu einem der hellen Westfenster und zeigte auf eine mit schwarzem Lamafell bezogene Bank. Dort ließ er mich neben sich Platz nehmen, stand aber gleich wieder auf, ging zu der Plattform zurück, auf der sein Thronsessel stand, bückte sich schnaufend und hantierte an den Dielen herum. Wie alt mochte er sein? Mitte fünfzig? Die meisten Leute waren jünger, als ich sie geschätzt hätte. Mit vierzig war man hier schon alt. Seine Bärenpranken öffneten eine Falltür und zogen einen verbeulten Koffer 464
heraus. Luftdicht, rostfreier Stahl – ein Koffer, wie ihn früher die Fotografen benutzten. »Main Vater hat mir den vererbt, hat mir aber damals nit viel bedeutet.« Der Laird ließ die Schlösser aufschnappen. Die Gummidichtung war längst verrottet, aber das Stahlblech hatte zumindest die Mäuse und Insekten ferngehalten. »Kaine Ahnung, was es bedeutet«, sagte der Laird. »Vergammelte Papiere und Dockus aus Cassel Reekie. Ain Haufen Rottack. Hab’s mir schon hunnertmal angeschaut, und verstehe immer noch ganix.« Er sagte, Erik der Kuehne habe den Koffer aus einem Gewölbe des Schlosses in Edinburgh mitgebracht. »Schau’s dir an, Mann. Sag mir, was ich da habe.« Es waren gebündelte Briefe und juristische Dokumente, Akten und Dienstbücher, Computerausdrucke, CDs und Disketten (zum Teil in einem kleineren Format, das ich noch nicht kannte), zerfressene Überreste von Fotos, Audio- und Videokassetten, braune Briefumschläge mit alten Banknoten und ein paar kleine Blechbüchsen mit Münzen. Der Erhaltungszustand war insgesamt schlecht. Trotzdem war es mindestens ein halbes Jahr Arbeit. Ich würde Schreibzeug brauchen und meinen Laptop, um die kompatiblen Disketten zu prüfen. Aber was sollte ich Macbeth sagen? »Dazu werde ich lange brauchen, mein Laird.« 465
»Du kannst ruhig Angus zu mir sagen. Du bist ja jetzt ainer von uns. Angus Kwame Macbeth. Ich bin der ainzige hier mit drei Namen.« Er kicherte und streckte die Hand aus, zog sie aber gleich wieder zurück, als er meinen ängstlichen Blick sah. »Wie lange?« fragte er. »Sind wir morgen abend fertig?« Ich versuchte, ihm klarzumachen, wie groß die Aufgabe war, die er mir da stellte. Selbst für eine schnelle Durchsicht würde ich zwei Wochen brauchen, erklärte ich ihm. »Unsinn, Mann! Ich hab doch selbst gesehn, wie schnell du liest, heute morgen!« Seine dicke Pranke fuhr in den Koffer und zerrte eins der Blätter heraus. »Hier, lies das vor!« Mir stockte der Atem. Vor uns stand die wahrscheinlich beste Sammlung von Dokumenten in Großbritannien, die überhaupt überlebt hatte. Eine Sammlung von unschätzbarer Bedeutung. Wir hätten mit Spachteln und Latexhandschuhen arbeiten, jedes einzelne Blatt sofort mit säurefreiem Papier sichern und im Dämmerlicht eines Archivs lesen müssen, damit das Sonnenlicht die Schrift nicht zerstörte. Der Inhalt des zerbeulten Koffers hatte ähnliche Bedeutung wie die Schriftrollen vom Toten Meer, das Shang-Orakel, das Exeter Book oder die Manessische Liederhandschrift (die vermutlich längst alle zerstört waren, wie mir bei dieser Gelegenheit schmerzlich bewußt wurde). Dieser 466
Schatz verlangte dringend danach, gerettet, bewahrt und in einer kontrollierten Umgebung gesichtet zu werden … Aber solche archivalischen Überlegungen bedurften der Nachwelt – einer Nachwelt, die sich interessierte, die in der Lage war zu begreifen. Aber wer hört schon, wenn im Dschungel ein Baum stürzt? »Ich warte, David! Ich will etwas hören! Und kaine Ausflüchte !« Antworte mir: Du läßt die Winde los und machst sie gegen Kirchen wüten … Die Schlösser stürzen auf die Wächter nieder, Paläste und Pyramiden neigen das Haupt bis auf den Boden, die Früchte der Natur sind verwirrt und krank bis zum Tode; und dennoch: Antworte mir … Wie sollte ich diese Dokumente vorlesen, ohne zu verraten, daß ich aus derselben Welt stammte? Das Blatt, das er mir in die Hand gedrückt hatte, trug den Stempel HMG DSS – Secret. Regierung seiner Majestät, Dienst für Staatssicherheit? Ich las den Text zunächst einmal leise und war recht froh, daß die Sache nicht sonderlich interessant war. »Ziemlich unverständlich«, sagte ich. »Lies ainfach ain Wort nach dem anderen. Ich entscheide dann schon, ob’s verstendlich ist oder nit.« 467
Zielperson traf Kontakt vor der ehemaligen U-Bahnstation Green Park, ging dann zur Bridge Street und fuhr um 15 Uhr 23 mit dem Wassertaxi Nr. 2448 Richtung Westen. Keine Möglichkeit, weiter zu folgen (Stau). Doreen Tubman, Partnerin der Zp, in Ealing Central verhört. 11-3-35 Update: Tubman im Polizeigewahrsam verstorben, die von ihr erhaltenen Informationen haben sich als falsch erwiesen. 19-3-35. Empfehlung: Gegenwärtig nichts unternehmen. Wir hoffen, beweisen zu können, daß über Netz oder Satellit Kontakt zu einer ausl. Schleuserbande besteht. »Du hast recht. Polizei, Zielperson, Sattlit. Unverstendliches Zeug.« Er gab mir einen weiteren Ausdruck von einem anderen Stapel. Diesmal war der Text verschlüsselt, irgendein Buchstaben-Code. Dennoch war es nicht einfach, den Laird davon zu überzeugen, daß ich wirklich kein Wort lesen konnte. Primärtexte können einen rasend machen, nicht wahr? Nie sagen sie einem die wichtigen Dinge, nach denen man sucht. Die großen Probleme des Zeitalters sind meist Gemeinplätze, so daß niemand etwas darüber schreibt. Und in offiziellen Dokumenten werden die echten Krisen ganz angestrengt ignoriert. Wenn man die Inschriften einer Kultur liest, die unmittelbar vor dem Zusammenbruch steht, dann handeln sie mei468
stens von militärischen Siegen, von der Größe der Könige, von der Harmonie zwischen Himmel und Erde – so als wäre alles in bester Ordnung. Und dann plötzlich Schweigen. Man muß verstehen, das Schweigen zu lesen. Macbeth nahm drei Manila-Umschläge in seine Faust, und als er sie mir in die Hand schob, waren sie bereits zerfallen. Einen Teil des Inhalts konnte ich allerdings noch entziffern. Es handelte sich um weitere Geheimdienstakten: Namen und Adressen, Abhörprotokolle, e-Mail-Ausdrucke, Bewegungsprofile, Observationsberichte über verdächtige Personen. Sie stammten aus den dreißiger und vierziger Jahren des 21. Jahrhunderts, aus der Zeit des Watling-Regimes und der Notstandsmaßnahmen. Die meisten Aufzeichnungen waren recht kryptisch, die »Zielpersonen« wurden meist nur mit Aktenzeichen und Nummern bezeichnet. Ich habe von diesem Material nichts mehr bei mir. Es war eine düstere Lektüre in einem bösen Jargon: Zielperson verläßt sicheres Haus; zuletzt gesehen in Folkestone. 23-9-38 Zielperson zu einem Treffen von verfassungsfeindlichen Fabiern verfolgt … V-Mann nach Ansicht von M nicht länger zuverlässig … Die Verdächtige soll 2043 verstorben sein … 469
Seit 2043 vermißt; vermutlich tot. Kein Verdacht auf Fremdeinwirkung … Und so ging es weiter. Das Jahr 2043 wurde häufig erwähnt – ein Jahr des Krieges, ein Jahr der Seuchen? Warum diese Akten aufbewahrt worden waren, blieb unerfindlich. Wahrscheinlich reiner Zufall. Es gab ganze Berge davon. Die frühen Blätter waren in London gestempelt: Metropolitan Police, Special Branch, New Scotland Yard, Postfach 500, SW 1 (war das nicht MI 5?). Ende der dreißiger Jahre waren die Regierungsstellen (oder zumindest diese Abteilungen) dann vier Jahre lang in York. Vom November 2043 an trugen alle Dokumente den Stempel HMG DSS, EDINBURGH. Ich leierte sämtliche Dokumente mit eintöniger Stimme herunter, und nach einer Viertelstunde fielen dem Laird die Augenlider herunter, sogar sein Bart schien vor Langeweile so steif wie ein Tannenzapfen zu werden. »Na, schön, David. Wir machen es so, wie du willst. Du wirst hier jeden Nachmittag arbeiten und das Gute vom Schlechten trennen. Aber kaine Tricks! Ich werde von Zeit zu Zeit kommen und nachsehen. Sieh zu, dass du Fortschritte machst, dann pin ich zufrieden.«
4 Die alte King-James-Bibel des Klans war der reinste Aktenschrank: vollgestopft mit Notizen und Seiten aus anderen Werken. Sie interessierte mich viel mehr als das düstere Geheimdienstarchiv aus dem Koffer. Jetzt, wo der Laird wußte, daß ich lesen konnte, konnte ich ihm auch vorschlagen, daß ich in der Bibel lesen durfte, um mich besser auf meine Rolle vorzubereiten. Taktvoll erinnerte ich Macbeth daran, daß auch die Worte Jesu von Evangelium zu Evangelium leicht variieren. In Wales, sagte ich, sei es undenkbar, ein religiöses Schauspiel ohne entsprechende Vorbereitung aufzuführen. Der Laird erlaubte mir, jeden Tag nach dem Morgengottesdienst noch ein paar Minuten in der Kirche zu bleiben. Am liebsten hätte ich die Bibel am Rücken gepackt und geschüttelt, um zu sehen, was alles herausfallen würde. Aber das konnte ich natürlich nicht machen. Diese Bibel war vermutlich eins der letzten Bücher, die es auf der Erde noch gab, und außerdem schien die massige, mißtrauische Gestalt des Lairds die ganze Zeit in der Nähe zu lauern. Er kommandierte eine kleine Truppe von Putzfrauen und Dekorateuren und brachte seine Kirche auf Hochglanz für Ostern. Zumindest konnte ich jetzt jeden Tag eine Weile nach Hinweisen auf die 471
dunklen Jahrhunderte forschen. Meine Notizen machte ich mir mit einem Bleistiftstummel aus dem Archivkoffer auf der Rückseite eines verschlüsselten Papiers aus der Watling-Ära. Den kleinen Finger der rechten Hand ließ ich immer bei Johannes 18 stecken – für den Fall, daß der Laird kam. Seine Laune wechselte täglich. Manchmal hatte ich das Gefühl, durchaus willkommen zu sein, und spürte eine Aura der Kameradschaft; an anderen Tagen war er mißtrauisch und bellte wie ein alter Kettenhund. Dann beendete ich meine Untersuchungen immer sehr rasch. An der Stelle aus Jesaja, die der Laird bei meinem ersten Gottesdienst »gelesen« hatte, steckte ein Zettel mit ein paar Zeilen einer Übersetzung von The Ruin aus dem Exeter Book. Die erste englische Elegie zum Thema »alte Steine«: Ein anonymer angelsächsischer Dichter, der durch die überwachsenen Straßen des römischen Bath wandert, vorbei an gemeißelten Skulpturen, Säulen, Wänden und tropfenden Wasserleitungen: Die Dächer liegen darnieder, die zerstörten Türme zerfallen, das Schicksal bringt alles zum Einsturz. Die Baumeister liegen begraben, und graue Flechten wachsen auf blutigen Steinen … Das Dritte Buch Mose enthielt einen Ausriß aus einem Survival-Handbuch (für Guerrillakämpfer? Oder Flüchtlinge?). Das Blatt war so dünn und abgewetzt wie ein gepreßtes Papiertaschentuch. 472
Die essbaren Wurzeln und Blätter werden im ersten Kapitel beschrieben … Alle Konserven sind zu vermeiden wegen der Botulismus-Gefahr. In manchen Gegenden finden sich »wilde« Rinder. Vor dem Verzehr ihres Fleisches wird dringend gewarnt! Denk daran: Diese Tiere sind von Züchtern freigelassen worden, die sich den Anordnungen zur Notschlachtung bewusst widersetzt haben! Im zweiten Kapitel findest Du Hinweise, wie man Wildtiere fängt, ausnimmt und zubereitet. Als unbedenklich gelten gegenwärtig die folgenden Arten: Kaninchen, Dachse, Igel und die meisten Pflanzenfresser, ausser Rindern, Schafen und Ziegen. Fleischfresser, vor allem Füchse, Hunde und Katzen sind unbedingt zu meiden. An dieser Stelle müssen auch Pferde und Esel erwähnt werden: Viele von Euch haben vermutlich noch Hemmungen … An derselben Stelle steckte auch eine alte, leider undatierte Speisekarte des Glenmore Restaurants, das sich rühmte: »Alle unsere Fleischgerichte stammen von ausgesuchten, mit dem amtlichen Gütesiegel versehenen, nichttraditionellen Schlachttieren aus staatlich überwachten Beständen und sind vor der Zubereitung tiefbestrahlt worden.« Bei Lukas 10 fand ich einen Auszug aus den News from Nowhere: 473
… falsche oder künstliche Bedürfnisse, die unter der eisernen Herrschaft des Weltmarkts genauso wichtig wie die echten, lebensnotwendigen Bedürfnisse wurden … Der sogenannten Verbilligung der Produktion wurde alles geopfert: nicht nur das Glück des Arbeitsmannes bei seiner Arbeit, sondern auch sein elementarstes Wohlbehagen und seine Gesundheit. Seine Nahrung, Kleidung und Wohnung, seine Muße und sein Vergnügen, seine Erziehung – mit einem Wort: sein ganzes Leben wog nicht viel mehr als ein Sandkorn im Vergleich mit der »billigen Produktion« von Dingen, die es größtenteils gar nicht wert waren, daß man sie überhaupt produzierte … Die ganze Gesellschaft wurde diesem rasenden Ungeheuer, dem Weltmarkt, in den schaurigen Rachen geworfen … Irgend jemand hatte daruntergekritzelt: 1890 oder 1990? Ungefähr zehn Tage vor Ostern hatte ich mich wieder einmal relativ wohlgefühlt in der Kirche. Ich war mit dem Laird allein gewesen, und jetzt gingen wir zusammen zurück zum Schloß. Die Tage wurden länger, und die Hitze kam jeden Vormittag früher. Im Schatten eines mächtigen Oleanders blieb der Laird stehen und packte mich so heftig am Arm, daß ich schon dachte, er hätte 474
einen Herzanfall. Aber er bückte sich und hob einen Stock vom Boden auf. Er faßte mich fest ins Auge, dann senkte er den Blick auf den Boden, der noch feucht vom heftigen Gewitter der letzten Nacht war. Mit großer Mühe und großem Stolz kratzte er MACBEATH in den Lehm. Dann sagte er: »Lern mir die Kunst.« Er wußte etwas mehr, als er hatte zugehen wollen, er konnte Zahlen lesen und den Kalender, auch wenn sein Augenlicht etwas schwach war. Aber wozu wollte er jetzt plötzlich seine Lese- und Schreibkunst erneuern? Die Welt des Klans war auf eine Größe zusammengeschrumpft, wo keine schriftlichen Dokumente gebraucht wurden. Viel größere und komplexere Gesellschaften hatten in der Vergangenheit ohne sie existiert. Der Laird kannte alle seine Untertanen persönlich. Er wußte, wie sie aussahen, wo sie wohnten, wen sie geheiratet hatten, was sie für Kinder und was sie für Beziehungen hatten, er kannte ihre Stärken und Schwächen. Es war wirklich einfacher, ein paar populäre Bibelsprüche auswendig zu lernen, als die ganze Maschinerie von Papier und Feder in betriebsfähigem Zustand zu halten. Ich gelangte zu dem (teilweise tatsächlich zutreffenden) Schluß, daß meine Gegenwart sein Interesse an der Vergangenheit neu geweckt hatte. In gewisser Weise war das sehr gut: Wenn er wieder lesen lernte, war 475
ich keine Bedrohung mehr für ihn. Andererseits sah ich einen erheblichen Konflikt zwischen seinen bisherigen Vorstellungen und den konkreten Beweisen voraus, wenn er sich allzu intensiv mit dem Inhalt seiner Kiste beschäftigte. Die mündliche Geschichtstradition läßt sich der jeweiligen Gegenwart immer ziemlich leicht anpassen, aber primäre Dokumente wie zum Beispiel alte Liebesbriefe und jugendliche Manifeste sprechen oft eine ziemlich störende Sprache. Die Geschichtsauffassung des Klans war von Mythen und Archetypen geprägt. Mailie hatte mir Schnipsel und Fetzen von ihren Legenden erzählt. Nach und nach war auch Macbeth aufgetaut, und schließlich erfuhr ich von ihm das ethnographisch Wertvollste, was der Klan zu geben hatte: die Ursprungslegende. Angus erzählte, daß er sie jedes Jahr zu Silvester vortrug. Und seine Vorfahren hätten es seit urdenklichen Zeiten auch so gehalten. Ich glaube, die Legende ist tatsächlich sehr alt, denn sie wird in einem steifen, quasi-biblischen Englisch erzählt, das der heute gesprochenen Sprache kaum ähnelt. Unter verschiedenen Vorwänden – mein Rollenstudium, seine Schreibübungen – gelang es mir, eine Niederschrift herzustellen: Als der HErrgott die Welt gemacht hatte, wandelte er auf Erden, um die Menschen zu fragen, was ihnen so 476
fehlte. Er ging zuerst zum Volke Israel und fragte sie: »Wessen seid ihr bedürftig, was braucht ihr, damit ihr wachst und gedeiht?« Und das Volk Israel bat den HErrn um sein Wort und die Kunst des Lesens und Schreibens, damit sie die Worte des HErrn in ein Buch schreiben konnten, um sie nie zu vergessen. Und der HErr schenkte ihnen, was sie begehrten; und die Juden beteten zu ihm von Generation zu Generation und gediehen. Aber es geschah, daß sie nach langer Zeit Gottes Worten nicht länger gehorchten. Sie waren sich uneins, was Seine Worte besagten, und begannen, untereinander zu streiten. So gerieten sie unter die Herrschaft der Ungläubigen, der Gentiles. Da baten sie den HErrn um ein neues Geschenk: Er sollte ihnen Seinen Sohn schicken, auf dass er ihr König sei und sie vom Joch der Gentiles befreite. Und der HErr tat, worum sie ihn baten; aber das Volk Israel erkannte Gottes Sohn nicht, sondern schlug Ihn ans Kreuz. Da ging der HErr in Zorn und Trauer zu den Gentiles. Zu den Römern und Südlingen und Amerikanern und vielen anderen, deren Namen heute niemand mehr kennt: »Mein erwähltes Volk ist abgefallen. Ihr werdet das vielleicht nicht tun. Was mangelt euch auf dieser Erde?« Die Gentiles aber waren ein ehrgeiziges und gieriges Volk und verlangten alles mögliche 477
vom HErrn. »Wir wollen dies, wir wollen jenes. Gib uns alles, was du geben kannst, o HErr. Sag uns Deine Geheimnisse, und wir werden Deinen Namen für immer lobpreisen. Gib uns Räder, damit wir durch die Welt rollen und uns so schnell von einer Stelle zur anderen bewegen können wie Du.« Und der HErr gab ihnen eiserne Wagen, die über die Ebene rollten und über die Flüsse und durch die tiefsten Höhlen der Berge. »Deine Räder sind gut, HErr«, sagten die Gentiles. »Aber jetzt gib uns noch Flügel, damit wir durch die Lüfte fliegen können wie Deine Engel.« Und Gott gab ihnen silberne Schwingen. »Lehre uns Türme bauen, die bis zum Himmel reichen und immerwährende Städte, damit wir Deinen Ruhm schauen und stets einen Ort haben, darin zu wohnen.« Und der HErr zeigte ihnen, wie man die härtesten Steine erweicht und so formen kann, wie man sie braucht. Und die Gentiles nahmen all diese Dinge, und viele Generationen lang vermehrten sie sich und gediehen. Eines Tages aber kam Satan zu ihnen und sagten: »Warum betet ihr noch zu Gott? Er hat euch doch nichts mehr zu geben!« Da sahen die Menschen Gottes Gaben mit neuen Augen. Die Geschenke des HErrn gefielen ihnen nicht länger, und sie waren mit 478
der Erde nicht länger zufrieden. Sie wendeten ihre eisernen Wagen gegeneinander, ein Volk gegen das andere, und kämpften wie Adler auf ihren silbernen Schwingen. Und sie besudelten die Erde, die Gott ihnen geschenkt hatte. Als Gott das sah, wurde er zornig. »Hab ich euch nicht alles gegeben, worum ihr gebeten habt?« fragte er. »Alles, was ihr braucht, um zu leben, gesund zu sein und euch zu vermehren?« Aber Satan hatte ihre Herzen verhärtet, und sie verspotteten den HErrn und sagten: »Wir kennen dich nicht, alter Mann. Geh doch beten!« Da bereute der HErr, daß Er die Menschen gemacht hatte; Er sah, daß alles Fleisch verdorben war und die Welt erfüllt von Leid und Gewalt. Da strafte Er die Gentiles mit einer großen Pest und schlug sie zu Boden, während Ihm ihr Spott noch in den Ohren gellte. »Ich werde die Sonne heller machen und heißer, bis sie wie ein feuriges Schwert über dem Garten steht, den ihr versehrt. Und ich werde die Erde versengen, bis ihr darauf nicht mehr leben könnt, und euer Samen.« Und die Menschen wurden verbrannt von der Hitze, und sie lästerten den HErrn und starben in ewiger Verdammnis. Ich weiß noch genau, wie Macbeth ausgesehen hat, als 479
er zu Ende erzählt hatte: Er blinzelte und schaute verwirrt um sich. Wie ein Mann, der aus einem dunklen Kino ans Tageslicht tritt. Wenn der Laird keine Lust auf seinen Schreibunterricht hatte oder anderweitig beschäftigt war, durfte ich allein am Schloßarchiv arbeiten. Macbeth erlaubte mir sogar, einige Dinge in mein Zimmer mitzunehmen. Auf diese Weise konnte ich die Richtung meiner Untersuchungen selbst bestimmen. Allerdings waren die Bleistifte und das Papier, das ich mir angeeignet hatte, so gebrechlich, daß ich ständig befürchten mußte, nichts mehr kopieren zu können, wenn ich tatsächlich einen wichtigen Fund machte. Ein paar CDs ließ ich auch gleich mitgehen – außer mir wußte ja sowieso keiner, daß es sich dabei um etwas anderes handelte als Schmuck oder Münzen. Eine Chronik oder eine umfassende Erklärung der Katastrophe fand ich nicht, nur immer weitere Hinweise. Wie es scheint, ist die Great Glen Station schon kurz nach 2020 aufgebaut worden, um nach Wegen zu suchen, wie man mit der Klimakatastrophe und der zunehmenden ultravioletten Strahlung fertigwerden könnte. Die Wissenschaftler hatten mit Tieren und Pflanzen aus den Tropen und großen Höhenlagen experimentiert, wo sich alle Lebensformen schon seit Jahrtausenden an eine starke UV-Strahlung angepaßt hat480
ten. Dabei hatten sich die Anden als besonders ergiebiges Ursprungsland für neue Arten erwiesen. Im verzweifelten Kampf gegen Hunger und Seuchen hatten Mais und Bohnen nach und nach Hafer und Gerste ersetzt, und an die Stelle von Schafen und anderen Haustieren waren die Lamas getreten. Aber das massenhafte Sterben konnten diese Maßnahmen nicht aufhalten. Von den vielen Dokumenten, die ich am Loch Ness gelesen habe, war keines so aufschlußreich und erschreckend wie der folgende Brief: Darling Loopy, verzeih den albernen Namen, aber irgendwie muß ich Dich nennen, und man kann gar nicht vorsichtig genug sein. Du weißt ja, wer Du bist, wie man so sagt. Wie ich Dich und die Kinder vermisse! Vier Jahre sind es jetzt schon. Werden sie mich überhaupt noch wiedererkennen? Und diese Weihnachten werden wir auch nicht Zusammensein können. Es ist wirklich hart. Denk immer daran, daß ich Dich liebe und nur für den Tag lebe, an dem wir uns wiedersehn. Ich hoffe, Du verstehst, was ich Dir jetzt sage – und auch, warum ich es sage. Die Wahrheit wird sowieso bald bekannt werden, und ich möchte lieber, daß Du es von mir hörst. Ich kann einfach nicht länger so tun, als ob ich Watlings heldenhaft kämpfende Männer 481
wieder zusammenflicke, wenn sie im Kampf gegen die Schwarzen und hinterhältige Schleuserbanden verletzt werden. In Wirklichkeit besorge ich inzwischen genau wie jeder andere Mediziner des Landes längst die Geschäfte des Todes. Ich arbeite in einer ASF, einer Assisted Suicide Faculty, das ist ein Euphemismus für Massen-Euthanasie. Eine schreckliche Sache, aber wir hatten keine andere Wahl. Was immer man über den Generalissimo denkt: das war nicht seine Schuld. Watling will einfach nicht, daß sein Reich vor seinen Augen dahinschmilzt. Es ist genauso unvermeidlich wie bei den Rindern. Wenn es, was Gott verhüten möge, zum Schlimmsten kommt, werde ich auch diesen Weg gehen, und ich rate Dir dasselbe. Thanaton ist schmerzlos und erlaubt Dir ein Sterben in Würde – es führt lediglich zur Ataxie, keine Krämpfe und keine Ausscheidungen. Weitaus besser, als wie ein Myxomatose-Karnickel zu sterben. Ach Loopy, es war so kaltblütig, so viel schlimmer als die Home Guard. Hast Du meine Briefe von damals erhalten? Ich habe sie zu Hunderten fallen sehen bei der Westminster-Revolte. Mit meinen eigenen Händen hab ich alte Frauen aus ihren Häusern gezerrt. Ich hab gesehen, wie sie die Boat People niedergemäht haben, als sie an Land krochen. Aber nichts war 482
so schlimm wie die letzten Monate. Ich weiß die Zahlen nicht – niemand kennt sie – es wird schon lange nicht mehr gezählt. Erinnerst Du Dich noch an die Anfänge, an die ständig nach unten revidierten Schätzungen der »demographischen Eckwerte«? Weißt Du noch, wie Watling der Nation »sein Ehrenwort« gab, wenn die Zahlen »auch nur ein Jota« unter zwanzig Millionen fallen, würde er selbst als nächster gehen? Kommt einem heute vor, als wäre es in einem anderen Leben gewesen. Millionen sind allein an Kuru gestorben, und bei RISC und Herzwürmern war die Zahl mit Sicherheit fünfmal so hoch. Danach gab es offiziell nur noch Schweigen, während wir Tag und Nacht schufteten. Du mußt wissen, was immer die Propaganda behauptet: Es gibt kaum noch Medizin. Wahrscheinlich wird gar keine mehr produziert. Morphium hab ich schon seit einem Jahr keins mehr gesehen. Sogar das Thanaton wird langsam knapp. Einer der Gründe, weshalb ich weggelaufen bin, war der, daß ich Angst hatte, am Ende müßte ich meine Patienten mit bloßen Händen erwürgen. Bitte halte mich nicht für einen Feigling. Aber es gibt einen Zeitpunkt, von dem an die Familie an erster Stelle stehen muß. Das Schlimmste ist ja vorbei. Wir haben schon seit Monaten zuviel Personal. Sogar die 483
Einwanderungspolitik gegenüber den Boat People ist umgestellt worden. Gesunde sind durchaus willkommen. Aber es kommen ja sowieso kaum noch welche. Verbrenn das sofort nach Erhalt. JETZT! Ich werde mich melden. Wann oder wie, kann ich noch nicht sagen. Ich bete täglich, daß Du entkommen bist. Wartet auf mich! Watling kann gar nicht mehr lange durchhalten. Ein »öffentliches Interesse«, ein »Vereinigtes Königreich«, einen »Staat« wird es bald nicht mehr geben. Dann sind wir auf uns selbst angewiesen. Bereite Dich darauf vor! Gib den Kindern einen Kuß! Ich liebe Dich, »Josephine« Amtl. Vermerke: DSS-Inverness 0176-43. Beschlagnahme erfolgte in Lochend, 27-11-43. Als Verfasserin kommt Dr. Mariana Lockwood in Frage, ASF Housesteads, seit 21-11-43 gesucht wegen Fahnenflucht, derzeitiger Aufenthaltsort unbekannt. Der Ehemann der Verdächtigen, Anthony Duluth, Getreidebiologe am Forschungsinstitut Great Glen, wurde am 11-1-44 verhaftet. Vermutlich Sympathisant der MacBeath-Terroristen, die in den Cairngorms aktiv sind.
484
Der Alptraum der Vernichtungslager war also hundert Jahre später wieder zurückgekehrt, als die Natur die biologischen Schulden der Menschheit zurückforderte. War es das gewesen, was ich gesehen hatte in Fountains? Hatte der Bulldozer Massengräber ausgehoben? Weitere Hinweise auf Herzwürmer fand ich übrigens nicht mehr. Was waren das eigentlich für Tierchen? Fadenwürmer? Ein Freund von mir, der in Houston lebte, hatte seinen Schäferhund auf diese Weise verloren. Ich erinnere mich noch genau an seine gräßliche Schilderung der ekelhaften aalähnlichen Würmer, die sich im Blutstrom festsetzten und Lunge, Herz und Leber zerfraßen. Hatte die massenhafte Haustierhaltung daraus eine Seuche gemacht? Oder die Klimaveränderung? Wie hatten sie die Artenschranke überwunden? Was RISC war, wußte ich überhaupt nicht, und ich glaube, die damaligen Mediziner wußten es auch nicht. Ein undatiertes Fragment erwähnte »eine menschliche Entsprechung des Massensterbens von Seehunden, Walen und Froschlurchen«, aber das kann natürlich etwas völlig anderes gewesen sein. Irgendwann wurde mir klar, daß es sich um eine Abkürzung für Rapid Immune System Collapse handelte. Es schien sich ausgebreitet zu haben wie Grippe. Ich hatte gerade alles abgeschrieben, als Macbeth in die Tür trat. Er zwang mich, ihm alles noch einmal vor485
zulesen und fuhr dabei jede Zeile mit dem Finger nach, so daß ich kein Wort auslassen konnte. Sein Bart wogte heftig, und sein Mund bewegte sich, als müßte er einen Riegel Kautabak kleinkriegen. Ich hatte gar nicht bemerkt, daß mir Tränen übers Gesicht liefen. Aber Angus sah es sofort. »Du bist ainer von ihnen, David, nicht wahr?« »Einer von was?« »Ainer von den Gentiles.« »Nun, wir sind alle Abkömmlinge. Ihr seid es auch …« »Davon red ich nit, David. Du bist zurückgekommen aus der Zeit des Sterbens, nit? Die Leute in der Stadt sagen, du bist nit aus Vlaisch und Bluot. Sie sagen, wenn du nit vom Himmel kommst, dann aus der Hölle. Sag mir: Hat der Tuivel dir geholfen? Können saine Maschinen ainen von jenseits des Grabes zurückholen?« Er unterbrach sich und sah mich so besorgt an wie ein Vater, den sein Sohn verraten hat. »Schau dich doch an, David. Sieh dir dain Hemd und daine Hose an. Und daine Schuhe. All die klainen Stücke Plast und Metall. Du kannst mir nit erzehlen, dass die von Menschen gemacht worden sind.« »Genauso wie Eure Kanonen, die Teppiche an Euren Wänden und dieser Sessel da« – ich zeigte auf die Rückbank des Cadillac, die sie mir ins Zimmer gestellt hatten. »Wenn die Maschinen alle vom Teufel gemacht worden 486
sind, warum hebt Ihr sie dann auf?« »Nur als memento mori, David. Wir sehen uns diese hübschen Sachen an, die so schön, glatt und stark sind, als weren sie das Werk von Göttern, und dann sagen wir uns: Diese Menschen sind gescheitert. Das hindert uns, ihnen nachzuhuren.« »Ach, ja, meine Schuhe. Ich hab sie seit meiner Ankunft nicht mehr gesehen. Ich hätte sie gerne zurück, wenn es Euch gefällt. Meine Füße …« »Zur Hölle mit dainen Füssen! Hör auf, es abzustreiten. Ich brauch dich nit weinen zu sehn, um zu wissen, was mit dir los ist. Du sprichst genau wie diese Papiere. Ihr seid vom gleichen Stamm!« »Wir beherrschen noch ein paar von den alten Künsten – genauso wie Eure Vorfahren. Das habe ich Euch schon erzählt. Aber bei uns sterben sie auch aus. Wir sind nicht halb so viele wie ihr. Wir sind in einer verzweifelten Lage. Deshalb bin ich ja losgeschickt worden. Aber ich habe euch nur durch Zufall gefunden. Es war ein Schuß ins Blaue. Ich schwöre Euch auf die heilige Bibel: Niemand weiß, daß ich hier bin. Ihr habt von mir und meinem Volk nichts zu fürchten.« Lautlos war Lady Macbeth eingetreten. Angus schüttelte den Kopf, winkte mit der Hand und zog eine Grimasse. Dann überließ er mich seiner Frau. Sie näherte sich und stieß mir ihr Gesicht direkt vor die Nase, eine 487
schockierende Intimität, wenn man bedachte, wie arrogant und kühl sie sonst war. Wir standen am Fenster, und ich konnte jede Pore in ihrem scharfgeschnittenen Gesicht sehen. Ihr Atem roch nach Whisky und schlechten Zähnen. Sie sagte etwas zu ihrem Mann, was ich nicht verstand. »Mach die Schnauze auf«, befahl er. »Weit aufmachen!« Ich tat wie befohlen. Lady Macbeth inspizierte mich, als ob sie ein Pferd kaufen wollte. Das Muttermal auf ihrem Kinn blutete schon wieder. Ein Wachsoldat kam herein. Er trug einen runden Gegenstand in der Hand. Macbeth warf mir einen hilflosen Blick zu, schwieg aber. Es war ein grünbemooster Schädel. »Du hast das Verlies ja gesehen«, sagte sie eisig. »Ganz unten aus dem Haufen hat der Doktor das Ding hier gezogen.« Sie streckte mir den Schädel hin – mit den Zähnen nach oben. »Hunderte von Jahren ist das Ding alt.« Ich nahm den Schädel mit zitternden Fingern. Ich wußte genau, worauf sie hinauswollte. Lady Macbeth wäre keine schlechte Archäologin gewesen. Die Zähne des Toten zeigten Plomben ganz ähnlich wie meine. »Versuoch mir ploss nit zu erzehlen«, sagte sie voll Wut und Angst, »dass ihr in ainem Tal mit zweitausend Seelen ainen Zahndoktor habt, der so etwas kann!« 488
Angewidert stürmte sie aus dem Raum, und die Krallen ihres Hundes klapperten hinter ihr her. Ich stand wie gelähmt und fragte mich: Was kommt jetzt? Ein Pfahl durch mein Herz? Macbeth ließ sich auf den Autositz fallen, und ich sagte: »Na, schön. Ich werde ein Geständnis ablegen, das ausschließlich für Eure Ohren bestimmt ist.« Ich wartete, bis er nickte. »Ich bin mit einem Boot gekommen, das durch die Jahre segeln kann. Ich bin durch fünfhundert Jahre gesegelt, um zu euch zu kommen. Das Boot ist das einzige seiner Art, und ich bin allein gekommen. Keine Maschine kann die Toten zurückbringen. Das schwöre ich dir, Angus. Niemand sonst wird mir nachfolgen.« Er war so still geworden, daß ich dachte, er glaube mir vielleicht nicht. Aber warum sollte jemand, der alle Maschinen für Teufelswerk hielt, eine Zeitmaschine für weniger plausibel halten als ein Flugzeug oder ein Auto? »Wo ist dieses Boot jetzt? In Edinburgh?« »Nein. Es ist weit weg. Am anderen Ende der Insel. Ich bin zu Fuß gekommen. Den ganzen Weg durch die Heißländer. Aus London. Ich bin über einen Monat gelaufen.« »Lunnon!« Er machte ein Gesicht, als hätte ich gesagt, ich käme gerade aus Belsazars Babylon. »Lunnon! Weh, weh, die grosse Stadt, die bekleidet war mit köstlicher Leinwand und Purpur und Scharlach. In einer Stunde ist 489
sie verwüstet. Und das Licht der Lampe soll nicht mehr in dir leuchten.« »Offenbarung«, sagte ich. Plötzlich schien sich auf seinem ureigensten Terrain ein Schlupfloch für mich zu eröffnen. »Welches Jahr haben wir? Sind wir nicht im Jahre des Herrn 2501?« Der Laird nickte. »Und er griff den Drachen«, sagte ich, »die alte Schlange, welche ist der Teufel und Satan, und band ihn tausend Jahre.« (Gott segne Onkel Phil, die alte Schlange!) »Seit dem Untergang der großen Stadt sind noch nicht einmal fünfhundert Jahre vergangen. Ich habe nichts zu tun mit dem Drachen, Angus. Das Schiff, das mich hierher gebracht hat, kommt nicht aus dem Abgrund.« Er grunzte leise. Vermutlich war er schlau genug, um solche Argumente angemessen relativieren zu können, aber zumindest konnte er sie – wenn er wollte – gegen Intriganten wie Kenneth oder seine Frau verwenden. Auf die abergläubischen Mitglieder seiner Gemeinde würden sie Eindruck genug machen. Ich dachte: Jetzt läßt er mich nie gehen. Warum soll er mir glauben, daß es nur eine Zeitmaschine gibt? Wenn er mich laufen läßt, wird er bis zum Ende seiner Tage Angst vor einer Invasion aus der Vergangenheit haben.
5 Die Morgendämmerung am Karfreitag war naß, schwül und trübselig – der Himmel war in Trauer um den Menschensohn, wie Macbeth sagte. Es hatte schon seit Tagen geregnet, bis der Mörtel in den dicken Mauern hinter meinem Bett sich so vollgesogen hatte, daß sie beständig und untröstlich weinten. Lange vor Tagesanbruch hatte der heulende Wind mich geweckt, der an den Fensterläden rüttelte und durch die Ritzen fegte. Als es hell wurde, kam noch das unregelmäßige Pfeifen von Dudelsäcken aus der Behausung des Lairds und seiner Gemahlin hinzu. Erinnerst du dich noch an den Tag, als wir uns in deiner Wohnung diesen australischen Dokumentarfilm über ein Passionsspiel in Mexiko angeschaut haben? Es muß einer der letzten Abende gewesen sein, an dem wir beide bei dir waren. Bird hatte guten Stoff mitgebracht, und wir haben uns ziemlich betrunken. An dieses Passionsspiel mußte ich jetzt denken, als ich mein Kostüm, ein weißes, wallendes Gewand und mein Lendentuch anlegte. Jesus Christus ist der örtliche Elektriker. Mit bürgerlichem Namen heißt er José Fuentes. Heute erleben wir Joses elfte Kreuzigung. Er ist ein echtes Naturtalent. In 491
Mexiko werden Gringos als Christus bevorzugt, und er ist der einzige Blonde, den sie in der Stadt haben. (TOTALE: Ausgemergelte Gestalt stolpert in der Mittagshitze eine staubige Straße hinunter. Straßenköter. Großes Kreuz aus dicken Balken. NAHAUFNAHME: Blut und Schweiß fließen wie heißes Kerzenwachs über ein Männergesicht.) Die Ruten und Dornen sind übrigens alle echt. José braucht jedes Jahr zwei Wochen, um sich davon zu erholen. Aber er weiß auch, je mehr es weh tut, desto höher wird sein Platz im Himmel sein, wenn seine Zeit gekommen ist. (Römische Soldaten peitschen einen knochigen Rücken. ZOOM auf die Striemen.) Die Leute hier in Mexiko wissen eine gute Kreuzigung zu schätzen. Je realistischer, desto besser. Das einzige, was nur vorgetäuscht ist, sind natürlich die Nägel. Aber dieses Jahr ist sich José sogar in dieser Hinsicht keineswegs sicher. Seine Freunde sagen, er sähe ziemlich beunruhigt aus. Denn dieses Jahr wird er dreiunddreißig. Kurz nachdem ich zugegeben hatte, daß ich ein Gentile war, hatte ich Macbeth gefragt, ob er denn immer noch wolle, daß ich bei ihrem Osterspiel mitmachte. Er habe darüber nachgedacht, sagte er, aber wenn er mich gestrichen hätte, hätte seine Frau sich gefragt, was das wohl zu bedeuten hätte, und es sei doch wohl besser, wenn sie nicht allzuviel wüßte. »Aufgrund bitterer Erfahrungen, David, bin ich zu der Erkenntnis gelangt, daß 492
es besser ist, nit auf ein schwelendes Feuer zu prunssn.« Die halbe Ernte hatte der Regen verdorben, und die Leute machten sich Sorgen. Es würde nicht lange dauern, und die abergläubischen Gemeindemitglieder würden einen Zusammenhang zwischen der Anwesenheit eines Malkies und der bevorstehenden Mißernte herstellen. »Sie will, dass du mitspielst, Mann. Sei froh drum.« »Ausserdem, David Lambert, weiss ich jetzt, dass du zum ersten Mal die Wahrheit sagst, seit du hier bist. Wer sich für das Leben von Pontius Pilatus interessiert … muss wirklich ein wahrer Christ sein.« Er machte eine Pause und seufzte wieder einmal wie eine Lokomotive. Dann sah er mir fest in die Augen und lächelte amüsiert. Angus hatte ein Geheimnis. Ich brauchte einen Augenblick, bis ich kapierte. Ein schreckliches Gefühl der Demütigung überfiel mich. Seine Männer hatten mein letztes Versteck am Slochd Paß gefunden und meine Sachen ausgegraben! Den Schreibunterricht hatte er bloß deshalb von mir verlangt, um meine Aufzeichnungen lesen zu können. (Bloß gut, daß ich den Laptop in Edinburgh gelassen hatte!) Ob er sie verstanden hatte? »Kann ich mein Notizbuch wenigstens zurückhaben, wenn Ihr’s schon lesen mußtet, mein Laird?« sagte ich. »Und meine Schuhe hätte ich auch gern wieder!« 493
»Alles zu seiner Zeit, David. Alles zu seiner Zeit. Erst müssen wir mal Ostern feiern. Ach, übrigens, was ich dir immer sagen wollte: Das mit dainer Hand tut mir leid. Aber du verstehst vielleicht, daß jemand in mainer Position sain Gesicht wahren muss. Wollt nit, dass sie mich for ain Waschtuoch halten.« Er zuckte wie ein Franzose verständnisheischend die Achseln, dann sagte er: »Die Fassenzeit ist fast vorbei – wolln wir ain Gleschen trinken?« Macbeth und ich hatten weit mehr als ein Gläschen von seinem wirklich sehr alten Malzwhisky in jener Nacht. Die Welt, die ich verlassen hatte, interessierte ihn brennend. Ich bemühte mich nach Kräften, seine tausend Fragen zu beantworten, aber obwohl wir fast dieselbe Sprache sprachen, hatten wir nicht genug gemeinsames Vokabular. Staaten, Konzerne, Umweltprobleme, Arbeitslosigkeit, Standortdenken, Bevölkerungsexplosion, Kernkraftwerke, nukleare Bedrohung: so viele Wörter und Begriffe bedeuteten ihm überhaupt nichts, und was er kannte, kannte er nur aus der Bibel. Er wußte ja nicht einmal, was Benzin war. Könnt ich euch zurückversetzen sechshundert Jahre, verschwinden lassen Kosmogonie, Geologie, Ethnologie … und euch mit Genesis in Einklang bringen! Ich hätte ihm so gern gesagt, daß wir gar nicht so dumm gewesen waren. Wir hatten es doch kommen sehen! Und der Preis, wenn wir versagen, wenn 494
es uns nicht gelingt, die Gesellschaft zu ändern, ist Finsternis. Aber jeder Versuch der Erklärung warf neue Fragen auf, die sich nicht beantworten ließen. Mit einem Wort, ich kam nicht sehr weit mit meinen Entschuldigungen für die Gentiles, auch wenn ich, ähnlich wie Gulliver vor dem König von Brobdingnag alles in ein etwas günstigeres Licht zu setzen versuchte, als es eine ehrliche und wahrheitsgemäße Betrachtung erlaubt hätte. Wir seien eine christliche Kultur gewesen, sagte ich. »Was glaubt Ihr denn, wer all die Kirchen, Kathedralen und Klöster gebaut hat. Die Mauern müssen doch in Inverness und Fort Augustus noch stehen. Ihr braucht Euch unsere Städte bloß anzusehen, um überall großartige Monumente unseres Gottesglaubens zu finden.« Wir hatten doch bloß Befehle befolgt. Wir waren fruchtbar gewesen und hatten uns vermehrt. Wir hatten uns die Erde Untertan gemacht und über alles Lebendige geherrscht. Im Namen Christi hatten wir die Welt erobert. Auch der Kommunismus war ja letzten Endes eine säkularisierte Form des Christentums gewesen. Alle aber, die gläubig waren worden, waren bei einander und hielten alle Dinge gemein. Ihre Güter und Habe verkauften sie und teilten sie aus unter alle, nachdem jedermann not war. »Schöne Gedanken, Angus. Alles schöne Gedanken. 495
Geheiligte Wahrheiten, die wir für offensichtlich hielten. Sie haben gelegentlich zu Katastrophen, Völkermord und Sklaverei geführt – aber Ihr werdet zugeben müssen, es waren schöne Gedanken.« Wenn man einen Treffer gelandet hatte, sagte Macbeth meist nicht viel. Er grunzte, zischte und stellte die nächste Frage. »Sag mal David, was ist eigentlich Zivilisation?« Na, was hättest du gesagt, Anita? Genau wie du hab ich dem Wort nie besonderen moralischen Wert beigelegt. Die römische Christenverfolgung im Kolosseum, die Inquisition, die Vernichtungslager der Nazis, die Atombombe – Schlimmeres haben die unzivilisierten Barbaren gewiß nicht begangen. Ich habe mich immer strikt an technische Definitionen gehalten: Zivilisiert ist eine Gesellschaft auf einer bestimmten Ebene, mit bestimmten komplexen Organisationsformen. So etwas wie der Klan, sagte ich, bloß tausendmal größer. Nicht bloß ein Buch, sondern mehr als irgend jemand zählen konnte. Ich wies auf die regelmäßigen Zyklen von Aufstieg und Fall, Plünderung und Zusammenbruch hin; zitierte Aphorismen, unterdrückte allerdings die meisten: Zivilisation, das sind anständige sanitäre Einrichtungen. 496
Zivilisation braucht Sklaven. Zivilisation beruht auf Schießpulver, Druckerpresse und protestantischer Religion. Zivilisation heißt, die Welt so herzurichten, daß man keinen Ärger mehr damit hat. Zivilisation ist das allmähliche Ersetzen von Menschen durch Dinge. Zivilisation heißt über seine Verhältnisse leben. Zivilisation führt zu Wüsten. Zivilisation stirbt genauso leicht an Ironie wie an Ausschweifungen. Und natürlich Skef: Zivilisation ist eine Pyramide. Ich beeilte mich freilich, zu unserer Ehrenrettung hinzuzufügen, alle Beteiligten hätten immer wieder betont, die eigentliche Probe auf den zivilisierten Charakter einer Gesellschaft bestünde in der Frage, wie sie ihre schwächsten Mitglieder behandelt. »Aber David, du wirst doch zugeben müssen, dass es dem HErrn in SEiner Weisheit gefallen hat, die Gentiles zu vertilgen. Wo immer du hinschaust, findest du die Spuren SEines Zorns. Wenn die Zivilsation so gut war, wie du behauptest, warum hat das der HErr dann getan?« Schlauer Bursche. Selbst wenn man den lieben Gott aus dem Spiel ließ, hatte er damit nicht unrecht. 497
»Darf ich Euch eine Gegenfrage stellen? Was ist mit Glen Nessie? Warum, glaubt Ihr, hat Euch der Herr verschont?« Es schien, als wollte er ganz spontan antworten, aber dann hielt er inne und schenkte uns erst noch ein weiteres Glas ein. Als er schließlich die Stimme hob, war sie getränkt mit jener Feierlichkeit, die er für die Bibel und die Mythen reserviert hatte. »Der HErr kam zur Zeit von Macbeth dem Grossen nach Nessie und fragte, ob es irgend etwas gäbe, das unser Volk brauchte. Und Macbeth sprach, wir seien keines Dinges bedürftig. Wir hätten Wasser zum Trinken und Luft zum Atmen; wir hätten Fleisch von Schafen und Maisbrot. Und das Eisen und die Steine der Gentiles rundum brauchten wir uns nur zu nehmen, wenn wir sie wollten. Es gebe kein Geschenk, das er vom HErrn erbitten wolle, sagte Macbeth. Er fürchte nicht einmal den Teufel, denn er hatte das Tier getroffen und ihm zwei Köpfe abgeschlagen, so dass es sich nicht mehr zu zeigen wagte im Umkreis des Menschen. Und der HErr sprach zu Macbeth: Die Sünden der Gentiles waren Habgier, Neid, Fressgier, Streitsucht, Wollust und Trägheit. Deine Sünde ist der Stolz. Aber du hast wohlgetan, dass du keine Geschenke verlangt hast, denn die anderen haben die Dinge, die ich ihnen gegeben habe, gegen mich und gegeneinander gewendet. Deshalb werde ich dir keine Räder machen, und du 498
wirst auch keine Flügel haben. Kein Pferd wird dich tragen, kein Ochse wird für dich pflügen. Du sollst in Mühsal leben und Armut, und die Tage deines Lebens sollen kurz und hart sein. Die Dinge, die dir gehören, sind die Hinterlassenschaft der Toten. Du aber sollst das Leben haben; denn du bist meine Hinterlassenschaft, die ich nicht vertilgen will von der Erde.« Das also war der Mythos Macbeth: ein Adam, der nichts verlangt, ein Artus, der sein eigenes Schwert mitbringt. Selbstgenügsamkeit, Stillstand, Überleben. Die klassischen Tugenden der Schotten. Die Passionsspiele waren recht merkwürdig – ein Mummenschanz, der durch Jahrhunderte tradiert war. Die Proben fanden auf dem Schloßhof statt. Aber die Schauspieler kamen keineswegs immer alle. An eine geschliffene Inszenierung war also gar nicht zu denken. Lange Textpassagen und manche Nebenpersonen waren offenbar vergessen worden, und große Teile der Handlung bestanden aus Pantomime. Was an Text überlebt hatte, war ein literarisches Fossil in einem archaischen Englisch, das meinen Mitspielern noch fremder als mir war. Der Laird ernannte Hob zu meinem persönlichen Berater und Regisseur. Hob spielte einen römischen Soldaten, aber als ehemaliger Souffleur kannte er das ganze Stück gut, und daß er 499
bei den Proben in Mailies Nähe sein konnte, machte ihn überglücklich. Die Einzelheiten ihrer Geschichte hatte Mailie mir nach wie vor nicht anvertraut, aber ich bemerkte wohl, daß sie Angst vor Lady Macbeth hatte und auch in Gegenwart des Lairds nicht gerade entspannt war. Unsere Wanderungen und Badeausflüge zog sie so weit wie möglich in die Länge, um nicht in der Nähe des Paares zu sein. Was geschehen war, schien leicht zu erraten: Der Alte hatte sie geschwängert, und weil sie nicht in der Lage war, auf lange Sicht zu denken, hatte Lady Macbeth das Kind in der Wiege umbringen lassen. Welche Rolle Hob genau spielte, war mir nicht klar – der Deckhengst der Lady? Meine Rolle erläuterte Hob mir mit großer Freundlichkeit und Geduld, nicht nur um Mailies willen, sondern offensichtlich, weil es seine Natur war. Die Geißelung, sagte er, werde sich ziemlich echt anfühlen, und auch am Kreuz müsse ich mit einiger Unbequemlichkeit rechnen, auch wenn ich nicht angenagelt, sondern mit Stricken festgemacht würde. Wenn ich erst mal den Geist aufgegeben hätte, würde ich in der Dunkelheit weggeschafft werden, während das Publikum von einem »Teufelstanz« in der Stadt abgelenkt wurde, und am nächsten Morgen würde der »Lord of the Loch«, die blasse, blutige Ikone aus dem Bergfried, an meiner Stel500
le am Kreuz hängen. Den Karsamstag hatte ich frei – ich mußte bloß unsichtbar bleiben. Am Sonntag würden dann die Begegnung mit Maria Magdalena im Garten (d. h. in der Karosserienallee vor dem Schloßtor), der Gang nach Emmaus (auf dem Weg nach Dumnorrit) und die Erscheinung vor den Jüngern (in der Kirche) erfolgen. Anschließend würde ich dann – wie bei Markus und Lukas beschrieben – zum Himmel auffahren. Zu diesem Zweck gab es in der »Kirk« (auf dem Dachboden des ehemaligen Hotels) eine Seilwinde, die wegen ihrer sakralen Funktion nicht dem Räder-Verbot unterlag. Mein letzter Satz kam aus dem Matthäus-Evangelium: »Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.« Meist erörterten Hob und ich das in meinem Zimmer. Ich vertraute ihm, und ich glaube, er mochte mich auch. Seine sachliche Betreuung nahm mir weitestgehend die Sorge, daß man mich tatsächlich opfern wollte. Wenn geplant war, mich zu töten, dann wußte er nichts davon. Manchmal brachte er auch Freunde mit – ein paar von den anderen römischen Soldaten –, und ich verwöhnte sie mit Kaffee. Wenn es ein stiller Nachmittag war und keine Befehle von höherer Stelle vorlagen, schlichen sich Mailie und Hob meist zu einem Spaziergang davon. (Mailies Interesse an mir schien nachzulassen, was ich zwar bedauer501
te, aber es war sicher besser für sie.) Am Dienstag oder Mittwoch waren die beiden wieder einmal unterwegs, und ich saß allein mit Neil beim Kaffee. Neil war einer der beiden Wachsoldaten, die mir damals die Schädelpyramide im Verlies des Schlosses gezeigt hatten, aber seither waren wir Freunde geworden. Er war ein breitschultriger, nicht mehr ganz junger Mann mit frostigem Bart, O-Beinen und derben Manieren. Wenn es Pferde gegeben hätte, hätte ich ihn für einen Kavalleristen gehalten. Neil war ein leidenschaftlicher Kaffeetrinker, und ich fühlte mich wohl in seiner Gesellschaft. Bei der zweiten Tasse wurde er meist recht gesprächig. An diesem Nachmittag gelang es mir, unsere Unterhaltung auf das komplizierte Beziehungsgeflecht in Urquhart Castle zu bringen. Ich hätte gehört, sagte ich, Mailie und der Laird seien Cousins. »Kussins!« lachte er. »Ja, von wegen!« Jahrelanges Zuckerrohrkauen hatte sein Gebiß auf ein paar schwärzliche Stummel reduziert – trotz des menschlichen Backenzahns, den er zur Abwehr dentaler Probleme am Hals baumeln hatte. Er nahm einen großen Schluck Kaffee aus einer edlen Doulton-Tasse mit der Aufschrift Palace Hotel, lnverness. Seine Augen waren von amüsierten Fältchen umgeben. »Sie ist die Halbtochter, wenn du verstehst, was ich meine.« 502
»Willst du damit sagen … Macbeth ist doch nicht etwa ihr Vater?« »Und ob! Lady Macbeth ist allerdings nit die Mutter. Aber das ist nur die aine Seite der Geschichte.« Neil unterbrach sich und starrte bedeutsam in seine leere Tasse. Ich quetschte ihm die letzten Tropfen aus der Kanne. »Redest du etwa von Mailies Kind?« fragte ich. »Willst du sagen, Macbeth ist auch der Vater ihres Kindes?« »Wenn man’s ain Kind nennen kann, das Lot-Söhnchen, das arm klaine Wurm.« Als er merkte, daß ich ihn nicht verstanden hatte, flüsterte er mir ins Ohr: »Und die Erstgeborene ging hinein und legte sich zu ihrem Vater …, wenn du verstehst, was ich mein.« Natürlich: der alte Lot und seine Töchter. Bei seinen verzweifelten Bemühungen um Nachwuchs hatte der Klan vor Inzest nicht zurückgeschreckt und sich mit Genesis 19 gerechtfertigt. »Und mit dem Kind hat irgendwas nicht gestimmt?« »Ja, leider. Ain klainer Kopfhenger. Plaich und haarig. Und nit der erste Macbeth, der so war. Es heisst, der Onkel des Lairds sei struppig wie ain Per gewesen, und so faul, dass er die Scheisse mit dem Fuss aus dem Pett gestossen hat, statt auf die Latrine zu gehen. Und so verrückt wie ain Paum voll Papageien. Mit zwölf Jahren 503
ist er gestorben, aine grosse Gnade.« »Und das war der Grund, warum Lady Macbeth es hat … einschläfern lassen?« »Ja, so hab ich’s gehört. Aber viele sagen, sie hett es sowieso gemacht. Ganz unter uns, Mann, im Herzen ainer Hexe wohnt mehr Menschenliebe. Die Lady ist von ainem Macdonald gezeugt worden, und das ist aine harte Sorte.« Später dachte ich: Wieso war das Kind »blass«? Ist Mailies Kind umgebracht worden, weil es zu hellhäutig war? War das der Grund, warum sich das Mädchen zu mir hingezogen fühlte? Aber Neil hatte auch gesagt, in der Familie des Lairds gebe es Geisteskrankheit und Erbschäden. Wenn es dem Klan um Nachwuchs ging, würden Kinder wohl nicht bloß deshalb getötet, weil sie nicht genug Pigment hatten. Oder doch? Bei vielen Angehörigen des Klans sah man kaukasische Züge und glattes Haar, aber niemand war heller als eine Walnuß. Da ich keinen Spiegel in meinem Quartier hatte, hatte ich mich an den Gedanken gewöhnt, ich wäre genauso wie alle anderen – so wie ein Haushund denkt, er gehört zur Familie. Das Passionsspiel allerdings erinnerte mich an den Unterschied: Sie wollten mich als Jesus, weil ich aussah wie der Lord of the Loch. Die Gefühle des Klans gegenüber Weißen sind sehr kompliziert. Ihre dunkle Hautfarbe trägt wesentlich dazu bei, daß sie sich für 504
etwas anderes halten als die »Gentiles«. Die Gentiles waren weiß, das übriggebliebene Volk des Herrn schwarz. Aber ihr Christus ist immer noch weiß. Es geht ihnen also ähnlich wie den antisemitischen Christen, die immer darüber hinwegzusehen versuchten, daß Jesus Jude war, zumindest zur Hälfte. In Seinem Fall machen sie eine Ausnahme. Die Malkies in Edinburgh sind wohl weiß gewesen, jedenfalls größtenteils. Die Graffiti, die ich auf meiner Wanderung gesehen hatte – LASST DIE BIMBOS RUHIG BRATEN oder WATLING: DIE RICHTIGE EINSTELLUNG – lassen vermuten, daß die Militärregierung von weißen Rassisten gestützt wurde. Auch der folgende Zeitungsausschnitt aus der Sammlung des Lairds weist darauf hin: … das Massaker in der Notting Hill Moschee militanten Mitgliedern der Nationalen Erweckungsfront zugeschrieben. Ein Polizeisprecher sagte, der Zwischenfall werde zutiefst bedauert, aber die Polizeikräfte seien bis zur Erschöpfung beansprucht und könnten nicht überall sein. Ein Führer der NEF, der sich als »Bormann« identifizierte, soll auf einer Versammlung auf dem Trafalgar Square erklärt haben: »Wir töten die Blinden. Wir töten die Krüppel, die Schwulen und Lesben. Wir töten die Kanaken und 505
Juden. Und wenn wir damit fertig sind, gehen wir zum Friedhof und graben sie wieder aus und bringen sie noch einmal um!« Wieso hieß der Laird eigentlich Kwame? Angus Kwame Macbeth. Abgesehen von diesem Namen (und vielleicht auch der Hütte, in der man mich nach meiner Entlassung aus dem Burgverlies untergebracht hatte) gab es wenig Afrikanisches in dieser Kultur. Die Herkunft des Klans war mir rätselhaft, ich wußte kaum mehr über sie als sie über mich. Sie beteten wie die Piskies, trugen Tartanmuster, tranken Whisky und spielten sogar Football auf einer Wiese unter der Kirche; mit einem Wort: Sie waren so schottisch wie ihre Sprache. Es erschien mir allerdings denkbar, daß die Leute vom Loch Ness auf ähnliche Weise schwarz geworden sind wie die Schwarzen Kariben auf der Insel St. Vincent. Die Vermischung der entlaufenen Sklaven mit den freilebenden Indianern im Inneren der Insel erfolgte so allmählich, daß die Nachkommen der Sklaven vollständig in die karibische Kultur integriert wurden; im Gegensatz zu den Indianern aber waren die afrikanischen Gene gegen die Seuchen der Alten Welt resistent, und so wandelten sich die karibischen Stämme im Verlauf einiger Generationen zu Schwarzen. Etwas Ähnliches war wohl auch hier geschehen. Die 506
ursprüngliche Kultur des schottischen Hochlands hatte – geschützt von den Bergen und der ökologischen Vielfalt des Glens mit Hilfe der tropischen Nutztiere und -pflanzen aus der Forschungsstation – überlebt und zahlreiche Zuwanderer integriert: erst die Wissenschaftler, dann die Flüchtlinge und Rebellen aus dem brennenden Süden. Ich vermute, das ursprüngliche MacBeath Squad war eine schottische Guerillatruppe, die in den vierziger Jahren des 21. Jahrhunderts, auf dem Höhepunkt der RISC-Epidemie, gegen die neue Malcolm-Dynastie in Edinburgh kämpfte. Als die Gesellschaft sich auflöste und die Sonneneinstrahlung zunahm, wurden die Schwarzen von der Evolution stark begünstigt. Die grausame Triage der natürlichen Auslese, die seit Generationen von der Medizin gestoppt worden war, hatte wieder zu wirken begonnen. UV-Strahlung schwächt das Immunsystem. Wer eine melaninhaltige Haut hat, ist besser dagegen geschützt, und dieser kleine Unterschied hat wahrscheinlich entschieden über Leben und Tod, Fortpflanzung oder Unfruchtbarkeit. Das Kariben-Modell überzeugt mich durchaus, aber vielleicht hat es noch andere Faktoren gegeben. Auch das folgende, zugegebenermaßen enigmatische Dokument stammt aus der Kiste des Lairds. Es trägt den Stempel der Forschungsstation im Great Glen. Abgefaßt 507
wurde es im Jahre 2035, also etwa zwei Jahre nach Watlings Machtübernahme und ein Jahr vor der Evakuierung von London: Von: JKV An: MNR Persönlich! Vertraulich!
21-7-35
»Blackface« richtig erhalten. Vielen Dank im Namen von uns allen. Wie haben Sie bloß den flüssigen Stickstoff aufgetrieben? (Nein, sagen Sie’s mir lieber nicht.) Wir arbeiten sehr intensiv, und die ersten Ergebnisse sind ermutigend. Hoffen wir, daß uns der Generalissimo nicht den Hahn zudreht. Das alles ist natürlich ganz inoffiziell, bis wir sehen, woher der Wind weht. Dieses Material ist vielleicht unsere einzige Hoffnung. Weitere Mitteilungen folgen. Cheers. Und wie gesagt: Millionenmal Danke! (Ganz wörtlich zu nehmen, hoffe ich.) Warum war der Stickstoff so schrecklich geheim? Und was sollte die eigenartige letzte Zeile? Handelte es sich um genetisches »Material«? Hatte es mit Pflanzen oder Lamas zu tun? Ich weiß natürlich auch nicht mehr als du, aber ich habe das Gefühl, es könnte sich um Melanin handeln. Wenn das zuträfe, sind die Mitglieder des 508
Klans vielleicht keineswegs hyperboreische Kariben, sondern genmanipulierte Schotten. Das Ende des natürlichen Menschen. Wenn ich recht habe, bin ich der letzte. Es fegten immer noch Regenböen über den See und die löcherigen Mauern, als Hob mich in den Bergfried brachte. Er holte eine Plastikplane – meine Plastikplane – die er mir so feierlich um die Schultern legte, als wäre es ein Hermelinmantel. Er selbst sah ziemlich byronesk aus, eher griechisch als römisch. Er trug die Uniform eines Wachsoldaten, die durch ein rotes Kopftuch und eine zerschlissene Lederweste ergänzt wurde. Die Menschenmenge im unteren Stock des Burgfrieds (den ich das »Museum« getauft hatte) sah aus wie eine Schulklasse, die eine Theatergarderobe ausgeräumt hat. Jedes noch so verrückte übriggebliebene Kleidungsstück aus Dumnorrit oder aus den Ruinen war zum Einsatz gekommen. An der Tür stand ein Trupp Soldaten in gesprungenen Schutzhelmen aus Plastik, Feuerwehr-, Motorrad- und Bobbyhelmen. Ein oder zwei Männer trugen sogar Offiziersmützen mit grünspanüberzogenen Abzeichen. Alle trugen ihre üblichen Knüppel und Kilts, aber die Bekleidung des Oberkörpers variierte beträchtlich: Pumafelle und Patronengürtel waren ebenso vertreten wie Schwertriemen, selbst509
gemachte Kettenhemden und alte Lederjacken, bei denen freilich häufig ein Ärmel fehlte. Der Raum stank fürchterlich nach Schweiß, Mehltau und Whisky – denn das heilige Malzgetränk kursierte lebhaft zwischen den Dudelsackpfeifern und Schauspielern. Alkohol und Christentum: die beiden großen europäischen Rauschmittel. Mailie erkannte ich erst, als sie unmittelbar vor mir stand: eine lächerliche Gestalt in einem weißen Nylon-Nachthemd, über das sie sich einen gewaltigen Büstenhalter geschnallt hatte. »Du hast die falsche Rolle«, sagte ich. »Du hättest die Madonna spielen sollen.« Ein schwieliger, harter Fuß knallte mir auf die Zehen. Mailie war schon ganz zur Magdalena geworden und fand meine Späße höchst unpassend. Was mir wie eine feucht-fröhliche Halloween-Party vorkam, war in Wirklichkeit eine höchst feierliche, ja, fast schon heilige Veranstaltung. Lady Macbeth, die Jungfrau Maria, lag bereits vor dem Lord of the Loch auf den Knien und betete im Schrecken über die Nachricht, die der Erzengel Gabriel ihr überbracht hatte. Im gelben Licht der Kerzen sah ihr Gesicht zum ersten Mal friedlich und ehrfürchtig aus. Ihre demütige Hingabe entspannte die verkniffenen Züge, und ihre Schönheit trat wieder zutage. Sie schien um Jahre jünger geworden zu sein, und man konnte sich die Braut aus dem Hause Macdonald vorstellen, die den 510
Laird einst entflammt hatte. Die Whiskyflasche machte zwei-, dreimal die Runde, ehe der Regen aufhörte. Wir trotteten im Gänsemarsch auf den schlammigen Hof, der sich mit Sonne füllte, als die Wolken allmählich aufrissen und sich zerstreuten. Macbeth rezitierte mit volltönender Stimme: »Fürchtet euch nicht, Söhne und Töchter von Zion: Siehe, euer König kommt zu euch sanftmütig und reitet auf einer Eselin.« Die Dudelsackmusik wurde leiser, und ich hörte ein anderes Geräusch – ein klagendes, schrilles Iiin, iiin, iin. Im Kreis der Männer, die den Laird umgaben, stand ein ungewöhnlich großes, braunes Lama. Ich hatte immer gedacht, daß diese Tiere stumm wären, aber die Schreie kamen eindeutig aus seinem Maul. Obwohl es so groß war, konnte mich das Lama kaum tragen. Um dem Tier nicht das Rückgrat zu brechen, setzte ich mich auf die Kruppe, wie bei einem Esel. Langsam schritten wir durch den dreiteiligen Torbogen, wo zwei Männer damit beschäftigt waren, für das Kreuz ein Loch zu graben. Der eine war Hob. Er sah von seiner Arbeit auf, als wir vorbeikamen, und lächelte der strahlenden Magdalena zu, die neben mir herging. Eine turbulente Menge strömte vom Schloß in die Stadt, mehr Menschen, als ich je gesehen hatte, seit ich die Vergangenheit verlassen hatte. Sie mußten von den hochliegenden Almen und Äckern, aus den Goldgräber511
lagern am Stadtrand von Inverness und allen anderen Ecken und Winkeln des Fürstentums zusammengekommen sein, um in Dumnorrit Ostern zu feiern. Die Bucht von Urquhart war gesteckt voll mit lederbespannten, zerbrechlichen Booten, deren Segel wie zusammengerollte Bastmatten aussahen. Die Menschen wedelten so heftig mit nassen Palmzweigen, daß ich das Gefühl hatte, als wäre Birnam Wood nach Dunsinane gekommen. Vor mir machte die Menge Platz, hinter mir schloß sie sich wieder zusammen, und der freie Raum um mich herum roch intensiv nach nasser Wolle. Nebel stiegen aus den Feldern, und die Sonne schien so intensiv, als wären wir wirklich im Heiligen Land. Unter dem Einfluß des Whiskys auf nüchternen Magen und geblendet vom grellen Licht, zog ich in einem sanften Rausch durch die Menge. »Hosianna, hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des HErrn, auch der König von Israel!« Eine widerliche Gestalt mit Hörnern auf der Stirn, einem Pumaschwanz zwischen Beinen und Beerensaft oder Hühnerblut im Gesicht begann mich zu umkreisen. Er war in einen gestreiften Pyjama gekleidet – oder besser: in die Überreste eines Pyjamas – und gab sich alle Mühe, mein Lama und die Menge zu erschrecken.
512
Ich bin der Herr der Hölle mit allen ihren Hunden! Fürst dieser Welt und der da unten. Ich lebe von der Sünde und der Menschen Tod. Im Himmel säte ich die erste Not: Da war der schönste ich von allen Engeln, Die stets um Gottes Thron sich drängeln. Ich brachte Tau und Tag und alles Licht, Hieß Luzifer, man liebte mich. Satans Monolog dauerte fast eine Meile, und wir gelangten damit bis an den Stadtrand. (Was ich hier notiert habe, ist freilich nur eine dürftige Erinnerung. Das Stück beginnt allmählich zu verblassen.) Dann war ich dran. Ich erhob meine Augen und starrte so verzückt auf Drumnadrochit, als wäre es das Himmlische Jerusalem. Dann wandte ich mich zum Loch Ness und blickte in die Richtung, wo Edinburgh, London und das echte Jerusalem lagen, beziehungsweise ihre Ruinen. Wehe dir, Jerusalem! Wehe dir und allen, die wohnen in deinen prächtigen Hallen! Verfluchen sollen sie den Tag, an dem man sie geboren hat, wenn Feuer und Schwert, ihre Kinder verzehrt. 513
Speis und Trank wird ihnen fehlen, wenn sie aus dieser Stadt sich stehlen. Es stürzen Turm und Tempel ein, die Himmel werden finster sein. Es wird ein Schwefelregen fallen, wenn am Jüngsten Tag die Trompeten erschallen! Zum Glück war nicht das ganze Stück in solche Verse gegossen. Der Rest des Vormittags war vielmehr mit den Teilen der Passionsgeschichte erfüllt, die wirklich in der Bibel standen und noch einige Bedeutung für die Leute im Glen hatten. Ich stieg von meinem Lama und trat vor die Kirche, von deren Eingang das AD 1882 so stolz auf mich herunterschaute, als wäre das viktorianische Zeitalter der Beginn eines tausendjährigen Reiches voller Fleiß und Tugend gewesen. Ich stellte mich in den Eingang und sprach die von Lukas überlieferten Worte: »Ein Volk wird sich erheben über das andre, und ein Reich über das andre; und werden geschehen große Erdbeben, teure Zeit und Pestilenz; auch werden Schrecknisse und große Zeichen vom Himmel geschehen … Alsdann wer in Judäa ist, der fliehe auf das Gebirge … Denn das sind die Tage der Rache, daß erfüllet werde alles, was geschrieben ist. Weh aber den 514
Schwangern und stillenden Müttern in selbigen Tagen!« Mailie stand auf der untersten Stufe, zwischen mir und der Menge, und errötete schrecklich. Wirklich gedankenlos von mir, daß ich die letzte Zeile nicht gestrichen hatte! Um elf wurde die Hitze schon unangenehm, denn die Aprilsonne stach erbarmungslos vom Himmel. Macbeth (als Hohepriester im Prachtgewand aus weißer Lamawolle und dem gewaltigen Sombrero) trat hinter mir aus der Kirche und erklärte, jetzt gebe es erst einmal eine Pause, bis der Schatten einer bestimmten Sequoie an der alten A 82 auf einen runden Stein im Vorplatz fiel. Es herrschte natürlich immer noch Fastenzeit, und am Karfreitag sollte das Mittagessen eigentlich völlig ausfallen, aber ich vermute, daß im Schatten der Häuser doch einige Leckereien aufgetischt wurden, damit die Leute durchhalten konnten. Mailie brachte mir Maisbrot und Wasser, und wir aßen gemeinsam unter einer Bougainvillea hinter der Kirche. Mailie machte Spanielaugen und sagte kein Wort. Einmal schien sie mit etwas herausplatzen zu wollen, was sie beunruhigte, aber dann blieb sie doch stumm und behielt es für sich.
515
Gegen halb drei wurde das Stück fortgesetzt. Simon der Aussätzige kam zu mir, als ich auf den Kirchenvorplatz zurückkehrte, und lud mich ein, das Osterlamm bei ihm zu essen. Ich trat mit meinen Jüngern in sein Haus – eine offene Bühne, die ungefähr dort errichtet worden war, wo früher der Zement-Plesiosaurus in seinem Brunnen herumplanschte. Auf dem Podium stand ein weißgedeckter Tisch mit Brot, Palmwein (der antike Scotch war nicht das einzige alkoholische Getränk, wie ich jetzt feststellte) und einer großen Bratenplatte, auf der ein dunkles, fest verschnürtes Stück Fleisch lag, das wie ein gefesselter Plumpudding aussah. Die tausendköpfige Menge mit ihren zahllosen, fanatischen schwarzen Gesichtern tobte wie eine wütende, dunkle Sturmflut rund um die Bühne. In meiner vom Whisky betäubten, aber keineswegs ganz beseitigten Panik vergaß ich den Text. Verzweifelt suchte ich nach einem Ausweg, aber meine Blicke blieben immer wieder an der Bratenplatte hängen. Nein, es war kein Plumpudding! Aber ein Osterlamm war es auch nicht. Es war ein dicker Klumpen Haggis. Es war das erste Mal, daß ich diesen gekochten Fleischbrei aus Schafsinnereien (die schottische Nationalspeise), hier sah, und diesmal rettete mich Robert Burns. Ich erhob mich, lächelte der Menge in christlicher Demut und Freundlichkeit zu, wies mit der Hand auf den Fleisch516
klumpen und rezitierte mit meinem besten schottischen Akzent: Dein ehrliches Gesicht und deine fette Masse, du Häuptling von der Pudding-Rasse, sind wahrlich einen Segen wert! Denn Eingeweide, Blut und Darm sind alles, was mein Herz begehrt! Ach, das Gebrüll der geschminkten Gesichter und der Geruch der jubelnden Menge! Vielleicht hatten sie in ihrem kollektiven Unbewußten noch eine schwache Erinnerung an den Barden von Ayr. Aber vielleicht amüsierte sie auch bloß mein übertriebener Akzent und die Tatsache, daß ich vom vorgeschriebenen Text abwich. Wie auch immer: Sie lachten, und in diesem Augenblick fielen mir auch die holprigen Verse wieder ein, die ich aufsagen mußte: Ich bin das neue Osterlamm, muß sterben an des Kreuzes Stamm. Nehmt meinen Leib und dieses Blut dann werden eure Sünden gut. »Sterben?« fragte Petrus. Und dann prophezeite ich, daß ich verleugnet und verraten würde. Ein bärtiger, in 517
grobe schwarze Wolle gekleideter Judas mit glitzernden Augen empfing den Leib Christi, aß und trank und schlich davon. Der Teufel sprang auf die Bühne, packte ihn an der Hand und hielt den Arm des Verräters hoch wie den eines siegreichen Boxers. Die Menge johlte und schrie, und der Teufel rief: Ha! Liebster Judas mein! Du bist mein erstgeborener Sohn! Der Hölle Krone ist jetzt dein, Du sitzt bei mir auf meinem Thron! Das gefiel dem Publikum. Dafür waren sie gekommen: der Verrat, die dreißig Silberlinge. Das Geld war nicht nur Judaslohn, sondern zugleich das Symbol für die gestürzte Welt der Gentiles. Manche Leute besaßen noch ein paar alte Münzen, aber sie dienten nur noch als Erinnerungsstücke an den Untergang der alten Welt, oder wie Macbeth sagen würde: als memento mori. Was Geldscheine waren, mußte ich dem Laird erst erklären, als er mir die rostige Kassette aus seinem Archiv zeigte. Die Scheine stammten aus den dreißiger Jahren des 21. Jahrhunderts. Die Nennwerte waren gewaltig: Mal waren es 1.000.000, mal 5.000.000 Pfund. »Was soll das bedeuten?« fragte Macbeth. »Es war eine Frage des Vertrauens«, sagte ich. »Man mußte einfach darauf vertrauen, daß man diese Scheine jederzeit in Dinge von Wert umtauschen konnte, zum Beispiel in Gold.« 518
»Ja, aber Gold kann man nit essen.« Ich gab ihm die Antwort der Spanier: »Wir hatten eine Krankheit des Herzens, die nur mit Gold geheilt werden konnte.« Judas und Luzifer verschwanden Hand in Hand von der Bühne, und der Akt war zu Ende. Tisch und Haggis wurden beseitigt. Auf dem Kirchenvorplatz führten wir die Ereignisse im Garten Gethsemane auf. Judas kehrte mit den Häschern des Hohepriesters zurück, und die Silberlinge klingelten in seiner Tasche. »Sei gegrüßt, Rabbi!« »Judas, verrätst du des Menschen Sohn mit einem Kuß?« Simon Petrus zog einen Dolch aus seinem Gewand und schlug einem der Häscher sein Ohr ab. Nach all dem Palmwein und Whisky war ich natürlich ziemlich betrunken, und der Schwerthieb sah ziemlich echt aus. Aber noch ehe ich einen zweiten Blick auf die Ohrmuschel werfen konnte, die da im Staub lag, wurde ich vor den Hohenpriester gezerrt. Kaiphas in seiner prächtigen Robe stand gewaltig und trübsinnig auf der Bühne in der Mitte des Platzes und begann sein Verhör. »Beim lebendigen Gott. Sag uns, ob du Christus bist, Gottes Sohn.« »Sage ich’s euch, so glaubet ihr’s nicht; frage ich aber, so antwortet ihr nicht.« 519
»Bist du denn Gottes Sohn?« »Ihr sagt, daß ich’s bin.« »Was bedürfen wir weiterer Zeugnisse?« (Ein Sprechchor im Einklang mit Macbeth.) »Wir haben’s selbst gehört aus seinem Munde!« Dann kam Kenneth. Der kleine, stämmige Kenneth, der wahrscheinlich immer noch dachte, ich käme aus Edinburgh oder direkt aus der Hölle. Er war kein guter Pilatus. Er war nicht weibisch genug. Viel zu engagiert, um die beiläufigen Sätze des Römers wirklich lässig vorzutragen. »Was bringt ihr für eine Klage wider diesen Menschen?« »Wäre dieser nicht ein Übeltäter, wir hätten ihn dir nicht überantwortet.« »Nehmt ihn doch selber und richtet ihn nach euerm Gesetz.« »Aber nach dem Gesetz dürfen wir niemanden töten.« »Bist du der König der Juden?« »Redest du das von dir selbst, oder haben’s dir andere von mir gesagt?« »Bin ich ein Jud? Dein Volk und die Hohepriester haben dich mir überantwortet. Was hast du getan?« »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.« »So bist du dennoch ein König?« »Du sagst, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und 520
in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit zeuge.« Es war totenstill auf dem Platz, und die Menge verfolgte gespannt jedes Wort. Und dann sprach Pilatus jene Frage aus, die den subversivsten Gedanken der Bibel enthält: »Was ist Wahrheit?« Ein zivilisierter Gedanke. Und eine Frage, auf die Jesus nicht antwortet. Pilatus wandte sich der Menge zu: »Ihr habt doch eine Gewohnheit, daß ich euch einen Gefangenen losgebe. Wollt ihr nun, daß ich den König der Juden freilasse?« Aber natürlich verlangte die Menge, er solle den Barabbas freigeben. Die Soldaten packten mich, schlugen mich, kleideten mich in Purpur und setzten mir eine Dornenkrone aus Akazienzweigen auf den Kopf. Es war alles ziemlich echt, genau wie Hob gesagt hatte. Als ich an den Rand der Bühne trat, hinterließ ich auf den Brettern zahlreiche Blutstropfen. »Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!« verlangte die Menge. »Nehmt ihn selbst und kreuzigt ihn!« Ein Soldat brachte eine Schüssel mit Wasser, und Pilatus wusch sich die Hände. Die zwei Meilen von der Kirche zum Schloßtor werde ich niemals vergessen. Es war schon später Nachmittag, etwa fünf Uhr, aber die Sonne war immer noch stark. Ich hatte einen sehr schmerzhaften Sonnenbrand, weil ich 521
den ganzen Tag nur eine Dornenkrone als Kopfbedekkung gehabt hatte. Meine Augenbrauen waren blutverkrustet; und als ich das Kreuz nahm, löste die Anstrengung weitere Ströme von Blut aus, die mir über die Stirn und hinter den Ohren herabflossen. Sie rissen mein Gewand herunter und begannen mich zu geißeln, einige bloß pro forma, andere mit sadistischer Freude. Zwei Meilen mußte ich, angetrieben vom Geschrei derer, die mich fürchteten und haßten, zwischen den dunklen Gesichtern Spießruten laufen. Goy! Malkie! Plaichgesicht! – die längst überholten, unsinnigen Schimpfwörter waren in ihrer Sprache erhalten geblieben wie »Hexe« und »Bastard« in unserer. Es muß fast anderthalb Stunden gedauert haben, bis ich mein Golgatha erreichte. Kenneth war die ganze Zeit dabei und beobachtete mich, suchte in jedem Seufzen und Zucken nach Zeichen überirdischer Kräfte. Er war der Torquemada des Glens, der McCarthy von Loch Ness. Die Sonne stand zwar noch am Himmel, aber das Schloß hatte schon seit Stunden im Schatten der Berge gelegen. Sie nahmen mir das Kreuz von den Schultern, legten es flach auf den Boden und streckten mich darauf aus. Für meine linke Ferse gab es eine kleine Kerbe im Holz, daran wurden meine Knöchel festgebunden. Meine Arme banden sie links und rechts an den Querbalken, und als ich die Augen aufschlug, sah ich Hobs Gesicht 522
über mir. Tut mir leid, flüsterte er. Als Kenneth uns den Rücken kehrte, sprach Hob etwas lauter: Du darfst den Mut nit sinken lassen … Aber der Rest seiner Worte ging im Abendwind unter, der den See kräuselte. Opfer werden am besten gebracht, wenn der Tag stirbt. Sie sahen zu, wie der rote Lichtsaum an den Bergen schmaler wurde, und ein Gipfel nach dem anderen im Schatten versank. Auf diese Weise konnten sie abschätzen, wann die unsichtbare Sonne unter den Horizont sank. Als nur noch ein einziger Gipfel im Licht lag, nahm Hob einen spannenlangen Nagel und schlug ihn mir durch die linke Hand, so plötzlich, daß ich den Schmerz gar nicht spürte. Den zweiten schlug er durch die kaum verheilte rechte Hand. Mir fiel auf, daß er die Nägel durch das Gewebe zwischen Daumen und Zeigefinger trieb, und ich dachte noch: Das kann doch gar nicht halten. Aber ich war ja außerdem mit Stricken festgebunden. Wieso wurde ich dann überhaupt festgenagelt? Der nächste Gedanke war, daß sie mich wahrscheinlich jetzt töten wollten. Daß dies der böse Plan von Lady Macbeth war. Oder war dies das Geheimnis des Klans? Sein heimliches Bündnis mit Gott? Mußte jedes Jahr ein Christus in Schmerzen am Kreuz sterben, um die zu retten, die keine Phantasie, kein Herz und keinen Verstand hatten? Mal ein Verbrecher, mal der mit der hellsten Haut? Wer weiß? 523
Als das Sonnenlicht den höchsten Berg verließ, wurde das Kreuz aufgerichtet. Der Balken rumpelte in das dreieinhalb Fuß tiefe Loch, und ich hing im blutroten Himmel.
TEIL IV TITHONUS
1 Wie soll man sich hier bloß Aufmerksamkeit verschaffen, ohne daß man dauernd Bakschisch verteilt? Hat vielleicht jemand Platz für meine Notizen? Sind kaum doppelt so dick wie eine Klopapierrolle. Kellner! Holla! Was soll’s? Ja, Ihre beste Flasche Chateau Ptolemy Fond de Cave und einen Teller mit Snacks. Wir können ja später noch woanders essen, nicht wahr? Es gibt doch bestimmt noch ein besseres Lokal in der Stadt? Das bezweifle ich, David. Ich bin jetzt schon über ein Jahr hier, genauer gesagt: beinahe zwei, und suche immernoch nach einem brauchbaren Restaurant. Aber nach Assuan kommt man schließlich nicht wegen des Essens. Und auch nicht wegen der Weine. Nein (lachend), bestimmt nicht wegen der Weine. Aber verschwende dein Geld nicht auf die importierten. Die Sachen werden auf dem Transport so durchgeschüttelt, daß sie genauso ungenießbar sind, wenn sie hier ankommen. Ich hoffe, das gilt nicht auch für mich. David! Mein Gott, schau dir den Sonnenuntergang an. Staub wahrscheinlich. Oder Luftverschmutzung? Du sollst es mir nicht verderben! Hinschauen sollst du! Die Sonne bringt jetzt keine Hitze, keine Helligkeit 526
und keinen Schmerz mehr. Ra, Helios, Sol, Inti, Matahari: Jetzt kann man dem alten Sonnengott ins blutrote Auge schauen, ohne zu blinzeln. Aber wie riesig er aussieht! So angeschwollen, daß er den ganzen Himmel über der Wüste erfüllt und die Wüste verbrennt, um seine schwindende Kraft zu ersetzen. Die ganze Erde auf der anderen Seite des Nils ist von der Sonne erfüllt, wenn die Scheibe des Ra in ihrer bemalten Barke dahinsegelt. Das Schiff, in dem sie saß, ein Feuerthron, Brannt’ auf dem Strom: getriebnes Gold der Spiegel, Die Purpursegel duftend, daß … Anita? Mach weiter! Nicht aufhören! Anita, meinst du, du könntest … Mach weiter! Mach weiter. Gib mir Verse. Mit Poesie erreichst du bei mir alles. … der Wind ihr liebend folgte; die Ruder waren Silber … Was als nächstes kommt, hab ich vergessen. Oh, schau nur! Blut auf den Wolken, fetzt darfst du einfach nicht aufhören. Du darfst nicht. Ich verbiete es dir. Als sie gelandet, bat Antonius sie Zur Abendmahlzeit … Nicht kann sie Alter welken lassen, tägliches 527
Sehen an ihr den immer neuen Reiz nicht stumpfen; Andre Weiber sättigen, die Lust gewährend: Sie macht hungrig, Je reichlicher sie schenkt. Das ist alles, was ich weiß. Der Rest ist ohnehin nicht mehr so schmeichelhaft, wenn ich mich recht entsinne. Worum ich dich bitten wollte, Anita … Kannst du mich Mr. Lambert nennen? Ach, das? Dafür bist du so weit gekommen? Um mich das zu bitten? (Erneutes Gelächter) Das hatte ich ganz vergessen, David. Du warst immer so … exzentrisch. Findest du, daß du so normal bist? Diese Pfeife zum Beispiel finden manche Leute sehr eigenartig. Sogar der Kellner schaut schon ganz komisch. Die sollten eigentlich an exzentrische Archäologen gewöhnt sein, wir kommen schließlich schon seit zweihundert fahren hierher. Manche sogar schon viel länger; bis heute morgen bin ich älter gewesen, als du dir vorstellen kannst. Das hört die hungrige Archäologin gern! Je älter du bist … Mr. Lambert, desto wahrscheinlicher ist es, daß ich mich für dich interessiere. In unserm Mund und Blick war Ewigkeit. Ach, hätt ich deine Maße. Das Champagnerfrühstück: Die Leute wankten herein, die Männer ohne Krawatten und Schuhe, die Mädchen in nassen Kleidern, die ihnen am Leib klebten (du zum Beispiel, Anita). Ich weiß noch sehr genau, wie es war. Soll ich es dir erzählen? 528
Ich hatte ihn nicht gesehen und wußte gar nicht, daß er im Raum war, ehe ich die warnenden Rufe nicht hörte. Und dann ging er schon auf uns los, getragen von seinem Rausch (war es Alkohol oder was sonst?). Er hatte eine Flasche in der Faust, die er auf dem Tisch zerschlagen hatte: Ich hab ein Hühnchen mit dir zu rupfen. In Sachen Understatement war er immer schon eine Begabung. Zuerst sah alles okay aus. Max und Peter packten ihn an den Armen und hielten ihn fest. Sie nahmen ihm die Flasche weg, und Kate Swann räumte ihm die Taschen aus. Bird trug ein ganzes Waffenarsenal mit sich herum: ein Schnappmesser, einen Schlagring, ein Stück Motorradkette und einen Kamm mit zugespitztem Griff. Nachdem sie ihn entwaffnet hatten, ließen sie ihn los. Von jetzt an war es Fair play. Wie in der Schule. Irgend jemand (warst du das?) spielte Peter Sellers: Gentlemen! Gentlemen! Sie können sich hier nicht prügeln. Das ist das Kriegskabinett! Dann habt ihr alle Platz gemacht, damit Bird und ich nach draußen gehen konnten. Wir sollten es auf dem Innenhof austragen. Max schrie: Queensbury Rules (als ob Bird jemals irgendwas nach den Regeln gespielt hätte). Du hast dich natürlich nicht dazu herabgelassen, die Treppe herunterzukommen. Ich habe dein Gesicht an einem der oberen Fenster gesehen. Wir hoben die Fäuste, wippten auf den Zehen, plänkelten hin und her und belauerten uns; 529
keiner von uns hatte auch nur die geringste Ahnung vom Boxen. Dann landete ich einen Glückstreffer auf seinem Kinn, und er kippte um wie im Western. Ich kam voller Neandertalerstolz wieder hoch in den Saal, aber du hast mir bloß einen frostigen Blick zugeworfen und gesagt: Ihr beide habt ganz schön blöd ausgesehen da unten. Wie Kraniche beim Paarungstanz. Danach wurden wir sentimental. Bird und ich schüttelten uns die Hände, und aus dem Händeschütteln wurde eine Umarmung, der du dich angeschlossen hast. Alle klatschten Beifall und lachten. Ich glaube, sie erwarteten, wir würden alle drei irgendwo hingehen und uns das besoffene Gehirn aus dem Leib ficken. Ich weiß gar nicht, warum wir das nicht getan haben. Das Nächste war ein intensives Gespräch zwischen dir und Bird in einer Ecke des Raumes. Du hast ihm eine geknallt und bist rausgerannt. Dann sitzen du und ich auf dem Boden im Korridor. Keine Ahnung mehr, was wir geredet haben – inzwischen waren wir seit über vierundzwanzig Stunden wach und hatten zwölf Stunden hintereinander getrunken. Woran ich mich erinnere, ist Birds Schrei. Ein Schrei voller rasender Wut. Und dann eine andere Stimme: Er hat eine Axt! Mein Gott, er hat die Feuer-Axt! Und dann kommt Bird den Korridor herunter, mit der roten Feuerwehraxt in der Hand, hinter sich den zerbrochenen Glaskasten. Du Bastard! Du 530
elender Bastard! Wir stehen auf, und ich sage etwas Gemeines und Provozierendes, wie: Rein technisch gesehen, bist du vielleicht einer, Bird, aber ich nicht. Ich sah ihn werfen. Entweder konnte er das gut, oder er hatte bloß Glück – es war einer dieser Momente, die man sich ein Leben lang in Zeitlupe vorspielt – die schwarze Klinge zielte auf meinen Kopf – ich sah sie genau, und ich sehe sie jetzt noch – aber ich konnte mich einfach nicht ducken. Und dann dein weißer Arm dazwischen, Anita! Ohne das schwere Navajo-Armband hättest du vielleicht die Hand verloren. Auf der Möbiusschleife mit den nächsten Sekundenbruchteilen sehe ich, wie die Axt auf die Wand trifft und der Putz rieselt, und gleichzeitig sehe ich an deinem Handgelenk die rote Blutfontäne. Kein großer Schnitt, aber eine Arterie. Wer hätte gedacht, daß die alte Maid so viel Blut in sich hat? Mit diesem Scherz wurdest du ohnmächtig. Das Blut, das dich getötet hat; das Blut, das du für mich vergossen hast. Aber das wußten wir damals noch nicht. Ich weiß noch, wie ich dich in Addenbrooke besucht habe – sie haben dich bloß eine Nacht dabehalten, die Krankenschwester sagte, du hättest mehr Alkohol als Blut verloren – und du hast gesagt: Sobald ich hier rauskomme, nehme ich dich mit nach Hause. Wenn man fast für irgendwas ermordet wird, dann sollte man’s besser auch 531
tun. Und obwohl die Polizei ihm auf den Fersen war, hat Bird dich damals auch besucht. Auf der Straße nach London haben sie ihn dann gestoppt und verhaftet, aber nicht lange behalten. Du hast ja keine Anzeige erstattet, und die Polizei hatte sowieso viel zu tun – ein Selbstmord in der Garage, zwei Vergewaltigungen, zig gestohlene Autos und dazu noch ein Handtaschenraub. Bird und ich haben nie wieder miteinander gesprochen. Bis zu deiner Beerdigung nicht. Schmerz, der durch meinen Körper schießt wie Wasser auf ein ausgetrocknetes Feld in der Wüste und mein ganzes Bewußtsein durchtränkt. Als ich wieder zu mir kam, war es dunkel. Ich hatte geträumt – genau wie damals, als ich am Steuer eingeschlafen war und geträumt hatte, daß ich einen Unfall hätte, bei dem ich mich überschlug. Ich wollte mich gerade wieder gemütlich im Bett zurechtlegen, als mich etwas weckte. Der Geruch von Benzin, der Gedanke an Feuer. Und ich hing kopfüber in meinem Sitzgurt, das Dach war eingedrückt, der Rückspiegel direkt vor meiner Nase. Dicht neben mir wummerte ein schwerer Dieselmotor, und ein Lastwagenfahrer brüllte: Ist da drin noch einer am Leben? Das war die Realität, und auch, was ich jetzt erlebte, war wirklich: Man hatte mich wie ein Tigerfell auf einen Balken genagelt. 532
Die Kreuzigung steht im Ruf, eine der langsamsten und qualvollsten Hinrichtungsarten zu sein. Deshalb erlösen dich wohlmeinende Soldaten und Henkersknechte durch einen wohlgezielten Lanzenstich in die Seite oder brechen dir das Genick. Ob das mit dem Speer auch im Text meiner Mitspieler stand? Wenn nicht, wie lange würde ich dann wohl hier hängen? Gab es nicht diese fanatischen Filipinos, die sich jedes Jahr kreuzigen ließen – als eine besonders strenge Form der Buße – und nach den Feiertagen einfach wieder ins Büro gingen? Wäre ich doch wenigstens gläubig gewesen! Dann wäre diese römische Folter vielleicht noch etwas mehr gewesen als eine scheußliche Qual und ein theatralischer Tod. Ich hatte aber nie Ehrfurcht empfunden, bloß Mitleid. Christus hat mir immer leid getan, nur die Art und Weise, wie er das Establishment gefoppt hat, habe ich sehr bewundert. Doch daß er der Sohn Gottes gewesen sein soll, habe ich nie glauben können, außer vielleicht in dem Sinne, daß wir alle Gottes Kinder sind, und womöglich war das ja auch alles, was er gemeint hat. Das ganze Christentum war das Werk von schlichten Gemütern, die alles peinlich wörtlich nahmen. Hat nicht Sigmund Freud gesagt: »Ich bin kein Freudianer«? Hat LéviStrauss nicht bestritten, daß er Strukturalist sei? Ich glaube, wenn Jesus von Nazareth auf die Erde zurückkä533
me und das ganze hellenistische Tutti-Frutti sähe, das aus seinem Leben und Sterben zusammengebraut worden ist (von den ganzen Metzeleien in seinem Namen zu schweigen), dann würde er darauf bestehen, daß sein Name augenblicklich vom Briefkopf der Firma verschwindet. In die Dunkelheit unter mir war Bewegung gekommen. Irgendwelche Leute. Sie klangen nervös. Ich konnte nichts sehen, aber ich spürte, daß sie meine KolibriSilhouette vor dem Licht der Sterne studierten. Jemand hustete. Frauen weinten. Waren das Mailie und Lady M.? Eine Stimme zischte: Eloi … Die Stimme kam von irgendwo hinter dem Kreuz, aus einem der Cadillacs. Eloi, wiederholte sie. Eloi? Wie »Elois und Morlocks«? Nein, nein. Sie wollten, daß ich meine letzten Worte sprach und den Geist aufgab, damit sie alle heimgehen konnten. Wahrscheinlich haben sie jedes Jahr diesen Ärger. Aber warum sollte ich ihnen gefällig sein? Wieder das Zischen des Souffleurs. Hobs Stimme. Dringend, freundlich, so als ob er noch etwas anderes meinte. Wollte er mir helfen? Na schön, ich sag’s schon. Mit letzter Kraft schrie ich: Eloi, Eloi, lama sabachthani?Und dann noch einmal: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Die dunkle Masse unter mir löste sich auf und entfernte sich in Richtung der Kirche. Dort würde die Men534
ge einen von oben bis unten zerrissenen Vorhang und brennende Holzstöße für den Teufelstanz vorfinden. Die letzten hörte ich gar nicht mehr weggehen, denn ich hatte erneut das Bewußtsein verloren. Das Kreuz wackelte, und jede Erschütterung schickte eine neue Welle von Schmerz durch mein schmerzgetränktes Bewußtsein. Dieser schreckliche Durst. Neuerliche Erschütterungen, und eine Hand auf meiner Schulter. Nein! »Leise! Dann holn wir dich runter!« Hobs Stimme. Er hockte auf dem Querbalken wie eine Katze und schob gerade eine Brechstange unter den Nagel in meiner Handfläche. »Das wird pisschen weh tun, aber mach kain Lerm. Wenn sie uns erwischen, sind wir peide tot.« Es tat wirklich sehr weh, aber er hatte den Nagel nicht sehr tief ins Holz geschlagen, und beim ersten Ruck kam er heraus. Und auf der anderen Seite ging es genauso. Dann fing er an, die Stricke aufzuknoten. »Schneid sie doch auf!« sagte ich, aber das ignorierte er einfach. Erst als ich fröstelnd unten auf dem Boden hockte, erklärte er mir, daß alles wie ein Wunder aussehen müsse und daß ein Engel nun mal die Stricke nicht durchschneiden, sondern aufknoten würde. Frag mich bitte nicht, warum. »Wo ist denn Mailie?« »Paim Tuivelstanz. Sie schickt dir diese Sachen.« Der bauchige Ostermond war noch nicht aufgegangen, aber 535
der Himmel über den Bergen wurde schon hell, und die Sterne verblaßten. In diesem kalten Licht sah ich ein schimmerndes Bündel. Plastik! Ich wollte etwas sagen, aber Hob befahl mir, meine Hände auszustrecken. Die rechte war ganz in Ordnung, aber über die linke floß immer noch klebriges, warmes Blut. Plötzlich brannte es ganz abscheulich, und ich spürte einen kräftigen Whiskyduft in der Nase. Hob wusch die Wunden mit dem Inhalt einer kleinen Flasche und umwickelte sie mit Baumwollmull. »Glaubst du, du kannst schwimmen?« Aussichtslos, ich würde ein Boot stehlen müssen. »Ja, das ist wahrschainlich pesser for dich, aber nicht so ain Wunder. Der Wind steht in jedem Fall gegen dich.« Ich spürte den Wind im Gesicht und fröstelte am ganzen Körper, obwohl es ein warmer Südost war, der von den Almen des Strathnairn herabwehte. Die Currachs konnten nicht gegen den Wind kreuzen, weil sie weder Kiel noch Schwert hatten. Wenn ich erst einmal auf der anderen Seite des Sees war, war ich vor Verfolgern sicher, solange das Wetter nicht umschlug. Aber ich konnte unmöglich rudern. »Ich kann nicht lenger blaim«, sagte Hob und wiederholte seine Warnung, was mit uns geschehen würde, wenn man uns entdeckte. Eigentlich hatte er den Befehl, mir den Speer in die Seite zu stoßen. Aber Mailie hatte 536
ihn zu dieser wahnsinnigen Rettungstat überredet. Sie hatte behauptet, geheime Weisungen von Macbeth erhalten zu haben. Hob gab mir noch einen ordentlichen Schluck aus der Flasche, dann legte er mir das Bündel in den Schoß. »Mach’s erst auf, wenn du drüben pist. Es ist ganz wasserdicht verpackt. Etwas zu essen und ain paar von dainen Sachen.« Meine Gedanken waren immer noch beim Wind und den Booten. Als er mich vom Kreuz geholt hatte, hatte Hob auch die Tafel mit der Aufschrift Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum heruntergestoßen. Es war ein altes, sorgfältig glattgehobeltes Teakholzbrett, fast einen Meter lang und einen Fuß breit. »Kannst du noch etwas für mich tun, Hob? Hilf mir mit dem Bündel zum Wasser, und bring auch das Brett mit.« Er legte sich meinen rechten Arm um die Schulter, und wir stolperten zur Anlegestelle unterhalb des Schlosses hinunter. Wir gingen unmittelbar unter dem Bergfried entlang, aber der war unbeleuchtet und leer, nicht mehr als ein schwarzer Schatten am Himmel. Alle waren beim Teufelstanz in der Stadt. Ein Tanz am Karfreitag? In der Nacht, in der Jesus stirbt? Ungewöhnlich, aber die Leute hier schienen es völlig in Ordnung zu finden. Vielleicht eine Art Exorzismus: Tod und Teufel durften eine Nacht triumphieren und wurden am Oster537
morgen strahlend besiegt – irgendwas in der Art. Nun ja, für ihre »Auferstehung« würden sie ein Double brauchen. Hob begriff schnell, was ich wollte, und er war ein geschickter Handwerker. Er befestigte das Teakholzbrett an der Bordwand eines kleinen Segel-Currachs, so daß es steil ins Wasser schnitt. Kreuzen würde ich mit diesem improvisierten Seitenschwert wahrscheinlich nicht können, aber solange ich einen diagonalen Kurs fuhr, konnte ich das Brett die meiste Zeit über in Lee halten. »Sag Mailie von mir Goodbye. Ich kann euch gar nicht genug danken für alles, was ihr für mich getan habt.« Ich umarmte ihn mit schwachen Händen. »Was wird aus euch werden? Wollt ihr nicht lieber mit mir kommen?« »Wo sollen wir denn hingehen?« »Nach Süden. Nach Yorkshire, nach Wales oder London. Wir würden schon etwas finden.« (Kommt mit in die Zukunft, hätte ich beinahe gesagt, aber es gibt ja nur einen Platz in der Maschine.) Seine Antwort war sehr bestimmt: Er zog es vor, sich mit den Gefahren auseinanderzusetzen, die ihm bekannt waren. Er ging davon aus, daß der Laird tatsächlich meiner Flucht zugestimmt hatte. Nur die Lady wollte mich tot sehen. Wenn sie ihr eine paar Wochen lang aus dem Weg gingen, wenn sie auf der anderen Seite von Ben Nevis Lamas hüteten und auf die Jagd gingen, würde ihnen nicht viel 538
passieren. Ich wäre ja auf jeden Fall aus dem Weg, und als offizielle Erklärung würde eben ein Wunder oder Teufelswerk oder so etwas herhalten. Hob machte die Leinen los und gab dem Boot einen herzhaften Stoß. Ich zog das Segel hoch, gewann sofort etwas Fahrt und ließ die Bucht mit ihrer Flotte kleiner, fellbespannter Boote im Dunkel zurück. Zweimal drehte ich mich noch um, weil ich zum Abschied winken wollte. Aber alles, was ich sehen konnte, war der dunkle Schatten des Bergfrieds und der Widerschein des Scheiterhaufens vor dem ehemaligen Hotel und Monster-Zentrum in Drumnadrochit. Die langen Phasen des Schmerzes in dieser Nacht sind tief in mein Bewußtsein geschnitten, aber der größte Teil meiner weiteren Flucht aus dem Reich von Macbeth beginnt schon zu verblassen: Es waren zehn Tage, die nur aus Verstecken und Laufen, Hell und Dunkel, Hitze und Regen bestanden. Ich nehme an, daß ich ungefähr zwei Stunden auf südwestlichem Kurs brauchte, um mit dem schwerfälligen Gefährt im Mondlicht ans andere Ufer zu kommen, an die wilde Küste jenseits von Foyers, wo nie eine Straße war und die Schieferklippen tausend Fuß zum Grund des Sees hin abfallen. Ich erinnerte mich an die Stelle von unseren Wanderungen, aber ich bin mehr durch Zufall dort gelandet als durch Berechnung, 539
denn mit dem schwachen Seitenschwert konnte ich nur wenig gegen den Wind steuern. Aber plötzlich erkannte ich weißen Schaum und hörte die Wellen am Felsen. Das zerbrechliche Boot lief auf Grund und füllte sich augenblicklich mit Wasser, denn der Boden war gleich beim ersten Aufprall zerrissen. Ich erinnere mich an nichts weiter, bis die Morgensonne sich über die Berge ergoß. Unbewußt war ich an Land gekrochen wie ein Lurch in der Urzeit. Ich suchte mein Bündel, versenkte das Wrack des Bootes mit Steinen und kletterte zwischen Lianen und Würgfeigen den Abhang hinauf wie ein verängstigter Hase. Das düstere Blätterdach, die gekrümmten Äste und Baumstämme und die glühenden Blüten, die aussahen, als ob sie mich verschlingen wollten, erschreckten mich nicht. Angst hatte ich nur vor den Menschen. Als ich den oberen Rand des Abhangs erreichte, war die Sonne hinter gewaltigen Gewitterwolken verschwunden. Loch Ness färbte sich schwefelgelb. Die ersten Regentropfen schlugen wie die Garben eines Maschinengewehrs in den See. An diesem Tag würden keine Boote mehr fahren. Ich entdeckte eine Höhle, womöglich war es dieselbe, die wir damals besucht haben. Wo sich Bonnie Prince Charles nach der Schlacht von Culloden versteckt haben soll. Sie war groß, dunkel und trocken. Der Eingang lag 540
hinter mächtigen, mit Felsen besetzten Baumwurzeln und großblättrigen Kolokasien verborgen. Ich fand ein Lager aus halbverrottetem Stroh. Über einer Feuerstelle mit Überresten von Holzkohle und Knochen war Ruß an der Decke zu sehen. Hier waren schon andere gewesen, aber das war schon länger her. Ich warf mich hin, schlief bis zum nächsten Tag und erwachte in undefinierbarem Zwielicht. Ein Sonnenstrahl zeigte mir, daß es kurz vor Mittag sein mußte. Ich kroch aus der Höhle, überprüfte die Umgebung auf irgendwelche frischen Spuren und setzte mich dann in einem warmen Sonnenfleck auf einen Felsen, um Mailies Bündel auszupacken. Hob hatte recht gehabt: Der Laird mußte meine Flucht mitgeplant haben; denn das Bündel enthielt nicht nur fast alles, was ich ins Tal mitgebracht hatte, sondern auch die Dinge, die ich an meinem letzten Lagerplatz versteckt hatte: eine Nylontasche, Socken, das letzte Hemd, Jeans, Angelschnur, Zelt, Machete, Notizbuch und vor allem die Schuhe. Der Laird hatte das Gewehr und die Taschenlampe behalten (wahrscheinlich hängen sie jetzt neben dem Urinal in seinem »Museum«). Mailie hatte mir verschiedene Nahrungsmittel in Bananenblätter gewickelt: geröstete Maiskolben, Datteln, Trockenobst, eine kleine Papaya und ein halbes Dutzend junge grüne Orangen. Die Orangen aß ich gleich an Ort und 541
Stelle, alle sechs. Ich trocknete mich mit meinem Lendentuch ab und zog endlich wieder Kleidungsstücke aus dem 20. Jahrhundert an (ich hatte es für unklug gehalten, mich in Nessie damit auf der Straße zu zeigen). Die Kleidung war ein willkommener Schutz gegen diese barbarische Zukunft, ich fühlte mich wie gepanzert. Die Schuhe waren ungewohnt und beengend an meinen gehärteten Füßen, aber ich genoß das Gefühl der Kraft und Schnelligkeit, das sie mir verschafften. Wenn ich Streichhölzer gehabt hätte (leider hatte mir der Laird mein Feuerzeug nicht zurückgegeben), hätte ich bestimmt der Versuchung nicht widerstehen können, mir ein kleines Lagerfeuer zu machen, denn ich fröstelte immer noch vor Erschöpfung. Alpträume und Delirien suchten mich heim, in denen ich wieder am Kreuz hing, an der Schwelle des Todes oder womöglich darüber hinaus. Noch jedesmal, wenn ich bisher am Tod knapp vorbeigeschrammt war, hatte ich hinterher das Gefühl, ich sei womöglich doch nicht davongekommen. War die Krankheit womöglich doch tödlich gewesen? Waren die Stufen am Schornstein tatsächlich unter mir weggebrochen? War das Motorrad wirklich unter den Lastwagen geschliddert, hatten die riesigen Räder meinen Kopf nicht um Haaresbreite verfehlt? Zum ersten Mal ist mir das im Dezember passiert, als ich 542
elf Jahre alt war. Ich hatte die Masern und war so schwer krank, daß ich den Beginn der Ferien auf der Krankenstation des Internats zubringen mußte. Am Weihnachtsmorgen wollte ich gerade meine Sachen packen, um nach Hause zu fahren, als die Polizistin kam und mir sagte, daß meine Eltern tot waren. Eine ganze Zeitlang dachte ich, daß ich gestorben wäre und nicht sie. Ich dachte, die Welt wäre ohne mich weitergegangen, und die Geschichte der Polizistin gehörte einfach zur Hölle. Das Bewußtsein eines Erwachsenen ist raffinierter, aber es erzählt sich dieselben Geschichten. Das Gefühl, daß du überlebt hast und weiterlebst, ist ein Trick, damit du nicht merkst, daß du tot bist. Oder, wenn du so willst: Der liebe Gott erspart dir den Schmerz, deine eigene Vernichtung zu spüren. Woraus folgt, daß du nie erfährst, wann du stirbst, sondern als Echo weiterlebst, wie ein Schauspieler, der vor einem dunklen Saal weiterspielt, obwohl gar keine Zuschauer mehr da sind. Und das in alle Ewigkeit. Zwei oder drei Tage ruhte ich mich aus. Ich schlief, aß und bedeckte meine Wunden mit Papaya und Flechten, die ich mit Stoffetzen festband. In lichten Momenten versuchte ich, Pläne zu machen. De facto schien es nur zwei Möglichkeiten zu geben, und beide waren verrückt: Ich konnte durch Dschungel und Kiefernwälder nach Süden marschieren, bis ich irgendwo in der Nähe 543
von Dalwhinnie auf die Straße nach Edinburgh stieß, oder ich konnte am Rand des gerodeten Gebiets nach Osten wandern, bis ich die Straße irgendwo in der Nähe meiner Gefangennahme erreichte. Beides war ziemlich riskant. Der erste Weg war kürzer, aber viel mühsamer, und ich konnte mich leicht verlaufen. Der zweite war gefährlicher – wenn sie mich einmal gefangen hatten, konnte das auch noch einmal geschehen. In jedem Falle mußte ich erst einmal die Berge rings um den Loch Ness überwinden. Ich verließ die Höhle am dritten oder vierten Tag Richtung Süden, ohne mich schon auf einen bestimmten Plan festzulegen. Ich wollte erst einmal sehen, wie ich vorankam und wie leistungsfähig ich war. Ich hatte keine Kenntnis der Gegend und auch keinen Kompaß. Die Himmelsrichtungen konnte ich nur nach dem Sonnenstand schätzen; allen brandgerodeten Tälern und Almen mußte ich ausweichen. Einoder zweimal sah ich weit unter mir ein paar Hütten. Keine Lebenszeichen, kein Rauch. Die Leute waren alle noch beim Osterfest in Glen Urquhart. Wahrscheinlich war das der Grund, warum mich die Männer der Lady nicht fanden: Sie suchten noch gar nicht. Meine Vorräte reichten nicht lange, aber trotz der Versuchung, irgendwo Korn oder Eier zu stehlen, hielt ich mich von allen Siedlungen fern. Ich bezähmte meinen Hunger, teilte die Mahlzeiten sorgfältig ein und 544
verbrachte Stunden damit, Kastanien, unreife Guajavas, Palmherzen, ja, sogar Ameisen und Engerlinge zu sammeln, die ich mit Beeren vermischte, um den Geschmack zu verfeinern. Mit einem Wort: Ich fraß alles, was Bären auch fressen. Die Wälder hier gehörten noch zu den Jagdgründen des Klans. Das Unterholz wurde jedes Jahr abgebrannt, damit das Wild neue Schößlinge fand – deshalb kam ich zwischen den weit auseinanderstehenden Bäumen zügig voran. Wäre es anders gewesen, wäre ich meinen Verfolgern wahrscheinlich nicht entkommen. Ich blieb im Hochwald, bis ich mich soweit ermutigt fühlte, den kürzeren Weg durch die Berge zu wählen. Durch Nebel und Wolken ging es voran. Ich stolperte, schlief, wo ich hinfiel, unter der Plastikplane im Regen. Das Zelt aufzubauen hatte ich weder die Kraft noch den Mut. Eines Morgens wachte ich auf und stellte fest, daß ich das Gebiet des Klans hinter mir gelassen hatte. Der Wald war anders geworden: wild und wirr, weder verbrannt noch gerodet. Es fehlten die jahrhundertealten Wege der Menschen; die einzigen Pfade waren die Wildwechsel der Hirsche und Rehe, und einmal sah ich einen Wolf, der meine Witterung aufzunehmen versuchte, als ich Rast machte. Die Berge waren nicht mehr so hoch, sie senkten sich allmählich zum Tal des Spey, wo ich im März die ersten Bärenspuren und schottischen Kiefern 545
gesehen hatte. Mit dem Eintritt in die Wildnis stellte sich auch prompt die Angst vor ihr ein. Von einem Grizzly-Bären zerfleischt zu werden ist vermutlich genauso schrecklich wie eine Kreuzigung durch Christen. Weiter über den Drumochterpaß zwischen den im Sonnenuntergang aufragenden Schatten des »Ebers von Badenoch« und der »Sau von Atholl«, dann die immergrüne Autobahn hinunter, bis ich vor einigen Tagen zum Firth of Forth kam und die Silhouette von Edinburgh Castle auf der anderen Seite der Bucht sah. Ich wußte sofort, daß ich mit meinen kaputten Händen weder die Kraft noch die Geschicklichkeit aufbringen würde, über die glitschigen Streben der Brücke zu klettern, aber schwimmen konnte ich durchaus. Ich schwamm im Mondlicht von einem Pfeiler der alten Eisenbahnbrücke zum nächsten (weil es heißt, daß die Haie nur tagsüber jagen) und rastete im Schatten der gewaltigen, flugsaurierähnlichen Konstruktion. Unter meiner Plastikplane hatte sich eine Luftblase gefangen und verschaffte mir weiteren Auftrieb. Wie kostbar war doch diese künstliche Seide, dieser künstliche Bernstein unseres Jahrhunderts! Und was hätte ich nicht für ein kleines Feuerzeug gegeben, wenn es morgens und abends so kalt und so feucht war! Zehntausend Jahre Zivilisation waren nötig, bis endlich jeder von uns ein kleiner Prometheus sein 546
konnte. Mein Gott, warum haben wir das alles vermurkst? Ja, meine Liebe, und jetzt sitze ich wieder hier in den Ruinen des Schlosses, das mir beim Wiedersehen wie ein Symbol für alle Ruinen von Ur bis Manhattan erscheint. Ein eigenartiger Besitzerstolz hat mich erfaßt: Von hier bis zur Südküste gehört ganz Großbritannien mir. Ich bin Pharao und Fellache, König und Untertan, Großer Vorsitzender und Genosse zugleich. Und ich bin jetzt auch in der Lage, das große Schweigen zu fühlen, das mich erwartet, auch wenn die Antworten, die ich mitbringe, vielleicht mein Ende sein werden. Eins scheint klar genug: Die Natur hat uns nicht einfach eins über den Schädel gezogen, es sei denn in Notwehr. Es hat keinen Deus ex machina und keine kosmische Katastrophe gegeben. Aber von welchem Zeitpunkt an ist ein Ende wie dieses eigentlich unvermeidlich geworden? Ich komme gar nicht darum herum, mir immer wieder die Frage zu stellen: »Was wäre gewesen, wenn nicht …?« Erinnerst du dich noch an unser Spiel in den Drei Weisen Affen? Was wäre, wenn … … die Höhlenbären alle Höhlenmenschen zerfleischt hätten? 547
… die Löwen alle Christen aufgefressen hätten? … Karl Martell verloren hätte? … Montezuma gesiegt hätte? … Hitler seine Zulassung zur Akademie gekriegt hätte? … Gorbatschow beim Film gewesen wäre? Was wäre gewesen, wenn wir 1945 zu Verstand gekommen wären, als Little Boy den Krieg obsolet machte? Damals waren wir erst zwei Milliarden; hätten wir statt des Kalten Kriegs noch eine Zukunft für uns finden können? Sollen wir nach den »Großen Schurken« suchen? Oder müssen wir zugeben, daß der Feind des Volkes das Volk war? Wie viele Politiker waren denn bereit, den Leuten zu sagen, daß vier Milliarden, sechs Milliarden oder gar zehn niemals den kalifornischen Traum leben würden? Wie viele hätten denn für Politiker gestimmt, die es ihnen gesagt hätten? Eins ist mir jedenfalls klar: Als die Welt endlich bereit war, die Existenz von Eisbergen anzuerkennen, war es für den Leviathan zu spät, den Kurs noch zu ändern. Aber hatte das stolze Schiff überhaupt je ein Ruder?
2 Edinburgh, Freitag, den 20. Mai Na also. Zehn Tage habe ich gebraucht, um dich auf den letzten Stand der Dinge zu bringen. Erst habe ich bloß mit zwei Fingern getippt, jetzt sind es schon wieder drei oder vier. Meine Hände verheilen allmählich. Das Leben ist offen und frei. Licht und Wärme, Fisch und Gemüse, alles steht mir zur Verfügung. Ich habe einen Hut und Musik, und zur Gesellschaft meinen Oyster-Laptop mit seinen fossilen Wörtern und seinem blinkenden Auge. Auf die St. Margaret’s-Kapelle habe ich diesmal verzichtet. Die ehrwürdigen Mauern sind ein allzu offensichtliches Ziel für die Männer von Nessie. Bis Edinburgh werden sie mir bestimmt folgen, um sich meine weiße Haut zu holen. Ich bin deshalb in den vierten Stock eines Wohnblocks in Leith gezogen, in der Nähe der Docks. Die Architektur ist brutal: ein häßlicher Haufen von übereinandergestapelten Wohnkäfigen, überzogen von Epiphyten und Schlingpflanzen. Die Eingangshalle kann man nur bei Ebbe trockenen Fußes betreten, aber es gibt ein düsteres Treppenhaus, das vom Hinterhof zugänglich ist, und die Aussicht auf den Firth of Forth ist phantastisch. Man überblickt beide Brücken, 549
Inchkeith Island und vor allem den gesamten Eingang der Bucht. Das Wetter würde dir gefallen! Jeden Tag über dreißig Grad, die Nächte selten weniger als zwanzig, ein Wetter wie auf Dominica, würde ich sagen. Nachmittags weht eine frische Brise vom Meer, angezogen von der Hitze über der toten Stadt hinter mir. Morgens, wenn das Land ausgekühlt und das Meer warm ist, weht der Wind in die andere Richtung durch meine Wohnung. In den Fenstern ist natürlich schon lange kein Glas mehr. Feuer mache ich nur zum Kochen, im Hinterhof, und immer erst nach Einbruch der Dunkelheit. Niemand wird mich hier finden. In Wirklichkeit, Anita, hoffe ich natürlich, daß irgendwann tatsächlich ein Segel da draußen erscheint; denn es würde mir eine Menge Ärger ersparen, wenn ich ein Boot stehlen könnte. Ein Boot stehlen, zur Themsemündung hinuntersegeln, zur Zeitmaschine, zu dir. Sonst hätte ich nämlich echte Probleme. Es ist jetzt schon viel heißer als Anfang des Jahres. Ohne Gewehr und ohne Graham, die mich mit Wildbret versorgt, stünde mir eine mühselige, hungrige Wanderung durch England bevor. Auf dem Meer dagegen ginge es leichter. Ich könnte angeln, Krabben fangen und Hummer, und überall an der Küste Kokosnüsse und Palmherzen sammeln. 550
Jeden Tag sehe ich auf das türkisgrüne Wasser und die weiße Naht am Riff hinaus und denke: ein Segel, ein Segel, ein Segel. Vielleicht hältst du das für Schwäche, diese Unfähigkeit zu improvisieren, aber du darfst nicht vergessen, in welchem Zustand ich bin. Außerdem bin ich nicht gerade ein begnadeter Handwerker. Ich habe daran gedacht, ein leichtes Kajak aus Bambus und Plastik zu bauen, aber selbst wenn ich es zustande bringen würde, fände es wahrscheinlich bei der kleinsten Berührung mit dem Riff ein klägliches Ende. Ich habe auch schon bei Ebbe den Strand abgesucht und tatsächlich die verschiedensten Überreste von Booten gefunden, aber das Holz ist vollgesogen mit Wasser und das Eisen verrostet. Ein kleiner, glatter Fiberglasrumpf, hellblau wie eine Muschelschale, entzündete meine Hoffnungen, aber es war nur ein halbes Boot, das der Sturm aus irgendeiner Werkstatt gezerrt hatte. Es geht nicht nur um die verletzten Hände. Auch der Durchfall ist wieder da, ein Zeichen, daß meine Zeit womöglich doch abläuft. In Nessie habe ich mich so viel besser gefühlt, daß ich mich schon für geheilt hielt. Ich dachte schon, daß ich deine schreckliche Krankheit vielleicht gar nicht habe. Ich dachte: Vielleicht hat mich Mailie geheilt. Ich dachte: Vielleicht ist der Klan gegen alles immun, was uns hat aussterben lassen, und ich 551
habe mit Mailies Milch die Genesung getrunken. Damit ist es jetzt vorbei, und (leider muß ich es zugeben) ich vermisse das Mädchen. Ich vermisse sogar den alten Grizzly Macbeth. Und Hob. Und Neil. Diese Gefühle nach dem Ereignis: Warum ist das Echo immer stärker als das Geräusch? Warum löst die Erinnerung soviel Schmerz aus? Die Leute kommen und gehen, und du merkst kaum, was sie denken und fühlen, du merkst kaum, was du selbst fühlst und denkst. Aber dann, eines Tages, wenn du am wenigsten damit rechnest, stößt die Erinnerung dir eine Klinge ins Herz: Was man zusammen getan hat, und was man nicht zusammen getan hat; und plötzlich stürzt du in einen Abgrund, und nur deine Trauer ist bei dir. Wenn du das Gefühl hast, ich sei noch depressiver als sonst, dann laß mich erklären: Ich war so intensiv damit beschäftigt, meine neue Unterkunft einzurichten und dir zu berichten, was ich erlebt habe, daß ich erst jetzt die schmutzigen Kleider durchsucht habe, die mir Macbeth zurückgegeben hat. Auch er scheint sie nicht untersucht zu haben, denn in den Taschen fanden sich nicht nur der Bleistiftstummel und das nasse Papier mit meinen Abschriften aus seinem Archiv, sondern auch drei von seinen CDs. Zwei davon sind noch so gut erhalten, daß der Laptop ein Bild zeigt. Das eine ist ein ›Oxford 552
English Dictionary‹. Ich hatte gehofft, es wäre eine zukünftige Ausgabe mit vielen neuen Wörtern und Definitionen. Aber es war nur die Ausgabe von 2008; die Zahl der Neuerungen war dementsprechend gering. Die andere CD, das hatte ich schon am Loch Ness festgestellt, hatte etwas mit der Londoner Polizei zu tun. Ich hatte sie eingepackt, weil ich hoffte, auf diese Weise etwas über den Untergang der alten Hauptstadt zu erfahren. Den vollen Titel konnte ich aber erst jetzt lesen: ›Zehnjahresbericht über die Gewaltverbrechen im Bereich der Metropolitan Police, 2000-2009‹. Das war natürlich eine Enttäuschung: Zehn Jahre bloß, auch diesmal konnte ich nur einen Zehennagel in die Tür der Zukunft stellen. Ich wollte die CD schon wieder herausnehmen, als mir eine Idee kam. Ich gab als Suchwort PARKER, C. G. ein. PARKER, Charles Gordon, alias Frank Tite Spitzname: »Bird« Geburtsort: 23 Harbinger Rd., Millwall, Isle of Dogs Geburtsdatum: 4. April 1967 Letzte bekannte Adresse: 14 Waterloo Villas, Stepney Festnahmen und Vorstrafen: (1) 11. August 1986. Einbruchsdiebstahl. Tony’s Two-Wheelers, 186 High Street, Walthamstow. 553
18 Monate auf Bewährung. (2) 5. Juni 1988. Festnahme wegen des Verdachts der schweren Körperverletzung. Beamte der örtlichen Schutzpolizei wurden in den frühen Morgenstunden des 5. Juni in den von zahlreichen Partygästen besuchten Ballsaal des Corpus Christi College in Cambridge gerufen, weil Parker dort angeblich mit einer Axt »Amok lief« und dabei eine gewisse Anita Langland am Handgelenk schwer verletzt hat. Parker wurde am nächsten Tag auf der M 11 wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung angehalten und vorläufig festgenommen. Später aus der Haft entlassen, weil Ms. Langland sich weigerte, eine Aussage über den Vorfall zu machen. (3) 16. Juli 1995. Hehlerei. Unter dem Decknamen Tite Ankauf von historischen Motorrad-Ersatzteilen, die in der Nacht vom 14. auf den 15. Mai von Unbekannten im National Motor Museum, Beaulieu, gestohlen worden waren. Zwei Jahre Gefängnis. Nach Verbüßung von 15 Mon. in Wormwood Scrubs vorzeitige Entlassung wegen guter Führung. (4) 19. Dez. 2000. Anklage wegen Mordes an David E. W. Lambert.
554
Schaltfläche »Kurzbericht« anklicken. His Majesty gegen Charles Gordon Parker Prozeßbeginn: 9. März 2001, Old Bailey Der Angeklagte wird beschuldigt, am oder unmittelbar nach dem 30. November 2000 Dr. David Philip Wringham Lambert ermordet zu haben. Der Angeklagte erklärt sich für nicht schuldig im Sinne der Anklage, bzw. für schuldig des Totschlags im Zustand verminderter Schuldfähigkeit. Die Ermittlungen haben ergeben: Nach Aussage zweier Nachbarn ist Dr. Lambert im Frühjahr 2000 aus seiner Wohnung in Chelsea verschwunden. Wegen seiner häufigen Auslandsreisen schien das aber zunächst nicht ungewöhnlich, und sein Verschwinden wurde der Polizei nicht gemeldet. Die polizeiliche Befragung eines anderen Nachbarn, Mr. Calixto Pool aus Mérida, Mexiko, läßt vermuten, daß Lambert seinen tatsächlichen Aufenthaltsort monatelang bewußt verschleiert hat. Nach Aussage von Prof. C.V. Skeffington, Universität Cambridge, der sowohl Lambert als auch Parker während ihrer Studienzeit akademisch betreute, hat Lambert im Januar 2000 die Absicht bekundet, in nächster Zukunft eine Studienreise nach Lateiname555
rika anzutreten. Dies wird durch einen Brief bestätigt, in dem Lambert bei seinem Arbeitgeber (dem Museum of Motion, St. Pancras) unbezahlten Urlaub aufgrund familiärer Probleme beantragt. Bis zum November ist Lambert dann nicht mehr gesehen worden. Miss Moira Austin, Parkers Freundin, hat ausgesagt, daß sie Lambert am 21. November in Parkers Wohnung gesehen hat. Miss Elaine Vinney, Angestellte des Gasthofs »King Canute«, Canvey Island, Essex, hat ausgesagt, daß Parker und ein Mann, der Lamberts Beschreibung entspricht, sich in der Nacht vom 29. auf den 30. November 2000 in dem Lokal aufhielten und dort auch übernachtet haben. Seither ist Lambert verschwunden. Parker wurde zu einer Vernehmung einbestellt, als bekannt wurde, daß Lamberts Testament eine Woche vor seinem Verschwinden geändert und Parker als Haupterbe eingesetzt worden war. Bei der Frage nach weiteren möglichen Tatmotiven gelangte Staatsanwalt Julian Avery zu dem Ergebnis, daß Lambert und Parker offenbar seit Anfang des Jahres in irgendwelche kriminellen Machenschaften verstrickt gewesen seien, die schließlich zum Streit führten. Parkers Aussagen gegenüber der Polizei waren widersprüchlich. Zunächst bestritt er, Lambert in letzter Zeit gesehen zu haben; später gab er zu, am 29. 556
Nov. mit Lambert im »King Canute« übernachtet zu haben. Der Rechtsbeistand des Angeklagten, RA Vikram Chatterij, legte als Beweismittel ein Amateurvideo vor, das angeblich zeigt, wie Lambert auf einer Sandbank im Bereich des ehemaligen Yacht Clubs von Canvey Island ein historisches Wasserfahrzeug besteigt und wie dieses Fahrzeug unmittelbar darauf explodiert. Parker behauptete, es habe sich dabei um »ein frühes Tauchboot« gehandelt, das Dr. Lambert am Rande seiner beruflichen Aktivitäten privat angekauft habe. Das Video habe er, Parker, selbst gemacht, und es stelle eine genaue Wiedergabe der Ereignisse dar, wie er sie erlebt habe. Eine ausgedehnte Suche in der Themsemündung erbrachte aber keinerlei Hinweise auf das Fahrzeug oder den Passagier. Lamberts Leiche wurde nie gefunden. Zur Sicherstellung von etwaigem Beweismaterial wurde auch Lamberts Wohnung polizeilich durchsucht. Wie es scheint, waren kurz nach seinem Aufenthalt in Canvey Island unbekannte Täter in die Wohnung eingedrungen. Mehrere Räume befanden sich in einem chaotischen Zustand. Sowohl persönliche Dokumente als auch Wertgegenstände schienen zu fehlen. Es wurde nichts gefunden, was Parkers Darstellung hätte be557
stätigen können. Das von der Verteidigung vorgelegte Videoband wurde von einer Gruppe unabhängiger Fachleute begutachtet, die zu der einhelligen Überzeugung gelangten, es handle sich um eine geniale Fälschung, bei der mit großer handwerklicher Perfektion computergeneriertes Bildmaterial eingesetzt worden sei. Der Vorsitzende Richter, Sir Raymond Tether, veranlaßte eine psychiatrische Untersuchung des Angeklagten. ‹ RA Chatterji zog daraufhin sein Plädoyer auf Freispruch mangels Beweisen zurück und plädierte auf Totschlag im Zustand verminderter Schuldfähigkeit. Die Geschworenen berieten etwas mehr als drei Stunden. Das Urteil lautete auf Totschlag im Zustand verminderter Schuldfähigkeit. Parker wurde auf Lebenszeit in die Psychiatrische Anstalt Elm House in Walthamstow eingewiesen. NACHTRAG, 18. Feb. 2010: Im Jahr 2007 ist Parker in die neue Anstalt in Romford überwiesen worden. Er hält bis zum heutigen Tag daran fest, daß er unschuldig sei. Seine Freilassung ist derzeit nicht vorgesehen. Ach, Bird, es tut mir so schrecklich leid! Bitte glaub mir, ich habe nie daran gedacht, daß so etwas passieren könnte. Ich habe zwar befürchtet, daß du vielleicht das 558
Honigglas nicht findest. Aber wie sollte ich auf die Idee kommen, daß in meine Wohnung eingebrochen werden könnte? Ich hatte doch einen kompletten Bericht und so viele Papiere dort zurückgelassen für dich! Zusammen mit dem Video hätte das bestimmt genügt, um dich von jedem Verdacht freizusprechen! Warum hast du ihnen die Midnapore Mews nicht gezeigt? Nein, das hätte wohl nicht viel genützt. Eine leere Werkstatt ohne die Maschine hätte niemanden überzeugt. Die Vorstrafen waren natürlich ein großes Problem. Von denen hast du mir nie was erzählt. Hehlerei! Dabei ging es bestimmt um eine ausgeschlachtete Vincent, nicht wahr? Jetzt habe ich euch also beide auf dem Gewissen. Glaubst du, der arme Bird hat mir jemals vergeben, Anita? Nur gut, daß ich jetzt allein auf der Welt bin und nur noch für mein eigenes Leben verantwortlich. Aber ich darf es nicht dabei belassen! Ich schwöre euch, meine Freunde, ich werde es wieder gutmachen! Ich werde zur Zeitmaschine zurückkehren und sie in Gang bringen, ich werde unseren Feind zur Hölle schikken, ich werde ihn zwingen, seine knochigen Finger wieder zu öffnen! Er soll seine grausamen Werke rückgängig machen. Sobald die Stachelkugel auf den Wellen tanzt, werde ich die Luke öffnen und einsteigen; ich werde mich anschnallen und losfliegen über alle Riffe 559
der Zeit, zurück in die Vergangenheit. Ich werde das goldene Zeitalter zurückholen, als wir noch alle Möglichkeiten hatten. Wir werden leben, Geliebte! Wir werden noch einmal leben!
Donnerstag, 26. Mai, Edinburgh Eine schlechte Woche, seit ich von Bird weiß. Es fiel mir schwer, jeden Tag aufzustehen, Nahrung zu suchen und über meine Weiterreise nachzudenken. Mehr als einmal kletterte ich auf das dicht bewachsene Dach meines Wohnblocks und überlegte, ob es nicht das Beste wäre, jetzt gleich Schluß zu machen. Und dann, eines Morgens, war plötzlich der alte Inkubus wieder da: Am Montag war ich eine Stunde lang gelähmt und konnte nicht aufstehen, dann schüttelte es mich zwei Stunden lang, als ob ich Parkinson hätte. Am Dienstag hatte ich mich glücklicherweise wieder erholt. Die Dinge entwickeln sich nämlich schneller, als ich gedacht hätte: Mein Wunsch ist in Erfüllung gegangen! Als ich heute morgen auf die Bucht hinaussah, war da ein Segel. Eine geblähte Schilfmatte wie auf einer Dschunke, deutlich größer als die am Loch Ness. Geschmückt ist es mit einem schwarzen Emblem: zwei gekreuzten Dolchen. Darüber ein roter Wimpel. 560
Kein Currach. Woraus der Rumpf gemacht ist, kann ich aus dieser Entfernung nicht sehen, etwas Glattes und Helles, aber bestimmt keine Felle. Das Fahrzeug nähert sich langsam, denn der Wind kommt von Westen, und die Manöver meiner Verfolger sind schwerfällig.
Am selben Tag, 19 Uhr, westlich von Bass Rock Sie brauchten den ganzen Vormittag, um sich gegen den Wind durchzuschlagen, und ich hatte viel Zeit. In aller Ruhe stieg ich zum Schloß hoch und entzündete das vorbereitete Feuer – ein träges, rauchiges Feuer, wie es vielleicht ein unvorsichtiger Hausbewohner in seinem Kamin schwelen läßt, um Streichhölzer zu sparen. Dann kehrte ich in meine Wohnung zurück, packte meine Sachen und versteckte sie am Hafen unter einem überwucherten alten Kran. Dann kletterte ich an den Schlingpflanzen hoch, versteckte mich im rostigen Gestänge hinter den Blättern und beobachtete die Eindringlinge durch mein Fernglas. Natürlich waren es die Männer der Lady: ihr alter Kettenhund Kenneth und zwei andere. Sie machten eine halbe Meile entfernt in einem Mangrovenhain vor den World’s Most Famous Fish and Chips fest. Sie entdeckten 561
mein Feuer und machten sich alle drei auf den Weg. Sie dachten wohl, sie könnten mich beim Mittagsschlaf überraschen und ließen nicht einmal eine Wache zurück. Es war alles ganz einfach – auch wenn ich soviel Adrenalin verheizte wie sonst in zwei Jahren. Als ob man einen Sportwagen klaut, bei dem der Zündschlüssel steckt. Um das Schloß zu erreichen, würde Kenneth mit seinen Männern mehr als eine Stunde brauchen, selbst wenn sie den kürzesten Weg fanden. Ich hatte also viel Zeit. Die Beherrschung des Bootes allerdings war eine andere Sache. Ich weiß nicht, ob ich es geschafft hätte, wenn der Wind nicht in die richtige Richtung geweht hätte. Als ich noch einmal anlegen und meine Sachen an Bord nehmen mußte, wäre ich beinahe ins Wasser gefallen. Das Flaggschiff der königlichen Marine, jetzt unter meinem Kommando, ist nicht viel mehr als ein aufgemotzter Currach. Sein Hauptbestandteil ist der weiße Polyester-Rumpf eines kleinen Motorboots, das die Männer des Lairds vermutlich aus dem Schlamm vor Inverness geborgen haben. Er hat keinen Kiel, kein Schwert und kein richtiges Ruder, sondern wird mit Hilfe zweier langer Schleppruder gesteuert, die links und rechts am Heck befestigt sind. Beim kleinsten Unwetter würde man mindestens zwei Mann brauchen, um diese Bade562
wanne auf Kurs zu halten. Aber bisher habe ich Glück – der Wind steht gut, und das Wetter ist prächtig. Über Nacht habe ich innerhalb des Riffs, aber weitab von der Küste geankert. Von Edinburgh bin ich schon mindestens zwanzig Meilen entfernt. Ich bezweifle, daß Kenneth & Co. ernsthaft planen, mich zu verfolgen – eine Straße gibt es nicht an der Küste, und ich denke, sie sollten sich vor allem Sorgen machen, wie sie wieder nach Hause kommen. »Blasser Galiläer, du hast gesiegt!«
27. Mai, nachmittags Heute bin ich auf südöstlichen Kurs gegangen. Dunbar liegt hinter mir, und das Wetter ist nach wie vor gut. Aus der Entfernung konnte ich an der Küste ein paar Überreste der Great North Road erkennen. Gegen Mittag drehte ich bei und ging in der Nähe von Tyninghame (es ist angenehm, wieder Karten zu haben) an Land, um Kokosnüsse und Muscheln zu sammeln. Das Landemanöver war hier relativ einfach, weil eine Flußmündung das Barriere-Riff unterbricht und eine kleine Bucht bildet. Ich habe auch ein paar Verbesserungen an meinem Fahrzeug versucht. Die langen Schleppruder haben einen ähnlichen Effekt wie ein Kiel und lassen sich mühelos anheben, wenn man über das Riff kommt. Daß es 563
gleich zwei Ruder sind, hat zur Folge, daß auf jeden Fall eins im Wasser bleibt, auch wenn das Boot sich auf die Seite legt. Ich habe sie mit einer Querstange fest miteinander verbunden, und jetzt kann ich wahrscheinlich bei fast jedem Wetter den Kurs halten und habe immer noch eine Hand frei, um das Segel zu trimmen. Getauft habe ich das Boot auch. Es heißt jetzt Der Lachfalke. Ich habe diesen Vogel tatsächlich einmal gehört, als ich von Houston aus eine Reise nach Mittelamerika machte. Bis dahin dachte ich immer, du hast ihn erfunden. Der Lachfalke klingt tatsächlich, wie du gesagt hast: Als ob im Nebenzimmer jemand zum Höhepunkt kommen möchte und es doch nie ganz schafft. Anders als du, meine Liebe.
2. Juni, in der Nähe von Scarborough Ich empfinde es als großes Glück, so an der stillen Küste Englands hinunterzusegeln und dabei in die Tiefe zu starren, wo das junge Riff im Nichts versinkt und Stachelrochen wie große Zeitungsblätter durch das blaue Dämmerlicht flattern. Delphine folgen mir und stoßen fragende Quietschlaute aus, als wollten sie sagen: Du? Was machst denn du hier? Wir dachten schon, wir hätten dich zum letzten Mal gesehen! Und als ich heute morgen 564
vom Boot aus ein Bad nahm, ließ ein eigenartig tiefer Ton, ein Pulsschlag so laut und stark wie eine riesige Glocke meinen Körper erzittern: Ein großer Blauwal stieg schäumend vor mir aus dem Wasser. Sein Auge schwebte hoch über dem gewaltigen Kiefer, winzig klein und doch sehr intensiv. Das größte Lebewesen auf der Erde, sagt mir mein Laptop. Ein Tier mit einer Lebenserwartung von möglicherweise über fünfhundert Jahren, ein Leben, so lang wie meine Reise. Vielleicht war dieser Leviathan schon geboren, als Herman Melville die Meere befuhr, vielleicht hat er alles gesehen, was wir ihm an Alpträumen schickten: Walfangschiffe, Supertanker und Torpedos; Nylonnetze und Giftmüll; die weißen Wolken der Wasserstoffbomben über den Pazifikinseln. Vielleicht hat er auch gehört, wie die letzte Schiffsschraube über ihm still wurde und abstarb. Seit einer Woche nur Sonne und stetiger Westwind. Das Wetter verzaubert von freundlichen Göttern. Jeden Tag mühelos zwanzig, dreißig Knoten. Der Falke schiebt Quallenflotten und Seegras-Wiesen beiseite. Ich werde besucht von Schildkröten und Haien, fliegende Fische springen ins Boot (und verwandeln sich alsbald in gebratene Fische). Abends füllt sich das Wasser mit einem phosphoreszierenden Licht, das unter dem Bug leuchtet, als wäre in der Tiefe des Meeres ein zweiter Mond 565
aufgegangen. So schön ist das alles, daß ich eine klammheimliche Dankbarkeit für die Beseitigung der Menschheit empfinde, eine ungeheuerliche Schadenfreude. Ich fühle mich wie Noah, der im Regen tanzt.
9. Juni, Yarmouth Der Wash ist jetzt ein flaches Meer und hat die Ebene von Bedford und die Lincoln Fens überflutet. Als ich auf südöstlichem Kurs durch diese Gegend fuhr, wo König John vor über tausend Jahren seinen Schatz in den Dünen verlor, blieb ich immer wieder an Sandbänken und tangbewachsenen Ruinen hängen – aber die Schleppruder sind sehr praktisch, wenn man sich wieder abstoßen will. Der große Fluß hier ist wahrscheinlich der Yare. Das heißt, ich bin kaum noch hundert Meilen von der Themsemündung entfernt. Die Küste von East Anglia ist ein wildes Florida voller Dünen, Lagunen, Mangroven und Palmen. Der Küstenverlauf hat sich so verändert, daß ich genausogut versuchen könnte, mit römischen Karten zu navigieren. Ich bin mal von Cambridge aus in diese Gegend gefahren, und schon damals sagte man mir, seit der Tudorzeit seien ganze Städte in den Fluten verschwunden. Man könne die Glocken von Dunwich 566
unter den Wellen hören, sagten die Leute. Und ich schwöre dir, Liebe, ich hab sie gehört. Ein Tag und eine Nacht Gewitter. Ich versteckte mich in einer Windmühle auf einem kleinen Hügel, der noch aus dem Wasser herausragte. Irgendwo in der Nähe eines versunkenen Dorfes namens Rooting Abbots oder so ähnlich, von dem noch ein einsamer Hochspannungsmast steht. Der Wind heulte in den Streben wie eine Spielzeugsirene, aber ich hatte ja meine eigene Musik: Rolling Stones und Bob Marley (hat mich daran erinnert, wie du im Loco Bier gezapft hast) und Purcell (den du immer beim Kochen in deiner Wohnung gespielt hast). Außerdem die einzige Sinatra-Nummer, die Bird ertragen konnte: My Way, gesungen von Sid Vicious. Hat er mir geschenkt. Der arme Bird. Mein Gott, was hab ich getan?
14. Juni, vor Clacton-on-Sea Sobald sich die Sonne versteckt, verwandeln sich die Palmen in Staubwedel, und die Küste sieht aus, als hätte sie Joseph Conrad erfunden: öde, unversöhnlich und finster. Die Gebäude sind alle verschwunden, vom Normannenturm in Orford bis zu den JahrhundertwendeTürmchen in Clacton. 567
Alles verschwunden, bis auf das Kernkraftwerk Sizewell: eine große, gesprungene Kuppel wie eine ottomanische Moschee. Das Meer umspült ihren Fuß, und die Krüppelkiefern halten ehrfürchtig Abstand. Nein, das ist nicht ganz richtig: Im Windschatten der Dünen kriechen die Bäume schon bis auf einige hundert Meter heran, eine Belagerungsarmee, die sich auf den Sturmangriff vorbereitet. Aber noch sind im weiten Umkreis alle offenen Flächen frei von Bewuchs, man sieht weder Möwen noch andere Vögel – die Strahlung des sterbenden Sterns wird noch Jahrtausende anhalten. Ein Riff gibt es hier nicht, die Wellen rollen direkt von der Nordsee herein. Durch irgendeinen unterirdischen Riß scheint das Wasser bis in die ehemalige Reaktorkammer zu strömen, denn nach jeder siebten Welle hörte ich ein dumpfes Dröhnen, und die Kuppel sprühte Gischt in den Himmel.
16. Juni, kurz nach dem Frühstück, vor Shoeburyness Reisen ist eine Droge, und ich bin total high. Canvey Island liegt unmittelbar um die Ecke, und ich bin ganz besoffen von der Vorstellung, gleich wieder bei euch in den 1980er Jahren zu sein. Vielleicht sollte ich den Sommer aussuchen, als ich Bird und dich kennenlernte, im 568
verrosteten alten Schlitten dieses Südafrikaners? Das muß man sich mal vorstellen! Die Sowjetunion noch auf den Beinen, Maggie in Downing Street No. 10 und Ronnie im Weißen Haus. Damals konnte man sich manichäische Gewißheiten noch leisten. Klimakatastrophe, Armut, Seuchen und Bevölkerungsbombe – alles, was uns bevorstand, konnte man damals noch leugnen. Und Bird hatte auch den Einbruch bei Tony’s TwoWheelers noch nicht auf dem Kerbholz. 1986, wäre doch gar nicht schlecht, dahin zurückzugehen. Damals hat uns das Essen noch geschmeckt, auch wenn es tödlich war, möglicherweise. Außerdem wüßte ich ja, daß man bestimmte Speisen besser vermeidet (und ihr wüßtet es auch, vorausgesetzt, ihr glaubt mir). Das würde die Dinge ja nicht gleich vollständig ruinieren. Wir könnten die Party genießen, solange sie dauert. Bei aller Fortschrittsfeindlichkeit bin ich doch ein Kind unserer Zeit und will nicht wie ein Bauer leben. Ich mag saubere Laken und heißes Wasser. Ich mag Shampoo und Empfängnisverhütung. Ich mag Bücher, Fotografien und Musik auf Knopfdruck. Ich schätze es, daß ich alles oder nichts glauben kann, ohne daß gleich die Inquisition bei mir an die Tür hämmert. Ich schätze es zu wissen, daß die Erde rund und die Sonne ein Stern ist. Mit einem Wort, die Zivilisation hatte durchaus ihre Reize, ehe der Aufklärung schwindlig wurde, der Kom569
munismus sich selbst erschoß und der Kapitalismus in einem wilden Amoklauf die letzten Ressourcen an Arbeitskraft und Rohstoffen aufbrauchte. Das Ende der Geschichte! Die göttliche Ordnung der Dinge! Begriffen sie denn nicht, daß sie sich gegenseitig brauchten? Daß die Roten die Blauen brauchten, damit sie was zu essen hatten, und daß die Blauen die Roten brauchten, damit sie nicht völlig skrupellos wurden? War es denn so schwer zu begreifen, daß man nicht einfach so tun konnte, als hätte es das zwanzigste Jahrhundert nie gegeben? Wußten sie denn nicht, daß alles Blut vom einen Sarajewo zum anderen noch einmal fließen würde, wenn man so tat, als wären die neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts identisch mit denen des neunzehnten? Wir werden allerdings den Mund halten müssen, du und ich, wenn sich der neue Feudalismus in den Sattel schwingt. Du und ich, wir werden ja wissen, daß der Planet schon zu erschöpft ist für einen neuen Galopp. Aber wir können uns ja den Wind um die Nase wehen lassen, bis der alte Gaul zusammenbricht. Und zur Hölle mit dem Spruch, man dürfe Pegasus nicht totreiten! Na schön! Man wird ein bißchen bescheuert hier draußen auf See. Ganz zu schweigen von der Strahlungsdosis, die ich mir in Sizewell geholt habe (hoffen wir, daß meine kleinen Prionen das meiste abgekriegt haben). Der Anblick der Maschine wird mich wahr570
scheinlich ernüchtern. Ein häßliches Ding, so abweisend und massiv wie ein Panzer. Mein Erlöser oder mein Henker? Ich hatte schon wieder Alpträume. Ich werfe Anker am Rande des Dschungels und wate durch hüfttiefes Wasser in das kleine, schattige Inlet, wo ich die Kapsel vertäut habe. Aber alles hat sich verändert. Überall Mangrovenwurzeln, und aus dem Schlamm wachsen neue Schößlinge, so schnell und bedrohlich wie Bambussprossen unter einem Folteropfer in Südostasien. Und plötzlich an einem Baumstamm ein blauer Strick: ein Stückchen Landeleine. Und dann noch eins und noch eins. Keine Zeitmaschine. Panik. Verzweiflung. Ich untersuche die Leinen: Sie sind nicht ausgefranst, sondern geschmolzen. Die Kapsel ist nicht weggerissen worden, sondern ohne mich weggeflogen. Als nächstes entdecke ich in einiger Entfernung einen Gegenstand in einem Busch. Die Farbe ist ungewöhnlich, aber eigentümlich vertraut. Ich schlage mich durch das dichte Gestrüpp, eine halbe Stunde brauche ich für die zehn Meter. Ein Strohhut. Aber nicht etwa mein Strohhut. Und er stammt auch nicht vom Loch Ness. Nein, es ist ein eleganter Florentinerhut mit einer langen heliotropfarbenen Schleife, den eine junge Frau im Jahre 1899 getragen hat. Die Schleife ist getränkt mit 571
ihrem Parfüm, und unter dem Hutband steckt ein Brief in zierlicher, blaßblauer Schrift: Guten Morgen, Mr. Lambert, Ich habe Sie beobachtet. Ich habe mir erlaubt, Ihre Räumlichkeiten im Wakefield Tower zu untersuchen, und Ihre Aufzeichnungen gründlich gelesen, als Sie unterwegs waren. Ich kenne Sie inzwischen recht gut, Mr. Lambert, und glaube, Sie werden mir verzeihen, was ich getan habe. Die Entscheidung ist mir nicht leicht gefallen. Ohne Zweifel halten Sie es für skrupellos, daß ich Sie in dieser Welt der Hitze und Verzweiflung zurücklasse. Aber Sie müßten eigentlich wissen, daß Sie mich mit Ihren Handlungen ebenfalls sehr in die Klemme gebracht haben. Ich weiß, Sie haben es nicht böse gemeint. Ich auch nicht. Sie haben vollkommen recht, wenn Sie vermuten, daß Fleisch und Blut nicht zurückkehren können. Goodbye, Mr. Lambert. Verzeihen Sie mir, wenn Sie können. Ihre sehr ergebene Tatiana Cherenkova (Miß) Guten Morgen? Woher wußte sie, zu welcher Tageszeit ich eintreffen würde? Woher wußte sie, daß ich überhaupt kommen würde? Manchmal kann man sich in seinen Träumen neben sich stellen, und dann sagt man: 572
Komm, das ist doch wirklich absurd, laß dir was Besseres einfallen. Aber mein Bewußtsein meldete sich nicht zu Wort. Statt dessen wachte ich auf, schweißgebadet, und lag wieder einmal gelähmt wie Gregor Samsa auf meinem Bett. Der Alptraum hielt mich noch lange fest, als ich längst wach war – ähnlich wie die Absturz-Träume, die mich jedesmal heimsuchten, wenn ich irgendwo hinfliegen mußte: Die in der Sonne glänzende Aluminiumröhre wurde plötzlich nicht mehr von Zauberkräften gehalten, der Himmel taumelte, und die Erde kam mir entgegen, ein kurzer Zustand der Schwerelosigkeit, Wolkenkratzer, die vor den runden Fenstern erschienen, die Flügel abgerissen, die Schreie, das Feuer in der Kabine. Was für eine Logik soll man auf eine Maschine anwenden, die all unsere Vorstellungen von Wirkung und Ursache auflöst? Es macht keinen Unterschied, woher das Ding gekommen ist, ob es das Werk eines irdischen Genies oder außerirdischer Wissenschaft ist, auch die Frage, wo Tania geblieben ist, spielt eigentlich keine Rolle. Ich bin eben doch bloß ein Wilder, der ein Auto gefunden und den Zündschlüssel umgedreht hat. Von den Prinzipien, die es beherrschen, verstehe ich gar nichts. Aber das ist kein Grund aufzugeben. Wir kämpfen uns ja alle durchs Leben, ohne etwas zu wissen. Oder 573
(schlimmer noch) im Glauben, etwas zu wissen (was eigentlich erst die vollkommenste Unwissenheit ist). Wenn Unwissenheit ein Grund zum Aufgeben wäre, würden wir alle jungfräulich sterben. Und was ist, wenn die Zeitmaschine wirklich weg ist? Wenn alle meine Vorsichtsmaßnahmen nicht ausgereicht haben? In wenigen Stunden werde ich’s wissen. Und dann? Werde ich die Energie aufbringen, mich bis nach Hatfield durchzuschlagen, um mir das Faltboot zu holen? Die Sachen aus meiner alten Schule sind mir egal, aber das Faltboot brauche ich unbedingt, wenn ich den Rest meiner Tage im Tower zubringen muß. Während ich heute morgen hilflos im Boot lag, habe ich mir Nachrufe für mich ausgedacht. Wer möchte nicht gern die eigenen Nachrufe lesen? Diese Mischung von Bewunderung, Intimität und Humor; das Schulterklopfen, das Gefühl, daß alles Böse vergeben und vergessen ist und daß die Nachwelt einen mögen wird. Wenn die Maschine weg ist oder nicht funktioniert, werde ich nicht lange auf den dürren Kerl mit dem Sichelchen warten. Ich werde zur Canary Wharf fahren und die müden alten Knochen in den 95. Stock oder noch ein Stück höher hinauftragen. Ich werde so viele Fenster wie möglich einschlagen und dann in die Themse hinabspringen. Wahrscheinlich genügt ja der Sturz schon; es heißt, wenn man aus solcher Höhe kommt, wäre Wasser 574
so hart wie Beton. Aber zur Sicherheit kann ich ja noch ein bißchen Affenfleisch im Wasser verteilen, um den Appetit der Haie auf Primaten zu schärfen. Natürlich könnte ich auch Graham bitten, mir den Gefallen zu tun, aber irgendwie denke ich, sie würde wohl zögern. Ich habe zwar nie daran gezweifelt, daß die meisten Hauskatzen ihre Eigentümer augenblicklich auffressen würden, wenn sich die Größenverhältnisse umkehren würden, aber die Großkatzen sind sicher viel nobler. Schließlich haben sie nicht solche Komplexe. Meine Todesanzeigen. Als der letzte Postmoderne in England verdiene ich doch zumindest zwei Nachrufe, auch wenn sie sich widersprechen? ›The Times‹: LAMBERT, David Philip Wringham, Museumsdirektor, am Donnerstag von eigener Hand im Alter von 533 Jahren, beim Versuch, das Redaktionsbüro der ›Daily Trumpet‹ zu verwüsten. Lambert war das einzige Kind des verstorbenen Montague Jason Lambert und seiner Ehefrau Mary Lavinia (geb. Wringham). Im Laufe seines langen Lebens entwickelte sich Dr. Lambert nicht nur zum anerkannten Gelehrten, sondern auch zum Reiseschriftsteller. Er studierte Archäologie in Cambridge (Downing 1985-88) und promovierte 1993 zum Dr. phil. Seine Diss. ›Mechanik als 575
Methode: Ein Porträt des Ingenieurs als junger Mann‹ fand internationale Aufmerksamkeit und sicherte ihm ein Forschungsstipendium in Houston (USA). Im Jahre 1995 kehrte er nach Großbritannien zurück und wurde einer der Kuratoren am neugegründeten Museum of Motion, St. Pancras. Am 30. Nov. 2000 wurde Lambert der erste männliche Zeitreisende, nachdem er eine im späten 19. Jh. von einer gewissen Tatiana Cherenkova (Schülerin von Nikola Tesla) gebaute Zeitmaschine entdeckt hatte. Mr. Lambert wurde vor allem durch seinen Bericht über diese Reise (mit dem erstaunlichen Titel ›Die Schönheit jener fernen Stadt‹) und seine großzügigen Spenden zugunsten der Tierwelt bekannt. Er hinterläßt Grundbesitz von einer in den letzten Jahrhunderten kaum noch üblichen Größe, es läßt sich allerdings nicht leugnen, daß der Erhaltungszustand der Baulichkeiten durchweg schlecht genannt werden muß.
›Daily Trumpet‹: LAMBERT, David, Dr. Phil. Plötzlich und unerwartet am 30. November 2000 im Alter von 33 Jahren. Trotz seines frühen, tragischen Todes galt Dr. Lambert bereits als anerkannter Gelehrter. Er studierte von 576
1985-88 in Cambridge Archäologie und promovierte 1993. Bereits sein Referat über ›Unsichtbarkeit und Metonymie im Diskurs von H. G. Wells‹ galt als bahnbrechende Arbeit auf diesem Gebiet. Lamberts Doktorvater, Prof. C.V. Skeffington, erinnert sich gern »an diesen lieben Freund, diesen anregenden Kollegen und diesen brillanten, unkonventionellen Kopf. Aber der arme David hatte ein so schweres Leben. Seine Eltern sind bei einem Autounfall gestorben, als er zehn oder elf war; und seine erste große Liebe hat er nie ganz verwunden. Wie schon Dryden sagte: ›Große Geister wohnen nah am Wahnsinn.‹ Wäre diese tragische Labilität nicht gewesen, hätte David gewiß noch große Dinge geleistet.« Prof. Skeffington erinnert sich auch, daß er David einmal wegen eines »unzumutbaren Haustiers« habe ermahnen müssen, weil der zartbesaitete Lambert einen Puma aus einem Zirkus befreit und im Studentenheim untergebracht hatte. Im April 2000 ersuchte Lambert um Aufnahme in die Psychiatrische Anstalt Elm House in Walthamstow, wo er schon als Heranwachsender mehrfach wegen seiner schweren Depressionen behandelt worden war. Der letzte depressive Schub schien mit dem vorzeitigen Tod der jungen Ägyptologin Anita Langland zusammenzuhängen, mit der Lambert während 577
ihrer gemeinsamen Studienzeit eine Weile zusammengelebt haben soll. Der plötzliche Tod von Dr. Lambert ist offenbar auf technisches Versagen zurückzuführen. Während einer Elektroschockbehandlung kam es zu einem überraschenden Spannungsanstieg im Bereich der Elektrizitätswerke Süd, der letztlich zum Tod des jungen Wissenschaftlers geführt hat. Ein Sprecher des Krankenhauses äußerte sein »tiefes Bedauern« über den Vorfall. Erscheint dir die zweite Fassung plausibler? Bin ich so verrückt wie ein Märzhase? Gefangen in den Echos der Todessekunde? Ich glaube nicht. Ich hab zwar auf dem Rücken gelegen, als ich die obigen Texte erfand, aber ich spürte trotzdem noch die Sonne, die durch das Zelt schien. Ich roch tropische Blüten, Mandelbäume und Banksia-Rosen. Und ich hörte die Stille von England. Und jetzt, wo ich mir zum Frühstück Kokosscheiben in Schildkrötenfett brate (ja, ich hab’s getan: Gestern in Gunfleet habe ich zum ersten Mal Schildkrötensuppe gegessen), ist diese Welt, die mich umgibt, absolut wirklich und fühlbar. Ich weiß auch, was du mir gesagt hast, als wir uns das letzte Mal lebend gesehen haben. Wir hatten uns gerade getrennt, und du warst auf dem Weg nach Ägypten. Ich 578
war in einer schrecklichen Stimmung und dachte, ich würde verrückt. Mach dir keine Sorgen, David, ich glaube keinen Augenblick, daß du verrückt bist. Leute, die wirklich wahnsinnig sind, kommen gar nicht auf die Idee, sie könnten verrückt sein. Ich werde wie versprochen zu dir zurückkehren, und zur Hölle mit dem Risiko! Und das hat nicht bloß mit Altruismus und Reue zu tun. Ich habe hier genug gesehen, um zu wissen, daß ich noch Dutzende von Hüpfern in die Zukunft machen könnte, ohne auch nur ein paar Aspirin vorzufinden, geschweige denn die Medizin, die wir brauchen. Kleine Gemeinschaften wie die am Loch Ness können vielleicht überleben, vielleicht werden die Bevölkerungszahlen wieder zunehmen, und mit etwas Glück können wir auch wieder Staaten wie das alte Peru oder China hervorbringen. Aber die leicht erreichbaren Erze und die fossilen Brennstoffe sind weg. Ohne Kohle gibt es keine Industrielle Revolution; ohne Öl fehlt der Übergang vom Dampf zum Atom. Die Technologie wird am unteren Ende einer Leiter sitzen, bei der die Sprossen in der Mitte fehlen. Und wer immer die verschütteten Kenntnisse wiederbeleben will, wird von seinem Wissen erdrückt. Erinnerst du dich noch, was uns Skeffington immer gesagt hat? Daß man’s bei der Archäologie 579
immer gleich beim ersten Mal richtig machen muß, weil es keine zweite Chance gibt? Weil Ausgrabungen immer auch Zerstörungen sind? Ich glaube, das gilt auch für den Fortschritt. Eine Zivilisation wie unsere bricht ständig alle Brücken hinter sich ab; wir hatten bloß eine Chance. Wir hätten’s beim ersten Mal richtig hinkriegen müssen. Das Äußerste, worauf wir jetzt noch hoffen können, ist ein Schrott-Zeitalter: Alte Eisenträger werden mit Hilfe von Holzkohlefeuern zu Schwertern und Pflugscharen geschmiedet, rostfreier Stahl ist kostbarer als Gold. Hundert Millionen Jahre vergehen, bis sich die Erde wieder mit Kohle und Öl füllt, und der Himmel weiß, wohin uns die Evolution bis dahin geführt hat. Andererseits dürfen wir die Bedeutung des nackten Affen auch nicht überschätzen. Auch wenn unsere besonderen Begabungen letztlich fatal waren, wird die Natur bestimmt das Beste aus dem machen, was wir hinterlassen haben. Sie wird eine neue Schöpfung entwickeln, mit Arten, die ein Quentchen PCB geradezu brauchen, um zu gedeihen. Die erheblich geschrumpfte Liste der Arten in unserem Kielwasser wird sich wieder verzweigen und den Planeten besiedeln. Die Zeit wird neue Herrscher über die Erde hervorbringen, die uns in einer fernen Zukunft vielleicht als eine kurz aufleuchtende, aber äußerst nützliche Supernova in der Ge580
schichte des Lebens betrachten – ähnlich wie die ersten Pflanzen, die unsere Atmosphäre mit einem Giftgas namens Sauerstoff anreicherten. Wenn aus einem Dinosaurier ein Kolibri werden kann, ist im Prinzip alles möglich.
Abends, vor Canvey Island Endlich wieder da, wo ich begonnen habe, auf dem Hügel, wo der King Canute stand.
Freitag nachmittag Hundemüde. Ohne Faltboot nach der Zeitmaschine zu suchen war äußerst mühselig. Der Falke kann nicht in den Mangrovensumpf vordringen, er ist zu breit für die vorspringenden Wurzeln. Also mußte ich bis zur Brust ins Wasser und durch den Schlamm waten. Das Inlet war von Schlingpflanzen und neuen Schößlingen so überwachsen, daß ich mir den Weg mit der Machete bahnen mußte und zeitweilig dachte, mein Alptraum wäre doch wahr geworden. Endlich entdeckte ich die Maschine. Aber es war nicht mehr die glänzende Kapsel, die in den Midnapore 581
Mews zu mir herabgestiegen war, sondern eine pockennarbige Kugel, an der sich Ringe von Schlamm abgesetzt hatten wie die Bahnen der Jupitermonde. Ihre blanken Kupferstacheln hatten sich in grünspanüberzogene Blitzableiter verwandelt, und sie sah mehr denn je wie eine Mine aus, die noch nicht explodiert war. Auch diesmal zischte es leise, als ich die Luke öffnete, aber diesmal fehlte der weibliche Duft. Statt dessen nur ein muffiger Geruch nach Bilgenwasser. Hatte die Kapsel ein Leck? Hatte es einen Kurzschluß gegeben? War der Generator tot? Ich wischte den Mehltau vom Leder, setzte mich in den Pilotensessel und testete Instrumente und Schalter. Aber meine Sorge war unbegründet: Die Feuchtigkeit an Bord war nur ein bißchen Kondenswasser. Eins nach dem anderen begannen die grünen Lämpchen zu leuchten. Ein paar Tage der Vorbereitung, dann wird das Ding wieder fliegen.
Sonntag, 19. Juni, abends Von der Flut und vom Ostwind befördert, bin ich heute zur Isle of Dogs gefahren. Ich wollte mich von einer lieben Freundin verabschieden. Ich wagte nicht, am Ufer nach ihrem schwarzen 582
Schatten und ihren topasgelben Augen zu suchen, nach dem einzelnen Ohr. Und als ich zur Canary Wharf kam und die Anhöhe vor ihrer Wohnungstür hinaufkletterte, war mir das Herz schwer. Was, wenn sie tot, krank oder tollwütig war? Was, wenn ich nur noch einen Kadaver mit stumpfem Fell fand? Aber sie war nicht zu Hause, und in gewisser Weise bin ich darüber froh. Eine neuerliche Trennung wäre uns sicher schwergefallen, und wenn sie mir nach Canvey gefolgt wäre, hätte die startende Zeitmaschine sie womöglich verletzt. Aber daß Graham lebt, weiß ich. Ich habe ihre Höhle betreten, und es war alles so, wie es sein sollte: fleischige Knochen gleich neben der Tür, Papageienfedern und ein Stück Hirschfell und eine leichte Vertiefung, wo ihre Schlafkuhle ist. Ich wartete ein paar Stunden und angelte von einem der Betonklötze aus. Sie kam aber nicht, und schließlich mußte ich abfahren, um die Ebbe zu nutzen. Ich hinterließ ihr zwei Piranhas (wie immer ohne Köpfe) zum Abschied. Ich habe mir zum Andenken ein paar schwarze Haare eingesammelt von Grahams Lager. Ich werd sie dir bald zeigen.
583
Vor Canvey Island, Dienstag, 21. Juni 2501, mittags. Hochwasser Sommersonnenwende, mein vierunddreißigster Geburtstag und so heiß, daß man Spiegeleier auf meinem Hut braten könnte. Das ist die letzte Depesche aus der Zukunft, Liebste. Die Maschine ist startklar. Heute nachmittag werde ich abreisen. Wird es sein, wie ich es am Kreuz geträumt habe? Ein irdisches Paradies mit schlechtem Wein und guter Gesellschaft am Ufer des Nils? War das eine Vision der Zukunft (bzw. der Verbesserten Vergangenheit)? Laß uns auf Nummer Sicher gehen. Es ist ja nicht auszuschließen, daß zwar die Maschine rückwärts durch die Zeit reisen kann, der Passagier und Pilot aber nicht. Ich habe nach wie vor den Verdacht, daß dies der Punkt war, in dem sich Tania geirrt hat. Sie hat einen kurzen Blick in dieses Jahrhundert geworfen, fand es nicht sonderlich attraktiv und legte den Rückwärtsgang ein … Es kann also gut sein, daß du nur eine leere Kapsel findest, während ich irgendwo jenseits der strahlenden Inseln der Schwerkraft gegen den dunklen Strom schwimme, der aus der Zukunft zu uns herabfließt. Wahrscheinlich wird jeder gnadenlos im Nichts ausgesetzt, der das Gesetz der Zeit zu betrügen versucht. Das sagt einem ja schon der normale Menschenver584
stand (was immer der wert sein mag), daß es nicht anders sein kann. Denn wenn ich zurückgehen könnte, könnte ich mir ja selber begegnen (oder auch wieder nicht, wahrscheinlich würde ich jedesmal den Raum betreten, wenn mein Original ihn gerade verläßt). Sein eigener Doppelgänger zu werden kann aber nicht möglich sein, denn Verdoppelung wäre ja Schöpfung. Wir jonglieren zwar sehr geschickt mit Energie und Materie, aber letztlich bleiben wir schlaue Affen. Die eigentliche Schöpfung bleibt ein letztes Vorrecht Gottes. Es würde mich also nicht überraschen, wenn ich Tania begegne im Strom der Zeit, der uns immer genau so weit zurücktreibt, wie wir dagegen anschwimmen. Oder ich liege bei vollem Bewußtsein in eisiger Nacht, welk wie Tithonus, der nicht sterben kann, aber jeden Tag altert. Ich werde trotzdem an Bord gehen, denn ich bin verurteilt. Ich habe wenig zu verlieren, aber viel zu gewinnen, und meine Rückkehr ist die einzige Hoffnung für dich, für Bird, für meine Mutter und meinen Vater. Aber wenn Tania ein Datum einritzen konnte, dann kann ich vielleicht noch etwas mehr tun: Ich schicke dir eine Warnung, Anita: Ms. Anita Langland, Girton College, Cambridge, 1988. Geh nicht zum Ball, heb nicht die Hand, geh nicht ins Krankenhaus, laß nicht zu, daß sie dir die Nadel in den Arm stecken und Blut übertragen! Oder besser noch: Ms. Anita Langland, Malvern Hills, 585
Dominica, West Indies, 1984. Geh nicht nach England, iß kein Fleisch, und verlieb dich nicht! Und ich weiß natürlich, daß dieses Ich, das hier schreibt, auf keinen Fall zurückgekehrt ist; denn die Anita, die ich gekannt habe, war ja keine Vegetarierin, hat sich sowohl in Bird verliebt als auch in mich, ist zum Frühlingsball gegangen, erhielt eine Blutspende und ist gestorben. Und der David Lambert, den ich gekannt habe, hat auch nicht das Zündkabel durchgeschnitten, damit seine Eltern am Heiligabend nicht wegfahren konnten. Aber was wir wissen, ist nur ein Häufchen Bohnen. Deshalb werde ich meinen versagenden Körper diesem goldenen Gerät anvertrauen und in die stille, schattenhafte Ferne starten. Den mondäugigen Fischen werde ich ins Auge starren und allen Eisbergen trotzen, denn dieses stolze Schiff ist unsinkbar. Noch etwas. Wenn dieses Ding bei dir eintrifft, und es ist nichts übrig von mir als ein Bündel verschwitzter Kleider, kannst du dann bitte einen Epitaph in die ›Times‹ setzen? Anonym, wenn du willst: Für einen Unbekannten Matrosen. Ich glaube, Tithonus wäre richtig: Die Wälder sterben, stürzen, Die Nebel weinen ihre Last zu Boden, Es kommt der Mensch und pflügt den Acker, 586
Bis er darunter sinkt. Nach vielen Sommern stirbt der Schwan. Mich frißt Unsterblichkeit voll Grausamkeit. Ich welke langsam, siech in deinen Armen, Hier, am stillen Rand der Welt.
Danksagung Für ihre oft zeitaufwendige Unterstützung und viele hilfreiche Vorschläge danke ich: David Young, Shirley Wright, Anthony Weller, John Saddler, Bella Pomer, Farley Mowat, Alberto Manguel, George Lovell, Lois Hill, Antony Harwood, Maureen McCallum Garvie, George Galt, Henry Dunow und Julie Anderson. Mein Dank gilt außerdem Marian Fowler, Eric Wright, Andrew Tidbury, Emily Zarb, Joe Fisher, Tom Brown und Michael Coren. Dankbar bin ich auch dem Canada Council und dem Ontario Arts Council für ihre Unterstützung; und Mike Poole für materielle Inspiration. Besonderer Dank gilt Janice Boddy, Louise Dennys, Diane Martin und Gena Gorrell. Bücher, die sich in meiner Recherche als besonders nützlich erwiesen haben: The Invisible Man: The Life and Liberties of H. G. Wells von Michael Coren; Tesla: Man Out of Time von Margaret Cheney; Loch Ness von Richard Frere und The Passion Play front the N. Town Manuscript, herausgegeben von Peter Meredith. Besonders interessante Titel innerhalb der inzwischen wohl eher unbekannten Katastrophenliteratur des letzten Jahrhunderts waren für mich: The Purple Cloud von M. P. Shiel, After London und The Great Snow von Richard Jefferies und The Last Man von Mary Shelley. 588
Ein langer Liebesbrief. Ein großes Abenteuer. Eine romantische Zeitreise.
Deutscher Taschenbuch Verlag www.dtv.de