Robert von Rimscha
Die Bushs Weltmacht als Familienerbe
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Robert von Rimscha
Die Bushs Weltmacht als Familienerbe
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Die Präsidentschaftswahl in den USA steht vor der Tür. Nach den beiden Kriegen in Afghanistan und Irak, die noch keinen Frieden brachten, wankt die Macht des George W. Bush. Reicht die Unterstützung der Geldaristokratie Amerikas, um die Bush-Dynastie am Ruder der Weltmacht zu halten? Was macht die Bushs für Amerikaner wählbar? Wer Amerika verstehen will, muss die Familie Bush verstehen. Robert von Rimscha schildert den Aufstieg einer umstrittenen Familie zu einer der mächtigsten der Welt. ISBN: 3-593-37309-2 Verlag: Campus Erscheinungsjahr: 2004 Umschlaggestaltung: mancini-design, Frankfurt
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Buch Sie sind keine Sympathieträger. Sie sind zweimal gegen Saddam Hussein in den Krieg gezogen – und stolpern gern über ihre eigenen Sätze. Die Bushs: Keine andere Familie verkörpert die Verflechtung von privaten Interessen und amerikanischer Politik so wie diese. Die Zugehörigkeit zur Geldaristokratie und ein Netzwerk aus Familien- und Geschäftsfreunden in zentralen gesellschaftlichen Positionen sind wichtige Erfolgsfaktoren dieser mächtigen Dynastie. Doch gerade in Europa wird die Familie noch immer unterschätzt. Die Wahl des eigenschaftslosen George Bush sen. verursachte Ratlosigkeit; die Wahl seines scheinbar minderbemittelten Sohnes wurde mit völligem Unverständnis quittiert. Dabei repräsentieren die Bushs ein republikanisches Amerika, dem sie sich mindestens so sehr anpassen, wie sie es prägen. Beide, die Bushs wie ihr Amerika, werden populistischer, religiöser, konservativer. Mit einem Präsidenten, einem Ex-Präsidenten und einem Gouverneur sind die Bushs heute so tief in der politischen Landschaft der USA verwurzelt, dass wir selbst die Wahl eines dritten Bewohners des Weißen Hauses namens Bush erleben könnten.
Autor
Robert von Rimscha leitet die Parlamentsredaktion des Tagesspiegel in Berlin. Von 1996 bis 2000 arbeitete er als USAKorrespondent in Washington; l986 bis 1989 studierte er in Boston. Er ist Autor mehrerer Bücher, darinnen Die Kennedys – Glanz und Tragik eines amerikanischen Traums (Campus, 2001). Er schreibt Meinungsbeiträge unter anderem für die Los Angeles Times und die International Herald Tribune und wurde im Mai 2003 mit dem Arthur-E-Burns-Preis für Kommentare zum transatlantischen Verhältnis auszeichnet.
Inhalt Einleitung: Europas Aufstand gegen die Bush-Welt ..............................6 I. Die Heimat ............................................................................................20 1. Geld, Ruhm und ein Schädel .............................................................21 2. Poppy und Bar ...................................................................................33 3. Privilegierte Nomaden .......................................................................41 4. Im Schatten Reagans..........................................................................64 5. Republikanische Freiheit ...................................................................80 II. Die Macht ............................................................................................93 6. Weiter ein Stellvertreter.....................................................................94 7. Vom verlorenen Sohn zum Aufsteiger.............................................113 8. Karriere in Eile ................................................................................122 9. Öl, Banken und Lobbys ...................................................................148 10. Familienbande................................................................................169 11. Misstöne und andere Malheurs ......................................................180 III. Die Welt............................................................................................192 12. Feind Saddam ................................................................................193 13. Feind Osama ..................................................................................208 14. Nachschlag Saddam.......................................................................224 15. Der Terror, die Angst und Europa .................................................249 16. Deutschland ...................................................................................259 Ausblick: Eine Dynastie? ......................................................................288 Zeittafel...................................................................................................308 Quellen....................................................................................................314
EINLEITUNG: EUROPAS AUFSTAND GEGEN DIE BUSH-WELT Der 23. Mai 2002 war ein sonniger Tag in Berlin. Ein leichter Wind wehte durch den Innenhof des neuen Kanzleramts und ließ die Flaggen der Bundesrepublik Deutschland und der Vereinigten Staaten von Amerika flattern. George W. Bush hatte an diesem Donnerstag fast zwei Stunden lang mit Gerhard Schröder zusammengesessen. Jetzt schritten beide hinaus in die Sonne und bezogen hinter ihren dunkelblauen Stehpulten Position. Höflich ließ Schröder seinem Gast den Vortritt. Wie ihm Berlin denn gefalle, wurde der US-Präsident gefragt. Leider habe er nicht viel von der Stadt sehen können, räumte Bush ein. Und gab eine erstaunlich offenherzige Erklärung hierfür. »I live in a bubble!«, meinte Bush, hob dazu die Hände in die Luft und deutete ein Kichern an, das er durch seine typische nickende Kopfbewegung unterstrich. Dazu beugte er sich kurz tief hinab, bis er fast mit der Stirn sein Mikrofon berührte. »Ich lebe in einer Seifenblase!«, oder auch: »Ich lebe unter einer Käseglocke!« Bush ergänzte: »Das passiert halt, wenn Sie der Präsident sind. Ich habe das gewusst, als ich ins Amt kam; also beklage ich mich nicht.« Da war er wieder, der George W. Bush, wie ihn die Welt kennt. Gesteht ganz unverwandt, dass er von der Welt oder von Berlin nichts mitbekommt. Waren diese offenen Worte dummdreist oder einfach nur entwaffnend, waren sie unverstellt oder naiv, menschlich allzu menschlich, anbiedernd oder peinlich? Dass Bush in einer Seifenblase lebt, würden viele seiner Kritiker unterschreiben. Bush, die Marionette der 6
Energieindustrie, die biedere Fassade der neokonservativen Falken, der missratene Sprössling einer Dynastie, der nur mit Abermillionen an Wahlkampfspenden aus seinem aristokratischen Unterstützerkreis an die Macht gehievt werden konnte. Bush, der religiöse Eiferer, der Krieger mit seinem plumpen Schwarz-Weiß-Raster – dies sind nur einige der gängigen Bilder von diesem Mann. Dass er die Komplexität der realen Welt nicht versteht, dass er mit einem seltenen Minimum an Erfahrung und Einblick ins mächtigste Amt der Welt gelangte – all diese harschen Urteile über seine Person schien Bush mit fünf knappen Worten bestätigen zu wollen. »I live in a bubble!« George W. Bush als das aktuelle Spitzenprodukt der BushDynastie ist natürlich alles andere als ein Mann, der gleichsam vom Himmel fiel. Er mag von vielen Dingen abgeschottet in einer Seifenblase leben, aber er bewegt sich natürlich in seinen Kreisen, und zwar in einem höchst realen, komplexen Netz aus seiner Familie, den Spitzeninstitutionen der amerikanischen Gesellschaft und seinen Geschäftskontakten. In einem Beziehungsgeflecht also, das eher für Zielstrebigkeit denn Zufälligkeit steht. Nur: Die Welt außerhalb Amerikas hatte oft den Eindruck, dass der US-Präsident in der Tat in seiner ganz eigenen, von Verkürzungen, Schematisierungen, Übertreibungen und Illusionen geprägten Seifenblasenwelt lebte. Erfolgreich wie selten eine andere Familie zuvor besetzten die Bushs mit genauem Kalkül die Schlüsselpositionen des Landes, angefangen vom Abgeordneten über den Senator bis zum Botschafter, vom CIA-Chef über den Gouverneur bis zum Präsidenten der Vereinigten Staaten. Wie also konnte es passieren, dass der Spross einer solchen Familie im Ausland als durchsichtiges Leichtgewicht wahrgenommen wurde, als gedankenloser Traumtänzer, als ebenso trotteliger wie gefährlicher Kriegstreiber? Schon über den Vater, George Bush, hatte die Welt gespottet und gelästert. Schon er – und wegen der 7
Namensähnlichkeit wird der Vater hier stets als George Bush geführt, während der Sohn immer George W. Bush heißt – war linkisch und unbeholfen aufgetreten, hatte sich verhaspelt und verschluckt. Und auch der Vater hatte gegen Saddam Hussein Krieg geführt. Sein Sohn erschien der Welt nun als die Karikatur all der Schwächen seines Vaters und Vorvorgängers. »Wir sollten nicht den Fehler begehen, Bush ernst zu nehmen!«, grummelte der renommierte amerikanische Schriftsteller Norman Mailer am 3. Juli 2003 in der ZDFSendung »Berlin Mitte« und amüsierte sich dann selbst über seinen eigenen Witz. Bush als Schießbudenfigur – dies ist eine weit verbreitete Haltung der Spötter und Kritiker. Doch ist sie angemessen? Brauchen wir George W. Bush nicht ernst zu nehmen? Hat er, hat seine Politik, hat jenes Amerika, dessen Außenwirkung er prägt, so wenig Gewicht? Was wird die kommenden Jahre prägen? Wer bestimmt im globalen Maßstab, was geschieht und was unterbleibt? Die nüchterne Antwort muss wohl lauten: Amerika. Weltmacht, Supermacht, Hypermacht. Hegemon, Schurkenbestrafer, unverzichtbare Nation. Jedenfalls wird in Washington ein Land regiert, das dem Rest der Welt enteilt scheint. Politik, Militär, Wirtschaft: Amerika ist führend. Und die Kultur? US-Massenware gedeiht im abgelegensten Winkel der Welt. Amerikas beste Universitäten können es jede für sich mit ganzen europäischen Staaten aufnehmen, was die Ausbeute an Nobelpreisen anbelangt. Fast die Hälfte der deutschen Doktoranden entschwindet inzwischen aus gutem Grund in die USA. Gut, bei Cellisten, Autoexport und Geografiebildung hält Deutschland noch mit. Dennoch: So viel Übermacht war nie. Ganz ernsthaft diskutiert die Außenpolitikelite in Washington, ob ihr Land sich nicht das Etikett »Imperium« aufkleben solle. Was bleibt dem Rest der Welt? Teilhabe? Auflehnung? Die Neue Welt verstand sich stets in Abgrenzung zu Europa, als das bessere Andere. George W. Bush hat im Herbst 2002 in 8
Warschau gesagt, aus den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts sei »ein einziges nachhaltiges Modell für nationalen Erfolg hervorgegangen: Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft«. Die felsenfeste Überzeugung, dass Amerika etwas Universelles hervorgebracht hat, etwas, das erwiesenermaßen ideal für alle wäre, ist etwas ganz anderes als der aggressive Impetus des Imperialismus. Die USA sehen sich als Gesellschaft, zu der die halbe Welt liebend gern beitreten würde, ließe man sie nur. Amerika sieht sich eben nicht als Land, das erobern und besetzen muss. Letztlich vertraut Amerika auf weiche Macht, nicht auf harte. Nun gibt es aber Phasen, in denen die harte Seite dominiert. Nach dem 11. September 2001 gab Amerika Bush das Mandat zu kämpfen – und er tat es. Solche Dominanz löst Reaktionen aus. Doch was wäre die Alternative zur alleinigen Macht? Die prekäre Balance zwischen zwei Mächten wie im Kalten Krieg? Beide Bush-Präsidenten, der erste als 41. Präsident in der amerikanischen Geschichte von 1989 bis 1993 und der zweite als Nummer 43 seit 2001, haben nach dem Fall der Mauer versucht, jenes »window of opportunity«, das »Fenster der Möglichkeiten«, zu nutzen, das die Geschichte aufstieß. Dieses Fenster wird sich wieder schließen, wenn Peking eine Weltmacht regiert. Seine Lehrlingszeit hat der außenpolitische Novize George W. Bush damit verbracht, sich auf China einzustellen. Denn in Peking vermutet Washington den erwachenden Rivalen, jene Macht, die Amerika dereinst Paroli bieten wird. Der 11. September hat die Prioritäten vertauscht, denn die aktuelle Bedrohung, nicht die potenzielle künftige, steht obenan. Bush 43 versucht nun, ein Amerika zu formen, das allein bestehen kann. Die ursprüngliche Vision von Bush 41 sah vor, mit einem geeinten Europa an der Seite in die unsichere Zukunft zu schreiten. Wären drei Mächte besser? Bei denen eine stets voll Misstrauen prüft, ob sich die beiden anderen gegen einen selbst 9
verbünden? Solche Rivalitäten könnten tödlich enden, sobald das labile Gleichgewicht kippt. Keine Macht? Zumindest keine, die auch mit Waffen Ansprüche geltend macht? Europa ist intern auf diesem Weg, doch die Grenze liegt da, wo das Vertrauen auf Institutionen und Völkerrecht fehlt. Die Welt hat es nicht leicht mit ihrer Übermacht. Es gibt viele, die sich dem Amalgam aus Kapitalismus, Globalisierung und Freizügigkeit lieber nicht ausgesetzt sähen. Hier indes ist Amerika oft eher der Sündenbock als der Täter. Die USA sind auch deshalb das Ziel des Terrors geworden, weil Amerika ein so wunderbar großes, offenes Gefäß ist, in das sich an Abneigung, kaschierter Bewunderung, Widerwillen und Hass alles hineinlegen lässt, was in dem einen oder anderen Erdenwinkel ausgebrütet wird. Demokratie ist für viele Araber kein Regierungssystem, sondern das Synonym für Pornofernsehen und Fast-Food-Ketten. Dieses Widersprüchliche in der Wahrnehmung der USA ist auch in Europa fühlbar. Wir sehen im Kino gern US-Filme und ärgern uns, dass im Kino so viele US-Filme laufen. Wir studieren gern in Amerika und ärgern uns, dass es zum guten Ton gehört, in den USA studiert haben zu müssen. »Wir hassen unser Paradies«, hat eine Schriftstellerin aus Pakistan diese Zerrissenheit einmal beschrieben. In Wirtschaftskraft, Bevölkerungszahl und Lebensart liegt Europa nicht zurück. Wir erheben keine Ansprüche – und bekommen deshalb unseren Platz zugewiesen. Amerika ist heute eine Herausforderung an Europa. Wenn wir weltpolitikfähig würden, wäre vieles entkrampft. Das müsste nicht bedeuten, dass wir mit Truppen jeden Krisenbrand austreten, sondern dass Berlins Politik Nordkoreas Raketen oder Algeriens Islamisten als Problem wahrnehmen müsste. Und zwar als unseres und als ein lösbares, Weltpolitikfähig bedeutet auch, die Fragen ernst zu nehmen, die George W. Bush stellt. Vor allem jene, die er aus Enttäuschung heraus anders stellt, als sein Vater George Bush 10
sie noch formuliert hat. Nach dem 9. November 1989, dem Tag des Falls der Berliner Mauer, unter George Bush also, hat es sich abgezeichnet. Nach dem 11. September 2001, als der Terror zuschlug, unter George W. Bush also, ist unübersehbar geworden, welches die zentrale Frage ist. Auch Deutsche stellen sie, Arno Lustiger beispielsweise. Anfang der 40er Jahre überlebte Lustiger Hitlers Konzentrationslager. Am 14. Mai 2003 saß der Frankfurter Schriftsteller im Festsaal von Kloster Bentlage in Rheine. Dort, im katholisch konservativen Münsterland, sprach der deutschjüdische Publizist bei einer Podiumsdiskussion über die Lage nach dem Irakkrieg vom »Glück der ganzen Welt«. Er meinte George W. Bushs Feldzug gegen Saddam Hussein. Den Deutschen warf das Diktaturopfer Lustiger Geschichtsvergessenheit vor und bekräftigte seine extreme Minderheitenposition: »Wer wenn nicht wir müssen«, so argumentierte er, »im Kampf gegen Tyrannen an der Seite Amerikas stehen?« Viele im »alten Europa« – hier macht die berühmt-berüchtigte Unterscheidung von US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld leider Sinn – sind fest davon überzeugt, dass Europa zivilisierter, besser und gerechter als Amerika sei. Ein hoher französischer Diplomat beispielsweise hat im Vorfeld des Irakkrieges seinen Verbündeten in der »Koalition der Unwilligen« gegen George W. Bush zugerufen: »Wir sind so viel menschlicher!« Bundespräsident Johannes Rau sagte in einer Rede am 19. Mai 2003, es zeuge von »richtigem Gespür«, wenn man die »gemeinsame Haltung der Völker Europas« gegen den Irakkrieg als »Grundstein einer europäischen Nation« betrachte. »Irak« wurde zu einem Codewort für die legitime Kritik an Amerikas Exzessen, verkörpert durch Bush. In der Irak-Debatte wurde wieder einmal ein alter europäischer Verdacht an die Oberfläche gespült: Amerika handelt falsch, 11
vereinfacht, überschätzt sich, ist naiv und brutal zugleich. Der alte Bush deutete es an, und der junge Bush belegt es. Es ist Amerika, das gebremst werden muss, es ist Bush, der gestoppt werden sollte, weil sich doch die USA als wahrhaft überlegen und einzigartig sehen. Nicht Europa stellt sich über alles, nicht Europa ist gefährlich, sondern das amerikanische Sendungsbewusstsein in seiner törichten Selbstüberschätzung. Lustiger, die Minderheit, sieht es genau anders herum. Er weiß, dass Amerikas Überlegenheitsgefühl, der Glaube, »simply the best« zu sein, nicht komparatistisch gemeint ist, sondern der Selbstvergewisserung dient. Er weiß, dass es einem Land wie Amerika gelingt, sich unhinterfragt für das beste der Welt zu halten, ohne gleichzeitig jemand anderen gering zu schätzen. Er weiß, dass Amerika seine Einzigartigkeit ohne Trotz und Häme vertritt, wie sie in Europa so populär sind. Er weiß, dass die USA ihre Selbstsicherheit nicht aus einem aggressiven Aufbegehren heraus beziehen. Indessen hegt Lustiger jenen Verdacht, der sich auch immer mehr Amerikanern aufdrängt: Das traumatisierte Deutschland zieht aus seiner Geschichte die falschen Schlüsse, setzt zur europäischen Identitätsstiftung auf Antiamerikanismus, verheddert sich zwischen seinen Schuldund Minderwertigkeitsgefühlen einerseits und dem Anspruch, moralischer Lehrmeister zu sein, andererseits. Dafür ist der Irak nur ein Indiz, jahrzehntelange Reformdebatten sind ein weiteres. Wo das historisch traumatisierte Deutschland gelähmt scheint, hat Amerika aus dem Schock des 11. September Kraft geschöpft. Deshalb sieht Amerika die Deutschen als eine Nation, die sich selbst in die Bedeutungslosigkeit manövriert. Es gibt kluge Beobachter in den USA, die die Deutschen als Volk erleben, das bereit scheint, an seinen Widersprüchen unterzugehen, und dies gar noch als Tugend der Macht- und Anspruchslosigkeit preist. Jedenfalls verstellt die einstige Freundschaft über den Atlantik hinweg, die George Bush noch beschwor, nun nicht länger den Blick auf das Trennende. Der 12
US-Publizist Ralph Peters begrüßte in einem wütenden Pamphlet gar die »längst überfällige Scheidung« der transatlantischen Partner. Deutschland muss sich fragen, ob es dieses Wegdriften von Amerika will. Ob es diesen Prozess betreibt und befördert – oder ob es ihn eindämmen und gar umkehren sollte. Zunächst siegte das Befördern. Im Jahr 2003 sah es so aus, als wäre George W. Bush der unfreiwillige Geburtshelfer einer europäischen Nationalidentität. Freilich einer Identität, die sich gegen das Bush-Amerika, seine Arroganz und Militärstärke richtete und das »alte Europa« enger zusammenführen sollte. Bushs IrakFeldzug war der Katalysator eines breit angelegten Besinnungsdiskurses über Zweck, Wert und Charakter der Alten Welt. In einer Rede auf dem Berliner SPD-Sonderparteitag am 1. Juni 2003 formulierte Gerhard Schröder das Credo des alten Europas: »Ein starkes, und zwar sozial wie innovativ starkes Europa, ein von Sozialdemokraten gestaltetes Europa ist heute notwendiger denn je«, sagte der Bundeskanzler. »Es wird gebraucht, weil wir Europäer – und das vor allem aufgrund unseres einzigartigen europäischen Modells der sozialen Teilhabe, des Interessenausgleichs und der Sozialstaatlichkeit – der ganzen Welt etwas zu bieten haben. Etwas, das gegen die gefährliche Tendenz zu Konfrontation und Unilateralismus eine Alternative der gerechten Entwicklung und des geteilten Wohlstands aufzeigen kann.« Das Feindbild war natürlich Bushs Amerika, das angeblich nicht über diese alteuropäische Kraft zum Ausgleich verfügt, obwohl sein ganzes System auf »checks and balances« aufgebaut ist. Amerika, das ein stabileres Rentensystem und höhere Gesundheitsaufwendungen hat, verfügt angeblich nicht über ein Sozialsystem. Amerikas Außenwirkung kommt einer »gefährlichen Tendenz« gleich. Schröder und – in präsidial zurückhaltenden Andeutungen – auch Rau benutzten Klischees 13
vom brutalen Amerika zur kulturellen Aufwertung dessen, was sie Europa nannten, womit allerdings nur die kriegsfeindlichen Kontinentaleuropäer gemeint waren. Friedfertigkeit wurde so zum aktiven Kern der westeuropäischen Seele. Damit wären die Polen, Tschechen, Balten und Bulgaren, deren demokratische Regierungen allesamt Bushs Irak-Kurs unterstützten, aus dem zivilisiertesten aller Weltteile herausdefiniert. In der äußersten Konsequenz beschrieben Schröder und Rau ein Europa, das am ehemaligen Eisernen Vorhang endete – um nicht zu sagen: das die Berliner Mauer geistig neu erstehen ließ. Jene ebenso simple wie brutale Trennlinie, die einzureißen George Bush maßgeblich geholfen hatte. Der SPD-Vordenker aus den Zeiten der Ostpolitik, Egon Bahr, prophezeite in seinem 2003 erschienenen Buch über den »deutschen Weg«: »Ohne Emanzipation von Amerika, das seiner hegemonialen Mission folgt, ist Deutschland auf dem Weg zur Kolonie.« Gemeint war damit aber nicht nur die Außenpolitik. Dies machten Gernot Erler und Michael Müller, beide stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, in einem Positionspapier Anfang November 2003 deutlich. Hinter der innerdeutschen Reformdebatte stehe etwas viel Größeres, argumentierten Erler und Müller, nämlich die »Systemauseinandersetzung« mit Amerika: ob der neoliberale Kapitalismus nach US-Vorbild oder eine erneuerte soziale Demokratie europäischer Prägung triumphiere. Rau, Schröder, Bahr und viele bundesrepublikanische Intellektuelle im, aber auch weit jenseits des linken Lagers erhielten die Antwort auf ihre Thesen am 17. Juli 2003, als Großbritanniens Premier Tony Blair vor beiden Kammern des amerikanischen Kongresses auftrat. Blair blies zum Großangriff auf die Vorstellung von einem gaullistischen Europa als Korrektiv Amerikas: »Heute gibt es in der internationalen Politik keine gefährlichere Theorie als jene, wir müssten die 14
Macht Amerikas durch die Macht rivalisierender Mächte ausgleichen, durch verschiedene Pole, um die sich Nationen scharen. Eine solche Theorie wäre vielleicht im Europa des 19. Jahrhunderts sinnvoll gewesen. Heute ist sie ein Anachronismus, die so wie traditionelle Vorstellungen von Sicherheit entsorgt werden muss. Und sie ist gefährlich, weil wir nicht Rivalität, sondern Partnerschaft brauchen, einen gemeinsamen Willen und ein verbindendes Ziel angesichts einer gemeinsamen Bedrohung.« So viel hat George W. Bushs Amerika mit Europa zu tun. So sehr fordert der US-Präsident zum Widerspruch heraus. So sehr polarisiert er. Der Irak-Streit und das dahinter stehende Postulat, Europa müsse sich gegen Amerika zur Wehr setzen, kam aus US-Sicht der bitteren Erkenntnis gleich, dass der von George Bush 1989 in die Arme geschlossene Bruder aus der Alten Welt sich aus dem amerikanischen Orbit lieber verabschieden möchte. Was Bush 41 herbeigeträumt hatte und wofür er praktische Politik betrieb, die »partners in leadership«, zerrann seinem Sohn. Nie hätten sich Europa und die USA näher sein können als nach dem Fall von Mauer und Kommunismus. Nach dem 11. September 2001 sah es kurzzeitig so aus, als bestünde diese Chance zur Nähe erneut. Doch bald wurde klar, dass sich Amerika und Europa selten fremder gegenüberstanden als unter Bush 43. Realisten in den USA sagen: Nie wurde die Illusion des alten Bush deutlicher widerlegt als unter dem jungen Bush. Teils liegt dies am unterschiedlichen Naturell und Stil beider Bush-Präsidenten. Teils liegt dies indes auch daran, dass Europa nie verstand, inwieweit beider Politik doch derselben Linie folgte, wie sehr also das Ja zum Mauerfall folgerichtig in das eiserne Nein zum Terror und seinen Helfern münden musste. Die Ambivalenz, mit der der Rest der Welt nach Amerika blickt, macht sich des Öfteren an Personen fest. Bill Clinton war den Europäern sympathisch. Der britische Historiker Timothy Garton Ash hat geschrieben, Clinton sei »sagen wir mal: ein 15
Ehren-Europäer« gewesen. Dieses Europa verzieh es Amerika nie, dass es sich Ende 2000 erdreistete, »seine« Clinton-GoreRegierung abzuwählen. Clinton selbst kokettierte manchmal auf riskante Art und Weise mit seinem Status als Europas liebster US-Präsident, etwa wenn er über seinen Nachfolger die sarkastische Bemerkung fallen ließ: »Bush würde auch den Reichstag bombardieren, wenn ihm das Wählerstimmen einbrächte.« George W. Bush hegt keine Pläne, Berlin militärisch anzugreifen. Dass ihm viele Europäer auch das zutrauen würden, mag indes eine korrekte Annahme Clintons sein. George W. Bush schlagen in Westeuropa Ablehnung, Verachtung, ja Hass entgegen. In ihm sehen viele all das, was sie an den USA ablehnen. Schon dem älteren Bush standen die meisten Westeuropäer reserviert gegenüber, trotz all seiner Verdienste um die deutsche Einheit: War er doch der Erbe des gering geschätzten Ronald Reagan und zugleich jener, der 1991 den ersten Aufstand der Bettlaken wegen des Kriegs der USA gegen Saddam Hussein erzwang. Es wird daher wenige Leser geben, die dieses Buch ohne Vorbehalte zur Hand nehmen. Allerdings ist es nicht der vorrangige Sinn und Zweck dieses Bandes, diese Vorbehalte zu zerstreuen. Wohl aber soll hier Verständnis für Zusammenhänge geweckt werden, die sich Deutschen auf den ersten Blick vielleicht nicht erschließen. Auch dann, wenn Amerika auf eine für uns unverständlichen Art und Weise handelt, gibt es Motive, Gründe, Antriebe. Versuchen wir zu ergründen, ob die Familie Bush mehr hervorgebracht hat als »schießwütige Cowboys«, wie Schleswig-Holsteins Ministerpräsidentin Heide Simonis einmal meinte. Bemühen wir uns, zu verstehen, was eine Politik antreibt, die viel mit Öldollars, Todesstrafe, Abtreibungsgegnerschaft und dem sturen Verteidigen des Rechts auf Waffenbesitz zu tun hat. Vielleicht ist das ja nicht alles. Vielleicht wird sich ja zeigen, dass die Bushs selbst das 16
Ergebnis höchst unterschiedlicher und widersprüchlicher amerikanischer Traditionen sind. Vielleicht wird es ja eine spannende Reise ins Herz der amerikanischen Macht. Und hinein in eine Familie, die die Spielregeln Amerikas meisterhaft beherrscht. So, wie vor ihr nur die Kennedys. Dieses Buch mischt Anekdotisches und Analytisches, denn es geht davon aus, dass sowohl Personen als auch Strukturen im Zentrum stehen müssen, wenn die Geschichte einer einflussreichen Familie erzählt werden soll. Die zentralen Akteure der Bush-Saga sind drei Personen: Vater George, Mutter Barbara und ihr Sohn George W. Dessen Bruder Jeb, der Gouverneur von Florida, spielt eine der wichtigeren Nebenrollen. Die jüngere Bush-Präsidentengattin, Laura, nimmt keine prominente Rolle ein. Vor allem, weil ihr fehlt, was für die drei Hauptpersonen gilt: Sie hat keine Autobiografie geschrieben. Daher fehlen viele persönliche Einblicke in ihr Denken – Einblicke, die beispielsweise Barbara Bush gestattet hat. Hinter den Mitgliedern der Familie Bush steckt indes ein entscheidendes Stück amerikanischer Nachkriegsgeschichte. Wie die Aristokratie Neuenglands versuchte, sich neuen Räumen und neuen Lebenskonzepten zu öffnen, auch materiell Eigenständigkeit zu erstreiten, wie die gesellschaftlichen Umwälzungen der späten 60er und 70er Jahre nahezu spurlos an George Bush vorbeigingen, die liberalen Impulse seiner Frau verstärkten und den Sohn zutiefst verunsicherten, wie aus der Auseinandersetzung mit Ronald Reagans Amerika der 80er für den Vater ein Job im Weißen Haus und für den Sohn ein neues Weltbild erwuchs: Dies sind Wechselwirkungen zwischen National- und Familiengeschichte, deren Folgen heute die tagesaktuelle Weltpolitik mit prägen und damit auch die transatlantische Debatte und das deutsche Bild von Amerika. So ist dies eben kein amerikanisches, sondern ein deutsches Buch über die Bushs. Deutsch ist nicht nur der Autor, 17
Deutschland ist auch die Kontrastfolie, die zur Beschreibung vieler transatlantischer Probleme und Wahrnehmungen herangezogen wird. Deutsch sind die Vorbehalte gegen die USA im Allgemeinen, gegen amerikanische Republikaner im Besonderen und gegen die Bushs ganz speziell. Die Auseinandersetzung mit ihnen will kritisch sein – nicht aus Gegnerschaft, sondern um einer realistischen Einschätzung willen. Realismus ist auch die Leitschnur für den Blick auf das Leben und das Werk der Bushs. Dabei steht nicht die Finanzoder Gesundheitspolitik der beiden Präsidenten Bush im Zentrum, sondern ihre Außenpolitik mit ihren vielschichtigen Antrieben. Denn sie macht die Bushs für uns bedeutsam. Außenpolitik bedeutet hier allerdings nicht, sich vorrangig um die Ergebnisse der einen oder anderen NATO-Besprechung zu kümmern. Vielmehr geht es um die gedanklichen Grundlagen und die konzeptionelle Ausrichtung, also um die kulturelle Prägung der Leitlinien für außenpolitisches Handeln. Ein weiterer Schwerpunkt sind die geschäftlichen Aktivitäten und Verflechtungen der Bushs. Die Richtschnur namens Realismus heißt hier dreierlei: erstens ungeschminkt die Enge jenes Beziehungsgeflechts zu beschreiben, das zwischen Ölfirmen und den Bushs ohne jeden Zweifel besteht. Und obschon es durchaus bedenkliche Abhängigkeiten zu nennen gibt, finden hier verschwörungstheoretische Ansätze, wonach die Bushs nur die Marionetten der Energieindustrie sind, keinen Raum. Zweitens ist zu beleuchten, inwieweit ein solches Netz eine Anomalie oder vielmehr typisch für Amerika ist, inwieweit die US-Gesellschaft also generell die Nähe von Unternehmern und Politikern, von Wirtschaftslobbys und politischer Macht kennt, befördert oder gar braucht. Drittens wird zu prüfen sein, ob das System namens USA jenseits all seines Idealismus gerade in den Bushs deutlich macht, dass es darauf angelegt ist, marktwirtschaftlichen Interessen zu dienen – nicht aber ihnen im Wege zu stehen. Die deutsche Vorstellung vom Staat, der gegen 18
das freie Spiel der pekuniären Kräfte ein Ideal von »sozialer Gerechtigkeit« durchzusetzen versucht, deckt sich eben nicht mit amerikanischen Traditionen. Dies bedeutet nicht, dass die Politik in den USA sich als Selbstbedienungsladen für die Wirtschaft versteht. Es bedeutet aber sehr wohl, dass gerade die Bushs und gerade Texas für eine Ordnungspolitik stehen, in der wenig Platz ist für eine Regierung, die sich als Hemmnis der Wirtschaft oder als Korrektiv zum Markt versteht. Der ältere Bush hatte in Europa kaum eine Chance, zum Sympathieträger zu werden, weil der Schatten Ronald Reagans zu lang war. Der jüngere Bush hatte in Europa nie eine Chance. In einer Anhörung vor dem US-Kongress über den Stand des transatlantischen Verhältnisses am 17. Juni 2003 sagte der ehemalige polnische Vizeverteidigungsminister Radek Sikorski: »Die Europäer lehnten Präsident Bush ab, noch ehe er eine einzige wichtige Entscheidung in der Außenpolitik traf.« Bush wurde zur Projektionsfläche für einen Widerwillen, der sich auf Amerika insgesamt bezog. Auf ein Amerika, das so gar nicht sein wollte. Das sich selbst ganz anders sah. Das Projekt der Familie Bush war es indes nie, Europa zu gefallen. Sondern einem Amerika, das sich rasant wandelte. Dieser Wandel wiederum, die Summe der zahlreichen Verschiebungen in Amerikas Gesellschaft während des zurückliegenden halben Jahrhunderts, nötigte den Bushs ein Maß an Anpassung ab, das einmalig ist. Dies war der Preis, den die Bushs mit Freuden zu zahlen bereit waren, um an der Macht zu bleiben – in stets neuem Gewand. Hierin liegt das Spannende an einer Reise hinein ins Allerheiligste einer einmaligen Familie. Denn selten ist es schwerer, zu entscheiden, wer nun wen mehr geprägt hat: das Land seine Mächtigen oder die Mächtigen ihre Welt.
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I. DIE HEIMAT
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1. Geld, Ruhm und ein Schädel Wie bei vielen Familien liegt auch viel Frühes aus der Historie der Bushs im Dunkeln. Aus dem Nebel jener Jahre ragen anekdotische Bruchstücke hervor. Bereits dort sind zwei Stränge sichtbar, welche die Bush-Familie über Generationen prägen sollten. Da war zum einen die erfolgreiche wirtschaftliche Betätigung als Unternehmer und Investor. Und da war zweitens die Auseinandersetzung mit Politik, Gewalt und Krieg. Die ersten Episoden aus den Familienannalen, die sich mit Geld und Kriegsruhm beschäftigen, sind allerdings alles andere als Ruhmesblätter. Alles begann mit peinlichen Stolpereien, mit unvorsichtigen Tritten mitten in Fettnäpfe hinein. Der Ahnherr der Familie ist der Pfarrer James Smith Bush, der von 1825 bis 1889 lebte. Doch erst sein Sohn Samuel Bush (1863-1948), der Urgroßvater von George W. Bush, sollte die Familie aus dem Religiösen ins Ökonomische führen und so den Aufstieg der Familie einleiten. Da sie nicht der alten Oligarchie der USA entstammte, brauchte sie Unterstützung. Diese boten einerseits die freundschaftlichen Bande zu einflussreichen Familien wie den Rockefellers und den Harrimans, Besitzer der größten Investmentbank der damaligen Welt, und andererseits die sozialen Kontakte, die sich aus den Verbindungen der Studienzeit ergaben. Die ehemaligen Absolventen amerikanischer Hochschulen bleiben sich in AlumniNetzwerken gegenseitig eng verbunden; auch die Verpflichtung zur Unterstützung ihrer Alma Mater besteht ein Leben lang. Bei den Bushs war es die elitäre Yale-Universität in Connecticut knapp nördlich von New York City, der die Familie verpflichtet war. Doch Yale bot nicht nur Bildung der Spitzenklasse. Eine hohe Ehre war es für die Studenten auch, in einen der 21
sagenumwobenen Geheimbünde aufgenommen zu werden. Der wichtigste dieser Clubs hieß »Skull and Bones« (»Schädel und Gebeine«) und kokettierte nicht nur in seinem Namen mit dem gruseligen Charme der Piraterie. Das Geflecht aus familiären Kontakten, Alumni-Vereinen und Geheimbünden hatte einen Zweck. Es sollte jedem Mitglied optimale Aufstiegschancen garantieren. Es waren folglich wirtschaftliche, nicht politische Aktivitäten, die den Bushs den Weg ebneten. Ein entscheidender Kontakt in diesem sozialen Netz, der jahrzehntelang halten sollte, wurde 1913 geknüpft. In diesem Jahr begann Prescott Bush, der 1895 geborene Sohn Samuel Bushs, sein Studium in Yale. Darauf war er standesgemäß in den fünf davor liegenden Jahren an der St. George’s Episcopal Preparatory School im neuenglischen Zwergstaat Rhode Island gleich neben Connecticut vorbereitet worden. In Yale traf Prescott Bush nun auf einen anderen Erstsemester namens E. Roland (»Bunny«) Harriman. Dessen älterer Bruder Averell Harriman hatte gerade sein Yale-Examen gemacht und sollte Bankier, US-Botschafter in Moskau, nach dem Zweiten Weltkrieg Botschafter für Europa, Gouverneur des Bundesstaates New York und als Präsidentenberater eine der treibenden Kräfte hinter dem Vietnamkrieg werden. 1916 wurden »Bunny« Harriman und Prescott Bush in den elitärsten Geheimbund der Yale-Examenskandidaten aufgenommen, eben in die morbide Organisation der Blutsbrüderschaft »Skull and Bones«. In Europa tobte gerade der Erste Weltkrieg. Während Samuel Bush in der amerikanischen Rüstungsindustrie arbeitete, diente sein Sohn Prescott »so um die zehn oder elf Wochen«, wie er später einmal sagte, in Europa. Bis zu 79 Prozent einzelner Waffen, die die US-Armee im Ersten Weltkrieg einsetzte, stammten von Firmen, die Samuel Bush vertrat. Prescott sollte dem schnöden Mammon, bislang einziger Gefährte und sichtbarstes Symbol des Bushschen Familienaufstiegs, etwas 22
Ehrenvolleres hinzufügen – wenn auch nur für kurze Zeit: Kriegsruhm. Am 8. August 1918 fand sich ein Artikel in der Heimatzeitung der Bushs, der Sensationelles verkündete. »Für außergewöhnliche Tapferkeit während der akuten Gefährdung führender alliierter Kommandeure erhält Ortsansässiger französischen, englischen und amerikanischen Orden«, hieß es in der Unterzeile des Berichts. Prescott Bush habe »eine internationale Würdigung, vielleicht ohne Vorbild im Leben eines amerikanischen Soldaten«, erhalten. Sowohl das »Kreuz der Ehrenlegion« als auch das »Victoria-Kreuz« und das »Distinguished Service Cross« seien Bush verliehen worden, weil er eine heranfliegende deutsche Mörsergranate mit seinem aufgepflanzten Bajonett in der Luft zwar nicht aufgespießt, aber so umgeleitet habe, dass sie die beiden Generäle, denen er gerade das US-Lager zeigte, nicht gefährden konnte. Innerhalb von 24 Stunden hätten die Generäle seine Auszeichnung veranlasst. Doch die Familie konnte sich nur vier Wochen lang an dem Ruhm des damals 23-Jährigen erfreuen. Dann erschien auf der Titelseite derselben Zeitung in Columbus, Ohio, die folgende Nachricht: »Ein Telegramm meines Sohnes Prescott Bush informiert uns, dass er nicht wie hier vor einem Monat berichtet ausgezeichnet wurde. Er ist in allerhöchster Besorgnis, dass ein Brief, der als Spaß geschrieben worden ist, wohl missinterpretiert worden sein könnte. Er teilt mit, dass er kein Held ist, und bittet mich, dies zu erklären.« Unterschrieben war der kleine Kasten mit »Flora Sheldon Bush. Columbus, Sept. 5.« Der erste Versuch der Bushs, mit Kriegsruhm in Verbindung gebracht zu werden, war gründlich danebengegangen. Spott begleitete die Familie seither. Prescotts Enkel George W. sollte der Nächste sein, über dessen militärische Karriere Beobachter sich gerne mokierten. 1918 ist auch das Jahr, auf das eine weitere Skurrilität der 23
Bush-Saga datiert wird, die jedoch erst zur Jahreswende 1999/2000 an die Öffentlichkeit kam. Stammesführer der Apachen im US-Bundesstaat Arizona debattierten damals, ob sie die sterblichen Überreste ihres einstigen Häuptlings Geronimo, der einer der letzten indianischen Widerstandskämpfer gegen die Landnahme durch den weißen Mann war, exhumieren und Geronimo dann würdig auf Stammesland begraben sollten. Ein Brief flatterte den Stammesältesten auf den Tisch, der sie davon unterrichtete, dass der Schädel Geronimos ohnedies nicht in jenem Grab zu finden sein würde, das alle Welt für Geronimos hielt. Der Kopf des Kriegshäuptlings, so stand in dem Schreiben, befinde sich im fernen Connecticut, im Städtchen New Haven. Genauer: in der Universität Yale, im Haus der dort ansässigen Geheimorganisation »Skull and Bones« – als Ehrenschädel. Dem Brief lagen zwei Fotos bei, von denen eines einen menschlichen Schädel zeigte, und das andere den lebenden Geronimo. Die Apachen bohrten nach und gelangten schließlich in den Besitz eines Dokuments von 1933, das wie ein Auszug aus der geheimen Geschichte des Yale-Bundes wirkte. Hier stand nun, dass sich Prescott Bush 1918 mit zwei weiteren Geheimbündlern Zugang zum Friedhof von Fort Sill verschafft und das Grab Geronimos geöffnet habe. Der Schädel war offenbar entfernt und nach New Haven entführt worden. Bekannt ist, dass »Skull and Bones«-Mitglieder für streng geheime Rituale Totenschädel verwenden, sich selbst als Skelette verkleiden und auch mal Vampire oder den Papst spielen. 1988, 70 Jahre nach der vermutlichen Geronimo-Entführung, machten sich drei Stammesälteste der Apachen gemeinsam mit ihrem Anwalt auf nach New York. Dort kam es zu drei Begegnungen mit Geheimbündlern, deren Anwalt und Jonathan Bush, Bruder des damaligen Vizepräsidenten der USA, George Bush. »Wir haben einen Schädel, den wir Geronimo nennen«, 24
hätten die Geheimbündler ihnen gesagt, so einer der Apachen. Und dann kam es tatsächlich zu einer Schädelübergabe. Nur handelte es sich offenbar um den Kopf eines Kindes, und die Apachen lehnten dankend ab. Hier endet diese Episode. Beide Parteien kamen nie überein, die Sache zu klären, und ob in Geronimos Grab etwas fehlt, ist bis heute ungeklärt. Die angebliche Heldentat im Ersten Weltkrieg und die Geronimo-Affäre waren für Prescott Bush letztlich nur peinliche Zeitungsmeldungen im Vergleich zu dem Beitrag, der im Juli 1942 die Titelseite der New York Herald Tribune zierte. In diesem Sommer litt Prescott Bush nicht nur unter der schwülen Hitze an der amerikanischen Ostküste. Plötzlich stand seine Karriere vor dem Ruin, sein Ruf war gefährdet, alle politischen Ambitionen standen auf dem Spiel. Unter der Schlagzeile »Hitlers Engel hat drei Millionen in US-Bank« deckte die Zeitung die Zusammenarbeit der Union Banking Corporation mit dem NS-Regime in Deutschland auf. Bush war einer der sieben Direktoren der Bank – und jener »Engel«, der die Nazis mitfinanziert hatte. Prescott Bushs Schwiegervater George Herbert Walker, 1875 geboren, war Anfang der 20er Jahre ein gemachter Mann. Für den geschäftlichen Erfolg brachte er außergewöhnliche physische Voraussetzungen mit. Walker war in seiner Jugend Schwergewichtsboxer – ein meistens siegreicher zudem. Er ging gern auf die Jagd, spielte Golf, trank viel Scotch und verprügelte seine Söhne. Eines seiner Enkelkinder würde ihn einst als »harten alten Bastard« charakterisieren. Walkers Heimat war am Mississippi, im US-Bundesstaat Missouri. Er besaß aber auch eines der luxuriösesten Appartements in Manhattan und mehrere Häuser an der nördlichen US-Ostküste. Walker leitete eine Geschäftsbank in New York City namens W.A. Harriman & Company. 1922 reiste deren Eigentümer Averell Harriman, der ältere Bruder von Prescott Bushs Yale25
Kumpan, nach Berlin, wo er eine Filiale seiner Bank gründete. Dort traf er Fritz Thyssen, der für Deutschlands ökonomische und politische Zukunft schwarz sah und dringend nach einem Standbein in den USA suchte. In Rotterdam hatten die Thyssens kurz zuvor eine holländische Handelsbank gekauft, und deren Direktor wurde nun nach New York geschickt, um mit Walker, dem Chef für das operative Geschäft, und Harriman zu reden. Das Ergebnis der Verhandlungen bestand in der Gründung der Union Banking Corporation (UBC), die im selben Gebäude residierte wie die Harriman-Bank: 39 Broadway. Während der nächsten Jahre verkauften Walker und Harriman deutsche Staatsanleihen im Wert von über 50 Millionen Dollar an US-Investoren. 1926 holte Walker seinen Schwiegersohn Prescott Bush als Vizepräsident zu UBC, und dieser wiederum stellte mehrere seiner Kommilitonen aus der YaleAbschlussklasse von 1917 an. Der Fokus der Arbeit Bushs lag auf zwei Stahlwerken in Schlesien. Währenddessen finanzierte Thyssen über seine holländische Bank den Erwerb von Immobilien durch Adolf Hitler. Hitler und Thyssen wurden Freunde. Eine der beiden schlesischen Stahlfabriken, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Auschwitz gelegen, wurde von Thyssen und Flick an UBC verkauft. Bush, inzwischen Generaldirektor der Bank, überführte das Werk in die Silesian American Corporation. Sechs Tage nach dem Überfall auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 unterschrieb US-Präsident Roosevelt den »Trading With the Enemy Act«, der Geschäftsbeziehungen zu NS-Deutschland unter Strafe stellte. Prescott Bush schaffte es, noch fast ein ganzes Jahr lang das Stahlwerk neben dem KZ Auschwitz weiterzuführen, als sei nichts gewesen – die meisten Beschäftigten waren längst Zwangsarbeiter aus Kriegsgefangenen- und Konzentrationslagern. Im Oktober und November 1942 platzte den US-Behörden schließlich der Kragen. UBC und Silesian American Corporation wurden 26
direkter Regierungskontrolle unterstellt; alle Geschäfte mit Deutschland waren nun nicht mehr nur untersagt, sondern effektiv unterbunden. Erst 1951, nach dem Tod Thyssens, gaben die US-Behörden UBC an Harriman zurück, und alle Eigentümer ließen sich ihren Anteil versilbern. Prescott Bush erhielt 1,5 Millionen Dollar. Mit diesem Geld finanzierte er den Start seiner eigenen politischen Karriere und den Aufbau des ersten Unternehmens seines Sohnes George, der Ölfirma Overbey Development Company. Als George Bush 1980 nach seiner Wahl zum Vizepräsidenten das Familienvermögen – inklusive des Erbes seines Vaters – in Treuhandverwaltung übergab, suchte er sich als Treuhänder seinen Jagdfreund William Farish III. aus, einen der reichsten Männer in Texas. Dessen Großvater wiederum hatte die Zusammenarbeit zwischen Standard Oil und dem deutschen Chemie-Riesen IG Farben geleitet. Der spätere Präsident Harry Truman, damals noch Senator, hatte den älteren Farish in aller Öffentlichkeit als jemanden bezeichnet, dessen Geschäftsgebaren an »Landesverrat« heranreiche. Im Vergleich zu Farish nahmen sich die Sünden Prescott Bushs jedenfalls gering aus. Jüdische Organisationen in den USA fordern bis heute, die Bush-Familie solle 1,5 Millionen Dollar an einen Entschädigungsfonds oder an Holocaust-Gedenkstätten geben. Denn Prescott Bush habe in Amerika jenes Geld beschafft, das Thyssen dann Hitler zum Aufbau seiner NSDAP-Strukturen übergeben habe. Und während des Krieges seien mit Bushs Hilfe Zwangsarbeiter ausgebeutet und jene Waffen geschmiedet worden, die später alliierte Soldaten töteten. Periodisch tauchen diese Vorwürfe und Forderungen in den USA auf. In den 40er Jahren allerdings schaffte es Prescott Bush, das Blatt zu wenden. Weder die Presse noch seine politischen Gegner benutzten die UBC-Geschichte später während seiner Wahlkämpfe. Dies lag vor allem daran, dass Bush es geschafft hatte, sich ein neues Image aufzubauen. Er 27
hatte just zum Zeitpunkt des Bekanntwerdens der UBCVerwicklungen ehrenamtlich den Vorsitz der United Service Organization übernommen: Kreuz und quer reiste er durch die USA und trieb Millionen Dollar an Spendengeldern ein, die der Stärkung der Moral der US-Truppen zugute kamen. Prescott Bush war dadurch erstmals in seinem Leben eine Person von landesweiter Bedeutung geworden. Dass er kurz zuvor – wie Tausende andere Amerikaner auch – ein kleines Rädchen in jener Maschine gewesen war, die die Finanzierung des HitlerRegimes indirekt unterstützt hatte, war dagegen nie landesweiter Gesprächsstoff geworden. Der jüngere Farish diente George W. Bush später als Botschafter in London. Es war kein diplomatischer Routineeinsatz. Im Vorfeld des Irak-Krieges war Farish einer der Emissäre in heikler Mission, die von Bush mehrfach auf höchst delikate Visiten beim Kriegsgegner Frankreich geschickt wurden. Beide, Farish und Bush, telefonierten damals fast täglich. Aus der alten Familienfreundschaft war eine Zusammenarbeit auf höchster politischer Ebene geworden. Solche Familienbande sind zentral für das Funktionieren Amerikas. Dies mag zunächst erstaunen, gelten die USA doch als Paradies des Egalitären, als Schmelztiegel für Fremde aus aller Welt, als die Gesellschaft, die den Aufstieg vom Tellerwäscher zum Millionär ermöglicht, dem Einzelnen also ohne Vorbehalte und Standesdünkel begegnet. Seit es Amerika gibt, ist dieser Blick auf die US-Gesellschaft ein durchgängiges Motiv. Seinen berühmtesten Ausdruck fand es in den Kommentaren des französischen Amerika-Reisenden Charles Alexis de Tocqueville in der Konsolidierungsphase der Republik Anfang des 19. Jahrhunderts. Tocqueville warnte vor der »Tyrannei der Masse«: Amerikas Demokratie werde einen Totalitarismus der Zahl hervorbringen, eine Gleichmacherei des Geschmacks, eine Verwechselbarkeit der Oberfläche. Diese 28
Beschreibung ist bis heute gültig für die immer gleichen Strip Mails, Designer Outlets, Fast-Food- und Entertainment-Ketten, die die Physiognomie Amerikas bestimmen. So alt wie diese Kulturkritik an der Uniformität Amerikas ist die Gegenthese. Sie sieht nicht die Masse der Gleichen, sie sieht dahinter mit ideologiekritischem Impetus die Aristokratie der Wenigen. Das Streben nach Glück, jener in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung garantierte Schutz des »pursuit of happieness«, sei nur eine Fassade, die der Oligarchie den Machterhalt umso einfacher mache. Denn die Vererbung von Privilegien fällt dann nicht besonders schwer, wenn es vererbbare Privilegien offiziell gar nicht gibt. Dieser Teil Amerikas legt viel Wert darauf, in Eliteschulen und CountryClubs, in diesem angesehenen Rotary-Club oder in jenem »social register«, auf Hochzeitsseiten der maßgeblichen Blätter und nach dem Examen im richtigen Alumni-Club seinen Anspruch anzumelden, also überall dort, wo die Zugehörigkeit zur Spitze der Gesellschaft definiert wird. Amerika ist hierarchischer und eher statusbetont als Deutschland. Ausnahmen bestätigen die Regel. Bill Clinton kam, anders als seine Frau Hillary, von ganz, ganz unten – wie in Deutschland Gerhard Schröder. Doch die übrigen politischen Führungsfiguren kommen in der Bundesrepublik eher aus der breiten Mitte der Gesellschaft, wie Helmut Kohl oder Helmut Schmidt, während sie in den USA öfter aus der Spitze der Gesellschaft stammen. Zeitgleich zum Aufstieg der Bushs vollzog sich auch der Aufstieg der Kennedys. Finanziell waren sie noch erfolgreicher, aber sozial hatten sie als irische Katholiken aus Bostons Hafenschenken ungleich höhere Hindernisse aus dem Wege zu räumen. Denn Geld allein reichte in dieser Aristokratie nicht, wichtiger war die richtige Abstammung. Altbundespräsident Richard von Weizsäcker, der die amerikanische Gesellschaft von vielen Reisen und Begegnungen her bestens kennt, hat 29
einmal prägnant zusammengefasst, um was für eine Art von Zugehörigkeit sowohl die Bushs als auch die Kennedys in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts rangen: »Im Grunde wird Amerika von 200 Familien beherrscht, die entscheidende Verantwortung tragen.« Dorthin, in die Stratosphäre amerikanischer Macht, wollten sich die Bushs katapultieren. Es gelang. Die Privatschule Andover, die Universitäten Yale oder Harvard, »Skull and Bones«: Sie alle sind ein Beleg für die Zugehörigkeit zu Amerikas Aristokratie. Heute gilt dies für die Universitäten noch immer, wenn auch unter völlig anderen Vorzeichen. In den späten 60er und 70er Jahren hatten sich die Universitäten umgestellt: Sie wurden von Institutionen zur Wahrung der Aristokratie zu Einrichtungen der Meritokratie, der Leistungselite unabhängig von der sozialen Herkunft. Statt Abstammung zählten nur noch Noten, um den Aufnahmebescheid zu erhalten. Dieser Wandel begann, nachdem die Bushs und Kennedys Yale und Harvard bereits durchlaufen hatten. Zu ihrer Zeit galt noch, dass dem Sohn eines Absolventen die Aufnahme praktisch garantiert war. So zog die US-Gesellschaft ihre republikanischen Dynastien heran – nicht so viel anders, als dies auch in Großbritannien, in Frankreich, Spanien oder Italien geschieht. Jeder Aspekt der Lebensführung sollte signalisieren, wo man sozial stand. Auch der Urlaubsort einer Patrizierfamilie wollte wohl bedacht sein. Die Bushs entspannten sich seit den 30er Jahren in Florida. Averell Harriman, der befreundete Bankier, hatte 1931 eine Insel, die der Küste vorgelagert war, umgestaltet, ausgebaut und in einen Rückzugsraum für die wirklich Wichtigen verwandelt. Die Insel, nördlich von Palm Beach gelegen, heißt Jupiter Island. Sie ist 800 Meter schmal und 15 Kilometer lang. Der Grundbesitz wurde nur an streng ausgewählte Personen verkauft, und die Sicherheitsvorkehrungen waren scharf: Jeder Angestellte musste seine Fingerabdrücke speichern lassen. Den Augen der Öffentlichkeit 30
entzog man sich auf Jupiter Island gern. Bis heute ist es nicht erwünscht, dass Journalisten die einzige Brücke nach Jupiter Island überqueren. Denn dort erholen sich Industriellenfamilien wie die Mercks und die Mallons und wollen lieber ungestört bleiben.
Die frühe Bush-Dynastie in drei Generationen: der republikanische USSenator Prescott Bush (Mitte) im Kreis seiner Familie. Der spätere 41. USPräsident George Bush steht in der hinteren Reihe links mit Sohn George W. Davor sitzt Georges Ehefrau Barbara mit Sohn Neil auf dem Schoß, davor steht in kurzen Hosen der spätere Gouverneur von Florida, Jeb Bush.
Ihre Nachbarn, die Harrimans und die Bushs, sprachen indes längst nicht mehr nur über Geld. Nach dem Zweiten Weltkrieg war klar, dass im Zeichen des Kalten Krieges künftig die Wirtschaft der politischen Großwetterlage untergeordnet sein würde. Nicht das freie Spiel der ökonomischen Kräfte, sondern die Systemauseinandersetzung mit dem kommunistischen Block 31
sollte bestimmend sein. Für Familien, die Einfluss haben wollten, bedeutete dies, dass beispielsweise Geheimdienste, Energielieferanten und Rüstungsindustrien künftig einen nie gekannten Stellenwert haben würden. Dies waren Überlegungen, die auch den jungen George Bush beschäftigten. Denn es waren die Themen, die sein Umfeld diskutierte.
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2. Poppy und Bar Vater Prescott Bush gab damals als Beruf noch Bankier an. Doch die Kontakte aus der New Yorker Finanzwelt und der exklusiven Atmosphäre von Jupiter Island hatten längst den Weg in die Politik geebnet. Kleinere Parteiämter auf Landesebene hatte Prescott Bush bereits innegehabt. Jetzt sollte es das Oberhaus in Washington sein, der Senat. 1950 scheiterte ein erster Anlauf knapp. 1952 gewann Bush dann eine »byelection«, eine Zwischenwahl, die nötig geworden war, weil der alte Senator während seiner Amtszeit starb. Die vorgeschaltete innerparteiliche Vorwahl hatte Bush vor allem dank seiner Yale-Freunde gewonnen. Die hatten bei der entscheidenden Abstimmung – offene Vorwahlen für alle Wähler wie heute gab es damals noch nicht – fast die Hälfte des stimmberechtigten Publikums gestellt. 1956 wurde Prescott Bush in seinem Amt für eine reguläre, sechsjährige Amtszeit bestätigt. 1961 kündigte er an, auf eine erneute Wiederwahl verzichten zu wollen. Prescott Bush vertrat in der US-Bundeshauptstadt seine Heimat Connecticut und kümmerte sich, ohne groß aufzufallen, vorrangig um finanz- und wirtschaftspolitische Themen, aber auch um Maßnahmen zum Flutschutz, zur Stadterneuerung und zur Drosselung des Kostenanstiegs bei öffentlichen Ausschreibungen. Als ideologisch gemäßigter, wirtschaftsnaher Politiker ohne Faible für scharfe Kontroversen über »Kulturthemen« wie Moral und Religion stand Prescott Bush für eben jenen Typus des Republikaners, der heute kaum noch im allgemeinen Bewusstsein ist: großbürgerlich liberal, philantropisch weltoffen, aristokratisch konservativ. Ein gemessenes, kühles Auftreten war ihm stets mindestens so wichtig wie ein Erfolg in Sachfragen. Es gab allerdings auch 33
eine Schattenseite dieses neuenglisch großbürgerlichen Typus des Republikaners. Die Toleranz hörte in Religionsfragen rasch auf. In der Welt des Prescott Bush war man auf Katholiken nicht gut zu sprechen. »Papst-Hörige« galten als zutiefst unamerikanisch. Und ein mehr oder weniger latenter Antisemitismus war in solchen Kreisen allgegenwärtig. In diese ebenso vermögende wie einflussreiche Politiker- und Unternehmerfamilie wurde George Bush am 12. Juni 1924 hineingeboren. Er wuchs in den noblen Vororten gleich nördlich von New York City auf. Die meiste Zeit über lebte die Familie in einem prächtigen Anwesen an der Grove Lane im Stadtteil Deer Park der Gemeinde Greenwich. Das elterliche Heim teilte sich der kleine George mit seinem älteren Bruder Prescott jun. und seinen jüngeren Geschwistern Nancy und Jonathan. Als Nachzügler kam 1938 ein fünftes Kind hinzu, William, der zeitlebens »Bucky« genannt wurde. Für die Alltagsarbeit standen den Bushs vier Angestellte zur Verfügung, eine Köchin, ein Fahrer, ein Kindermädchen und eine Frau, die für das Putzen und das Bedienen zuständig war. Der spätere Präsident sollte sich im Nachhinein vor allem an das Spielen auf der ausladenden Veranda erinnern. Dabei war eine Bushsche Kindheit kein Spiel. Zucht und Ordnung waren ebenso zentrale Werte in der Erziehung der Kinder wie ihren Wissensdurst anzuregen und die Leistungsbereitschaft und Konkurrenzfähigkeit des Nachwuchses zu stärken. Das Eliteinternat von Andover war für ihn als die richtige Vorbereitung auf das College ausgewählt worden. Dort errang George Bush nicht weniger als 25 Posten, Auszeichnungen und Ehrenämter. So war er der Kapitän der Fußball- ebenso wie der Baseballmannschaft. Am wichtigsten allerdings war die Zugehörigkeit zu dem Geheimbund AUV (»Auctoritas, Unitas, Veritas« – »Autorität, Einheit, Wahrheit«), dessen prominentestes Mitglied ein junger Rockefeller war. George Bush, ein mäßiger bis guter Schüler und ein guter bis sehr guter 34
Sportler, gliederte sich ein und entsprach dem Leistungs- und Fortschrittsdenken seiner Eltern. Seine spätere Frau Barbara entstammte ähnlichen Verhältnissen. Sie wurde 1925 in New York City als drittes von vier Kindern von Marvin und Pauline Pierce geboren. Ihr Vater arbeitete für den McCall-Konzern, dessen Vorstandschef er 1946 wurde. Den Pendelzug aus dem Vorort Rye hinein nach Manhattan teilte sich Marvin Pierce mit Prescott Bush. Familie Pierce wohnte im Ortsteil Indian Village, wo man seine Nachbarn, deren Haustiere und Sorgen gut kannte. Andernorts waren die Häuser zwar noch ein wenig größer und die Bankkonten praller gefüllt, aber notleidend war die Familie des Absolventen des berühmten Massachusetts Institute of Technology (MIT) Marvin Pierce nicht, auch wenn Tochter Barbara im Rückblick bekannte: »Wir hatten nur ein Auto.« Gewichtiger war wohl ein anderes ökonomisches Problem: »Meine Mutter gab stets mehr Geld aus, als mein Vater verdiente.« In dieser Hinsicht sollte sie dem sparsameren Elternteil, dem Vater, nachfolgen. Daheim ging es zwar behütet, aber sittsam und streng zu. Über die Erziehungsmethoden im Wandel der Generationen hat Barbara Bush auf ihre unverblümte Weise gesagt: »Meine Mutter schlug uns recht hart, entweder mit der Rückseite ihrer Haarbürste oder mit einem hölzernen Kleiderbügel. Ich schlug auch meine eigenen Kinder, aber nicht so hart, wie es meine Mutter tat.« Im Elternhaus der Barbara Bush wurde viel gelesen. Die Encyclopaedia Britannica stand zur Stillung jeden Wissensdurstes bereit. Die Mutter brauchte nicht selbst zu kochen, dafür gab es Hausangestellte. Damit hatte sich die Familie wieder einen Status erarbeitet, der eine Generation zuvor verloren gegangen war. Barbaras Großvater, Scott Pierce, stammte aus Pennsylvania, wo die Familie erheblichen Grundbesitz besessen und zahlreiche Kirchen gestiftet hatte. In 35
den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts war Scott Pierce verarmt. Als Versicherungsvertreter in Dayton, Ohio, schlug er sich mehr schlecht als recht durch. Barbaras Mutter war eines von vier Kindern des Rechtsanwalts James Robinson in Ohio, der es bis zu einem Sitz am Obersten Gerichtshof des Bundesstaates brachte. Nach seinem Tod entwickelte sich seine Witwe zu Barbara Bushs heimlich bewunderter Lieblingsoma: Sie machte den Führerschein und fuhr in einem Wohnwagen durch Mexiko, die USA und Kanada. Der einzige Bruder der Mutter, Jim, war ein Alkoholiker, der sich mit seiner Sekretärin aus dem Staub machte und Frau und Kind sitzen ließ. Beide zogen fort, und Barbara Bush erfuhr nie, was aus ihnen wurde. Ihr Bruder Scotty, fünf Jahre jünger als sie selbst, war jahrelang schwer krank und musste sich endlosen Operationen unterziehen. Ganz so heil, wie sie es selbst schildert, war Barbara Bushs Welt also nicht. Im Alltag der jungen Barbara Bush war die Tanzschule von Miss Covington der Schauplatz kleiner Dramen. Wie offenbar überall auf der Welt mochten auch die Jungs von Rye die Tanzschule nicht sonderlich. »Um zu vermeiden, wieder das letzte Mädchen zu sein, das gewählt wird«, stand Barbara Bush stets auf, um den Part eines Jungen zu tanzen. Ihre Mutter verbot ihr dieses Rollenspiel schließlich. Die zehnte, elfte und zwölfte Klasse verbrachte Barbara Bush im Mädcheninternat Ashley Hall in Charleston, South Carolina. Da hatte sie bereits eine Erfahrung hinter sich gebracht: »In der neunten Klasse sind meine Freunde und ich sehr behutsam dazu übergegangen, in einer gemischten Gruppe mit Jungen und Mädchen umherzuziehen. Ich glaube wirklich, dass wir viel mehr Spaß hatten als unsere Kinder später im selben Alter. Drogen, Sex und Gewalt wurden uns eben nicht ständig aus dem Fernseher entgegengeschleudert.« 36
Barbara Bush hat über ihr Leben gesagt: »Kein Mann, keine Frau, kein Kind hatte je ein besseres Leben.« Als 16-Jährige lernte sie bei einem Weihnachtstanz 1941 in Greenwich einen jungen Mann namens »Poppy Bush« kennen. So wurde George von aller Welt gerufen, weil seine Mutter ihren Mann »Pop« (»Vati«) nannte. George war eben der kleine Mann – »Poppy«. Noch am selben Abend, im Schlafzimmer ihrer Mutter, berichtete Barbara Pierce von der Begegnung beim Tanz. Bereits am nächsten Morgen wusste ihre Mutter ihr zu berichten, der junge Bush stamme aus »einer sehr guten Familie«. Barbara Bushs Kommentar lautete: »Sie hätte ein FBIAgent sein sollen!« Bush, damals noch Schüler an der Phillips Academy in Andover, lud Barbara Pierce im Frühjahr 1942 auf seinen Abschlussball ein, den »Senior Prom«. Eigentlich hätte auf die Schule das College folgen sollen. Doch mitten im Zweiten Weltkrieg war kein Platz für eine solche Lebensplanung. Direkt nach dem Schulabschluss, am 12. Juni 1942, seinem 18. Geburtstag, trat Bush in die Marine ein. Um von den neuen Kameraden ernst genommen zu werden, fehlte indes noch die Verlobte an seiner Seite. George Bush besorgte sich also von Barbaras Mutter ein Foto der Angehimmelten. Sie sandte aber eines, das mehrere Jahre alt war und die Tochter mit einem Lieblingsspielzeug zeigte. Viele Jahre später bemerkte Barbara Bush über das Foto: »Dieses Bild ließ es so aussehen, als hätte er eine Romanze mit einer Zwölfjährigen gehabt!« Barbara arbeitete den Sommer über in einem Kaufhaus. Zahlreiche Briefe gingen hin und her. Anfang Juni 1943 war George Bush nach der erfolgreichen Absolvierung einer Flugschule in Texas der jüngste Marinepilot der USA. Der Einsatz im Pazifik-Krieg wartete auf ihn. Barbara Pierce hatte die Schule beendet und einen Studienplatz am Smith College in Massachusetts ergattert. Dann hatte George 17 Tage lang Ausgang, und beide reisten zum ersten Mal gemeinsam nach 37
Kennebunkport in Maine. Dort war der ganze Familienklan versammelt. Barbara kam gut mit den künftigen Verwandten zurecht. Nur Georges Bruder Pres neckte sie ein wenig und sorgte dafür, dass vom Familienpferd »Barsil« der Spitzname »Bar« auf die Freundin des Bruders überging. Ein Spitzname, der lebenslänglich haften bleiben sollte, auch wenn die meisten annehmen mussten, es handele sich nur um eine Kurzform des Vornamens. Bevor der Urlaub jedenfalls vorbei war, verlobten sich »Bar« und »Poppy« – heimlich. Doch das währte nicht lange. Auf dem Smith College, einer liberalen Hochschule nur für junge Frauen, die gerade damit begonnen hatte, auch afroamerikanische Studentinnen aufzunehmen, entzog sich Barbara Pierce den Verkupplungsversuchen ihrer Kommilitoninnen so auffällig, dass schließlich das Gerücht die Runde machte, sie und ihre Stubenkameradin seien ein lesbisches Paar. Um dem zu entgehen, blieb nur eines: Barbara Pierce und George Bush mussten ihre verschwiegene Verlobung publik machen. Als Barbara bei ihrer Familie anrief, war sie vollkommen verblüfft. Niemand war überrascht. »Du Depp!«, meinte ihr Bruder Jimmy. »Jeder im Umkreis von einer Meile hat doch gemerkt, dass ihr euch liebt!« Bei der Indienststellung seines Schiffes »San Jacinto« schenkte George seiner Barbara einen Verlobungsring. Dann hieß es Abschied nehmen. Den geplanten Besuch der Universität Yale verhinderte der Kriegseinsatz. George Bush wurde bei seiner letzten Mission im Pazifik abgeschossen. Sein Fallschirm verhedderte sich im Heck seines Bombers vom Typ »Grumman Avenger«. Seine beiden Kameraden an Bord wurden getötet. Bush trieb verletzt im Meer, in Sichtweite der Japaner. Deren örtlicher Kommandeur wurde nach dem Krieg wegen Kannibalismus vor Gericht gestellt. Er pflegte die Leber von US-Piloten zu verspeisen. Ein amerikanisches U-Boot suchte nach Bush, und zwei Kameraden 38
aus der Marine beschossen sich nähernde japanische Schiffe. Die Familien daheim in den USA verbrachten drei schreckliche Tage des Wartens. Gut vier Jahrzehnte später, im Dezember 1987 während einer Rede in Ohio, erinnerte sich Bush auf merkwürdige Weise an die Kriegsepisode: »Ich wurde abgeschossen, und ich trieb dahin auf einem kleinen gelben Rettungsteil, wobei ich einen Rekord im Paddeln aufstellte. Ich dachte an meine Familie, meine Mutter und meinen Vater, und die Stärke, die ich von ihnen bekam. Ich dachte an meinen Glauben, die Trennung von Staat und Kirche.« Im Rückblick machte er sich über sich selbst lustig. Dabei entging er nur haarscharf dem Tod. Bush wurde gerettet, und 1944 war der Krieg für ihn beendet. Ein weiterer großer Schritt wartete auf ihn und Barbara: die Ehe. Beider Eltern mussten für die Minderjährigen – Ende 1944 war George 20, Barbara war 19, volljährig wurde man damals mit 21 – eine Heiratserlaubnis unterzeichnen. Jahre später sollten die Kinder der Bushs ihre Eltern fragen, warum sie denn so früh heirateten. Barbara Bushs Antwort lautete: »In Kriegszeiten ändern sich die Regeln. Man wartet nicht auf morgen, wenn man etwas tun möchte.« Auch Georges älterer Bruder Prescott nahm dieses Motto ernst. Silvester 1944 heiratete er in Miami seine Verlobte Beth Kauffman; eine Woche später, am 6. Januar 1945, heirateten George und Barbara Bush daheim in Rye. Es folgten acht Monate, während derer das junge Paar quer durch die USA zog, da Georges Stationierungsort beständig wechselte. Barbara Bush musste viel lernen: wie man ein billiges Zimmer zur Untermiete findet, oder dass man seidene Unterwäsche nicht zu heiß waschen darf. Ihre Vermieterinnen mokierten sich über ihre Fehler; und Verwandte auf Besuch meldeten in die Familienzentralen, das Paar wohne mitten im Rotlichtbezirk. Im Herbst 1945 nahm Bush sein Studium in Yale auf. Gemäß 39
dem »GI Bill«, dem Gesetz über die Förderung der weiterführenden Ausbildung ehemaliger Soldaten, bezahlte der Staat die Hochschulgebühren. Zweieinhalb Jahre lang sollte die junge Familie in New Haven, Connecticut, wohnen, damals eine gute Autostunde nördlich von New York City. In drei verschiedenen Wohnungen residierte das Paar, je nachdem, ob der Vermieter Hunden oder Kindern gegenüber aufgeschlossener war. Denn als George Bush seinen Bachelor nach drei Studienjahren im Mai 1948 in der Tasche hatte, war er längst Vater. Stolze 60 amerikanische Pfund (27,2 Kilo) hatte Barbara Bush während ihrer ersten Schwangerschaft zugenommen. Noch Jahre später bedauerte sie augenzwinkernd: »Leider wog mein Sohn keine 60 Pfund.« Dieser Sohn, George Walker Bush, wurde am 6. Juli 1946 geboren. George Bush war nun auch Vater. Vor allem aber war er ein guter Student, ein von seinem Land ausgezeichneter Kriegsheld, der Star der Baseballmannschaft von Yale und Mitglied skurriler Geheimbünde. Er besaß reichlich Geld und wichtige Freunde. Er hatte alles, was man in den USA brauchte, um Erfolg zu haben. Nichts stand ihm im Wege, um finanziell, gesellschaftlich oder politisch voranzukommen. Nur eines fehlte George Bush noch. Er hatte noch nicht bewiesen, dass er die ererbten wie die erlernten Werkzeuge zu etwas Eigenständigem einsetzen konnte. Der Welt hatte er dies noch nicht bewiesen – und sich selbst auch nicht.
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3. Privilegierte Nomaden Direkt nach dem Yale-Abschluss kam für den Kriegshelden der Sprung ins Unbekannte. George Bush erzählte Freunden, er habe sich nach seiner Rettung im Pazifik ausführliche Gedanken über seine Zukunft gemacht. Schon in den langen nächtlichen Stunden als Ausguck auf dem U-Boot habe er sich entschieden, einen Beruf zu ergreifen, der mit konkreten Dingen zusammenhing. Mit Banken oder Investitionsmanagement wollte er nichts zu tun haben. Er und Barbara erwogen sogar, Farmer zu werden, beschlossen nach der Lektüre einiger Fachbücher aber, dass die Landwirtschaft doch nicht das Richtige für sie sei. George Bush nahm schließlich eine Stelle im Konzern Dresser Industries an. Der Vorstandsvorsitzende war ein gewisser Henry Neil Mallon, der zusammen mit Prescott Bush die Collegebank von Yale gedrückt hatte und auf Jupiter Island ein Nachbar war. Mallon war ein enger Wegbegleiter der Familie und wurde von den jüngeren Bushs als »Onkel« bezeichnet. Er wurde vollends zum Liebling des Nachwuchses, als er George gegenüber Prescott in Schutz nahm: Beim Baseballspielen hatte der Ball die Windschutzscheibe des Bushschen Familienautos zertrümmert; George zitterte vor dem Zorn seines Vaters. Doch Mallon sagte, er sei es gewesen. Der Traum von der eigenständigen Existenz schien im Schoß eines alten Familienfreundes zu enden. Doch George Bush hatte seinen Traum nicht verraten, er hatte nur eine problemlose Erfüllung im Kopf. Zuerst wollte er Erfahrungen bei der Dresser-Tochter Ideco weit entfernt im für ihn so fremden Südwesten der USA sammeln. Am Tag nach seiner Abschlussfeier in Yale setzte er sich in seinen neuen, roten Studebaker, den ihm seine Eltern zum Collegeexamen geschenkt 41
hatten. Mit dem Auto ging es nach Odessa in Texas. Barbara und der kleine George W. blieben zunächst bei den WalkerGroßeltern in Maine. Als der junge Vater eine Unterkunft gefunden hatte, kamen Frau und Sohn mit dem Flugzeug nach. Damals dauerte der Flug von der Ostküste nach Westtexas zwölf Stunden. Von seinem ersten Gehalt, 375 Dollar im Monat, konnte sich das junge Paar nur eine bescheidene Unterkunft leisten. Immerhin besaßen sie den ersten und einzigen Kühlschrank der Straße. Die Toilette teilte man sich mit den zwei Prostituierten in der Nachbarwohnung, sofern diese nicht wieder irrtümlich alles abgeschlossen und die Bushs damit ausgesperrt hatten. Im Garten wohnten mehrere Maultiere, Ziegen und Hühner. Aus den Privilegierten wurden Pioniere. Der Stoff, der Odessa am Laufen hielt, war Öl, jenes Öl, das Amerikas boomende Nachkriegswirtschaft so dringend brauchte. Für Barbara Bush war das erste sinnliche Erleben des neuen texanischen Lebenselixiers alles andere als angenehm. Eines Nachts kurz nach ihrer Ankunft in Odessa wachte sie auf, weil ein beißender Gestank sich im Schlafzimmer ausgebreitet hatte. Panisch weckte sie Mann und Kind und stürmte ins Freie, um zu sehen, wo es denn nun brannte. Nachbarn beruhigten sie und erklärten, es habe sich doch nur der Wind gedreht, und dann rieche man eben, was in der nahen Raffinerie verarbeitet werde. Das Elitäre ihrer Ostküstenherkunft wurde im wilden Westtexas rasch relativiert. »Sagen Sie mal, Sie sind doch Akademiker?«, fragte ein Kollege den jungen George Bush. Der antwortete brav, er habe einen Abschluss von Yale. Sein Gesprächspartner dachte einen Moment lang nach und bekannte dann, nie von dieser Bildungseinrichtung gehört zu haben. Kopfschüttelnd wandte er sich ab und murmelte: »Schade!« Dem Mann tat Bush einfach nur leid. Eine andere ortsübliche Sitte der neuen Heimat bereitete Barbara heftiges Kopfzerbrechen. Texas war damals »high and 42
dry«: In den meisten Landkreisen war Alkohol verboten. Umso verlockender – und im Zweifel ungebremster – war der Genuss von Bier und Bourbon. Man musste aber einem privaten Club angehören oder sich in den wenigen »wet counties« ausstatten, jenen versprengten Kreisen, in denen Alkohol ausgeschenkt wurde. Bei einer Weihnachtsfeier von Ideco gab es reichlich zu trinken. Ein Kollege brachte Bush anschließend nach Hause. Genauer gesagt lud er Bush in der Einfahrt ab, indem er ihn von der Ladefläche seines Pickup-Trucks purzeln ließ. »Es hat lange gedauert, bis ich George dies vergessen ließ!«, erinnerte sich Barbara Bush später. Doch bei aller Wildwestrauheit blieben die Privilegien der Herkunft stets in Reichweite. Langsam ging es, an stets anderen Orten, die Karriereleiter im Konzern empor. Vom Frühjahr 1949 an waren die Bushs kurz in Kalifornien, wo die Tochter Robin geboren wurde. George Bush arbeitete für zwei verschiedene Töchter des Dresser-Imperiums, für Pacific Pumps und für Security Engineers Company, einen Hersteller von Bohrköpfen für die Rohölförderung. Barbara Bush hat viele Erlebnisse aus dieser Zeit als »nachträgliches Heranwachsen« bezeichnet. Hierzu zählte für sie eine Episode mit der Nachbarsfamilie. Eines Tages kamen die vier Kinder schreiend aus dem Haus gerannt: Der Vater bringe die Mutter um. Die Bushs riefen die Polizei zu Hilfe. Bei deren Ankunft wurde es bei den Nachbarn plötzlich ruhig, dann kam die Mutter – blutverschmiert und mit einem blauen Auge. Es sei alles in Ordnung, sagte sie. Die Polizei zog ab. Barbara Bush sah sich in einer Welt, in der die sittsamen Regeln, die sie von ihrem wohlbehüteten Zuhause kannte, wenig galten. Die Nachbarn vergaben ihr nie, dass sie die Polizei zum Zeugen ihrer privaten Probleme gemacht hatte. 1950, mitten im Ölboom, landeten die Bushs endlich in Midland, in einem staubigen Städtchen, über dem sich der berühmte »hohe Himmel« von Texas wölbte. Heute hat die 43
Stadt rund 100.000 Einwohner, doch damals waren es nur 20.000. Midland mochte an der Oberfläche zwar unansehnlich sein, im Boden indes schlummerte ein Schatz. Die Stadt hatte sich zum Verwaltungszentrum der jungen Ölindustrie gemausert. Und die lebte davon, dass Midland sich mitten in einem geologischen Becken befand, unter dem aus dem Perm stammende Öl- und Gasreserven gigantischen Ausmaßes lagerten. 20 Prozent der gesamten US-Vorkommen befanden sich dort, Die Bushs waren nicht die einzigen Ostküstler, die es hierher verschlagen hatte. Barbara Bush hat die Assimilation unbekümmert beschrieben: »Wir alle waren entwurzelt worden, wir hatten alle kleine Kinder, und wir hatten alle viel Spaß. Die Frauen traten der Midland Service League bei; die Männer spielten Football. Wir alle arbeiteten für das kleine Theater und den YMCA und volontierten im Krankenhaus. Die meisten von uns waren aktiv in der Kirche. George war Vorstandsmitglied, und wir beide unterrichteten in der First Presbyterian Church die Sonntagsschüler.« Dies waren die ersten Schritte der Familie Bush hin zur kulturellen und sozialen Vertexanisierung. Denn von der Ostküste nach Westtexas zu ziehen, das war nicht einfach nur ein Umzug. Das war das Eintauchen in einen Lebensraum mit völlig anderen historischen Traditionen und Werten. Die Umarmung dieser Werte und dieser Einstellungen – es sollte das große Projekt der Bushs werden, und die Voraussetzung für die Erringung und Verfestigung von Macht. Die Bushs fanden in Texas Traditionen, die den ihren diametral entgegenstanden. Das Wort »Texas« stammt aus indianischen Sprachen. Es ist eine Variante des Begriffs für »Freund« oder »Verbündeter« und wurde ursprünglich von den Spaniern benutzt, wenn sie die lokalen Ureinwohner meinten. Das heutige Texas hat sowohl eine Nord-Süd- als auch eine Ost-WestAusdehnung von rund 1.300 Kilometern. Drei US44
Bundesstaaten sind einmal eine eigenständige Republik gewesen, aber nur Texas verstand sich stets, ein wenig wie Bayern in der Bundesrepublik, als Nation. Neben Alaska ist es der flächenmäßig größte US-Bundesstaat; in der Bevölkerungsstatistik ist Texas seit 1994, als es New York überholte, die Nummer zwei hinter Kalifornien, dem Dauerrivalen, der anderen Exrepublik. »Der Schlüssel zur texanischen Geschichte ist, dass dies ein Ort ohne aristokratische Vergangenheit ist, ein Staat, der nicht von Plantagenbesitzern oder Plutokraten geformt wurde, sondern von Bauern im Dreck«, schreiben die US-Politologen Michael Barone und Grant Ujifusa. Vor allem aus Tennessee kamen jene Südstaatler, die Texas Anfang des 19. Jahrhunderts, als es noch Teil von Mexiko war, besiedelten. Sie wollten angloamerikanische Freiheit und schwarze Sklaverei. Nach der Unabhängigkeit von Spanien wurde Santa Anna Diktator von Mexiko. Die Texaner rebellierten, und 1836 errangen sie ihren unabhängigen Staat. Er blieb es knapp zehn Jahre, dann erfolgte 1845 der Beitritt zu den USA als 28. Bundesstaat. Enthusiastisch verließ man die Union 1861 wieder, um sich der Konföderation der Südstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg anzuschließen. Doch ein richtiger Teil des klassischen Südens war Texas nie. Seine historischen und kulturellen Prägungen waren ganz eigener Natur. 1899 wurde Öl entdeckt; 1901 folgte bereits der erste größere Streik der Ölarbeiter. Die Zeit, in der die Baumwolle das einzige Exportprodukt war, ging rasch zu Ende. Texas wurde vorübergehend zum größten Ölproduzenten der Welt. Es begann der rasante Aufstieg eines, wenn auch reichlich großen, so doch gottverlassenen Winkels zu einer der modernsten Regionen der Welt. Seit den 60er Jahren entstanden High Tech-Firmen. Die Doppelstadt Dallas-Fort Worth wurde ein Zentrum der Rüstungsindustrie; San Antonio wurde zum Standort der Biotech-Spitze; der Großraum um die Landeshauptstadt Austin 45
begann, dem Silicon Valley in Kalifornien und der Gegend westlich von Boston als Standort für Computerfirmen Konkurrenz zu machen. Die Ölkrise der 70er Jahre und die Rezession Anfang der 80er, verbunden mit einem Zusammenbruch des Immobilienmarktes, machten Texas zwar schwer zu schaffen. Doch der Staat brachte gute Voraussetzungen für eine Erholung mit. Denn schon in den 40er Jahren hatte man begonnen, nicht nur auf die Förderung von Öl und Erdgas zu setzen. Mehr und mehr rückten das technische Know-how und die finanzielle Begleitung in den Vordergrund. Texas wurde zu der Gegend mit der dichtesten Konzentration von Spezialisten für die Förderung fossiler Brennstoffe und für die Finanzierung solcher Vorhaben. Die 90er Jahre über wurden in Texas mehr neue Arbeitsplätze geschaffen als in jedem anderen US-Bundesstaat. Wäre Texas eine eigenständige Republik – und im störrischen Unabhängigkeitsempfinden vieler seiner Bürger ist Texas dies –, wäre die Republik zwischen Mexiko und den USA die elftgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. »Das, wovon Texaner träumen, das können sie auch tun«, pflegte George W. Bush später als Gouverneur zu sagen. Dem rauen Image der Pioniere, der Liebe zu Cowboyhüten und stiefeln, stand immer etwas anderes zur Seite. Texas begriff sich als Modellfall für die USA, als Gesellschaft, die einen eigenen Weg ging. Eine Einkommenssteuer wurde nie eingeführt. Das soziale Netz garantierte nie mehr als das nackte Überleben. Strafen waren drakonisch; die Kriminalität war stets hoch. Doch zugleich war Texas stets weltoffener als Kalifornien – und zwar nach Süden. Während an der Westküste mit hohen Steuern die Infrastruktur ausgebaut wurde, die es dann gegen mexikanische Einwanderer zu verteidigen galt, setzte Texas auf enge Kooperation mit dem Nachbarn jenseits des Rio Grande. Die NAFTA, die Freihandelszone von Kanada, den USA und Mexiko, war ganz wesentlich ein texanisches Projekt. Die wichtigsten Politiker beider Parteien stritten für die NAFTA. 46
»Man kann Mexiko nicht einmauern. Unsere Kulturen sind völlig miteinander verwoben«, sagte George W. Bush einmal. Es gehört zu den Widersprüchlichkeiten amerikanischer Politik, dass das konservativrustikale Texas seine spanischsprachige Bevölkerung stets herzlicher willkommen hieß als das liberale, angeblich so weltzugewandte Kalifornien. Barone und Ujifusa haben das Modellhafte an Texas, die Wurzel seines Sendungsbewusstseins, folgendermaßen beschrieben: »Die vergangenen 25 Jahre können zumindest als der Beginn der Texanisierung der USA gesehen werden. Niedrige Steuern und High Tech, wenige Hürden wider den Erfolg, aber ein wenig ausgeprägtes Sicherheitsnetz, der Abschied von der Abhängigkeit von Landwirtschaft und Öl, das Überspringen der Ära großer Industrien und starker Gewerkschaften, für die die Bundesstaaten an den Großen Seen stehen, den liberalen kulturellen Werten beider Küsten bewusst aus dem Weg gehen: Das ist der texanische Weg, und mehr und mehr Amerikas Weg.« Und es sollte auch der Weg der Bushs werden. Den Neubürgern erging es gut in Texas. 1953 wurde George W.s Bruder Jeb geboren, 1955 kam Neil, benannt nach dem Familienfreund Neil Mallon. Ein Jahr später wurde Marvin geboren, und 1959 kam als Nachzüglerin die Schwester Dorothy. Im gleichen Jahr zog die Familie in die texanische Metropole Houston. George W. Bushs ansonsten heitere und unbeschwerte Kindheit in Midland, mitten in der betulichen Atmosphäre der 50er Jahre, ist von einem einzigen schrecklichen Ereignis überschattet. Im Oktober 1953 war er sieben Jahre alt, als seine Schwester Robin kurz vor ihrem vierten Geburtstag in einem New Yorker Spezialklinikum an Leukämie starb. Der Blutkrebs, damals eine weitgehend unbekannte Krankheit, war ein halbes Jahr zuvor diagnostiziert worden. George und Barbara Bush hatten zunächst keine Ahnung gehabt, um was es sich da handelte und 47
wie ernst die Lage war. Der junge George wusste, dass Robin krank war, doch er erfuhr nicht, dass seine kleine Schwester im Sterben lag. Als ihr Ende kam, waren beide Eltern an ihrer Seite. Es folgte eine schlichte Trauerfeier in New York, dann wurde der Körper des kleinen Mädchens für Forschungszwecke freigegeben. George und Barbara Bush eilten nach Hause. In Midland angekommen, fuhren sie sofort zur Schule, die George W. besuchte. Dort informierten sie ihren Sohn vom Tod der Schwester. »Warum habt ihr mir nichts gesagt?«, hat der Junge seine Eltern mehr als einmal gefragt. Seine Mutter Barbara ringt noch heute mit sich, ob das Verheimlichen damals die richtige Antwort gewesen war. Für die ganze Familie war Robins Tod das traumatische Ereignis der Familiengeschichte. Die Bushs lebten damals in einem Vierzimmerhäuschen an der West Ohio Street. Der Vater war viel beschäftigt, er hatte ein kleines Unternehmen zu leiten, war häufig auf Reisen und plante seine politische Karriere. Barbara Bush war auf sich allein gestellt – auch in ihrer Trauer. Sie selbst hörte ein paar Wochen später, wie ihr erstgeborener Sohn einem Freund sagte, er könne jetzt leider nicht mit ihm spielen, auch wenn er dies wolle. Er habe mit seiner Mutter zu spielen, denn die sei einsam. »Ich dachte immer, ich sei für ihn da. In Wahrheit war er für mich da«, hat Barbara Bush die Beziehung zu ihrem Sohn beschrieben. George W. Bush wurde der Aufheiterer, der Nette, der Clown, der Witzige. Er wurde kein schwermütiges Kind, das sich in Bücher vergrub – er wurde spontan und spaßig, da es rings um ihn an Schwermut und Belastung wahrhaft genug gab. Jahre später sollte der Alkohol eine große Rolle bei der Fortschreibung dieses Verhaltens spielen. Einmal, bei einem Footballspiel, sagte George jun., er wäre gern seine tote Schwester Robin. Der erschrockene Vater erkundigte sich nach dem Grund. »Ich wette, dass sie von da oben viel mehr vom 48
Spiel sehen kann als wir hier«, sagte sein Sohn. Ein andermal fragte der kleine George seinen Vater, wie seine Schwester denn bestattet worden sei: liegend oder im Stehen? »Schockierte Stille« habe sich im Raum verbreitet, berichtet Barbara Bush. Vater George sagte, er sei sich da nicht so sicher, warum sein Sohn dies denn wissen wolle? Nun ja, antwortete der kleine George, er habe in der Schule gerade gelernt, dass die Erde sich drehe, und er wolle einfach wissen, ob seine tote Schwester einen Teil ihrer Zeit auf dem Kopf stehend verbringe. Das wäre doch witzig! Barbara Bush rang monatelang mit sich, ehe sie wieder festen Boden unter den Füßen verspürte. Ihr dunkles Haar wurde in dieser Zeit silbergrau. Ein paarmal versuchte sie, es zu färben, was in kleinen Katastrophen allerlei Art endete. Schlussendlich entschied sie sich, eben bereits als junge Mutter ergraut durchs Leben zu gehen. Später sollte sie im Kreise der Familie den Spitznamen »Silberfuchs« tragen. Ganz in der Tradition der freiwilligen Gemeinschaftsarbeit gründete sie zum Andenken an ihre tote Tochter die Bright Star Foundation, eine Stiftung zur Förderung der Leukämieforschung. Auch ihr Mann rang schwer mit dem Tod Robins. Nach außen ließ er sich wenig anmerken, doch ein Brief, den George Bush seiner Mutter schrieb, zeigt die tiefe Trauer, die in seinem Heim Einzug gehalten hatte: »Liebe Mama, … Es herrscht in unserem Hause eine Leere. Die rennende, pulsierende Rastlosigkeit der vier Jungs, wie sie sich bemühen, zu lernen und zu wachsen; ihre athletischen Arme und Beine und Brustkörbe; ihre fröhlichen Stimmen, wenn die Welt sie umarmt … dieses ganze Wunder braucht ein Gegengewicht. Wir brauchen gestärkte, hell strahlende Mädchenblusen, die all die am Knie zerrissenen Jeans und die Baseballkappen ergänzen. Wir brauchen weiches, blondes Haar, das diese Meckischnitte relativiert. Wir brauchen ein Puppenhaus, das sich gegen all diese Forts und Sportschläger 49
und Tausende von Baseballkarten wehrt… Wir brauchen einen echten Weihnachtsengel – einen, der keine Schnittwunden unter der Kleidung hat. Wir brauchen jemanden, der Angst hat vor Fröschen. Wir brauchen jemanden, der weint, wenn ich mich laut ärgere – und nicht dagegenhält. Wir brauchen eine Kleine, die küssen kann, ohne Kaugummi, Marmelade oder Ei zu hinterlassen. Wir brauchen ein Mädchen.« Die zweite Rolle, die George W. zu spielen hatte, war die des Hilfserwachsenen für seine kleinen Geschwister. Mitte der 60er Jahre war er es, der seine Mutter in die Klinik fuhr, als sie eine Fehlgeburt erlitt. Zu Hause wohnte er damals schon nicht mehr. Getreu der Familientradition hatte die Erziehung an der Ostküste stattzufinden. Als 15-Jähriger kam George W. Bush auf jenes Jungeninternat Phillips Academy in Andover im Bundesstaat Massachusetts, das bereits sein Vater besucht hatte. Bush war ein mäßiger Schüler und, dies ist in den USA mindestens ebenso wichtig, ein aktiver Sportler, allerdings ebenfalls mit nur passablem Ergebnis. Dennoch war er populär. George jun. galt als stets witzig, manchmal vorlaut, sehr kameradschaftlich, als alles andere als dünkelhaft. Sein Spitzname in Andover lautete »die Lippe«. Andover ist eine der besten und der elitärsten »prep schools« der USA: Die Einrichtung dient der Vorbereitung für Amerikas Führungsschicht auf das College. Bei Bush sollte das College natürlich Yale sein – erneut wie bei seinem Vater. Und wie der Vater kam der Sohn in die Burschenschaft »Delta Kappa Epsilon« und in den Geheimbund »Skull and Bones«. 1999 wurden per Indiskretion George W. Bushs Collegenoten bekannt. Ein Dreierstudent war er, guter Durchschnitt also. Eine der besten Punktzahlen errang er in Philosophie: 88 von 100 Punkten. Er war kein Superhirn wie die eher erfolglosen Präsidenten Hoover, Carter und Nixon – und kein Beinahesitzenbleiber wie die eher erfolgreichen Präsidenten 50
Reagan und Roosevelt. Zwei Wochen vor dem Yale-Abschluss, im Sommer 1968, bewarb George W. Bush sich für eine Ausbildung in der Nationalgarde von Texas, Abteilung Luftwaffe. Amerika hatte damals die Wehrpflicht. Und üblicherweise bestand für die Air National Guard eine lange Wartefrist, da Hunderte versuchten, auf diesem Wege dem aktiven Einsatz in Vietnam zu entgehen. In Südostasien starben Woche für Woche 350 junge Männer aus den USA. Vor allem viele Studenten versuchten nahezu alles, um »the Nam« zu entgehen. Bill Clinton ging als Austauschstudent nach England, Al Gore schließlich als Fotograf nach Vietnam. Für alle US-Politiker dieser Generation war die Kriegsteilnahme die entscheidende Gewissensfrage ihres jungen Lebens.
Die Intelligenz der USA: Seine witzige und zuweilen vorlaute Art brachte ihm in Andover viele Sympathien ein. George W. Bush war ein mäßiger Schüler, als Klassenclown jedoch bei Mitschülern sehr beliebt. Für Jahrbuchfotos posierte er bevorzugt in ungebügelten Hemden oder anderweitig unkonventionell – wie hier im Jahr 1964.
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George W. Bush wurde nicht nur auf keine Warteliste gesetzt, er wurde sogar noch am Tag seiner Bewerbung vereidigt. Sein Vater war zu dieser Zeit bereits Abgeordneter aus Houston im amerikanischen Repräsentantenhaus. Fast alle in der Militärhierarchie waren stolz darauf, einen VIP-Sohn in ihrer Einheit begrüßen zu können. Offiziell wurde stets dementiert, das Spielenlassen von Beziehungen habe zu einer Sonderbehandlung Bushs geführt. Bush selbst hat eingeräumt, er habe in Vietnam nicht in der Infanterie dienen wollen, was ihm geblüht hätte, wäre er eingezogen worden. Er habe wie sein Vater Kampfpilot werden wollen. Die Ausbildung dauerte zwei Jahre, die Mindestverpflichtung für die Reserve vier Jahre. George W. Bush hat diese Zeit als seine »Nomadenjahre« bezeichnet. Er arbeitete als Aushilfskapitän für kleine Luftfahrtgesellschaften, genoss das Nachtleben und war auch öfters über Monate hinweg ohne Beschäftigung außerhalb der Nationalgarde, für die er nur gelegentlich noch Bereitschaftsdienste oder Reserveübungen absolvieren musste. Das war kein Preis, das war eine Gnade. Vietnam, dem Horror seiner Generation, wo sein späterer Außenminister Colin Powell das tägliche Grauen als Führer einer kleinen Einheit im Dschungel erlebte, entging George W. Bush – ebenso wie viele andere Privilegierte seiner Generation. Sollte er selbst ein schlechtes Gewissen angesichts seiner Drückebergerei gehabt haben, sollte sich dieses schlechte Gewissen in seinem unsteten, ziellosen Leben dieser Jahre niedergeschlagen haben – öffentlich bekannt hat er sich nie dazu. Ein deutscher Politiker aus der Generation seines Vaters, Altbundeskanzler Helmut Schmidt, hat sich Gedanken gemacht, was der Dienst in Vietnam für den jungen Bush bedeutet hätte. Nach dem IrakKrieg 2003 sagte Schmidt: »Mir wäre es lieber, wenn der gegenwärtige US-Präsident Soldat im Vietnamkrieg gewesen wäre, dass dies Teil seiner Lebenserfahrung wäre, bevor er selbst einen Krieg ausgelöst hätte. Der bisherige Lebensweg hat 52
es George W. Bush sehr leicht gemacht.« Für Bush jun. war Vietnam abgehakt. Im September 1973 fuhr ein mit Sprühfarben verzierter alter Wagen nach Cambridge, der Zwillingsstadt von Boston in Massachusetts. In dem Auto saß ein mit Spannung erwarteter neuer Student der Harvard Business School: George W. Bush, dessen Vater gerade den Vorsitz der Republikanischen Partei übernommen hatte. Doch der junge Bush sah nicht wie der typische Student der Kaderschmiede aus, und er benahm sich auch nicht so. Die anderen mochten Karrieren an der Wall Street planen – George W. Bush saß in den Vorlesungssälen meist in der letzten Reihe, kaute auf seinem Kaugummi und legte Wert darauf, in einem ungebügelten Freizeithemd für das honorige Jahrbuch abgelichtet zu werden. Für den Harvard-Besuch hatte er sich vorzeitig von seiner Reservistentätigkeit befreien lassen. Er wollte in Cambridge lernen, wie man Unternehmer wird. Und er wollte endlich herausfinden, was er mit seinem Leben anstellen sollte. Die Ostküste hielt ihn nicht. 1975, gleich nach dem Abschluss, war er zurück im staubigen Westen von Texas. Ein wenig Startkapital war aus seinem Collegefonds übrig geblieben. Nun begann die allmähliche Verbürgerlichung des George W. Bush. Morgens hatte er einen dreiminütigen Weg zur Arbeit in einem Büroturm in Downtown Midland zu fahren. Wie sein Vater zuvor lernte er das Ölgeschäft als Angestellter und wurde bald sein eigener Herr. Er trug altmodische Kleidung und fuhr weiterhin ein reichlich betagtes Auto. Von elitärem Schick oder Repräsentationsgehabe war überhaupt nichts im Wesen und Auftreten dieses jungen Mannes zu spüren. In der Mittagspause traf er alte Freunde, meist aus der gemeinsamen Schulzeit, zum Joggen. Abends war er auf Partys, in Bars oder im Kreise seiner Freunde zu finden. 53
Um einem Einsatz im Vietnamkrieg zu entgehen, bewarb sich George W. Bush bei der Nationalgarde von Texas, Abteilung Luftwaffe – und wurde trotz langer Wartelisten außergewöhnlich schnell vereidigt. Das Foto entstand im Juli 1970 während einer militärischen Übung. Unter den jungen Frauen galt er als attraktiv und beliebt, wenn auch ein wenig unstet. Natürlich machte ihn seine Herkunft zum begehrten Junggesellen, doch seine Herkunft war es auch, von der er so wenig wie möglich bekannt machte. 1977 lernte er Laura Welch kennen, eine etwas schüchterne Bibliothekarin aus seinem weitverzweigten Bekanntenkreis daheim in Midland. Nach nur drei Monaten heirateten beide. 1981 wurden die 54
Zwillinge Jenna und Barbara geboren. Was das Heiraten und den Nachwuchs anbelangte, war George W. von seinem kleinen Bruder Jeb längst überholt worden. Im Februar 1971 unterrichtete Jeb Bush in der mexikanischen Stadt Leon Englisch. Dies war Teil eines Austauschprogramms seines Internats Phillips Academy. In Leon lernte er Columba Garnica Gallo kennen, die er im Februar 1974 heiratete. Bald kamen die Kinder George P, Noelle und Jeb jun., genannt Jebby. Jeb trat zur katholischen Kirche seiner Frau über; beide sollten bis 1999, dem Umzug nach Tallahassee, Floridas Regierungshauptstadt, Mitglieder der Epiphany-Gemeinde in Miami sein. Während seine Kinder heranwuchsen und ihren eigenen Weg im Leben suchten, setzte Vater George Bush seinen geschäftlichen Erfolg und seine alten Kontakte zum Wechsel in die Politik ein. 1950 hatte Bush sen. seinen Abschied von Dresser genommen, nicht ohne zuvor die Zustimmung von Neil Mallon, dem Schulfreund seines Vaters und Vorstandsvorsitzenden seines Arbeitgebers, einzuholen. Mit seinem Nachbarn John Overbey und der finanziellen Unterstützung seines Onkels Herbert Walker gründete Bush seine erste eigene Ölfirma, BushOverbey Oil Development Company Inc. Barbara sah ihren Mann kaum noch. George Bush war ständig unterwegs, um nach lukrativen Explorationsvorhaben Ausschau zu halten und sich um die Finanzierung von Probebohrungen zu kümmern. 1953 fusionierte Bush-Overbey mit einem ähnlichen Kleinunternehmen der befreundeten Liedtke-Brüder. Nach einem Marlon-Brando-Film nannten sie das neue Unternehmen Zapata Petroleum Corp. Barbara Bush charakterisierte die folgenden Jahre als eine »Zeit des Risikos und der Hoffnung«. 1966 verkaufte George Bush seine Anteile für eine Million Dollar. Im wortkargen, aber freundlichen Westtexas verfestigte sich Bushs salopper, oft schnoddriger Tonfall, jene Abneigung gegen 55
pathetisches Sprechen, die er später in dem Bekenntnis gipfeln ließ, sich für das »vision thing«, das »Visionen-Ding«, nicht zuständig zu fühlen. In den 60er Jahren wurde aus dem Unternehmer Bush dann endgültig der Politiker. Bis in diese Zeit hinein war Texas demokratisch geprägt. Schließlich waren es die Republikaner unter Abraham Lincoln gewesen, die den Bürgerkrieg für den Norden geführt hatten, und umgekehrt war die Wirtschaftspolitik des »New Deal« des Demokraten Roosevelt etwas gewesen, von dem der kleine Mann in Texas in den 30er Jahren während der Depression besonders profitiert hatte. Bush stieg in das Rennen um Wahlämter ein, als sich diese jahrzehntealte Parteibindung zu lockern begann. Die Lokalpolitik ließ er weitgehend aus. 1962 wurde er Vorsitzender der Republikaner im riesigen Landkreis Harris County. 1963 forderte er den amtierenden demokratischen Senator heraus, gewann zwar die innerparteilichen Vorwahlen, verlor aber dann inmitten der Sympathiewelle, die den Demokraten nach dem Mord an Kennedy entgegenschlug. 1966 klappte es schließlich – Bush errang zwar keinen Sitz im Senat, aber dafür einen neu geschaffenen im Repräsentantenhaus, eine Frucht des Bevölkerungszuwachses in Texas. Doch der Senat, der Gipfel der politischen Karriere seines Vaters, blieb weiterhin George Bushs Ziel. Er gab seinen sicheren Sitz im Unterhaus nach zwei jeweils zweijährigen Legislaturperioden auf und versuchte erneut, ins Oberhaus zu gelangen. Bush verlor. Zur Entschädigung erhielt er Anfang 1971 auf Geheiß des Weißen Hauses den Posten eines USBotschafters bei den Vereinten Nationen in New York. George und Barbara Bush bezogen ihr Appartement im Waldorf, das die offizielle Residenz des amerikanischen Botschafters bei der UNO war. Barbara Bush verärgerte gleich einen Teil der New Yorker Elite, als sie zwei geliehene MonetGemälde an den Eigentümer zurückgab. Sie wollte amerikanische Kunst an den Wänden hängen haben. Kontrovers 56
war auch die eine oder andere Aktion des neuen Herrn Botschafters. Als der Film The Godfather (Der Pate) erschien, registrierte George Bush, dass die ganze Stadt in Aufregung war, und jeder den Streifen so rasch wie möglich sehen wollte. Flugs organisierte er eine Privatvorführung in einem Kino, das er für den Abend anmieten ließ. Bei jedem Schuss, der im Film fiel, bei jedem Gangster, der gemeuchelt wurde, bei jedem Blutstropfen, der von der Leinwand triefte, wurde den Bushs mulmiger. Um sie herum saßen schließlich ihre Gäste, Diplomaten aus aller Welt, die vor allem eines wussten: New York City ist die Hauptstadt des Verbrechens, hier werden über 10.000 Morde pro Jahr verübt, die Straßen sind unsicher, die Nächte und der Central Park erst recht, und Manhattan sollte man grundsätzlich nicht verlassen. Als die verunsicherten Zuschauer aus dem Kino schritten, kam ihnen ein Zeitungsjunge entgegen. Zu allem Überfluss schrie er ihnen die aktuellste Schlagzeile entgegen: »Mafia-Mord in New Jersey!«
Die ganze Familie war zum Wahlkampf bereit, nur George W. nicht: Barbara, Dorothy, Marvin, Neil, Jeb und George Bush (von links nach rechts) während des Wahlparteitags der Republikaner im Jahr 1964.
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George Bush verstieß gern gegen diplomatische Regeln. Statt seine Gäste zu sich bringen zu lassen, holte er sie persönlich am Aufzug ab. Den britischen Außenminister überraschte er an einem Sonntagmorgen um sieben Uhr am Telefon mit der Idee, doch einen Ausflug ins Umland zu machen. Barbara Bush hatte ihn daran gehindert, bereits um sechs anzurufen. Der Ausflug sollte im Besuch eines vogelkundlichen Lehrpfads gipfeln, doch dieser hatte bereits geschlossen. Botschafter Bush hievte die Gattin des Londoner Ministers und jene des britischen Botschafters bei der UNO einfach über den Zaun. Die Männer kletterten dann ebenfalls auf das Gelände und begannen ihren Spaziergang. Bis der Wärter des Anwesens sie entdeckte und seine Hunde losließ. Irgendwie gelang es Bush, Wärter und Hunde zu besänftigen. Die Gruppe verließ den Park durch einen regulären Ausgang, und der Sicherheitsmensch des britischen Ministers gab nur trocken zu Protokoll, dies sei nun tatsächlich »eine Premiere« für ihn gewesen. Die sparsame Barbara Bush, die später beim Ball zur Inauguration ihres Gatten Schuhe für 29 Dollar tragen sollte, brach einmal in Tränen aus, als das Waldorf ihr eine Rechnung über 900 Dollar überreichte – für einen Imbiss für sie selbst und ein paar Freundinnen. Gatte George Bush machte sich unterdessen modischer Kapitalverbrechen schuldig, als er Barbara in einem hellroten Kleid nicht nur auf einen freudigen Empfang, wie er ihr versprochen hatte, sondern vorher noch kurz zur Totenfeier für einen verstorbenen lateinamerikanischen Expräsidenten mitnahm, ein Termin, bei dem er sich einfach kurz sehen lassen musste. Barbara Bush, die vor Scham fast im Boden versank, rächte sich später auf ihre Weise und attestierte ihrem Gemahl öffentlich: »George trägt fraglos manchmal recht seltsame Kleidung!« Da war das kurze Gastspiel in New York auch schon fast wieder vorüber. Bush kam mehr und mehr ins Umfeld Richard Nixons und wurde, als der Präsident 1972 in Bedrängnis geriet, 58
kurz darauf Vorsitzender der Republikaner – der Vorstopper des Watergate-geschädigten Nixon. Der hatte nicht nur den Einbruch in das Wahlkampfhauptquartier der gegnerischen Demokraten zu verantworten, sondern litt politisch vor allem unter seinen von Verfolgungswahn geleiteten Versuchen, das Geschehene mit immer neuen Tricks an der Grenze und jenseits der Legalität unter den Teppich zu kehren. Diese Vertuschung, das »Coverup«, wurde für Nixon zum Todesstoß, nachdem aus dem Einbruch im Appartementkomplex namens Watergate die größte Regierungsaffäre der modernen US-Geschichte geworden war. Es drohte ein »Impeachment«, ein Prozess zur Amtsenthebung. Für deutsche Verhältnisse mag es erstaunlich klingen, dass ein nahezu unbekannter Exunternehmer, Exabgeordneter und Botschafter Vorsitzender einer Partei wird, doch die amerikanischen Verhältnisse sind anders. Der »Chairman of the Republican National Committee« ist weniger Parteichef als Generalsekretär. Seine Aufgabe ist vor allem die Koordination der Arbeit zwischen der Bundespartei und den Parteien auf der Ebene der Einzelstaaten, die Kontrolle des Finanzapparats und die Umsetzung zentraler Themen vor Ort. Die eigentlichen Führer der US-Parteien sind nicht die nominellen Vorsitzenden, sondern der Präsident, so er denn aus der jeweiligen Partei stammt, und die Fraktionschefs im Kongress. Bushs Engagement half nichts. Nixon musste gehen, und sein Nachfolger Gerald Ford deckte Bush mit Versorgungsposten ein. Bereits im Herbst 1974 schrieb Bush in einem Brief an seine Frau: »Ich kann diesen Job nicht mehr lange machen, falls er gut gemacht werden soll. Nach den Wahlen braucht es frisches Blut.« Der neue Präsident Ford bot Bush die Botschafterposten in London und Paris an, also die prestigeträchtigsten, die zur Verfügung standen. Bush lehnte ab und erbat einen Posten, der offiziell noch nicht einmal den Rang eines Botschafters mit sich brachte: Leiter der ständigen 59
Vertretung der USA in der Volksrepublik China. Abenteuerlust und der Wunsch, den Watergate-Sumpf so weit wie möglich hinter sich zu lassen, waren wohl die ausschlaggebenden Motive. Barbara Bush jedenfalls kommentierte die einsame Entscheidung ihres Gatten in unzweideutiger Manier: »Es wäre eine Untertreibung, wenn ich behaupten würde, ich wäre einfach nur sprachlos gewesen.« Ford gab Bush den Posten – unter der Voraussetzung, dass er bereit war, mindestens zwei Jahre lang in Peking zu bleiben.
Der amerikanische Präsident Richard Nixon (Mitte) gibt am 11. Dezember 1970 im Weißen Haus bekannt, dass der Republikaner George Bush (links), Abgeordneter des Repräsentantenhauses, neuer UN-Botschafter wird. Rechts der bisherige UN-Botschafter Charles W. Yost. Doch Bushs eigentliches Ziel blieb der Sitz im US-Oberhaus.
Barbara Bush trat die Reise nach China mit Zögern und durchaus auch mit Grausen an. Es gefiel ihr aber erstaunlich gut. In der kleinen Exilgemeinde im Diplomatenviertel Pekings war 60
sie ihrem Mann so nahe wie selten. Auf ausgedehnten Reisen lernte sie eine Welt kennen, die das Fremdeste war, was eine Frau ihrer Herkunft erwarten durfte. Noch Jahre später tingelte Barbara Bush mit ihrer privaten China-Diashow durch die USA und erzählte mit wohligem Gruseln von den Absurditäten der Volksrepublik. Keine Arbeitslosigkeit im Kommunismus? »Wenn wir unseren eigenen Haushalt ansahen, verstanden wir schnell, wie das ging«, meinte Barbara Bush. Drei Köche hatte das Regime für die amerikanischen Gäste abgestellt. Drei, die zusammen eine Mahlzeit am Tag zubereiteten. Barbara Bush witterte und fand allerorts Ineffizienz. Sie fuhr auf ihrem Fahrrad quer durch die Metropole, wurde eine Expertin für die Architektur und Geschichte der Verbotenen Stadt und stieß schließlich den Stoßseufzer »Gott sei Dank, sie sind Menschen!« aus, als sie bemerkte, dass sich alternde Chinesen ihre grauen Haare schwarz färbten – millionenfach. Zu den nettesten Humoresken in Barbara Bushs Erinnerungen zählt die Beschreibung eines typisch chinesischen Empfangs. Er verlief, wenn man die Beobachtung der Frau Botschafter ernst nimmt, in vier Wellen. Zunächst kümmerten sich die jeweiligen Gastgeber um ihre hochrangigen chinesischen Gäste. Dann kamen Botschafter, dann sonstige Vertreter. Als vierte Welle schwappte von hinten stets das in den Saal, was Barbara Bush eine »Miet-Meute« nannte, eine große Zahl Chinesen unerklärlicher Herkunft, die wenig sagten, aber offenbar dazu dienten, »some serious eating« zu tun, also unglaubliche Mengen an Nahrung vom Büfett in ihre Mägen zu befördern. Am 2. November 1975 erhielt Bush ein Geheimschreiben: Er solle nach Washington zurückkehren und Chef des CIA werden. Seinen vier Geschwistern schrieb er daraufhin einen Luftpostbrief: Er war besorgt, dass vor allem die Halbwüchsigen in der großen Bush-Familie unter dem neuen Posten leiden könnten. »Er ist ein Friedhof für die Politik, und er ist vielleicht 61
der härteste Job in der ganzen Regierung«, schrieb Bush über den Geheimdienst-Chefsessel. Er habe sich gefragt, was wohl sein eigener Vater über den Posten gedacht hätte. »Ich glaube, er hätte gesagt: ›Es ist deine Pflicht.‹ Es ist meine Pflicht, und ich werde es tun.« Bestärkt in seinem Entschluss sah er sich auch durch einen Anruf von George W. Den hatten seine Eltern gebeten, doch einmal sehr diskret auch bei seinen Geschwistern vorzufühlen, ob ein CIA-Chef in der Familie akzeptabel sei. George W. rief zurück und sagte nur: »Kommt heim!« Seine Mutter rätselte lange, ob ihr Ältester tatsächlich seine Geschwister um Rat gefragt hatte, oder ob er einfach nur die Familie wiedervereinigen wollte. George Bushs Zeit bei der UNO in New York, später dann jene in China und die sich anschließende Arbeit als Chef des CIA gehören zu seinen bekanntesten Posten, ehe er Vizepräsident wurde. Dabei waren alle drei Einsätze kurzfristige Engagements. Keine zwei Jahre lang führte er die USVertretung bei der Weltorganisation. Nur ein gutes Jahr, von Oktober 1974 bis Dezember 1975, war Bush Amerikas höchster Repräsentant im kommunistischen Riesenreich. Und nicht einmal ein Jahr lang, von Januar bis November 1976, stand er hernach an der Spitze des Auslandsgeheimdienstes der USA. In den beiden letzten Positionen geriet er in engen Kontakt mit einem Mann, der während der 60er und 70er Jahre als Jungstar der Republikaner galt. Es handelte sich um Donald Rumsfeld, der 1962, als 30-Jähriger, erstmals in den Kongress gewählt worden war, sich dann der Armutsbekämpfung unter Nixon widmete und schließlich NATO-Botschafter in Brüssel wurde. Dort überlebte Rumsfeld den Watergate-Skandal. Nixons Nachfolger Ford holte Rumsfeld als Stabschef ins Weiße Haus. Für den anderen Jungstar der Partei, den in China weilenden George Bush, hatte Rumsfeld nur Spott übrig. Der Posten in Peking sei ein »mieser, unwichtiger Job«, ließ er intern wissen. Als George Bush von Peking zum CIA wechselte, wanderte 62
Rumsfeld vom Weißen Haus an die Spitze des Pentagon – seine erste Runde als Verteidigungsminister. Bush war davon überzeugt, dass Rumsfeld seine Finger dabei im Spiel hatte, dass er nun die Spionage der USA leiten sollte. Er selbst hatte den Posten ja als »Friedhof« bezeichnet. Es galt gemeinhin als undenkbar, dass jemand noch ein Wahlamt würde erringen können, der sich die Hände an der düsteren Arbeit des Geheimdienstes schmutzig gemacht hatte – oder von seinen Gegnern zumindest öffentlich so darstellbar sein würde. Und wer außer Rumsfeld, die andere große Nachwuchshoffnung der Republikaner, könnte ein Interesse am Abschieben Bushs auf den Karrierefriedhof haben? Die Spannungen zwischen George Bush und Donald Rumsfeld dauerten an. Bereits während der gemeinsamen Zeit im Kongress Ende der 60er Jahre hatte Rumsfeld Bush verachtet, weil dieser sich »für Freundschaften, Öffentlichkeitsarbeit und Meinungsumfragen mehr interessiert als für harte, politische Inhalte«, wie es der Watergate-Aufklärer Bob Woodward beschrieben hat. Rumsfeld sah im älteren Bush noch ganz den alten Republikaner patrizisch neuenglischer Prägung und schrieb ihm ein »Rockefeller-Syndrom« zu: Bush sei stets bereit, willig zu dienen, aber es mangele ihm an Zielen. Als CIA-Direktor sei Bush schwach und lasse sich von Außenminister Henry Kissinger manipulieren. Kein Wunder, dass Rumsfeld später in der Reagan-Regierung und sogar unter dem Demokraten Clinton wichtige Regierungsämter bekleidete. Nur unter der Präsidentschaft George Bushs bekam er keinen Job. Erst unter dessen Sohn, seiner Ansicht nach kein Leichtgewicht mit Gutmenschen-Syndrom, stieg Rumsfeld wieder in die höchste Ebene der US-Politik ein.
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4. Im Schatten Reagans Mit George Bushs Posten in China und beim CIA waren die 70er Jahre so gut wie vorbei. George W. Bush musste entscheiden, was er mit seinem bis dahin so unsteten Leben anfangen sollte – und sein Vater musste sich überlegen, ob und wann er seinen großen Sprung nach vorn wagen wollte. Nach Überbrückungsjobs in der Wirtschaft während der Jahre unter dem demokratischen Präsidenten Jimmy Carter kam die Gelegenheit für ihn mit den Präsidentschaftswahlen 1980. George Bush wollte nun selbst der erste Mann im Staat werden. Doch Ronald Reagan gewann die republikanische Nominierung und dann auch das Weiße Haus. Nach seiner Niederlage gegen Reagan bei den Vorwahlen war George Bush zu der Republican Convention 1980 ohne große Erwartungen angereist. Barbara Bush gab gar die Devise aus: »Hurra, keine Politik mehr!« George Bush war unmittelbar vor seiner eigenen Rede auf dem Parteitag mitgeteilt worden, dass Reagan sich für Expräsident Gerald Ford als Vize entschieden habe. George und Barbara schienen damit leben zu können, ihr Sohn Jeb hingegen schritt in der Hotelsuite seines Vaters aufgeregt an der Bettkante hin und her und klagte: »Das ist nicht fair! Das ist nicht fair!« Obwohl sie doch angeblich keine Lust mehr auf das Leben als Politikergattin hatte, beschreibt auch Barbara Bush die Stimmung als düster: »Es war wie ein Begräbnis.« Doch es folgte eine rasche Wiederauferstehung. Das Telefon klingelte, Ronald Reagan war dran. Ob Bush sein Vize werden wolle, fragte der Kalifornier. Bush sagte zu. Ganz überraschend hatte Reagan den unterlegenen Parteirivalen Bush zum Vizepräsidenten gekürt. Neil Bush war gerade mit seiner Frau 64
Sharon Smith, einer Lehrerin, auf Hochzeitsreise in Österreich. Tags darauf fand sich dort das Foto seines Vaters auf der Titelseite. Neil Bush spricht kein Deutsch – der freundliche Kioskbesitzer bot indes eine Rohübersetzung an. So erfuhr er, dass die Karriere des George Bush noch lange nicht beendet war. George Bush hatte erneut einen Herrn, dem treu zu dienen war. Er tat es. Acht Jahre lang war er die Nummer zwei im Weißen Haus. Und Ronald Reagan war damit zum Fixpunkt geworden, auf den sich ganz praktisch der erste und später ideologisch der zweite Bush-Präsident beziehen mussten. Am Anfang erntete Reagan Kopfschütteln, gerade in Übersee. Ein Schauspieler? Ein ballernder Wildwestheld? Ein ehemaliger Sportreporter? Präsident der USA? Plakate von Reagans Filmen aus den 50er Jahren wurden herausgesucht und mit Antinachrüstungssprüchen versehen. Waren die Amerikaner jetzt völlig verrückt geworden? Aus der scheinbar bizarren Episode wurde eine Epoche, und die Welt lernte etwas hinzu. Ronald Reagan war 1980 nicht nur mit 51 Prozent der Stimmen ins Weiße Haus gewählt worden, weil Carter unglücklich amtierte. Amerika sollte genau das bekommen, was es wollte. Die Welt merkte dies spätestens, als Reagan sich 1984 mit einem Erdrutschsieg gegen Walter Mondale eine zweite Amtszeit sicherte. Das hatte es lange nicht mehr gegeben. Die ersten beiden Jahre seiner Präsidentschaft verliefen wirtschaftlich turbulent. Die Arbeitslosigkeit schoss auf knapp zehn Prozent, ein Rekord nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Staatsschulden wuchsen ins Unermessliche, die Steuerbelastung der Mittelklasse und der Reichen nahm ab. Der Verteidigungshaushalt legte am Budget zu. Der Dollar schwankte unter Reagan zwischen 1,50 und 3,50 DM, und die Börse erlebte den schwärzesten Tag seit der Großen Depression. In Amerika war Geld zu machen, also floss Geld dorthin. In Amerika gab es damit viel Geld, also musste es verteuert 65
werden. Daher wuchsen die Zinsen. Und die lockten noch mehr Geld an. All dies war Teil eines rabiaten Strukturanpassungsprogramms, das Reagan in transatlantisch ideologischem Schulterschluss mit der Londoner Freundin Maggie Thatcher durchführte. George Bush hatte bereits im republikanischen Vorwahlkampf von 1980 seinem damaligen Kontrahenten Reagan gesagt, wie wenig er von dessen radikaler Angebotspolitik hielt: »Vodoo-Economics« sei das, keine seriöse Lenkung der Wirtschaft also, sondern karibischer Hokuspokus. Reagan blieb stur. Er glaubte an die »Trickledown«-Wirtschaft, die These, dass der Wohlstand von den Reichen zu den Ärmeren heruntertröpfelt, sofern die Wohlhabenden nur weniger Steuern zu zahlen haben. Zunächst jedoch verschärfte Reagans Neoliberalismus nur die inneren Spannungen. Doch im dritten Amtsjahr begann ein Boom, der die Wiederwahl sicherte und den Amerikanern sieben Jahre lang das Gefühl von Stabilität vermittelte. Eine solche Versicherung brauchten sie auch, denn die politische Großwetterlage war alles andere als stabil. Wäre man Ronald Reagan wohlgesonnen, so könnte man ihn als den Sieger im Kalten Krieg sehen. Mit der Nachrüstung als seinem brisantesten Einzelschritt rüstete er die Sowjetunion zu Tode. Er stand für das, wogegen eine ganze Generation junger Deutscher protestierte. Als er Mitte der 80er Jahre am Brandenburger Tor rief: »Öffnen Sie dieses Tor, reißen Sie diese Mauer ein, Herr Gorbatschow!« – da ahnte niemand, dass die Wirklichkeit diese Worte nur fünf Jahre später eingeholt haben würde. Vision oder Einfalt? Bei Reagan war beides nie weit voneinander entfernt. Er war jedoch nicht, wie viele glaubten, ein harter Ideologe der Rechten. Zwar war er konservativ, aber im Geldausgeben spendabler als die meisten Linken. Er schimpfte auf den Apparat der Bürokratie und die Regelungswut – und weitete doch deren Macht, Personal und Finanzkraft aus. 66
Der »Teflon-Präsident« und sein loyaler Diener. Lächelnd stehen der wiedergewählte US-Präsident Ronald Reagan und sein Vizepräsident George Bush am 18. November 1984 auf den Stufen des Kapitols in Washington. Seinen Spitznamen verdankte Reagan der Tatsache, dass Kritik an seiner Politik nahezu konsequenzlos an ihm abperlte. George Bush war acht Jahre lang die Nummer zwei im Weißen Haus, bevor er selbst zum Präsidenten gewählt wurde. 67
Er war eben kein Purist oder Programmatiker. Er war einfach gestrickt und doch gleichzeitig so komplex wie sein Land. Vor allem war er Patriot. Er glaubte an das »Reich des Bösen«. Das war nicht Analyse, das war Sinngebung. Die Ostküsteneliten, die soziale Heimat der Bushs, und die Intellektuellen verachteten Reagan. Die meisten Amerikaner aber haben an ihn geglaubt. Als er sich in den Ruhestand nach Kalifornien verabschiedete, bescheinigten ihm zwei Drittel seiner Landsleute, ein guter Präsident gewesen zu sein. Heute ist der City-Flughafen von Washington – ausgerechnet in der von ihm gehassten Bundeshauptstadt – nach ihm benannt, und treue Anhänger verlangen, dass sein Gesicht als fünftes Präsidentenantlitz am Mount Rushmore in den heiligen Bergen der Sioux verewigt wird. Längst vergessen sind die präsidialen Peinlichkeiten wie das Gedenken mit Helmut Kohl in Bitburg bei den Soldatengräbern, in denen auch SS-Getreue lagen, oder all jene verpatzten Reden und vertauschten Notizzettel, die Reagan mehr als einmal so aussehen ließen, als habe er nicht die geringste Ahnung, wo er war und wofür er stand. Eines war Reagan aber ganz gewiss: ein Meister der schlichten Symbolik. Schlicht konnte pathetisch heißen, wenn er die Auftritte im Weißen Haus zu bombastischen Inszenierungen werden ließ, gleichzeitig dort aber weniger kritische Pressefragen zuließ als irgendein Präsident vor oder nach ihm. Reagan galt als der »große Kommunikator«, weil er ein großer Vereinfacher war, der das Herz ansprach. Man nannte ihn den Teflon-Präsidenten, weil Kritik nie an ihm haften blieb. Aber er war auch alles andere als ein Diplomat, denn als solcher hätte er die Sprechprobe beim Radio 1984 nicht dazu verwandt, den Beginn der Bombardierung der Sowjetunion in fünf Minuten anzukündigen. Die Fähigkeit, glaubwürdig zu vereinfachen, und sein Hang zur patriotischen Symbolik sollten jene Eigenschaften sein, die George Bush gründlich abgingen, denen George W. Bush aber in Krisenzeiten nacheifern würde. 68
Reagan, der am 6. Februar 1911 zur Welt kam, wuchs im Mittleren Westen auf. In seiner Jugend war er Mitglied der Demokratischen Partei, weil er Roosevelts »New Deal« unterstützte. Seine Mutter war streng religiös, der Vater Handwerker und Alkoholiker. Im Widerstreit zwischen beiden entwickelte Reagan seine Vorliebe für Autonomie. In Dixon, einer Kleinstadt in Ohio, fand Reagan seine erste Berufung. Als Teenager war er dort im Sommer sechs Jahre lang Rettungsschwimmer. 77 Ertrinkende zog er aus dem Rock River: Reagan, der Retter wurde geboren. Auch dies war ein fast mythisches Urbild, wie es den Bushs zeitlebens fehlen würde. Am christlichen Eureka-College im benachbarten Bundesstaat Illinois schloss Reagan 1932 mit einem Bachelor in Soziologie und Wirtschaft ab. Obwohl Amerika in der Großen Depression steckte, fand Reagan einen Job beim Radio in Iowa. Legendär wurde er für seine Fähigkeit, auch über ungesehene Baseballspiele lebendig zu berichten – Statistiken reichten ihm zum Nachzeichnen der Spielzüge. 1937 nutzte er sein Schauspieltalent und seine Fantasie und zog nach Hollywood, wo er in über 50 Filmen nur einmal den Schurken spielte. Aus der ersten Ehe mit Jane Wyman von 1940 bis 1948 ging die Tochter Maureen hervor. In diese Zeit fällt auch seine erste politische Kampagne. 1946 bestreikten kommunistische Gewerkschaften die Filmindustrie. Reagan versuchte, zu vermitteln. Er bekam stapelweise Morddrohungen. Aus dem Demokraten wurde ein konservativer Republikaner und überzeugter Antikommunist, der als FBI-Informant arbeitete und 1947 vor dem »Ausschuss für unamerikanische Umtriebe« aussagte. 1952 heiratete er seine Schauspielerkollegin Nancy, es folgten die Kinder Patti und Ronald, der später über seinen Vater sagte: »Wir haben nie ein ernsthaftes Gespräch gehabt.« Die Filmkarriere von Ronald sen. lag Mitte der 50er Jahre weitgehend danieder. Reagan fand einen neuen Job als 69
Repräsentant des Elektrogeräteherstellers GE. Acht Jahre lang hatte er eine wöchentliche Fernsehsendung und bereiste ausgiebig das Land. Er testete seine Botschaft und sich selbst. Im Jahr 1964 hielt er eine Fernsehrede für den erzkonservativen Republikaner Barry Goldwater und entdeckte sein zweites großes Thema neben dem Antikommunismus: den Widerstand gegen eine überbordende Bundesregierung. Dies war ein Thema, das George W. Bush dereinst kopieren sollte. Der Außenseiter, der aus dem wahren Amerika aufbricht, um in Washington aufzuräumen – seit Reagan war dies das Dauermotiv der Republikaner, geborgt indes auch von Demokraten wie Clinton. George Bush und Al Gore waren auch deshalb Clinton und Bush jun. unterlegen, weil Letztere das Reagan-Motiv der Erlösung und Erneuerung aus dem Herzen des Landes besser verkörpern konnten. Der spätere 40. Präsident der USA war, wie Richard Nixon Kalifornier, doch statt des intriganten Watergate-Finsterlings verkörperte er den gutgläubigen Charmeur. Der einstige Sportjournalist, Altfilmstar und Exgewerkschaftsboss mit dem Cowboyimage hatte Anfang der 60er Jahre seine Rolle gefunden: als Gegner des gesellschaftlichen Aufbruchs in den USA, als Vertreter des älteren, besseren Amerikas. Von 1966 bis 1974 war er Gouverneur Kaliforniens. Als ein Reporter ihn beim Amtsantritt fragte, was für ein Landesvater er denn werden wolle, antwortete er gewitzt: »Ich weiß es nicht. Gouverneur habe ich noch nie gespielt.« Statt Richard Nixon hätte er 1968 fast die republikanische Nominierung für den Kampf ums Weiße Haus gewonnen, 1976 schlug er beinahe Gerald Ford. Doch 1980 sollte es klappen – und Reagan war der älteste Präsident, der je das Amt angetreten hatte. Man sah es ihm nicht an. »Amerika vom Gift des Selbstzweifels retten und von der Orientierungslosigkeit befreien« – das war sein Motto. 44 Staaten stimmten für ihn, nur sechs für Jimmy Carter. In 70
Amerikas Parteienlandschaft hinterließ er eine Wählergruppe, die nach ihm benannt wurde: die »Reagan Democrats«. Das waren gemäßigt konservative Südstaatler, für die die Republikaner seit jeher unwählbar gewesen waren, weil sie die Partei Abraham Lincolns, des Nordens und der Emanzipation war. Die amerikanische Besonderheit, dass der konservativste Landesteil fest in den Händen der Demokraten war, wurde durch Reagan beendet. Er eroberte, was erst Bill Clinton später teilweise zurückgewinnen konnte: den Süden. Und eben diesen Süden versuchte der Neutexaner George W. Bush später durch die Umarmung evangelikaler Religiosität an sich zu binden. Auch in diesem Punkt sollte sich Reagan als der wahre geistige Vater von Bush jun. erweisen. Reagan prägte eine Ära: Deregulierung, vor allem in der Luftfahrt, Flexibilisierung, Individualisierung und viel verfügbares Geld – das von den Erben gepumpt worden war. All dies zusammen bewirkte einen dramatischen Modernisierungsschub, für den der Gesellschaftstypus des Yuppies, der unter Reagan entstand, symptomatisch war. Der Präsident mochte alt sein, seine Profiteure waren jung, städtisch und gebildet. 25jährige »stock broker«, die zwei Jahre nach ihrem Hochschulabschluss Hunderttausende an der Börse erspielten, wurden zum Sinnbild ihrer Zeit. Wer einen Film über Reagans Amerika drehen wollte, nannte ihn »Greed«, »Gier«. Bret Easton Ellis hat in seinem Roman American Psycho dieser Dekade ein literarisches Denkmal gesetzt; das andere war Tom Wolfes Fegefeuer der Eitelkeiten. David Lynch wurde berühmt, weil er in seinen Filmen die Neurosen unter der glitzernden Oberfläche beschrieb. Neue Begriffe wurden wichtig: »Junk Bonds« beispielsweise, hoch spekulative Risikopapiere. Oder »feindliche Übernahme«: Für Abermilliarden gepumpten Geldes kauften Börsenspekulanten altehrwürdige Firmen auf, zerschlugen sie und verkauften die Trümmer gewinnbringend. Reagan setzte erst die Nachrüstung durch, dann plante er den 71
Doppelschlag: Abrüstung und Verteidigung aus dem All. Sein SDI-Projekt, »Krieg der Sterne« genannt, war der Plan einer weltraumgestützten Raketenabwehr. Er war bezeichnend für den 40. Präsidenten: Man wusste bei ihm nie so genau, ob er fantasierte – oder ob ihm etwas genial Einfaches und allemal Sinnvolles eingefallen war. George W. Bush würde mit seiner »Missile Defense« später jedenfalls auch diese Reagan-Vision fortführen. Damals jedoch war die Stimmung mindestens ambivalent. Im November 1983 sahen über 100 Millionen Amerikaner den Film The Day After über die dramatischen Folgen eines Nuklearkrieges. Die »Freeze«-Bewegung gegen weitere Rüstungswettläufe war auf ihrem Höhepunkt. Reagans Tochter Patti unterstützte den Aufruf gegen die Politik ihres Vaters und sprach auf Massenkundgebungen. Der sowjetische Staatschef Andropow nannte Reagan »verrückt« und verglich ihn mit Hitler. Doch dann, im Oktober 1986 in Island und schließlich in Genf, einigte sich Reagan mit Gorbatschow auf die weitgehende Verschrottung der Interkontinentalraketen. Aus Reagan dem Rüster war Reagan der Friedensbringer geworden. Die »Nulllösung« bei den Mittelstreckenwaffen war auch eine dieser Ideen gewesen, die viele für versponnen gehalten hatten, die Reagan angeblich nur vorschob – bis er sie realisierte. Als »den letzten Romantiker« bezeichnete Moskaus stellvertretender Außenminister Bessmertnyk den US-Präsidenten, der im Grunde seines Herzens einfach nur an das Gute und dessen Triumph glaubte. Im Mai 1988 war Reagan dann in der russischen Hauptstadt. In der US-Botschaft empfing er 100 Dissidenten. Ob er denn noch an das »Reich des Bösen« glaube, wurde der USPräsident gefragt. »Das waren andere Zeiten«, lächelte Reagan. In wahrhaft anderen Zeiten, nach dem 11. September 2001, sollte sich George W. Bush an Reagans »Reich des Bösen« erinnern und für seine Feinde einen ähnlichen Begriff wählen: »Achse des Bösen«. 72
Reagans Außenpolitik blieb turbulent. In Beirut tötete eine Autobombe 241 amerikanische Soldaten. Amerika besetzte Grenada, eine kleine Insel in der Karibik, weil Marxisten dort angeblich US-Bürger gefährdeten. In Wahrheit hielten Reagans Sicherheitsberater einen neuen Tourismusflughafen für ein Aufmarschfeld von Kubanern und Sowjets. Wenn es eine Weltgegend gibt, die für Reagans strengen Antikommunismus den höchsten Preis bezahlt hat, dann Mittelamerika. Honduras wurde zum Trainingscamp für rechte Milizen in Nicaragua, El Salvador und Guatemala. Hunderttausende starben in einem Stellvertreterkrieg der Supermächte. Zur größten Affäre in Reagans Amtszeit wurde ein Randaspekt dieses schmutzigen Gefechts, ein Aspekt, der Mittelamerika, die Krisenregion der 80er Jahre, mit der künftigen Krisenregion, dem Nahen Osten, verband – es war die »Iran-Contra-Affäre«. Nach der Theorie in Washington erlaubte die Kooperation mit den gemäßigten Kräften innerhalb der iranischen Führung, sanft auf die Freilassung jener Geiseln einzuwirken, die die Islamistenmiliz Hisbollah jahrelang im Libanon festgehalten hatte. Schließlich finanzierte Teheran die Hisbollah. Kooperation hieß in diesem Fall auch, dass die USA die Mullahs im Iran mit Waffen unterstützten. Den Gewinn aus den Rüstungslieferungen leiteten Reagans Mitarbeiter wie der notorische Oberst Oliver North allerdings weiter an die Contras in Nicaragua, die dort die marxistische Regierung der Sandinisten bekämpften. Als »das moralische Äquivalent unserer Gründungsväter« pries Reagan diese Rebellen. Doch die Außenpolitik schien zur Operette zu verkommen. Eine Clique im Weißen Haus hatte Weltmacht gespielt und dabei gegen geltendes Gesetz verstoßen: Der Kongress hatte jede Hilfe für die Contras untersagt. Und gegenüber dem Iran gab es ein Waffenembargo. »Wir haben keine Geiseln gegen Waffen getauscht«, dementierte Reagan folglich. 73
Es folgten surreale Szenen in der US-Hauptstadt. Zu Thanksgiving wollte Ronald Reagan die traditionelle Begnadigung eines Truthahns zelebrieren, doch die Reporter im Weißen Haus hatten keine Lust auf gespielte Harmonie. In die Feiertagseintracht riefen sie ihre Fragen hinein: »Wer wird Vorsitzender des Untersuchungsausschusses?« Reagan beugte sich über den Truthahn und fragte den Vogel: »Willst du antworten?« Die Journalisten gaben nicht locker. »Wussten Sie von den Contras?«, riefen sie Reagan zu. »Ich weiß, dass er gut schmecken wird!«, beschied der Präsident. Es dauerte lange, bis sich Reagan zu seinem entscheidenden Fernsehgeständnis durchrang. Es enthielt drei Kernbotschaften. Erstens sei die illegale Weiterleitung der Gewinne aus dem Irangeschäft an die Contras »ein Fehler« gewesen, zweitens habe er persönlich von dieser Verwendung nichts gewusst, drittens übernehme er die volle politische Verantwortung. Reagan stand mit dem Rücken zur Wand; er durchlebte seinen größten Skandal. Doch sein Volk nahm ihm ab, nicht über die Details informiert gewesen zu sein. Für George Bush, der sich im Windschatten hielt, galt dies weniger. Reagans Sicherheitsberater Robert McFarlane, der direkte Vorgesetzte von Oliver North, sagte über den Vizepräsidenten: »Er war lückenlos informiert und unterstützte die Entscheidung.« Der Achse Bush-McFarlane standen Außenminister George Shultz und Verteidigungsminister Caspar Weinberger gegenüber. Insbesondere Weinberger und McFarlane waren Intimfeinde. McFarlane zeichnete sich durch eine »nervtötende Art der ausdruckslosen Nichtteilnahme« aus, wie Colin Powell aus dem Weißen Haus berichtete. Weinberger trieb dieser McFarlane »in den Wahnsinn«, so Powell. McFarlane war es auch gewesen, der in einem Geheimpapier vom 17. Juni 1985 den Anstoß zu jenen Schritten gegeben hatte, die später im IranContra-Skandal publik wurden. Er sah sich in der Nachfolge Henry Kissingers. So, wie der das Undenkbare gewagt hatte, das 74
Gespräch mit China, so schlug McFarlane in seinem Dossier vor, dem Iran Waffen zu liefern. Weinberger las das Dokument und kritzelte auf den Umschlag: »Dies ist fast zu absurd, als dass man es kommentieren könnte… Das ist, als würden wir (den libyschen Staatschef) Gaddhafi zu einer netten Plauderstunde nach Washington einladen.« Der Verteidigungsminister gab intern kund, was er von der vorgeschlagenen Annäherungsstrategie hielt: »Die einzigen Moderaten im Iran liegen auf dem Friedhof.« Die Allianzen, die sich damals im Weißen Haus Reagans bildeten, prägten noch die Zusammensetzung des Kabinetts von George W. Bush. Sowohl Colin Powell als auch Richard Armitage, ein weiterer Mitarbeiter Weinbergers, sollten Bush 43 dienen. Sie alle hielten wenig von George Bush. Weinbergers Einschätzung, dass der Vizepräsident nicht nur »lückenlos informiert« war, sondern die Iranpolitik und die Rüstungslieferungen auch aktiv unterstützt hatte, wurde später von Shultz bestätigt: »Natürlich wusste er Bescheid.« Bush sei schließlich Teil einer in sich geschlossenen Regierung gewesen. Und eben dies war das Problem. Der Vizepräsident der USA hat laut Verfassung keinerlei Aufgabe außer der Vertretung des Staatsoberhauptes und der formellen Leitung des Senats. Welches Arbeitsgebiet er findet, was er tut – jeder Amtsinhaber muss dies neu definieren. George Bush vertrat Reagan auf Reisen. Vor allem die Häufung von Staatsbegräbnissen, des Öfteren in Moskau, führte dazu, dass für die Flüge des George Bush bald das spöttische Motto geprägt wurde: »You die, I fly« (»Man stirbt, ich fliege«). Doch vor allem kümmerte Bush sich um die Organisationsstruktur und die Abläufe des Regierungsapparats. Als Exgeheimdienstchef schuf er Ausschüsse und Kommissionen, Räte und Kleinstrunden, die mehr oder weniger willkürlich zusammengestellt waren – und mehr oder weniger geheim. Bush verstand sich selbst als Fixpunkt im Netz der 75
Verbindungen, die im Weißen Haus zusammenliefen. Reagan, der wenig Muße für Akten- und Detailarbeit hatte, überließ ihm diese Rolle gern. Nach der Affäre Iran-Contra machten sich mehrere Aufklärer daran, Bushs Rolle nachzuzeichnen. Der damalige Leitartikler des Boston Globe fasste die Ergebnisse dieser Untersuchungen zusammen: Bush sei »enthusiastisch für den Verkauf amerikanischer Waffen an den Iran« eingetreten; der Vizepräsident habe »eindeutig nicht die Position von Außenminister Shultz oder Verteidigungsminister Weinberger geteilt, die beide die unglückselige Strategie ablehnten«. Dennoch ging er im Skandalsumpf nicht unter. »Hätte ich viel mehr davon gewusst, was wirklich vor sich ging, dann hätte ich geraten: Macht das nicht!«, sagte Bush später. Und in seiner Autobiografie Looking Forward schob Bush die Verantwortung für den mehrfachen Gesetzesbruch jenen zu, über die man »nur begrenzt Kontrolle« gehabt habe. Damit meinte er allerdings nicht den quasiautonomen Stab Oliver Norths unter McFarlane, damit meinte er Israel. Über den Partner an der Ostküste des Mittelmeeres waren 1985 und 1986 zwei größere Waffenlieferungen an den Iran abgewickelt worden. Israel sollte schuld sein? Oliver North jedenfalls erhielt im November 1985 eine handschriftliche Notiz Bushs. Der Vizepräsident dankte darin für »deinen Einsatz und deine unermüdliche Arbeit mit dem Geisel-Ding und mit Mittelamerika«. Reagans Amerika erlebte eine Zeit des Fiebers, der Überhitzung, fast des Wahns. Ikonen seiner Zeit waren die Platin-Kreditkarte und Kokain. Dieses Rauschhafte der 80er Jahre glich am ehesten der Stimmung, die in Berlin 1999 oder 2000 herrschte: Alles ist jung, alles ist möglich, neue Firmen gedeihen, die Aktien steigen ins Schwindelerregende. Unter Reagan fasste indes auch, vom Weißen Haus lange ignoriert, die Jahrhundertseuche Aids Fuß: in Krankenzimmern, auf Friedhöfen, im kollektiven Bewusstsein, das jäh einen düsteren Gegenpol zum 76
gesellschaftlichen Rausch akzeptieren musste. Reagan setzte viel an Energie frei. Viel davon diente der Selbsttäuschung. Die Rechnung, ein zusammengebrochenes Sparkassensystem – bei dem die Rolle der Bushs an späterer Stelle beleuchtet werden wird – und ein Schuldenberg einmaligen Ausmaßes, mussten die Nachfolger bezahlen. Aber auch immateriell ist Reagans Hinterlassenschaft zum Teil ernüchternd. Vor allem mit der These, dass Amerika, »this great country of ours«, wie Reagan gern sagte, tatsächlich das größte Projekt der Menschheitsgeschichte sei, haderten die Amerikaner zwar nie. Solche Gewissheiten hörten sie nach Watergate, dem Vietnamkrieg und der Ölkrise unter Jimmy Carter gern. Dennoch blieben Unsicherheiten. Zu schön, um wahr zu sein: Der Eindruck, so sei die Reagan-Zeit gewesen, beschlich viele US-Bürger. Nach Reagan aufwachen hieß für viele seiner Landsleute, gleichsam verkatert zu sein. Bush 41, der Nachfolger, sollte viel von diesen Zweifeln zu hören bekommen. Dass Reagan in zweiter Ehe verheiratet war, störte die Amerikaner kaum, nicht einmal dann, wenn der Präsident zum Thema Moral sprach. Dass Ehefrau Nancy sich von Astrologen beraten ließ und mit Frank Sinatra und dessen Mafia-Freunden allzu eng befreundet war, wurde erst später bekannt. Die Kinder schrieben schmähliche Bücher über ihre Eltern. Doch Ronald Reagan, der Mann des Optimismus, glaubte an das Happy End. Und wie im Film kam es – immer wieder und anders, als erwartet. Im März 1981 überlebte der Präsident ein Attentat, später auch eine schwere Krebsoperation. Er half der Nation, die Tragödie des kurz nach dem Start explodierten Weltraumtransporters »Challenger« zu überwinden, die sich weit tiefer ins amerikanische Bewusstsein eingefressen hat, als in Europa bekannt. Und als dann die Zeit des rüstigen Rentnerdaseins vorbei war, als die Präsidentenbibliothek eingeweiht und 77
genügend Leitbilder in die Kameras der Fernsehanstalten gewandert waren, als es ruhig um Reagan wurde, meldete er sich ein letztes Mal. Ein bewegender Brief berichtete den Amerikanern, ihr Altpräsident leide an Alzheimer. »Ich beginne nun die Reise in die Abenddämmerung meines Lebens. Für Amerika wird stets ein heller Morgen folgen!«, schrieb er. Seitdem war es Nancy Reagan, die bei gelegentlichen Auftritten den Bürgern vom Schicksal ihres Mannes berichtete. Beim Staatsakt für den toten Richard Nixon stand er noch einmal neben Gerald Ford, Jimmy Carter, George Bush und Bill Clinton. Seine Tochter weinte. Nicht wegen Nixon, sondern wegen ihres Vaters. Nun rückte die Familie zusammen – am Bett eines Mannes, der langsam starb. Die Entfremdungen und der Streit der Washingtoner Jahre waren vergessen. Seine Gegner haben Reagan anfangs verlacht, bald aber gehasst. Der Cowboy aus Hollywood, der Politik auf ein cleveres Rollenspiel zu reduzieren schien, war mehr. Dass viel Schein zum Weißen Haus gehört, hat Reagan gut gewusst. Doch der naive Chancy Gardener aus Hal Ashbys Film Being There, in dem Peter Sellers einen Gärtner spielt, den der Zufall an die Macht trägt, war er nicht. Teils fremdgesteuert, zuweilen eine Marionette der Rüstungslobby und der Waffenbürokraten – gewiss. Aber Ronald Reagan hat eine Epoche geprägt. Seine Regentschaft war kein Zwischenspiel, sondern ein Kulminationspunkt. Im Kern haben die Bürger der USA gemerkt, dass hier einer sich selbst treu bleibt und eben nicht den Präsidenten mimt, sondern nur sich selbst spielt. So gewann er bei seinen Anhängern auch weniger Bewunderung als Zuneigung, und viele seiner Gegner zollten ihm Respekt. Und in eben jene riesigen Schuhe sollten nun innerhalb von nur zwölf Jahren zwei Mitglieder der Familie Bush treten, denen alles zu fehlen schien, was Reagan hatte: Charme, Charisma, Instinkt, Redegewandtheit und natürliche Bürgernähe. Was die Amtszeiten von Vater und Sohn Bush jeweils im Kern 78
kennzeichnete, war die höchst unterschiedliche Antwort auf die Herausforderung, die im Namen Reagan steckte. Aus George Bush, geprägt in den unübersichtlichen 60er und 70er Jahren, wurde ein Nachlassverwalter, ein Nachspiel. Die Deutschen erinnern sich an ihn, weil er ihnen zur Wiedervereinigung verhalf. Amerika aber hat George Bush schnell vergessen. Sein Sohn, geprägt von der angeblichen Klarheit der 80er Jahre, fand eine andere Antwort auf Reagan. Er wollte ebenso simpel und luzide sein. Und so nahm er die Chance wahr, die sein Vater vertat, die Chance, dass auch aus seiner Präsidentschaft eine Ära werden könnte.
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5. Republikanische Freiheit Die von Richard von Weizsäcker erwähnten »200 Familien« bilden in den USA das Zentrum der Macht und werden als »permanent government«, als »Dauerregierung« beschrieben. Im Gegensatz dazu ist eine Präsidentschaft nur vorübergehend, sie ändert nichts an der grundlegenden Machtverteilung. Mit Jimmy Carter und Bill Clinton eroberten Ende des 20. Jahrhunderts je ein Vertreter der Mittel- und der Unterschicht, beide hoch begabt und die Durchlässigkeiten Amerikas nutzend, das Weiße Haus. Amerika lebte immer von der Spannung zwischen diesen beiden Extremen: Auf der einen Seite gab es eine Kaste, die sich aristokratisch gebärdete und abschottete. Sie erhob Anspruch auf politische Macht und wirtschaftliche Führung und lebte die Vererbbarkeit solchen Einflusses vor. Dies war aber nur möglich, weil ihr gegenüber das hoch flexible Milieu jener bestand, die aus dem Nichts in höchste Ämter gelangen konnten. Die Vererbbarkeit von Macht erscheint Demokraten als unvereinbar mit der Republik als Staatsform. Die USA indes haben sich seit ihrer Gründung und auch schon in der Vorbereitung der Unabhängigkeit das alte Rom als Vorbild genommen. Schon die Gründerväter dachten darüber nach, wie eine Republik der Größe Roms entstehen und wie sie Zerfall, Tyrannei und Monarchie vermeiden kann. Die Beschäftigung mit der antiken Klassik, die Vertrautheit mit den wichtigsten Autoren der römischen Republik – dies alles nimmt im Bildungskanon der amerikanischen Führungsschicht einen ungleich höheren Stellenwert ein als in der modernen Bundesrepublik. Es ist dies ein Erbe, das Amerikas Demokratie direkt von der britischen übernommen hat. Und so stieß auch in den USA die Idee auf Gegenliebe, dass es 80
eine »senatorische Klasse« geben könne, eine Schicht wohlhabender Führungsfiguren, die reich genug sind, um nicht von Interessengruppen abzuhängen, die politisch unabhängig genug sind, um nicht der letzten populistischen Wendung hinterhereilen zu müssen, und die intellektuell selbstständig genug sind, um ihr Denken nicht den organisatorischen Interessen fest gefügter Parteien unterordnen zu müssen. Als »disinterested«, im positiven Sinne nicht interessiert, hat Thomas Jefferson, der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776, diese Geisteshaltung beschrieben. Die Bushs sind das Paradebeispiel einer Familie, die sich selbst als Bestandteil dieser »senatorischen Klasse« im altrömischen Stil betrachtet, die sie wiederum auch stets mit wandelte und neu erfand. Denn das Modell der Führungskaste, deren Mitglieder auch dann mitregieren, wenn sie einmal ohne Wahlamt sind, war selbst einer steten Veränderung unterworfen. Es war dies eine Veränderung, die niemand perfekter für sich zu nutzen verstand als die Familie Bush. Der Zwittercharakter der USA als besonders durchlässig und zugleich besonders hierarchisch fällt vielen Europäern auf. Ein sichtbares Indiz ist das Nebeneinander des Mythos, vom Tellerwäscher zum Millionär werden zu können, und der faktisch oft starren Ungleichheit im Ökonomischen. Die Tatsache, dass trotz einer breiten Mittelschicht die Einkommens- und Vermögensverteilung in den USA extrem uneinheitlich sind, scheint die meisten Bürger nicht groß zu stören oder gar zu politischen Initiativen zu führen. Die Amerikaner nähren sich vom Mythos der Machbarkeit im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, also der Option, das eigene Schicksal überwinden zu können, einer Option, die bereits in der Unabhängigkeitserklärung als »pursuit of happiness« festgeschrieben wurde. Das beste Mittel, dynastische Ambitionen mit demokratischen Prinzipien zu verbinden, ist der Wandel oder zumindest die 81
Neudefinition der Werte, die man vertritt. Denn nur wer sich den Veränderungen der Gesellschaft stellt, kann Anspruch darauf erheben, diese auch zu repräsentieren. Amerika wandelte sich im 20. Jahrhundert entscheidend. Die Bushs gingen mit, mal notgedrungen, mal in vorderster Front. Aus der Gründerzeit Ende des 19. Jahrhunderts kam die Tradition des ungezügelten Kapitalismus, für die George Herbert Walker steht. Beim demokratischen Pendant der Familie, bei den Kennedys, war dies der Finanzjongleur Joe, der Vater von John F. Kennedy. Der Erste Weltkrieg bedeutete dann für die Großfinanz einen unglaublichen Internationalisierungsschub. Schließlich war Amerika durch die Selbstzerfleischung Europas zur Weltmacht aufgestiegen. Dieser Trend setzte sich in den Zwischenkriegsjahren fort und gipfelte im Zweiten Weltkrieg. Nun waren die USA nicht mehr eine Weltmacht, sondern die Supermacht. Für Familien aus der »senatorischen Klasse« hieß dies, dass neben die freie Wirtschaft der enorm ausgeweitete Staat mit seinen Sicherheitsinteressen als neues Arbeitsfeld trat. Eine Familie, die im Zentrum der Macht stehen wollte, konnte sich nicht länger darauf beschränken, Spitzenposten in Banken, Versicherungen, Unternehmen oder führenden Anwaltskanzleien zu besetzen. Die Rüstungsindustrie und die entstehenden Geheimdienste traten hinzu. Wieder vollzogen die beiden Gründerväter George Herbert Walker wie Joe Kennedy diese Anpassung mit. Walker verkaufte Kriegsgerät für die Schlachtfelder in Europa; der alte Kennedy ließ unter dem damaligen Marine-Staatssekretär Roosevelt Kriegsschiffe bauen. Es ist auch kein Zufall, dass die jeweils nächste Generation aktiv im Zweiten Weltkrieg kämpfte. Doch sowohl der so deutschlandfreundliche George Bush wie auch der WahlBerliner John F. Kennedy kamen im Pazifik zum Einsatz, also gegen Japan, nicht gegen Deutschland. Während Kennedy sich nach dem Krieg auf die Politik beschränkte und erst Abgeordneter, dann Senator wurde, deckte 82
George Bush jenes breitere Spektrum ab, das der Auffächerung amerikanischen Einflusses eher entsprach. Ölwirtschaft, Washingtons Politik, der Aufenthalt in China, das Jahr als Geheimdienstchef: Bush knüpfte auch biografisch jene Fäden zusammen, aus denen Amerika das Netz seiner Macht und seines Einflusses gesponnen hatte. So, wie der Zweite Weltkrieg die Sicherheitsbedürfnisse des Staates verändert und einen neuen Komplex aus Industrie, Militär und Sicherheitspolitik hervorgebracht hatte, so wandelten sich die Anforderungen an eine Topfamilie nach den gesellschaftlichen Umbrüchen der späten 60er und 70er Jahre erneut. Diesmal war die maßgebliche Entwicklungslinie inneramerikanischer Natur, es ging um das kulturelle Selbstverständnis der Republikanischen Partei. Amerikas Konservative mussten ihre Haltung gegenüber dem Rassenkonflikt im eigenen Land neu überdenken, sie mussten mit Libertinage und neuen Lebensentwürfen umgehen. Weniges schien nach 1968 unpopulärer als eine skierotische Führungsschicht mit vererbten Privilegien und altbackener Weltanschauung. Die Antwort, die Amerikas Rechte fand, hieß Reagan. Nationaler Stolz statt Vietnamtrauma, Patriotismus statt Gesellschaftskritik, Populismus statt Elitegehabe – das war die Mischung seiner Reaktionsmuster, die ihn so höchst erfolgreich machte. Reagans Antworten fielen nicht vom Himmel. Sie waren Anpassungsleistungen, innerparteiliche Modernisierungsschübe, umweltadäquate Verhaltensänderungen. Der weiße, angelsächsische Protestant, kurz »WASP«, also der gebildete, entrückte Neuengländer als dominante Figur des Republikanismus hatte endgültig ausgedient. Ein Prescott Bush wurde undenkbar. Er war jetzt zum weltfremden Snob geworden. Ende des 20. Jahrhunderts konnte ein US-Politiker nur gewinnen, wenn er sich als Anti-Establishment, AntiWashington, also als Vorkämpfer des kleinen Mannes verkaufte. 83
Der Republikaner der 80er und 90er Jahre musste das Gegenteil seines Ahnherrn sein. Vieles, was George W. Bush von George Bush unterscheidet, ist eine Fortschreibung von Anpassungen in diese Richtung. Zwei entscheidende Dimensionen dieses Wandels im vorherrschenden Erscheinungsbild republikanischer Spitzenpolitiker sind die Einbeziehung einer Region, des Südens und Südwestens der USA, und einer Religion, des evangelikalfundamentalistisch ausgerichteten Protestantismus. So war George W. Bushs religiöse Wiedergeburt, die später noch ausführlich beschrieben wird, eben nicht nur ein persönliches Ereignis, sondern auch ein – vielleicht unbewusster – dynastischer Schachzug: Wenn sie keine rationale Strategie zur Machtkonservierung war, so war sie doch zumindest eine ideale Parallelentwicklung. Für die Bushs bedeuteten neue Heimaten stets auch mehr Macht. »Wiedergeborener Christ« und »Texaner« zu sein waren zwei Schritte in diese Richtung, zwei nötige Schritte. George Bush ging einen, George W. Bush beide. Kann so viel Wandel glaubhaft sein? Kann eine Partei und können ihre Spitzenvertreter sich so oft häuten? Ist das zu viel der Anpassung? Wo bleibt bei einer solchen Dauerverpuppung die Kontinuität? George, Barbara und George W. Bush haben alle Autobiografien geschrieben. Doch keiner von ihnen hat reflektiert, warum er oder sie eigentlich Republikaner ist. So selbstverständlich und naheliegend war die parteipolitische Heimat. Die Mitgliedschaft bei den Republikanern war die konsequente Folge der eigenen Herkunft, die Verlängerung der Familientradition in die öffentliche Rolle hinein. Zugleich gilt aber auch: Die Partei bot einen flexiblen Rahmen. Eine Begrenzung durch fest gefügte Ideologietraditionen gab es nicht. Republikaner zu sein, das war keine Einschränkung, es war eine Möglichkeit. Aber für die Bushs eben eine gegebene, keine wirklich gewählte. Eine Periode des Nachdenkens, welcher 84
Partei man sich denn nun anschließt, durchlebte Reagan. Für die Bushs stellte sich diese Frage nicht. Anders als in Deutschland sind die Grundwerte, Ausrichtungen und Strategien einer Partei wie die der Republikaner sehr variabel. Dies liegt zutiefst in der amerikanischen Geschichte begründet: Der Wandel ist Programm, er war es stets. Seit über zwei Jahrhunderten lebt die Republik namens USA mit einem Zweiparteiensystem. Europäer sind daran gewöhnt, die Demokraten als eher links und die Republikaner als eher rechts einzuordnen. Amerikas Geschichte hat aber dafür gesorgt, dass in einem derart einfachen Raster viele Brüche unberücksichtigt bleiben. Der schwarzen Bürgerrechtsbewegung der 50er und 60er Jahre beispielsweise, den Organisationen von Martin Luther King und seinen Mitstreitern, stellten sich weiße Politiker entgegen, die durchweg Demokraten waren. Einer der legendärsten Rassisten der jüngeren US-Geschichte, der viermalige Präsidentschaftskandidat George Wallace, der lange Gouverneur von Alabama war, stammte aus der Partei von Bill Clinton und Al Gore. Umgekehrt war der Präsident, der die Sklaven nach dem amerikanischen Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 befreit hatte, ein Republikaner: Abraham Lincoln. Es ist richtig, dass heute die amerikanischen Demokraten eher mit europäischen Sozialdemokraten der zentristischen, reformierten Linie wie dem Briten Tony Blair und die Republikaner eher mit den christdemokratischen Mitte-Rechts-Parteien zu vergleichen sind. Richtig ist aber auch, dass George W. Bush einer Familientradition entstammt, die für ein ganz anderes Republikanertum steht. Vor allem in den früh industrialisierten Regionen im Nordosten der USA entstand nach dem Bürgerkrieg eine wohlhabende Klasse von modernen, liberalen Patriziern, die in Banken, Versicherungen oder Großunternehmen ihr Geld machten, als Mäzene aktiv wurden und sich für reformistische Stiftungen einsetzten. Es waren 85
fromme Protestanten, die in den eher auf Bedächtigkeit und Besinnung denn auf Gospel und Ekstase ausgerichteten Kirchen engagiert waren, sich wohltätigen Zwecken verschrieben, weltweite Kontaktnetze pflegten und sich als aufgeklärte, bildungsbeflissene, dem Gemeinwohl verpflichtete Staatsbürger sahen. Eine berühmte Familie aus diesem Umfeld sind die Rockefellers, eine andere die Harrimans. Auch die Bushs stammen aus diesem Umfeld der Profiteure des »Gilded Age«, der amerikanischen Entsprechung der deutschen Gründerzeit. Man muss sich dieses Milieu, in dem viel Wert auf Erziehung, Anstand und Tugendhaftigkeit gelegt wurde, ein wenig wie das Hamburger Großbürgertum vorstellen. So, wie die Hamburger Patrizier oft Sozialdemokraten waren, so neigten die altehrwürdigen, liberalen Familien Neuenglands oft den Republikanern zu. Unten, in den Südstaaten, hassten viele Weiße die Republikaner, denn die hatten Lincoln und die Sklavenbefreiung über sie gebracht. Die Schwarzen dagegen beteten Lincoln und seine Partei an. Fast 100 Jahre lang waren die südlichen Bundesstaaten der ehemaligen »Konföderation« durchgehend demokratisch kontrolliert. Der konservativste Landesteil, der Süden, war – unter Weißen – paradoxerweise demokratisch. Im Norden waren die Demokraten vor allem in der Arbeiterschaft stark vertreten. Aber auch die neuen katholischen Einwanderer aus Irland oder Polen waren Kernwähler der Demokraten. Sie waren schließlich keine WASPs und wurden vom britischstämmigen Establishment verachtet. Es ist kein Zufall, dass der erste Ire und der erste Katholik im Weißen Haus der Demokrat John F. Kennedy aus Neuengland war. Denn dort waren seit 1945 die WASPs in die Minderheit geraten. Überspitzt formuliert schienen die Ungehobelten, die Hinterwäldler, der Pöbel und die Rassisten Demokraten zu sein. Wer immer sich ein wenig »Refinement« zugute halten konnte, wer immer also gebildet, wohlerzogen und kulturbeflissen war, 86
der machte sein Kreuzchen bei den Republikanern. Er pflegte die Clubs seiner Universitäts-Alumni, suchte die Mitgliedschaft in exklusiven »Country Clubs«, verbrachte seinen Urlaub in schützenden Enklaven wie Jupiter Island und hatte ebenso viel Geld wie Angst davor, der Gier oder des Geizes bezichtigt zu werden. Mit diesem Weltbild wuchsen sowohl Vater als auch Sohn Bush auf. Es ist nur sehr schwer zu beantworten, was an den Veränderungen und Anpassungen der Bushs Fassade ist und was Substanz hat. Dass George W. Bush eher als sein Vater die Herzen der Amerikaner ansprach, dürfte indes damit zusammenhängen, dass sein ganzes Wesen die neue Dominanz des religiösen Südens spiegelte. George Bush hingegen blieb zeitlebens stark dem Republikanerbild seiner Ahnen verhaftet. Wie sehr er damit als zerrissener Mensch wahrgenommen wurde, ist an den unzähligen abfälligen Bemerkungen über George Bushs Heimat ablesbar. Bush 41 wurde berühmt als der Mann, der nicht weiß, wo er herkommt, der mal Connecticut und mal Maine, mal Massachusetts und mal Texas als seine Heimat angab. Im flexiblen Amerika ist ein Umzug keineswegs verwerflich. An Bush konnte dies als Vorwurf nur kleben bleiben, weil sich hinter den Ortswechseln mehr verbarg: die intuitive Erkenntnis der Amerikaner, dass sie in ihm einen wahrhaft Heimatlosen vor sich hatten. Das Bild hingegen, das Europäer von republikanischen Politikern in den USA haben, ist durch die jüngste Vergangenheit geprägt. Wer ist der Inbegriff des Republikaners? Reagan. Da ist die mentale Herkunft aus Hollywood, die Schwarz-Weiß-Malerei, die Vorliebe für Showeffekte. Seine Wirtschaftspolitik war nicht konservativ im Sinne des Vertrauens auf einen starken Staat, sie war liberal. Als Person stand Reagan je nach Geschmack für den »ganzen Kerl« oder eben für den »schießwütigen Cowboy«, immer bereit, die Komplexität der Welt auf einen simplen Nenner zu bringen. 87
Reagan war es, der das neuenglische, patrizierhafte Bush-Erbe um den neuen Mainstream-Republikanismus der 80er Jahre ergänzte: um das Populäre und das Patriotische. George W. Bush ist zu großen Teilen als der Versuch zu verstehen, aus Reagans Erfolg einerseits und aus der Herkunft seines Vaters andererseits die optimale Fusion herzustellen, die beiden so unterschiedlichen Kernströmungen innerhalb seiner Partei also miteinander zu verbinden. Was für Reagan Hollywood und der Westen war, das Korrektiv zum Patrizierhaften also, war für Bush jun. Texas und die Ölindustrie. Als George W. Bush seinem Vater schließlich nachfolgen sollte, haben auch Nordkorea, Marokko, Jordanien und Syrien einen alten Herrscher durch dessen Sohn ersetzt. Eine Ehrengalerie demokratischer Regierungssysteme ist das nicht gerade. Die Gründe für diesen Hang zum Ersatzkönigtum in den USA sind äußerst komplex. Denn es handelte sich dabei nicht um eine einmalige Angelegenheit. Schon in der Gründergeneration der Vereinigten Staaten saßen Vater und Sohn der Familie Adams im Weißen Haus. Später folgte auf den Präsidenten Theodore Roosevelt sein Cousin Franklin D. Roosevelt im höchsten Staatsamt. Und es war auch nicht so, als hätten die Amerikaner bei den Präsidentschaftswahlen am 7. November 2000 die Wahl zwischen einem Elitezögling und Präsidentensohn auf der einen und einem Aufsteiger aus rauen Verhältnissen auf der anderen Seite gehabt. George W. Bush und sein demokratischer Rivale Al Gore waren beide Ziehkinder der politischen Elite: Geld, Beziehungen und eine erstklassige Erziehung waren gegeben. Es war eine Wahl zwischen zwei Versionen eines retardierenden Moments. Mit Reagan und Clinton haben die USA zwei Präsidenten gehabt, die den Homo Faber, den »selfmade man«, verkörperten. »Selfmade« war an George W. Bush und Al Gore 88
herzlich wenig. Deshalb zuckte das Land mit den Schultern. Deshalb auch war die Kritik am System, an der Art und Weise, wie politische Karrieren nur durch Millionenspenden ermöglicht werden, so laut wie noch nie. Das Volk mag die Vergewisserung im Vertrauten, doch es reagiert mit sichtlichem Unbehagen, wenn die Verteidigung der Familienehre ein Leitmotiv der Demokratie wird. Großbritannien, für die USA noch immer der wichtigste Vergleichsmaßstab in Sachen politische Kultur, hat zwar eine Monarchie und ein Oberhaus. Doch einen Premier, dessen Ahnherr auch Premier war, gab es noch nie. Amerika, dem der König fehlt, pendelt hin und her zwischen der Familiensaga à la »Camelot«, dem Hof der Kennedys, von dem in der Verfassung nichts steht, und, zur Erneuerung, den Machttypen aus dem Urgrund. Weder Bush jun. noch Gore begeisterten – eben weil sie nichts weiter waren als die aktuelle Personalofferte etablierter Politkklans. Bill Clinton, ein Aufsteigertyp wie Gerhard Schröder, konnte da mehr Emotionen wecken. Es sind Figuren wie Clinton, die die Demokratie als überzeugende Leitbilder zuweilen braucht. Die Durchlässigkeit sozialer Strukturen lässt sich nicht besser belegen als am Beispiel eines Regierungschefs, der in Armut und in Unkenntnis des eigenen Vaters aufwuchs, was für Clinton und Schröder gleichermaßen gilt. Doch woher kommt die seltsame Neigung Amerikas, das Aufsteiger-Unikat durch ein Establishment-Serienprodukt zu ersetzen? Der Zufall jedenfalls kann es nicht sein, der im Jahr 2000 aus knapp 280 Millionen Amerikanern ausgerechnet Bush und Gore als die Besten auswählte, zwei Männer, die auch noch die Vornamen ihrer Väter trugen. Solcher Nepotismus beschränkte sich nicht auf die beiden Spitzenkandidaten. Gleich fünf Kennedys durften beim Nominierungsparteitag der Demokraten im August 2000 in Los Angeles Reden halten. Hillary Clinton wurde Senatorin in New York, noch ehe sie aus dem Weißen Haus ausgezogen war. Drei 89
Witwen saßen Anfang 2000 im US-Repräsentantenhaus, nachdem sie erst ihren verunglückten Männern gefolgt waren und dann in Wahlen bestätigt wurden. Namen und Bekanntheit sind heute in der US-Politik jenes Kapital, das durch nichts zu ersetzen ist. Der jüngste Abgeordnete im Repräsentantenhaus, der 1970 geborene Harold Ford, vertritt den Wahlbezirk in Memphis am Mississippi im US-Bundesstaat Tennessee, den sein gleichnamiger Vater zuvor 22 Jahre lang repräsentiert hatte. In jüngster Zeit saßen im 100-köpfigen US-Senat, einer direkten Nachbildung des altrömischen Vorbildes, fünf Parlamentarier, deren Väter auch bereits Senator gewesen waren. Die Lust an den Dynastien ist etwas, das die Amerikaner in diesen verwirrenden Globalisierungs-, Multikulturalismus- und Zuwanderungszeiten zusammenhält. Dynastien schaffen Vertrautheit, und Vertrautheit macht Heimat aus – in jeder Partei. Dynastien suggerieren Nähe, Geborgenheit, Schutz. Man kennt sich. Das beruhigt in unruhigen Zeiten. Dazu kam, was die Wahlen 2000 angeht, eine weitere Emotion aus der Seifenopernwelt, das schlechte politische Gewissen. Weil Millionen es nach der Affäre um die ganz besondere Praktikantin Monica Lewinsky bereuten, im November 1992 George Bush vor die Tür gesetzt und stattdessen den Hallodri Clinton hereingeholt zu haben, strich der Sohn die Wiedergutmachung ein. Wie sehr die Amerikaner selbst George W. Bush ursprünglich als Klon seines Vaters begriffen, zeigt sich an zwei Episoden. In der Frühphase des ersten Wahlkampfs des Juniors, als er sich 1977 um einen Sitz im Repräsentantenhaus bewarb, gab sein Gegenkandidat Kent Hance eine Erhebung über die Stärken seines Konkurrenten in Auftrag. Hance wollte sich auf Bushs Profil einstellen können. »Die Umfrage war fertig, und der wichtigste Grund, weshalb sich Leute für Bush aussprachen, war seine ordentliche Leistung in China«, erzählte Hance später. Dabei war es bekanntlich der Vater gewesen, der in Peking als Botschafter Pionierarbeit 90
geleistet hatte, nicht der Sohn. Dieses Muster sollte sich im Präsidentschaftswahlkampf von 2000 wiederholen. Die Texaner selbst hatten natürlich inzwischen begriffen, dass ein anderer Bush sie als Gouverneur regierte. Doch die US-Bürger insgesamt gaben in einer Meinungsumfrage im Spätsommer 1999 an, George W. Bushs hervorragendste Qualifikation sei seine außenpolitische Erfahrung. Die aber hatte der Vater, nicht der Sohn. Dem Projekt Restauration, der internen Triebfeder des 2000erWahlkampfs, war der Älteste und Namensgleiche dienlicher als der jüngere Bruder Jeb. Jeb wurde zwar lange als der politisch Erfolgversprechendere gehandelt, aber er war zum Katholizismus übergetreten und mit einer Mexikanerin verheiratet. Kurz: Jeb Bush wäre der ideale Kandidat für die nächste Verpuppung der Partei, für die Anpassung an die Lateinamerikanisierung und Katholisierung der USA, nicht aber für eine in Teilen rückwärts gewandte Wiedergutmachung, eben George W. Bushs Wahlsieg 2000. Doch die Präsidentschaftswahl von 2000 war der Endpunkt in einem Duell, dessen Ausgang alles andere als vorbestimmt war. Der Weg der Königskinder war verschlungen. Vor allem George W. Bush musste mehr Felsbrocken aus dem Weg räumen, als er je gedacht hätte. »Ich habe die Hälfte seiner Freunde geerbt, aber alle seine Feinde«, sagte er über seinen Vater. Zwar war der mit seinem eigenen Aufstieg für den Sohn der entscheidende Wegbereiter. Zu Recht sieht ihn die Welt als solchen. Weniger offen liegen die Anteile, zu denen Bush 41 für Bush 43 bestenfalls Pfadfinder und Wegweiser war, oft aber auch ein Schild mit einem Pfeil in die Vergangenheit. Mit dem 11. September sollte in George W. Bush das Korrektiv zu seinem Vater, der Geist Ronald Reagans, auferstehen. Erst nach dem Terror wurde klar, wie sehr die Heimat des Sohnes sich von der des Vaters wirklich unterschied.
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Die beiden ältesten Bush-Brüder George W. und Jeb verbindet vieles, politisch wie auch privat. Eigentlich wurde Jeb lange Zeit als der erfolgversprechendere Politiker gehandelt, doch die Präsidentschaftskandidatur ging nicht an ihn. Das Verhältnis der beiden Brüder zueinander ist davon jedoch unbeschadet geblieben.
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II. DIE MACHT
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6. Weiter ein Stellvertreter Als George Bush 1988 endlich selbst Präsident werden wollte, tauchte das Gespenst des Iran-Contra-Skandals erneut auf. Es ging um dessen Anfänge, die im Wahlkampf von 1980 lagen und nicht weniger bizarr sind als die Iran-Contra-Affäre selbst. Damals soll sich eine Episode zugetragen haben, die in den USA lange nur mit äußerst spitzen Fingern angefasst wurde. Es ging um eine Geschichte, die eine Melange aus halbseidenen Zeugen, dürftigen Beweisen, wilden Spekulationen, aus Spionagekrimi und politischer Verunglimpfung ist. Im Zentrum dieses Thrillers steht eine ungeheuerliche Behauptung: Das Reagan-Bush-Team habe des eigenen politischen Vorteils willen die Leiden von 52 amerikanischen Geiseln im Iran verlängert. Oder, noch schärfer formuliert: Bush habe Amerikaner an die Mullahs in Teheran verkauft, um selbst im Schlepptau Reagans als Vize an die Macht zu gelangen. Die Theorie ist unter dem Schlagwort »October Surprise« bekannt geworden – allerdings erst Jahre später. 1980 trieb eine Furcht die Republikaner um: dass es dem glücklosen Jimmy Carter gelingen könnte, unmittelbar vor der Wahl im November ein Kaninchen aus dem Hut zu zaubern. Was am effektivsten sein würde, war klar: die Freilassung der Botschaftsgeiseln in Teheran. Im Iran hatten die Anhänger Ayatollah Khomeinis nach dem Sturz des Schahs 1979 die amerikanische Botschaft belagert und dort seither US-Bürger als Geiseln festgehalten. Ganz Amerika nahm Anteil am Schicksal der Gefangenen und band gelbe Schleifen um Zäune, Strommasten und Bäume im Vorgarten. Die »Yellow Ribbons« wurden zum Symbol des Mitgefühls – und der eigenen Ohnmacht, die Amerika verzehrte. Für die Republikaner konnte es trotz aller Anteilnahme nur ein taktisches Ziel geben: Carter die Gelegenheit zu einer »October 94
Surprise« zu vermasseln. Im Zentrum der Hypothese steht ein knapp bemessener Zeitraum. Es geht um 21 Stunden zwischen dem späten Abend des 18. Oktober 1980 und dem frühen Abend des darauf folgenden Tages, um die Zeit zwischen Bushs Rückkehr von einer Wahlkampfreise und einer Rede, die der Vizekandidat in der US-Hauptstadt hielt. Strittig und bis heute ungeklärt ist, ob Bush eilig nach Paris flog und dort Emissären der Mullahs das Versprechen abnahm, die US-Geiseln auf keinen Fall noch in der Amtszeit Carters freizulassen. Im Gegenzug sollen großzügige Rüstungslieferungen und die Freigabe eingefrorenen iranischen Vermögens versprochen worden sein. Ein lukrativer Deal mit dem Todfeind, so es ihn denn wirklich gegeben haben sollte: Macht gegen Geld und Waffen. Vier Zeugen gibt es, die sich mit unterschiedlicher Glaubwürdigkeit und mit unterschiedlicher Detailkenntnis anführen lassen. Zwei sind Amerikaner, die angeben, freie Mitarbeiter des CIA gewesen zu sein. Richard Brenneke aus Oregon, ein Geschäftsmann und Waffenhändler, sagte vor einem Bundesgericht der USA aus, er sei bei den Pariser Treffen zugegen gewesen. Brenneke trat als Zeuge für seinen Freund Heinrich Rupp auf, einen in Deutschland geborenen und zuletzt in Colorado wohnenden Goldhändler und Piloten. Rupp saß wegen Betrugs in Haft, als Brenneke sich für ihn verwandte. Brenneke zufolge nahmen William Casey, damals Reagans Wahlkampfchef, und Donald Gregg vom National Security Council des Weißen Hauses an den Verhandlungen teil. Rupp sagte gegenüber dem Boston Globe in einem Telefongespräch aus dem Gefängnis, Bush sei ebenfalls dabei gewesen: »Er war da – kein Vielleicht, kein Aber, kein Möglicherweise.« Kenneth Quails, Manager der Charterfluggesellschaft Tiger Air, deren Maschinen Brenneke und Rupp benutzt haben wollen, sagte in einem Telefonat, das heimlich aufgezeichnet und der US-Presse zugespielt wurde, über die Geiseln und Bush: »Die leben doch, 95
oder? Wen kümmert es, wenn er erst da war und dann gelogen hat? Fakt ist, er hat einen Deal gemacht. Im Nahen Osten macht man ständig solche Deals. Irgendein Kartoffelbauer in Iowa ist jetzt vielleicht sauer auf Bush und will seine Amtsenthebung. Aber die, die sich in der Welt auskennen, sagen doch eher: Die haben getan, was getan werden musste.« Rupp behauptet, eine Maschine vom Typ BAC 111 für den Frankreichflug benutzt zu haben. Ein solches Flugzeug besitzt auch ein Geschäftspartner der Bushs namens Salim bin Laden, auf den später noch näher eingegangen wird. Eine Variante der »October Surprise«-Geschichte führt jedenfalls bin Laden statt Tiger Air als den Bereitsteller des Transportmittels gen Paris an. Bush, Casey und Gregg streiten strikt ab, in Paris gewesen zu sein. Keiner der drei kann indes beweisen, dass er andernorts war. Kreditkartenbelege, die später auftauchten, machen es wahrscheinlich, dass Brenneke sich in Wahrheit an der USWestküste aufhielt und vor Gericht über seinen angeblichen Paris-Aufenthalt log. Glaubhafter als Brenneke und Rupp sind ohnedies die anderen beiden Zeugen. Barbara Honneger, die nach der Wahl im Weißen Haus an prominenter Stelle für Reagan arbeiten sollte, gibt an, am 22. Oktober 1980 habe ihr ein Wahlkampfhelfer des Reagan-Bush-Teams triumphierend versichert, man brauche vor einer »October Surprise« Carters keine Angst mehr zu haben, da »Dick einen Deal geschlossen hat«. Und Irans erster Revolutionspräsident Abdulhassan Banisadr war 1986 der Erste, der öffentlich von einem Deal in Paris sprach. Banisadr, inzwischen von Khomeini ins französische Exil gedrängt, hatte Jimmy Carter, dem politischen Opfer der angeblichen Aktion, mitgeteilt, es gebe da »eine Einigung, an der McFarlane und Bush beteiligt waren«. Carter wiederum berichtet von dieser Äußerung Banisadrs in einem Brief von 1988, der in einem US-Magazin veröffentlicht wurde. Jenseits der Mutmaßungen gibt es Fakten, die gesichert sind. 96
Reagan und Bush hatten 1980 eine Sonderarbeitsgruppe geschaffen, der zahlreiche hohe Offiziere angehörten. Eine Aufgabe dieser Gruppe bestand darin, auffällige Bewegungen von Waffen oder Soldaten zu verfolgen. Es galt, die »October Surprise« abzuwehren, dass nämlich Carter die Geiseln von Teheran mit Waffengewalt befreien und damit die Wahl gewinnen würde. Zumindest wollte man frühzeitig Bescheid wissen. Klar ist auch, dass die Reagan-Bush-Mannschaft bemüht war, Carters Fachmann für die Geiselverhandlungen, Herbert Cohen, abzuwerben. Bushs Bruder Prescott lud Cohen zu einem Mittagessen in den Yale Club in New York City ein, um ihn zum Wechsel in das republikanische Team zu bewegen. Unbestritten ist auch, dass sich drei hochrangige Berater von Reagan und Bush – darunter Reagans Chefaußenpolitikberater Richard »Dick« Allen sowie der spätere Nationale Sicherheitsberater Robert McFarlane – Anfang Oktober 1980 in Washingtons L’Enfant Plaza Hotel mit einem Iraner namens Lavi trafen. Dieser bot genau jenen Handel an, der dann angeblich in Paris festgezurrt wurde. Zuletzt deutete Reagan während einer Wahlkampfveranstaltung am 21. Oktober, also unmittelbar nach der fraglichen Zusammenkunft in Frankreich, an, er habe einen Geheimplan zur Befreiung der Geiseln. Einen Tag später hörte Honneger dann, dass »Dick« Allen für den Pariser Kuhhandel verantwortlich sei. Am 23. Oktober ließ der Iran in seinen Verhandlungen mit Carter über die Freilassung der Geiseln plötzlich seine bisherige Kernforderung fallen: dass bereits vom gestürzten Schah bezahlte Ersatzteile für Rüstungsgüter freigegeben und geliefert werden müssten. Brauchte Teheran etwa von Carter nicht mehr zu verlangen, was Reagan und Bush gerade zugesagt hatten? Und schließlich: War es ein Zufall, dass die Geiseln letztlich genau 15 Minuten nach der Vereidigung Reagans freigelassen wurden? Begannen aufgrund dieses Deals schon zwei Monate nach Reagans Amtsantritt die geheimen Waffenlieferungen der 97
USA an Iran, wobei Israel als Mittelsmann benutzt wurde? Waffen übrigens, die der Iran im gerade ausgebrochenen ersten Golfkrieg gegen den Irak Saddam Husseins, den Angreifer, so dringend zu seiner Verteidigung brauchte? Mansur Farhang, damals Irans Botschafter bei der UNO, sagte in der Rückschau: »Ich bezweifle, dass das die Sorte Abmachung ist, wo man Fingerabdrücke zurücklässt. Aber ich bin persönlich davon überzeugt, dass es da diese Interessenübereinstimmung gab, diese Verständigung.« Stansfield Turner, damals CIA-Chef, erklärte knapp zehn Jahre später: »Ich habe keine harten Beweise für einen Deal gesehen, aber ich bin überzeugt, dass es einige Treffen gab, die zu einem Deal geführt haben könnten.« Ein weiterer Name in dem Verwirrspiel passt bestens in das Tableau gleich berühmter wie mysteriöser Figuren. Robert Benes, früher französischer Geheimdienstler, soll Bushs Parisreise organisiert haben. Benes ist der Großneffe des Gründers der Tschechoslowakei – dessen Tochter wiederum die Ehefrau von Zbigniew Brzezinski ist, dem Sicherheitsberater Carters. Robert Benes soll seine Berichte über den Deal von Paris an den damaligen französischen Geheimdienstchef Alexandre de Marenches übergeben haben, der wiederum die heiklen Papiere mit in die USA nahm, als er Ende 1980 den gewählten – aber noch nicht vereidigten – neuen Präsidenten Reagan besuchte. Frankreich, so die These, wollte den USA signalisieren, welch brisantes Material man gegen das neue Spitzenduo in der Hand hielt. Keine dieser Mutmaßungen ließ sich erhärten. Doch die Geschichte sollte ihr Eigenleben entfalten – acht Jahre später, als Bush nicht mehr Vize werden wollte, sondern Präsident. Als erste seriöse Zeitung berichtete der Boston Globe am 23. Oktober 1988 in großer Aufmachung über den vermeintlichen Handel, bei dem George Bush in Paris die Haftdauer der 52 amerikanischen Geiseln gegen Waffenlieferungen im Wert von 98
35 bis 40 Millionen Dollar verlängert haben soll. Drei Wochen lang recherchierten führende Reporter der Zeitung in den USA, im Nahen Osten und in Europa. Dennoch war der Tenor dieses breit angelegten Artikels zurückhaltend, denn schlüssige Beweise waren nicht aufgetaucht. Doch die Terminierung und Platzierung der Geschichte waren an sich schon von Bedeutung. Denn die Frage, ob 1980 eine »October Surprise« zugunsten von Carter vereitelt wurde, kam genau zwei Legislaturperioden später ans Licht, ausgerechnet in der Heimat des Demokraten Mike Dukakis, der Bush im Duell um die Reagan-Nachfolge im Weißen Haus besiegen wollte. Die verpatzte »OktoberÜberraschung« von 1980 wurde 1988 Wahlkampfmunition – gegen Bush. Diese »October Surprise« war definitiv keine Fiktion. 300 zornige Amerikaner zogen vor Bushs Hauptquartier in Massachusetts und beschimpften den republikanischen Kandidaten. Der angebliche Vorfall von 1980 fügte sich bestens in das Bild, das die Kritiker sich von Bush während seiner acht Jahre als Vizepräsident gemacht hatten. Denn das Damoklesschwert, das nun, 1988, über dem Kandidaten hing, hieß – wie 1980 – Iran. Nur war diesmal nicht der ominöse Deal gemeint, sondern die Iran-Contra-Affäre, deren Aufarbeitung fast das ganze Jahr 1987 über angedauert hatte. Aus den Verstrickungen von IranContra konnte sich Bush nur mit Mühe befreien, und das Letzte, was er brauchen konnte, waren Enthüllungen, die diesen Skandal im Nachhinein bis in die Anfangszeit seiner Arbeit im Weißen Haus verlängerten. Wie viel er von der Verschiebung von Waffen an den Iran gegen die Freilassung von US-Geiseln aus dem Libanon und die Weiterleitung der Erlöse an die nicaraguanischen ContraRebellen wirklich wusste, wird wohl erst vollständig zu klären sein, wenn alle Akten freigegeben werden. Bushs angebliche Parisreise bleibt äußerst zweifelhaft. Mittlerweile gilt zumindest als erwiesen, dass James Baker, von 1989 an Bushs 99
Außenminister, im Herbst 1980 Gespräche mit hochrangigen Vertretern Irans führte – eine Variante, für die angesichts der sehr engen Kontakte der Bush-Familie zu Baker viel spricht. Offiziell war es Bakers Ziel, zu klären, wann mit der Heimkehr der Geiseln gerechnet werden durfte. Inoffiziell war klar, dass die Republikaner verhindern wollten, dass Carter zum Profiteur einer Freilassung wurde. Carter seinerseits streute gegenteilige Informationen. Er verriet seinem Umfeld, dass er fest davon ausging, die Freigelassenen noch während des Wahlkampfes zu Hause in den USA willkommen heißen zu können. Dazu kam es nicht. Carter war politisch tot, Bush aber hatte alles überlebt – sowohl den angeblichen Handel von 1980 als auch seine erwiesene Mitschuld an der Iran-Contra-Affäre. 1988 war Bush endlich, was er ursprünglich schon 1980 hatte sein wollen: Präsidentschaftskandidat der Republikaner. Es war ein seltsamer Wahlkampf. Gegenüber dem demokratischen Gouverneur von Massachusetts, Mike Dukakis, lag Bush zunächst in den Umfragen weit zurück. Dann setzte eine Reihe von Peinlichkeiten ein, die die Abstimmung im November zugunsten des Republikaners entschieden. Dukakis, ein kleiner, griechischstämmiger Mann, hatte sich in seinen drei Amtszeiten als Gouverneur des Neuenglandstaates einen Ruf als Haushaltssanierer und wirtschaftlicher Pragmatiker erworben. Auf seinen Fahnen stand das »Massachusetts Miracle«, die Umwandlung des einstigen Industriestaates in ein High TechLand. So, wie aus dem Ruhrgebiet ohne Kohle und Stahl eine Region der neuen Medien und der Dienstleistungsindustrie wurde, so hatte Dukakis versucht, an den Ausfallstraßen rund um Groß-Boston Unternehmen aus den neuen Branchen Software und Biotechnologie anzusiedeln. Dukakis selbst war ein zwiespältiges Wesen. Nach seiner ersten Amtszeit als Gouverneur war er abgewählt worden, weil er als zu egozentrisch und unkommunikativ galt, als Kauz und 100
Eigenbrötler. Vier Jahre später war ihm die Rückkehr an die Macht gelungen. An seinen Namen musste sich Amerika Anfang 1988 gewöhnen, als er überraschend schnell zum »Frontrunner« unter den »Zwergen«, der kleinen Armee demokratischer Präsidentschaftsanwärter, avancierte. Spötter behaupteten, sein Name gleiche der unteren Zeile beim augenärztlichen Sehtest. Den folgenreichsten Tiefschlag des Wahlkampfes musste indes nicht Dukakis, sondern Bushs Kandidat für die Vizepräsidentschaft, Dan Quayle, einstecken. Quayle, ein junger Senator aus Indiana, entstammte einem großbürgerlichen Verlegerhaus. So dumm, wie viele bald denken sollten, war er nicht. Doch seine fehlerhaft buchstabierte »Kartoffel« im Klassenraum einer Grundschule und vor laufenden Fernsehkameras brachte ihm beißenden Spott ein. Dann stand Quayle bei der Debatte der Vizekandidaten Lloyd Bentsen gegenüber, einem kampferprobten Texaner und Senator, den Dukakis sich zur Seite gestellt hatte. Quayle versuchte, seinen jugendlichen Elan in politisches Kapital umzumünzen, indem er sich in die Nähe John F. Kennedys rückte. Bentsen wandte sich nach links, direkt zu ihm, und sprach die berühmten Sätze: »Senator! Ich kannte Jack Kennedy. Ich arbeitete mit Jack Kennedy. Senator – Sie sind kein Jack Kennedy!« Der Schlag saß. Quayle rang sich nur zu einem »das war aber wirklich überflüssig!« durch. Fortan war Bushs Vize das prahlende Großmaul, das an der Schiefertafel »Kartoffel« falsch schrieb und sich erdreistete, Kennedy für sich zu vereinnahmen. Doch wenig von Quayles Negativimage färbte auf Bush ab. Dukakis trug das Seine dazu bei. Bush versuchte, einen patriotisch konservativen Wahlkampf zu führen. Innenpolitisch wollte er damit die ihm gegenüber stets misstrauisch gestimmte republikanische Rechte an sich binden, und sich selbst wollte er in die Nachfolge Ronald Reagans stellen. Sein Instrument war die Attacke auf Dukakis als »soft on crime«, als zu lasch im 101
Kampf gegen die Kriminalität. Die alltägliche Gewalt war in den US-Großstädten der 80er Jahre eines der vordringlichsten Themen. Und auch auf dem Lande und in Suburbia, wo die tatsächliche Bedrohung durch schießwütige Drogendealer, Bandenmitglieder oder Straßenräuber weit geringer war, stieg die Furcht. Die anderen Bedrohungen, Aids beispielsweise, ließen sich von Republikanern schlecht ausbeuten. Härte im Kampf gegen das Verbrechen dagegen war ein klassisches Thema der Rechten. Bushs Leute fanden schnell, wonach sie suchten. Aus einem Gefängnis in Groß-Boston war ein schwarzer Schwerverbrecher namens Willy Horton als Freigänger entlassen worden. Das so genannte »Prison Furlough«-Programm war von Dukakis unterzeichnet worden. Horton hatte seinen Freigang zu einem Mord missbraucht. Landesweit erzählten die Republikaner in ihrem Wahlwerbespot von Dukakis’ angeblichem Versagen. Das Gesicht Hortons wurde in der Schlusseinstellung des Spots mit jenem von Dukakis überblendet. Dukakis musste reagieren. Er ließ einen eigenen Fernsehspot drehen, der ihn in einem Panzer sitzend zeigte. Dazu trug er eine Lederkappe, wie sie die ersten Flugzeugpiloten knapp 100 Jahre zuvor zu tragen pflegten. Der Spot lief – und war ein Schuss, der nach hinten losging. Ganz Amerika empfand den friedlichen Dukakis in der aufgesetzten Kriegerpose als lächerlich. In den offiziellen Debatten der beiden Kandidaten schlug sich Dukakis prächtig. Bush sorgte weder für Überraschung noch für Begeisterung. Doch dann bekam Dukakis die Frage gestellt, wie er reagieren würde, falls die Polizei ihm mitteilen müsste, seine Frau sei vergewaltigt worden. Dukakis antwortete: »Ich denke, Sie wissen, dass ich ein Gegner der Todesstrafe bin.« Dann erklärte er seine Gründe für die Ablehnung von »capital punishment«. So erschien der Kandidat seinem Land als hölzern, steif, mechanisch, gefühllos. Die Frage war natürlich hinterhältig 102
gewesen. Dukakis sollte anhand eines Extrembeispiels beweisen, dass er zu seinen Grundsätzen stehen würde. Was dem Demokraten völlig entgangen war, war die Notwendigkeit, eine emotionale Reaktion zu zeigen. Dukakis hätte die Wahl vielleicht gewonnen, falls er geantwortet hätte: »Es ist ein ziemlich perverses Szenario, das Sie sich da ausgedacht haben. Gut, nehmen wir es trotzdem. Sie fragen mich, was ich tun würde, wenn die Polizei klingelt und mir mitteilt, Kitty sei vergewaltigt worden? Ich würde brüllen. Weinen. Schreien. Die Fäuste ballen. Ich wäre verzweifelt. Ich würde zu ihr eilen. Ich würde mit zitternden Händen ihr Gesicht halten und sie unter Tränen fragen: Schatz, warum hat man dir das angetan? Ich würde das Schwein in die Hölle wünschen, ich würde ihm tausend Qualen andichten, ich würde ihn in meinen Träumen im Fegefeuer anketten. Ich würde Gott anflehen, dass er ihn bestraft. So. Aber ich glaube, das wollten Sie nicht wirklich von mir wissen. Sie wollten wissen, ob ich als Politiker – nicht mit der Wut und dem Zorn eines Privatmannes, dessen Frau verletzt wurde, wie man nur verletzt werden kann – ob ich also als Politiker für die Todesstrafe eintrete. Nein. Denn es gibt Fälle, wo eine letzte Unsicherheit bleibt. Und davon mag auch mal einer profitieren, bei dem es keinen Zweifel gibt. Etwa, falls der Mann, der in Ihrem Beispiel Kitty vergewaltigt haben soll, seine Schandtat gesteht. Auch dann würde ich auf die Kraft hoffen, meinem Grundsatz treu zu bleiben. Dass der Mensch die Todesstrafe nicht verhängen sollte.« Mit einer solchen Antwort hätte Dukakis vorausgegangene Peinlichkeiten des Wahlkampfes ungeschehen gemacht und Bush wohl geschlagen. Er bekam noch mehrere Chancen, lange Fernsehgespräche zur besten Sendezeit, doch es half alles nichts. Bushs Leute attackierten ihn in einer zweiten und dritten Welle von Fernsehspots für seine unpatriotische Haltung zum »Pledge of Allegiance«, dem Fahnen- und Treueeid der Schüler zu Unterrichtsbeginn, und für den dunklen Fleck in seiner 103
Umweltpolitik, der Verschmutzung des Bostoner Hafens. Dukakis blieb als jener zurück, der gefühlsarm war, unpatriotisch, manchmal lächerlich, und nicht einmal bei seinem Steckenpferd Umweltschutz glaubwürdig. Den traurigen Verlauf des 1988er-Wahlkampfes fassten die Komiker der NBC-Fernsehsendung »Saturday Night Live« am besten zusammen. In einer – fiktiven – Wahlwerbung Bushs wurde eine Wand mit jenem Größenmaßstab gezeigt, wie die Polizei ihn für Fotos festgenommener Straftäter als Hintergrund benutzt. Als Pappkameraden waren mehrere US-Präsidenten an die Wand gestellt worden. Der erste war George Washington. Mit über 1,80 Metern war er zu seiner Zeit ein Hüne. Reagan und Bush waren beide ebenfalls über 1,80 groß. Dann flog die Kamera nach rechts unten und zeigte Mike Dukakis, der kaum 1,70 aufweisen konnte. Der angebliche Werbespruch dazu lautete: »Bush. Er ist größer.« Als Nächstes kam eine Europakarte zum Einsatz. Jetzt zeigte die Kamera die Herkunftsregionen verschiedener Inhaber des Weißen Hauses. Meist musste das Objektiv nur zwischen den diversen Gegenden Großbritanniens hin- und herschwenken, wie für Reagan und Bush. Doch dann fuhr die Kamera rasend schnell nach ganz rechts unten. Sie zeigte Griechenland mit einem kleinen, aufgeklebten Dukakis-Kopf. Der Slogan dazu: »Bush. Er ist weißer.« Natürlich hatten sich die Satiriker auch einen Spruch zugunsten des Demokraten einfallen lassen. Der Spott galt George Bush, doch das eigentliche Opfer war Barbara Bush. Die hatte sich in einem Fernsehinterview bereits die Frage gefallen lassen müssen, ob sie denn nicht eine Frau der 40er Jahre sei, gänzlich ungeeignet für die Repräsentation des modernen Amerika. Im fiktiven »Saturday Night Live« -Wahlvideo der Dukakis-Truppe wurden nun Jugendbilder von Barbara Bush gezeigt, die ein freundliches Mädchen zeigten. Dann folgten Aufnahmen, die sie als gereifte und ergraute Frau an der Seite 104
ihres Gatten porträtierten. Dazu sagte eine Stimme aus dem Off: »If that’s what he did to Barbara, what will he do to the country?« (»Wenn das seine Wirkung auf Barbara war, was macht er dann erst aus dem Land?«) Die Satiresendung war die adäquate Abbildung eines sinnentleerten Wahlkampfes. Es ging nur noch um Symbolik. Natürlich standen diese Symbole für einen Sinn. Es war indes Amerika selbst, dem schnell bewusst wurde, dass dieses Duell zwischen George Bush und Mike Dukakis von einer extremen Verkürzung all jener Themen geprägt war, die das Land bewegten. Viele Bürger wandten sich mit Grausen ab. Die Kommentare zur Qualität der Wahlkampfdebatten waren vernichtend. Die Wahlbeteiligung sank auf ein Rekordtief. Bush setzte sich letztlich klar durch – er gewann 40 der 50 amerikanischen Bundesstaaten. Amerika hatte sich selbst nach der Reagan-Ära einen Nachschlag verordnet. Ganz à la Reagan läutete Bush seine Präsidentschaft mit dem Versprechen ein: »Der Kongress wird mich drängen, die Steuern zu erhöhen. Und ich werde Nein sagen. Und die werden drängen, und ich werde Nein sagen, und die werden wieder drängen. Und ich werde denen sagen: Lest es von meinen Lippen ab – keine neuen Steuern!« »Read my lips – no new taxes!« wurde zu einem geflügelten Wort in den USA – und zu einem Vorbild für endlose Witze. »No new tuxes!«, sagen Frauen ihren eitlen Männern, wenn die glauben, für jedes Galadiner einen neuen Smoking zu brauchen. Was sein Steuerversprechen anging, kam alles anders. Der Reagan-Boom war vorbei, der Schuldenberg gewaltig. »Mit der Wirtschaft umzugehen war das Schwierigste«, sollte Bush zehn Jahre später im Rückblick sagen. Von Zentralbankchef Alan Greenspan war er enttäuscht, weil der seiner Ansicht nach zu zögerlich die Zinsen senkte und damit das Wachstum unzureichend ankurbelte. Und so erhöhte Bush eben die Steuern. Reagan hatte dies auch getan, doch Reagan konnte darüber 105
hinweglächeln. Beim aufrechten Bush galt eine Steuererhöhung als blanker Verrat. Es war schließlich die Wirtschaft, die Bush die Wiederwahl kostete. Dass die Wachstumsrate der US-Wirtschaft bei seinem Ausscheiden aus dem Weißen Haus im Januar 1993 auf über fünf Prozent gestiegen war, konnte ihn nicht mehr retten. Der Aufschwung kam zu spät. Vor allem aber fehlte Bush, was sein Vorgänger hatte. »Ich hätte halt ein Quäntchen Ronald Reagan gebraucht«, sagte Bush Jahre später. Gegen die begnadeten Kommunikatoren und Charismatiker Reagan und Clinton hatte der aufrechte Staatsdiener George Bush keine Chance. Er nahm es verbittert zur Kenntnis: »Amerika kannte meinen Herzschlag nicht.« Barbara Bush nahm in ihrem Kommentar zum Wahlausgang von 1992 kein Blatt vor den Mund: »Es wird niemanden überraschen, dass ich der Ansicht war, dass ein viel Geringerer (a lesser man by far) die Wahl gewonnen hatte.« Innenpolitisch war Bushs Präsidentschaft denn kaum mehr als eine Fußnote gewesen, ein Nachklapp der Reagan-Ära. Hier bewegte Bush kaum etwas, denn der demokratisch dominierte Kongress blockierte fast alle seine Vorstöße. Nur zwei bleibende Gesetze hinterließ er: zur Gleichstellung von Körperbehinderten und zur Verbesserung der Luftqualität. Als Vize stellte sich Bush ausgerechnet Dan Quayle an die Seite, einen Mann, dem Eignung anzudichten selbst seinen treuesten Bundesgenossen schwer fiel. Als Antwort auf die soziale Schieflage war ihm zunächst nur die Formel von den »thousand points of light«, den »tausend Lichtpunkten«, eingefallen, die entzündet werden müssten, ein Rückbezug auf die philanthropischen Impulse der Neuengland-Elite. Eben diese großbürgerlich liberale Tradition hätte Bush eigentlich auf überzeugende Weise mit der konservativen Prägung aus Texas zusammenführen können. Wäre ihm das gelungen, so hätte er eine Mitte-Rechts-Fusion erreicht, die Amerikas Stimmung passend abgebildet hätte. Doch alles 106
Populistische war Bush fremd – auch über seine ungelenken Handbewegungen, mit denen er vermeintlich guten Freunden zuzuwinken pflegte, hinaus. Dies war ein Bemühen um Vertrautheit und Wärme, das stets Illusion blieb. Reagans in Europa so umstrittener, in Amerika so positiv aufgenommener Mischung aus Patriotismus, Konservatismus und Liberalismus hatte Bush weder persönlich noch programmatisch etwas entgegenzusetzen. Aber er konnte die Reagansche Tradition auch nicht überzeugend fortsetzen, er eignete sich denkbar schlecht als Verkörperung des Erbes von Reagan. Denn der war mehr Pragmatiker als Ideologe, hatte aber ein starkes Wertegerüst, das man ihm im Land abnahm. Auch Bush hasste Theorien, er wimmelte jeden Gedanken an das »vision thing« ab, und zum Ideologen taugte er ebenfalls nicht. Nie hätte ein Amerikaner Präsident Reagan bei aller Wandelbarkeit einen Mangel an Werten oder ideologischen Grundüberzeugungen vorgeworfen. Bush dagegen wurde zur Inkarnation dessen, dem selbst die Republikaner stets mit Misstrauen begegneten und von dem sie sich latent entfremdeten, weil sie sich seiner nicht sicher sein konnten. Der Streit um die Abtreibungspolitik war da nur die Spitze dieses Eisberges. Bush weigerte sich beharrlich, die von der christlichen Rechten innerhalb seiner Partei eingeforderten Treueschwüre zu leisten, etwa das Versprechen, Richterämter nur mit erwiesenen Abtreibungsgegnern zu besetzen. Barbara Bush hat über die ungenügende Verhaftung ihres Mannes in der eigenen Partei geschrieben: »George ist immer vorgeworfen worden, er sei ein Liberaler unter einer konservativen Maske.« Sie selbst litt massiv darunter, dass rechte Republikaner ihren Mann bei Wahlkampfveranstaltungen mit Schildern begrüßten, auf denen »George Bush – Mörder!« stand. Sie selbst vertrat in der Abtreibungsfrage jene Haltung, die dem Präsidenten mehr und mehr zum Verhängnis wurde. Ein Schwangerschaftsabbruch sei »ein privates Thema, keine Angelegenheit eines Präsidenten, 107
und Moral kann man nicht gesetzlich erzwingen«, schrieb sie. George Bush sah es ähnlich. Und verlor mehr und mehr die Unterstützung der Reagan-Republikaner. Viel tiefer als tagespolitische Differenzen ging indes die kulturelle Trennung. Seine Partei verfrachtete George Bush zurück nach Neuengland, woher er einst aufgebrochen war. Dem konnte der Präsident schlussendlich nichts mehr entgegensetzen. Im Endeffekt hat Bush das Kapital, das er biografisch mitbrachte, verspielt. Und eben dies sollte die entscheidende Lehre für seinen Sohn sein, der keinen der Fehler des Vaters wiederholen wollte. Es sollte erst George W. Bush sein und nicht sein Vater, der das Erbe Reagans anzutreten wagte: Wirtschaftsliberalismus gepaart mit patriotischem Populismus und unerschütterlichen konservativen Leitgedanken, seien sie auch noch so simpel. George Bush wurde wegen seiner mageren Bilanz in der Innenund Wirtschaftspolitik abgewählt. In der Außenpolitik dagegen passten sein Pragmatismus und sein Realismus eher in eine Zeit des grundlegenden Wandels. Die Welt schätzt ihn wegen seiner Weitsicht in Dingen, die indes eher zufällig in seine kurze Amtszeit fielen. George Bush wurde zum Wächter über das Ende des Kalten Krieges, und seine außenpolitische Besonnenheit wird ihm einen Platz im Geschichtsbuch sichern. Doch die Außenpolitik, voran der Fall der Berliner Mauer, das Ende des Sowjetimperiums und der gewonnene Krieg am Golf, dominierte eben nicht den Wahlkampf 1992. In Bill Clinton hatte Bush einen Gegner, der mindestens so intelligent wie Dukakis war, aber wesentlich verschlagener. Clinton, Gouverneur des bitterarmen Südstaates Arkansas, war quasi aus dem Nichts aufgetaucht. Er hatte davon profitiert, dass sich Schwergewichte seiner Partei das Duell mit dem Kriegssieger Bush nicht zutrauten. Seine Fähigkeit, Skandale wie den um eine angebliche Beziehung zu einer gewissen Jennifer Flowers zu überleben, trug ihm rasch den Ruf eines Stehaufmännchens ein. Aber auch politisch war Clinton eine 108
große Gefahr für Bush, da er den neuen Zentrismus der Südstaaten-Demokraten verkörperte, die auch für Bürger wählbar sein wollten, denen Linksintellektuelle in den Küstengroßstädten unsympathisch waren. Derweil wurde Clintons Wahlkampfberater Dick Morris nicht müde, dem Kandidaten die Botschaft einzuschärfen: »It’s the economy, stupid!« (»Es geht um die Wirtschaft, Dummkopf!«)
Die Macht der Nummer zwei: Barbara Bush übt menschlich und politisch großen Einfluss auf ihren Ehemann George sowie ihren Sohn George W. aus. Hier Barbara und George W. während des Wahlparteitags der Republikaner 1992 in Houston. Erwartungsgemäß wurde US-Präsident George Bush erneut als Kandidat für eine zweite Amtszeit im Weißen Haus nominiert. Die Wahl im November des Jahres jedoch verlor Bush angesichts schlechter Wirtschaftsdaten gegen den Demokraten Bill Clinton.
Hatte Bush gegenüber Dukakis noch als Vertreter des wahren, patriotischen Amerikas gewirkt, so wurde er Clinton gegenüber in die Rolle des veralteten, inflexiblen Patriziers gedrängt. Zwei 109
Schlüsselszenen wurden zum Fanal von Bushs Unfähigkeit, sich auf die neue Lage einzustellen. In einer der Fernsehdebatten fingen die Kameras den Präsidenten ein, als er auf die Armbanduhr blickte. Das Bild wurde zum Symbol: Bush hatte keine Zeit für die wirtschaftlichen Nöte seines Volkes. Er wollte den Wahlkampf schnell hinter sich bringen, war also entweder hochnäsig, da er dem Emporkömmling Clinton keine Chance gab, oder hatte sich stillschweigend schon damit abgefunden, der Macht adieu sagen zu müssen. In jedem Fall war der Blick auf die Uhr, den die US-Medien wochenlang breittraten, ein Zeichen für die Missachtung der Wähler. In diese Kerbe schlug Clinton in meisterlicher Form. Besondere Raffinesse entwickelte er im Umgang mit dem Fernsehpublikum. Die Krönung seiner Technik war zu erleben, als Bush und Clinton sich einer Debatte in Form des so genannten »town hall meeting« stellten. Beide saßen halb auf Hockern, halb lehnten sie dagegen. Aus dem handverlesenen Publikum wurden Fragen an sie gerichtet, die sie in einem festgelegten Zeitrahmen zu beantworten hatten. Dem jeweils anderen Kandidaten blieb die Gelegenheit für eine knappe Replik. Bei einer Frage zur ökonomischen Lage dozierte Bush mit sichtlichem Unwillen über weltwirtschaftliche Zusammenhänge und seine Treffen mit den anderen Führern der G-7-Staaten. Dann kam Clinton an die Reihe. Er stand auf, ging vor bis an den Rand der Bühne, schritt zur ersten Sitzreihe des Publikums, sprach die Fragestellerin mit ihrem Namen an und erkundigte sich nach Einkommen, Steuerbelastung, staatlichen Zuschüssen und finanziellen Nöten. Empathie, Mitfühlen, »he cares for you«: Der Grundstein zu diesem Ruf Clintons wurde in solchen Szenen gelegt. Der Demokrat aus Arkansas wurde zu dem Mann, der Amerika verstand, der die Sorgen des Normalbürgers teilte. Jetzt war Clinton der Vertreter von »middle America«, wie es vier Jahre zuvor Bush gewesen war. Jetzt war Clinton der Kandidat, der auf der Höhe der Zeit 110
angekommen war. Sein Gegner erschien als in jeder Hinsicht überaltert, als Relikt, als gestrig. Bush war verloren. Seine Wahlniederlage verdankte er freilich nicht nur Bill Clintons Charme und Einfühlungsvermögen, sondern der parallelen Kandidatur des Texaners Ross Perot für die neu gegründete Reformpartei, die sich als Kraft der Mitte und als pragmatische Sammlungsbewegung gegen die Ideologen bei Republikanern wie Demokraten richtete. Perot griff Bush aus der Mitte an, so wie im Vorwahlkampf innerhalb der Republikanischen Partei der ultrakonservative Isolationist und Protektionist Pat Buchanan Bush von rechts außen attackiert hatte. Buchanan trieb mit einigen Vorwahlsiegen über Bush einen tiefen Keil in die Partei und lieferte Bushs Gegnern für den eigentlichen Wahlkampf willkommene Munition. Das gebrochene Steuerversprechen, die pragmatische Haltung zur Abtreibung, die Konzentration auf die Weltpolitik: All das, was vielen Republikanern von der Basis ohnedies nicht schmeckte, bekamen sie bereits während der Primaries serviert – aus den eigenen Reihen. Jedes dieser Argumente hatte fast ein volles Jahr lang Zeit, sich in den Köpfen der Wahlbürger zu verankern. Dass Bush schließlich dank der Unterstützung des Parteiapparats die Buchanan-Revolte ohne allzu viel Mühe niederschlagen konnte, trug erst recht zu seinem Ruf als blasierter Aristokrat ohne Bodenhaftung bei. Doch mit dem Vorwahlsieg war Bush ja noch nicht am Ziel. Perot, ein gewitzter kleiner Mann mit flotten Sprüchen und hemdsärmeliger Aura, zog vor allem gemäßigt konservative Bush-Wähler auf seine Seite. Das Kernthema des Computermilliardärs aus Bushs Wahlheimat war fiskalische Solidität, der Abbau der Staatsschulden, der geordnete Haushalt. Clinton sollte dereinst die meisten dieser Themen zu seinen eigenen machen. Vorerst aber galt, dass Perots »fiscal conservatism« bei potenziellen Republikaner-Wählern mehr verfing als bei Anhängern der Demokraten. Zugleich tauchte 111
Perot tief ins Reservoir der Protestwähler und Enttäuschten ein. Er errang schließlich fast 20 Prozent, bekam allerdings in keinem einzigen US-Bundesstaat die relative Mehrheit und damit die für Amerikas indirektes Wahlsystem alles entscheidenden Wahlmänner. Deren große Mehrheit bekam Clinton – dem 42 Prozent der Stimmen zu einem überragenden Sieg reichten. Die kurze Ära des George Bush ging unrühmlich zu Ende.
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7. Vom verlorenen Sohn zum Aufsteiger Am 28. Juli 1986 wachte George W. Bush, der damals als etwas schräg geltende Sohn des Vizepräsidenten, zum letzten Mal in seinem Leben schwer verkatert auf. Er hatte mit Freunden in einer Nobelherberge der Rocky Mountains etwas verspätet seinen 40. Geburtstag gefeiert. Jetzt joggte er durch die grandiose Bergwelt und beschloss, Bier und Bourbon für immer adieu zu sagen. Laura Bush berichtete, ein ganzes Jahr lang habe ihr Mann mit dem Vorsatz gerungen, den Alkohol aufzugeben, habe aber immer wieder Rückzieher gemacht. Angeblich begann die Katharsis mit einem morgendlichen Blick in den Spiegel. Bush erschrak über sich selbst: Nach einer tagelangen Sauftour waren Gesicht und Haare mit Erbrochenem verschmiert. Bis heute betont Bush jun., er sei nie im klinischen Sinne Alkoholiker gewesen. Er habe nur viel zu oft viel zu viel getrunken. Zwanghaft, im Sinne einer Abhängigkeit, habe er Alkohol nicht missbraucht. Er habe weder täglich noch tagsüber getrunken. Freunde bestätigen dies. Seine engsten Freunde indes, die Schulkameraden, hatten ihn darauf hingewiesen, dass die Grenze zwischen einem harten Feierabendtrinker und einem Alkoholiker eine fließende sei. »Wir wussten nicht, dass er ein Alkoholproblem hatte, und wir sahen ihn ja häufig«, hat seine Mutter Barbara 1999 gesagt. Dennoch war sein Trinken auch den Eltern nicht verborgen geblieben. 14 Jahre zuvor, als George W. Bush 26 gewesen war, hatte er bei einer nächtlichen Heimkehr ins Haus der Eltern beim Einparken die Mülltonne der Nachbarn erwischt und auf die Straße gestoßen. Sein Vater bestellte ihn zu sich. Als Antwort forderte der Sohn ihn zu einem Duell heraus, »einer gegen einen«. Jetzt reichte es seinem Vater endgültig. Bush wurde tags drauf für ein paar Monate – einen richtigen Job hatte er gerade 113
ohnedies nicht – in ein Jugendberatungsprojekt in Houston gesteckt, wo er mit Kindern aus der Unterschicht arbeiten musste. Mit 30 Jahren wurde Bush im Bundesstaat Maine wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss aus dem Verkehr gezogen. 150 Dollar Strafe und die Abgabe des Führerscheins waren die Quittung. Seine Festnahme geschah nur wenige hundert Meter vom Familienanwesen Kennebunkport entfernt. Damals war Trunkenheit am Steuer noch als Vergehen eingestuft, heute gilt ein alkoholisierter Autofahrer in den meisten US-Bundesstaaten als Verbrecher. Bushs Trinken erschien seinem Umfeld wie die Fortsetzung seiner Collegejahre, eher ein Zeichen von Unreife denn eine ernste Gefährdung. Für Bush selbst bestand das größte Problem darin, dass sein Charme und seine Jovialität, die entscheidenden Eigenschaften, die ihn von seinem eher starren und unzugänglichen Vater unterschieden, mit dem trinkenden Clowntypus verschmolzen waren. Bush wollte den Alkohol aufgeben, ohne Asket zu werden, ohne all den Witz und die Spontaneität zu verlieren, die ihn stets zu jenem gemacht hatten, neben dem alle beim Abendessen am liebsten sitzen wollten. Der Anfang vom Ende seiner Alkoholkarriere kam im Sommer 1985 in langen Gesprächen mit dem Prediger Billy Graham, einem Freund der Familie. Bush, der als Kind die presbyterianische und episkopalische Kirche besucht hatte, war nach seiner Hochzeit in die methodistische Gemeinde seiner Frau Laura eingetreten. Doug Wead, ein Berater seines Vaters, hat berichtet, wie unzweideutig Laura ihren Mann zur Entscheidung aufforderte. »Ich oder die Flasche!«, soll sie ihrem Mann laut Wead öfters gesagt haben. Und der wandelte sich. Er besuchte jetzt eine Bibelgruppe für Männer, las die Heilige Schrift mehrfach komplett durch und beschloss, seinem richtungslosen Leben in mehrfacher Hinsicht eine neue Orientierung zu geben. Ein Jahr später, mit dem völligen 114
Verzicht auf Alkohol, war die Umwandlung abgeschlossen. Seitdem ist Bush ein Frühaufsteher, der täglich rund zwölf Kilometer joggt und größten Wert auf Pünktlichkeit legt. An Lastern ist ihm nur eines geblieben – kurioserweise eines, das er mit Gerhard Schröder gemein hat: Er raucht gern kubanische Zigarren der Marke Cohiba. Dies hält er allerdings geheim; nur vertraute Mitarbeiter aus dem Weißen Haus wissen davon zu berichten. Im Wahlkampf 1999/2000 sollte seine Vergangenheit als Trinker mehrfach thematisiert werden. Sein Land debattierte, ob seine Vorliebe für falsch ausgesprochene Worte oder gänzlich durcheinander geworfene Silben die Spätfolge einer Lernbehinderung oder eben eine Konsequenz seines Alkoholismus waren. Von seinem Bruder Neil hat Barbara Bush berichtet, er sei von Kindestagen an wegen Dyslexie, einer Leseschwäche, in Behandlung gewesen. Als Neil Bush noch in der Grundschule war, entdeckte seine Mutter, dass er kein einziges Wort lesen konnte. Dennoch hatte er lauter Einsen im Zeugnis. Barbara Bush nahm ihren Sohn sofort von der öffentlichen Schule und meldete ihn in einer Privatschule mit einem Sonderprogramm für Kinder mit Leseproblemen an. Es half. Neil Bush sollte später in Rekordzeit seinen Master of Business Administration an der Tulane-Universität in New Orleans ablegen. In der Bush-Familie war Neil nur der bekannteste und klarste Fall von Dyslexie. George W. Bush wurde nie offiziell als lernbehindert diagnostiziert, gilt aber ebenfalls als Dyslexiker. Anfang Oktober 2001, kurz nach den verheerenden Anschlägen auf New York und Washington, suchte Bush im Weißen Haus das Gespräch mit fünf Religionsführern. Drei waren Christen, einer Jude, einer Moslem. Die Gäste waren überrascht, als ihr Präsident sie reichlich unvermittelt bat, für ihn zu beten. Dann folgte eine nicht minder unvermittelte Offenbarung. »Sie wissen ja, dass ich ein Alkoholproblem 115
hatte«, begann Bush. »Wenn alles so weitergelaufen wäre, säße ich jetzt in einer Bar in Texas statt im Oval Office. Es gibt nur einen einzigen Grund, weshalb ich hier im Oval Office bin und nicht in der Bar. Ich habe zum Glauben gefunden – ich habe Gott gefunden.« Auf 60 Millionen – bei einer Bevölkerung von knapp 280 Millionen – wird die Zahl der Amerikaner geschätzt, die sich als »born again Christian« bezeichnen, als wiedergeborene Christen. Viele sind in evangelikalen Gemeinschaften organisiert, andere bleiben bei den etablierten Kirchen. Doch sie alle gehen davon aus, dass sie ein zweites Leben gefunden haben. Eines, das begann, als sie Gott in ihr Leben aufnahmen. Solche Brüche in der eigenen Existenz sind tief eingebettet in Amerikas Kulturgeschichte. Seit dem frühen 19. Jahrhundert wiederholen sich mit einiger Regelmäßigkeit alle 30 bis 40 Jahre Phasen, in denen ein wiederbelebter Glaube das Land und seine Menschen ergreift. In Feldmessen und bei »awakenings« soll dann eine gottlos gewordene Gesellschaft zurückgeführt werden zu den christlichen Wurzeln der Staatsgründung: hin zum »neuen Jerusalem«, das Amerika sein will, zur »Stadt auf dem Berg«, zum »sicheren Hafen« für Religionsflüchtlinge aus aller Welt. Wer andernorts gestrandet oder unterdrückt ist, ist eingeladen, in diesen Hafen einzulaufen – aus ihm wird aber niemals ausgelaufen, um imperialistisch die Welt zu unterdrücken. Was immer man von solchen Erweckungserlebnissen hält, man muss sie ernst nehmen. Für George W. Bush sind seit seiner persönlichen Wende im Jahr 1986 der Glaube und sein Loskommen vom selbstzerstörerischen Alkohol unauflöslich miteinander verbunden. Ein anderer seiner spirituellen Gesprächspartner und Ratgeber, der texanische Prediger Tony Evans, hat über Bush gesagt: »Die Lehren der Bibel waren ein Grund für seinen Entschluss, sich um das Präsidentenamt zu bewerben. Er fühlt, dass Gott zu ihm spricht.« 116
Bush 43 glaubte seit 1986 an diesen Auftrag: »Ich bin davon überzeugt, dass wir unsere gesamte Kultur grundsätzlich und für immer ändern müssen. Wir brauchen spirituelle Erneuerung in Amerika.« Doch zunächst formulierte er seine Mission nur sehr vage. Mit dem 11. September 2001 änderte sich dies schlagartig. Seitdem glaubt Bush zu wissen, welchen Zweck sein Persönlichkeitswandel von 1986 hatte: Er wurde damals in die Lage versetzt, jener zu werden, der mit dem Terror ringen kann. Der Gerettete von 1986, der dem Schicksal eines privilegierten Lotterlebens entkommen war, wurde 2001 berufen, sein Land und die Freiheit der Welt zu retten. 2001 gab 1986 seinen eigentlichen Sinn. 1986 und 2001 waren zwei Schritte hin zur Erbschaft Ronald Reagans. Seitdem gibt es antikapitalistische Regungen in Bushs Rhetorik, seitdem fordert er Moral ein. Hier ist die Geburtsstunde seines Einsatzes für im Glauben wurzelnde Sozialinitiativen zu sehen, hier beginnt der Bush, der puren Ökonomismus ablehnt. Natürlich kann man behaupten, die moralistische Rhetorik sei nur die Verbrämung der umso wirtschaftsfreundlicheren Praxis. Sicher bedingt beides einander. Doch harte Interessenpolitik für das Big Business ist für einen wie Bush jun. – und war für einen wie Reagan – nur erträglich, weil es da ja noch etwas Anderes gibt, etwas Eigentliches, etwas Wichtigeres, Immaterielles. 1986 markiert auf bizarre Weise den Moment, an dem George W. Bush seinem Vater folgt – hinsichtlich Erfolg, Politik, Weißem Haus – und zugleich einen anderen Weg als der Senior einschlägt. George Bush ist ein gläubiger Mensch, aber er war nie ein frömmelnder. Er betrachtete Religion stets als Privatsache und kam auf dem rechten Flügel seiner Partei deshalb überhaupt nicht an. Die Erweckung als »born again Christian« ist ein Phänomen der Südstaaten und der unteren Mittelschicht, kein Erbe der neuenglischen Patrizierelite. Die evangelikale Entdeckung des Glaubens ist ein spirituelles 117
Moment, kein rationales, sie ist spontan, nicht vorhersagbar. Die Wertewelt, aus der Bush 41 stammt, steht dem Hyperemotionalen der religiösen Erweckung zutiefst misstrauisch gegenüber. Doch für Bush 43 machte die religiöse Erfahrung von 1986 den Weg zu Reagan frei – und verbaute die Erbschaft des Vaters. Seine religiöse Wiedergeburt und seine Abstinenz waren zwei Wandlungen des Jahres 1986. Eine weitere aus dieser Zeit betraf seine Geschäfte. Der Preis für texanisches Öl war innerhalb von wenigen Jahren von 37 auf neun Dollar pro Barrel gefallen. All jene Unternehmen, die Bushs Vater und seine Altersgenossen oder deren Kinder gegründet hatten, steckten in ihrer bislang schlimmsten Krise. In den Jahren nach 1986 zog sich George W. Bush schrittweise aus der Ölindustrie zurück. Als Miteigentümer eines populären Sportteams erging es ihm besser. Doch zu der Zeit hatte Bush sich längst ein zweites Standbein jenseits der Wirtschaft geschaffen. Mitte 1977, Bush war gerade 31 Jahre alt geworden und hatte wenig Eindrucksvolles in seinem Lebenslauf stehen, warf er erstmals seinen Hut in den Ring namens Politik. Formell war er dort Novize. Seine Erfahrung mit Wahlämtern und der Art und Weise, wie man sie in Amerika erringt, beschränkte sich auf die Mitarbeit bei drei Wahlkämpfen seines Vaters und zweier republikanischer Senatoren. Bush selbst räumte später ein, dass er 1977 mehr Lust auf Politik hatte als tatsächliche Erfahrung. Dennoch bewarb er sich für den Sitz seiner Heimatregion im »House of Representatives« in Washington, dem Unterhaus im US-Kongress. Nach einem Wahlkampf, in dem ihm seine prominente Familie häufig zum Vorwurf gemacht wurde, verlor er beim Gang an die Urnen Ende 1978. Bush ging zurück zu seiner Firma Spectrum und handelte weiter mit Explorationsrechten und Entwicklungslizenzen. Andover, Yale, Kampfpilot, die Ölwirtschaft, eine gescheiterte 118
Kandidatur für den Kongress: Jeden dieser Schritte hatte auch Bushs Vater hinter sich gebracht. Doch der nächste Versuch des Sohnes, ein politisches Amt zu erringen, war nicht nur ungleich erfolgreicher als die Bewerbung von 1977/78, er war auch ein emanzipatorischer Schritt. Bush 43 war zutiefst bemüht, jener hemdsärmelige und schulterklopfende Texaner zu werden, den sein spröder, patrizierhafter Vater nicht einmal glaubhaft mimen konnte. Bush 43 rang so sehr um die neue Identität, dass er sogar in der Hitze des texanischen Augusts mit der Axt Sträuchern und Buschwerk zu Leibe rückte – ein Sinnbild für die Bodenhaftung des neuen Grenzers, dessen körperlichen Strapazen ein echter Texaner sich entzogen hätte. Der jätet im Spätherbst, wenn es endlich kühl geworden ist. Der junge Bush war nie ein Cowboy, er wollte aber stets einer sein. Es lag in der Logik dieser von Texas geprägten Persönlichkeit George W. Bushs, dass sein zweiter politischer Anlauf keinem Bundesamt galt, sondern dem Titel des Gouverneurs von Texas. Im Frühjahr 1993 entschied sich Bush für die Kandidatur. Vier Jahre zuvor war bereits spekuliert worden, er könne antreten, doch eine Bewerbung hätte zu sehr danach ausgesehen, als wolle der Sohn sich im Windschatten des Vaters profilieren. Damals, 1989, gestand er: »Wissen Sie, ich könnte mich als Gouverneur bewerben. Aber eigentlich bin ich eine Erfindung der Medien. Ich habe noch nie etwas getan. Ich habe für meinen Dad gearbeitet; ich habe in der Ölindustrie gearbeitet. Aber das ist nicht jenes Profil, das man haben muss, wenn man ein Wahlamt erringen möchte.« Jetzt, 1993, war der Vater ein Expräsident und Politikrentner. Der Sohn war auf sich gestellt. Dies bedeutete auch: Der Weg war frei. In seiner Autobiografie schreibt George W. Bush, die Entscheidung sei am 1. Mai gefallen. Er habe sich so sehr über den Plan der demokratischen Gouverneurin Ann Richards geärgert, die lokalen Schulsteuern künftig landesweit umzuverteilen, dass er ihr die Stirn bieten und kandidieren 119
wollte. Sein Biograf Minutaglio jedoch schreibt, schon im Februar 1993 habe Bush beschlossen, gegen Richards anzutreten. Da war er gerade einen Marathon in drei Stunden 44 Minuten gerannt. Bushs Programm konzentrierte sich auf vier Themenfelder: Kriminalitätsbekämpfung, Prozessrechtsreform, Sozialhilfereform und Bildung. An Leutseligkeit konnte er es mit Richards aufnehmen, an Bekanntheit zunächst nicht. Sein Beruf als Sportmanager half ihm indes, und ebenso taten es die Freunde und Unterstützer seines Vaters. 17 von 20 seiner Großspender hatten bereits für den Vater mehr als 20.000 Dollar zur Verfügung gestellt. Bush betonte jetzt immer wieder: »Ich will nicht, dass Texas wie Kalifornien wird.« Dies war ein Seitenhieb auf Richards’ viele Freunde aus dem liberalen Hollywood. Richards, die von Bush immer korrekt als »Gouverneurin« angesprochen wurde, revanchierte sich mit drastischen Bemerkungen über den Republikaner. Sie bezeichnete ihn als einen »dahergelaufenen Idioten, der sich um ein Amt bemüht«, und nannte ihn auch gerne »shrub«. Im Englischen ist dies das Wort für einen flachen und zerzausten Busch, also einen kleinen, überhaupt unansehnlichen »bush«. Entscheidend aber war für Bushs ersten politischen Sieg das Timing: 1994 war das ganze Land enttäuscht von Bill Clinton. Dessen Großprojekt, die Reform der Krankenversicherung, war gescheitert. Linksliberalen passte zudem sein Einknicken bei der Öffnung des Militärs für Homosexuelle nicht. Gemäßigten war Clinton zu links, Durchschnittsamerikanern zu schrill und selbstverliebt. Der Regierung und Washington stand das Land mit einem nie gekannten Zynismus gegenüber. Gewählt wurden Neue, Junge, Unbekannte, Außenseiter. Die Welle, die 1994 Newt Gingrich zum republikanischen Chef im Repräsentantenhaus, für ein paar Jahre also zum mächtigsten Mann der Nation und sein Programm »Contract with America« zur neuen politischen Bibel machte, spülte eher nebenbei Bush in den 120
Gouverneurspalast in der Landeshauptstadt Austin. Er gewann mit fast zehn Prozentpunkten Vorsprung gegen eine populäre Amtsinhaberin – ein sensationeller Triumph. Am selben Tag, als George W. Bush in Texas gewann, verlor sein jüngerer Bruder Jeb. Er hatte sich in seiner Wahlheimat Florida um das Amt des Gouverneurs beworben. Doch vier Jahre später sollte es auch dort klappen.
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8. Karriere in Eile In Texas ging George W. Bush ebenso zielstrebig wie unkonventionell an die Festigung seiner neuen Macht. Als das Urgestein der texanischen Politik galt der Demokrat Bob Bullock, ein alter Haudegen und vom Volk direkt gewählter Vizegouverneur, ein Exalkoholiker und der unbestrittene Königsmacher im Staate. Neben Bullock war der demokratische Sprecher des Landesparlaments ein zweiter Politiker von der Gegenpartei, mit dem Bush den Schulterschluss suchte. Sein Versuch, überparteiliche Koalitionen zu schmieden, war eine politische Notwendigkeit. Die Landesverfassung gibt dem Gouverneur weniger Rechte als etlichen anderen hohen, gewählten Repräsentanten. Bush musste auch um Unterstützung unter den Abgeordneten werben, damit seine exekutiven Akte Bestand haben konnten. Im Präsidentschaftswahlkampf betonte Bush später wieder und wieder, dass er für Allianzen über Parteigrenzen hinweg, dass er für Kooperation und für einen pfleglichen Umgang mit dem politischen Gegner stehe: »I’m a uniter, not a divider« (»Ich sorge für Eintracht, nicht Zwietracht«). Es war dies eine Devise, der er in Texas folgen musste – und auch tatsächlich folgte. Sein erstes Projekt, die Prozessrechtsreform, setzte er innerhalb weniger Wochen um. Sie war unternehmerfreundlich: Für Schadenersatzforderungen galt eine neue Obergrenze, und Verfahren mussten am Sitz der Firma angestrengt werden, nicht am Ort des Schadens. Da lokale Geschworene meist die Interessen Ortsansässiger eher berücksichtigen, war auch dieser Aspekt ein enormer Vorteil für die Wirtschaft. Auch aufgrund des Einflusses seiner Frau Laura hatte Bush sich intensiv um die Bildungspolitik gekümmert. Wahlfreiheit und Dezentralisierung waren zwei seiner Ansätze, mehr 122
moralische Erziehung und striktere, einheitlichere Erfolgskontrollen waren zwei weitere. Die Diagnosen, ob Bushs Arbeit erfolgreich war, fallen verschieden aus. Mehrheitsmeinung ist aber, dass sich Texas ein Stück weit aus seinen zuvor miserablen Verhältnissen im Schulwesen hat vorarbeiten können. Auch in der Bildungspolitik übertrug Bush einen seiner texanischen Ansätze später auf die Bundesebene: Schulen, die dauerhaft unterdurchschnittlich getestete Schüler produzierten, wurden mit Schließung und Reorganisation unter Landesaufsicht bedroht. Bushs Mischung aus Wirtschaftsliberalismus und Sozialkonservatismus sowie sein Einsatz für Sicherheit und Bildungschancen öffneten ihm ein Wählerpotenzial, das die Republikaner bislang sträflich vernachlässigt hatten: die Hispanics, die Einwanderer aus Süd- und Mittelamerika. Schon 1994 hatte Bush ein Drittel der eher den Demokraten zugerechneten Latinostimmen bekommen. Ende 1998, bei seiner bundespolitisch stark beäugten Wiederwahl, war es die Hälfte. Das Signal war klar: Ein patriotischer Konservativer mit Herz, der in einzelnen Bereichen moderate Politik macht und sich als freundlich und jovial präsentiert, kann gewinnen. Genau so jemanden suchte die Republikanische Partei. Sein Empfehlungsschreiben gab Bush ab, als ihm 69 Prozent der Stimmen seiner Texaner eine zweite Amtszeit bescherten. Bush hatte nicht mehr nur einen bekannten Namen. Jetzt hatte er bewiesen, dass er siegen konnte – und Siege wiederholen. Und noch etwas brachte er aus Texas mit. Zur besseren Unterscheidbarkeit von seinem gleichnamigen Vater bürgerte es sich ein, dass der Gouverneur mit seinem zweiten Vornamen Walker, kurz »W«, gerufen wurde. Ein »W« spricht man im Amerikanischen ungefähr »Dabbelju« aus, und texanisch verkürzt wurde daraus sein künftiger Spitzname: »Dabbja«. George Bush hat seinen Sohn aber auch darüber hinaus freundschaftlich aufgefordert, auf Unterschiede zu bestehen. Im August 1998 hat er ihm einen Brief geschrieben: »Beim einen 123
oder anderen Punkt wirst du sagen wollen: ›Da stimme ich nicht mit meinem Dad überein.‹ Oder: ›Offen gesagt, da irrte mein Dad.‹ Tu es. Plane deinen eigenen Weg, nicht nur bei Sachthemen, sondern auch beim Definieren dessen, wer du bist. Niemand wird je infrage stellen, dass du deine Familie liebst.« Dass der Sohn dem Vater folgen würde, und dann auch noch wie dieser ins Weiße Haus einziehen konnte, war nicht geplant. George W. Bushs jüngerer Bruder Jeb, seit Anfang 1999 republikanischer Gouverneur von Florida, galt als der politischere, gerissenere und fähigere Kopf. Nach den moralischen Wirren der Clinton-Zeit, vor allem nach dem Skandal um des Präsidenten Liebelei mit Monica Lewinsky, der eben nicht nur der amerikanischen Rechten, sondern einem breiten Teil der Gesellschaft die Unzuverlässigkeit der 68erGeneration zu beweisen schien, sehnte sich ein großer Teil der US-Bevölkerung nach etwas Verlässlichem, etwas Klarem, gern auch einfach Strukturiertem, aber eben Solidem. Früh im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2000 setzte daneben ein Automatismus ein. Wer in der Republikanischen Partei Rang und Namen hatte, pilgerte in die texanische Regierungsstadt Austin. Bush hatte die Bekanntheit seines Namens, er hatte den zweimaligen Wahlsieg in Texas hinter sich – rasch galt er als der unvermeidbare Kandidat. Entsprechend schnell konnte er Rekordsummen an Parteispenden eintreiben. Noch unvermeidbarer schien seine Wahl zu sein. Geld, Name, Unterstützer (»endorsements«): All drei Faktoren wirkten zusammen und bestärkten sich gegenseitig. Zum einzigen ernsten Konkurrenten während der parteiinternen Vorwahlen erwuchs ihm John McCain, Senator aus Arizona, Kriegsheld aus der Vietnamzeit und dort nach seinem Abschuss jahrelang Gefangener in Hanoi. McCain gab sich unabhängig, erwachsen, unbeirrbar. Sein Waffenruhm machte ihn zum wahren Patrioten. Sein Eintreten für Reformen zog gut in der politischen Mitte und bei unabhängigen, nicht 124
parteigebundenen Wählern. Der kleine Neuenglandstaat New Hampshire, wo man sich von Parteibürokraten ungern seine Präferenzen vorschreiben lässt, war sein Idealstaat. Hier durften als unabhängig eingetragene Wähler in der republikanischen Vorwahl mit abstimmen. McCain wollte den Saustall Washington ausmisten, die Macht der Lobbys über die Politik brechen, Parteispenden begrenzen, Steuern senken, das Militär stärken, Amerika führen, Integrität wiederherstellen. Nach der ersten Vorwahl in Iowa, wo Bush gewann, galt New Hampshire als der eigentliche Test für die Stärke der republikanischen Konkurrenten. McCain fuhr einen haushohen Sieg ein; Bush landete mit fast 20 Prozentpunkten Rückstand auf Rang zwei. Der Höhenflug Bushs schien beendet. McCain kam auf die Titelseiten von Time und Newsweek und war Amerikas neuer Held. Vor allem die Presse liebte ihn. McCain, der stets für emotionale Ausbrüche gut war, galt als der Außenseiter, der Quereinsteiger, als derjenige, der dem Establishment gefährlich wurde, als die Sensation, die Hoffnung. In seinem Bus, dem so genannten »straight talk express«, fuhr er durchs Land, nahm Begegnungen vor Ort wichtiger als Fernsehwerbung und ließ grundsätzlich alles zitieren, was er von sich gab. Tausende von Studenten wurden zu »McCainiacs«, wie sich seine Anhänger nannten. Bush hatte es plötzlich mit einer veritablen Erhebung der kleinen Leute zu tun, mit einer kraftvollen Bewegung der Basis. Henry Kissinger, dem US-Außenminister Mitte der 70er Jahre, fiel beim Blick auf die Generation des jungen Bush auf, wie sehr sich der persönliche Erfahrungshintergrund innerhalb weniger Jahrzehnte verschoben hatte. »Bush war nie in Europa, Bush hat keine europäischen Freunde«, sagte Kissinger. »Französische Politik muss man ihm erklären, indem man mit Habsburg und Talleyrand anfängt. Für die aber interessiert sich niemand in Texas.« Auch Kissinger unterstützte im Vorwahlkampf McCain. Doch der 125
Parteimaschine war der unberechenbare Überraschungskandidat ein Grausen. Entsprechend geballt warf die Führung nun in die Schlacht, was sie ihm entgegenzusetzen hatte: Geld, Medienmacht, Kampagnenstärke. Bush war nun der Einzige, der McCain stoppen konnte, jenen Mann, dem die Unabhängigen in Scharen zuliefen, während er republikanische Kernwähler mit seinen relativ liberalen Positionen vor den Kopf stieß. Das Schlachtfeld hieß South Carolina. Dort würde die nächste Vorwahl stattfinden, dort musste sich entscheiden, ob die Partei oder der Solist stärker war. Hier würde der vorzeitige Endkampf zwischen einer reifen, aber schwierigen Persönlichkeit und dem Kandidaten, der zuallererst Sohn seines Vaters war, stattfinden. Bushs Truppen beschuldigten McCain, nicht eigensinnig, sondern konfus zu sein. Sie legten den Wählern nahe, der Senator habe die jahrelange Haft in nordvietnamesischen Gefängnissen psychisch nicht unbeschadet überstanden. Inhaltlich bot die Abtreibungsfrage einen Angriffspunkt. McCain wurde der programmatischen Unzuverlässigkeit bezichtigt. Dabei vertrat er liberal eingefärbte Positionen, die der ältere George Bush einst auch eingenommen hatte. South Carolina bot eine gute Ausgangsbasis für diese Attacke von rechts. Der Bundesstaat ist in seiner republikanischen Wählerschaft streng konservativ; Unabhängige durften anders als in New Hampshire nicht mit über den Parteikandidaten abstimmen. Um seine Verwurzelung im konservativen Lager zu unterstreichen, wählte Bush einen Ort für einen Auftritt aus, der zu einer der kontroversesten Debatten der gesamten Vorwahlen führen sollte. Der Texaner hielt eine Rede an der Bob Jones University, einer fundamentalistisch protestantischen Privathochschule mit 3.500 Studenten. Die Universität verbot »interracial dating«, also Intimbeziehungen und die Anbahnung derselben zwischen Studenten unterschiedlicher »Rasse«, wie dies in den USA recht 126
unverstellt genannt wird. Unterstützte Bush also implizit die doch längst überwundene Rassentrennung im Süden? Wollte er die »Reagan Democrats« für sich gewinnen, indem er sich als »segregationist« zeigte, als Anhänger der Südstaatenversion der Apartheid? Bush sagte später, er habe von den universitätsinternen Regeln nicht gewusst. Dennoch definierte der Bob-Jones-Besuch sein Bild in der Öffentlichkeit. Denn landesweit wurde der Gouverneur aus Texas erst in diesen Monaten eine vertraute Person. Er war jetzt der, den die linke Mitte hasste, weil er McCain brutal niedergekämpft und sich bei rassistischen Südstaatlern angebiedert hatte. Im Kampf gegen McCain und rund um den Bob-Jones-Besuch entstand jener Bush, den das liberale Establishment verachtete. Bush gewann dank der Mobilisierungsarbeit, die die Parteimaschine für ihn leistete, zunächst South Carolina und dann den »Super Tuesday«, die gleichzeitigen Vorwahlen in einer ganzen Reihe von US-Bundesstaaten. Der Kampf war gelaufen. McCain zog sich zurück, und die Medien und Tausende seiner Anhänger weinten ihm zahlreiche Tränen nach. Auch Bushs Gegner aus der Demokratischen Partei stand rasch fest. Bill Bradley, ein linksliberaler Exsenator und ehemaliger Basketballstar aus New Jersey mit einer deutschstämmigen Frau, hatte gegen Al Gore keine Chance. So konnte es nun zum Duell der Favoriten kommen, zum Zweikampf Bush gegen Gore. Beiden fehlten indes noch die Kandidaten für den Posten des Vizepräsidenten. Bis zu den hochsommerlichen »Conventions«, die bei den Republikanern in Philadelphia und bei den Demokraten in Los Angeles stattfanden, mussten sie gekürt sein. Bush setzte eine Findungskommission unter der Leitung von Dick Cheney ein, der unter seinem Vater Verteidigungsminister und schon unter Ford, gemeinsam mit Rumsfeld, im Weißen Haus gewesen war. Cheney hatte während der Clinton-Jahre als Vorstand für den Ölriesen Halliburton gearbeitet. Er soll zuvor 127
als reicher Mann magere 3.000 Dollar für Bush gespendet haben. Sein Unternehmen dagegen war ein Schwergewicht. 100.000 Menschen arbeiteten in 120 Staaten für Halliburton, einen Multi, der rund ums Öl alles organisiert. Das Unternehmen hatte auch massive Interessen in Saudi-Arabien, und das Gesamtvolumen der Geschäfte mit dem Irak soll unter der Ägide Cheneys 73 Millionen Dollar betragen haben. Schließlich wurde der »head hunter«, als der er eingesetzt worden war, selbst entdeckt: Bush kürte Cheney zu seinem Vizekandidaten. Cheney brachte Erfahrung und einen streng konservativen Abstimmungszettel aus dem Kongress mit. Doch seine Kür folgte nicht den Kriterien, die üblicherweise angelegt werden. Er stellte keine nennenswerte regionale Balance her, er garantierte nicht den Sieg in einem wichtigen, aber umkämpften Bundesstaat. Cheneys Wyoming war ohnehin erzkonservativ. Gore verhielt sich ähnlich, wenngleich er ein noch höheres Risiko einging. Sein Vizekandidat Joe Lieberman war orthodoxer Jude und Senator aus dem neuenglischen Kleinstaat Connecticut. Neuengland galt auch ohne ihn als demokratische Bastion; die eher republikanischen WASPs in der Tradition eines Prescott Bush waren längst eine Minderheit geworden. Doch ob mit Lieberman die »Reagan Democrats« in den Südstaaten zurückzuholen waren, blieb die große Frage. Moralische Klarheit bot Lieberman. Er hatte als erster TopDemokrat Clinton wegen Lewinsky scharf angegriffen. Aber seine Religion galt vielen als vor allem im Süden nicht mehrheitsfähig. Die Entscheidung im November 2000 versprach knapp zu werden. Daran änderten auch die drei Fernsehduelle zwischen Bush und Gore nichts. »Falls ich ihn nicht vollsabbere oder beiße, gewinne ich«, raunte Bush einem Vertrauten vor der ersten Auseinandersetzung zu. Gore galt als gewiefter Debattenredner, als intellektuell überlegen, als politisch viel erfahrener. Aber dieses Kapital verspielte er. Im Vorfeld des 128
Duells hatte er durch großmäulige Behauptungen von sich reden gemacht. Er hatte sich als Erfinder des Internets und als Vorbild für den Roman Love Story bezeichnet. Er hatte für Aufsehen gesorgt, als er für eine kamerawirksame Kanufahrt zur Betonung seines Ökoimages eigens einen fast leer getrockneten Fluss durch das Öffnen des dahinter liegenden Stausees hatte schiffbar machen lassen. Und Gore hatte eine feministische Schriftstellerin angeheuert, die gegen ein horrendes Honorar den Rat gab, Gore müsse eben nun ein Alphatier werden und möge doch aus Gründen der Erdverbundenheit lieber braune Anzüge tragen. Gore wurde zum Gespött der Nation. Sein zentraler Schlachtruf, »I’ll fight for you!«, kam in der gemächlichen Atmosphäre der späten Boomjahre seltsam deplatziert daher. Bush dagegen hielt sich an sein Skript, verhedderte sich selten, kam als »likeable fellow« herüber und gewann Sympathien. Gores Hauptproblem aber war der Umgang mit seinem Parteifreund Bill Clinton. Gore musste eigene Ideen entwickeln, er musste sich damit zwangsläufig in Opposition zu Teilen der von ihm mitverantworteten Regierungspolitik begeben und hatte vor allem die Lewinsky-Affäre und Clintons Umgang mit moralischen Maßstäben zu kritisieren. Dabei durfte er aber nicht jene Wähler vor den Kopf stoßen, die Bill Clintons unbestrittenem Charme erlegen waren, Gore aber als hölzernen Apparatschik wahrnahmen. Wie schwierig dies war, wurde bei der »Convention«, dem großen Wahlparteitag zur offiziellen Kür des Präsidentschaftskandidaten, in Los Angeles deutlich. Die erste Nacht diente dem Bejubeln der Clintonschen Wirtschaftszahlen. Der Präsident wurde live auf einer Leinwand gezeigt, wie er durch die Katakomben des »Staple Center« energisch der Bühne zueilte. Knapp zwei Minuten dauerte dieser mediale Triumphzug. Im Dreisekundentakt wurden dazu Botschaften eingeblendet: geringste Arbeitslosigkeit seit 38 Jahren, längste 129
Wachstumsphase der gesamten US-Geschichte, geringste Kriminalitätsrate seit 39 Jahren, 21 Millionen neu entstandene Jobs seit 1992, weniger Drogen, weniger Abtreibungen, höherer Mindestlohn, weniger Morde, so viele Eigenheimbesitzer wie noch nie, Tiefststand bei den Sozialhilfeempfängern – und, und, und. Bei so vielen Erfolgsmeldungen blieb Gore kaum Raum, sich selbst zu positionieren. Was sollte auch seine Botschaft sein? Weiter so? Im März 2000 hatte die Börse ihren Zenit überschritten, der Absturz auf Raten zeichnete sich längst ab. So versuchte Gore einen Spagat: Er werde Amerika Clintons Wohlstand ohne Clintons Skandale bescheren.
Der ehemalige Generalstabschef der US-amerikanischen Armee, Colin Powell, steht am 4. November 2000 bei einem Wahlkampfauftritt in Michigan zwischen dem späteren Sieger der Präsidentenwahl, George W. Bush und dessen Stellvertreter Dick Cheney. Der 63-jährige Powell wird nach seiner Nominierung durch Bush am 16. Dezember der erste Afroamerikaner an der Spitze des Außenministeriums.
Auch Bush fand seine Botschaft. Nun, da er die Vorwahlen gewonnen hatte, konnte er sich um die Mitte kümmern. Er tat es, indem er die Sorgen der »Soccer Mums« genannten, 130
durchschnittlichen Vorstadtfrauen ernst nahm. Mehr Bildung, sichere Renten, bessere Schulen, mehr Sicherheit – das waren seine zentralen Themen. Bush unterstrich sie, indem er Überparteilichkeit zu signalisieren bemüht war. Sein Vorstellungsvideo in Philadelphia begann mit einer Aufnahme von John F. Kennedy, der für eine Generation voller Hoffnungen und voller Werte stand. Doch diese Werte, so die Botschaft, hätten Clinton und Gore nun endgültig verraten. Bush schloss mit einem vergifteten Lob für Bill Clinton. »Unser gegenwärtiger Präsident verkörperte die Versprechungen einer Generation: So viel Charme! So viele Fähigkeiten!« Dann kam der Nachsatz, der vielen in seinem Land aus der Seele sprach: »Aber wozu?« Um das Land in schmutzigen Affären zu ertränken? Bush versprach zuallererst Reinigung. Über die Außenpolitik sprach er nicht lang. Aber er kündigte, vielleicht prophetisch, etwas an. Wenn die USA ihre Soldaten in ferne Länder schickten, dann müsse »die Sache gerecht, das Ziel klar, der Sieg überwältigend« sein. Alle anderen Botschaften richteten sich an die Mitte. Die Mauer zu den Unterprivilegierten seines Landes wolle er einreißen, versprach er beispielsweise. Es war kein Zufall, dass von dem wenige Monate alten Bob-Jones-Bush nichts mehr zu sehen war. Kein einziger Vertreter der religiösen Rechten trat auf, dafür aber eine ganze Phalanx schwarzer Republikaner und der offen homosexuelle republikanische Abgeordnete Jim Kolbe, der den Freihandel preisen durfte. Bush selbst beerdigte das traditionelle Mittel republikanischer Selbstzerfleischung, den Streit über die Abtreibung, mit einem salomonischen Doppelsatz: »Ich werde unser Land zu einer Kultur führen, die das Leben respektiert, das Leben der Älteren, der Schwachen, der Jungen und der Ungeborenen. Wohlmeinende können hierzu unterschiedlicher Ansicht sein.« Das von der Parteirechten geforderte Bekenntnis, nur klare Abtreibungsgegner zu Bundesrichtern zu machen, legte Bush 131
nicht ab. Mike Huckabee, republikanischer Gouverneur in Clintons Heimatstaat Arkansas, fand damals die schönste und treffendste Umschreibung für das moderate, mitfühlende Image, das sich Bushs Republikaner in Philadelphia zu geben versuchten: »Parteitage haben normalerweise mit Rohfleisch zu tun«, meinte Huckabee. »Wir feiern hier ein politisches Vegetarierfest!« Der in Europa viel beachtete Umstand, dass Bushs Texas neben Virginia die meisten Hinrichtungen aller USBundesstaaten durchführte, spielte in Amerika keine Rolle. Als Gouverneur hatte Bush 152 Exekutionen angeordnet. Auch Gore war ein klarer Befürworter der Todesstrafe – ebenso wie Hillary Clinton, die sich im Bundesstaat New York für einen Senatorensitz bewarb. Ihr Mann Bill Clinton hatte kurz zuvor eine lange Jahre ungenutzte Einrichtung der Bundesregierung für Exekutionen mit den ersten Todeskandidaten versorgt. Als letzter Aufreger betrat dann erneut Ross Perot die Bühne, jener Texaner, dessen knapp 20 Prozent der Stimmen 1992 Vater Bush die Wiederwahl und damit die Präsidentschaft gekostet hatten. Unmittelbar vor der Wahl sprach sich Perot nun für den Sohn aus und empfahl seinen Anhängern in der gespaltenen Reformpartei die Stimmabgabe zugunsten von George W. Bush. Unter dem seien keine Skandale zu erwarten, argumentierte Perot. Und sprach einen Satz, den nach der Lewinsky-Affäre jeder in den USA verstand: »Wir können es uns nicht noch einmal leisten, einen Präsidenten zu haben, den wir erst stubenrein machen müssen!« Dass Amerika die spannendste Wahlnacht seiner Geschichte bevorstand, ahnte noch am Morgen des 7. November 2000 keiner. Der Wahltag war, wie stets, ein Dienstag, ein normaler Werktag. Es war in weiten Teilen der USA herbstlich kühl und wolkenverhangen. Die Amerikaner gingen frühmorgens auf dem Weg zur Arbeit, während der Mittagspause oder am Feierabend 132
an die Wahlurnen. Abends setzten sie sich vor die Fernseher, um zu erfahren, wer Clinton denn nun ins Weiße Haus folgen würde. Es sollte eine lange Nacht werden. Gespannt starrte eine ganze Nation und bald auch die halbe Welt auf eine große Landkarte, die die 50 Bundesstaaten der USA zeigte. Es ging um Bush oder Gore – beziehungsweise um Rot oder Blau. Rot – das war ein Staat, der an Bush fiel. Blau – das war ein Bundesstaat, den Gore für die Demokraten erobert hatte. Bei Präsidentschaftswahlen fallen fast alle Bundesstaaten komplett an den siegreichen Kandidaten, egal, ob er mit 51 zu 49 Prozent oder mit 99 zu einem Prozent gewinnt. Der Sieger erhält dann alle Wahlmännerstimmen (»Elektoren«) dieses Bundesstaates, deren Anzahl wiederum sich nach dessen Einwohnerzahl richtet. Offiziell sind es dann die Elektoren, die im indirekten System der USA den Präsidenten wählen. Als um 18 Uhr amerikanischer Ostküstenzeit die ersten beiden Bundesstaaten ihre Wahllokale schlossen, begann der Abend, wie dies erwartet worden war: Rot. Der Gouverneur von Texas sicherte sich die Wahlmänner der Bundesstaaten Kentucky und Ohio. Um 19 Uhr folgte die zweite Runde der Prognosen. Im alten Süden, rechts unten auf der USLandkarte, begann sich ein rotes Band zu formen, das bis weit hinauf in den Norden reichte. Im Gremium der Elektoren, die Mitte Dezember den Nachfolger Clintons wählen sollten, hatte Bush schnell einen Vorsprung. Um 19.50 Uhr rückte zum ersten Mal jener Bundesstaat in den Blickpunkt, der zum Schauplatz einer dramatischen Posse werden sollte. Florida wurde blau eingefärbt. Als kurz darauf Gore auch zum Sieger in den Industriestaaten Michigan und Illinois erklärt wurde, saß der Vizepräsident in einem Hotel in Nashville mit Lieberman beim Abendessen. Die beiden Demokraten, mit ihren Frauen Tipper und Hadassah an der Seite, sprangen auf, reckten die Fäuste in die Luft und umarmten sich. Mit Florida und Michigan in der Scheuer lag 133
Gore auf Siegeskurs. Denn er schien in den kritischen »Schaukelstaaten« mit ihren »Soccer Mums« und Wechselwählern zu gewinnen, während Bush lediglich dort, wo niemand an seinem Sieg gezweifelt hatte, Elektorenstimmen gewann. So schien es. Das wussten auch die Getreuen von Bush, die sich in der Wahlnacht im »Four Seasons«-Hotel in Austin zusammengefunden hatten. Der Medienreferent Bushs gestand später, wie düster die Stimmung nach der Niederlage in den wahlmännerreichen »swing states« Florida und Michigan gewesen sei: »Die Lichter gingen aus.« Bush entschied sich für den ersten Schauplatzwechsel der noch jungen Nacht. Zittern wollte er lieber in vertrauter Umgebung. Mit Frau, Geschwistern und Eltern zog er vom Hotel in seine Gouverneursresidenz. Um 20 Uhr Washingtoner Zeit war erstmals Gleichstand erreicht. Bush hatte 121, Gore 119 Wahlmänner hinter sich gebracht. Bill Daley, der Wahlkampfchef Gores, war optimistisch: »Wir werden siegen!« Denn nun hatte Clintons Stellvertreter die »großen drei« Schaukelstaaten sämtlich in sein Lager gezogen: Florida, Michigan und Pennsylvania. Ohne einen einzigen Sieg dort schien Bush verloren. Einer, der Bush noch lange nicht aufgegeben hatte, war Karl Rove. Der republikanische Chefstratege hatte eigene Zahlen aus internen Umfragen, die vor allem in Florida das Gegenteil dessen prognostizierten, was das Fernsehen unisono vermeldete. Rove war sich sicher, dass der Sonnenstaat noch nicht verloren war. Nonstop telefonierte er mit Wahlbeobachtern, Offiziellen und Medienvertretern vor Ort. Ganz unten im Tal der sich offenbar abzeichnenden Niederlage gab sich der Spitzenkandidat selbst nachdenklich. »Ich habe mir nie Illusionen gemacht, was es bedeutet, gegen einen Amtsinhaber anzutreten, der von einer gut gehenden Wirtschaft und Frieden in der Welt profitiert«, meinte Bush in seiner Residenz und griff zum Telefon, um Wähler im Westen zum Urnengang zu 134
motivieren. Denn dort, in Kalifornien, dem Bundesstaat Washington und in Oregon, wurde noch immer abgestimmt. Sein Vater, der Expräsident, saß tief in sein Sofa eingesunken daneben. »Nervös und stolz« sei er. »Dies ist schlimmer als 1992!«, sagte Bush 41 in Gedanken an seine eigene Niederlage gegen Clinton. Um 21.50 Uhr passierte, was Karl Rove seit Stunden verlangt hatte: Alle US-Fernsehsender zogen die blaue Einfärbung Floridas zurück. Die Zahlen seien zu uneinheitlich, wurde Amerika verkündet, man habe den Bundesstaat vorschnell auf Gores Konto verbucht. Für Bushs Umfeld war dies der Startschuss für massive Medienschelte. Da sehe man es wieder, so Rove, wie die liberalen Medien durch vorschnelle Festlegungen Amerikas Konservative verunsicherten. Denn wer werde im Westen noch an die Urnen gehen und für Bush stimmen, wenn der bereits als chancenlos betrachtet wurde? Nach den ersten Ergebnissen aus den Rocky-MountainsStaaten, einer sicheren republikanischen Hochburg, lag Bush mit 212 Elektoren vor Gore mit 167. Amerika glich einem roten Ozean mit blauen Einsprengseln nur an der nördlichen Ostküste und rund um die Großen Seen. Innerhalb der nächsten 40 Minuten kippte die Stimmung. Plötzlich war es Gore, dem es an Siegesoptionen zu mangeln schien. Es rückte in den Bereich des Wahrscheinlichen, dass Bush zwar alle großen Schaukelstaaten verloren hatte, dafür aber sämtliche kleinen gewinnen konnte. Das war sein Plan B gewesen. Kurz nach Mitternacht begann die vermeintliche Endphase des Bangens. Bush hatte sich mit 246 Wahlmännerstimmen nahe an die magische 270er-Grenze, die einfache Mehrheit im Elektorenkollegium, geschoben, Gore mit 242. Alle Blicke richteten sich auf den Sonnenstaat, auf Florida. Seinen Bruder Jeb warnte der Präsidentschaftskandidat nur halb im Scherz: »Wenn du mir nicht Florida bringst, gibt es ein frostiges Thanksgiving!« 135
Als die ersten Fernsehkommentatoren kurz nach ein Uhr begannen, die Aura des Ernsthaften zu verlassen, und offen nach Pizza oder ihrem Bett riefen, waren in Florida 94 Prozent der Stimmen ausgezählt. Bush hatte 2,671 Millionen, Gore 2,651. Doch die beiden noch fehlenden Landkreise lagen in der Region Miami, einer demokratischen Hochburg. So schob sich mit jedem Zwischenstand der Vizepräsident näher an den Gouverneur.
Zwischen Hoffen und Bangen: Die wohl spannendste Wahlnacht in der amerikanischen Geschichte erlebte Kandidat George W. Bush im Kreise seiner Familie. Entscheidend war das Wahlergebnis aus dem heiß umkämpften Bundesstaat Florida, dessen Wählerstimmen noch einmal ausgezählt werden mussten. Am Ende reichte es knapp für den Sieg.
Zwei Stunden lang tat sich überhaupt nichts. Als schließlich das kleine Iowa seinem Rivalen Gore zugeschlagen wurde, war auch rechnerisch für beide jede Alternative zum Sieg in Florida verbaut. Die Wahlarithmetik lief nach einer verwirrenden Nacht 136
nun auf eine verblüffend einfache Formel zu. Es stand 249 zu 246 Stimmen für Gore, und wer von beiden gewinnen wollte, musste die 25 Wahlmännerstimmen aus Florida holen. Unklar blieb nur, weshalb aus Florida kein Endergebnis kam – bis durchsickerte, dass der örtliche Sheriff sich mittlerweile auf die Suche nach einem verschwundenen Fahrer gemacht hatte, der mit seinen Wahlurnen günstigstenfalls vom Weg abgekommen war und schlimmstenfalls Auslöser für endlose Spekulationen über Wahlmanipulation werden würde. Es war 1.18 Uhr in Austin, als den US-Fernsehsendern fast gleichzeitig die Zahlenlage nun plötzlich ausreichend erschien, um Florida zum dritten Male umzufärben: rot. Bush konnte endlich zum 43. Präsidenten der USA ausgerufen werden. Alle Fernsehsender unterbrachen die Berichterstattung, blendeten ein Foto von Bush und das Stichwort »Präsident« ein. Für Sekundenbruchteile herrschte Stille, dann brach der Orkan über Austin los. Ein Jubelsturm, ganz plötzlich entfesselt. Das Warten hatte anscheinend ein Ende. Über 20.000 Menschen hatten zuvor skandiert: »Wir wollen Florida!« Und Bush hatte Florida. »Wir sind durch die Hölle gegangen, und wir sind wieder zurückgekommen«, schrie ein Mann in die Mikrofone der Fernsehanstalten. Doch der Gang durch die Hölle war noch nicht vorüber. Es tat sich nichts, kein jubelnder Gouverneur erschien auf der Bühne, kein gedemütigter Gore auf der Großleinwand, die die Parallelveranstaltung in Nashville zeigte. Und so verhallte der Jubel bald und endete in ohnmächtigem Warten. Keine Band, kein noch so gutes texanisches Steak konnte den Bush-Anhängern jetzt Trost spenden. Alle Fernsehsender waren zum zweiten Mal in diesem Präsidentschaftsrennen zu früh gestartet: Es waren noch längst nicht alle Stimmen in Florida ausgezählt. So blieb zunächst nur das Wetter konstant, kalt und verregnet. Die Gefühle der Anhänger aber schwankten. Und die Zähigkeit der Texaner 137
wurde auf das Äußerste strapaziert. Während in Austin noch »Florida!« gerufen wurde, schwoll in Nashville ein anderer Sprechchor heran: »Nachzählung!« Da hatte Gore gerade bei Bush angerufen, zum Sieg gratuliert und alles Gute gewünscht. Nach dem US-Ritual war damit der Weg zum Schlussakt mit verteilten Rollen frei: der Rede zunächst des Unterlegenen und dann des Gewinners. Offiziell hieß es, Gore feile noch an seinen Worten, deshalb gebe es eine kleine Verzögerung. In Wahrheit ging es nicht um Formulierungen, sondern um die Macht. Der Landeswahlleiter in Florida, ein Demokrat, rief Bill Daley, Gores Wahlkampfchef, an und empfahl dringend, mit einem Eingeständnis der Niederlage noch zu warten. Der Vorsprung Bushs in Florida sei einfach zu gering, eventuell nur wenige hundert Stimmen. Daley gab die Botschaft weiter, und Gore sah sich zu einem Anruf gezwungen, wie es ihn in der USGeschichte noch nie gab. Als bei Bush zum zweiten Mal das Telefon klingelte und das Display verriet, dass Gore aus Nashville dran war, hatte der Gouverneur keine Ahnung, was ihm bevorstand: Gore zog das Eingeständnis seiner Niederlage zurück. Bushs ungläubiges Entsetzen quittierte der Demokrat mit dem Kommentar: »Werden Sie jetzt mal nicht schnippisch!« Um 3.42 Uhr drang die Kunde an die konsternierte Öffentlichkeit. Bruder Jeb Bush warf sich an den nächsten Computer und versuchte online, Kontakt mit den Stimmauswertern in seiner Heimat herzustellen. Den Knoten zerschlagen konnte er nicht. So trat um 4.08 Uhr Bill Daley unter Nashvilles Kriegerdenkmal vor die nass geregneten Fans der Demokraten. »Al Gore und Joe Lieberman sind selbstverständlich bereit, einzugestehen, dass sie verloren haben – sobald Bush zum Präsidenten gewählt ist«, meinte der Wahlkampfchef. Doch dass es so weit noch nicht sei, daran ließ er keinen Zweifel: »Unsere Kampagne geht weiter!« Daleys Gegenstück im Bush-Lager, Don Evans, erklomm um 138
4.28 Uhr die ebenso triefend nasse Bühne in Austin und erläuterte seine Variante der historischen Premiere, dass Amerika zwar abgestimmt hatte, aber schlicht nicht wusste, wer gewählt worden war. »Wir hoffen und glauben, den nächsten Präsidenten der USA gekürt zu haben«, rief Evans. Mit den beiden kurzen Auftritten der Wahlkampfmanager endete die bizarrste Wahlnacht der US-Geschichte. Zumindest für die durchnässten Getreuen. Al Gore begab sich – nach 52 Stunden ununterbrochen auf den Beinen – in sein Hotel, jedoch nicht, um endlich zu schlafen, sondern um eine Krisensitzung abzuhalten. Amerikas TV-Sender färbten unterdessen Florida zum vierten Male um. Nach neutral, blau, neutral und rot war der Sonnenstaat nun wieder neutral. Die Zähluhren zeigten für beide Kandidaten Wahlmännerstimmen, doch für keinen die notwendigen 270. Ungläubig gingen die letzten Politikfans ins Bett. Bescheidenheit ist eine Zier. Darum stand stets ein Mahner hinter dem neuen Imperator im alten Rom. »Vergiss nicht, du bist nur ein Mensch«, flüsterte dieser Mahner seinem neuen Gottkaiser ins Ohr. Die moderne Variante hiervon ist eine Notiz, die John F. Kennedy bei sich zu tragen pflegte. Auf einen Zettel hatte er die Zahl 118.574 gekritzelt. Das war sein Stimmenvorsprung gegenüber Richard Nixon bei der Präsidentschaftswahl von 1960. Jetzt war mit dem knappsten Wahlausgang seit Kennedys Sieg erneut ein Präsident der USA gewählt worden. Die Zahl lautete diesmal 327. Hauchdünn waren aber auch die parallelen Wahlen für das Repräsentantenhaus und für den Senat ausgegangen. Die republikanische Mehrheit in beiden Kammern schmolz bis an die Grenze der Sichtbarkeit. Klarer konnte das Land seine Spaltung nicht demonstrieren. Man war sich in den USA einig, einen Führungswechsel, keinen Richtungswechsel zu wollen. Für genau die Hälfte bedeutete dies, Gore, also die alte 139
Richtung, zu wählen. Die andere Hälfte hatte sich für Bush, also eine neue Führung, entschieden. Ein Land suchte die Mitte – und die politische Klasse zerredete diese Chance zum Konsens nun aus eitler Machtgier. Horrorszenarien machten die Runde. Würde jetzt der Kampf um jeden einzelnen der 538 Elektoren beginnen? Falls die nicht entscheiden könnten, wer Clinton nachfolgt, fiele dem ebenfalls gespaltenen Kongress die Kür eines neuen Präsidenten zu. Bei den hauchdünnen Mehrheiten wäre es möglich, dass das Repräsentantenhaus einen Republikaner als Präsidenten und der Senat, mit Vizepräsident Gores entscheidender Stimme, Joe Lieberman als Vizepräsidenten durchsetzt. Absolutes Chaos schien an die Wand gemalt zu sein. In Europa grassierten Schadenfreude über den Systemfehler der arroganten Mustermacht und Einschätzungen, die USA seien zu einer Bananenrepublik verkommen. Kaum jemand war bereit, einzugestehen, dass in jeder europäischen Demokratie, in der Lobbys, Privatpersonen und Unternehmer etliche Millionen Dollar in den Wahlkampf stecken, Ähnliches stattfände: Bei einem derart knappen Ergebnis würden auch hierzulande die vom politischen Kampf erhitzten Parteien und ihre Funktionäre ebenso nachdrücklich jedes Mittel der Anfechtung und Nachzählung benutzen, um den Sieg ihres Kandidaten letztlich doch noch sicherzustellen. Auch die sofort erhobene Kritik am indirekten Wahlmännersystem der USA war verfrüht. So altmodisch das Gremium anmutet, es dient einem honorigen Zweck: Es bildet Amerikas Föderalismus ab. Bestimmte einzig das »popular vote« den Präsidenten, also die von Gore errungene Mehrzahl der Stimmen, würde kein Kandidat jemals seinen Fuß in Gegenden abseits der wählerreichen Ballungsräume setzen. Kleine US-Bundesstaaten bekommen nur deshalb Gewicht, weil kein Anwärter es sich leisten kann, sie zu ignorieren. Ohne Elektoren hätten Bush und Gore sich nie der »retail politics« 140
verschreiben müssen, Hände geschüttelt, Farmen und Kleinschulen besucht. Das Problem, das die Weltmacht USA lähmte, ließ sich politisch oder verfassungsrechtlich beschreiben. Man konnte es auch als Designproblem begreifen. Dazu musste man sich den Wahlzettel vor Augen führen, wie er im Landkreis um West Palm Beach an der südlichen Ostküste Floridas verwendet wurde. Das Layout, für das sich die örtliche Wahlverwaltung entschied, nannte sich »Schmetterlingsdesign«. Links oben stand der Name von George W. Bush, Republikaner. Darunter war Al Gore, Demokrat, aufgeführt. Im Palm Beach County wählte man, indem man Löcher in aufgemalte Kreise stanzte; die Platzierung der Löcher ermittelten dann die Lesegeräte. Pat Buchanan, 1992 noch der rechte Rivale von George Bush bei den Vorwahlen und inzwischen Nachlassverwalter Ross Perots in der Reformpartei, war auf halber Höhe zwischen Bush und Gore auf der gegenüberliegenden, rechten Seite eingeordnet. Buchanans Stanzloch lag genau zwischen Bushs und Gores. Alle Stanzlöcher bildeten eine gerade, vertikale Linie. Und eben dies war das Problem. Zwar hatten die Unglücklichen, die den Wahlzettel entwarfen, winzige Pfeilchen aufdrucken lassen, die die Zuordnung von Kandidat und Stanzloch klären sollten. Doch offenbar gab es Tausende, denen ein naheliegender Fehler unterlaufen war. Wer für Gore stimmen wollte und das zweitoberste Stanzloch wählte, jenes auf der Mittellinie zwischen Bush und Gore, weil Gore doch der zweitoberste Name war, irrte. Und Buchanan freute sich, denn er bekam im Landkreis 3.000 Stimmen, in Relation zur Einwohnerzahl das Zehnfache seines mageren Durchschnitts in Florida. Zahlreiche Wähler merkten offenbar direkt nach dem ersten Stanzen, dass sie einen Fehler gemacht hatten, und schlugen ein zweites Loch – diesmal bei Gore. 19.000 Stimmzettel wurden im Landkreis um West Palm Beach für ungültig erklärt, weil mehrere Kandidaten gewählt wurden. 141
Jack Quinn, der Exstabschef von Gore, meinte denn auch: »Wir sind davon überzeugt, dass es Zehntausende von Wählern gab, die mit der Absicht zur Wahl gingen, Gore zu wählen, deren Stimmen wir letztlich aber nicht haben.« Einige wenige Wähler waren am Austausch versehentlich falsch ausgestanzter Stimmzettel gehindert worden – ein klarer Gesetzesverstoß. Doch vier Jahre zuvor hatte es im selben Wahlkreis bei geringerer Wahlbeteiligung 14.000 ungültige Stimmen gegeben. Diese verlorenen Stimmen waren bedauerlich, aber weit davon entfernt, »undemokratisch« oder »illegal« zu sein, wie Gores Bodentruppen damals behaupteten. Tausende Stimmen zusätzlich – das hätte den Demokraten den Einzug ins Weiße Haus gebracht. Denn noch immer galt, dass die hauchdünne Mehrheit von 327 Stimmen über die Vergabe der ausschlaggebenden 25 Wahlmännerstimmen in Florida entschied. Wegen des knappen Ergebnisses wurde landesweit nachgezählt – mit denselben Maschinen, die das erste Resultat ermittelt hatten. Direkt nach seinem Rückflug aus Texas schied Jeb Bush aus der Wahlkontrollkommission aus, um jeden Interessenkonflikt mit den Ambitionen seines Bruders zu vermeiden. Aktive Manipulation von oben war ein Vorwurf, den keine Seite erhob. Es ging allein um die verwirrenden Stimmzettel und um verunsicherte Wähler. Doch es fand sich beispielsweise auch ein New Yorker Verfassungsrechtler, der der Ansicht war, die Schmetterlingsstimmzettel an sich stellten schon Rassendiskriminierung dar, weil sie Ungebildeteren – also Minderheiten – den Urnengang erschwerten. Berichte über Ungereimtheiten des eigentlichen Wahlverlaufs erwiesen sich größtenteils als falsch. In einer Wahlurne, die verschlossen in einer Schule gefunden wurde, befanden sich Stifte und Malsachen, keine Wahlzettel. 67 Landkreise hat Florida. Nachdem die korrigierten Ergebnisse von 17 Kreisen ins Gesamtergebnis eingearbeitet worden waren, hatte Gore 46 Stimmen zugelegt, Bush 16. Im 142
Landkreis Palm Beach indessen, der seine korrigierten Zahlen am 9. November zum Landeswahlleiter sandte, hatte Gore 600 zusätzliche Stimmen bekommen. Vom ursprünglichen Vorsprung Bushs blieb nichts übrig. Doch noch waren auch die Überseestimmen von Militärangehörigen nicht ausgezählt. Denn anders als in Deutschland musste man in Florida seinen Wahlbrief nicht so abschicken, dass er bis zum 7. November ankam – der Poststempel des Wahltages reichte. Gore prüfte seine Optionen. Sollte er eine landesweite Neuwahl verlangen? Gar eine bundesweite? Oder nur in ausgewählten Landkreisen? Einen griffigen Slogan entwickelten seine Helfer schnell. »Alle Stimmen müssen zählen«, verlangten die Demokraten. Dagegen ließ sich schwerlich argumentieren. Nur bezog Gores Lager in »alle Stimmen« auch das ein, was bestenfalls als Intention des Wählers erraten werden konnte, wenn der beispielsweise verschieden ausgestanzte Löcher hinter mehr als einem Kandidatennamen hinterlassen hatte. Robert Torricelli, Senator aus New Jersey und Parteifreund Gores, verkündete in der US-Hauptstadt: »Bush kann nicht wollen, dass er im Januar vereidigt wird und 50 Prozent der Amerikaner seine Legitimität bezweifeln!« Inmitten des Chaos gab es nur ein fixes Datum. Die 538 Elektoren würden am 18. Dezember 2000 den nächsten USPräsidenten wählen. Dies schrieb die Verfassung fest. Möglich war, dass aus Florida keine Wahlmänner anreisen würden. Nicht auszuschließen war auch, dass Floridas von Republikanern dominiertes Parlament dem dadurch zuvorkommen würde, dass es selbst Elektoren bestimmte. Und denkbar war auch, dass ohne oder mit nicht als legitim akzeptierten Elektoren aus Florida kein Ergebnis zustande kommen würde. Dann, wie gesagt, hätte die Stunde des US-Kongresses geschlagen. Amerikas Geschichte hielt kein Beispiel bereit, an dem man sich hätte orientieren können. Nur eines war klar: Zuletzt hatte 1888 ein Kandidat im Wahlmännergremium gesiegt, der bei den 143
Direktstimmen unterlegen war. Innerhalb einer Woche nach der Wahl ohne Ergebnis wurde deutlich, dass Gerichte letztlich entscheiden würden, wo, wie und wie lange nachgezählt werden durfte. Gerichte in den betroffenen Kreisen Floridas entschieden mal für Nachzählungen, mal dagegen. Mal siegte Gore auf ganzer Linie, weil angeordnet wurde, dass jede Stanzkarte von Hand auf die wahre Intention des Wählers geprüft werden musste. Mal erreichte Bush, dass es ins Ermessen der örtlichen Wahlkommissionen gestellt wurde, ob manuell oder mechanisch neu ausgewertet wurde. Im Kern drehten sich Dutzende von Verfahren vor Kreisgerichten, vor Landesberufungsinstanzen, vor Landesobergerichten, Bundesberufungsgerichten und dem Supreme Court, dem höchsten Gerichtshof im Lande, um die Frage, wer die präzisen Regeln für die Anerkennung unklarer Wählervoten festlegen durfte und wo das übergeordnete Interesse an einem amtlichen Endergebnis einer weiteren Nachzählung entgegenstand. Ein Ergebnis zu bekommen und dem Wählervotum gerecht zu werden – diese beiden Ziele mussten gegeneinander abgewogen werden. Das Ergebnis der ersten offiziellen, mechanischen und landesweiten Nachzählung ergab, dass Bush tatsächlich gewonnen hatte, wenn auch nur mit wenigen hundert Stimmen Vorsprung. Gore bekam allmählich ein Problem. Die Republikaner konnten seine dauernd neu angestrengten Verfahren mit dem Satz kommentieren, die Demokraten wollten offensichtlich so lange zählen lassen, bis das ihnen genehme Ergebnis herauskomme. In Florida tauchten Plakate auf, die aus dem demokratischen Banner »Gore Lieberman« »Sore Loserman« machten – einen »schlechten Verlierer«. Derweil hatte sich ein neuer Begriff in Amerikas Bewusstsein gebrannt: »pregnant chad«, »schwangeres Stanzloch«. Gemeint sind jene 144
Ausbeulungen der Stanzkarten, bei denen das kleine auszustanzende Quadrat, »chad« genannt, nicht entfernt worden war, sondern nur eine Delle erhalten hatte. Daneben gab es aber auch Ausstanzungen, die nur noch an einer Ecke weiter in der Stanzkarte hingen (»hanging chads«), und solche, die an zwei Ecken von der Karte baumelten (»swinging chads«). Gores Anwalt David Boies sagte zwei Wochen nach der Wahl: »Wir hoffen natürlich, dass alle Kreise in Florida ausgebeulte Stanzlöcher als gültige Stimmen akzeptieren, so wie das in Illinois gemacht wird und wie es der Oberste Gerichtshof explizit erwähnt hat.« Jetzt nämlich beginne das »absolute Endspiel«. Eingeläutet hatte die vermeintlich letzte Runde Floridas Oberster Gerichtshof. Er votierte für Gore und schrieb ein Verfahren vor, das sicherstellen sollte, dass bis zum 12. Dezember 2000 tatsächlich ein Endergebnis vorlag. Das »überragende Interesse«, so das von Demokraten dominierte Gericht, sei das Wahlrecht und der darin enthaltene Anspruch auf die Zählung aller Stimmen. Auf Seite 38 der Urteilsbegründung stand: Eine willkürliche und »massenhafte Entmündigung unschuldiger Wähler«, wie Floridas Innenministerin Harris sie durch den Ausschluss verspätet angegangener Handnachzählungsergebnisse vollzogen habe, sei »unverantwortlich, unnötig und ein Verstoß gegen die etablierte Rechtsprechung«. Der Wille des Volkes habe Vorrang vor der Technik der Stimmenauszählung, innerhalb von sieben Tagen das Endergebnis melden zu müssen. Als in Florida das Urteil durchsickerte, war es kurz vor 22 Uhr am 21. November. In Washington pfiff ein eisiger Wind. Al Gore saß in seiner Residenz in der alten Sternwarte. In dem umbrausten Gebäude waren alle Lichter an. Kurz nach 23 Uhr trat der demokratische Kandidat vor seinen Kaminsims, auf dem Fotos aus dem Familienleben standen, schob seinen Vizekandidaten Joe Lieberman schräg hinter sich zurecht und meinte dann: »Wir wissen, dass unsere Demokratie heute der 145
Sieger ist!« Bush schwieg. Den Verriss des Spruchs des Obersten Gerichtshofes Floridas überließ er James Baker. »Das Gericht hat das Gesetz umgeschrieben, die Verantwortlichkeit des Landtags an sich gezogen, die Gewaltenteilung missachtet, die Regeln mitten im Spiel geändert und ein neues System zur Stimmauszählung erfunden«, meinte das einstige Kabinettsmitglied von George Bush. »Es braucht kein Loch, kein hindurchscheinendes Licht, und selbst wenn gar nichts da ist, wenn der Wähler nicht gewählt hat, kann noch einer behaupten, er erkenne einen Wählerwillen.« Unfair, ungerecht und inakzeptabel sei das Urteil. »Die Richter haben nun wirklich mehr getan, als das Recht zu interpretieren!«, schimpfte Baker. Das Hickhack in Florida begann, einen politischen Preis zu fordern. Beide Seiten beschuldigten sich gegenseitig, die Wahl »stehlen« zu wollen. Überall wurde argumentiert, der kommende Präsident werde in seiner Legitimität stark geschwächt sein. Linke Demokraten griffen einen möglichen Präsidenten Bush an. Sie könne den Gouverneur »nie als legitim akzeptieren«, diktierte beispielsweise die Abgeordnete Maxine Waters aus Los Angeles in die Fernsehkameras. Wieder folgte eine der zahllosen Wendungen des Dramas. Der Supreme Court in Washington kassierte das Urteil des höchsten Gerichts Floridas und verwies die Angelegenheit zur Neuverhandlung zurück. Wieder fällten die obersten Richter des Landes, diesmal mit vier gegen drei Stimmen, ein sehr Gorefreundliches Urteil, das viele manuelle Nachzählungen erzwang. Dann war es Mitte Dezember, und erneut entschied der Supreme Court. Mit der knappsten aller möglichen Mehrheiten, mit fünf zu vier Stimmen, entschied das konservativ geprägte Gericht für Bush. Überragend sei das Interesse Floridas und des Bundes an einer Präsidentenwahl durch die Elektoren. Manuelle Auswertungen von hängenden, schwingenden und schwangeren Stanzlöchern seien nicht rechtmäßig, weil zweierlei völlig fehle: 146
ein einheitlicher Maßstab zur Messung des Wählerwillens und die vorherige Festlegung dieser Richtlinien. Jetzt Regeln zu improvisieren und dazu noch die Ungleichheit dieser Richtschnur abhängig vom auszählenden Kreis zuzulassen, sei ein schwerwiegender Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz. Der Oberste Gerichtshof der USA hatte gesprochen und das Chaos in Florida beendet. Erst im Laufe der kommenden Wochen wurde Amerika richtig bewusst, was für eine skurrile Phase seiner politischen Geschichte es durchlebt hatte. Unter dem Strich hatte das Land seine Probleme so gelöst, wie sie im Rechtsstaat gelöst werden sollten: durch den Gang vor Gerichte. Damit hatte nicht die Justiz über die Politik oder gar über den Wählerwillen triumphiert, damit hatte die Justiz lediglich in einer schier ausweglosen Pattsituation die Rechtmäßigkeit jener Regeln geprüft, nach denen ein Gewinner bestimmt werden musste. Der eigentliche Grund für das Chaos in Florida war neben den veralteten Zählmaschinen und der mangelnden Einheitlichkeit und Deutlichkeit der Regeln zur Anerkennung von Stimmen ein zutiefst politischer. Florida war von beiden Parteien überorganisiert worden. Die »get out the vote«-Kampagnen hatten Zehntausende von Bürgern an die Wahlurnen getrieben, die wenig oder keine Erfahrung mit dem Abstimmen hatten. Das Wahlsystem war in seinen technischen und administrativen Aspekten darauf nicht vorbereitet gewesen. Versuche, aus dem Chaos den Vorwurf einer republikanischen Verschwörung zu zaubern, bei der die beiden Bush-Brüder die grauen Eminenzen im Hintergrund waren, fielen rasch in sich zusammen. Gore gestand seine Niederlage ein, Bush war gewählter Präsident der USA. Sein Land glaubte allerdings, er werde sein Amt schwer beschädigt antreten. Und George W. Bushs Gegner überall auf der Welt glaubten nun zu wissen, dass er nicht nur ein rabiater und erzkonservativer Todesstrafenanhänger war, sondern nun auch noch ein illegitimer Präsident. 147
9. Öl, Banken und Lobbys Die Namen von James Baker und Salim bin Laden sind bereits gefallen. Beide sind zentrale Figuren in einem weit verzweigten und höchst komplexen Netz, das die Bushs mit ihren Helfern über Jahrzehnte hinweg geknüpft haben, und in dem die USA und Saudi-Arabien in Kontakt zueinander gekommen sind. Gigantische Energieunternehmen, Waffenschmieden, Anwaltskanzleien, Lizenzhändler, kleine Ölfirmen, Investmentbanken und Beteiligungsfonds gehören zu diesem Geflecht, in dem sich wirtschaftliche und politische Interessen berühren. Doch viele Stränge dieses Netzes liegen noch im Dunkeln. Aber Amerikas Bereitschaft, das schwierige Verhältnis zu Saudi-Arabien nüchtern zu betrachten, wächst. Im Sommer 2003 erschien der Untersuchungsbericht des Kongresses über die Hintergründe der Anschläge vom 11. September 2001. Die meisten der Entführer und Todespiloten, 15 von 19 direkt Beteiligten, waren Saudis gewesen. Auf den dringenden Wunsch des Weißen Hauses hin waren indes 28 Seiten des gut 850 Seiten dicken Dokuments geschwärzt worden. Es waren dies jene Passagen, die sich mit den heikelsten aller Verbindungen beschäftigten, mit jenen zwischen Amerikas Elite und dem saudischen Königshaus sowie dessen Doppelmoral, einerseits engste Geschäftskontakte zu pflegen und enorme Lobbysummen für US-Politiker zu gewähren und andererseits für die Terroristen von Al Qaida zu spenden. Konkret ging es in dem geschwärzten Text um einen untergetauchten Saudi namens Omar al Bajumi, dem für die Unterstützung zweier der Todespiloten offenbar schier unbegrenzte Geldmittel zur Verfügung gestanden hatten. Gleichzeitig mit dem Untersuchungsbericht des US-Parlaments erschien Robert Baers Buch Sleeping with the Devil. Der CIAMann, der zwei Jahrzehnte im Nahen und Mittleren Osten 148
verbracht hatte, nahm sich ebenfalls den heiklen Bund zwischen Washington und Riad vor. Daneben haben die US-Journalisten und Publizisten Craig Unger und Kevin Phillips (Wealth and Democracy) seit Jahren über die ökonomische Vernetzung zwischen den Bushs und der saudischen Führung recherchiert und geschrieben. Aus diesen Quellen ergibt sich insgesamt ein deutliches Bild. Ihren Ausgangspunkt hat die schwierige Beziehung zwischen der mächtigsten Demokratie der Welt und dem Petrokönigreich in der arabischen Wüste in einer Interessenüberschneidung. Amerika braucht Energie, viel Energie, und Saudi-Arabien hat sehr viel Öl. Im Schnitt der 70er und 80er Jahre kamen fast 20 Prozent des Rohöls, das in den USA verbraucht wurde, von dort. Die USA brauchten den Rohstoff, und Saudi-Arabien brauchte die Einnahmen aus seinem Verkauf – so lautete die Gleichung, die die Basis für das gegenseitige Interesse an Kontakten persönlicher, wirtschaftlicher und politischer Natur wurde. Anfang der 80er Jahre verbuchte Saudi-Arabien bereits täglich 400 Millionen Dollar an Öleinnahmen. Das Geld musste investiert werden, und so flossen Milliarden in die USA zurück, denn es bot sich an, sich an jenen Firmen direkt zu beteiligen, mit denen man Geschäfte machte. Im Wesentlichen waren zwei Kernbereiche betroffen: Öl und Waffen. Zwischen 1970 und 1990 hat Saudi-Arabien zwischen 150 und 200 Milliarden Dollar in seine Rüstung gesteckt – und damit zum größten Teil in amerikanische Waffenschmieden. Wer in den USA etwas mit Öl, Waffen oder Politik zu tun hatte, kam früher oder später zwangsläufig mit diesem Kreislauf in Berührung. Mitte der 70er Jahre war es für die Familie Bush so weit. Die wichtigsten Akteure auf saudischer Seite waren die Söhne der beiden prominenten Familien bin Laden und bin Machfus. Sowohl die bin Ladens als auch die Familie bin Machfus stammten ursprünglich aus dem Jemen und waren buchstäblich zu Fuß nach Jiddah gekommen. Innerhalb von 149
wenigen Jahrzehnten erwarben beide Familien Ruhm, Geld und Einfluss. Denn für das saudische Königshaus waren sie bequem, da sie keinen Anteil am traditionellen Kleinkrieg der etablierten Klans im Königreich hatten. So wurden die bin Ladens zum Inhaber der größten Bau- und Ingenieurskonzerne des Landes. Die Familie bin Machfus wurde zum Eigentümer der wichtigsten Geldhäuser. Angefangen hatte alles 1951, als Salim bin Machfus vom Königshaus die Lizenz zur Eröffnung der National Commercial Bank (NCB) erhielt. Dessen Sohn Kalid bin Machfus und Salim bin Laden begannen Anfang der 70er Jahre, ihre Fühler nach Amerika auszustrecken. Da es um Öl ging, lag es nahe, sich nach Texas zu orientieren. Bereits wenige Jahre später war Kalid bin Machfus der Eigentümer einer millionenschweren Villa in Houston und einer Ranch im texanischen Landkreis Liberty County. Salim bin Laden, einer der vielen Halbbrüder von Osama bin Laden, besaß ein Haus in Marble Falls, ebenfalls in Texas. Er hatte 1968, nach dem Tod seines Vaters, das Familienimperium übernommen. Den ersten indirekten Kontakt zur Familie Bush stellten die Saudis über einen Mann namens Jim Bath her. Der Geschäftsmann mit guten Kontakten zum CIA war ein Freund von James Baker, mit dem er auf die Entenjagd ging. Mit George W. Bush hatte er gleichzeitig in der Air National Guard gedient. 1974 hatte Bath ein Flugzeug an Salim bin Laden verkauft, und über ihn lernte Bath auch Kalid bin Machfus kennen. In den kommenden Jahren folgten mehrere Geschäftskontakte. Salim bin Laden erwarb über Bath den kleinen Privatflughafen Houston Gulf Airport; von 1976 an fungierte Bath als offizieller Repräsentant bin Ladens in Houston; Bath wurde Direktor der Firma Skyway Aircraft Leasing, die bin Machfus gehörte; und er wurde 1978 Direktor einer kleinen Bank namens Main Bank, zu deren Eigentümern erneut bin Machfus, aber auch Amerikas Exfinanzminister John 150
Connally gehörten. Ein Jahr zuvor, 1977, hatte Bath einen Anteil an George W. Bushs neuer Ölfirma Arbusto gekauft. Bath investierte 50.000 Dollar und erhielt dafür fünf Prozent der Aktien. Nun hatte auch George W. Bush Geschäftsbeziehungen zu den saudischen Familien bin Laden und bin Machfus. Und noch eine weitere Querverbindung gab es. Seine Briefkastenfirma im Steuerparadies Cayman-Inseln ließ Bath von derselben Anwaltskanzlei betreuen, die auch Oliver North vertrat, den patriotischen Schurken aus der Iran-Contra-Affäre. John Connally galt eine Zeit lang als möglicher Präsidentschaftskandidat. So stand die Pflege dieses Kontaktes für die Saudis zunächst im Vordergrund. Als 1980 klar wurde, dass Connally keine Chance hatte, wurden die Bushs interessanter – und James Baker. Dessen Kanzlei Baker Botts hatte George Bushs Ölfirma Zapata bereits in den 50er Jahren vertreten. Später bekam der 16-jährige George W. Bush dort einen Ferienjob. Jetzt lief über Baker Botts die Abwicklung des ersten Großprojekts, das die Saudis direkt ins Bush-Umfeld brachte. Die Familie Baker hatte die Texas Commerce Bank gegründet; James Baker hielt an dem Haus einen Anteil von fünf Millionen Dollar in Aktien. Dank des Ölgeschäfts expandierte die Bank rasant und wünschte sich ein augenfälliges Zeichen dieses Siegeszugs. Der Stararchitekt I. M. Pei baute ihr 1981 ein 75-stöckiges Hochhaus, das damals das höchste Gebäude der USA westlich des Mississippi war. Ein Großteil des Geldes kam von Kalid bin Machfus. Dieser war nun der direkte Geschäftspartner von James Baker. Das kommende Jahrzehnt über spielte eine der berüchtigtsten Banken der Finanzgeschichte bei den Kontakten zwischen Houston und Jiddah eine Rolle im Hintergrund. Die Bank of Commerce and Credit International (BCCI) in Pakistan galt als Geldhaus für Diktatoren und Drogenbarone, für Schieber, Schmuggler, Waffenhändler und Geldwäscher. 1986 erwarb 151
Kalid bin Machfus, Eigentümer der National Commercial Bank in Saudi-Arabien, einen 20-prozentigen Anteil an BCCI. Er war damit der größte Einzelgeldgeber des Hauses geworden. Und BCCI wiederum sollte eine gleichermaßen verschwiegene wie effektive Rolle bei der Rettung diverser Bush-Unternehmen spielen. Aber nun kam noch die große Weltpolitik hinzu. Zwei Ereignisse hatten den Anschein von Harmonie im amerikanischsaudischen Interessengeflecht zerstört. Die islamische Revolution im Iran 1979 und der sowjetische Einmarsch in Afghanistan Ende 1979 hatten die strategische Lage völlig verändert. Die Theokratie in Teheran bedeutete für die Herrscher in Riad die Gefahr eines fundamentalistischen Putsches. In Afghanistan aber waren es ausgerechnet islamistische Fundamentalisten, die als Einzige die Russen bekämpfen konnten. Riad musste seine proamerikanische Politik mäßigen und die Islamisten besänftigen. Für die USA eröffnete sich die verlockende Möglichkeit, Moskau ein Vietnamerlebnis am Hindukusch zu bereiten. Daher entschied man sich für eine Doppelstrategie. Fortan waren islamistische Rebellen, die in Kabul gegen Moskau kämpften, die Guten – und die Islamisten im Iran die Bösen. Osama bin Laden, Salims Halbbruder, ging nach Afghanistan. Das Geld zur Organisation des Widerstands und zur Anwerbung von Kämpfern hatte er. Und neues floss. Der französische Geheimdienst schätzt, dass über die von Kalid bin Machfus kontrollierte BCCI bis zu zwei Milliarden Dollar an Osama bin Laden flossen. Zusätzliche Mittel kamen aus den angeblich wohltätigen islamischen Stiftungen, die ihr Geld über die NCB der Familie bin Machfus erhielten. Salim und die anderen Halbgeschwister mochten sich zwar allmählich von Osama bin Laden distanzieren, dennoch blieb klar, dass der Kämpfer weiter große Sympathien in Saudi-Arabien, in seiner Familie und bis hinein ins weit verzweigte und stets in internen Grabenkämpfen 152
befindliche Königshaus genoss. George W. Bushs Ölfirmen ging es derweil nicht gut. Der texanische Boom war vorbei. Arbusto wurde 1984 zu Spectrum 7, und Spectrum 7 ging 1986/87 an Harken. Im ersten Halbjahr 1986 hatte Spectrum 7 satte 406.000 Dollar Verlust gemacht. Insgesamt waren damit drei Millionen Dollar Schulden aufgelaufen. Bush bekam 312.000 Dollar in Aktien für den Verkauf an die Harken-Gruppe. Die Motive für die Übernahme waren nicht rein finanzmathematischer Natur. Harken wollte den gleichnamigen Sohn des US-Vizepräsidenten in seinem Vorstand sitzen haben. Der wiederum nutzte einen Teil des Geldes später für seine Beteiligung an den Texas Rangers, dem Baseballteam seiner Heimat. 1998 sollte er die Mannschaft für 14,9 Millionen Dollar verkaufen, ein Vielfaches seines Investments und der finanzielle Grundstock für seine Präsidentschaftsbewerbung. Harken war kein Riese im Geschäft und tat sich schwer. Doch dann kamen unerwartet mehrere Erfolge. Eine Schweizer Bank, die sich noch nie in den USA engagiert hatte, investierte 25 Millionen Dollar in das Unternehmen. Ein Saudi namens Abdul Taha Baksch stieg mit 17 Prozent ein. Und der Premierminister des Golfstaates Bahrain sorgte 1990 dafür, dass Harken die Lizenz zur »offshore exploration« in seinem Land bekam, also zur Suche nach Öl in den Küstengewässern. Harken hatte keinerlei Offshore-Erfahrung, entsprechend misstrauisch reagierte die Konkurrenz. Aus gutem Grund – denn alle drei Deals waren aufs Engste mit der BCCI verbunden. Wenn Harken offiziell auch nie etwas mit der BCCI zu tun hatte, so stand hinter den spektakulärsten Deals des Unternehmens doch nichts anderes als Kalid bin Machfus’ Interesse an guten Kontakten zur Familie des damaligen US-Präsidenten. 1991 kam das Wall Street Journal zu dem Schluss: »Das Mosaik der BCCI-Verbindungen rund um Harken mag nicht mehr beweisen als die Allgegenwart der Kontakte der Schurkenbank. Doch die 153
Zahl der Personen mit BCCI-Kontakten, die mit Harken in Geschäftsbeziehungen standen, und zwar sämtlich, nachdem George W. Bush in den Vorstand gekommen war, wirft gleichzeitig die Frage auf, ob sie den Versuch kaschieren, sich bei einem Präsidentensohn einzuschmeicheln.« Noch 1990 verkaufte George W. Bush seine Harken-Anteile. Für 212.000 Aktien erhielt er 848.560 Dollar, also gut vier Dollar pro Aktie. Das war der zweite Grundstock für seinen Erwerb der Rangers-Anteile. Kurz nach dem Verkauf veröffentlichte Harken desaströse Umsatzzahlen. Bald fiel die Aktie auf knapp über einen Dollar. 1992 folgten daher Ermittlungen gegen Bush wegen des Verdachts des Insidergeschäfts. Vertreten wurde Bush von einem Anwalt namens Robert Jordan aus der Kanzlei Baker Botts. Der wiederum wurde später mit einem Botschafterposten belohnt – angenehmerweise in SaudiArabien, wo Baker Botts im Jahr 2001 eine Niederlassung eröffnete. Die BCCI wurde zunehmend untragbar. Es gab Ermittlungen und Untersuchungsausschüsse, und 1991 ließ die Bank von England die BCCI platzen, indem die Londoner eine Stundung der milliardenschweren BCCI-Schulden verweigerten. Die Saudi-Verbindung der Bushs brauchte ein neues Instrument. Es fand sich in Gestalt des Investmenthauses Carlyle, das seinerseits aufs Engste mit dem Baukonzern Bechtel verbunden war, der wiederum einer der größten Profiteure im Irak nach dem Krieg von 2003 sein sollte. Der ehemalige USVerteidigungsminister Frank Carlucci kam 1990 als Vorstandschef zu Carlyle. Carlucci war ein Kommilitone von James Baker aus Princeton, wo er auch mit Donald Rumsfeld in derselben Mannschaft gerungen hatte. Colin Powell und, von 1998 an, der ehemalige britische Premier John Major waren weitere einflussreiche Figuren bei Carlyle. Die bin Ladens investierten zwei Millionen Dollar in das Haus, die beiden 154
Söhne Kalid bin Machfus’, Sultan und Abdulrachman, legten 1995 gar 30 Millionen Dollar bei Carlyle an. Hinter dem saudischen Engagement stand die Absicht, sich direkt an jenen US-Rüstungsfirmen zu beteiligen, die Aufträge aus Riad bekamen. 1993 stieß noch James Baker zu Carlyles Führung. Und George Bush begann sein Engagement, das sich offiziell auf das Halten von Reden beschränkte, im Jahr 1995. Bei Carlyle saßen damit die Regisseure des Golfkrieges mit Saudi-Arabiens Geldaristokratie zusammen. Prekär war dies allerdings, weil die finanziellen Verflechtungen zwischen dem saudischen Geldadel und dem Terrornetzwerk Osama bin Ladens nicht mehr zu verheimlichen waren. Das Ende der Sowjetunion hatte die strategische Landschaft zudem erneut von Grund auf verändert. Osama bin Laden hatte sich in den Sudan abgesetzt. Aus US-Sicht gab es nunmehr keinen Grund, den Kampf der Mudschaheddin gegen die Kommunisten in Kabul zu unterstützen. Deren Regime implodierte rasch, und nach schrecklichen Übergangsjahren kamen die Taliban an die Macht. Osama bin Laden veränderte nun sein Ziel. Im Mai 1996 wechselte er den Wohnort erneut und ging vom Sudan nach Afghanistan zurück. Statt Moskau bekämpfte er nun Washington – und die Herrscher seiner alten Heimat, die ihn inzwischen ausgebürgert hatten. Doch die NCB im Besitz der Familie bin Machfus schleuste ihm weiter Geld zu. Dass Kalid bin Machfus persönlich für die Unterstützung Al Qaidas verantwortlich war, ist nie bewiesen worden. Er selbst hat dies stets entrüstet von sich gewiesen. Möglich ist durchaus, dass Al Qaida selbst auf raffinierte Weise dafür sorgte, dass immer wieder und in immer größerem Umfang Geld, das für islamische Wohltätigkeit oder moslemische Missionierung gedacht war, auf den Konten der Terroristen landete, ohne dass dies die Intention der Geldgeber gewesen sein muss. Am wahrscheinlichsten ist, dass solch saubere Trennungen ohnedies keinen Sinn machen. Die Clinton155
Regierung erhöhte jedenfalls ihren Druck auf Riad, dass die Finanzierung Osama bin Ladens aus seiner Heimat SaudiArabien ein Ende nehmen müsse. Der bloße Entzug der Staatsbürgerschaft genügte Washington nicht. Schließlich wurde die Machfus-Bank 1999 verstaatlicht. Das geschah ein Jahr nach den Al-Qaida-Anschlägen auf die USBotschaften in Kenia und Tansania, bei denen Hunderte starben und Tausende verletzt wurden. Auf diesen Doppelangriff hatte Clinton reagiert, indem er Terrorlager in Afghanistan und eine Fabrik in der sudanesischen Hauptstadt Khartum hatte bombardieren lassen. Chef dieser Fabrik namens El Schifa war ein gewisser Salah Idriss – ein ehemaliger Manager von Kalid bin Machfus’ NCB. Und der Sudan war ja auch jener Staat gewesen, in dem sich Osama bin Laden jahrelang aufgehalten hatte. Salim bin Laden war bereits 1988 bei einem Flugzeugabsturz in Texas ums Leben gekommen. Kalid bin Machfus, der inzwischen den wenig ehrenhaften Beinamen »Banker des Terrors« bekommen hatte, erging es kaum besser. Auf Druck Washingtons hin wurde der Mann, der laut Forbes der 124reichste der Welt ist, vom saudischen Königshaus aus dem Verkehr gezogen. Ob er nun unter Hausarrest steht oder aus Gesundheitsgründen dauerhaft im Hospital untergebracht ist, darüber stritten sich Washington und Riad lange. Aber das war nur eine Interpretationsfrage. 2002 wurde das Bin-Laden-Geld aus der Carlyle-Gruppe abgezogen. Es war untragbar geworden. Da hatte George Bush bereits zwei persönliche Treffen mit der Bin-Laden-Familie hinter sich. Im November 1998 und im Januar 2000 traf der Expräsident die Saudis im Auftrag von Carlyle. Es ging um den Wunsch der Beteiligungsgesellschaft, 25 Prozent der Anteile am saudischen Telefonnetzbetreiber zu übernehmen. Der vorläufige Endpunkt der Verbindung zwischen Saudi-Arabien und den Bushs kam am 11. September 2001. Während Osama bin 156
Ladens Krieger Manhattan verwüsteten, tagten im Washingtoner Ritz-Hotel die Investoren der Carlyle-Gruppe. Am Tisch saßen James Baker, Frank Carlucci und Schafik bin Laden, ein weiterer Halbbruder des Al-Qaida-Chefs. Sie hatten gerade über ein weiteres strategisches Großprojekt gesprochen: die gemeinsame amerikanisch-saudische Erschließung der Ölreserven in Kasachstan mit US-Know how und saudischem Geld – das wiederum aus den Erlösen für jenes Öl stammte, das Amerika so dringend brauchte. Die enge Geschäftsbeziehung Bakers und der Bushs zu den Saudis sollte spätestens im August 2002 publik werden, als 700 Angehörige der Opfer des 11. September vor Gericht zogen. Sie forderten als Schadenersatz die unglaubliche Summe von 120.000 Milliarden Dollar, die sie von der saudischen Regierung und von Kalid bin Machfus verlangten. In Zeitungsanzeigen kritisierten die Hinterbliebenen, dass es eben dieser Kalid bin Machfus gewesen war, mit dem die Bushs über zweieinhalb Jahrzehnte hinweg Geschäftsbeziehungen unterhalten hatten. Diese mochten mittlerweile eingestellt sein – der privilegierte Zugang zu Bush blieb saudischen Offiziellen indes erhalten. Prinz Bandar bin Sultan, der Botschafter des Königreichs in den USA, wurde 2002 und 2003 mehrfach auf die Ranch Bushs im texanischen Crawford eingeladen. Gerhard Schröder war dort nie, und erst recht nicht ein deutscher Botschafter. Öl- und Rüstungsgeschäfte zwischen den USA und SaudiArabien waren nicht das einzige Feld wirtschaftlicher Betätigung, auf dem die Bushs mitmischten und, gelinde gesagt, sich einen zwiespältigen Ruf erarbeiteten. Mitte der 80er Jahre begann die Aufdeckung eines finanziellen Großskandals, der innerhalb der USA spielte und mit den texanisch-saudischen Beziehungen nichts zu tun hatte. Es ging um den Zusammenbruch von fast 1.000 kleineren Kreditinstituten, den »Savings and Loans«-Banken, die eigentlich – dem deutschen 157
Sparkassensystem ähnlich – aufgrund ihrer strengeren staatlichen Kontrolle für den Anleger besonders risikoarm hätten sein sollen. Ein Untersuchungsausschuss des US-Repräsentantenhauses kam zu dem Ergebnis, dass mehr als drei Viertel aller Zusammenbrüche bei Banken auf gravierendem Fehlverhalten des jeweiligen Managements beruhten. Mario Renda, ein zwielichtiger Investor aus New York, beschrieb vor einem Bundesgericht, wie die Pleiten zustande kamen. Mafiosi benutzten die Banken als Geldwaschanlagen. Sie investierten gewaltige Summen und lieferten eine Liste all der Kreditnehmer, die im Gegenzug finanziert werden sollten, gleich mit. Gegen gewaltige Provisionen machten viele Vorstände gern mit. Die völlig Korrupten unter ihnen nutzten die dezentrale Struktur der Institute, um windigen Geschäftspartnern für waghalsige oder vorgetäuschte Projekte enorme Summen zu gewähren, an denen sie stattlich beteiligt wurden. Die unvorstellbare Summe von 500 Milliarden Dollar musste schließlich die Bundesregierung unter Reagan aufbringen, um die Banken zu sanieren und die Vermögen der Kleinanleger zu schützen. Eine der »Savings and Loans«-Banken ist unter dem Namen Silverado bekannt. Das Kreditinstitut wurde 1988 geschlossen – allerdings nicht im Oktober, wie die Finanzaufsicht vorhatte, sondern im Dezember. Die beiden Monate Schonfrist waren entscheidend, da sie in den Schlussspurt in George Bushs Wahlkampagne für das Amt des Präsidenten fielen. George Bush hatte ein vitales Interesse an dieser kleinen Verzögerung. Denn seine eigenen Söhne waren in den »S&L«-Skandal verwickelt. Neil Bush, der kleine Bruder des späteren Präsidenten George W., war im Vorstand von Silverado. Deren Zusammenbruch hinterließ Schulden in Höhe von einer Milliarde Dollar. 1990 verklagten die Aufsichtsbehörden des Bundes Neil Bush auf die 158
Zahlung von 200 Millionen Dollar. In einem Gutachten der Behörde hieß es, Bush habe sich in »mehrfachen Interessenkonflikten« befunden. So war er Direktor der Bank, billigte aber persönlichen Geschäftsfreunden, von deren Firma er selbst 550.000 Dollar Jahresgehalt bezog, einen 132Millionen-Kredit zu. Insgesamt sollen diese Freunde 330 Millionen von Silverado bekommen haben, die nie zurückbezahlt wurden. In einem gerichtlichen Vergleich verpflichtete sich Neil Bush schlussendlich zur Zahlung von 50.000 Dollar Schadenersatz. Er war billig davongekommen. Seine Anwaltsrechnungen in Höhe von 250.000 Dollar bezahlte ein Fonds, den ein Freund seines Vaters einrichtete. Dieser Freund, Thomas Ashley, stand jener Bankenvereinigung vor, die zur selben Zeit die US-Regierung um eine Lockerung der Regulierung von Finanzinstitutionen bat. Jeb Bush, der spätere Gouverneur von Florida, unterhielt 1984 bis 1986 Geschäftsbeziehungen zu einem gewissen Miguel Recarey, der 1987 aus den USA floh, nachdem drei Haftbefehle gegen ihn ausgestellt worden waren. Recarey war Chef einer Krankenkasse, der vorgeworfen wurde, sich an Regierungsgeldern bereichert zu haben. Es ging um ein Volumen von 322 Millionen Dollar an unbezahlten Rechnungen und illegal abgezweigten Steuergeldern. Jeb Bush hatte sich in Gesprächen mit der Spitze des US-Gesundheitsministeriums für Recarey verwandt. Recarey revanchierte sich, indem er Jeb Bushs kleiner Immobilienfirma 75.000 Dollar Provision für das Finden eines neuen Firmensitzes in Florida überwies. Jeb Bush räumte später gegenüber dem Wall Street Journal ein, dass er nie eine Immobilie für Recarey besorgt hatte. Er brauchte es auch gar nicht zu tun: Recarey hatte sich schon einen neuen Firmensitz ausgesucht, als er Jeb Bush als Makler anwarb. Der durfte das Geld natürlich trotzdem behalten. Die Zahlungen wurden über jene Bank namens Broward Federal Savings and Loans abgewickelt, die 1985 einen 4,5159
Millionen-Kredit an Edward Houston, einen Geschäftspartner Jeb Bushs, auszahlte. Houston gab das Geld an Bush weiter, der dafür ein fünfstöckiges Gebäude im Finanzbezirk Miamis suchen sollte. Jeb Bush zahlte Edward Houston nichts zurück; Edward Houston zahlte der Broward-Bank nichts zurück. Die Bank verklagte schließlich beide. Auch hier gab es eine Einigung. Jeb Bush musste 500.000 Dollar zurückzahlen, durfte indes das neunmal so teure Haus in Miami behalten. 1991 verklagte der Bund den Vorstand von Broward wegen der Vergabe ungenügend gesicherter Kredite, die die Steuerzahler von Florida insgesamt 285 Millionen Dollar gekostet hatten. Als Fallbeispiel diente in dem Verfahren das Darlehen an Houston und Jeb Bush. Die äußerst enge Verflechtung der Bush-Familie mit texanischen Ölinteressen und der Energieindustrie im weiteren Sinne ist unstrittig. Doch hier fängt das Problem erst an, hier stellen sich erst die entscheidenden Fragen. Sind die Bushs von ihren Sponsoren abhängig? Machen sie Politik im Auftrag der Unternehmer, die ihnen sozial und ökonomisch aufs Engste verbunden sind? Waren zwei Präsidenten und zwei Gouverneure mit dem Namen Bush gar Marionetten der Multis, die halfen, sie an die Spitze zu heben? Wurde nach dem 11. September kein Krieg gegen Saudi-Arabien geführt, obwohl doch 15 der Todespiloten Saudis waren, weil die Bushs so eng mit Riad verknüpft sind? Und: Ist es realistisch, dass eine Unternehmerfamilie, die über drei Generationen hinweg weltweit Geschäfte tätigt und dabei Milliarden bewegt, nicht mit zwielichtigen und anrüchigen Partnern in Kontakt kommt? Wo ist die Grenze, an der wirtschaftliche Interessen politisch unlauter werden? Der Einfluss des Geldes und die Abhängigkeit von bestimmten Wirtschaftsbranchen ist weder bei den Republikanern im Allgemeinen noch bei den Bushs im Besonderen 160
außergewöhnlich. Während der Präsidentschaftswahlkämpfe von 1988 bis 2000 trieben die Republikaner durchschnittlich mehr Spenden ein als die rivalisierenden Demokraten. George W. Bush beispielsweise konnte im Jahr 2000 auf rund 350 Millionen Dollar zurückgreifen, auf immerhin 50 Prozent mehr als sein Gegner Al Gore, der über rund 240 Millionen Dollar verfügte. Doch abhängig vom Geld waren beide. Strukturelle Gegebenheiten tragen dazu bei, dass US-Parteien und US-Politiker auf Lobbys grundsätzlich angewiesen sind. Zwei entscheidende Faktoren, die das politische System Deutschlands prägen, fehlen in den USA. Es gibt keinen Fraktionszwang, und es gibt keine Landeslisten. Jeder Politiker – ob Senator oder Mitglied des Repräsentantenhauses im Kongress, ob Gouverneur, Landesabgeordneter oder Landessenator: Sie alle werden direkt und nach dem Mehrheitsprinzip gewählt. Eine Partei kann niemanden über Listen in ein Wahlamt hieven, der nicht vom Volk direkt entsandt worden wäre. Dies stärkt die Abhängigkeit des Gewählten von seiner Wählerschaft. Die Wähler erwarten im Gegenzug, dass aus den jeweils zu verteilenden Regierungstöpfen etwas für sie abfällt. Da der Abgeordnete durch sein direkt vom Volk erteiltes Mandat eine starke Position hat, kann er sich zugleich Parteivorgaben entziehen. Das deutsche Modell, bei dem eine Bundestagsfraktion ein Stimmungsbild erstellt und die bei der Abstimmung Unterlegenen hernach die Mehrheitsmeinung nach außen mit tragen und im Bundestag entsprechend abstimmen, ist in den USA undenkbar. Ein Republikaner aus Mississippi beispielsweise wäre politisch erledigt, wenn er im Repräsentantenhaus der Mehrheitsmeinung seiner Fraktion zustimmen würde, dass nämlich ein bedeutsames Bundesforschungsinstitut in Missouri errichtet wird – sofern Mississippi und Missouri als mögliche Standorte miteinander konkurrierten. Das Einzige, was zählt, ist das Interesse der 161
Mehrheit der eigenen Wähler daheim. Amerika setzt somit auf ständig wechselnde Mehrheiten als Korrektiv gegen Parteivorgaben und als Ausdruck der Mehrheitsmeinung des ganzen Volkes. In der Gesetzgebung wird immer wieder neu eine Mehrheit aus jenen gesucht, die einer Vorlage aus ihrem persönlichen Eigeninteresse heraus zustimmen können. Denn dieses Eigeninteresse entscheidet: Bei der nächsten Wahl wird der Amtsinhaber nicht daran gemessen, was seine Partei sagt, sondern an seinem höchst eigenen »voting record«, seinen individuellen Abstimmungsentscheidungen. Die werden vom jeweiligen Gegner nach Unvorteilhaftem durchkämmt, die werden in Fernsehspots eingesetzt, wenn sie den Anschein zulassen, der Gewählte habe seiner Wählerschaft geschadet. Was dies praktisch bedeutet, verdeutlicht am besten der langjährige demokratische Senator West Virginias, Robert C. Byrd. Aufgrund seines Dienstalters ist er mächtig. Er hat Dutzenden von Gesetzen Anhänge verpasst, die er zur Voraussetzung für seine Zustimmung erklärte und die Milliarden von Dollar in seinen Bundesstaat umlenkten. Ein strittiges Gesetz über eine Verschärfung der Umweltbestimmungen für die Holzindustrie? West Virginia hat Holzindustrie, sie würde Schaden nehmen. Byrd stimmt nur zu, wenn ein neues nationales Forschungslabor für umweltfreundliche Holzverarbeitungsverfahren gegründet wird, dessen Sitz in West Virginia ist. Da in den USA grundsätzlich jedem Gesetz jede andere Bestimmung, so sachfremd sie auch sein möge, als »amendment« angehängt werden kann, sind der Fantasie kaum Grenzen gesetzt. Byrd wäre es fast gelungen, das gesamte FBI zum Umzug nach West Virginia zu zwingen. Heute tragen unzählige Tunnel, Brücken, Parkbuchten und Autobahnauffahrten seinen Namen, denn Byrds Job ist es, Geld in seine Heimat zu verschieben, und sei es nur – für eine neue Autobahnauffahrt. So einfach ist das. 162
Auch der größte Skandal der zweiten Clinton-Präsidentschaft, ehe Monica Lewinsky die Bühne betrat, verdeutlicht die strukturelle Abhängigkeit der US-Politik von ihren Geldgebern. Das ganze Jahr 1997 über debattierte Amerika den »Campaign Finance Scandal«. Es ging um die Methoden, mit denen Clinton und Gore 1996 Geld eingetrieben hatten. Legendär wurden die »White House Stayovers«, die es für potente Sponsoren gab. Wer eine sechsstellige Summe an die Demokraten gespendet hatte, konnte darauf vertrauen, zum Übernachten im »Lincoln Bedroom« im Obergeschoss des Weißen Hauses eingeladen zu werden. Die Teilnahme an Clintons allwöchentlicher Aufzeichnung seiner Radioansprache, eine Einladung zur Weihnachtsfeier im Weißen Haus oder zu einem Dinner, die Chance, ein gemeinsames Foto mit dem Präsidenten zu ergattern – fast alles war käuflich. Gore kam unter erheblichen Druck, weil ihm vorgeworfen wurde, staatliche Einrichtungen zum Eintreiben von Parteispenden benutzt zu haben, was gesetzeswidrig wäre. Die Diskussion hatte freilich auch ihre absurden Seiten. So wurde auch darüber gestritten, ob es legitim sei, wenn Gore sein Bürotelefon benutzt, um Sponsoren anzurufen. Er hätte, um sich formal korrekt zu verhalten, eine Telefonzelle auf der Straße benutzen müssen. Denn nur das Münztelefon wäre die geforderte nichtstaatliche Infrastruktur, die zum Eintreiben von Geld benutzt werden darf. Die teils verzweifelten Bemühungen Clintons und Gores, an Geld zu kommen, illustrieren die grundlegende Abhängigkeit der US-Politik von ihren Geldgebern. Aber als bester Beleg dafür, dass Spender umgekehrt auch auf Entscheidungen Einfluss nehmen, gilt eine Episode, die sich einst im Landessenat von Texas zutrug. Dort verteilte der Hähnchenfabrikant Pilgrim Schecks an Politiker, während die Abstimmung über eine von ihm abgelehnte Arbeitnehmerversicherung gerade stattfand. Das war drastisch in seiner Unverstelltheit, aber nicht unüblich in der Substanz. Im Laufe 163
des »Campaign Finance«-Skandals wurde der US-Bevölkerung bewusst, dass ihre Vertreter rund die Hälfte ihrer Zeit damit verbringen, sich selbst zu finanzieren, sprich: potenzielle Sponsoren anzuwerben, sie zu bearbeiten, bei ihnen zu betteln. Die Bushs hatten hier fraglos einen Vorteil. Ihnen stand ein über die Jahrzehnte gewachsenes Netz zur Verfügung. Clinton, der Emporkömmling, hatte nichts Vergleichbares. Doch dies bedeutet nicht, dass die Republikaner von Industrielobbys abhängen, die Demokraten aber nicht. Es sind nur verschiedene Lobbys, die ihren Einfluss auf unterschiedliche Weise auf die jeweilige Partei ausüben. Dies wurde deutlich, als Gore und Bush im Jahr 2000 über ein Kernprojekt der Demokraten stritten, die »patients’ bill of rights«. Dieser »Grundrechtekatalog für Patienten« sah hauptsächlich vor, Bürgern freie Hand zu geben, wenn sie Ärzte, Kassen oder Versicherer verklagen wollten. Die Republikaner setzten sich für Obergrenzen bei Prozessen wegen Pfusch, verweigerten Leistungen oder Kunstfehlern ein. Was die Demokraten als Kampf für Patientenrechte priesen, war in Wahrheit eine Herzensangelegenheit der großen Anwaltsverbände. Sie wollten unbegrenzte Schadenersatzprozesse führen können. Die Anwaltslobby steht traditionell den Demokraten nahe, Clinton und Gore konnten es sich daher nicht leisten, eine Position zu vertreten, die den Interessen der Anwaltslobby zuwiderlief. Die Versicherungswirtschaft, die Interessenverbände der Lehrer und die Filmindustrie sind weitere Kernlobbys im Umfeld der Demokraten. »Big Corporate Business«, die Multis also, tendieren dafür eher zu den Republikanern. Doch jede Lobby sorgt schon aus Eigeninteresse dafür, dass Vertreter beider Parteien gelegentlich Schecks von ihnen bekommen. So gibt es also in Amerikas politischer Praxis unterschiedliche Abhängigkeiten, aber keinen Gegensatz zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit. Der berühmteste Streiter wider die Hörigkeit der Politiker gegenüber ihren Finanziers war ein 164
Republikaner, Bushs Vorwahlkonkurrent John McCain. Er setzte schließlich erhebliche Verschärfungen beim so genannten »soft money« durch, der Höhe nach nicht begrenzten Spenden, die nicht einem konkreten Kandidaten zugute kommen, sondern – zumindest offiziell – abstrakt der Parteiarbeit insgesamt nutzen sollen. Der andere Topf heißt »hard money«: der zulässigen Höhe nach begrenzte Spenden für den konkreten Wahlkampf eines konkreten Kandidaten. Aber es gibt auch andere Entwicklungen, die diese Abhängigkeiten entschärfen sollen. So sind gegen das »revolving door«, den steten Personalaustausch zwischen Regierung und Industrievorständen, etliche Gesetze erlassen worden. Sie sollen nicht für Undurchlässigkeit sorgen, sondern klare Regeln setzen, wie ausscheidende Regierungsvertreter sich in einem neuen Amt als Unternehmenschef zu verhalten haben. So ist ihnen beispielsweise eine mehrjährige Kontaktsperre zu ihren Exmitarbeitern in der Ministerialbürokratie auferlegt. Umgekehrt legen neuere Gesetze fest, dass ein Firmenchef, der in die Regierung wechselt, nicht direkt mit der exekutiven Gewalt über seine einstige Branche betraut werden darf. Über den Sinn solcher Maßnahmen kann man streiten. Sie sind vor allem dann aussichtslos, wenn man von einem dichten Kontaktnetz ausgeht, in dem formelle Briefwechsel der unwichtigste Teil sind, der kurze Plausch auf dem Golfplatz oder beim Jahrestreffen der Alumnis aus der gemeinsamen Alma Mater aber viel wesentlicher das geschäftliche Fortkommen beeinflusst. Dennoch: Amerika hat das Problem erkannt und versucht seit Jahrzehnten, entsprechende gesetzliche Regelungen zu finden. In Deutschland dagegen findet kaum jemand etwas dabei, wenn ein just ausgeschiedener Wirtschaftsminister – wie Werner Müller aus dem ersten Schröder-Kabinett – in Spitzenverantwortung für jene Firmen aktiv wird, die er gerade noch politisch kontrollierte. Es gab mehrere Versuche politischer Gegner, die Geschäfts165
beziehungen der Bushs in Wahlkämpfen auszuschlachten. Am intensivsten versuchte die texanische Demokratin Ann Richards, die Frau, die von George W. Bush aus dem Gouverneursamt verdrängt worden war, den Makel der Kontakte zu der Familie bin Machfus in Wählerstimmen umzumünzen. Doch all ihre Versuche scheiterten. Aber nicht etwa, weil Vorwürfe gegen die Bushs totgeschwiegen wurden. Sie stießen vielmehr auf gelangweiltes Desinteresse. Dass eine Familie, die jahrzehntelang im Ölgeschäft aktiv ist, Beziehungen auch zu nicht ganz koscheren Personen und Firmen hat, dass Industrielobbys Politiker, die ihren eigenen Reihen entstammen, auch hernach als Einflussmöglichkeit nutzen, kurz: dass die Wirtschaft in der Politik ihre eigenen Interessen so massiv wie möglich durchgesetzt sehen will und dafür an Instrumenten einsetzt, was gerade noch erlaubt ist – nichts davon konnte die US-Bürger erstaunen. Ein enttäuschter Demokrat hat einmal selbstkritisch über die Versuche, den Bushs Zwielichtiges anzuhängen, gesagt, mit einer solchen Taktik erwecke man in der Bevölkerung nur den Eindruck, ein »Verschwörungstheoretiker wie der Filmregisseur Oliver Stone« zu sein. Aus den jahrzehntelang gepflegten Geschäftsbeziehungen der Bushs, die unentwirrbar mit den sozialen Netzen von Yale, von »Skull and Bones« und von exklusiven Ferienrückzugsorten verknüpft waren, hatte sich der »Club der Hundert« herauskristallisiert, ein Verein der privilegierten und verlässlichen Großspender. George Bush baute dieses Netzwerk auf und zapfte es zuletzt bei seinem gescheiterten Wahlkampf von 1992 an; George W. Bush konnte es sich dank der moralischen Entrüstung vieler über Clinton im Jahre 2000 und dann erneut bei der Amtsverteidigung 2004 zunutze machen. Der »Club der Hundert« war ein loser Zusammenschluss von Bush-Anhängern, die aus ihrem Familienvermögen jeweils mindestens 100.000 Dollar für die republikanische Sache 166
spendeten und zugleich in ihrem persönlichen und professionellen Umfeld als Akquisiteure noch höherer Summen auftraten. Vorstände etlicher Firmen, mit denen die Bushs in Verbindung standen, fanden sich auf der Hunderterliste wieder. Auch Bosse des Energieriesen Enron. Dies wurde publik, als in den Jahren 2001 und 2002 mehrere amerikanische Großunternehmen wegen unsauberer Bilanzierungspraktiken in die Kritik gerieten. Es ging nicht um verzeihliche Rechenfehler. Es ging um die planmäßige Täuschung von Anlegern, indem Auftragsvolumina und Gewinne geschönt und Verbindlichkeiten klein gerechnet wurden. Als Abermillionen von Amerikanern ihre Altersvorsorge und ihre Collegespargroschen für die Kinder an den Börsen verloren hatten, standen die Signale nicht länger auf Langmut und Euphorie. George W. Bush wurde sein zögerliches Eingreifen vorgeworfen, und dieses wurde vor dem Hintergrund seiner eigenen Geschäftskontakte gesehen. Seine Nähe zum Big Business holte den Präsidenten ein. Als Fanal galt sein Kontakt zu Enron-Chef Ken Lay, eine Beziehung, die durch den regen Austausch von artigen Dankesbriefen, kleinen Nettigkeiten und vertrauten Spitznamen wohl dokumentiert ist. Als Lay 55 wurde, bekam er eine handschriftliche Notiz von Bush, die natürlich scherzhaft gemeint war, aber die vertraute Nähe beider Männer belegt: »55 Jahre. Wow. Das ist echt alt.« Die Gesamtsumme, die Enron als Unternehmen und seine Vorstände als Privatpersonen im Wahlkampf des Jahres 2000 für Bush gespendet hatten, wird auf 700.000 Dollar geschätzt. Für die Präsidentschaftswahlkämpfe von Vater George Bush gilt Enron gar als größter Einzelspender überhaupt. Enrons Ende kam Ende 2001/Anfang 2002. Bush persönlich hatte sich zuvor vehement dafür eingesetzt, dass in Kalifornien keine Obergrenzen für die Strompreise eingeführt werden. Durch eine geschickte Verknappungspolitik hatte Enron dafür gesorgt, dass 167
Kalifornien kaum noch genügend Strom bekam, der dafür aber zu Höchstpreisen zu bezahlen war. Bush hielt stets engen persönlichen Kontakt zu Lay und berief den Vorsitzenden der Federal Energy Regulatory Commission, der Bundesaufsicht im Energiewesen, von seinem Posten ab, als der eine Untersuchung der fragwürdigen Finanzgeschäfte Enrons im Derivathandel begann. Der Name des Nachfolgers stand auf einer Personenliste, die Lay selbst zusammenstellen durfte. Der Kontrollierte durfte sich mit Billigung des Präsidenten seinen Kontrolleur selbst aussuchen. Und zuletzt wies Bush den Stab seines National Security Council an, sich in massiver Form in Indien für Enron einzusetzen. Dorthin wollte das Unternehmen ein riesiges Elektrizitätswerk liefern. Ein Teil der Aufklärung des Enron-Skandals, der in der aktienfreundliehen Kultur der USA direkte Folgen für eine Vielzahl von Bürgern hatte, versandete im beginnenden Krieg gegen den Terror nach dem 11. September 2001. Im Wahlkampf 2004 kam das Thema indes wieder hoch. Es ging weniger um konkretes Fehlverhalten Bushs oder gar um strafrechtlich relevante Vorwürfe. Enron sollte vielmehr zur Chiffre werden für eine allzu große Nähe, und zwar jene zwischen den Bushs und den Geschäftsleuten, die sie mitfinanzierten. Und sich dafür natürlich etwas versprachen. Und sei es nur ein offenes Ohr. Wie hatte der große Vereinfacher George W. Bush einst ganz zutreffend über die Welt der Wirtschaft geurteilt? »Buchhaltung ist nicht immer eine Sache von schwarz oder weiß!«
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10. Familienbande Beide Bush-Präsidenten haben ihre engsten Mitarbeiter als Teil ihres verzweigten Familiennetzwerkes verstanden. Sie gewährten ihnen damit das Privileg des Zugangs zur Familie und deren Vertrauen – erwarteten aber umgekehrt von ihren Ratgebern ein Maß an Treue und Loyalität, das weit über politische Zweckgemeinschaften hinausgeht. Zentrale Figuren begleiten die Familie gar über Jahrzehnte. James Baker beispielsweise hat für die Bushs über gut 40 Jahre hinweg immer wieder in kritischen Situationen die Kohlen aus dem Feuer geholt. Von den Anfängen als juristischer Berater des älteren Bush in den 50er Jahren und dem Amt des Finanzministers unter Reagan, als George Bush Vizepräsident war, über das Amt des Außenministers während des Endes des Kalten Krieges bis hin zur Organisation der Kampagne von George W. Bush gegen die Nachzählung in Florida Ende 2000: Stets war Baker zur Stelle. Er gehörte damit zum engeren, familienähnlich organisierten Kreis von Freunden, Beratern, Anwälten. George Bush selbst entwickelte seinem eigenen Chef Ronald Reagan gegenüber nie ein solches Verhältnis. Colin Powell hat über Bush 41 und die gemeinsame Arbeit in den 80er Jahren geschrieben: »Ich hatte ihn gut kennen gelernt. Ich hatte verfolgt, wie er sich bei Treffen mit dem Präsidenten (Reagan) im Oval Office benahm, wo er wenig sagte. Er zog es vor, dem Präsidenten seine Ratschläge privat mitzuteilen.« Doch so war es nicht ausschließlich. Eine der wenigen offen ausgetragenen Kontroversen zwischen Bush und Reagan handelte vom Schicksal des panamaischen Diktators Noriega, der in den USA wegen Drogendelikten angeklagt war. Reagans Berater empfahlen, Noriega Straffreiheit zuzusichern, falls er ins Exil 169
gehen würde. Bush war dagegen: Tausende US-Polizisten riskierten ihr Leben im Kampf gegen Südamerikas Kokainschmuggler, und Noriega sollte Straffreiheit zugesagt werden? Der Deal sei schlimm, schlimm, schlimm, sagte Bush, und der Präsident solle da nicht mitmachen. »Hm, George, sehr interessant«, antwortete Reagan. »Aber ich glaube, den Deal sollten wir annehmen.« Tags drauf traf Bush einen hohen Reagan-Berater im Weißen Haus, hielt ihn an, stocherte mit dem Zeigefinger auf dessen Brust und sagte: »So sicher war ich mir selten in meinem Leben, und ich werde alles tun, alles, um diesen Kuhhandel zu verhindern!« Noriega landete schließlich in einem Bundesgefängnis der USA in Florida. Bush hatte bewiesen, dass er hart und durchsetzungsfähig sein konnte. George Bush war ein Mann, der stets auf linkische Weise zwischen dem steifen und förmlichen Stil seiner fast aristokratischen Herkunft und dem flapsigen Pioniergehabe seiner Wahlheimat Texas hin- und herschwankte. Der Baseballfan und Broccolihasser war aber auch ein offener, selbstkritischer Mann mit Humor. So hob er einen Preis aus der Taufe, der nach seinem Sicherheitsberater benannt war, den »Brent Scowcroft Award«. Diese Auszeichnung sollte bei internationalen Verhandlungen der müdesten Delegation verliehen werden. Einmal, bei der KSZE in Paris, schliefen die drei Vertreter Islands in der ersten Reihe alle gleichzeitig ein – einer gar inmitten seines eigenen Referates. Bush unterbrach die Sitzung, um den Scowcroft-Preis zu übergeben. Der Mann, der immer auch ein großer Junge blieb, verband Schalk und Werte auf eigenwillige Weise. Aber auch die Gattin des Vizepräsidenten war bei aller Unzweideutigkeit ihrer Energie von einem durchaus humorigen Wesen, wie Colin Powell bald feststellen sollte. Barbara Bush war Gast in der französischen Botschaft in Washington, in der zu Ehren des Pariser Verteidigungsministers ein Essen gegeben 170
wurde. Colin Powell saß neben ihr: »Ich sagte: ›Wie geht es Ihnen heute?‹ ›Gut‹, antwortete sie, ›und nenn mich Barbara.‹ ›Meine Mutter hätte mir nie gestattet, so etwas zu tun‹, antwortete ich. ›Ich bin nicht deine Mutter‹, beschied sie. ›Nenn mich Barbara!‹« Als der Sohn von George und Barbara sich anschickte, selbst das Weiße Haus zu beziehen, hielten sich seine Eltern meistens im Hintergrund. Dies blieb auch während der Amtszeit von Bush 43 so. Berater George W. Bushs haben berichtet, es werde ihnen so gut wie nie gestattet, im Raum zu bleiben, wenn der Präsident mit seinem Vater telefoniert. Daher gibt es kaum Einblicke, in welchem Maß der Ältere dem Jüngeren Ratschläge gibt. Einen aber gibt es. George Bush war der einzige US-Präsident, der zuvor selbst als CIA-Chef gearbeitet hatte und beide Seiten kannte. Ende Dezember 2000, als sein Sohn siegreich aus dem Nachwahlchaos in Florida hervorgegangen war, machte George Bush ihm deutlich, wie zentral ein gutes Verhältnis zum Chef des CIA in seiner Position war. »Der frühere Präsident betonte, wie wichtig es ist, dass ein Präsident mit dem CIA-Direktor Gespräche unter vier Augen führt, statt seine Berichte nur auf Papier zu erhalten«, schilderte Andrew Card, der Stabschef im Weißen Haus unter Bush 43, den Inhalt der väterlichen Ratschläge im Rückblick. In einem Interview mit der New York Times vom 17. Dezember 2002 sagte Card: »Und so sagte mir der gewählte Präsident: ›Kümmern Sie sich darum, dass es so geschieht. Ich will den CIA-Direktor sehen und die Möglichkeit haben, mit ihm zu reden.‹« Fast täglich, um acht Uhr morgens, unterrichtet CIA-Chef George Tenet seinen Präsidenten George W. Bush. Die Runde hat eine halbe Stunde Zeit; Vizepräsident Dick Cheney, Andrew Card und Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice sind meistens dabei. Es ist Bushs erstes Meeting, danach folgt eine ebenfalls halbstündige Runde mit dem FBI-Direktor. Dass Bush an Tenet, 171
immerhin einer Clinton-Ernennung, trotz aller Geheimdienstpannen festhielt, dürfte viel mit seinem Vater zu tun haben. Tenet war es, der 1999 die Benennung der CIA-Zentrale knapp westlich von Washington nach George Bush durchsetzte. Bei der entsprechenden Zeremonie saßen der 41. Präsident und Tenet Seite an Seite und verstanden sich prächtig. Außerdem war George Bush stets der Ansicht, ein CIA-Chef solle unpolitisch sein und Regierungen unterschiedlicher parteipolitischer Ausrichtung dienen können. Dass Jimmy Carter ihn selbst nach dem Ende der FordRegierung 1977 als CIA-Direktor entlassen hatte, hielt er für falsch. Nun empfahl er seinem Sohn, an Tenet wieder gutzumachen, was ihm selbst 24 Jahre zuvor widerfahren war. Zuletzt gab es eine persönliche Affinität zwischen George W. Bush und George Tenet. Beide verabscheuten zur Schau gestellte Bildung, Elitedünkel, Arroganz und Snobismus. Tenet, der als Laufbursche im griechischen Imbiss seines Vaters im New Yorker Stadtteil Queens gearbeitet hatte, stand für eben jene unverstellte Direktheit und Basishaftung, die der jüngere Bush sein Leben lang suchte. Bei des Seniors gewaltigem Erfahrungsschatz, den er vor seinem Einzug ins Weiße Haus gesammelt hatte, stellte sich nie die Frage, wer wirklich die Fäden in der Hand hielt. Anders bei seinem Sohn. Wer hinter den Kulissen des Regierungssitzes das Kommando führte, blieb ein Gegenstand endloser Spekulation. Als »Puppenspieler«, der den Präsidenten an unsichtbaren Fäden tanzen lässt, galt mal Vizepräsident Dick Cheney, eine Art Ministerpräsident in der Anfangsphase bis zum 11. September, oder auch Bushs Chefstratege Karl Rove, ein alter Bekannter aus gemeinsamen Zeiten in Texas. Alternativ bot sich auch die Achse der Falken an, also Verteidigungsminister Donald Rumsfeld mit seinem Vize Paul Wolfowitz. Insider widersprechen indes der Einschätzung, Bush 43 hänge an irgendeinem Gängelband. Sein ehemaliger Redenschreiber David Frum, der Erfinder der »Achse 172
des Bösen«, sagte über George W. Bush: »Man kann nicht eine Minute in seiner Gegenwart verbringen, ohne zu merken, wie sehr er das Heft in der Hand hält.« Die Stärke seiner Topberater wurde des Öfteren als Beleg für die Schwäche Bushs gesehen. Dass im Kabinett und an der Spitze des National Security Council in der Tat höchst eigenständige, entscheidungsfreudige und durchsetzungsfähige Personen versammelt waren, bestätigte Henry Kissinger, eigentlich kein Freund der Bushs: »Mann für Mann ist das ein viel besseres Team, als Clinton eines hatte.«
Der Junior tritt in die Fußstapfen des Seniors, beschreitet jedoch politisch einen anderen Weg: Der amerikanische Präsident George W. Bush (rechts) sitzt am Tag seiner Amtseinführung am 20. Januar 2001 erstmals an seinem neuen Arbeitsplatz, dem Schreibtisch im Oval Office des Weißen Hauses. Er unterhält sich mit seinem Vater.
Vor allem nach dem Irakkrieg fiel auf, wie sehr George W. Bush Treue belohnte und Kritik nicht vergaß. Zwei zuvor ranghohe 173
Berater wurden abgeschoben – General Zinni, weil er gesagt hatte, es gebe Wichtigeres als die Beseitigung Saddam Husseins, und Wirtschaftsberater Lindsey, weil er bereits Ende 2002 die Kosten eines Irakkrieges auf 150 bis 200 Milliarden Dollar beziffert hatte. Das war zu früh gewesen und hatte den Aufbau breiter öffentlicher Unterstützung für den geplanten Waffengang behindert. Dagegen blieben Personen im Amt, die Fehler bei der Kriegsbegründung gemacht hatten, sich aber sonst loyal verhalten hatten: CIA-Chef George Tenet, Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice und deren Stellvertreter Stephen Hadley. Es war aber keineswegs nur eine Gruppe altgedienter Veteranen aus des Vaters Zeiten, die George W. Bush um sich scharte – darunter etliche, die Bush 41 auch skeptisch gegenüberstanden. Daneben gab es die sehr Jungen, mit denen Bush 43 ein konservatives Gegenmodell zu den »Kennedy-Boys« der 60er Jahre schuf. Als im Juli 2003 Ari Fleischer das Weiße Haus verließ, folgte ihm als Sprecher des Präsidenten Scott McClellan, ein 35-jähriger Texaner, der bis dahin der Stellvertreter Fleischers gewesen war. Den neuen Job bekam er nach einem kurzen Plausch mit George W. Bush an Bord der Air Force One. Kurz vor Beginn des Präsidentschaftswahlkampfes 2004 organisierte Bush seinen innersten Zirkel neu und umgab sich mit jungen, loyalen Kräften, die verschwiegen sind, viel arbeiten können und nie widersprechen. In Washington wurde dieser Kreis spöttisch die »Echokammer« genannt: Wie der Präsident sprach, so schallte es zurück. »Bush fördert diese jungen Leute und bietet ihnen Posten an, die früher nur von äußerst erfahrenen Menschen übernommen wurden«, sagte damals Paul Light, der an der Universität von New York Politik unterrichtete. »Er formt sich ein Greenhorn-Team, das keine eigenen Ansichten hat, sondern Befehle empfängt und umsetzt.« Der Kommunikationsdirektor des Weißen Hauses, die Personalchefin der Regierungszentrale, der Wahlkampfmanager Bushs und die Sprecherin der Wiederwahlkampagne, um nur 174
einige zu nennen – sie alle waren nicht älter als 35 Jahre. Derartige Personalentscheidungen folgten offenbar einer Methode: Einige Schwergewichte – Bush, Cheney, Card, Rice und Chefberater Karl Rove – sollten im Weißen Haus den Ton angeben und bestimmen, was getan und gesagt werden musste. Alle anderen setzten um und führten aus. Natürlich wurde bestritten, dass es sich dabei um eine Methode handelte. Sämtliche Mitarbeiter von Bush seien stets »offen und ehrlich«, sagte Fleischer zum Abschied. »Menschen, die kriechen und schleimen, gelangen nicht in den innersten Zirkel des Weißen Hauses.« Zu den Schwergewichten, die sich meist im Hintergrund hielten, gehörte Karl Rove. »Ich kenne Karl seit langem, seit ungefähr 1972«, berichtete George W. Bush während des Wahlkampfes 2000. »Ich glaube – ich weiß! –, dass er brillant ist!« Rove war, wie Bill Clinton, ein armer Südstaatler aus einer kaputten Familie. Auf dem College, das er ohne Abschluss verließ, organisierte er die Jung-Republikaner. Dann zog er nach Texas, um George Bush zu helfen. Fast 20 Jahre lang organisierte er von Austin aus alle Wahlkämpfe der Partei. Der Choleriker und Pedant, ein massiger Mann mit schütterem, blondem Haar, verfügte über ein phänomenales Gedächtnis. Amerikanische Geschichte, vor allem die Wahlkämpfe der vergangenen 150 Jahre, lieferte ihm unendliches Anschauungsmaterial für die richtige Strategie im Ringen um Macht. Im Weißen Haus des George W. Bush stand der innenpolitische Chefstratege Rove Condoleezza Rice zur Seite, die das National Security Council führte und damit für die Außenpolitik des Oval Office verantwortlich zeichnete. Rice war nicht nur die erste Frau und die erste Schwarze in dieser Stellung, sie hatte zeitlebens Rekorde aufgestellt. Im November 1954 wurde sie in Birmingham in Alabama geboren. Die Rassentrennung in den Südstaaten war die prägende Erfahrung ihrer jungen Jahre. »Du musst immer mindestens doppelt so gut 175
sein«, hat sie die Lehre beschrieben, die sie aus den sozialen Gegebenheiten zog. Sie war es – musisch und sportlich äußerst talentiert und erfolgreich, schaffte sie es, mit 15 die Schule und mit 19 das College zu beenden. Im Alter von 20 Jahren hatte die fast professionelle Pianistin einen Masterabschluss, auf den die Promotion in Zeitgeschichte und Politik folgte. Seit 1981 unterrichtete sie an der kalifornischen Stanford-Universität, wo sie bis zum Provost aufstieg, einer Spitzenstellung in der privaten Hochschule. Als Europaspezialistin arbeitete sie unter George Bush bereits im National Security Council, dessen Leitung sie unter George W. Bush schließlich übernahm. Ein Beobachter hat einmal über Rice gesagt, sie sei »Bushs dritte Tochter – nein: Wunschtochter!« Denn Rice verkörperte alles, was den neuen Republikanern lieb war: Südstaaten, Minderheit, Zielstrebigkeit, enorme Eigeninitiative, grandioser Erfolg. Und das alles, ohne jemals über gesellschaftliche Hemmnisse oder soziale Benachteiligungen zu lamentieren. Rice, die keine eigene Familie hat, wurde zu einer Art Ehrenmitglied des Bush-Klans. Dennoch war stets klar, dass bei aller Loyalität der politischen Spitzenkräfte die Familie selbst es war, die den Kern des stützenden, fordernden und fördernden Beziehungsgeflechts ausmachte. Unter den Kindern von Bush sen. war es Jeb, der stets als der politischste Kopf galt. Entsprechend fieberte er mit, wenn Wahlen anstanden, für die sein Vater kandidierte. George W. Bush hingegen sorgte für einen kleinen Familienskandal, als er 1988 bei der Debatte zwischen seinem Vater und Mike Dukakis in Los Angeles auf den neugierigen Anruf seiner Eltern hin einräumen musste, für ein Urteil nicht herhalten zu können. Statt das Präsidentschaftsduell zu sehen, war George W. lieber ins Kino gegangen. Die Geschwister waren stets auch praktische Helfer. Bereits 1980 wurde die ganze Familie für den Wahlkampf eingespannt. Jeb lebte damals mit seiner Frau Columba noch in Venezuela, 176
wo er eine Bankniederlassung leitete. Er gab den Posten auf, um hauptberuflich Wahlkampf für Reagan und seinen Vater zu führen. Seine Schwester Dorothy unterbrach ihr Studium am Boston College, machte einen Sekretariatskurs und zog ins Bush-Hauptquartier ein. George W. knüpfte nach seinem eigenen, 1978 gescheiterten Kongress-Wahlkampf in Westtexas nahtlos bei seinem Vater an. Bei den Wahlen von 1988 und 1992 sowie bei der 2000er-Entscheidung zwischen Gore und Bush jun. war erneut die ganze Familie eingespannt. Im Sommer 1985 musste sich Reagan einer Darmoperation unterziehen. Sieben Stunden lang war George Bush Präsident – bis Reagan aus der Narkose aufgewacht war. In den folgenden Wochen erfuhr Amerikas Öffentlichkeit viele Details über Geschwüre im Darm und deren Behandlung. Mit wachsendem Entsetzen hörte Marvin, der jüngste Bruder von George W. Bush, zu. Er hatte seinen Eltern und Geschwistern noch nicht verraten, dass er an einer schweren Autoimmunstörung litt, die seinen Darm auffraß. Im Mai 1986 hatte Marvin Bush bereits 22 Kilo an Gewicht verloren und zahllose Arztbesuche absolviert. Barbara Bush war gerade auf der Rückreise von einem Fundraiser und hatte ihr Flugzeug in St. Louis bestiegen. Die Tür war bereits geschlossen, da signalisierte der Secret Service, er brauche dringend noch einmal Zugang. Das Bordpersonal öffnete die Tür. Die Männer sagten Barbara Bush, der Vizepräsident müsse sie dringend sprechen. George Bush hatte eine kurze Nachricht für seine Frau: Ihr Sohn Marvin lag im Sterben. Wenige Stunden später waren beide Eltern am Bett ihres Sohnes. Jeb rief an und sprach lang mit seinem Bruder. Zum Abschied sagte er: »Ich liebe dich, Marvin!« Barbara Bush hörte mit und schrieb später über diese Szene: »Meine Jungs sagen einander solche Sachen nicht. Sie wissen es einfach, und handeln danach. An jenem Tag sagte Jeb es.« In zwei dramatischen Operationen im Abstand von mehreren 177
Monaten wurde Marvin Bush ein Großteil seines Darmes entfernt. Er kam nur knapp mit dem Leben davon. Für einen sportlichen jungen Mann wie ihn war seine schwere Krankheit ein gewaltiger Schlag. Doch er erholte sich und wurde zum Aktivisten im Kampf gegen sein Leiden und für die Interessen von Amerikanern mit künstlichem Darmausgang. Er und seine Frau adoptierten 1986 und 1989 zwei Kinder. Barbara Bush nahm ihre Rolle als Großmutter hart, herzlich und konsequent an. Am Tag nach dem Wahlsieg ihres Mannes 1988 waren die Zwillinge von George W. und Laura Bush, Jenna und Barbara, an Bord des Flugzeuges, das die ganze Familie von Texas zurück nach Washington brachte. Jenna und Barbara stopften Klopapier in die Toilette, bis nichts mehr ging. In ihrem typischen, praktischen Humor schrieb Oma Barbara später: »Bis zu meinen Ellbogen war ich damit beschäftigt, das Ding frei zu bekommen. Ich kam nicht umhin, zu rätseln, ob wohl schon einmal die Gattin eines gewählten Präsidenten ihren ersten Morgen damit verbrachte, eine Toilette zu entstopfen.« Wahrscheinlich nicht. Dabei sollte es immer wieder familiäre Besonderheiten geben, die die bereits erwiesene Hemdsärmeligkeit der First Lady herausforderten. Nach dem Machtverlust Ende 1992/Anfang 1993 organisierten George und Barbara Bush ihr Leben neu. Fortan verbrachte das Paar sieben Monate im Jahr in Texas und fünf Monate in Maine, im geliebten Kennebunkport. Den Wahlkampf von George W. Bush im Jahr 2000 begleiteten beide aufs Engste, hielten sich aber öffentlich zurück, um dem Sohn die nötige Freiheit zu lassen. Dennoch machte George Bush klar, was er zu tun beabsichtigte, sollte einer der Konkurrenten seinem Sohn zu nahe kommen. Bei der Convention in Philadelphia sagte Bush 41: »Ich werde mich verdammt noch mal raushalten. Aber notfalls lassen wir Barbara von der Leine!« Jebs Sohn charakterisierte die Rolle seiner Großmutter recht zutreffend, als er sie »die Zerstörerin« taufte. 178
Den Triumph seines Sohnes bei der Wahl 2000 kommentierte der Vater im Nachhinein auf seine erprobte, selbstironische Art: »In den USA gehe ich gerade durch eine Identitätskrise. Ich war der Präsident der USA, und jetzt bin ich entweder der Vater des Präsidenten der USA oder Barbaras Gatte.« Als George Bush einmal – im April 2002 in Berlin – gebeten wurde, etwas ausführlicher die private Ebene der komplexen Beziehung zu seinem Sohn und Nachfolger zu beschreiben, sagte der Altpräsident bei einem festlichen Empfang zu klassischer Musik: »Die Leute fragen mich jetzt, wie das so ist, wenn man seinen Sohn zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika hat. Na ja, es ist wie Familie. Ich mag die Worte ›Nachlass‹, ›Erbe‹ oder ›Traditionen‹ nicht, sondern es ist wie Familie. Es ist wie der Stolz, den man empfindet, oder den Ihr Vater für Sie empfindet, dass diese wunderbare Musik gespielt wird. Es ist wie Familie. Ich zeige großen Respekt vor dem Präsidenten. Ich gebe ihm nicht viele Ratschläge – zum Glück für unser Land. Ich schließe jetzt mit einer Geschichte, die Ihnen zeigt, dass Barbara sich nicht verändert hat. Letzten Sommer kamen der Präsident und Laura zu Besuch zu uns, und morgens joggt er ja immer. Er war draußen, und er kam zurück, und er las seine Zeitung entspannt mit den Füßen hoch. Barbara und ich saßen auf unserem Bett, und Barbara tippte gerade an einem neuen Buch. Sie nahm die Lesebrille ab, sie schaute und sie sagte: ›George, nimmst du gefälligst deine Füße von meinem Tisch?‹ Ich sagte: ›Der Typ ist der Präsident der Vereinigten Staaten! Jetzt lass ihn in Ruhe, in Ordnung?‹ So ist das bei uns!«
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11. Misstöne und andere Malheurs Amerika reißt gerne Witze und spottet recht unsanft. Würde und Respekt kennzeichnen den offiziösen Umgang mit dem Staatsoberhaupt, doch in den Late-Night-Shows, in Bars und im Internet gibt es keinerlei Hemmungen, den Präsidenten durch den Kakao zu ziehen. Die US-Gesellschaft scheint den Pomp und die Ehrerbietung gegenüber dem Amt des Präsidenten dadurch zu kompensieren, dass deren Inhaber unerbittlich auf allzu menschliches Normalmaß reduziert werden. Jedenfalls haben beide Bush-Präsidenten eine gehörige Portion Spott abbekommen. Schuldlos daran sind sie nicht. Die immer wieder neue Skurrilitäten produzierende, negative Sprachakrobatik der Bushs ist legendär. Vater Bush beendete beispielsweise 1991 eine Pressekonferenz mit den denkwürdigen Sätzen: »Ich muss jetzt los und mich entspannen. Der Arzt hat mir gesagt, ich müsse mich entspannen. Der Arzt hat mir gesagt, ich müsse mich entspannen. Der Arzt hat gesagt. Er war’s. Er hat gesagt: Entspann dich.« Die Zuhörer blieben verdutzt zurück. Über die Anschaffung eines Hundes sagte George Bush 1989: »Irgendein Zyniker hat mal gesagt, vielleicht war es ein früherer Präsident: Wenn du in Washington einen Freund haben willst, hol dir einen Hund. Nun, wir haben ihn wörtlich genommen. Diesen Rat. Wie Sie wissen. Aber ich habe das nicht gebraucht, weil ich Barbara Bush habe.« Auch über seinen Glauben extemporierte George Bush in ungewöhnlicher Form: »Wenn Sie keinen Glauben haben, können Sie nicht Präsident der Vereinigten Staaten sein. Erinnern Sie sich an Lincoln, auf seinen Knien in schweren Zeiten und der Bürgerkrieg und all das Zeug. Sie können nicht. Und wir sind gesegnet. Also sorgen Sie sich nicht deswegen. Don’t cry for me, Argentina!« 1988 vertat er sich gleichfalls auf 180
fatale Weise: »Ich hoffe, ich stehe für Antibigotterie, Antisemitismus, Antirassismus. Das ist es, was mich antreibt.« Sein Sohn George W. Bush lobte statt der »fantastischen offenen Gesellschaft« eben die »fantastische opportunistische Gesellschaft« der USA. Im Januar 2002 sagte er in Florida: »Ich werde Ihnen eine interessante Idee geben, die in Maine stattfindet. Die haben Hummerfischer in Maine, patrouillieren jetzt die Küste auf freiwilliger Basis, um sicherzustellen, dass jemand in einem – jemand, der etwas dabeihat, das sie nicht dabeihaben wollen in einem Boot, taucht an der Küste auf. Ich denke, es gibt so viele Wege, wie man der Gemeinschaft dienen kann.« Ähnlich durcheinander erschien George W. Bush zwei Monate zuvor in Crawford auf seiner Ranch: »Und deshalb glaube ich, dass eines der Felder, wo die Stereotypen des durchschnittlichen Russen über Amerika sich geändert haben, das ist, dass es ein Klima der Zusammenarbeit ist, nicht EinzelHochschaft, dass wir jetzt verstehen, dass eins plus eins drei ergeben kann, im Gegensatz zu uns und Russland wir hoffen null zu sein.« Berühmt wurde sein Ausspruch vom Oktober 2001 vor Angestellten des Arbeitsministeriums: »Und in meinem Kopf ist kein Zweifel, nicht ein Zweifel in meinem Kopf, dass wir versagen werden.« Im Juli 2001 sagte er während einer Europareise: »Ich weiß, woran ich glaube. Ich werde weiterhin sagen, was ich glaube, und was ich glaube – ich glaube, was ich glaube, stimmt.« Er verwechselte Manschettenknöpfe (cuff links) und Handschellen (hand cuffs), Geistesschwäche (mental loss) und Raketenstart (missile launch). Im Oktober 2000 hatte er ein Bonmot kreiert, als er dozierte: »Es ist für uns wichtig, dass wir unserer Nation erklären, dass das Leben wichtig ist. Es ist nicht nur Leben von Babys, sondern es ist Leben von Kindern, die, wissen Sie, in den dunklen Höhlen des Internets leben.« Amerikas Nachwuchs, der in den düsteren Kammern des 181
World Wide Web darbt, wurde schnell berühmt. George W. Bush war noch nicht Präsident, da hatte sich bereits die Witzindustrie seiner bemächtigt. Für Spötter lieferte er Material en masse. Gerade über das Internet wurde während seiner gesamten Laufbahn Hohn verbreitet, der im sachlichen Nachrichtenstil der Agenturen verpackt war. Da wurde aus Washington beispielsweise vermeldet: »Ein tragisches Feuer hat am Montag die persönliche Bibliothek von Präsident George W. Bush zerstört. Seine beiden Bücher sind verloren. Präsidialamtssprecher Ari Fleischer teilte mit, der Präsident sei am Boden zerstört, da er mit dem Ausmalen des zweiten Bandes nicht fertig geworden sei.« Auch eine Reaktion auf die Schwierigkeiten der Bushs mit den Grundregeln des Sprechens wurde legendär. Ann Richards, texanische Demokratin und Intimfeindin aller Angehörigen der Bush-Familie, rief 1988 vom Podium der Convention ihrer Partei: »Poor George Bush. He can’t help it. He was born with a silver foot in his mouth!« (»Armer George Bush. Er kann nichts dafür. Er wurde mit einem silbernen Fuß im Mund geboren!«) Mit einem silbernen Löffel im Mund geboren zu werden – das ist die wenig schmeichelhafte Umschreibung für einen Abkömmling reicher Eltern. Den Fuß im Mund zu haben – das ist die nicht minder derbe Formulierung für jemanden, der keinen geraden Satz herausbekommt. Richards nahm beide Sprichworte auf und kreierte die unsterbliche Charakterisierung George Bushs. Sie fügte sich nahtlos in das Bild des »wimp«, des Schwächlings und Feiglings, das dem älteren Bush anhaftete – jenem Mann, der beim Kriegseinsatz im Pazifik fast sein Leben verloren hätte. Es war eben das ständig Sichtbare, Ungelenke, Unbeholfene an Bushs Körpersprache, das viel schwerer wog als sein Marineeinsatz Jahrzehnte zuvor. Und dieses Ungelenke in den Bewegungen wie in den Worten lud zum Spott förmlich ein. Den Stottereien, Verdrehungen und verbalen Stolpereien 182
gesellten sich noch zwei Episoden hinzu, die auf absurde Weise eine Familientradition zu begründen schienen. Anfang 1992 waren George und Barbara Bush in Ostasien. In Tokio spielte der US-Präsident, unterstützt vom amerikanischen Botschafter in Japan, ein nachmittägliches Tennisdoppel gegen Kaiser Akihito und Kronprinz Naruhito. Bush und sein Partner verloren. Dem US-Präsidenten ging es nicht besonders gut. Er fühle sich unwohl, sagte er Barbara Bush, und zog sich zum Schlafen zurück. Gerade noch rechtzeitig erreichte er wenige Stunden später das offizielle Staatsbankett, das ihm zu Ehren gegeben wurde. Bush saß zwischen Premierminister Kiichi Miyazawa und dessen Frau. Bereits während des Begrüßungsdefilees hatte Bush sich kurz zurückziehen müssen, da ihm schlecht wurde. Das eigentliche Dinner schien dann problemlos über die Bühne zu gehen. Doch irgendwann wandte sich Bush, aschfahl im Gesicht, seinem Nachbarn, dem Premier, zu und sagte, es gehe ihm nicht gut, er werde sich jetzt lieber zurückziehen. Im selben Moment wurde Bush ohnmächtig, er verdrehte die Augen und erbrach sich in den Schoß des japanischen Regierungschefs. Miyazawa fing ihn auf und hielt ihn fest, während US-Beamte nach vorn stürmten. Die japanischen Protokollbeamten ließen sofort alle Kameras ausschalten, übersahen aber eine, die auf einer kleinen Terrasse stand. Diese Kamera lief weiter und verbreitete die Bilder des kranken Präsidenten live in der ganzen Welt. Daheim in den USA sah Tochter Dorothy, die sich gerade für die Arbeit fertig machte, sprachlos zu. Die Krawatte war ihm bereits abgenommen worden, als George Bush nach einer knappen Minute wieder zu sich kam. Er erkannte sofort seine missliche Lage und blieb sich zumindest in seinem Humor treu. Seine ersten Worte lauteten: »Vielleicht rollt ihr mich am besten einfach unter den Tisch und lasst mich schlafen, und ihr macht einfach mit eurem Dinner weiter!« Seine Helfer hatten bereits eine Liege organisiert und neben 183
Bush auf den Boden gestellt. Ein US-Beamter wollte seinen Präsidenten hinüberhieven, raunte dann aber Barbara Bush zu: »Ich kann ihn nicht heben!« Das war kein Wunder. »Sie haben mein Bein!«, erklärte in ruhigem Ton Miyazawa. Der USBeamte entließ den Japaner aus seinem Griff und konzentrierte sich auf sein Staatsoberhaupt. Bush indes bestand darauf, selbst und ohne Hilfe aus dem Speisesaal zu gehen. Im Liegen zog er sich die Krawatte wieder an, stand auf und verließ lächelnd und winkend den Saal, Seine Frau bat er noch, sie möge doch bitte seinen Toast übernehmen. Sie verzichtete ganz bewusst auf die Begleitung ihres Mannes, damit nicht der Eindruck entstehen würde, er sei ernsthaft erkrankt. Denn das war das Letzte, was Bush unmittelbar vor der ersten Primary für seine Wiederwahl in New Hampshire brauchen konnte. Ohnedies amüsierte sich bereits die ganze Nation über ihren Chef, der sich über seinen Gastgeber erbrochen hatte. »Einmal gekotzt, und gleich glaubt das Land, der ist zu alt und zu krank für den Job«, hat Bush selbst die Episode Jahre später in der derb-drastischen Klarheit, zu der der einstige Elitezögling auch stets fähig war, ausgewertet. Doch auch in der Sache hatte Bush Recht. Die kurze Krankheit von Tokio trug weiter zur Erosion seiner Autorität bei. Die Episode war nicht die einzige Peinlichkeit, die den Bushs in Japan widerfuhr. Zehn Jahre zuvor, 1982, waren George und Barbara Bush als Vizepräsidentenpaar bereits einmal in Tokio gewesen. Barbara Bush saß beim Essen neben Kaiser Hirohito. Das Gespräch der beiden floss zäh; der Mann, den Amerika als den Angriffskrieger von Pearl Harbor kannte, sagte eigentlich nur immer »ja«, »nein« oder »danke«. Barbara Bush versuchte wieder einmal einen neuen Anlauf. »Ihr Palast ist wirklich wunderschön!«, sagte sie. »Danke«, antwortete der Kaiser. »Ist er neu?«, erkundigte sich Barbara Bush. »Ja«, beschied Hirohito. »War der alte einfach so alt, dass er in sich zusammenfiel?«, setzte Barbara Bush nach. »Nein, leider haben 184
Sie ihn bombardiert!«, antwortete der Kaiser lächelnd. Das nachfolgende japanische Kaiserpaar sollte Jahre später auf sehr dezente Weise an die Spei-Episode erinnern. Als George W. und Laura Bush im Februar 2002 in Tokio mit Akihito, Kaiserin Michiko und Naruhito speisten, wandte sich Michiko an Bush und fragte auf Englisch: »Wie geht es Ihrer Mutter?« »Hervorragend«, antwortete George W. Bush. Nach dem Befinden von George Bush wollte sich in Tokio vorsorglich niemand erkundigen. Doch George W. Bush hatte da bereits seine eigene Episode mit öffentlichen Fehlfunktionen des Verdauungstraktes hinter sich bringen müssen. Das Ereignis hatte sich kurz vor dem Japanbesuch zugetragen, fast auf den Tag genau zehn Jahre nach dem Missgeschick des Vaters. Am Sonntag, dem 13. Januar 2002, saß Bush abends kurz nach halb sechs allein im Weißen Haus vor dem Fernseher und sah der Übertragung eines Footballspiels zu. Laura Bush hielt sich im Nebenzimmer auf. George W. Bush aß eine Brezel. Irgendwie verschluckte er sich, ein Stück blieb ihm in der Speiseröhre hängen, sein Puls schoss herunter, und er wurde ohnmächtig. Nach wenigen Augenblicken kam er wieder zu sich. Er merkte, was passiert war, weil seine beiden Hunde auf ihn niederblickten. »Ich fiel auf den Boden, wachte auf, und Barney und Spot zeigten sich sehr besorgt«, erklärte Bush tags drauf. Nach dem Erwachen hatte er sofort den Bereitschaftsarzt Richard Tubb gerufen und diesem gesagt: »Irgendwie ist die Brezel nicht richtig runtergegangen!« Am Montag brach Bush zu einer Reise auf und witzelte mit angeblich besorgten Journalisten. Da hatte er bereits seine Lehre aus der Episode gezogen. »Meine Mutter hat mir immer gesagt: Wenn du Brezeln isst, dann kaue, bevor du schluckst!« Mit einer kreisrunden Schürfwunde unter dem linken Auge und einer aufgeplatzten Lippe, beides Folgen des Aufschlags auf dem Boden, stieg Bush in sein Flugzeug. Zurück blieb ein Land, das 185
neues Futter für Bush-Witze und Internetspott geschenkt bekommen hatte. Wenn ein Bush-Präsident auf Reisen ging, herrschte ein strenges Reglement. Nicht nur für die Sicherheitsleute, die jeden Gully öffnen und jedes Flussbett abtauchen mussten, nicht nur für jene Hundertschaften, die im Voraus Wände aufbrechen, Leitungen neu verlegen und Abhörsicherheit garantieren. Wochen vor einem Bush-Besuch versandte das Weiße Haus eine Liste mit Dingen, die der hohe Gast benötigen würde. Manch Hotel irgendwo auf der Welt fing dann an zu rätseln, ob »rubbermat« und »rubbermaid« wohl dasselbe sei, ob es sich um einen Spezialschwamm zur Körperreinigung oder um eine Plastikmatte für die Badewanne zur Verhinderung gefährlichen Ausrutschens handelte. Das Weiße Haus verlangte auch, dass Porzellan, von dem ein Bush essen würde, ohne jeden Zierrat und ohne jedes Herstellerlogo auskommen müsse. Auch hier versetzten die Faxe aus Washington manchen Hotelmanager in hellste Aufregung. Hektische Fahrten ins nächstgelegene Luxuskaufhaus wurden nötig, um ein Service zu finden, unter dem kein »made in China« prangte. Kurz vor der Ankunft des Präsidenten war dann mit dem Kontrollgang des Vertreters der örtlichen US-Botschaft zu rechnen. Lag neben dem Obstkorb ein Messer aus reinem Silber, so würde der amerikanische Diplomat besorgt darauf hinweisen, dass der jüngere Bush doch eine Allergie gegen Silber habe und man das Messer daher schleunigst austauschen möge. Und war aus der Minibar versehentlich nicht aller Alkohol entfernt worden, gab es unter George W. Bush ebenfalls großen Krach. Barbara Bush blieb von Hohn und Spott ihres Volkes weitgehend verschont. Für andere Frauen ihrer Familie galt dies nicht. Im Juni 1999 sorgte Columba Bush für Wirbel. Einen Besuch in Paris hatte die First Lady von Florida für einen Einkaufsbummel genutzt, der ihr prall gefüllte Tüten mit Kleidungsstücken und Schmuck im Wert von 19.000 Dollar 186
bescherte. Bei der Rückreise in die USA jedoch musste sie wie alle anderen auch durch den Zoll, das Problem jedes wohlhabenden Konsumenten, da man nur bis zu 400 Dollar an im Ausland gekauften Waren zollfrei importieren durfte. Am Flughafen von Atlanta gab Columba Bush auf dem blauen DINA6-Formular der US-Behörden an, lediglich Waren im Wert von 500 Dollar bei sich zu haben. »Das war ein Versehen, und ich bedauere es von ganzem Herzen«, musste sie wenig später kleinlaut eingestehen. Die Zollbeamten hatten den wahren Wert der Ware rasch erkannt. Columba Bush musste zuzüglich zum Zoll eine Strafe von 4.100 Dollar bezahlen, die sie mit einem persönlichen Scheck auch beglich. Doch damit war die Miniaffäre nicht beendet. Fernsehkomiker wie Jay Leno mokierten sich tagelang über die Extravaganz der mexikanischen Einwanderin und ihren freizügigen Umgang mit Zahlen. »Die Peinlichkeit, die ich über mich gebracht habe, hat dafür gesorgt, dass ich mich schämte, meine Freunde und meine Familie zu treffen«, sagte sie wenige Wochen später. Erst jetzt werde ihr klar, welche Verantwortung die Ehe mit einem Gouverneur beinhalte. »Von Natur aus bin ich ein eher zurückgezogener Mensch, einige mögen mich sogar als scheu bezeichnen«, gestand Columba Bush. »Ich habe nie darum gebeten, einer berühmten Familie anzugehören. Ich wollte nur den Mann heiraten, den ich liebte. Aber diese Entscheidung bedeutete auch, dass ich ein Maß an Verantwortung übernahm, das ich mir nie hätte vorstellen können. Mein jüngstes Verhalten hat dies auf schmerzhafte Weise deutlich gemacht.« Dies waren offenkundig sorgfältig gewählte Worte, die das richtige Quantum an Einsicht und Zerknirschung transportieren sollten. Jeb Bush hatte seiner Frau in den Tagen nach dem Bekanntwerden des Betrugsversuchs nur gesagt: »Komm, wir müssen irgendwie weitermachen!« Auch Jebs und Columbas Tochter Noelle sollten öffentliche Peinlichkeiten nicht erspart bleiben. Im Januar 2002 wurde die 187
Gouverneurstochter verhaftet. Sie hatte versucht, mit einem gefälschten Rezept das Sedativ Xanax, eine dem Valium verwandte Substanz, in einer Autoapotheke der Landeshauptstadt Tallahassee zu kaufen. Der Apotheker war misstrauisch geworden, weil Noelle bei zwei Anrufen das Mittel zwar bestellt hatte, sich aber auf ein Rezept berief, das angeblich keine Menge festlegte. Nach wenigen Stunden wurde die damals 24-jährige Collegeabsolventin formell angeklagt und anschließend freigelassen. Ihre Eltern veröffentlichten eine Erklärung: »Wir bitten die Öffentlichkeit und die Medien, die Privatsphäre unserer Tochter in dieser schwierigen Zeit zu respektieren, damit wir ihr helfen können.« Jeb Bush sagte später, Columba und er seien »tief betrübt« angesichts dieses »sehr ernsten Problems«. Das ernste Problem war der Drogen- und Tablettenmissbrauch unter Amerikas Jugend, über den Noelles Onkel George W. just an dem besagten Tag in seiner »State of the Union Address« reden wollte. Und es war nicht das erste Mal gewesen, dass Floridas Gouverneursfamilie mit Drogen in Kontakt kam. Um der Presse zuvorzukommen, hatte Jeb Bush bereits 1994 öffentlich erklärt, dass eines seiner Kinder – den Namen nannte er nicht – drogenabhängig sei. Ein halbes Jahr vor Noelles Verhaftung schließlich, im Sommer 2001 in Texas, waren die Zwillingstöchter des Präsidenten wegen unerlaubten Alkoholkonsums als Minderjährige ins Visier der Strafverfolger geraten. Jenna, damals eine 19-jährige Studentin an der University of Texas, und ihre Schwester Barbara, Erstsemester in Yale, hatten sich in Bars entlang der Ausgehmeile »Sixth Street« in Austin mit gefälschten Ausweispapieren Zutritt verschafft und Alkohol getrunken. Nach texanischem Recht ist dies eine Ordnungswidrigkeit der untersten Stufe, ein »class C misdemeanor«. Die Bush-Töchter wurden von einem Gericht zu acht Stunden gemeinnütziger Arbeit und sechs Stunden 188
Antialkoholschulung verurteilt. Sie hatten lediglich Bier getrunken. Und die Zivilstreife, die sie verhaftete, gab zu Protokoll, Jenna und Barbara hätten nicht betrunken gewirkt. Amerikas rigide Alkoholgesetze werden strikt angewandt. Die Jagd auf »minors«, auf Minderjährige in Bars, gehört zum festen Polizeiritual vor allem an Wochenenden und in Collegestädten. Als Jugendlicher in Amerika nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten ist zwar möglich, vielen gelingt dies aber nicht. Der Besitz von gefälschten Führerscheinen als Ausweispapieren, den so genannten »fake IDs«, gilt beinahe als Kavaliersdelikt. Von daher taten die Töchter von George W. Bush nichts wirklich Ungewöhnliches. Ihr berühmter Name sorgte für Medienaufmerksamkeit und Spott, die eine oder andere Erinnerung an die Vergangenheit des Präsidenten wurde wach, aber das war es dann auch. Amerikas Gesellschaft ist gern bereit, ihrer Jugend das gelegentliche Übertreten der Alkoholgesetze zu vergeben, wenn denn der Anschein von Schuldbewusstsein geweckt wird. Anders ist es bei harten Drogen, und ganz anders ist es bei nicht mehr ganz jungen Erwachsenen. Seit dem 20. August 1999, einem Freitag, brauchte Amerika einen Rechenschieber, um des Präsidentschaftskandidaten höchsteigene Sünden zu datieren. Koks oder nicht Koks, das war längst nicht mehr der Punkt. Mittlerweile fragte man sich, wann George W. Bush zuletzt harte Drogen genossen hatte. Es war ein Streit, den Bush selbst vermeiden zu können glaubte. Hatte er nicht zwei Wahlkämpfe in Texas erfolgreich absolviert, ohne über das Drogenthema zu stolpern? Hatte er dann, auf Bundesebene, nicht gebetsmühlenhaft die Formel wiederholt, als junger Mann seien ihm Fehler unterlaufen, doch er habe daraus gelernt – basta? Doch was für Texas reichte, genügte noch lange nicht für die gesamten USA. Am Donnerstag jener Woche fuhr Bush aus der Haut und schnauzte neugierige Journalisten an: »Ich weigere mich, bei diesem Spiel mitzumachen. Ihr stellt die falschen 189
Fragen. Wendet euch an die, die solche schwachsinnigen Gerüchte streuen!« Dann gelobte er, niemals wieder zum Thema seiner eigenen Drogenbiografie Stellung zu nehmen. Nur drei Stunden später musste er dann doch mitspielen. Der Presse war endlich eine Formulierung eingefallen, der sich der Kandidat schwerlich entziehen konnte. Würde Bush Präsident der USA, wäre er der Dienstherr von Tausenden, die auf dem Personalbogen die Frage beantworten müssten, ob sie in den letzten sieben Jahren Drogen genommen haben. »Ich könnte diese Frage sehr wohl beantworten, und die Antwort hieße nein«, sagte Bush. Weg war das Schweigegelübde. Tags drauf weitete Kandidat Bush die Phase, seit der er clean ist, um ein gutes Jahrzehnt aus. Nicht nur die Personenprüfung im gegenwärtigen Bundesdienst, auch die viel härtere zu seines Vaters Zeiten hätte er bestanden, bekundete Bush sichtlich genervt. Hier nun setzte der Rechenschieber an. Bush sen. begann 1989 seine Arbeit im Weißen Haus. Die Anforderung für Spitzenjobs in der Verwaltung damals: 15 Jahre drogenfrei. Macht: 1974. Bush war 28. Er selbst war es, der äußerst selektiv Privates für die Wahlschlacht einsetzte. Dass er Laura in 22 Ehejahren nie untreu gewesen sei, das hat Bush selbst in die Zeitungen bugsiert, dass er bis zu seinem 40. Geburtstag wesentlich zu viel trank auch. Seine acht innerparteilichen Gegenkandidaten hatten alle zu Protokoll gegeben, niemals illegale Drogen genommen zu haben. Hätte Bush sich als Exkokser geoutet, wäre seine politische Welt noch lange nicht zusammengebrochen. Nur 13 Prozent der US-Bürger glaubten, Drogenkonsum als Twen sollte das Weiße Haus auf ewig versperren. 87 Prozent zeigten sich vergebungsbereit. Bush war so kurioserweise ein Profiteur jener gesellschaftlichen Langmut geworden, die als »ClintonAbsolution« ins Politikvokabular eingegangen war. Bill Clinton – und er war Demokrat – musste 1992 noch behaupten, beim Kiffen nicht inhaliert zu haben. Doch nach 190
sieben Jahren ununterbrochener Skandalberieselung waren die Amerikaner abgebrüht. Die Rechtfertigung der Journalisten, Bush Fragen über seinen Kokainmissbrauch zu stellen, speiste sich auch aus der aktuellen Politik. Derselbe Bush, der nun recht unverhohlen zugab, vor 1974 allerlei eingeworfen zu haben, worüber er lieber schweigen würde, vertrat als Gouverneur eine völlig unzweideutige Linie. Bush hatte drakonische Haftstrafen für Erstbenutzer harter Drogen durch das texanische Landesparlament geboxt. Das Thema Kokain war damit nicht erledigt – im Zusammenhang mit Noelle Bush tauchte es 2002 wieder auf. Und 2003 war es dann schließlich Neil Bush, der jüngere Bruder des Präsidenten, der für öffentliches Kopfschütteln sorgte. Der damals 48-Jährige hatte ohnedies den Ruf eines Schwarzen Schafes, seit er in den 80er Jahren beim »Savings and Loans Scandal« eine undurchsichtige Rolle gespielt hatte. Inzwischen war der Antiheld Neil Bush als Makler für Finanzdienstleistungen, Immobilien und Ölgeschäfte aktiv. 2003 ließ er sich scheiden. In der öffentlichen Verhandlung gab er an, während seiner Geschäftsreisen nach Hongkong und Thailand »Geschlechtsverkehr mit etwa drei oder vier – ich erinnere mich nicht an die genaue Zahl – Frauen« gehabt zu haben. Das USNachrichtenmagazin Time kommentierte süffisant: »Schlecht in Mathematik, gut in Geografie!« Neil Bushs Tochter Lauren hingegen sorgte für positive Aufmerksamkeit. Während der Präsidentschaft ihres Onkels jobbte die 18-Jährige gelegentlich als Model. Einer ihrer Auftritte war so gelungen, dass die radikale Tierschutzorganisation »People for the Ethical Treatment of Animals« (PETA) Lauren zur »Sexiest Vegetarian Alive« kürte, zur »verführerischsten lebenden Vegetarierin«. Damit hatte endlich ein Bush die positiven Seiten des Boulevards erreicht. Wobei auch dieser Ehrentitel vielleicht nicht ganz frei von klammheimlichem Spott war. 191
III. DIE WELT
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12. Feind Saddam Zehn Tage nach dem Ende des Golfkrieges gegen den Irak 1991 saß der ältere George Bush im präsidialen Feriendomizil Camp David in den Bergen 80 Kilometer nordwestlich von Washington. Ihm gegenüber saß der britische Biograf Sir David Frost, der an einem Bush-Porträt arbeitete. Die Aufnahmen und Interviews wurden vertraulich aufgezeichnet – erst nach dem Ende der Präsidentschaft Bushs und mit dessen Einwilligung durften sie erscheinen. George Bush sprach von der Verantwortung, einen Krieg geführt und gewonnen zu haben, und weinte. Sieben Jahre später, 1998, durchschritt Bush mit Frost seine Präsidentenbibliothek in Texas, in der die Dokumente seiner Amtszeit gesammelt werden. Dort erzählte er ihm von seiner Entscheidung im Jahr 1942, zunächst Marinepilot im Zweiten Weltkrieg zu werden, statt direkt von der Schulbank aufs College zu gehen. George Bush wollte Soldat werden, dies verstand er als seine Pflicht. Der Altpräsident erinnerte sich an den Krieg und an seinen Vater, der ihn damals am Bahnhof verabschiedet hatte, und weinte erneut. Barbara Bush hat einmal ganz offenherzig über ihre Familie gesagt: »Wir scheinen viel zu heulen. Wir sind ein emotionaler Verein, und wir mögen ein oder zwei gute Tränen. Bitte denken Sie daran: Wir weinen, wenn wir froh sind, und wir weinen, wenn wir trauern.« Der Zweite Weltkrieg und der Golfkrieg waren für George Bush die Meilensteine seines Lebens. »Meine größte Leistung? Ganz klar der Golfkrieg!«, hat er im Rückblick auf seine vier Jahre im Weißen Haus gesagt. Das geschickte Schmieden jener hoch komplizierten internationalen Allianz aus westlichen und moderatislamischen Staaten unter Einbeziehung 193
Moskaus und Pekings, die Saddam Hussein aus Kuwait zurückdrängte, war die Einlösung eines Versprechens, das er 1942 schon einmal gegeben hatte: Ehre, Pflicht, Vaterland und der Kampf für die Freiheit. Diese hehren Worte waren der Kern des Wesens und Handelns von George Bush. Er selbst hat sich häufig beschwert, derlei Worte klängen viel zu hochtrabend. Aber er hatte keine besseren. Bei ihm waren Weltkrieg und Golfkrieg das, was für Kennedy Weltkrieg und Kalter Krieg gewesen waren, eine vergleichende Sinngebung. Was Kennedy jugendlich prophetisch interpretierte, war für Bush eine zutiefst konservative Prägung. Alles begann 1985, mitten im »ersten Golfkrieg«, der von 1980 bis 1988 zwischen dem angegriffenen Iran und dem Angreifer Irak ausgefochten wurde. Israel schlug vor, dem Iran Waffen zu liefern, um die inzwischen stabilisierte islamische Republik einzubinden und gegen Saddam zu unterstützen. Denn der war für Israel ebenso gefährlich wie das Mullah-Regime. US-Sicherheitsberater Robert McFarlane war für die Aktion, Außenminister George Shultz und Verteidigungsminister Caspar Weinberger waren dagegen und bezeichneten die Idee als »fürchterlich«. Weinberger sagte später: »Man setzte alles daran, die Aktion vor Shultz und mir geheim zu halten.« Pentagonberater Richard Perle sprach im Rückblick von einer »sehr dummen Aktion«, die »dilettantisch« umgesetzt worden sei. Eine libanesische Zeitung enthüllte schließlich, dass Washington tatsächlich Waffen an Teheran lieferte, an jenes Land also, das Amerika doch gerade erst in der Geiselkrise gedemütigt hatte. War dies nun die Gegenleistung für die Freilassung der Botschaftsgefangenen? Oder gar die Vorleistung für die erhoffte Freilassung der Libanongeiseln? Was auch immer dahinter stecken mochte, eines war klar: Was für den Iran getan wurde, sollte vor allem Saddam schwächen. Bush stand 1988 mitten im Wahlkampf. Er gewann 53 Prozent, indem er auf patriotische Themen wie den Fahneneid 194
für Schüler, einen Verfassungszusatz über das Verbot des Verbrennens der Flagge und auf scharfe Haftbedingungen setzte. Lawrence Eagleburger (er war US-Außenminister während der letzten Monate der ersten Bush-Regierung, als sein Vorgänger James Baker zur Koordinierung der Wiederwahlkampagne als Stabschef ins Weiße Haus zurückgegangen war) sagte über die kommenden Monate, also über jene Phase, in der der Skandal um Iran-Contra allmählich in den Hintergrund trat und dafür die Aggressivität des Iraks ins Zentrum rückte: »Das Verhältnis von Sicherheitsberater Brent Scowcroft zu Bush wurde immer enger.« Im Juli 1990, der Iran-Irakkrieg hatte ohne nennenswerte Gebietsverschiebungen sein Ende gefunden, war sich die US-Regierung sicher, dass der Irak nun Kuwait überfallen würde. Zwar sagte der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse seinem Amtskollegen Baker: »So dumm ist der Irak nie!« Doch nach dem anschließenden Essen bestätigte dann auch der KGB die massive Truppenpräsenz Iraks an der Grenze zu Kuwait. Laut Eagleburger waren Scowcroft und Bush die Ersten, die sich nötigenfalls für einen Krieg zur Befreiung des Scheichtums aussprachen. Baker war für diplomatischen Druck, das Pentagon fürchtete einen langen Feldzug. Für Bush mit entscheidend war ein Gespräch mit Henry Kissinger im Weißen Haus, in dem sich der Übervater der republikanischen Weltpolitik klar für einen Militärschlag aussprach, sollte Kuwait von Saddams Herrschaft befreit werden müssen. Mit der Auflösung des Schutzmachtvertrages mit Großbritannien von 1899 wurde Kuwait 1961 in die Unabhängigkeit entlassen. Der Irak hat sich damit nie abgefunden. Nach beträchtlichen Spannungen lässt Saddam Hussein seine Truppen im Juli 1990 an der südlichen Grenze zum Nachbarland aufmarschieren. Als ein letzter Vermittlungsversuch des ägyptischen Staatschefs Hosni Mubarak scheitert, überfallen Saddams Soldaten am 2. August 195
1990 Kuwait. Bereits nach wenigen Tagen ist das ganze Land unter irakischer Kontrolle. Das Regime der Besatzer ist grausam, es kommt zu Plünderungen, Brandschatzungen, Vergewaltigungen. Berichte von aus ihren Brutkästen geholten Neugeborenen indes erweisen sich später als Fälschung, die die US-Propaganda sich zunutze macht. Der Emir Kuwaits flieht nach Saudi-Arabien, wo er eine provisorische Exilregierung bildet. Am 8. August wird Kuwait von der irakischen Führung annektiert und zur 19. Provinz erklärt. Der Sicherheitsrat der UNO erlässt am 25. August Handelssanktionen gegen Bagdad und erklärt, die Anwendung von Gewalt zur Vertreibung der Besatzer sei legitim. Diese Resolution 665 wird zur Grundlage der Anti-Saddam-Allianz, die George Bush zu schmieden beginnt. Eine enge Partnerin findet Bush in Großbritanniens Premierministerin Margaret Thatcher. »Remember George, this is no time to go wobbly!«, ermahnt die Eiserne Lady ihren amerikanischen Kollegen in ihrer unnachahmlichen Art: »Denk dran, George, jetzt ist keine Zeit, um herumzueiern!« Im Januar 1991 hat Bush 540.000 US-Soldaten in der Region. Sie sind vorwiegend auf saudischem Boden stationiert. Zur Allianz gehören auch Truppen Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und mehrerer arabischer Staaten. Am 17. Januar 1991 beginnen die Luftangriffe der Alliierten. Saddams Einheiten und ihre Infrastruktur in Kuwait und im Irak werden angegriffen. Peter Arnett, CNN-Reporter in Bagdad, spricht spät in der Nacht den legendär gewordenen Satz: »The skies over Bagdad are illuminated.« Das gelbgrüne Flackern der Flugabwehrgeschütze wird zum Inbegriff eines Krieges, von dem die Weltöffentlichkeit außer Aufnahmen von ferngelenkten USPräzisionswaffen kurz vor dem Einschlag wenig zu sehen bekommt. Ein fünfwöchiges Dauerbombardement zermürbt die Iraker, die ihrerseits Scud-Raketen auf Israel feuern. Am 25. Februar 1991 ziehen sie sich aus dem Emirat zurück, ohne dass es zu 196
nennenswerten Bodenkämpfen gekommen wäre. Zuvor stecken die Flüchtenden Ölquellen in Brand und zerstören öffentliche Einrichtungen. Die Infrastruktur Kuwaits wird weitgehend vernichtet. An Wertgegenständen versuchen die Iraker mitzunehmen, was nicht niet- und nagelfest ist. Dennoch ist der Abzug der Iraker überstürzt und planlos.
»Remember George, this is no time to go wobbly!«, ermahnte die britische Premierministerin Margaret Thatcher ihren engen politischen Weggefährten George Bush. Der Schulterschluss zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien bestand während beider Golfkriege, sowohl 1991 als auch 2003. Das Foto zeigt die beiden während einer Pressekonferenz am 19. November 1990.
Riesige Mengen an Militärtechnik bleiben zurück, zahlreiche Soldaten und Zivilisten werden Opfer der fortgesetzten Luftangriffe. Bagdad wird später behaupten, dass 75.000 seiner Soldaten und 35.000 Zivilisten ums Leben gekommen seien. US-Quellen betonen, wie schwierig solche Festlegungen zu 197
machen seien, und geben als Opfer ein Maximum von 3.000 Zivilisten und eine niedrige fünfstellige Zahl irakischer Soldaten an, betonen aber, dass dies grobe Schätzungen und wenig verlässliche Hochrechnungen seien. Die USA selbst haben 147 Soldaten bei Kämpfen oder Anschlägen verloren. Auch London, Paris und Rom haben Tote zu beklagen. Bush erklärt Kuwait am 27. Februar 1991 für befreit und die Hauptkampfhandlungen für beendet. Wie der damalige deutsche Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher später kritisch anmerken wird, setzt der Waffenstillstand ein, noch ehe der befehlshabende US-General Norman Schwarzkopf den Großteil der irakischen Panzer westlich von Basra umzingeln oder zerstören kann. Die Verbände der Elitetruppe »Republikanische Garden« entkommen nach Norden. Bei der Niederwerfung des Aufstands der Schiiten sind sie wenige Wochen später wieder im Süden Iraks aktiv. Am 2. März legt der UNO-Sicherheitsrat die Bedingungen für einen Waffenstillstand fest. Gleichzeitig beginnt in der Hoffnung auf amerikanische Hilfe im Süden Iraks der Aufstand – und im Norden jener der Kurden. Effektive US-Hilfe erhalten beide Volksgruppen nicht. Dafür findet der zweite Golfkrieg am 11. April 1991 sein formelles Ende. Saddam Hussein hat die Bedingungen für einen Waffenstillstand zähneknirschend akzeptiert. Er muss abrüsten und ein strenges UNInspektionsregime ins Land lassen sowie Entschädigung an Kuwait zahlen. Ölexporte Iraks werden strengen Auflagen unterworfen. Die USA und Großbritannien werden später Flugverbotszonen im Norden und Süden Iraks einrichten und sich dabei auf die UN-Resolutionen berufen. Unklar ist bis heute, ob der Einsatz von Nuklearwaffen erwogen wurde. Scowcroft sagte später, Atombomben hätten eine Rolle in den Planungen gespielt. Eagleburger bestreitet dies. Nur in einem waren sich alle einig, Zögerer wie Befürworter: einer sofortigen Militäraktion notfalls auch mit 198
nichtkonventionellen Mitteln. Niemand wollte eine Zerschlagung des Saddam-Regimes. Eagleburger sagte im Rückblick: »Bush war von Anfang an gegen eine Besatzungsarmee mitten im arabischen Raum.« Und Baker gab später zu Protokoll: »Es wäre töricht gewesen, den Irak zu besetzen, nur um dort ein anderes Regime zu bekommen.« Anderer Meinung war schon damals Turgut Özal, der türkische Präsident. Özal rief Bush mehrfach an und mahnte eindringlich, nicht vor den Toren Bagdads anzuhalten. Wenn Bush Saddam jetzt nicht entferne, warnte Özal, werde er in ein paar Jahren erneut genau dieselben Probleme mit dem irakischen Diktator bekommen und wieder gegen diesen in den Krieg ziehen müssen. Der Weg von der Iran-Contra-Affäre, der größten Belastung seiner Zeit als Vizepräsident, zum Golfkrieg von 1991 war für Bush der Weg von den Ränkespielen am Hof Reagans hin zu einer klar mandatierten internationalen Allianz. Er war bemüht, von den Differenzen in seinem Team so wenig wie möglich nach außen dringen zu lassen und gleichzeitig so viele Schritte wie möglich im Einklang mit der Weltgemeinschaft zu gehen. Damit der zweite Golfkrieg kein Fiasko wie Iran-Contra würde, setzte Bush vor allem auf Multilateralismus und Transparenz. Es gelang – um den Preis, dass Saddams Macht erhalten blieb. Im amerikanischen Bewusstsein würde der Krieg als unvollendete Anstrengung haften bleiben. Unvollendet war sie in der Tat. Am 26. Juni 1993 griffen die USA von Kriegsschiffen aus die Zentrale des irakischen Geheimdienstes in Bagdad an. Nach irakischen Angaben wurden dabei sechs Zivilisten getötet. Als Grund für die Attacke gab die USRegierung unter Bill Clinton ein irakisches Komplott zur Ermordung George Bushs an. Dieser sollte von Saddams Agenten während eines Besuchs im befreiten Kuwait getötet werden. Schon kurz nach dem Ende des ersten Krieges gegen Saddam wurde damit deutlich, dass es sich bei dem Diktator von 199
Bagdad tatsächlich um einen Mann handelte, mit dem man noch öfters aneinander geraten würde. Oder mit dem man sich irgendwann ein für alle Mal auseinander setzen musste. Clinton war dazu nicht bereit. Für republikanische Außen- und Sicherheitspolitiker jedoch stellte sich die Frage, auf welchem Weg man eine möglichst effektive Haltung gegenüber dem Irak in Washington durchsetzen konnte. Und das bedeutete, nicht auf das »containment« zu setzen, die Strategie der Eindämmung, die Clinton und die Europäer nach George Bushs vorläufigem Sieg 1991 bevorzugten. Sondern auf etwas Härteres. Alles begann mit Paul Wolfowitz, der sowohl für Reagan als auch für Bush 41 gearbeitet hatte. Im Frühjahr 1992 schrieb er an einer neuen Sicherheitsstrategie, die Lehren aus dem Ende des Kalten Krieges ziehen sollte. Der erste Entwurf war drastisch: Amerika müsse sich präventiv schützen, müsse seine militärische Macht aktiv nutzen und dürfe auf Bündnispartner notfalls keine Rücksicht nehmen. Nur mit einem solchen Konzept, argumentierte Wolfowitz, könne eine chaotische Welt mit neuen, unberechenbaren und asymmetrischen Gefahren, denen man mit Abschreckung nicht begegnen kann, unter Kontrolle gehalten werden. Wolfowitz, in der strategischen Außenpolitik einer der Vordenker jener Bewegung, die später unter dem Namen »Neo-Cons« (Neokonservative) an die Macht kam, hatte ein Pamphlet verfasst, das sich offen gegen die Glaubens- und Erfahrungssätze von Bush 41 richtete. Dessen außenpolitische Leitlinien bestanden aus der »neuen Weltordnung«, dem Multilateralismus, dem Weiterbestehen der Bündnisse aus der Zeit der Konfrontation mit Moskau und deren Ausweitung gen Osten. Wo Bush 41 an der NATO und an der UNO festhielt, ahnte Wolfowitz eine Welt voraus, in der Saddams Irak oder Somalias Klankrieger nicht die Ausnahme, sondern die Regel waren. Der Widerspruch war offenkundig. Entsprechend erging es Wolfowitz’ Schrift. 200
US-Präsident George Bush (2. von links) stellte sich am 11. Februar 1991 in Washington den Fragen der Presse zum Golfkrieg. Rechts sein Militärberater Colin Powell, links Verteidigungsminister Dick Cheney. Hinten von links nach rechts: die Sicherheitsberater Brent Scowcroft und William Gates, Vizepräsident Dan Quayle, John Sununu und James Baker.
Dick Cheney, der Verteidigungsminister des älteren Bush, schrieb Wolfowitz’ Papier in weiten Passagen um und entschärfte die kontroversesten Forderungen. So landete die Studie schließlich auf dem Arbeitstisch von Bush. Von dort aus wanderte sie in die unterste Schublade und verschwand. Mit dem Wahlsieg von Bill Clinton im November 1992 und der sich anschließenden achtjährigen Amtszeit des Demokraten sah Wolfowitz seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Er selbst überwinterte auf dem Posten eines US-Botschafters in Indonesien, dem bevölkerungsstärksten islamischen Land der Welt, und als Dekan der »School of Advanced International Studies« (SAIS) der Johns Hopkins Universität in Washington. In dieser Zeit beobachtete er, was er nur als Zeichen 201
struktureller Hilflosigkeit werten konnte. Clintons Außenpolitik befürwortete Interventionen, wenn die öffentliche Meinung dafür war, und setzte auf Rückzug, wenn es Kritik gab – etwa nach den grausamen Szenen aus der somalischen Hauptstadt Mogadischu, durch deren Straßen die nackte Leiche eines USSoldaten gezerrt wurde. Punktuell war Clinton ein Interventionist, doch jeder lange Atem schien ihm zu fehlen. Auf dem Balkan wurde seine Regierung erst aktiv, als es gar nicht mehr anders ging und Europa für alle sichtbar versagte. Der Kampf gegen Saddam wurde zum peinlichen Rückzugsgefecht. 1998 trieb Saddam die letzten Inspektoren der UNO aus dem Land. Im Gegenzug sandte Clinton ein paar ferngelenkte Marschflugkörper, doch das reichte nicht aus, um eine Wende herbeizuführen. Das von den Demokraten geführte Weiße Haus verabschiedete sich schließlich von der Eindämmungsstrategie und setzte fortan auf »regime change«, ein Ziel, das durch ein Gesetz über die Unterstützung der irakischen Opposition auch offiziell als Leitlinie der US-Politik festgeschrieben wurde. Doch das Gesetz blieb zunächst ein Papiertiger. Und die von Washington angerufenen Vereinten Nationen signalisierten vor allem eines: Widerwillen gegen jede weitere Beschäftigung mit dem Thema Irak. Doch der Irak war nicht das einzige unrühmliche Beispiel. Clinton hatte US-Soldaten nach Haiti geschickt, die trotz aller guten Vorsätze keine langfristige Stabilisierung der Karibikinsel hatten erreichen können. Seine Außenministerin Madeleine Albright sprach zwar von »rogue states« (Schurkenstaaten) und später von »states of concern« (Sorgenstaaten), unternahm aber nichts, um den Schurken den Schneid abzukaufen. Auf die Terroranschläge auf US-Botschaften in Ostafrika reagierte Clinton mit hastigen Vergeltungsschlägen, die im Sudan wohl eine Aspirinfabrik und in Afghanistan leere Al-Qaida-Lager trafen. Wolfowitz schüttelte den Kopf.
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Paul Wolfowitz, der stellvertretende Verteidigungsminister, ist als Vertreter der »Falken« im Weißen Haus und Vordenker der Neokonservativen bekannt. Bereits 1992 erstellte er ein Pamphlet, das radikale Forderungen für eine aggressivere Sicherheitspolitik der Vereinigten Staaten stellte. Unter der Präsidentschaft von George W. Bush fanden seine Vorstellungen Gehör. Hier im Gespräch mit dem damaligen Verteidigungsminister Rudolf Scharping auf der 38. Internationalen Sicherheitskonferenz in München im Februar 2002.
Einen Verbündeten im Geiste hatte er in Donald Rumsfeld. Eher Haudegen als Stratege, 20 Jahre älter und in den 70er Jahren bereits Chef des Pentagon, war Rumsfeld ein anderer Typus als Wolfowitz, aber er teilte dessen Grundsatz, dass Amerika wesentlich flexibler, ausgiebiger und härter auf die neuen Bedrohungen seiner Sicherheit reagieren müsse. Rumsfeld war in seiner Jugend ein gleichermaßen passionierter wie talentierter Ringer gewesen, was vielleicht ein wenig zu seiner 203
Wahrnehmung der Welt als Abfolge von Zweikämpfen beigetragen haben mag. Aber auch im fortgeschrittenen Alter gelang es ihm noch, körperlich fit zu sein und seine Mitarbeiter im »gym« des Pentagon mit nicht enden wollenden Serien von Kniebeugen, Liegestützen und Sit-ups zu beeindrucken. Beide, Wolfowitz und Rumsfeld, daneben andere später prominente Neo-Cons wie Robert Kagan und Richard Perle, schrieben einen offenen Brief an Clintons Weißes Haus. Sie forderten »militärische Aktion« und »entscheidende Schritte« gegen Saddam Hussein. Sandy Berger, als Clintons Sicherheitsberater der Vorgänger von Condoleezza Rice, lud die Briefeschreiber zum Gespräch. Die Teilnehmer erinnern sich übereinstimmend, dass Berger sich weniger mit den Wirkungen der geforderten US-Politik auseinander setzte als mit ihrem Marktwert gegenüber einer zweifelnden Öffentlichkeit. Wolfowitz, Rumsfeld, Perle und die anderen waren enttäuscht – und in ihrem Verdacht bestätigt, dass im Weißen Haus umfragehörige Weicheier saßen. Sie selbst sahen sich dagegen als Überzeugungstäter, die jahrelang für die richtige Sache streiten würden, bis sie offizielle US-Politik werden konnte. Dabei waren die Linien damals noch nicht so klar, wie sie im Rückblick erscheinen würden. George Bush beispielsweise hatte mit seiner Invasion in Panama im Dezember 1989, immerhin dem größten US-Militäreinsatz seit dem Vietnamkrieg, nicht nur die Ergreifung des Diktators und Drogenhändlers Noriega erreicht. Er hatte damit auch Abschied genommen von der These, dass Washington ihm genehme Schurken unbehelligt lässt. So gesehen war die Intervention in Mittelamerika, im strategischen Hinterhof der USA, kein Nachhutgefecht des Kalten Krieges, sondern die erste Invasion einer neuen Zeit. Eine, bei der moralische Argumente und missionarische Antriebe ebenso bedeutsam sein sollten wie realpolitisches Interessenkalkül. Drei Jahre später, beim Eingreifen gegen Chaos und Hungerkatastrophe in Somalia 1992, hatte der US204
Präsident diese neuen, universalistisch humanistischen Antriebe bekräftigt. Diesen George Bush mochten die sich formierenden Neo-Cons. Umgekehrt waren sie selbst sich ihrer Sache noch keineswegs sicher. Wolfowitz beispielsweise vertrat in den zentralen Fragen der amerikanischen Asienpolitik keine offensive Demokratisierungsstrategie, wie er sie später beim zweiten Krieg gegen Saddam in den Vordergrund stellen sollte, sondern eine realistische Balancepolitik in der Tradition Kissingers. Die Frontlinien waren also noch nicht eindeutig gezogen. Eindeutig war nur, was die Neo-Cons von Saddam hielten. Seit 1997 stand den Neokonservativen ein weiteres Podium zur Verfügung. In Washington war das »Project for the New American Century« gegründet worden, ein Thinktank, der sich als Advokat einer von Interessen und Prinzipien gesteuerten, interventionistischen Außenpolitik verstand. Die Umfragehörigkeit Clintons verachtete man. Gegenschläge gegen Terroristen, die eher der Beruhigung des öffentlichen Gemüts denn der effektiven Zerschlagung feindlicher Strukturen dienten, lehnte man ab. Der gesamte Nahostraum sollte grundlegend umgestaltet werden. Bill Kristol wurde zum Vorsitzenden der Einrichtung. Kristol war ein Journalist und Publizist mit hervorragenden Kontakten zur konservativen Elite Washingtons. Sein Motto für Amerikas Außenpolitik lautete: »Es starben stets mehr Menschen an Amerikas Zögerlichkeit als an Amerikas Arroganz.« Die wichtigste Veröffentlichung des »Project« kam im September 2000 heraus, genau ein Jahr vor dem 11. September. Sie hieß »Rebuilding America’s Defenses: Strategy, Forces, and Resources For a New Century« (»Amerikas Abwehr erneuern: Strategie, Kräfte und Ressourcen für ein neues Jahrhundert«). Im Rückblick erscheint eine Formulierung in diesem Papier, das in wesentlichen Teilen auf Wolfowitz’ alten Thesen beruht, wie ein Fanal des Schreckens, der bald über die gesamten USA 205
hereinbrechen sollte – und zugleich als Handlungsanweisung für die effektivste politische Nutzung des Terrors: »Der Prozess der Transformation, auch wenn er revolutionären Wandel mit sich bringen mag, wird wohl dennoch lange andauern, sofern es nicht eine Katastrophe oder ein Katalysatorvorkommnis gibt – wie ein neues Pearl Harbor.« Eine prophetische Aussage. Als diese Worte formuliert wurden, 1999 und 2000, reiste eine »Vulkanier« genannte Gruppe regelmäßig nach Austin in die Residenz des texanischen Gouverneurs George W. Bush. Die Vulkanier waren die Außen- und Sicherheitsexperten der alten Reagan- und Bush-Regierung sowie die nachwachsenden NeoCons. Es ging um Einfluss, und es ging um eine einfache Frage. Würde George W. Bush derjenige sein, der die unvollendete Arbeit seines Vaters zu Ende bringen würde? Konnte und wollte er, so er denn Präsident werden sollte, Saddam Hussein den Garaus machen? George W. Bush war für die Falken der unverzichtbare, aber nicht der naturgegebene Hoffnungsträger. Seine Chancen gegen Al Gore waren gut, aber inhaltlich hatte er von Außenpolitik keine Ahnung und den Thesen der Falken keine Präferenz entgegengebracht. Vielmehr war das Leitmotiv in Bushs erster außenpolitischer Rede im Wahlkampf die Forderung nach graduellem »disengagement«. Der Kandidat versprach, Amerikas Truppen weniger großzügig als Clinton über den Globus zu verteilen, den Europäern auf dem Balkan mehr Lasten abzuverlangen und die eigenen Soldaten sukzessive in die Heimat zu holen. »Humble«, bescheiden, wollte der junge Bush Amerika in der Welt auftreten lassen. Europäische Hauptstädte fürchteten für den Fall, dass dieser junge Bush tatsächlich das Weiße Haus erobern sollte, einen Isolationisten – keinen Unilateralisten. Auf der republikanischen Rechten, vor allem im christlich fundamentalistischen Lager, gab es starke isolationistische Kräfte, denen der Kandidat Rechnung zu tragen schien. In den 206
ersten Amtsmonaten 2001 sollte sich diese Tendenz fortsetzen. Jene, die das Problem Saddam weiterhin als ungelöst betrachteten, kamen ins Zweifeln. Vielleicht würde sich Bush 43 ebenso wenig wie sein Vater aufraffen können, Saddam zu vernichten. Doch sie irrten. Ein »neues Pearl Harbor«, wie es das Papier von 2000 herbeigesehnt hatte, sollte den Neo-Cons zum Durchbruch verhelfen. Und Bush 43 auf ein anderes Gleis setzen – auf eines, das geradewegs zum zweiten Krieg gegen Saddam führen würde.
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13. Feind Osama Osama bin Laden war in Fachkreisen ein alter Bekannter, noch ehe die ganze Welt von ihm Notiz nehmen musste. Auch George W. Bush kannte längst seinen Namen – und den Schrecken, den er auslöste. Im Januar 2001, eine Woche vor seiner Vereidigung zum neuen Präsidenten der USA, saß Bush mit Cheney und Rice im offiziellen Gästehaus des Präsidenten, schräg gegenüber vom Weißen Haus. George Tenet, der CIA-Chef, legte der künftigen Führung des Landes dar, wie unsicher die Lage war. Drei Hauptgefahren bestünden für Amerika, erklärte er: Chinas Aufstieg mit all seinen strategischen Folgen, die Proliferation von Massenvernichtungswaffen und Osama bin Laden. Den Chef des Terrornetzwerks Al Qaida bewertete der CIA-Chef als »unmittelbare« und »gewaltige« Bedrohung. Kein Wunder. Acht Jahre zuvor hatten Aktivisten bin Ladens versucht, mittels eines in der Tiefgarage explodierenden Lasters das World Trade Center zum Einsturz zu bringen. Fünf Tote und fast 1.000 Verletzte blieben zurück. Bin Laden hatte Ausländerunterkünfte in Saudi-Arabien bombardiert, die USBotschaften in Kenia und Tansania dem Erdboden gleichgemacht, das US-Kriegsschiff »USS Cole« im jemenitischen Hafen Aden angegriffen. Etliche Anschläge, darunter auf Flugzeuge über dem Pazifik, hatten die Sicherheitsbehörden vereitelt. Amerika hatte sich gewehrt, beispielsweise 1998, nach den Anschlägen von Kenia und Tansania. Usus ist, dass bei Angriffen die Länder vorab informiert werden, deren Luftraum benutzt wird, denen der Angriff aber nicht gilt. Dementsprechend hatte Bill Clinton damals bei der CruiseMissile-Vergeltung auf Al-Qaida-Lager in Ostafghanistan die Regierung in Pakistan vorher wissen lassen, dass etwas 208
geschehen würde. Doch die pakistanische Regierung war so sehr mit Taliban-Freunden durchsetzt, dass derlei Informationen regelmäßig an die Glaubensbrüder in Afghanistan weitergegeben wurden. Clintons Luftschläge trafen verlassene Ausbildungscamps. Am 13. September 2001, unmittelbar nach den Anschlägen von New York, sollte George W. Bush im Gespräch mit Hillary Clinton deutlich machen, wie sehr er die Strategien ihres Mannes ablehnte. »Ich werde keine Zweimillionenrakete auf ein Zehndollarzelt abfeuern, das leer ist, und stattdessen ein Kamel in den Hintern treffen«, beschied der Präsident der Ex-First-Lady. Da war längst klar, dass er anders reagieren wollte, härter, entschiedener und effektiver – so, wie von Wolfowitz und seinen Kollegen immer gefordert. Zwei Tage vor dem Gespräch mit Hillary Clinton, am 11. September 2001 spät abends, diktierte Bush für sein Tagebuch den folgenden Satz: »Heute geschah das Pearl Harbor des 21. Jahrhunderts.« Die Nacht vom 11. auf den 12. September hätte er auf Anraten seines Sicherheitsstabes eigentlich im Bunker unter dem Weißen Haus verbringen sollen. Doch Bush bestand darauf, oben in der Residenz zu schlafen. Condoleezza Rice, die seinen Platz unten im Bunker einnehmen sollte, forderte er auf, es ihm nachzutun. Das Gästezimmer im Obergeschoss – das möge sie doch bitte nehmen. Aus dem angeblichen Isolationisten war ein Mann geworden, der entschlossen war, zurückzuschlagen. Wie ein Blitz hatte jenes epochale Ereignis eingeschlagen, das Bushs zentrale Herausforderung werden sollte, die Sinngebung seiner Präsidentschaft, der Ansatzpunkt für seine künftige Außenpolitik – und eine völlige Revision all dessen, was er im Wahlkampf erklärt hatte. Richard Perle fasste diesen Wandel später zusammen: »Bush kam nicht als Ergebnis des Wälzens außenpolitischer Theorietraktate zu seinen Grundüberzeugungen, sondern im Reagieren auf die dramatischen 209
politischen Notwendigkeiten nach dem 11. September.« Im Rückblick erschien es nun, als seien die 90er Jahre eine verlorene Dekade gewesen, ein Jahrzehnt, in dem Washington sich nicht hatte aufraffen können, Al Qaida mit derselben Entschlossenheit zu bekämpfen, die die Terroristen wieder und wieder an den Tag legten. Vertreter der Clinton-Regierung weisen diese Interpretation, die für Bushs Team zur Richtschnur und zum festen Glaubenssatz wurde, freilich entschieden zurück. »Vor dem 11. September konnten wir schlechterdings niemanden von der Gefährlichkeit bin Ladens überzeugen«, wehrt sich beispielsweise Madeleine Albright, USAußenministerin von 1997 bis 2001. »Nach den Vergeltungsschlägen in Afghanistan und im Sudan dachten die Leute doch, wir hätten überreagiert … wir hätten alles nur erfunden.« Albright weist nicht nur auf die Schwierigkeit hin, vor dem 11. September Unterstützung für ein entschiedenes Vorgehen gegen Al Qaida zu finden. Sie berichtet auch, Condoleezza Rice habe ihrem Amtsvorgänger, Clintons Sicherheitsberater Sandy Berger, schlicht und einfach nicht abnehmen wollen, welch großer Teil seiner Arbeitszeit der Beschäftigung mit Osama bin Laden gegolten habe. Doch das war vor dem Tag des Schreckens. Es war ein Dienstag, an dem sich Amerikas Ostküste auf sommerliches Schwitzen einstellte. Wolkenloser Himmel zog sich von Boston über New York und Washington hinab bis nach Florida, wo die Luft wegen der unerträglichen Schwüle bleiern über Sand und Palmen hing. Bush war hier, in Florida, zu einem Frühtermin an der Emma E. Booker Grundschule, um sein gerade verabschiedetes Gesetzespaket zur Verbesserung der Erziehung zu propagieren. Ganz wie Politiker dies eben tun, wollte er den Kindern aus der zweiten Klasse im Städtchen Sarasota vorlesen, einen knappen Plausch mit Lehrern und Schulverwaltern halten, der Presse ein kurzes Statement über die Zukunftschancen der nächsten Generation liefern – und dann 210
weiter zum nächsten Termin. Doch es kam anders. Der amerikanische Kalender, der stets zuerst den Monat und dann den Tag verzeichnet, kannte den 11. September als 9-11. Doch diese Zahlenfolge hat in den USA noch eine andere Bedeutung. Es ist die zentrale Notfallnummer der Polizei. 911 steht für Alarm.
»Ich werde keine Zweimillionenrakete auf ein Zehndollarzelt abfeuern, das leer ist, und stattdessen ein Kamel in den Hintern treffen.« Diesen Seitenhieb versetzte Präsident George W. Bush der Senatorin von New York, Hillary Clinton, bei einem Gespräch am 13. September 2001 im Hinblick auf die Vorgehensweise ihres Mannes in Afghanistan einige Jahre zuvor.
Der Alarm kam kurz nach acht Uhr morgens. Vier zivile Linienflugzeuge waren beinahe gleichzeitig entführt worden. Eine Mitarbeiterin des Bodenpersonals von American Airlines hat später beschrieben, wie ihr bei der Abfertigung zwei arabische Passagiere auffielen, die sich angeregt und intensiv unterhielten, während sie warteten. Als sie ihre Bordkarten 211
vorzeigten, fiel der Angestellten auf, dass sie nicht zusammensaßen – obwohl sie doch offenbar zusammengehörten. Sie bot an, die Sitzplätze zu tauschen und die beiden Herren nebeneinander zu platzieren. »Wir dürfen doch nicht nebeneinander sitzen!«, habe der eine Mann geantwortet. Das erschien der Mitarbeiterin von American Airlines seltsam; sie wurde misstrauisch. Kurz überlegte sie, ob sie einem Vorgesetzten oder dem Sicherheitspersonal den Vorfall schildern sollte. Sie verzichtete darauf, weil sie keine Lust hatte, der Diskriminierung arabischer Passagiere bezichtigt zu werden. Der Rest hat sich in unauslöschlichen Bildern ins kollektive Gedächtnis der Welt eingegraben. Zwei Flugzeuge bohrten sich in die Zwillingstürme des World Trade Center an der Südspitze Manhattans. Eine weitere Maschine, United Airlines Flug Nr. 93, zerschellte auf einem Feld in Pennsylvania, nachdem über Handy alarmierte Passagiere mit dem Satz »Let’s roll!« die Überwältigung ihrer Kidnapper eingeleitet hatten. Die Entführer hatten sich daraufhin im Cockpit verschanzt und beschlossen, das Flugzeug lieber sofort abstürzen zu lassen, als in die Hand der Passagiere zu fallen. Das vierte und letzte Flugzeug stürzte in den Ostteil des größten Verwaltungsgebäudes der Welt, des Pentagon in Virginia auf der Südseite des Potomac, keine Meile vom Weißen Haus entfernt. Wie der Chefplaner des Anschlags, Khalid Scheich Mohammed, später in einem Verhör einräumte, war der Massenmord von ihm und Osama bin Laden fünf Jahre lang überlegt, geplant und vorbereitet worden. Tausende in den kollabierenden Türmen des World Trade Center, Hunderte Angestellte im Verteidigungsministerium, Hunderte Passagiere in den vier Flugzeugen, das Bordpersonal in den Maschinen und alle Entführer starben. Die meisten wussten es, bevor es geschah. 3.000 Menschen aus über 50 Nationen waren Opfer eines Aktes geworden, der sofort zur Ikone der neuen Dimension des internationalen Terrorismus wurde. Ein Horrorszenario, das kaum jemand in seinen 212
verwegensten Träumen für möglich gehalten hätte, war grauenerregende Wahrheit geworden. Der Welt stockte der Atem. So war Amerika noch nie angegriffen worden. Und dennoch soll Dick Cheney, der sofort in den Schutzraum unterhalb des Weißen Hauses gebracht worden war, unmittelbar nach dem Anschlag eine noch furchtbarere Dimension des Terrors ins Bewusstsein gerückt haben. Die Einschläge der Flugzeuge erlebt Cheney in seinem Büro im Weißen Haus. Wenige Minuten später haken ihn zwei Sicherheitsbeamte unter und tragen ihn im Laufschritt die Treppen hinunter in den unterirdischen Bunker. Dort telefoniert er mit einem verwirrten Präsidenten, der an Bord der Air Force One kreuz und quer durch die USA geflogen wird. Die Regierungsspitze des mächtigsten Landes der Welt ist soeben ins Chaos gestürzt worden. Als Cheney im Fernsehen sieht, wie die Türme des World Trade Center in sich zusammenfallen, sagt er zu einem Mitarbeiter: »So schrecklich das hier sein mag, aber wenn diese Typen Massenvernichtungswaffen gehabt hätten, wäre alles viel, viel schlimmer gewesen!« Denselben Gedanken äußern, unabhängig voneinander, in den nächsten Tagen Donald Rumsfeld und Condoleezza Rice. Nur sechs Tage später, am 17. September, unterzeichnet Bush ein Dokument mit dem Stempel »Top Secret«. Es enthält die Pläne für einen Krieg gegen Afghanistan. Im Anhang allerdings wird das Pentagon damit beauftragt, militärische Optionen für einen Einmarsch in den Irak auszuarbeiten. Bereits zwei Tage danach trifft sich im Verteidigungsministerium eine Gruppe mit dem Namen »Defense Policy Board«. Die Gespräche ihrer Mitglieder kreisen um ein einziges Thema – den Irak. Die mysteriösen Anthrax-Briefe, die fast zeitgleich in den USA kursieren und mehrere Menschen töten, scheinen alle Alpträume zu bestätigen. Cheneys knapper Satz ist der Kern. Zu keiner Zeit ging es Bush nur um die Frage, wie ein zweiter 11. September verhindert werden kann. Von Anfang an plagte ihn eine zweite, 213
die wirkliche Horrorvision: Was passiert, wenn Terroristen über biologische, chemische oder gar atomare Waffen verfügen? Cheney hatte in einer ersten Reaktion bereits die Leitlinie Bushscher Außenpolitik für die nächsten Jahre vorgegeben. Die Nähe der Themen Terror, 11. September, Massenvernichtungswaffen und Irak sollte innerhalb eines guten Jahres dazu führen, dass die Mehrheit der US-Bürger glaubte, Saddam Hussein sei für die Toten in Manhattan verantwortlich. Das hatte kein Mitglied der Bush-Regierung je behauptet – aber insinuiert. In der Grundschule von Sarasota erfuhr der Präsident von Karl Rove, dass ein Flugzeug sich ins Welthandelszentrum gebohrt hatte. Ein Unfall? Ein Fehler des Piloten? Ein Herzinfarkt am Steuerknüppel? Dann, während des Vorlesens und vor laufenden Kameras, trat Stabschef Andrew Card an Bush heran und raunte ihm ins rechte Ohr: »Ein zweites Flugzeug hat den zweiten Turm getroffen. Amerika wird angegriffen!« Diese beiden leisen Sätze und ihre Folgen sollten George W. Bushs Leben von nun an dominieren. Bush fiel nicht die Kinnlade herunter, aber die Zähne mahlten, die Zunge wanderte schockiert durch den Mund, dessen rechter Winkel kurz herunterhing. Bushs Blick ging starr in die Ferne, wanderte dann durch den Raum, durch die Weite. Er rang sichtlich um Fassung. Die Lippen waren leicht geöffnet. Bush suchte Halt. Auf dem hastigen Rückflug nach Washington gab Bush den Befehl, nötigenfalls Zivilflugzeuge abzuschießen. Dann, um halb elf, rief Cheney erneut seinen Chef an. Man hatte eine Warnung erhalten: »Engel ist an der Reihe.« Engel – das war das interne Codewort für »Air Force One«, das Präsidentenflugzeug. Die Maschine drehte sofort nach Louisiana ab. Die nächste Station von Bushs Irrflug war Nebraska, wo das »Strategic Command« sitzt, die zentrale Kontrolleinrichtung für Amerikas Kernwaffen. Dort kam eine erste Krisenrunde zusammen. Gegen den Rat seiner Sicherheitskräfte beschloss Bush dann kurz nach vier Uhr nachmittags, sofort nach 214
Washington zurückzukehren. Gleich nachdem sein Helikopter um 19 Uhr am Abend des 11. September auf dem Rasen des Weißen Hauses gelandet war (fünf weitere, gleichartige Hubschrauber waren nur Tarnung gewesen und flogen nun weiter), besprach sich Bush erneut mit seinem Krisenkabinett. Powell war nicht anwesend; er befand sich auf dem Rückflug von einer Südamerikareise. Es ging um den Text der ersten Bush-Rede an die Nation nach dem schrecklichen Ereignis. Es ging um die Identifizierung des Feindes, an dem nun Rache geübt werden würde, es ging um den Kurs, den Bush für die kommenden Jahre vorgeben wollte. Klar war, dass die Täter unnachsichtig verfolgt werden mussten. Rice fragte den Präsidenten, ob er sich sicher sei, dass er die ergänzende Formulierung »… und jene, die ihnen Schutz bieten …« bestehen lassen wollte. Bush wollte – und gab den NeoCons damit Recht. »And those who harbor them«: Das war die Ankündigung Amerikas, nicht nur auf Terroristen Jagd zu machen, sondern auch Staaten anzugreifen, die die Terroristen gewähren lassen, ihnen helfen und so den Terror ermöglichen. Folgerichtig sprach Bush auch von einem »war«, einem Krieg. Was immer folgen würde, war nun nicht mehr ein Vergeltungsschlag für einen kriminellen Übergriff, sondern Teil eines Feldzugs, Strategie in einem Krieg. Dass jene, die Terroristen beherbergen oder ihnen Schutz bieten, ebenso Objekte der Rache Amerikas sein würden wie die Terroristen selbst – das war ein Formulierungsvorschlag, den Bush selbst Rice und seinen Redenschreibern gemacht hatte. Als »zu vage« lehnte er vorherige Versionen seiner Rede ab, in denen Amerikas Zorn jenen angedroht wurde, die Terror »tolerieren« oder »ermutigen«. Nicht nur Powell hatte keinen Anteil an dieser weitreichenden Entscheidung. Auch Cheney und Rumsfeld wussten vorab nicht, wen Bush zum Ziel des kommenden Krieges erklären würde. Wolfowitz erkannte die Chance. Am 13. September stand er 215
selbst vor der Presse und sprach von einer »broad and sustained campaign«, einem »breit und auf Dauer angelegten Feldzug«. Powell, inzwischen wieder in Washington, reagierte verschnupft. »Lassen Sie Herrn Wolfowitz für sich selbst sprechen«, rüffelte er Reporter an, die wissen wollten, ob der Außenminister dem Vizeverteidigungsminister zu folgen bereit war. Dabei konnte sich Wolfowitz am 13. September bereits auf eine weitere Grundsatzentscheidung Bushs stützen. Das enge persönliche Verhältnis zu CIA-Chef Tenet, das Bush auf Anraten seines Vaters so sehr kultiviert hatte, führte am späten Abend des 11. September zum wohl entscheidenden Wortwechsel. Es ging um die Frage, wie viele Länder denn nun ins Visier Washingtons geraten würden, da nun einmal die Entscheidung gefallen war, auch »jene, die sie beschützen«, anzugreifen. Wie viele Staaten also für die USA ein Problem darstellten, fragte Bush Tenet. Der antwortete kühl: »Wir haben ein 60-Länder-Problem.« Gut, gab Bush ungerührt zurück, dann lösen wir jetzt diese 60 Probleme, eines nach dem anderen. Zunächst, so der Präsident, werde er jeder Regierung eine unmissverständliche Drohung zukommen lassen: »Wir müssen jedes Land zwingen, seine Wahl zu treffen.« So wies Bush den Weg. Dieser Gesprächsfetzen ist von mehreren Quellen überliefert. Weniger klar ist, ob auch ein anderer Satz jemals so gefallen ist. Jedenfalls soll Tenet darauf hingewiesen haben, dass man bei der Lösung der 60 Probleme eventuell neue bekommen könne, nämlich mit den Verbündeten in Europa. »Who gives a …«, soll Bush geantwortet haben. Freundlich übersetzt: »Wen juckt das?« Viel ist spekuliert und geschrieben worden über die Gründe, die Bush dazu brachten, ein zumindest öffentlich nie da gewesenes Maß an Entschlossenheit zu zeigen. Eine Härte, die auch den großen außenpolitischen Themen seiner ersten Amtsmonate zu widersprechen schien. Die Zeit von seiner Amtseinführung Ende Januar 2001 bis zum September des 216
Jahres, hatten höchst widersprüchliche Impulse hinter Bushs Außenpolitik gezeigt. Da gab es Ansätze eines universellen Humanismus, wie ihn der ältere George Bush in Somalia hatte umsetzen wollen. Der Sohn folgte diesem Impuls in der Abrüstungspolitik, die er mit Wladimir Putin vorantrieb. Da gab es das Verhandlungsgeschick Bushs und Powells, als China ein US-Spionageflugzeug an seiner Küste zur Landung zwang und samt Besatzung festhielt. Mit Realismus und Pragmatismus – ganz dem Säbelrasseln gegenüber Peking aus dem Wahlkampf entgegengesetzt – erreichte das Bush-Team, dass die Mannschaft bald freikam und auch die Maschine den USA übergeben wurde. Da gab es Reminiszenzen an Reagan, vor allem beim Thema »Missile Defense«. Das in Europa oft aufgescheuchte Schreckgespenst einer neuen Rüstungsspirale blieb aus. Da gab es isolationistische Ansätze, etwa beim Thema Klimaschutz. Das Kyoto-Protokoll zur Kontrolle von Treibhausgasen lehnte Bush strikt ab, was ihm in Europa heftige Kritik bescherte. Richard Perle argumentierte damals: »Seit Jahrzehnten brüten ein paar linke Studenten über den Details zum Klimaschutz. Wir haben genau hingesehen, ob dies vernünftige Regelungen sind, und dem ist eben nicht so!« Kyoto zur Seite stand, als Beleg für Bushs angeblichen Isolationismus, die amerikanische Ablehnung des neu geschaffenen Internationalen Strafgerichtshofes (ICC). Bill Clinton hatte nicht nur eine Weiterleitung der Ratifizierungsdokumente für Kyoto und den ICC an den USSenat abgelehnt, er hatte auch niedergelegt, dass er seinem Nachfolger die Ratifizierung nicht empfehlen könne. Doch Clinton war dies in Europa verziehen worden. Bush nicht. Beide Entscheidungen schienen in ein Muster des Washingtoner Handelns zu passen. Bush lehnte auch ein Verbot von Landminen ab. Die USA hatten die sich selbst zerstörende Mine als Alternative erfunden, wollten die tödlichen Vorgängermodelle jetzt aber nicht aus dem Verkehr ziehen. 217
Richard Perle begründete die Entscheidung mit Blick auf den Haupteinsatzort der Minen, der Demarkationslinie zwischen den beiden koreanischen Staaten: »Glauben Sie im Ernst, dass sich Nordkorea an ein Verbot halten würde?« Auch gegen die Biowaffenkonvention opponierte Bush. Perle meinte: »Sie ist einfach nicht überprüfbar, kontrollierbar, verifizierbar – das ist das Papier nicht wert!« Washington registrierte natürlich die wachsenden Vorbehalte der Partnerstaaten gegen den neuen Präsidenten. Bushs Team widersprach der Kritik – und tat dies zunehmend genervt. Im Kern warf Bushs Mannschaft der Alten Welt vor, oberflächlich und heuchlerisch zu sein. Umweltschutz werde mit Kyoto gleichgesetzt, also werde Amerika angegriffen – und plötzlich sei es illegitim, zu fragen, ob es sich nicht vielleicht um ein lausig verhandeltes Vertragswerk handele, das die größten Schwellenländer ohnedies von jeder Verpflichtung ausnehme. Die Durchsetzung der Menschenrechte werde mit dem Internationalen Strafgerichtshof gleichgesetzt, also werde den USA vorgeworfen, für das Faustrecht statt die Rechtsstaatlichkeit einzutreten – ohne dass Amerika fragen dürfe, wie rechtsstaatlich es denn sei, wenn ein neues Gericht auch für Nichtsignatarstaaten verbindlich sein solle. Das war schließlich genau jene exterritoriale Wirkung, die Europa in Handelsstreitigkeiten der 90er Jahre – wie bei dem HelmsBurton-Gesetz über Kubainvestitionen – stets abgelehnt hatte. Warum wies niemand in Europa darauf hin, dass gleich drei der größten Staaten der Welt Bedenken gegen den ICC hatten, neben den USA auch China und Russland? Warum wurde nur Bush verdammt? Warum versuchte kein Politiker in Deutschland, die US-Position zumindest zu würdigen und zu erklären, wenn schon nicht zu teilen? Dies betonte die neue Administration wieder und wieder. Sie drang mit ihren Argumenten in Europa nicht durch. Dass der Krieg gegen den Terror zu so weitreichenden 218
Verwerfungen zwischen den USA und dem Alten Europa führte, lag auch daran, dass die Krise auf diesen fruchtbaren Boden an Vorhaltungen und Missverständnissen fiel. Für Amerikas Partner lautete die Frage Anfang September 2001 eigentlich nur noch, ob Bush nun als Isolationist oder Unilateralist bezeichnet werden musste. Doch es gab auch schon in dieser Anfangszeit den anderen George W. Bush, der seinem Vater zu folgen schien, ihn sogar »links« überholte. Welcher US-Präsident setzte die Bezahlung der Altschulden seines Landes bei den Vereinten Nationen durch, trat der UNESCO wieder bei, verdreifachte die Mittel für die Aids-Bekämpfung in Afrika, verdoppelte die Entwicklungshilfe, ließ weitreichende Abrüstungsabkommen mit Moskau ratifizieren, ging, wie von Europa gewünscht, mit der Irakproblematik schließlich zur UNO? Der angebliche Cowboy George W. Bush. Washington wies immer wieder auch auf diese Seite seines Verhaltens hin, und drang erneut nicht durch. Als »stupid« bezeichnete Richard Perle die europäische Einbildung, all die als Isolationismus oder Unilateralismus begriffenen Entscheidungen Amerikas rührten aus dem Umstand her, dass die Clique von Neokonservativen die US-Regierung faktisch bereits »gekapert« habe. Nach dieser geistigen »Entführung« werde das wahre Amerika wiedererscheinen, glaube Europa irrigerweise – so spottete Perle. Walter Russell Mead vom »Council on Foreign Relations« sah es ähnlich: »Bush ist eine Pfeife, seine Regierung ein historischer Irrtum, mit der nächsten US-Wahl ist der Albtraum vorbei – das hoffen zwar viele in Europa, aber wer das glaubt, beweist nur, dass er von Amerikas Realität keinerlei Ahnung hat.« Zur strittigen Realität gehörte die Motivationslage, die dem US-Präsidenten nach dem 11. September zugeschrieben wurde. Ein britischer Labour-Abgeordneter nannte Bush und Blair wegen ihrer religiös gefärbten Begründung des Krieges gegen 219
den Terror »Taliban des Westens«. Hatte Bush nicht einst selbst auf die Frage, welcher Philosoph den größten Einfluss auf sein Denken ausgeübt habe, mit einem schlichten Wort geantwortet, dem Namen Jesus? Die Religiosität Bushs ist die eine Seite, eine ganz andere Frage ist, wie sehr religiöse Motive sein politisches Handeln prägen. Europa unterliegt hier gern Missverständnissen. So rügte Manfred Kock, bis 2003 der Präses der Evangelischen Kirche Deutschlands, mehrfach eine angebliche Äußerung Bushs, wonach der Terrorkrieg eine göttliche Mission sei. Doch alles, was Bush gesagt hatte, war eine philosophisch naturrechtliche Einschätzung: dass nämlich die Freiheit dem Menschen von Gott geschenkt worden sei, also ein Kern des Menschseins sei, und dass ein Leben in Freiheit daher nicht auf einen Kulturkreis beschränkt sein dürfe. Über Bushs Umgang mit seinem Glauben hat Henry Kissinger gesagt: »Wenn ich mit ihm spreche, und dies tun wir ziemlich häufig, redet er nie über Religion oder seine religiöse Motivation. Viele Politiker sind extrem unsichere Menschen (»madly insecure«). Hier gilt für Bush ohne Frage, dass er sehr in sich selbst ruht, sobald er eine Entscheidung getroffen hat.« Und der Zwang, Entscheidungen zu treffen, sollte kommen. Mit dem Schlag Osama bin Ladens gegen Manhattan war die Zeit endgültig vorbei, als es so aussah, als würde George W. Bush sich auf die Innenpolitik konzentrieren und nur punktuell an seinen defensiven Wahlkampfversprechen Abstriche machen, die sich noch als pragmatische Korrekturen interpretieren ließen. Jetzt war Zeit für einen »Kreuzzug«, wie Bush sagte. Sollte nun die Nähe der Bush-Regierung zur Energiewirtschaft entscheidend werden für die strategische Ausrichtung des Krieges gegen den Terror? Bush hatte mit seiner Genehmigung der Ölförderung in einem Naturschutzgebiet Alaskas bereits die Umweltschützer gegen sich aufgebracht und in Europa den Verdacht genährt, den Ölinteressen seiner Industriefreunde alles zu opfern. Cheneys Probleme mit einem finanziell sauberen 220
Abschied von Halliburton verstärkten diesen Verdacht nur noch mehr. Oder ging es um Rache? »The guy wanted to kill my dad!«, rief Bush einmal – »Der Typ wollte meinen Papa umbringen!« Er meinte Saddam Hussein und den geplanten Anschlag in Kuwait von 1993. In Wahrheit handelte es sich wohl um eine Melange aus vielen Motiven, die Bushs Handeln nach dem 11. September bestimmte. Bush persönlich verlieh sein Glauben Festigkeit und Halt. Selbstverständlich gab es strategische Überlegungen, die mit Rohstoffen zu tun hatten. Nur bezogen die sich nicht auf Afghanistan. Und dass die Bushs Saddam als Erzfeind der Familie betrachteten, ist fraglos richtig. »Don’t war!« – so lautete, in grammatikalisch falschem Englisch, ein Spruchband auf der Sympathiedemonstration, die die deutsche Führung am Brandenburger Tor nach dem 11. September abhielt, während Gerhard Schröder den amerikanischen Freunden seine »uneingeschränkte Solidarität« zusicherte. Bush hielt eine bewegende Trauerrede in der National Cathedral in Washington und reiste nach New York, um die Rettungsteams moralisch zu unterstützen. »Die Welt sieht uns!«, rief er den Feuerwehrleuten zu, die bei den Rettungsversuchen im kollabierenden World Trade Center so viele aus ihren eigenen Reihen verloren hatten. Dann ging es an den ersten Teil der militärischen Antwort. Das dürre Zeitgerüst ist rasch zusammengefasst. Am 7. Oktober 2001, knapp vier Wochen nach den Anschlägen, begann der Krieg in Afghanistan. Am 13. November, nur fünf Wochen später, fiel die Hauptstadt Kabul an die Nordallianz, die Verbündeten der USA. Und am 7. Dezember fiel schließlich die letzte Taliban-Hochburg Kandahar. Gefangene Taliban- und Al-Qaida-Kämpfer wurden nach Guantanamo gebracht, auf den US-Stützpunkt auf Kuba, der ein Überbleibsel der amerikanischen Besatzung der Zuckerinsel ist. Die Inhaftierten galten als »rechtswidrige Kombattanten«, aber 221
eben nicht als reguläre Kriegsgefangene. Während ihrer jahrelangen Haft versuchten mehrere Exkämpfer, Suizid zu begehen. Prozesse und Kontakte zu Außenstehenden, auch Anwälten, wurden ihnen verweigert. Erneut brach in Europa ein Aufschrei der Empörung los. Es gibt bis heute keine glaubwürdigen Berichte über körperliche Misshandlungen der Guantanamo-Insassen. Es gibt aber fraglos seelische Grausamkeiten. Dazu gehört die Enge der Metallkäfige, in denen die Gefangenen lange gehalten wurden, und die Praxis der ersten Monate, den tiefreligiösen Kämpfern die Haare und den Bart zu scheren, was als Sakrileg empfunden werden musste. Guantanamo war in den USA ein Thema, das strittig debattiert wurde: War Amerikas fragwürdiges Vorgehen ein noch akzeptabler Preis für den Sieg im Krieg gegen den Terror? In Europa wurde Guantanamo dagegen als unumstößlicher Beleg für Amerikas Unmenschlichkeit gewertet – und für Bushs Gnadenlosigkeit. Bush hatte sich längst weiteren Herausforderungen zugewandt. 22 bislang eigenständige Behörden wurden im neuen Heimatschutzministerium zusammengefasst. Den insgesamt 180.000 Bundesbeamten wurde Tom Ridge an die Spitze gestellt, ein ehemaliger Gouverneur von Pennsylvania und dekorierter Vietnamveteran. Die Schaffung von Ridges Mammutministerium war die größte Umorganisation der amerikanischen Bundesregierung seit dem Zweiten Weltkrieg. In der Innenpolitik setzte Bush den heftig umstrittenen »Patriot Act« durch, ein Antiterrorgesetz, das die Befugnisse der Geheimdienste gewaltig erweiterte und die Bürger aufrief, sich bei verdächtigen Auffälligkeiten sofort an die Behörden zu wenden. In Europa sah es so aus, als wolle Bush einen Spitzelstaat schaffen. Doch auch diese Kritik blieb nicht an Bush haften. Denn der hatte längst ein anderes Land ins Visier genommen. Der Irak rückte nun in den Mittelpunkt von Washingtons Antiterrorpolitik. 222
»Danke für eure harte Arbeit, danke dafür, dass ihr die Nation stolz macht«, rief George W. Bush den versammelten Helfern am Ground Zero über Megafon zu. Drei Tage nach den Terroranschlägen spricht der USPräsident am Ort der Katastrophe allen Rettungshelfern seinen Dank aus. Unter dem Schutz eines massiven Aufgebotes an Sicherheitskräften besichtigte Bush die Trümmer des World Trade Center.
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14. Nachschlag Saddam Ein Motiv Bushs, das mindestens so wichtig war wie Religion, Öl und Rache, hatte Europa stets übersehen. In Washington saßen Überzeugungstäter, die tatsächlich an die Chance glaubten, im Kampf gegen den Terror der Freiheit einen historischen Sieg verschaffen zu können. Am 26. August 2002 verkündete Dick Cheney, »regime change« sei das eigentliche Anliegen Washingtons im Irak. Kurz zuvor hatte Powell Bush bereits das Zugeständnis abgerungen, über die Vereinten Nationen eine Legitimierung des immer unverhohlener geplanten Irakkriegs zu erreichen, auch wenn man völkerrechtlich der Ansicht blieb, dass die bestehenden Resolutionen ausreichend waren. Es begann das wochenlange Hickhack um den Text eines neuen UN-Beschlusses. Am 8. November 2002 schließlich stimmten alle 15 Mitglieder des Sicherheitsrates der Resolution 1441 zu, die dem Irak »schwerwiegende Konsequenzen« androhte, wenn er nicht umfassend mit den 1998 aus dem Land getriebenen Waffeninspektoren zusammenarbeiten würde. Am 27. Januar 2003 lieferten die Chefinspektoren Blix und el Baradei ihren ersten Bericht in New York ab, demzufolge Saddam die erzwungene Abrüstung »nie ehrlich akzeptiert« habe. Und eine gute Woche später, am 5. Februar 2003, präsentierte Powell vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Belege für Iraks Versuche, die Arbeit der Inspektoren zu sabotieren. Er ließ Luftaufnahmen eilig geräumter Waffendepots auf eine zwölf Quadratmeter große Leinwand im Sicherheitsrat werfen und stellte abgehörte Telefonmitschnitte vor, in denen sich hohe irakische Offiziere über die Strategie des Versteckens ihrer Waffen unterhielten. Damit versuchte er, an die Konfrontation im Sicherheitsrat zwischen Washington und 224
Moskau gut 40 Jahre zuvor während der Kubakrise anzuknüpfen. Damals hatten die USA völlig überraschend Luftbilder vorgelegt, die bewiesen, dass die Sowjetunion auf Castros Insel Mittelstreckenraketen stationiert hatte. Dem Botschafter der UdSSR wurde nun vorgehalten, was die USA als »smoking gun« bezeichnen: ein klarer Beweis. Doch was Powell als Beleg für die Existenz von irakischen Massenvernichtungswaffen anbot, wirkte in Europa nicht überzeugend, und so verfehlte sein Vortrag die gewünschte Wirkung. Derweil begann die NATO, die direkt nach dem 11. September erstmals in ihrer Geschichte den kollektiven Verteidigungsfall ausgerufen hatte, mit Eventualfallplanungen zum Schutz der Türkei. Denn diese könnte, so wurde erwartet, im Kriegsfall vom Irak angegriffen werden. Doch am 10. Februar legten Deutschland, Frankreich und Belgien ihr Veto gegen eine solche Art der Kriegsvorbereitung ein. Längst hatte die Irakkrise zu schweren Verwerfungen innerhalb der EU und der NATO geführt. Bei den Feiern zum 40. Jahrestag des Élysée-Vertrages in Versailles Ende Januar hatten Paris und Berlin wenig Zweifel daran gelassen, dass sie die Speerspitze europäischer Friedenspolitik gegen Bush sein wollten. Andere EU-Partner waren entrüstet. In dieser Atmosphäre fiel ein Gespräch auf fruchtbaren Boden, das Condoleezza Rice mit dem stellvertretenden Leiter der Meinungsseite des Wall Street Journal, Michael Gonzales, führte. Ob man gegen die deutschfranzösische Achse nicht etwas tun könne, sinnierte Rice. Es war kein Regierungsauftrag, aber Gonzales witterte eine Chance zur Profilierung seiner Zeitung – und machte sich an die Arbeit. Das Blatt rief in Rom an, doch Ministerpräsident Silvio Berlusconi beschied, nur zusammen mit Tony Blair aktiv werden zu wollen. Als Nächstes klingelte das Telefon in Madrid, doch Premier José María Aznar sagte ebenfalls, nur im Schulterschluss mit dem britischen Amtskollegen einen Vorstoß 225
wagen zu wollen. Immerhin – kurz darauf rief Aznar höchstpersönlich bei Blair an. Ein Positionspapier entstand, dem sich Berlusconi und andere Regierungschefs anschlossen. Der tschechische Premier wollte nicht zu den Unterzeichnern gehören. Doch Präsident Vaclav Havel sprang kurz vor Drucklegung ein und setzte als Letzter seine Unterschrift unter das Pamphlet. Das Ergebnis fand sich in der Ausgabe des 30. Januar 2003, eine Woche nach Versailles. Acht europäische Staats- und Regierungschefs erklärten unter der Überschrift »United We Stand« (»Einig stehen wir«) ihre Solidarität mit Bush. Es handelte sich indes weniger um eine Solidaritätserklärung mit den USA als um einen offenen Affront gegen Deutschland und Frankreich, wie wohl von diesen beiden provoziert. Das »neue Europa« exerzierte knallharte Machtpolitik: Der Brief der Acht war vertraulich abgesprochen worden, er war gegen Berlin und Paris gerichtet, er sollte die Partner brüskieren und den eigenen Status anheben. Entsprechend schockiert war Joschka Fischer. Gerhard Schröder saß am 29. Januar abends neben einem bekannten Pressevertreter, als Fischer in den Raum stürmte und den Kanzler fragte: »Hast du das schon gesehen?« In der Hand hielt Fischer die Vorabmeldung des Wall-StreetJournal-Aufrufes, der zeitgleich über die Ticker der Nachrichtenagenturen lief. Berlin hatte keine Ahnung gehabt, dass sich acht europäische Staaten offen gegen Deutschland positionieren würden. Noch entrüsteter reagierte Chirac. Er bescheinigte den Osteuropäern eine »schlechte Kinderstube« und warf ihnen vor, eine »gute Chance verpasst zu haben, den Mund zu halten«. Chiracs unflätige Äußerungen empörten wiederum die Osteuropäer. Unmittelbar nach den Ausfällen des französischen Staatspräsidenten rief der polnische Botschafter in den USA die »Heritage Foundation« an, einen der konservativsten Thinktanks in der US-Hauptstadt, und versicherte den dortigen Falken unter den Regierungsberatern: 226
»Alles, was ich tun kann, um euch zu helfen, werde ich tun!« Ähnliche Botschaften gingen auch an gemäßigte republikanische und demokratische Kriegsbefürworter. Europa war nun endgültig gespalten – und Warschau flüchtete sich entsetzt in die Arme Washingtons. Von derlei desaströser Begleitmusik während der Irakkrise blieb auch das atlantische Bündnis nicht verschont. Am 16. Februar 2003 war NATO-Generalsekretär George Robertson willens, mit einer hehren Tradition des Bündnisses zu brechen. Üblicherweise werden im Rat der Allianz alle Beschlüsse einstimmig gefasst. Das Häufchen der Gegner der Türkeihilfe war inzwischen zusammengeschmolzen. Paris und Berlin hatten einer Kompromissformel zugestimmt, wonach die Unterstützung der Türkei keinen Krieg präjudizieren solle. Nur Brüssel stellte sich noch quer. Robertson drängte die Belgier massiv, klein beizugeben, und drohte, den SACEUR, den Oberkommandierenden für Europa, im Alleingang zu ermächtigen, AWACS und Patriots nach Anatolien zu verlegen. Brüssel knickte ein. Wenige Tage später war Robertson bei Bush im Weißen Haus, wo er mit einer stehenden Ovation empfangen und als »conquering hero« begrüßt wurde, als ein Held, der den USA die NATO zurückerobert hatte. Zu diesem Zeitpunkt gab es viel zurückzuerobern. Die NATO war in eine Zerreißprobe geraten, und die UNO war in der Irakfrage ebenso gespalten wie die EU. Während nach dem Brief der acht schließlich noch zehn weitere europäische Staatschefs ihre Unterstützung für Bushs harten Kurs bekundet hatten, war die Friedenspolitik in Deutschland aus einem Instrument im Bundestagswahlkampf 2002 schrittweise zu einem Glauben an die Notwendigkeit geworden, dem großen Verbündeten im Namen einer besseren Welt entgegentreten zu müssen. Al Qaida hatte unterdessen mit Anschlägen in Djerba (Tunesien), Bali (Indonesien) und Mombasa (Kenia) deutlich gemacht, dass »weiche Ziele« auf der ganzen Welt in ihr Visier 227
geraten waren. Der Weg vom zweiten zum dritten Golfkrieg ist der Triumphzug einer neuen Identität Amerikas. Bush 41 war ein Gegner und Verhinderer dieses »grundlegenden Paradigmenwechsels«, wie Jack Janes, Chef des Thinktanks American Institute for Contemporary German Studies in Washington, es genannt hat. Als schließlich sein Sohn im Weißen Haus saß, wurde Bush 41 zum Mahner gegen die neue Doktrin. Bush 43 hingegen wurde vom milden Gegner über den Agnostiker zum Katalysator und schließlich Exekutor dieser neuen Haltung. Sie ist der Kern jener Motivlage, die zum Irakkrieg führte.
Bündnis mit dem »neuen Europa«: Der amerikanische Präsident George W. Bush heißt den tschechischen Präsidenten Vaclav Havel im Oval Office in Washington willkommen, Havel hatte als letzter von acht europäischen Staats- und Regierungschefs ein Positionspapier unterzeichnet, das ein militärisches Eingreifen im Irak befürwortete.
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Der Publizist Bill Kristol bilanzierte rückblickend: »Bis zum 10. September 2001 hatte Bush sich unserer Linie nicht angenähert.« Unserer Linie – damit meinte Kristol die NeoCons. Bis dahin galten Bush selbst und sein Vize Cheney als nicht festgelegt, und Powell und Rice als pragmatische Realisten in der Tradition von Bush 41. Als Neo-Cons in der ReaganNachfolge sahen sich vor allem Rumsfeld und Wolfowitz. Im Rückblick erscheint der 11. September 2001 zwar als Fanal für den Sieg der Neo-Cons, verlieh er deren Thesen doch die grausame Bestätigung durch die Realität. Doch unmittelbar nach den Anschlägen sah zunächst Powell wie der Sieger aus. Alle sprachen von Afghanistan, dort wurde das US-Militär zusammen mit vielen Verbündeten, auch deutschen Einheiten, aktiv – aber von Saddam war nicht die Rede. Rasch wurde indes klar, dass der 11. September der Katalysator war, um die Agenda der Neo-Cons nach vorn zu bringen. Plötzlich erschienen die Clinton-Jahre, ja die gesamte idealistische Epoche vom 9. November 1989 bis zum 11. September 2001, nicht mehr nur als Ära der Friedensdividende, der Hoffnung, des Wohlstands und der Entspannung. Plötzlich war hieraus ein knapp zwölfjähriges Versäumnis geworden. Jetzt musste angepackt werden, was Clinton versäumt hatte. Jetzt mussten mit brutaler Dringlichkeit die Fragen beantwortet werden, die sich mit dem Zerfall des Sowjetimperiums gestellt hatten, die damals aber auf die lange Bank geschoben worden waren. Nun tauchten Stimmen auf, die rügten, dass die Zeitenwende von 1989 nicht als permanente Revolution begriffen und ein Gremium wie die NATO nicht grundsätzlich in Frage gestellt worden war. Der Irak war nie das eigentliche Ziel der Bemühungen aus dem Falken-Lager. Im Laufe der Jahre war er aber zum Lackmustest geworden: Am Umgang mit Saddam wollten die Neo-Cons die Ernsthaftigkeit messen, mit der Amerika seine ordnende Wirkung in einer immer chaotischeren Welt einsetzt. 229
Für diese Überlegung hatte sich eine Codesprache entwickelt: »broad and sustained campaign« stand für jenen allumfassenden Kampf, den die Falken wollten. Auf dem Markt war da bereits die neueste Ausgabe einer Routinepublikation, der »National Security Strategy of the United States«. Viel von Wolfowitz’ 1992er-Papier hatte nun Eingang gefunden in die offizielle Definition dessen, was Amerika zu tun bereit war, um sich zu schützen. »Preemptive« war ein Kernbegriff: die Theorie vom Präventivschlag, der nicht mehr nur einer gegnerischen Attacke knapp zuvorkommt, sondern bereits die Fähigkeit eines potenziellen Feindes unterbindet, wirklich gefährlich zu werden. Die Welt zitterte. Wollte Bush jetzt jeden angreifen, der ihm nicht genehm war? Mark Danner vom Magazin New Yorker nennt die BushDoktrin »atemberaubend ehrgeizig«: Sie setzte sich zusammen aus der Erklärung, präventiv gegen Gefahren vorgehen zu müssen, aus der Definition einer »Achse des Bösen«, aus dem Strategiedokument und aus Bushs Reden beispielsweise vor den Absolventen von Westpoint. Danners Fazit: »Der Terrorismus hat den Kommunismus ersetzt.« Amerika hatte wieder einen Todfeind, ein Ordnungsschema, einen Widerpart, einen Gegenpol. Es gab wieder das Andere zu Amerika, das Böse. Vor diesem Hintergrund kam es zum Irakkrieg. Das wahre Ziel hinter der Beseitigung Saddams lag in einer strategischen Absicht. Die Regime in Ägypten und Saudi-Arabien, in Syrien, Libyen, Iran und Pakistan sollten unmissverständlich eingeschüchtert werden: Hört auf mit der Hilfe für Terroristen, beendet die Finanzierung palästinensischen Terrors gegen Israel, sorgt für eine allmähliche Öffnung eurer Gesellschaften, kurz: Reizt uns nicht! Wesley Clark, der ehemalige NATOOberbefehlshaber und 2004 demokratischer Präsidentschaftskandidat, hat in seinem Buch berichtet, ihm gegenüber hätten hochrangige Pentagon-Mitarbeiter offen von einer Strategie des 230
Befreiungskriegs gegen sieben Staaten gesprochen. Was den Irak selbst anbelangte, so war es ein weiterer ThinktankMensch, der maßgeblich die These vertrat, nennenswerte Nachkriegsprobleme werde es dort ohnehin nicht geben. Michael Ledeen vom American Enterprise Institute (AEI) hatte beste Kontakte ins Weiße Haus und argumentierte, über den eigentlichen Waffengang hinaus brauche man nicht zu denken. Der Irak habe seine Bürokratie schließlich von den Briten geerbt. Also werde man Saddams Waffen leicht finden, und eine funktionierende Verwaltung lasse sich nach einem Krieg rasch und effektiv wiederaufbauen. Obwohl alles so klar schien, obwohl die intellektuellen und strategischen Pflöcke so unmissverständlich eingerammt waren, obwohl der Afghanistankrieg Anfang 2002 bereits verdaut war, sollte es noch ein gutes weiteres Jahr dauern, bis der nächste Irakkrieg begann. Die Verzögerung hatte viele Ursachen. Eine in Europa wenig beachtete lag in der Entwicklung in Venezuela. Der ehemalige Putschist Hugo Chavez war dort legitimer Präsident geworden und gebärdete sich als Linkspopulist in der Tradition eines Juan Perón oder Fidel Castro. Venezuela war nicht irgendein südlicher Nachbar der USA. George Tenet wies im US-Senat darauf hin, dass es sich um den drittgrößten Ölexporteur der Welt handelte. So schrillten in Washington die Alarmglocken, als Chávez den Armen seines Landes einen größeren Anteil am Gewinn aus dem Verkauf des Schwarzen Goldes versprach. Verstaatlicht war Venezuelas Ölindustrie bereits. Chávez wollte jetzt aber die eingespielten, amerikafreundlichen Cliquen, die den Wohlstand unter sich verteilten, entfernen. Im April 2002 kam es zu Großdemonstrationen sowohl der Chávez-Kritiker als auch seiner Anhänger. Schüsse fielen; tote Venezolaner lagen in den Straßen der Hauptstadt. Mit heftiger amerikanischer Rückendeckung übernahm die bürgerliche Opposition, zugleich Vertreterin der korrupten Alteliten, zwei Tage lang die Macht in Caracas. Powell 231
gratulierte aus dem State Department. Doch letztlich scheiterte der Putsch; Chávez kehrte im Triumph zurück an die Macht. Die genaue Rolle, die Bushs Team beim blutigen Putsch gegen Chávez spielte, liegt noch im Dunkeln. Eine weitere Verzögerung ergab sich aus einem Umweg, den Bush ging. Denn noch war der Weg zum Ziel umstritten. Die Realisten verlangten den Gang zu den Vereinten Nationen. Diesmal gab zunächst nicht Powell den Anstoß, sondern Brent Scowcroft, der Sicherheitsberater von Bush 41. »Baut eine Koalition« war sein Beitrag in der Washington Post überschrieben. Gleich nach der Rede über die »Achse des Bösen« Anfang 2002 war man beispielsweise in Israel überzeugt, dass ein Irakfeldzug beschlossen sei. Doch Powell wollte zumindest auf das Wie des Krieges Einfluss nehmen und bat Bush um ein persönliches Gespräch. Am 5. August trafen sie sich gemeinsam mit Rice zum Essen. Powell hatte Notizen mitgebracht und ließ nun an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Der Präsident werde in den Augen der Welt »wie ein Tyrann« wirken, wenn er im Alleingang Saddam zu beseitigen versuche, warnte der Außenminister. Bush zog sich wenig später auf seine Ranch in Crawford zurück. Er hinterließ den Eindruck, sich auf den Gang nach New York festgelegt zu haben. Und er hinterließ einen Powell, den die Falken mit gewaltigem Misstrauen beargwöhnten. Die These von der »overwhelming force«, der »überwältigenden Macht«, die der Außenminister als operative Vorgabe für Kriege gegen Amerikas Feinde vorgegeben hatte, fand zwar ihre Zustimmung. Doch die Neo-Cons bezweifelten, dass Powell sie auch angemessen oder häufig genug zum Einsatz bringen würde. Was dem Außenminister zu fehlen schien, war der unbedingte Gestaltungswille, der Allianzen und Vereinte Nationen nur als Mittel, nie aber als Selbstzweck diplomatischen Handelns sieht. Eben jener Gestaltungswille bestimmte das Klima im Küchenkabinett. Cheney hatte seine ursprüngliche Funktion als 232
Mittler zwischen den Lagern zu diesem Zeitpunkt aufgegeben und sich spätestens mit seiner »regime change«-Rede offen ins Lager der Falken begeben. Rumsfeld und Wolfowitz hatten einen weiteren Verbündeten in Vizeaußenminister Richard Armitage. Rice blieb eine wichtige Beraterin mit einem zurückhaltenderen Zungenschlag, leistete aber keinen offenen Widerstand. Dafür hatten die Falken längst jenen Hebel entdeckt, mit dem sie Bush in ihr Lager hieven konnten. Nach dem 11. September hatte Bush zwei Tage gebraucht, bis er nach außen zu präsidialer Contenance fand. Doch seitdem war er klar und bestimmt aufgetreten. Mehr und mehr wurde ihm deutlich, dass er eine einmalige Chance hatte. Es ging um nicht mehr und nicht weniger als darum, die Welt zu gestalten. Sein großes Vorbild Teddy Roosevelt war 100 Jahre zuvor der letzte Präsident gewesen, der mit ähnlicher Energie und Zuversicht ans Werk gegangen war. Und Franklin Delano Roosevelt war während des Zweiten Weltkriegs der letzte USPräsident vor ihm gewesen, der ähnliche Einflussmöglichkeiten zur Neuordnung ganzer Regionen bekam. Doch er konnte sein Werk nicht zu Ende bringen, seinem Nachfolger Truman blieb es überlassen, die Nachkriegsordnung und den Kalten Krieg heraufziehen zu sehen. Ganz ähnlich hatten, so die Lesart von Bush, Reagan und sein eigener Vater nicht mehr wirklich die Früchte des Sieges im Kalten Krieg geerntet. Es lag an ihm, an Bush 43, den 11. September als Impuls zu begreifen, um der Welt seinen und Amerikas Stempel aufzudrücken. Sein Küchenkabinett verstand es, dieses von wirklichen Selbstzweifeln freie Projekt auch als etwas zu verkaufen, das Ausfluss Bushscher Lebenserfahrung war. Wenn ein Mann nicht politisch gestalten kann, der seinem eigenen Leben im Alter von 40 Jahren eine völlig neue Richtung geben konnte, wenn nicht er – wer dann? Oder umgekehrt: Hatte Bush nicht bewiesen, mit wie viel Disziplin er an grundlegende Erneuerungen gehen kann, indem er erfolgreich das schwierigste aller Projekte in Angriff 233
genommen hatte, die Umorientierung eines erwachsenen Menschen? Es mag gut sein, dass sein Umfeld in dem Bekehrten jemanden vor sich hatte, der besonders empfänglich war für die Botschaft, nun müsse er mit der Welt tun, was er einst mit sich selbst vorexerziert hatte: die Wende zum Guten. Determination jedenfalls, der Wille zum Handeln, ist etwas, das seine Berater an Bush nie vermissen mussten. Er war entschlossen. Tatkraft war ihm ein sehr hoher Wert – auch jene Tatkraft, die gegen das gelegentliche Lavieren seines Vaters gerichtet war. Der aggressive Idealismus der Neo-Cons, zu dem sich Bush bekehren ließ und den er seit 2001 in die Welt trägt, ist kein isoliertes Phänomen der amerikanischen Rechten – wiewohl dies in Europa oft anders gesehen wurde. Innerhalb beider Parteien im US-System gab es stets isolationistische ebenso wie internationalistische Strömungen. Protektionisten vom Gewerkschaftsflügel der Demokraten trafen sich lange mit konservativen Republikanern, die auf »America First« setzten und die kulturelle Grundüberzeugung vertraten, dass Amerika sich selbst genug sein solle, daheim eine bessere Welt aufzubauen habe und sich aus den Händeln der Welt da draußen heraushalten solle. Dieses Gefüge, in dem nur die politische Mitte über eine dünne Mehrheit gegen die Isolationisten beider Flügel verfügte, war durch den 11. September völlig aus den Fugen geraten. Amerikas Rechte sprach plötzlich über »nation building«, langfristiges Engagement, Verantwortung für die Welt, humanitäre Pflichten, über die universelle Geltung der Menschenrechte – über Begriffe, die kurz zuvor als praktische Richtschnur noch verabscheut wurden. Kein Wunder also, dass sich gewichtige Teile der Demokraten Bush zur Seite stellten. Umstritten war nur noch die Dosis militärischen Drucks, die zur Neugestaltung ganzer Regionen nötig sein würde. Im Grundsatz aber hatte sich eine neue Allianz gefunden. Nur sie machte es möglich, dass im Kongress eine übergroße Mehrheit der Abgeordneten sowohl im 234
Repräsentantenhaus wie auch im Senat der Ermächtigung Bushs zum Irakfeldzug zustimmte. Wie groß diese Mehrheit war, wurde in Europa lange und gern übersehen. Dass es sie überhaupt gab, störte die Kritiker, die Bush als harschen Extremisten brandmarken wollten. Jene Mehrheit zu ignorieren war zugleich eine Unterschätzung der Folgen, die der l1. September für Amerikas Blick auf die Welt hatte. Der Glaube an eine einmalige welthistorische Chance, das Ethos der Tatkraft und der aktiven Gestaltung, und dazu noch das Entstehen eines breiten neuen Konsenses in den USA, der sich als kollektive Lehre aus dem 11. September verstand: Diese drei Faktoren zusammen bestimmten auch das Maß, zu dem Bushs Amerika und das Alte Europa auseinander drifteten. Der 11. September verdeutlichte für die USA noch einmal, dass die Kernlehre des 20. Jahrhunderts – kein weiteres Auschwitz – in ihrer politischen Übersetzung hieß, keine Diktatoren mehr zuzulassen, Gefahren frühzeitig in den Arm zu fallen und kein weiteres »München« hinzunehmen. Damit war der missglückte Versuch gemeint, Hitlers territoriale Ansprüche endgültig zu befriedigen, indem man ihm 1938 im Münchner Abkommen die Besetzung des Sudetenlandes gewährte. Deutschland hatte aus dem 20. Jahrhundert eine andere Lehre gezogen: nie mehr Krieg. Was in Europa als Trennlinie zwischen einer richtigen und einer falschen Außenpolitik erschien, zwischen Eindämmung (»containment«) und Kleinbeigeben (»appeasement«), war in der Lesart von Bush nur ein Streit um Nuancen. Für ihn waren beide Strategien Varianten von Passivität und Feigheit. Kurz nach dem Irakkrieg von 2003 beschrieb sein Sprecher Ari Fleischer die Herangehensweise seines Präsidenten folgendermaßen: »Er ist willens, in Begriffen wie Gut und Böse, Schwarz und Weiß, Richtig und Falsch zu sprechen – und dann bevollmächtigt er Außenminister Powell und das State Department zur erforderlichen Diplomatie zum Erreichen der 235
Ziele. Er glaubt an Diplomatie und wendet sie an.« Doch auch sie stößt hin und wieder an Grenzen. Das entscheidende Gremium zur politisch strategischen und intellektuellen Vorbereitung des Feldzugs waren weder das Weiße Haus noch die UNO, sondern das »Defense Policy Board«. In diesem losen Beratergremium des Pentagon saßen der ehemalige CIA-Chef Woolsey und Exaußenminister Kissinger, die Altpolitiker Foley und Schlesinger, Newt Gingrich, der republikanische Exsprecher des Repräsentantenhauses, Dan Quayle und Richard Perle. Perle wiederum war Wolfowitz eng verbunden. Perles Schwiegervater ist der Abschreckungstheoretiker Albert Wohlstetter, neben dem britischen Islam-Wissenschaftler Bernard Lewis zugleich einer der maßgeblichen Lehrer von Wolfowitz. Wohlstetter war es auch, der 1985 seinem Schwiegersohn Perle einen gewissen Achmed Chalabi vorstellte, einen irakischen Exilpolitiker, der Ende 2002 als möglicher Saddam-Nachfolger gehandelt wurde. Perle wurde zu Chalabis einflussreichstem Fürsprecher in Washington. Und gleichzeitig war Perle der wichtigste Berater von Wolfowitz. 1986 hatte sich das Gremium, damals weniger prominent besetzt, gegründet. Bis auf ein Jahr war Perle stets dabei gewesen, zuletzt jahrelang als Vorsitzender. Seine Runde war rasch zu einem der wichtigsten Bindeglieder zwischen den beiden Bush-Präsidentschaften geworden. Aus den Treffen, die anfangs viermal pro Jahr stattgefunden hatten, waren Zusammenkünfte alle zwei Monate geworden. Anderthalb Tage lang besprach man in ungezwungener Atmosphäre, wie Amerikas strategische Lage einzuschätzen war, dann stieß für mehrere Stunden Rumsfeld hinzu und hörte sich die Ratschläge an. Sorgfältige Planung war nötig, denn natürlich gab es auch inneramerikanische Widerstände zu überwinden und Zweifel auszuräumen. Der Kongress war zwar zahm. Aber in der Öffentlichkeit fiel vielen auf, dass kaum mehr über den 236
Schurken hinter dem 11. September gesprochen wurde, über den noch immer flüchtigen Osama bin Laden. »Osama been forgotten« wurde sein Name entsprechend umgewandelt: »Osama ist vergessen worden.« Die Kritiker bestritten auch weithin, dass Saddam eine aktuelle Bedrohung der Sicherheit Amerikas war. Doch das Bush-Team wollte nach dem 11. September kein Risiko mehr eingehen. Schon mehrfach hatte man sich über den Stand der Waffenentwicklung im Irak getäuscht – stets war Saddam weiter gewesen als angenommen. Daher würde die Zeit, so argumentierten Bushs Helfer, nicht für, sondern gegen Amerika arbeiten. Im Hochglanzmagazin Vanity Fair vom Juli 2003 räumte Wolfowitz plötzlich ein, dass die Massenvernichtungswaffen Bagdads niemals der wichtigste Kriegsgrund für die USA gewesen seien. »Aus bürokratischen Gründen« habe sich die US-Regierung auf dieses Thema konzentriert, weil es »der eine Grund war, dem jeder zustimmen konnte«. »Fast unbeachtet, aber riesig« in seiner Bedeutung für die US-interne Entscheidung sei dagegen die Überlegung gewesen, dass mit dem gewonnenen Irak-Krieg die Präsenz von US-Truppen im benachbarten Saudi-Arabien überflüssig werden würde. Allein die Beseitigung dieser »Belastung« von Saudi-Arabien werde zu einem friedlicheren Nahen Osten führen, fügte er hinzu. Dahinter stand natürlich die Tatsache, dass die USA mit Kuwait, Bahrain und Katar inzwischen drei Basen am Golf hatten, deren politisches Management ungleich einfacher war als jenes in Saudi-Arabien. Wenig später legte Wolfowitz bei einem Besuch in Singapur noch nach und erklärte der Welt, warum Washington im Irak auf Waffen, gegenüber Nordkorea aber auf Verhandlungen setzte: »Der wichtigste Unterschied ist, dass wir im Irak wirtschaftlich einfach keine Wahl hatten. Das Land schwimmt auf einem Meer von Öl.« Der Pentagon-Vize schien die schlimmsten Befürchtungen Europas zu bestätigen. Gepredigt wurden Werte, umgesetzt 237
wurden Interessen. Öl statt Moral als Kriegsgrund – sofort schwappte eine neuerliche Empörungswelle durch Europa. Besonders bedrohlich war sie für Tony Blair, der den moralischen Anspruch der »coalition of the willing« am aggressivsten vertreten hatte. In den USA selbst wurden – von republikanischen Senatoren – Untersuchungsausschüsse eingesetzt, die die Wahrhaftigkeit der Kriegsgründe prüfen und auch ermitteln sollten, ob Geheimdienstinformationen zu Propagandazwecken von der US-Regierung verfälscht worden waren. In Wahrheit hatte Wolfowitz nur gesagt, was er schon vor dem Krieg bekundet hatte. Ihm als neokonservativen Strategen war es nie um die Menschenrechte der irakischen Bevölkerung gegangen, für ihn stand die Ausweitung der amerikanischen Einflusssphäre stets obenan. Der Irak-Krieg war beileibe nicht der erste Konflikt gewesen, bei dem sich Washington öffentlich zu einem Bündel von Motivationen bekannte, auch wenn dies als Widersprüchlichkeit empfunden wurde. Hätte man die USRegierung unter Bill Clinton gefragt, warum man sich zum Eingreifen auf dem Balkan durchgerungen habe, so wäre die Argumentation ebenfalls disparat gewesen. Hochrangige Clinton-Mitarbeiter räumten bereitwillig ein, dass Albright als aus Zentraleuropa stammende Immigrantin mit der Moral argumentiert hätte, ihr Kabinettskollege William Cohen als Chef des Pentagon mit Amerikas strategischen Interessen auf der Brücke zwischen Mitteleuropa und Kleinasien und der Präsident selbst mit humanitären Gründen. Die Argumentation mit Massenvernichtungswaffen und der irakischen Bedrohung durch das, was Cheney eine »Ehe« zwischen Bagdad und Al Qaida nannte, war ein Zwangskorsett, dem sich unterwerfen musste, wer im Rahmen der UNResolutionen arbeiten wollte. Denn deren Verletzung musste ja vorrangig angeprangert werden. Im Kern ging es Amerika nie primär um Osama bin Laden und Saddam Hussein. Natürlich 238
sollte der Terrorfürst ergriffen und sein Netzwerk zerschlagen werden. Natürlich sollte der Diktator des Irak gestürzt werden. Aber das wahre langfristige Ziel ging stets weit über die Befriedigung von Rachegelüsten hinaus. Strategisch ging es darum, der gesamten islamischen Welt klar zu machen, was die USA dulden würden und was nicht. Konkret bedeutete dies, Syrien und den Iran einzuschüchtern, damit die Nachschubwege für die Hisbollah unterbrochen würden, und Druck auf SaudiArabien und Kuwait auszuüben, damit sie transparentere Strukturen und mehr Rechtsstaatlichkeit zuließen. Und es ging darum, den Palästinensern den Rückhalt zu verwehren, damit ein Friedensschluss mit Israel wahrscheinlicher würde – so hoffte man zumindest im neokonservativen Umfeld von Bush 43. Die gefährlichste Waffe der Realisten im Kampf gegen die Falken hieß Bush 41. Je näher Ende 2002 und Anfang 2003 der erneute Feldzug gegen Saddam rückte, umso unruhiger wurde der Ruheständler. Er sei schon häufig versucht, »von der Bank aufzuspringen«, gestand der ältere Bush damals. Seine Schwiegertochter Laura bemerkte die Nervosität und flüsterte ihm zu, er sehe vielleicht zu viel fern. Ob er denn nicht ein wenig abschalten wolle, statt an den Nachrichtensendungen über den Aufmarsch im Mittleren Osten zu kleben? Ihr Mann, der Präsident, sekundierte ihr und versicherte seinem Vater, er brauche sich keine Sorgen zu machen. Doch Bush 41 antwortete halb süffisant, halb ernsthaft: »Es ist mein Job, mir Sorgen zu machen!« Die Sorgen des Alten galten nicht nur der Last, die der Junge nun zu tragen hatte. Hinter der mitfühlenden Teilhabe an der Einsamkeit, in der die Entscheidung über den Krieg letztlich getroffen werden musste, standen auch inhaltliche Differenzen. Zuweilen lud Bush 43 seinen Vater ein, an vertraulichen Sitzungen teilzunehmen. Bei derlei Gelegenheiten verpasste Bush 41 sich selbst einen Maulkorb – er enthielt sich jeden 239
Kommentars, hörte nur zu. Was er zu sagen hatte, sagte er ganz privat, nur unter vier Augen. Einmal aber ging George Bush an die Öffentlichkeit. Der Expräsident nutzte eine Rede an der Universität Tufts im Norden von Boston, um Anfang März 2003 zur Vorsicht zu mahnen und etliche Prämissen der Politik seines Sohnes in Frage zu stellen. Das Weiße Haus argumentierte bekanntlich, ein Sturz Saddams werde die Chancen mehren, zwischen Israel und den Palästinensern endlich Frieden zu erreichen. Dafür sei eine völkerrechtlich klare Mandatierung des Vorgehens gegen Saddam die Voraussetzung, meinte der Vater des Präsidenten: »Die Madrid-Konferenz (über den Nahen Osten) hätte es nie gegeben, wenn die internationale Koalition, die in der Operation Wüstensturm zusammen kämpfte, das UN-Mandat überschritten hätte und auf eigene Faust Saddam und seine Truppen bis nach Bagdad verfolgt hätte.« Auch an der inzwischen zu einer brüsken Ablehnung verhärteten Haltung seines Sohnes gegenüber Paris und Berlin übte Vater Bush Kritik: »Man muss den anderen die Hand reichen. Man muss sie überzeugen, dass langfristige Freundschaften kurzfristige Rivalitäten ausstechen sollten.« Was Saddam angehe, so der Vater in einem der äußerst seltenen öffentlichen Kommentare über die Politik seines Sohnes, liege der Fall »weniger klar« als 1991; und die amerikanischen Kriegsziele seien »ein wenig verschwommener«. Bei aller indirekten Kritik an seinem Sohn sah sich Bush 41 jedoch genötigt, ihn auf drastische Weise in Schutz zu nehmen, als Anfang 2003 vielerorts in Europa Vergleiche zwischen Bush und Hitler üblich wurden. »Mein Sohn ist kein Nazi!«, sagte George Bush in Gegenwart eines deutschen Oppositionspolitikers entrüstet. Alles war gesagt, der Sicherheitsrat der UNO verweigerte eine weitere, den Krieg ausdrücklich legitimierende Resolution, aber die »Koalition der Willigen« stand. George W. Bush entschied, 240
dass es Zeit war, nun zum zweiten Male ein Kriegspräsident zu werden. Der dritte Golfkrieg, der zweite eines Präsidenten Bush gegen Saddam Hussein, begann in der Nacht vom 19. auf den 20. März 2003, nachdem Saddam ein Zweitagesultimatum hatte verstreichen lassen, mit seinem Klan ins Exil zu gehen. Am 9. April 2003, genau drei Wochen später, fiel Bagdad an die Truppen der »Koalition der Willigen«. Neben den USA und Großbritannien waren vor allem Australien und Polen mit Kampfeinheiten am Krieg beteiligt. Rund 150 alliierte Soldaten waren getötet worden, davon mehr als ein Drittel durch »friendly fire«, also durch Beschuss aus den eigenen Reihen. Die Zahl der zivilen irakischen Opfer betrug wohl 2.000 bis 3.000, die Zahl der gefallenen irakischen Soldaten um die 5.000. Die USA fahndeten mittels eines Kartenspiels, das ein Soldat erfunden hatte, nach den führenden Köpfen der ehemals regierenden Bath-Partei. »Chemical Ali« aus der Sippe Saddams, der Hauptverantwortliche für den Giftgasangriff auf Iraks Kurden, und »Comical Ali«, der auf bizarre Weise realitätsblinde Informationsminister des Diktators, gehörten zu den ersten Festgenommenen aus der Führungsspitze. Saddams Söhne Udai und Kusai, die hemmungslosesten Profiteure der Tyrannei, wurden während eines Feuergefechts in ihrer Heimatstadt Tikrit erschossen. Keines der Schreckensgemälde aus den Vorkriegsmonaten war wahr geworden: Irak hatte nicht erneut Israel angegriffen, Massenvernichtungswaffen waren nicht zum Einsatz gekommen, und auch die gesamte Region war nicht in Brand gesteckt worden. Es hatte keine ökologische Katastrophe gegeben, und es war zu keiner Massenflucht von Hunderttausenden Irakern gekommen. Die humanitäre Katastrophe in den von den USA besetzten Teilen Iraks war ausgeblieben, ebenso der Häuserkampf um Bagdad mit dem befürchteten enormen Blutzoll. Weder hatte es einen türkischen Einmarsch im Norden zur Auflösung des de facto autonomen Kurdistan 241
noch eine verheerende Anschlagsserie islamistischer Terroristen als Vergeltung für den US-Angriff gegeben. Auch ein Bürgerkrieg der schiitischen Mehrheit vor allem im Süden des Landes gegen die sunnitische und kurdische Minderheit war ausgeblieben. Vor den rosa leuchtenden Kirschblüten im Rosengarten des Weißen Hauses zog George W. Bush am 15. April 2003 sein Resümee der rasch gewonnenen Schlacht: »Dies ist ein guter Tag in der Geschichte der Freiheit!«
Der britische Premier Tony Blair und US-Präsident George W. Bush geben eine gemeinsame Pressekonferenz am 17. Juli 2003 im Weißen Haus. Im Mittelpunkt standen Fragen zu ihren, den Krieg gegen Irak rechtfertigenden Behauptungen über Massenvernichtungswaffen und einen versuchten Uraneinkauf seitens des Irak. In seiner Rede vor dem US-Kongress hatte Blair zuvor geäußert, selbst wenn nie Massenvernichtungswaffen gefunden würden, sei der Einmarsch gerechtfertigt gewesen.
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Wenige Tage später, am 1. Mai, erklärte er in der Uniform eines Kampfpiloten an Bord des Flugzeugträgers »Abraham Lincoln« offiziell das Ende größerer Kampfhandlungen. Dabei war er patriotisch umrahmt von Flaggen und Uniformen. Diese Erklärung wurde angesichts der Toten, die es auf US-Seite hernach fast täglich gab, rasch als voreilig betrachtet. Die Todesmeldungen entfalteten eine zermürbende Wirkung auf die US-Öffentlichkeit. Bush setzte dem die immer gleichen Erfolgsmeldungen entgegen: Zwei Führungen, jene Afghanistans und jene Iraks, hätten sich der Forderung nach einem entschiedenen Kampf gegen den Terror widersetzt. Heute existierten diese Führungen nicht mehr – »these governments are no more«. Dass deren Spitzen weiter flüchtig waren, erwähnte Bush lieber nicht. Er versuchte aus der Tatsache, dass Osama bin Laden und Saddam Hussein frei herumliefen, keine Messlatte des amerikanischen Erfolgs werden zu lassen. Während Bush trotz aller offenkundigen Rückschläge sowohl in Afghanistan als auch im Irak hart blieb und einen Rückzug aus dem unruhigen Zweistromland als »Einknicken vor dem Terror« ausschloss, profilierten sich seine politischen Gegner, die Aspiranten auf die demokratische Präsidentschaftskandidatur für 2004, mit immer schärferer Kritik am Irak-Kurs Washingtons. Bush überfordere Amerikas Soldaten, wenn er von ihnen verlange, Polizisten zu spielen – dazu seien sie weder ausgebildet noch ausgerüstet, argumentierte beispielsweise John Kerry, Senator aus Massachusetts. Damit kanalisierte, steigerte und nutzte er das wachsende Unwohlsein Amerikas. Bezeichnenderweise gab es aber in den Monaten nach dem Sturz Saddams keine ernst zu nehmende Stimme in den USA, die den Rückzug Amerikas verlangte. Bushs Kriege in Afghanistan und Irak hatten dafür gesorgt, dass nun amerikanische Truppen an der Ost- und der Westgrenze jenes Landes standen, das nicht zufälligerweise auf der »Achse des Bösen« gelandet war: Iran. Osama bin Laden 243
und Saddam Hussein waren Inkarnationen des Bösen. Die längste Feindschaft allerdings pflegten die USA gegenüber Teheran. Die Demütigung der Botschaftsgeiseln steckte tief. So fragte sich die Welt nach dem Irakkrieg, ob der Iran der nächste Schritt sein würde. Eine Frage, die allmählich in den Hintergrund rückte – angesichts der massiven Probleme Bushs mit dem Nachkriegs-Irak. Mehr und mehr gab Bush die Devise aus, dass unabhängig vom Streit über den richtigen Kurs vor dem Krieg die Schaffung eines stabilen, demokratischen Staates im Zweistromland nun die gemeinsame Verantwortung aller westlichen Nationen sein sollte. Im polnischen Krakau am 31. Mai 2003 schmeichelte der US-Präsident: »Wir begrüßen und brauchen die Hilfe, den Rat und die Weisheit unserer europäischen Verbündeten.« Doch auch seiner moralischen Weltsicht blieb Bush treu. Auschwitz, das er unmittelbar zuvor als erstes Konzentrationslager in seinem Leben besucht hatte, habe ihm gezeigt, wie »real« das Böse in der Welt sei. Vom Holocaust ausgehend über das Lob für den polnischen Papst Karol Wojtyla und dessen Widerstand gegen den Kommunismus zog Bush eine Linie zu den Herausforderungen der Gegenwart. »Gutes entstand, weil Menschen bereit waren, sich mit der Waffe in der Hand gegen das Böse zu erheben.« Das Böse müsse auch weiterhin benannt und bekämpft werden. Die Formel der »partners in leadership« von Bush 41 war nicht tot, sie war konkret geworden. Und sie war eine Forderung, keine Verheißung, denn »burden sharing«, das Teilen der Lasten, war eine unmittelbare Notwendigkeit geworden. Längst war klar, dass der Frieden und der Aufbau Iraks ungleich schwieriger werden würden als der Krieg. »Verkraftet das amerikanische Volk eine Wahrheit, die fünf oder zehn Jahre Besatzungszeit im Irak und 20 oder 30 tote Soldaten monatlich heißt?«, formulierte Jack Janes vom American Institute for Contemporary German Studies die zentrale Frage, mit der Bush 244
konfrontiert war. Es war eine mehr als unangenehme Frage. Mit den zunehmenden Problemen im Irak veränderten sich auch das Erscheinungsbild und die interne Machtbalance des Bush-Teams. Während des Krieges hatte Bush sich noch gelegentlich aus Sitzungen herausgestohlen, um einen Blick auf die bizarren Auftritte von »Comical Ali« – auch »Bagdad Bob« genannt – zu erhaschen. »Den Typ mag ich!«, sagte Bush einmal über jenen Schergen Saddams, dessen berühmtester Satz lautete: »Es gibt keine amerikanischen Ungläubigen in Bagdad. Nie!« Während er sprach, rollten im Bildhintergrund US-Panzer durch die Straßen der irakischen Hauptstadt. Am 30. Oktober 2003 kam die New-York-Times-Kolumnistin Maureen Dowd zu einer für das Weiße Haus niederschmetternden Einsicht: »Aus Crawford-George ist ein Bagdad-Bob geworden.« Bush erschien ein halbes Jahr nach Kriegsende den Realitäten ebenso entrückt wie Saddams Minister während des Waffengangs. Die Regierung igelte sich zunehmend ein, Augen zu und durch – das schien ihre einzige Strategie zu sein. Bush und seine Topberater schienen unzugänglich und nicht willens, über ihre Politik Rechenschaft abzulegen. Bei einem Treffen mit ranghohen Vertretern des Kongresses sagte Bush: »Ich bin nicht hierher gekommen, um mit Ihnen zu debattieren!« Seine Zuhörer waren entsetzt. So dünnhäutig hatten sie ihren Präsidenten nie erlebt. Noch einmal 87 Milliarden Dollar zusätzlich für den Irak genehmigten die USParlamentarier im Herbst 2003 dennoch. Rumsfeld, im Kongress ohnedies als selbstherrlich verschrien, musste seinen Preis für schwerwiegende Fehlkalkulationen zahlen. Auch auf Anraten des Perle- und Wolfowitz-Freundes Achmed Chalabi, des einst hoch gehandelten Exil-Irakers, hatte das Pentagon durchgesetzt, dass die gesamten Sicherheitskräfte Iraks nach dem Krieg zerschlagen wurden. Das entstehende Machtvakuum war rasch zur größten Belastung der Nachkriegsphase geworden. Dabei hatte es nicht an Ratgebern 245
gefehlt, die einen anderen Kurs empfohlen hatten: die Spitzen von Militär und Polizei entfernen, den Rest weiterarbeiten lassen. Im Herbst 2003 übertrug ein genervter Bush seiner Sicherheitsberaterin die Zuständigkeit für Iraks Wiederaufbau; Rumsfeld verlor eine entscheidende Kompetenz. Wachsende Kritik galt auch den finanziellen Transaktionen der Nachkriegszeit. Zwei aufs Engste mit dem Bush-Team verbundene Firmen, Halliburton und Bechtel, hatten unmittelbar nach dem Ende der Kampfhandlungen umfangreiche Aufträge der US-Regierung erhalten – aus Zeitmangel, so wurde damals argumentiert, ohne die übliche Ausschreibung. Chalabis Spitzenberater Mudhar Schawkat erhielt die Konzession zum Aufbau eines Mobilfunknetzes im Süden des Landes. Allen diesen Unternehmen wurden Verschwendung, Korruption oder zwielichtige Vorgehensweisen vorgeworfen. Die hohen Summen, die Bush in Washington locker gemacht hatte, wurden oft auf skurrile Weise verteilt. Gehälter von 1.200 Dollar täglich für Sicherheitsleute oder von 140.000 Dollar jährlich für einen südafrikanischen Zoologen zum administrativen Wiederaufbau des Bagdader Tierparks standen in einem bizarren Verhältnis zu den landesüblichen Einkünften und zu den vordringlichsten Notwendigkeiten. Newsweek hatte Anfang November 2003 einige der gröbsten finanziellen Verfehlungen im Irak aufgedeckt. Doch die amerikanische Bevölkerung beschäftigte etwas anderes, die Sicherheitslage im Irak. Der nach dem offiziellen Kriegsende zunächst folgenschwerste Anschlag ereignete sich am 2. November 2003, als nahe der Stadt Falludscha ein USTransporthubschrauber abgeschossen wurde und 16 Soldaten starben. Falludscha war zu einer Hochburg der Kämpfe geworden – und zu einem Fanal für eine Entwicklung, die Madeleine Albright als tragisch beschrieb. Bush hatte genau das erzeugt, wogegen er vorzugehen behauptet hatte: die Allianz zwischen Irakern und Terroristen. Laut Albright bestand zur 246
Jahreswende 2003/2004 kein Zweifel mehr daran, dass AlQaida-Mitglieder, Freischärler aus Syrien und Saudi-Arabien, palästinensische Terroristen und Saddam-Getreue im Nachkriegsirak einen Tummelplatz fanden. »Jeder, der Amerikaner erschießen möchte, geht in den Irak«, sagte die ehemalige Außenministerin. Saddam Hussein selbst blieb zunächst ebenso unauffindbar wie seine Massenvernichtungswaffen. Es gab zahlreiche neue Hinweise auf die Existenz der Waffen, und es war unbestritten, dass in den 90er Jahren welche vorhanden waren. Sollten sie tatsächlich vernichtet worden sein? Warum hatte Saddam dann den Sturz seines Regimes riskiert? Es zirkulierte die These, Saddam habe, vor allem auch gegenüber seinem ehemaligen Kriegsgegner Iran, den Eindruck erwecken müssen, Massenvernichtungswaffen parat zu haben. Doch so einhellig, wie alle westlichen Geheimdienste, auch der deutsche, vom Vorhandensein von B- und C-Waffen und der bevorstehenden Produktion von A-Waffen ausgegangen waren, so unklar war nun der Verbleib von vielen Tonnen einst nachweislich vorhandener Munition. Solange diese Fragen unbeantwortet blieben, wurden sie vor allem in Europa als weiterer Anklagepunkt gegen Bush gewertet. Je düsterer die Lage im Irak wurde, desto rascher schien der Stern der Neo-Cons zu sinken. Für ehrgeizige Umgestaltungsprojekte ganzer Weltregionen hatte Amerika keine Kraft mehr. Die Abwehrschlacht gegen immer neue Indiskretionen über Geheimdienstpannen organisierte derweil in Washington ein Netz aus Personen, das sich in Teilen mit jenem der Neo-Cons überschnitt, das sich aber im Umgang mit einer anderen Affäre gebildet hatte: Veteranen des Iran-Contra-Skandals lancierten Informationen über unzuverlässige CIA-Quellen, die nun für diverse Fehleinschätzungen verantwortlich gemacht wurden, und versuchten sich an der Eindämmung jener Empörung, die die inzwischen widerrufene Behauptung irakischer Urankäufe im afrikanischen Niger ausgelöst hatte. 247
Für die Bushs selbst rückte die Heimatfront näher – auch wegen des beginnenden Wahlkampfes. Laura Bush trug das Ihre dazu bei. Im Winter 2003/2004 gab sie Modemagazinen wie Harper’s Bazaar ausführliche Interviews, in denen nicht mehr die Gattin des Kriegspräsidenten, sondern das Menschelnde im Vordergrund stand. Es war kein Zufall, dass Laura Bush, gekleidet in Rock und Jacke von Carolina Herrera, für eine der Foto-Sessions im Verweil-Zimmer des Weißen Hauses unter jenem Gemälde Platz nahm, das Jackie Kennedy zeigte. Von deren Glanz und Popularität hätte die Familie im Präsidentensitz nun gern etwas mehr gehabt. George W. Bush drückte die Ermüdung nach über zwei Jahren der Dominanz außen- und militärpolitischer Themen auf seine Weise aus. Er ließ einen NATO-Gipfel verschieben. Wichtiger war ihm die Teilnahme an den Abschlussfeiern seiner frisch examinierten Töchter Jenna und Barbara. Was den Irak selbst anging, blieb Bush allerdings hart. Er sprach im Winter 2003/2004 gern über seine Bewunderung des australischen Premiers, eines Kriegsverbündeten, den der USPräsident als »Mann aus Stahl« pries und für sich zum Vorbild erkor: »Tue einfach das, wovon du annimmst, dass es richtig ist«, sagte Bush nachdenklich und sichtbar um Festigkeit bemüht an Bord seiner Air Force One. »Bleibe standfest im Angesicht öffentlicher Kritik. Die Menschen werden dich gerecht bewerten.« Der 14. Dezember 2003 war ein Sonntag. George W. Bush wachte frühmorgens um Viertel nach fünf auf, weil das Telefon klingelte. Condoleezza Rice war dran. Die Sicherheitsberaterin sagte ihrem Präsidenten, man sei sich nun sicher: Der wenige Stunden zuvor in einem Erdloch nahe Tikrit festgenommene, bärtige Mann war tatsächlich Saddam Hussein. Kurz darauf rief Bush 41 seinen Sohn an. »Ich gratuliere«, sagte der ExPräsident. »Dies ist ein toller Tag für Amerika!« Bush 43 antwortete: »Es ist ein toller Tag für unser Land. Aber es ist ein noch größerer Tag für das irakische Volk.« 248
15. Der Terror, die Angst und Europa Auch Altersweisheit und erwiesene Verdienste schützen nicht vor drastischen Verzerrungen beim Blick auf George W. Bush. So bescheinigte der südafrikanische Expräsident Nelson Mandela dem Mann im Weißen Haus, er sei »nicht ganz klar im Kopf« und wolle die Welt in einen »Holocaust« stürzen. Während einer Irlandreise 2003 erklärte er Bush und sein Amerika für eine »Gefahr für den Weltfrieden«. Seriösere Analysen der Außenpolitik des jüngeren Bush schwanken zwischen zwei grundsätzlichen Wertungen. Für die eine Seite, wie für Jürgen Habermas, ist Washingtons Handeln im Kern revolutionär expansiv. Die andere Seite bewertet Bushs Weltpolitik im Kern als moralisch konservativ, so wie Dieter Dettke, der langjährige Leiter der SPD-nahen Friedrich-EbertStiftung in Washington es tut. Dettke hat darauf hingewiesen, dass im Forderungskatalog gegenüber Bagdad und in den Blaupausen zur Zukunft des Irak mehrfach sieben Punkte als unveräußerliche Minimalziele benannt wurden: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Unternehmensfreiheit, eine unabhängige Justiz, gleiche Rechte für Frauen, Zugang zu Bildung für alle und eine transparente und dem Bürger verantwortliche Verwaltung. Es sei kein Zufall, so Dettke, dass die Kerneigenschaft für jedes demokratische Gemeinwesen fehlte, nämlich freie Wahlen. Hier liege das Konservative: Es gehe eben doch nicht um eine radikale Umgestaltung nach westlichem Modell, sondern um Minimalziele, die relativistisch an ein islamisches Land angepasst würden. Auf die traditionellen Bündnisse Amerikas wirkt Bushs Außenpolitik dann destabilisierend, wenn der US-Präsident die Allianzen flexibel gemäß seiner Parole »die Mission definiert die Koalition« zusammenstellt, gewissermaßen »NATO à la 249
carte«. Zwar hatte Bush gute Gründe, so vorzugehen, denn die langjährigen Partner in den erprobten Allianzen verweigerten sich in Teilen. Dennoch brachte sein Vorgehen ein Unruheelement in die strategische Diskussion. Allianzen wurden von Bush instrumentell gesehen, nicht essenziell. Die Europäer schlugen deshalb die Hände über dem Kopf zusammen. Für sie war die UNO ebenso ein Wert an sich wie alles andere, das sich als multilateral abgestimmtes Verhalten darstellte. Der USPräsident hatte für derlei Sorgen wenig übrig, dafür ein klares Diktum parat, mit dem die instrumentelle Nützlichkeit von Partnern bewertet werden konnte: »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.« Dieser alttestamentarische Satz, den Bush laut einer Zählung von Jimmy Carters Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski seit dem 11. September 2001 bis zum Sommer 2003 stolze 99-mal öffentlich benutzt hat, sprengt tradierte Bündnisse. Bush setzt damit auf Ad-hoc-Koalitionen und macht die aktuelle Zustimmung zu seiner Politik zum Gradmesser der Partnerschaft. »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns«, war paradoxerweise der Satz, mit dem Lenin einst den Konflikt zwischen seinen Bolschewiken und den gegnerischen Menschewiken nach der Russischen Revolution angeheizt hatte. Der Londoner Historiker Eric J. Hobsbawm betonte in der ZEIT die Anmaßung, die hinter Bushs Kurs stecke. »Zeichen von Größenwahn« seien erkennbar, alte Erfahrungen der Diplomatie würden ignoriert. Bush, so Hobsbawm, wolle Europa spalten und dessen Errungenschaften in Frage stellen: »Viele glauben, das amerikanische Weltreich sei für das Gute, und nur fürs Gute.« Doch auf Bush dürfte eher der Umkehrschluss zutreffen, denn zunächst stritt er gegen das Böse. Amerikas Triebfeder war schlicht Angst, eben die Lehre aus dem 11. September. Dazu kam fast zwangsläufig der Vorsatz, Gleiches oder Schlimmeres in Zukunft zu verhüten. Dieser Zwitter aus Verunsicherung und Verteidigungsbereit250
schaft war in Wahrheit die Wurzel der Bushschen Außenpolitik. Die plakative Wortwahl eines Donald Rumsfeld, die strategische Ambitioniertheit eines Paul Wolfowitz oder die Metaphysik eines Jim Woolsey (»Wir befinden uns im Vierten Weltkrieg« – nach dem Kalten Krieg, der der Dritte war) waren nur dazu angetan, Bush falsch zu verstehen und ihm primär forsches Sendungsbewusstsein als Motiv zu unterstellen. In Afghanistan und im Irak kämpfte Amerika aber nicht für eine Vision, sondern für seinen Schutz und seine Sicherheit. Eine bessere Welt als Nebenprodukt wurde dabei gern in Kauf genommen. Wenn die Motive primär nach innen gerichtet waren, mussten auch die Mechanismen in Amerika selbst wirken, die das Verhalten draußen legitimierten. Wenn der Imperialismus in Wahrheit ein passiver und die Aggression in Wahrheit eine defensive war, dann musste der Antrieb, die Verunsicherung in den USA selbst spürbar sein. Sie war es. Selbst das nüchterne Wall Street Journal wunderte sich im April 2003 über das Maß, in dem diffuse Ängste die Gefühlslage Amerikas bestimmten. »Warum glauben die Amerikaner bloß, dass hinter jeder Ecke eine Gefahr lauert?«, hieß es in einer Titelgeschichte. Gemeint war die Angst vor Terror, Anschlägen, Virenattacken und Chemiewaffeneinsätzen. Dies war die Angst der Mehrheit. Doch auch die extrem Bush-kritische Minderheit hatte Angst – Angst vor ihrer Regierung. Tatsächlich sahen sich viele Bürger aus dem intellektuellen Milieu dem Verfolgungswahn und dem Fahndungsdruck einer neuen McCarthy-Ära gegenüber. Ob nun begründet oder nicht: Viele Amerikaner aus der gebildeten Elite erlebten ihren Staat als repressiven Big Brother. Und für eine wachsende Zahl liberaler Kommentatoren war spätestens nach dem Irakkrieg klar: Die Angst der Masse vor dem Terror wird gezielt geschürt – von jenem Bush, vor dem man daher erst recht Angst haben musste. Denn ohne Angst kein Krieg, ohne Angst kein neues Heimatschutzministerium unter Tom Ridge, ohne Angst keine 251
Einschränkung der Bürgerrechte. Die »Manipulation der Angst«, schrieb Stanley Hoffmann im New York Review of Books, habe die US-Regierung zu einer »brillanten Technik« entwickelt, um ihre Befugnisse zu erweitern. In Ausnahmesituationen wie dem Krieg bedürfen drastische Maßnahmen eben keiner Rechtfertigung. Wer nur genug Angst sät, der erntet Macht. Hier setzt die Kritik Zbigniew Brzezinskis an. »Die Definition des Terrorismus ist viel zu simpel und viel zu abstrakt. Terror ist eine Technik des Tötens von Menschen. Aber nun einen Krieg gegen den Terror auszurufen, ist so, als hätten wir den Zweiten Weltkrieg gegen den Blitzkrieg geführt statt gegen Europas Faschismus«, argumentierte er bei einem Vortrag am 27. Juni 2003 in Berlin. Gegen eine Technik kann man keinen Krieg führen. Viel wichtiger sei in der Rhetorik Amerikas ein Versäumnis: »Uns wird nie gesagt, wer der Feind ist: Ägypten? Saudi-Arabien? Jemen?« Statt einer diffusen Angst, die sich am Begriff »Terror« festmacht, bekäme Brzezinski gern konkrete Angaben. Doch ein solches Rufen nach Realismus verhallt beinahe ungehört, wenn die Verunsicherungen sich häufen: Schon gegen Ende der Clinton-Ära platzte die neue Wunderwirtschaftsblase, die doch eigentlich beständigen Wohlstand sichern sollte, dann wurden das konservative Amerika und seine noch gültigen Maßstäbe öffentlichen Lebens durch Clintons Moral tief erschüttert, und zuletzt folgte die massivste Erschütterung, die in den Bildern vom l1. September gerann. Kein Geld mehr, keine Moral mehr, keine Sicherheit mehr: Dies war die Erfahrung des konservativen Amerikas der Jahre 2000 und 2001. Genau wie im Kalten Krieg, so die Washington Post, sei die Angst auch unter Bush 43 »ein mächtiges politisches Motivationsinstrument«. Tatsächlich gab es drastische Vorläufer. Das berühmteste Zitat dazu war über 50 Jahre alt: »Herr Präsident, die einzige Möglichkeit, die Gelder bewilligt 252
zu bekommen, ist, eine Rede zu halten und die Nation bis ins Mark zu ängstigen.« Das war der Rat, den US-Präsident Harry Truman 1947 von Senator Arthur Vandenberg aus Michigan erhielt, als es um die Frage ging, wie viel Geld der Kongress bewilligt, um befreundeten europäischen Staaten in ihrem Kampf gegen den Kommunismus beizustehen. Denn es war allemal leichter, Gelder für die Eindämmung der kommunistischen Bedrohung für Amerika zu bekommen als für die Schaffung einer ökonomischen Vernetzung mit Nachkriegseuropa, die den Geschäftsinteressen von US-Familien wie den Bushs dienen würde. In vielen seiner Reden, die George W. Bush vor dem Irakkrieg hielt, schien er den Rat Vandenbergs zu befolgen: Er ängstigte die Nation bis ins Mark. »Chemische Stoffe, tödliche Viren und im Verborgenen arbeitende Terrornetzwerke lassen sich niemals eindämmen«, sagte Bush im Februar 2003 vor einer Gruppe christlicher Radiomoderatoren. »Ganz geheim, ohne Fingerabdrücke kann Saddam Hussein seine versteckten Waffen an Terroristen weiterleiten. Saddam Hussein ist eine Gefahr. Er ist eine Gefahr für die Vereinigten Staaten von Amerika.« Anders als im Kalten Krieg der Kommunismus, wurden unter Bush die Taliban, Osama bin Laden und Saddam Hussein nicht einmal von einer Minderheit in den USA verteidigt. Das machte es schwer, das regierungsamtliche Schüren von Ängsten zu kritisieren, ohne in einen falschen Verdacht zu geraten. »Wer mit Angst arbeitet, ist immer im Vorteil«, sagte der Psychologe Paul Slovic von der University of Oregon. »Es ist leichter, zu ängstigen, als zu beruhigen. Und wir vertrauen eher jenen Menschen, die uns vor Gefahren warnen, als jenen, die sie uns ausreden wollen.« Angst und Wut waren die beiden wichtigsten Gefühle der Amerikaner nach dem 11. September. Das Urvertrauen, auf ihrem eigenen Kontinent sicher zu sein, gar anderen Sicherheit bieten zu können, wurde zerstört. Amerikas Mehrheit 253
betrachtete den Irakkrieg lange als richtig – unabhängig davon, ob dort Massenvernichtungswaffen gefunden werden würden. Der Grund dafür ist in erster Linie das befriedigende Gefühl, eine Schmach vergolten zu haben. »The national story line has changed from trauma to triumph«, bilanzierte das Wall Street Journal: »Die Grundmelodie der Geschichte des Landes hat sich vom Trauma zum Triumph gewandelt.« Auch Thomas Friedman, einer der klügsten Kommentatoren der New York Times, meinte, der »wahre Grund« des Irakkrieges sei gewesen, dass »Amerika nach dem 11. September irgendjemanden in der arabisch-muslimischen Welt treffen musste«. Afghanistan sei nicht genug gewesen. Deshalb musste es anschließend Saddam treffen: »Weil wir konnten, weil er es verdient hatte, und weil er sich im Herzen der arabischmuslimischen Welt befand.« Hobsbawm zielte in eine ähnliche Richtung. Für die Amerikaner gelte: »Sie haben den Irak angegriffen, weil sie ihn vor zehn Jahren besiegt hatten und die Leute dort sich weigerten, die Niederlage ernst zu nehmen.« Neben all den unterschiedlichen Motiven, die den USA als Ursache für die Unbedingtheit ihres forschen Handelns unterstellt wurden, ist eine Tatsache unbestritten. Möglich wurde der Doppelkrieg in Afghanistan und Irak nur durch den 11. September mit all den Neubewertungen der Sicherheits- und Interessenlage, die er auslöste. Eine dieser Neubewertungen betraf das Verhältnis der USA zu ihren Verbündeten. Eine Übersetzung von Amerikas Angst betraf damit nicht die USBürger, sondern die Partner Amerikas in aller Welt. George W. Bush gab die Idee des Multilateralismus niemals auf – vorausgesetzt, er war funktional. Als Bremse war der Multilateralismus inakzeptabel, wie die UNO und die NATO zu spüren bekamen. Als Unterstützung im Krieg gegen den Terror wäre er willkommen gewesen. Eine andere Option, den Isolationismus, hatte die Realität des 11. September gründlich widerlegt. Nun war der Unilateralismus eine qualifizierte 254
Möglichkeit geworden, aber auch nicht mehr. Unilateralismus war nicht das Ziel der US-Politik, sondern allenfalls eine akzeptable Rückzugsposition, wenn ein breiter angelegtes Handeln unmöglich war. Dies passte zu der Tatsache, dass Bush die Welt unipolar sah, dass er Amerikas Interesse als allein maßgeblich verstand. Andere, geringere Machtzentren mussten sich Amerika nicht unbedingt beugen. Sie hatten aber für Bushs Washington nur in Bezug auf ihr Verhalten Amerikas Interessen gegenüber eine Bedeutung. Von einer multipolaren Welt mit unterschiedlichen, gleichberechtigten Kraftzentren ging George W. Bush nie aus. Der ältere Bush und die meisten anderen Vorgänger hatten dies nicht grundsätzlich anders gesehen, waren aber diplomatisch geschickter. Und sie hatten keinen 11. September zu bewältigen. Der Terror fiel zeitlich zusammen mit einem Umstand, den der US-Historiker Gerry Livingston folgendermaßen beschreibt: »Man sollte nicht vergessen, dass wir jetzt die konservativste Regierung seit vielleicht über 80 Jahren und die nationalistischste Regierung seit der Zeit Teddy Roosevelts vor 100 Jahren an der Macht haben. Das führt natürlich manchmal zu Entscheidungen, die Europäern ganz fremd sind.« Egon Bahr, der SPD-Politiker, hat versucht, zu definieren, wo George W. Bush aus der Kontinuität seiner Vorgänger heraustrat: »Amerikanische Präsidenten haben im Grunde seit dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich eine Machterweiterung Amerikas betrieben. Dagegen ist gar nichts zu sagen, weil es gewissermaßen natürlich ist. Der jetzige Präsident ist aber der erste in dieser Reihe, der nun sagt, ich bestimme allein, wann ich präventiv eingreife, wann, wo und wie es mir passt. Das ist ein qualitativer Unterschied. Das ist ein Punkt, an dem Deutschland aufgrund seiner Verfassung auch künftig nicht wird mitmachen können und dürfen.« Die wachsende strategische Diskrepanz zwischen Europa und Bushs Amerika war eine Entwicklung, die von den Neo-Cons 255
verdeutlicht und in zuweilen drastische Worte gekleidet, aber nicht von ihnen verursacht wurde. »Unsere Geschichte hat auch etwas Tragisches: Ob wir es nun wollten oder nicht – seit der Wiedervereinigung haben wir uns auseinander entwickelt«, sagt Jochen Thies, der frühere Redenschreiber für Helmut Schmidt. »Schon seit dem Ende des Kalten Kriegs gehen die Wahrnehmungen auseinander«, argumentiert auch Walter Russell Mead. »Seit langem ist klar, dass irgendwann ein Vorfall einem Blitz gleich diese Entwicklung erhellen würde.« Dieser Vorfall war der 11. September – und Amerikas Antwort darauf. Als Reaktion auf graduell unterschiedliche Bedrohungsanalysen und extrem unterschiedliche Vorstellungen dessen, was daraus als Handlungsanweisung abzuleiten sei, verfiel Europa in eine Haltung, die Mead als »fruchtloses Pochen auf ein einseitiges Veto« bezeichnet. »Die EU und ihre Mitgliedsstaaten können nicht erwarten, die einzigen Schiedsrichter bei der Feststellung unilateralen oder multilateralen Handelns zu sein«, schrieb auch John Van Oudenaren, Leiter der Europaabteilung in der Library of Congress. Europa verstand sich plötzlich als jene Zivilisation, die zur Bändigung Washingtons das Recht in Anspruch nahm, außenpolitische Entscheidungen der USA effektiv verhindern zu können. Doch Amerika erwies sich stets als unzähmbar. Der Vetoanspruch war abstrakt. Es gibt keinen Krieg, den Amerika wegen des mäßigenden Einflusses Europas nicht geführt hätte. Und leider lässt sich auch kaum ein Krieg finden, den Amerika trotz europäischen Einspruchs geführt hatte, von dem aber hernach alle überzeugt waren, dass er besser nicht geführt worden wäre. Immer mehr Amerikaner sahen das verbale außenpolitische Auftrumpfen Europas als bizarren Gegensatz zur erwiesenen internen Reformunfähigkeit der Alten Welt – und vielleicht auch als deren Kompensation. Walter Russel Mead formulierte fünf Kernforderungen, die die USA an Europa stellen würden, würde 256
man sie fragen. Die erste Forderung wäre eine durchgreifende Reform und Deregulierung der Wirtschaft. Zweitens müsse die Türkei »sofort« in die EU aufgenommen werden, um zu vermeiden, dass Europa ein marginaler Spieler der Weltpolitik bleibe. Drittens müsse ein massives Geburtenwachstum einsetzen, damit Europas Anteil am Weltbruttosozialprodukt sich bis 2050 nicht von 18 auf zehn Prozent verringert, während Amerikas Anteil den Prognosen nach voraussichtlich von 23 auf 26 Prozent wächst. Aus nahezu gleich starken Wirtschaftsblöcken würden demnach Regionen, die sich beinahe im Verhältnis 3:1 gegenüberstünden. Viertens müsse Europa zwei bis drei Prozent seines Sozialprodukts für die Verteidigung ausgeben, und fünftens müsse Europa viel offener für Zuwanderer werden. Meads Schlussfolgerung daraus dürfte dem Denken der Bush-Administration entsprechen: »Wir akzeptieren, dass Europa all diese Ratschläge zurückweist und sich stattdessen entschlossen hat, eine historische Sackgasse zu beschreiten.« Es ist kein Zufall, dass Bushs Amerika – wie auch schon Clintons – wieder und wieder auf die Schlüsselrolle der Türkei hinweist. Mead und andere US-Denker aller politischen Lager, aber auch US-Regierungen von jener George Bushs bis hin zu den Offiziellen im Team von George W. Bush forderten von Europa vehement die Aufnahme der Türkei, »damit man direkten Einfluss auf den größeren Nahen Osten hat«, wie Mead es formulierte. Deutsche Politiker dagegen betrachteten ein solches Szenario – meist nichtöffentlich formuliert – ganz anders. »Wir wären doch dumm, wenn wir durch einen EUPartner Türkei direkter Nachbar dieses Pulverfasses würden und uns damit alle Probleme der Region aufhalsen würden«, meinte ein hochrangiger Berliner Außenpolitiker aus dem Regierungslager nach dem Irakkrieg. Als in Istanbul im November 2003 Al-Qaida-Bomben ganze Straßenzüge verwüsteten, lehnten CDU-Politiker die EU-Aufnahme der 257
Türkei mit dem Argument ab, man importiere dadurch nur den Terror. Dieses Europa, das versucht, sich abzuschotten, ist Bushs Amerika fremd. Die USA wollen heranrücken und eingreifen – oder zumindest die strategische Option dazu haben. Ein klares Nein zur europäischen Präferenz für das Heraushalten: Das ist beider Bushs zentrale Forderung gegenüber der Alten Welt. Eine unerfüllte. »Europa hat eine bankrotte Amerika-Politik«, meint Mead. »Amerika wird sich in anderen Weltregionen nach Partnern umsehen müssen.« Statt eines »selbstbewussten, reichen, offenen, starken Europas« sehe sich Washington einem »verbitterten, eifersüchtigen, bösen, beckmesserischen und hinterhältigen« Kontinent gegenüber. Man hätte gern in Kauf genommen, so Mead wieder und wieder über die US-Position, mit einem starken Europa ein Gegenüber zu haben, dessen Interessen man dann auch berücksichtigen müsste und mit dem es harten Streit in Sachfragen gebe. Doch wenn sich Europa selbst entscheide, schwach und irrelevant sein zu wollen – woher komme dann realpolitisch der Anspruch, Amerika solle sich von einem solchen Partner sein Verhalten diktieren lassen? Richard Perle drückte den gleichen Gedanken so aus: »Wir werden nie der Erpressung nachgeben, auf unser Selbstverteidigungsrecht zu verzichten, nur weil ein paar Kids in Berlin und Paris Bush nicht mögen.« In einem Interview drückte Perle es mit einem sarkastischen Seitenhieb auf den in Europa meistgelesenen US-Autoren und Bush-Kritiker so aus: »Wenn Michael Moore Europas beste Grundlage für ein Urteil über Weltpolitik ist – viel Glück!«
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16. Deutschland Dabei hatte das Verhältnis zwischen Bushs Amerika und den Deutschen 14 Jahre zuvor so hoffnungsvoll begonnen. Bereits in ihrem ersten Amtsjahr als Präsidentenpaar, 1989, besuchten George und Barbara Bush den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl und seine Gattin Hannelore. Barbara Bush kannte Hannelore Kohl bereits gut aus ihren acht Jahren als Frau an der Seite des US-Vizepräsidenten; sie bezeichnete ihre deutsche Kollegin als »eine alte Freundin und eine aufgeschlossene, charmante Lady«. Neben den politischen Diskussionen bekamen die Bushs Touristisches vom Feinsten geboten. Ein Helikopterflug quer über die Bundesrepublik brachte Barbara Bush ins Sinnieren: »Ich konnte gar nicht begreifen, wie sauber dieses Westdeutschland war. Es gab nicht ein einziges Schrottauto und keinen einzigen alten Mähdrescher, die irgendwo herumstanden und vor sich hin rosteten. Wo bringen die ihren Müll hin?« Auf den Hubschrauberflug folgte eine Bootstour auf dem Mittelrhein. Bereits sichtlich angetan von den Burgen, Naturschönheiten und kleinen Ortschaften war Barbara Bush bereit, dies zu einem ihrer schönsten Tage zu erklären. Die Stimmung erreichte ihren Höhepunkt, als nachmittags um drei ein kräftiges Büfett eröffnet wurde. »Helmut made my day«, erinnerte sich Barbara Bush später in einem kaum übersetzbaren Jauchzer. Denn der Kanzler hatte der First Lady zugeraunt: »Es freut mich, eine Dame zu sehen, die einen kräftigen Appetit hat!« Barbara Bush fiel sofort der Vergleich zu ihrem Gatten ein: »Warum sagt George Bush nie so etwas Romantisches?« Sowohl die Herren als auch die Damen trafen sich häufig. Am Rande eines G-7-Gipfels notierte Barbara Bush beispielsweise in ihr Tagebuch, wie sehr sie an Hannelore Kohl hänge; diese sei »voller Wärme und sehr offen«. Und so hatte sich eine über 259
die Jahre bestehende, enge persönliche Bindung zwischen dem Präsidenten- und dem Kanzlerpaar entwickelt, als die große Geschichte beiden weitreichende Entscheidungen abverlangte. Als am 9. November 1989 in Berlin die Mauer fiel, war Helmut Kohl in Warschau. Früh am nächsten Morgen flog er mit gecharterten Maschinen auf Umwegen in die ehemalige und künftige Hauptstadt. Am Abend stand Kohl auf dem Balkon des Schöneberger Rathauses, dort, wo einst John F. Kennedy die Menschen begeistert hatte, als er Westberlin zum Anker der Freiheit in einer bedrohten Welt und sich selbst zum Berliner ehrenhalber erklärt hatte. Doch für die Spitzenpolitiker der Bundesrepublik wollte gut 26 Jahre später keine Begeisterung aufkommen. Als Kohl mit Exkanzler Willy Brandt und Berlins Regierendem Bürgermeister Walter Momper die Nationalhymne anstimmte, ging der ohnedies ziemlich schräge Gesang in einem gellenden Pfeifkonzert unter. Die Menge johlte – nicht vor Freude, sondern aus Abneigung gegen den in Berlins westlichen Innenstadtbezirken eher ungeliebten Kanzler. 6.000 Kilometer entfernt saß George Bush im Weißen Haus vor dem Fernseher und lauschte Kohls Sangeskünsten. Er besah sich das Schauspiel aus dem Herzen der deutschen Metropole und kam zu dem Schluss, dass die Deutschen schon etwas seltsame Leute seien, auf jeden Fall aber harmlos. Wenn sie im Moment größten nationalen Glücks ihren Kanzler auspfeifen… Noch am selben Tag rief Kohl im Weißen Haus an und unterhielt sich ausführlich mit George und Barbara Bush. Er berichtete von seiner abgebrochenen Polenreise, von den Abertausenden, die in den Westen strömten, von dem Taumel, der viele Ostdeutsche im Angesicht des westlichen Überflusses packte. Kohl berichtete von den überwältigenden Reaktionen im Westen, wo die Bürger Orangen, Schokolade und Hunderte anderer im Osten knapper Alltagswaren verschenkten. Barbara Bush schrieb am 11. November 1989 in ihr Tagebuch: »Die Ostdeutschen haben ihre Grenzen geöffnet, und die 260
Menschen strömen heraus. Mehrfach diese Woche war mir danach, einfach zu rufen: Warum marschieren wir in unserem Alltagstrott weiter? Warum tanzen wir nicht auf den Straßen, warum singen und jubeln wir nicht? Wohl, weil wir sehen, dass wir angesichts all dieser neuen Entwicklungen so viel tun müssen, und wir könnten auch dem Chaos gegenüberstehen.« Sie habe über jene lachen müssen, die die Tragweite der Ereignisse nicht erkannten und sich über den Fall der Mauer nicht freuen konnten, schrieb die First Lady. »Der Mann, der uns am besten gefiel, war der Grenzsoldat. Er sagte, er möge das alles überhaupt nicht, weil es bedeutete, dass er seinen Job verlieren werde. Das stimmt wohl. Keine Mauer, kein Job.« Wenige Wochen später, am 18. Dezember, erlebte Kohl in Dresden den wohl bewegendsten Moment seines politischen Lebens. Formal handelte es sich bei der Reise um den Gegenbesuch zur Visite Erich Honeckers in Bonn. Doch das Volk wollte den Kanzler der Einheit sehen. Rasch wurde ein Podest gezimmert. Kohl stand vor einem Meer schwarz-rotgoldener Fahnen und sprach zu den DDR-Bürgern. Sprechchöre schallten ihm entgegen, immer wieder: »Helmut! Helmut!« Der Kanzler befürchtete, die Stimmung könne kippen. Was würde die Welt denken, wenn jetzt plötzlich Zehntausende befreite DDR-Deutsche anfangen würden, »Deutschland, Deutschland über alles!« zu singen? Kohls Helfer hatten vorbeugend extra einen Kantor auf die Tribüne gestellt, der zum passenden Moment besinnliche Kirchenmusik anstimmen sollte. Nichts Nationalistisches geschah. Stattdessen erklomm eine alte Frau das wacklige Holzpodest, auf dem Kohl stand, und umarmte den Kanzler. Die Alte weinte leise. Kohl standen ebenfalls Tränen in den Augen. Auch diese Szene sah George Bush im fernen Washington im Fernsehen, und wieder dachte er: Was immer in der Geschichte vorgefallen sein mag, diese Deutschen sind zu einem harmlosen Volk geworden. Statt nationalistisch aggressiv zu werden, weinen sie vor Glück. 261
Das waren die Momente, in denen Kohl und Bush jene Achse formten, die Michail Gorbatschow gegenüber die Durchsetzung der Einheit möglich machen sollte. Gorbatschow sagte den Bushs damals: »Man kann sich vergiften, wenn man unreifes Obst isst!« Barbara Bush übersetzte die Mitteilung: »Gorbatschow ist zu Tode erschrocken darüber, dass Deutschland sich einigen könnte.« Auch Margaret Thatcher stellte sich der Achse USA-Deutschland entgegen, denn Londons Eiserne Lady folgte einem anderen Wahlspruch. »Zweimal haben wir sie geschlagen, und jetzt sind sie wieder da!«, pflegte sie über die Deutschen zu sagen. In Paris betrachtete man die heraufdämmernde deutsche Einheit ebenso als Gefahr. Auch in Warschau. Lech Walesa, der Arbeiterführer und Gründer der freien Gewerkschaft »Solidarität«, der es bis in den Präsidentenpalast schaffen sollte, war ein Mann, den die Bushs außerordentlich schätzten. Bei einem Abendessen im kleinen Kreis im Weißen Haus sagte Walesa, »dass Deutschland nicht wiedervereinigt werden darf«, wie Barbara Bush notierte. »Dies war keine große Überraschung, weil wir herausfanden, dass die meisten Europäer es genauso sahen«, schrieb die First Lady. Sie kannte von Asienreisen und von Reisen durch die Alte Welt das Maß an Abneigung, das den Achsenmächten des Zweiten Weltkrieges noch immer entgegenschlug. »In Australien, Singapur und Korea stieß ich auf erhebliches Misstrauen gegenüber den Japanern – wenn es nicht gar Hass ist. Es hat mich immer überrascht, dass man heutzutage in Europa noch immer die gleichen Gefühlswallungen gegenüber Deutschland findet«, hat Barbara Bush einmal in ihrem Reisetagebuch notiert. George Bush sah es anders. Er vertraute nicht nur Kohl, er vertraute vor allem seinem Instinkt. Er glaubte den Bildern aus Deutschland, die er im Fernsehen sah. Er vertraute der Freude und Läuterung und ließ keinen Zweifel daran, dass er die Konsequenzen aus dem Mauerfall mittragen würde. »Bush und 262
Kohl waren ein Herz und eine Seele«, wertet Jack Janes. Washington, nicht Paris oder London, hieß die Entwicklung gut und war bisweilen auch Motor hinter den Kohl-Gorbatschowund dann den 2-plus-4-Gesprächen, die zur deutschen Einheit führten. Bush, der Ehrenbürger Berlins, ist einer der wichtigeren Väter der neuen Berliner Republik, die 1989/90 geboren wurde. Er vertraute auf die gefestigte deutsche Demokratie und darauf, dass Gorbatschow ein Sowjetführer neuen Stils war.
Kohl und Bush formten jene Achse, die Michail Gorbatschow gegenüber die Durchsetzung der Einheit möglich machen sollte: Zehn Jahre nach dem Mauerfall treffen sich Altbundeskanzler Helmut Kohl, der frühere sowjetische Präsident Michail Gorbatschow und der ehemalige US-Präsident George Bush am 8. November 1999 in Berlin.
Beim Begräbnis für Kreml-Chef Tschernenko 1985 hatte Bush ihn in Moskau kennen gelernt. Persönlich schrieb er ein Telegramm an Ronald Reagan: »Der glaubt, was er sagt, und 263
sagt, was er glaubt. Ein ganz anderer Sowjetführer. Mit dem können wir!« Mit dieser Gewissheit wurde George Bush zum Geburtshelfer der deutschen Einheit. Eben deshalb jubelte er beim Mauerfall auch nicht allzu demonstrativ. »Wir hatten riesige Angst, was die DDR-Volksarmee tun würde, wir wollten alles, nur nicht Gorbatschow erniedrigen«, erklärte Bush seine Zurückhaltung später. Völlig unverstellt dagegen war er bei der Formulierung dessen, was er als langfristige Konsequenz aus der Einheit verstand. Er bot der wieder souveränen Nation im Herzen Europas schließlich die Teilhabe an der Führung an, wollte, dass die Bundesrepublik ein »partner in leadership« werde. Am 21. November 1989 war Hans-Dietrich Genscher im Weißen Haus. Er übergab Bush ein Stück des gefallenen Berliner Trennungssymbols, wie es die Mauer-Spechte damals zu Tausenden aus dem Beton hackten. Bush war für Außenminister Genschers zentrale Idee, die Selbstbestimmung der Ostdeutschen müsse das weitere Geschehen lenken dürfen, mehr als empfänglich. Die Idee der 2-plus-4-Verhandlungen, also der gleichberechtigten Gespräche beider deutschen Staaten mit den vier Siegern des Zweiten Weltkrieges, wurde am 21. November 1989 im Weißen Haus gebilligt. Formal begann der Prozess am 13. Februar 1990 im kanadischen Ottawa und mündete am 3. Oktober 1990 in die Einheitsfeier rund um das Brandenburger Tor. Was George Bush während dieser Zeit an Sympathien entgegengeschlagen haben mag, verflog kurz darauf während des zweiten Golfkrieges. Die Deutschen probten den Aufstand. Anders als zwölf Jahre später traf der Protest indes Bonn nicht weniger als Washington. Die Kohl-Regierung stärkte Bush diplomatisch den Rücken, wenn auch damals eine aktive militärische Beteiligung noch völlig undenkbar war. Nach herrschender Meinung verbot das Grundgesetz jeden Einsatz der Bundeswehr außerhalb der Landesgrenzen, es sei denn zum 264
unmittelbaren Schutz eines NATO-Partners. Dieses Fundament deutscher Sicherheitspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg wurde erst später, während der Balkankriege, verfassungsrechtlich und politisch völlig umgestaltet. Kohl ließ politisch keinen Zweifel an der Unterstützungswürdigkeit des Feldzuges und engagierte sich finanziell mit gut 18 Milliarden Mark für den Krieg. Genscher holte sich die Reaktion George Bushs am 28. Februar und 1. März 1991 persönlich ab und meldete aus den USA: »Angesichts unseres Gesamtbeitrags bekam ich … keinerlei Kritik an der deutschen Haltung im Golfkrieg zu hören.« George Bush selbst blieb vom Protest der Deutschen gegen seinen Befreiungskrieg in Kuwait ziemlich unbeeindruckt. Das Muster der Opposition unterschied sich schließlich kaum von dem, das er aus den USA selbst kannte. Auch dort wandten sich die linke Intelligenz, die Studentenschaft und Teile der Gewerkschaftsbewegung massiv gegen den Krieg. Was die Bundesrepublik anbelangte, blieb Bush seinem deutschfreundlichen Kurs stets treu. Noch in einer Rede am 17. April 2002, ein gutes halbes Jahr nach den Terroranschlägen und im Vorfeld der Krise um den dritten Golfkrieg, lobte er die Bundesrepublik: »Bei seiner Verpflichtung auf die Freiheit hat Amerika keinen wahreren Verbündeten, keinen größeren Freund als Deutschland.« Die Fassade der freundschaftlichen Kontinuität wurde letztmals an jenem schon eingangs erwähnten Tag im Mai 2002 errichtet, als George W. Bush und Gerhard Schröder im gleißenden Sonnenlicht des Innenhofs im neu gebauten Kanzleramt in Berlin standen. Nicht nur seinen berühmten Ausspruch vom »Leben in einer Seifenblase« tätigte Bush bei dieser Gelegenheit. Er legte Schröder auch kameradschaftlich den Arm auf die Schulter und träumte öffentlich von gemeinsamen Angeltouren, wenn er denn dereinst einmal mehr Zeit mitbringen würde. »My very good friend« benutzte Bush 265
als Anrede für den Kanzler. Der sekundierte: »Die amerikanisch-deutschen Beziehungen sind in einem ausgezeichneten Zustand.« Bush revanchierte sich mit den Einschätzungen, Deutschland sei ein »immens wichtiger« Partner und im Zwischenmenschlichen schätze er »unsere Freundschaft«. Dann wurde Bush noch persönlicher: »Was ich an Gerd mag, ist die Tatsache, dass er immer bereit ist, Probleme auf offene Weise anzugehen.« Deutschland werde »von einem Mann voller Selbstvertrauen geführt, und das ist gut«. Er wolle betonen, so Bush, »wie stolz« er auf die »persönliche Beziehung« zu Schröder sei. Zehn Meter links von den beiden, auf der Tribüne für die Delegationsmitglieder, beugte sich Außenminister Joschka Fischer verdutzt ob so vieler Herzlichkeit zu seinem Nachbarn Dan Coats, dem US-Botschafter in Berlin, und flüsterte diesem ins Ohr: »Wo kommt das denn her?« In der Tat: Die persönliche Wärme erstaunte. Denn die ersten gegenseitigen Annäherungen des Duos Bush-Schröder waren alles andere als harmonisch verlaufen. Fischer und Coats wussten dies natürlich. Sie wussten, dass hier Kulissen geschoben wurden und dass bereits am Zerbröckeln war, was für den alten Bush ein Ziel war und für den jungen eine Voraussetzung seiner Politik sein sollte – die amerikanisch-deutsche Allianz. Trotz aller inhaltlichen Nähe waren sich Gerhard Schröder und Bill Clinton nie wirklich nahe gekommen. Schröder schätzte den einschüchternden, arroganten und harten Stil nicht, den Clinton hinter verschlossenen Türen an den Tag legte. So dachte Schröder nach Bushs Amtsantritt zunächst, er werde mit dem Texaner besser zurechtkommen als mit dem Mann aus Arkansas. Dem entsprach auch sein eigener Wille, außenpolitisch hinzuzulernen. »Schließlich trafen sich da mit Bush und Schröder zwei international völlig unbeleckte Provinzpolitiker«, sagt ein professioneller Deutschland266
beobachter aus der Washingtoner Thinktank-Welt. Direkt nach seinem eigenen Amtsantritt als Kanzler hatte der Novize Schröder eine Depesche an die US-Regierung gesandt, deren Tenor lautete: Wie werde ich Transatlantiker? Denn ein solcher wollte Schröder werden. Nur misslang es im Verhältnis zu Bush von Anfang an. Üblicherweise kommen amerikanische Präsidentschaftskandidaten mit den Regierungschefs der wichtigsten Verbündeten zusammen, noch ehe die USWähler im November entscheiden. Zwischen Bush und Schröder kam kein solches Gespräch vor der Wahl 2000 zustande. Dann sorgte das Ergebnis in Florida für wochenlanges Zittern, und als es endlich feststand, musste Bush sich ganz auf die »transition« konzentrieren, die Übergabe der Macht. Die musste nicht nur schneller als sonst vonstatten gehen, sie fand auch unter leicht erschwerten Bedingungen statt. Zornige Demokraten, die Bush den Sieg nicht gönnten, hatten in den Büros des Weißen Hauses teilweise Schutthalden, teilweise aktenlose Wüsten hinterlassen und von etlichen Computertastaturen den für den jungen Bush unentbehrlichen Buchstaben »W« entfernt. So kam es, nach zwei Telefonaten zwischen Präsident und Kanzler, erst am 29. März 2001 zur ersten direkten Begegnung. Sie fand im Weißen Haus statt. Im Anschluss an die Unterredung meinte Bush: »Meine Berater sagten mir, dass der Kanzler sehr freimütig sei. Sie hatten Recht, und dafür bin ich dankbar, denn so konnten wir gleich zur Sache kommen.« Kurz nach der Begegnung wurde durch eine Indiskretion das deutsche Protokoll des Gesprächs bekannt. Jürgen Chrobog, damals Botschafter in Washington, hatte die Mitschrift, versehen mit dem Ausweis der niedrigsten Geheimhaltungsstufe »Verschlusssache – nur für den Dienstgebrauch«, an einen breiten Verteiler innerhalb der deutschen Diplomatie versandt. Das Schriftstück geriet auf einem Umweg an die Öffentlichkeit. Jeder konnte nun nachlesen, dass Schröder den neuen 267
jordanischen König als einen der »intelligentesten, aber auch machtlosesten« Führer im Nahen Osten bezeichnete, während Bush und Powell PLO-Chef Arafat bescheinigten, »jeden Bezug zur Realität verloren zu haben«. Washington tobte, und die Indiskretion sorgte auch in Berlin für viel Wirbel, blieb aber ein Skandal für das Fachpublikum.
Keine einfache Beziehung: Hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder noch im Jahr 2001 »uneingeschränkte Solidarität« zugesichert, so fügte das endgültige »Nein« zu einer deutschen Beteiligung am Irakkrieg den deutschamerikanischen Beziehungen großen Schaden zu. Zaghafte Signale der Versöhnung gab es erst Monate nach Kriegsende.
Wenige Monate später sollte die Welt nach dem 11. September andere Sorgen haben. Zwischenzeitlich hatte sich aber in Washington neuer Zündstoff angesammelt. Deutschland hatte recht plump versucht, Finanzstaatssekretär Caio Koch-Weser zum neuen Chef des Internationalen Währungsfonds mit Sitz in Rufweite vom Weißen Haus zu machen. Das eigentlich nötige 268
internationale Format (Exminister, Exnotenbankchef, Exregierungschef) hatte Koch-Weser nicht; Washington lehnte den Kandidaten ab – den Zuschlag erhielt schließlich ein anderer Deutscher, Horst Köhler. Schröder gab zu erkennen, dass er Posten, die er als Deutschland zustehend betrachtete, ohne große diplomatische Vorarbeit mit seinen Kandidaten zu besetzen trachtete. Bushs Team aber ließ erkennen, dass man es nicht akzeptieren werde, wenn bisherige Gepflogenheiten durch allzu dreistes Vorpreschen ausgehebelt würden. Doch erst die Wasserscheide des Terrorangriffs ließ tiefgreifendere Differenzen sichtbar werden. Gleich nach dem 11. September 2001 schlichen sich antiamerikanische Ressentiments in die öffentliche Stimmung in Deutschland ein. Trauer, Angst und Entsetzen waren nicht geheuchelt, doch es gab von vornherein nicht wenige, die der Ansicht waren, Amerika habe das Unheil selbst heraufbeschworen, habe bekommen, was es verdiene, sei selbst schuld. Ein gutes Jahr später war die Erinnerung an die Opfer von Manhattan weitgehend verblasst. Jetzt dominierte in der Bundesrepublik die Angst vor Amerikas Aggressivität. Die öffentliche Sicht auf die US-Regierung in dieser Zeit spiegelte diese Stimmung wider. Vor allem im deutschen Fernsehen war die Bewertung von Bushs Amerika nicht zimperlich: »Wie kriegslüstern ist Amerika?«, »Gleich nach dem 11. September hat die BushRegierung Gesetze durchgedrückt. Damit soll die Meinungsfreiheit beschnitten werden«, »Bush und sein auf Angst aufgebautes Militärsystem«, »In der amerikanischen Politik gibt es keine Zwischentöne. Fast kindlich reagiert man auf Bedrohungen«, »Einer der reichsten Staaten der Welt hat kein Sozialsystem.« Keiner dieser Sätze entstammte einem Kommentar. Alle Wertungen verstanden sich als Faktendarstellung oder objektive Analyse. Die Bonner Einrichtung »Medien Tenor« jedenfalls, die auswertete, wie deutsche Fernsehnachrichten Anfang 2003 269
mit den USA und dem Irakkrieg umgingen, traf im September 2003 eine sehr unübliche Entscheidung. Den jährlichen Preis für die beste deutsche TV-Nachrichtensendung verlieh »Medien Tenor« erstmals nicht, denn man habe nur »Infotainment des Grauens« gesehen, aber keine einzige preiswürdige Auseinandersetzung. Deutschlands Politik und andere Prominente reihten sich in diesen Chor ein. Und übertrafen sich dabei, Bush und seinem Land das ganze Repertoire traditioneller europäischer Kulturkritik an den Kopf zu werfen. Die USA waren erneut unreif, aggressiv, intolerant, unzivilisiert, juvenil, kindisch, militaristisch. Die Ballung dieser Begriffe ist ein alter europäischer Topos in der Wahrnehmung Amerikas. Wild, ungestüm, ungezügelt: So sahen Europäer die USA stets. Positiv gewendet konnte daraus Bewunderung entspringen für ungebändigte Kraft und für die Möglichkeit der Grenz- und Entgrenzungserfahrungen in den USA. Negativ ergab sich aus diesem Bild der unreflektierte und impulsive Cowboy, dem jedes europäische Raffinement abging. George W. Bush war die ideale Projektionsfläche dieses Amerikabildes. Er bestätigte auf wunderbare Weise alles, was man stets schon über Amerika wusste. Nur vor diesem Hintergrund ist verständlich, was sich im Sommer 2002 in den tagespolitischen Spannungen zwischen Berlin und Washington entlud. Die transatlantischen Beziehungen waren auf einem Tiefpunkt. Condoleezza Rice sprach öffentlich von einem »vergifteten« Verhältnis, und Donald Rumsfeld verweigerte in Warschau jeden Kontakt zu seinem neuen deutschen Amtsbruder Peter Struck. Schröders Versuche, bei Bush anzurufen, wurden wochenlang ignoriert. Und Fischer, der in Washington keinen einzigen wichtigen Gesprächstermin außer bei seinem direkten Amtskollegen Powell bekam, ging Hemden einkaufen. Was war passiert? Die New York Times hatte berichtet, Rudolf Scharping habe 270
vor einem deutsch-amerikanischen Forum Bushs Politik im Nahen und Mittleren Osten auf den Einfluss von Amerikas Juden zurückgeführt. Dann verglich Justizministerin Herta Däubler-Gmelin Bush mit Hitler. Nein, versuchte DäublerGmelin zu erklären, sie habe nur die Methoden Bushs mit jenen von »Adolf Nazi« verglichen. Beide hätten schließlich von innenpolitischen Schwierigkeiten abgelenkt, indem sie eine aggressive Außenpolitik anstießen. Bush erhielt daraufhin aus Berlin einen ebenso halbherzigen wie undiplomatischen Entschuldigungsbrief von Franz Müntefering, in dem vor allem betont wurde, dass die fraglichen Äußerungen nie gefallen seien. Der Schaden war immens. Bush selbst tobte nur intern, Richard Perle dagegen forderte unverhohlen Schröders Rücktritt und bezeichnete die Bundesrepublik in der Irakfrage als »irrelevant«. Die Äußerungen Däubler-Gmelins erschienen in Washington nicht als unentschuldbare Entgleisung, sondern als geschichtsvergessener Wahnwitz, der in der deutschen Führung offenbar Methode hatte. Für Bush selbst war das zwar empörend, etwas ganz anderes indes war der eigentliche Stolperstein. Der Präsident, der viel Wert auf Ehrlichkeit legte, hatte bei seinem ersten Gespräch als gewählter Staats- und Regierungschef mit dem damaligen demokratischen Mehrheitsführer im Senat, Tom Daschle, gesagt: »Ich hoffe, Sie werden mich niemals anlügen!« Und dieser Bush nun betrachtete das ganze Zerwürfnis zwischen Washington und Berlin als Ergebnis eines gebrochenen Versprechens. Für Bush grenzte das Verhalten Schröders an Verrat. Es ging um die angebliche Zusage des Kanzlers, das Thema Irak aus seinem Wahlkampf herauszuhalten und den USA keine Prügel zwischen die Beine zu werfen. Das war der eigentliche Knackpunkt. Senator Richard Lugar, Republikaner und Chef des Außenpolitikausschusses, hat berichtet, wie Bush im Oval Office stand, erregt auf einen Sessel vor dem Kamin deutete und sagte: »Dort 271
hat er gesessen und mich angelogen!« Notizen aus dem Weißen Haus zufolge hatte der Kanzler Bush beim gemeinsamen Abendessen am 31. Januar 2002 in Bezug auf den Irak zugesagt: »Wenn Sie’s tun müssen, machen Sie’s schnell, effektiv und erfolgreich, und Ihre Kritiker werden schweigen.« Kritiker – damit meinte Schröder wohl sich selbst. So zumindest musste Bush es verstehen: Der Kanzler bot ihm klammheimliches Stillhalten an. Bush bedankte sich, indem er nach dem Treffen von einem »langen Gespräch mit meinem guten Freund« Schröder sprach und ausdrücklich das deutsche Engagement in Afghanistan lobte. Colin Powell hatte diese Stillhaltelinie in einem Gespräch mit Joschka Fischer bereits vorgegeben: »Wenn ihr nicht mitmachen wollt, fein, dann steht eben an der Seitenlinie, aber fangt bitte nicht damit an, uns die Sache schwer zu machen.« Schröders Verhalten im Spätsommer und Herbst 2002 war für Bush folglich nicht mehr und nicht weniger als ein Wortbruch, weil er des Kanzlers Washingtoner Äußerungen als Eingehen auf den von Powell vorgeschlagenen Deal verstand. Ein Kabinettsmitglied Bushs sagte Ende 2003 rückblickend: »Es steht überhaupt nicht in Frage, dass Bush sich von Schröder belogen fühlt. Und so etwas vergisst man nicht so schnell.« Auch die Hoffnung, mit der für die rot-grüne Bundesregierung gewonnenen Wahl würde wieder Frieden einkehren, trog. Denn aus Schröder, dem Antiamerikaner aus Wahlkampftaktik, wurde aus Washingtoner Sicht nach der Wahl am 22. September 2002 der Antiamerikaner aus Überzeugung. Folglich wurde das Eis beständig dicker. Bush trug das Seine dazu bei, als er sich entgegen allen protokollarischen und diplomatischen Usancen weigerte, Schröder zu seiner Wiederwahl zu gratulieren. Die Lage spitzte sich weiter zu, als Rumsfeld am 22. Januar 2003 in Washingtons Foreign Press Center auf eine Frage betreffs des französischen und deutschen Widerstands gegen Amerikas Irakpolitik antwortete: »Sie denken an ein Europa, das aus 272
Deutschland und Frankreich besteht. Ich nicht. Ich glaube, das ist das Alte Europa. Wenn Sie sich heute das gesamte NATOEuropa ansehen, wandert der Schwerpunkt doch nach Osten … Deutschland hat uns Probleme bereitet, und Frankreich hat uns Probleme bereitet.« Rumsfelds Charakterisierung für Berlin und Paris wurde als empörend aufgefasst, indes dürfte er sie analytisch deskriptiv gemeint haben. Und die Genese des Begriffs vom »Alten Europa« legt nahe, dass der Verteidigungsminister ihn keineswegs als Kampfbegriff einführte. Wochen zuvor war Rumsfeld ans Sterbebett eines alten Kollegen geeilt, der lange Botschafter seines Landes bei der NATO gewesen war und dort die Rolle des Doyens innehatte. Rumsfeld kannte ihn aus der Zeit, als er selbst ebenfalls NATO-Botschafter war. Der todkranke Freund beschrieb in seinem letzten Gespräch mit Rumsfeld das Auseinanderdriften Europas und mahnte den Respekt Amerikas vor dem »Alten Europa« an. Bei Rumsfelds Rede folgte auch ein Seitenhieb auf Schröders angebliche Umfragehörigkeit, die für die republikanische Administration eine Reinkarnation dessen war, was sie stets an Clinton verachtet hatte. Politische Kunst bestehe darin, so der Pentagon-Chef, zu führen, der Öffentlichkeit seine Überzeugungen zu vermitteln, aber nicht darin, der öffentlichen Meinung hinterherzulaufen. »Und wenn ein Land nicht mit uns übereinstimmt, sei’s drum, in der Geschichte ist das schon oft passiert.« In Europa brach ein Sturm der Entrüstung los. Die Medien und die Politiker äußerten sich reihum entsetzt. Die Vorwürfe lauteten, Amerika sei »arrogant«, »vorlaut« und betreibe eine »Rückkehr zur Inquisition«. Ron Asmus, Bill Clintons Staatssekretär für Europa und die treibende Kraft hinter der NATO-Erweiterung, schrieb später: »Das Verhalten der USRegierung half, die gewaltigste Woge des Antiamerikanismus seit Jahrzehnten loszutreten… Vor den Geschworenen Europas 273
in intellektuellen Kreisen und in der öffentlichen Meinung hatte Bush seinen Fall endgültig verloren.« Doch das war noch längst nicht alles. Kurz darauf legte Rumsfeld nach. Bei einer Kongressanhörung wurde er gefragt, welche Länder an der Seite der USA stünden. Was Wiederaufbauhilfe nach einem Irakkrieg angehe, so Rumsfeld, hätten »drei oder vier Staaten« jede Beteiligung ausgeschlossen: Kuba, Libyen und Deutschland. In der Bundesrepublik brachen alle Dämme. Deutschland war in die »Achse des Bösen« eingereiht worden! USA-Korrespondenten aus der Bundesrepublik wurden von ihren Heimatredaktionen angerufen und gefragt, ob Rumsfeld denn nun nicht zurücktreten müsse – solch eine beleidigende Schmähung eines Verbündeten müsse doch auch aus US-Sicht untragbar sein. In der Sache hatte Rumsfeld Recht, doch verstanden wurde sein Kommentar als weiterer Beleg für die Arroganz des BushTeams. Dieses wiederum geriet dann richtig in Rage, als am darauf folgenden Montag in Brüssel bei der NATO durch ein Veto Deutschlands, Frankreichs und Belgiens die schon erwähnte Türkeihilfe abgelehnt wurde. Parallel dazu hatte Gerhard Schröder mit Jacques Chirac eine Ausweitung der Inspektionen skizziert, einen angeblichen »Geheimplan«, der zwar Wladimir Putin in Moskau vorgestellt wurde, der USRegierung aber nicht. Das transatlantische Verhältnis war auf einem Tiefstpunkt angekommen, wie er bis dahin undenkbar war. Nun wurden Schauspieler wie Martin Sheen, George Clooney, Dustin Hofman oder Vanessa Redgrave die letzten Vertreter des guten Amerika (und Großbritanniens), die in Europa Reden gegen Bush hielten, da sie ja zu Hause angeblich von Berufsverboten bedroht und um ihre Existenz gebracht wurden. Die Medien stürzten sich auf die Stars und erweckten so den falschen Eindruck, Amerika sei ein tief gespaltenes und zerrissenes Land, in dem die wahre Intelligenz ebenso kriegs274
und Bush-kritisch sei wie in Europa. Weitere Kronzeugen für die Existenz eines wahren Amerika, das den Widerstand gegen Bush probte, waren der Filmemacher (Bowling for Columbine) und Autor Michael Moore, dessen Buch Stupid White Men ihn zum Superstar in Europa machte, und der Schauspieler und J.-R.-Ewing-Darsteller aus »Dallas«, Larry Hagman, der den Medien gegenüber sagte: »Während der Idiot Reagan gefährlich, aber nicht eigentlich dumm war, sieht die Sache bei George W. Bush schon anders aus: Das Land wird von einem Menschen regiert, der gefährlich und dumm ist. Bush fällt komplett aus dem Rahmen dessen heraus, was Sie und ich unter einem sozialisierten Menschen verstehen. Er kann nicht reden. Er kann nicht lesen. Er ist Legastheniker. Und jetzt kommt das Beste: Er ist unser Präsident.« Hagman hielt auch kräftige Kommentare über die regionale Identität der BushFamilie parat: »Die ganz Sippe von George W. Bush treibt sich sowieso eher in Maine herum als in Texas. Er inszeniert dieses Texas-Ding, weil die Leute es urig finden. Bullshit!« In dieser aufgeheizten Atmosphäre wurden bare Selbstverständlichkeiten zu Skandalmeldungen, die vom Ende der amerikanischen Demokratie zeugten. Etwa wenn 30 Lehrer im US-Bundesstaat Maine mit Disziplinarmaßnahmen belegt wurden, weil sie siebenjährigen Kindern im Unterricht gesagt hatten: »Eure Väter werden im Irak zu Mördern werden!« Im garstigen Klima der Vorkriegswochen war eine Reaktion der Behörden, die in jeder Demokratie der Welt der selbstverständliche Schutz vor politischer Indoktrination durch Lehrer ist, zum Beleg für Amerikas Ausstieg aus dem Pluralismus. Und so lief im »Kulturreport« der ARD am 9. März 2003 denn ein Beitrag unter dem Titel: »Das Ende der Meinungsfreiheit in den USA«. Kein Fragezeichen, kein Kommentar – eine Themenstellung in Form einer Faktenbehauptung. So desaströs war das Bild Bushs in der deutschen 275
Öffentlichkeit, dass im Februar 2003 auf die Frage, wer die größte Bedrohung des Weltfriedens sei, weit mehr Deutsche mit »Bush« denn mit »Saddam« antworteten. 73 Prozent hielten den US-Präsidenten für den schlimmsten Aggressor der Welt, kaum 20 Prozent Saddam, der Rest verteilte sich auf Zeitgenossen wie den nordkoreanischen Potentaten. Im Juli 2003 ergab eine Umfrage im Auftrag der ZEIT, dass fast jeder fünfte Deutsche davon ausging, George W. Bush selbst könne die Anschläge des 11. September initiiert haben, um einen Vorwand für die Erringung der Weltherrschaft zu haben. Unter den jüngeren Deutschen fand sich ein noch höherer Prozentsatz, der dieser abstrusen These beipflichtete: 31 Prozent der höchstens 30jährigen Deutschen hielten George W. Bush für den klammheimlichen Architekten des Terrors von Manhattan. Verschwörungstheoretiker und ihre Bücher erlebten einen in Deutschland nie da gewesenen Boom. Seit dem Mord an John F. Kennedy habe es keinen so fruchtbaren Boden mehr für düstere Spekulationen gegeben, wertete Newsweek. Bush war einfach alles zuzutrauen. Die PDS-Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch stellte nach der Befreiung Iraks von Saddam Hussein am 26. Juni 2003 im Plenum des deutschen Parlaments denn auch konsequenterweise fest: »Demokratie ist heute weniger durch bin Laden als vielmehr durch George W. Bush in Gefahr.« Wenige Wochen nach ihrem eigenen Besuch im Weißen Haus war Angela Merkel die einzige deutsche Politikerin, die USBotschafter Coats anrief, um zum Sturz der Saddam-Tyrannei zu gratulieren. Doch ein solcher Glückwunsch war so heikel, dass Merkel ihn öffentlich nicht zugeben wollte. Öffentlich sagte die CDU-Chefin nur, über Glückwünsche spreche sie nicht, da hierfür private Kontakte benutzt würden, Kontakte, die sie stets habe und auf das Engste pflege, »auch in diesen Tagen«. Deutschen Politikern musste es peinlich sein, Amerika für die Beseitigung einer Diktatur zu danken. 276
Nur wenige Kommentatoren und Künstler stellten sich gegen den Mainstream. Claus Kleber, lange Jahre USA-Korrespondent und seit 2002 Moderator des »heute Journals«, benutzte einen Auftritt in der Talkshow »Kerner« für die schlichte Feststellung, Bushs Examensnoten seien besser gewesen als jene Al Gores. War Deutschland vielleicht in das Zerrbild eines texanischen Tölpels verliebt, wider alle Fakten? Drastischer noch äußerte sich der Liedermacher und Dichter Wolf Biermann: »Der vulgäre Hass auf den Propagandapopanz eines schießwütigen Cowboys im Weißen Haus hat schon was von einer simulierten Paranoia. Offensichtlich ärgert es die vom billigen Friedensfusel Besoffenen zusätzlich, dass der heilig nüchterne Präsident im Weißen Haus gelegentlich so altmodisch im pathetischen Jargon der Bibel redet.« Innerhalb der SPD gab es zwei prominente Stimmen, die sich der Woge des Antiamerikanismus entgegenstellten. Hans-Ulrich Klose, der ehemalige Hamburger Bürgermeister, flüchtete nach einem heftigen Streit mit Gerhard Schröder ins Feuilleton der FAZ. Dort schrieb er: »Der deutsche Kanzler hat in der Irakfrage ausschließlich als Innen- und Parteipolitiker agiert. Als er sich auf das Nein gegen jede, auch UN-gestützte Militäraktion festlegte, bestand keinerlei außenpolitische Notwendigkeit, sich zu dieser Frage abschließend zu äußern. Anlass, sich zu äußern, gaben allein die Umfragewerte für die eigene Partei kurz vor dem Wahlkampfauftakt. … Der Kanzler hat sein ungefragtes Nein zu jeder militärischen Option unilateral verkündet… Er hat damit genau das getan, was er den Amerikanern vorwirft… Er hat damit zugleich gegen Grundprinzipien deutscher Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg verstoßen… Der außenpolitische Schaden … war und ist enorm, … weil die amerikanische Interessen- und Gefühlslage entweder nicht gesehen oder bewusst missachtet wurde.« Rudolf Scharping, der von Schröder geschasste Verteidigungsminister, sagte am 24. Juni 2003 bei einer Veranstaltung der 277
Friedrich-Ebert-Stiftung, Deutschland müsse sich die Frage stellen, wer denn die eigentliche Herausforderung darstelle – Bush oder die Realität des Terrors. Da eine vernünftige Analyse der Bedrohung und der Möglichkeiten, ihr zu begegnen, auf beiden Seiten des Atlantiks viel weniger weit auseinander liege als öffentlich suggeriert, sei es auch völlig falsch, über grundlegende Gegensätze und ein gegen Amerika gerichtetes Europa zu spekulieren. Für die deutsche Nichtteilnahme am Irakkrieg gelte: »Ich hätte es sehr bevorzugt, wenn wir beim Thema Irak von den objektiv beschränkten Fähigkeiten Deutschlands her argumentiert hätten.« Bereits zuvor hatte Scharping Schröder vorgeworfen, er sei »gewissermaßen als Provokateur der Emotion« gegen Bush aufgetreten. Klose und Scharping, Kleber und Biermann blieben Einzelstimmen. Es gab eine begrenzte Zahl von weiteren, pragmatischen und höchst undogmatischen Positionen. Der Schriftsteller Peter Schneider beispielsweise, der bereits 1993 ein militärisches Eingreifen des Westens in Bosnien befürwortet hatte, lehnte den Irakkrieg aus einem einzigen Grund ab. In weiser Vorahnung traute er dem Bush-Team nicht zu, einen erfolgreichen Wiederaufbau des Landes zu leiten. Von der übergroßen Bevölkerungsmehrheit bis hinein in die Regierungsspitze wollten es die Deutschen Amerika nicht vergeben, erst den Friedensbringer Schröder ausmanövriert und dann auch noch den Krieg mühelos gewonnen zu haben. Höchste Kreise ließen kurz nach dem Fall Bagdads verlauten, Bush habe zu schnell gesiegt und zu wenige Soldaten verloren; nun werde er erst recht übermütig werden. Die erheblichen Probleme im Irak nach dem Sieg der USA waren entsprechend willkommen und eine stete Verlockung zur mehr oder weniger klammheimlichen Schadenfreude. Dass Amerika weder Vasallentreue noch blinden Gehorsam verlangte, dass es also mit den Bündnisverpflichtungen kompatible Freiräume gibt, die Berlin eben nicht nutzte, ist ein 278
Argument, das in Deutschland zwar unpopulär ist, aber wahr. Am besten lässt sich dies durch das Beispiel der Türkei zeigen. Das türkische Parlament brachte die US-Planer mit seiner Entscheidung, einen Angriff auf den Irak von türkischem Boden aus nicht zuzulassen, schier zur Verzweiflung. Bush hatte fest mit der Verfügbarkeit einer Nordfront gerechnet. Die Entscheidung Ankaras forderte von Washington zusätzlichen Planungsaufwand, zusätzliche Kosten, vielleicht auch zusätzliche Tote – sicher zusätzliche Risiken. Dennoch entzweite sich das Verhältnis nicht so wie jenes zu Deutschland. Denn die Türkei hatte zwar eine demokratische Entscheidung gefällt, die den USA nicht passte, sie hatte aber nicht den gemeinsamen Grundkonsens aufgekündigt. Vor allem bedeutete dies: Sie hatte sich nicht am Bau einer konspirativen, gegen die amerikanischen Interessen gewandten Allianz beteiligt. So war der amerikanisch-türkische Streit relativ rasch vergessen und vergeben. Anders als der mit Berlin. Schröder, der im Januar 2003 eine zweite UN-Resolution noch als »hilfreich« bezeichnet hatte, schloss sich zwei Monate später der französischen Position an, der zufolge eine solche Resolution »unter welchen Umständen auch immer« mit einem Veto blockiert werden würde, wie Jacques Chirac sagte. Mit Deutschland, Frankreich und Russland sowie China als heimlichem Vierten hatte sich jene Antikriegskoalition zusammengefunden, die nach dem Irakkrieg in Washington als »Achse der Besiegten« oder »axis of weasels« (»Achse der Feigen«) verspottet werden sollte. Der Bundeskanzler selbst wusste ganz genau, dass seine Haltung eine heftige Provokation der USA war; er wusste, dass er diplomatische Regeln verletzte; er wusste, dass er international Porzellan zerschlug; er wusste aber auch, dass er sich dies innenpolitisch problemlos leisten konnte, ja in der deutschen Bevölkerung auf mindestens so viel klammheimlichen wie offenen Beifall zählen durfte. Schröder 279
entschied aus diesem innenpolitischen Bauch heraus gegen Bush. Als seine höchsten außenpolitischen Berater einmal hinauf ins Kanzleramtsbüro Schröders gingen, gewappnet mit feinsinnigen Analysen und deutlichen Mahnungen, bereit, dem Regierungschef die Risiken seines Handelns deutlich zu machen und ihn zu einer Kursänderung oder zumindest zur verbalen Abrüstung zu drängen, da entwaffnete sie Schröder innerhalb von Sekunden. Der Kanzler saß hinter seinem Schreibtisch und zog genüsslich an seiner Zigarre. »Schwere Zeiten für Diplomaten, nich’?«, feixte er und blies aus einem spitzen Schmollmund den Zigarrenrauch. »Wird auch wieder anders!« Bei so viel selbstgewisser Nonchalance – was sollten die Berater da noch an Argumenten vorbringen? Die Bilder des Jubels im Irak über das Ende der SaddamHerrschaft schmälerten diesen Eindruck kaum. Fast niemand sah sich in Berlin veranlasst, das Ausbleiben der diversen Horrorszenarien zum Anlass zu nehmen, sich selbst zu korrigieren. Dass keine Hunderttausende gestorben waren, dass Amerika keinen Weltenbrand ausgelöst hatte, dass die Apokalypse eines Gegenschlags Saddams mit B- oder C-Waffen ausgeblieben war: egal. Die Mehrheit der Deutschen blieb unbeirrbar auf Anti-Bush-Kurs. Bestenfalls habe der USPräsident unverdientes Glück gehabt. Und die nicht auffindbaren Waffen gäben den Mahnern doch ohnedies nachträglich Recht, fand die Mehrzahl. Nach einer halbjährigen Funkpause vom November 2002, als die NATO in Prag zusammenkam, bis zum Mai/Juni 2003, als die Staatenlenker der Welt zunächst in St. Petersburg zur 300Jahr-Feier der Stadt und dann in Evian zum G-8-Gipfel einliefen, trafen sich Bush und Schröder erstmals wieder persönlich. Auch telefoniert hatten sie in der Zwischenzeit kein einziges Mal. Vom knappen Handschlag in Russland gab es als Beleg für die angebliche Wiederannäherung nur ein Foto. Ein Handy sollte dann auf absurde Weise die Begegnung des 280
deutschen und des amerikanischen Regierungschefs in Evian herbeiführen. Bush stand mit Chirac und Schröder auf der Terrasse des Tagungshotels hoch über dem Genfer See und führte einen kamerawirksamen »small talk« mit dem Franzosen, als Schröders Telefon klingelte. Seine Frau war dran. Der Kanzler plauschte kurz mit ihr und reichte sein Handy dann an Chirac weiter. Doris Schröder-Köpf wollte angeblich mit dem Präsidenten der Franzosen parlieren. Chirac zog sich ein paar Schritte zurück und ließ Bush und Schröder allein. Nun hatte der Kanzler die unverhoffte Gelegenheit, ein paar Unverbindlichkeiten mit dem US-Präsidenten auszutauschen und somit der Welt zu signalisieren, dass niemand nachtragend und vielmehr das Eis gebrochen sei. Es war keineswegs gebrochen. Zwei Schritte verlangte das Bush-Team nach dem Irakkrieg von Deutschland. Zunächst eine konstruktive Rolle beim Wiederaufbau an Euphrat und Tigris. Dies bedeutete, nicht zu dogmatisch auf einer führenden Rolle der UNO zu beharren – eine Vorgabe, der Deutschland nachkam. Und es bedeutete, eine aktive Rolle der NATO in Bagdad mitzutragen. Die zweite amerikanische Kernforderung war eine, die Richard Perle bei einem Besuch in Berlin drastisch benannte: »Das Ziel von Chirac und de Villepin ist ganz konkret, die EU als Opposition zu den USA zu verstehen und die NATO zu marginalisieren und zu frustrieren.« Dieses Ziel, die alte Vision eines gaullistischen Europas als Korrektiv und Bremse der USA, werde zwar öffentlich stets dementiert, doch jeder, der mit französischen Offiziellen privat rede, könne keinen Zweifel an der Existenz dieser Strategie haben. »Die Schlüsselentscheidung, wie viel Gewicht den französischen Ambitionen zukommen wird, liegt bei Deutschland«, erklärte Perle. Nicht nur er hatte den Verdacht, dass Schröder dieses französische Spiel gern mit betrieb. »Schröder ist ein Barometer für die Veränderung in Deutschland mit der Haltung: ›Wir 281
können auch anders!‹ Und der Mann im Weißen Haus ist keineswegs verpflichtet, wie sein Vater an die Vergangenheit zu denken«, beschreibt Jack Janes die Triebfedern der gegenseitigen Entfremdung. Condoleezza Rice war nach dem Irakkrieg mit den Worten zitiert worden, Washington werde Moskau vergeben, Paris bestrafen und Berlin ignorieren. Perle öffnete eine Tür: In dem Maße, in dem Deutschland sich Frankreichs erhoffter Konkurrenz zu den USA widersetzen würde, hätte es wieder einen Platz als wichtiger strategischer Partner. Bush selbst hatte diese Linie vorgegeben. Nach dem Krieg wies er alle Mitarbeiter im Weißen Haus und in den USMinisterien an, normale und partnerschaftliche Arbeitskontakte mit der Bundesrepublik wieder aufzunehmen. Bush sagte indes auch, sich selbst nehme er hiervon aus. Er selbst wollte Schröder noch lange nicht vergeben. Die USA insgesamt vergaßen den Deutschen ihre herablassende, selbstgerechte und rechthaberische Haltung nicht so schnell. Wall Street Journal und Washington Post bezeichneten in den Tagen nach dem Fall Bagdads am 9. April 2003 Gerhard Schröder als »den schlechtesten Kanzler seit 1945«, sie riefen Joschka Fischer auf, »sich zu entschuldigen und konsequenterweise zurückzutreten«, sie bezichtigten Deutschland »der Beihilfe zur Tyrannei und zu Kriegsverbrechen«, weil Rot-Grün alles getan habe, um Saddam faktisch im Amt zu belassen. Henry Kissinger, der aus Fürth stammende Exaußenminister der USA, brachte die neue deutsche Haltung gegenüber Amerika auf die Formel, in seiner alten Heimat herrsche eben ein »fast hämischer Trotz«. Am lyrischsten und eloquentesten fasste Ralph Peters, ein ehemaliger US-Offizier und Autor zahlreicher Romane und Sachbücher, zusammen, was sich im transatlantischen Verhältnis verschoben hatte. In einer Prägnanz und Drastik, die nichts zu wünschen übrig ließen, schrieb Peters unter der Überschrift »Hitler war wenigstens ehrlich« als direkte Botschaft an das Alte Europa in der FAZ vom 15. Mai 2003: 282
»Ich habe nicht für Präsident Bush gestimmt. Aber nach dem 11. September war ich froh, dass er unser Präsident war. Wäre Al Gore im Weißen Haus gewesen, hätten wir im Stil der Europäer gehandelt und einen Ausschuss gegründet, der hätte klären sollen, warum wir die Katastrophe auf uns gezogen haben. Präsident Bush führte seine erschütterte Nation zu einem abgewogenen, sorgfältig überdachten Handeln, das einer terroristischen Organisation nach der anderen den Hals gebrochen und eine rückständige Theokratie aus einem Land, eine blutige Diktatur aus einem anderen Land vertrieben hat. Und Amerika ist noch nicht fertig. Wir werden nicht länger dem europäischen System folgen, wonach Diktaturen innerhalb der Grenzen ihres Landes tun und lassen dürfen, was sie wollen. Eure Forderung nach der Achtung nationaler Souveränität bedeutet nur, dass Hitler vollkommen akzeptabel gewesen wäre, wenn er nur nicht die Juden ermordet hätte. Und wir werden uns auch nicht mehr an die Traditionen von Königen und Kaisern halten, wonach Staatsoberhäupter vor persönlicher Bestrafung sicher sind, ganz gleich, welche Verbrechen sie begehen. Wir werden die wirklich Schuldigen verfolgen, nicht die Massen. Und noch so laute Beschimpfung am Brandenburger Tor oder auf der Place de la Concorde wird uns davon nicht abhalten. Wir sind fertig mit eurer Lust, über vergangene Holocauste zu weinen, aber nicht bereit zu sein, neue Holocauste zu verhindern oder zu beenden. Srebrenica ist das europäische Modell. Bagdad ist unseres. Präsident Bush ist ein Texaner, wie die Europäer nur zu gerne betonen. Aber die französischen und deutschen Geheimdienste haben den Charakter der Texaner offenbar nicht verstanden. Sie reden nicht kunstvoll daher, aber sie handeln entschlossen. Sie sind keine Relativisten. Texaner glauben, dass es einen Unterschied zwischen Gut und Böse gibt. Und wenn ein Texaner offen beleidigt und insgeheim hintergangen wird, nimmt er das nicht freundlich auf. Es ist nicht ratsam, einem Texaner öffentlich entgegenzutreten, sofern man nicht die 283
Absicht – und die Mittel – hat, die Sache bis zum Ende durchzufechten. Den Texanern ist es sogar vollkommen egal, wo auf der Landkarte Europa liegt. Im Augenblick sind wir alle Texaner. Ihr habt uns keine Wahl gelassen.« Aus dem bitteren Streit über den Irakkrieg bleibt wohl nur die Erkenntnis, dass die meisten Fragen, die Berlin stellte, sich an uns selbst richten, dass die meisten Schwächen im Vorgehen Washingtons, die in der Bundesrepublik so heftig gerügt wurden, durch Unzulänglichkeiten Europas potenziert wurden, und dass die meisten Antworten, die Bush nach dem 11. September gab, Antworten auf Fragen sind, die Deutschland bestenfalls im Ansatz zu stellen wagt. Das Zuviel an amerikanischer Macht, das in Europa so bösartige Reaktionen auslöste, ergab sich erst aus dem Zuwenig, das Europa entgegenstellte. Hinter der deutschen Kritik an Bushs Handeln versteckte sich allzu häufig deutsche Passivität. Wenn die Grundvoraussetzung des Handelns Washingtons stimmt, dass nämlich nach der Veränderung aller sicherheitspolitischen Paradigmen durch den l1. September der Verzicht auf umfassende und mutige Konzepte keine Option ist, dann ist Deutschland in der Bringschuld. Dann sind »ruhige Hand« oder »deutscher Weg« keine tragfähigen Formeln. Jack Janes sieht den Zwist der Bundesrepublik mit Bush als Folge einer neuen Rolle Berlins: »Bis 1989 war klar: Deutschland ist Objekt. Nun ist es Subjekt.« Ein schwaches und zerrissenes Subjekt, hat Jeff Gedmin vom Aspen-Institut ergänzt. Viel am Streit mit Bush rührt aus dem Unwohlsein mit dieser neuen Rolle; und vieles, woran Deutschland längst beteiligt ist – wie friedensschaffende Interventionen rund um den Globus – bringt man in Deutschland allein deshalb mit der Aggressivität Amerikas in Verbindung, um sich in die einstige Rolle des unschuldigen Objekts der Weltpolitik zurückträumen zu können. Die Verantwortung anzunehmen, die der neue Status mit sich bringt, ist schwer. Viel leichter ist es da, auf einen zu 284
schimpfen, der sich wie Bush als Supersubjekt gebärdet. Die deutsch-amerikanische Spaltung lässt sich auch demoskopisch fassen. Der German Marshall Fund ließ im Juni 2003 in den USA und mehreren europäischen Staaten insgesamt 8.000 Bürger nach ihren außenpolitischen Grundhaltungen befragen. Vergleichbare Zahlen waren auch ein Jahr zuvor, nach dem Afghanistan-, aber vor dem Irakkrieg erhoben worden. Demnach bezeichneten 2003 über 50 Prozent der Deutschen eine Führungsrolle der USA als nicht wünschenswert (2002: 27 Prozent). Für Bushs Außenpolitik sprachen sich 16 Prozent der Deutschen (2002: 36 Prozent) und 15 Prozent der Franzosen aus. Damit waren die Bürger der Achse Paris-Berlin zu den amerikakritischsten Europäern geworden. Konsequenterweise schnellte der Prozentsatz der Deutschen, die die EU für wichtiger für die zentralen Interessen der Bundesrepublik als die USA hielten, von 55 Prozent im Jahr 2002 auf 81 Prozent im Jahr 2003 empor. Während sich in den USA übergroße Mehrheiten gegen jeden Isolationismus (77 Prozent), für internationale Organisationen und für einen starken europäischen Partner (80 Prozent) aussprachen, formulierte Europa ein zwiespältiges Ziel. 71 Prozent der befragten Europäer gaben an, die EU solle sich zu einer Supermacht entwickeln. Für die Entwicklung Europas zu einer Supermacht, wenn damit höhere Rüstungsausgaben verbunden wären, sprachen sich aber nur noch 36 Prozent aus. Die Europäer wollen offenbar mitreden und gestalten, aber dafür keine militärischen Mittel bereitstellen. Aus US-Sicht belegt dies, dass der wahrhaft infantilnaive Kontinent Europa ist, nicht Amerika. Diese reservierte Haltung zum Militärischen ist mit der amerikanischen nicht kompatibel, und beide, Europäer wie Amerikaner, wissen dies. Jeweils rund 80 Prozent bejahten die Frage, ob es eine transatlantische Kluft der sozialen und kulturellen Werte gebe. Eine der wichtigsten Diskrepanzen 285
offenbarte die Studie. Die 8.000 Bürger wurden gefragt, ob Kriege legitim sind, die Gerechtigkeit verwirklichen sollen. 84 Prozent der Amerikaner, aber nur 48 Prozent der Europäer bejahten diese Frage. Hier waren erneut Deutsche und Franzosen die pazifistischsten aller Europäer. Jeweils 39 Prozent sagten in beiden Ländern, die Notwendigkeit gerechter Kriege »unter bestimmten Bedingungen« sei fraglos (jeweils zwölf Prozent) oder teilweise (je 27) zu bejahen. Am 12. Februar 2002 hatten 58 führende amerikanische Intellektuelle, von Francis Fukuyama (Das Ende der Geschichte) über den Kommunitaristen Amitai Etzioni bis hin zu Samuel Huntington (Kampf der Kulturen), ein Pamphlet unter dem Titel »Wofür wir kämpfen« veröffentlicht. Kernaussage ihres moralischen und religionsphilosophischen Appells: Universalistisch verstandene Nächstenliebe kann den Einsatz von Waffen erfordern. Die Studie des German Marshall Fund zeigt, dass die Denker sich in ihren Auffassungen mit jenem decken, was der normale US-Bürger glaubt. Ein ähnliches Maß an Deckung herrscht fraglos auch zwischen den meisten prominenten Deutschen, die sich zum Irakkrieg äußerten, und der Bevölkerungsmehrheit. In den Grundüberzeugungen, den praktischen Werten, mit denen die Welt betrachtet wird, sind Europäer und Amerikaner weit voneinander entfernt. Der German Marshall Fund spricht von »Entfremdung«, obschon die theoretische Einschätzung von außenpolitischen Gefahren vergleichbar geblieben sei. Völlig unterschiedlich sind nur die Konzepte legitimen, notwendigen und angemessenen politischen Handelns. Und eben dies steht hinter der Frage des deutsch-jüdischen Schriftstellers Arno Lustiger, die eingangs erwähnt wurde. Dies steht auch hinter dem Dauerstreit der Deutschen mit Bush, den der ältere noch hatte eindämmen können, während der jüngere ihn hell lodern sah. Wann handeln, wie handeln in der neuen Welt nach Mauerfall und Terror: Das sind die Fragen, auf die beide Bush286
Präsidenten in provozierender Weise Antworten eingefordert haben – Fragen indes, die Europa aus ureigenstem Interesse ebenfalls beantworten muss. Am 17. November 2003 sagte Gerhard Schröder auf dem SPD-Parteitag in Bochum, seine Irakpolitik sei der »Ausdruck des Selbstbewusstseins einer reifen Demokratie« gewesen. Vielleicht war sie etwas ganz anderes. Vielleicht war »Irak« zum Codewort geworden, das mit dem Nahen Osten herzlich wenig zu tun hatte, dafür aber den Protest gegen Bushs Amerika legitimierte und kanalisierte. Den Protest gegen ein Amerika, dessen Realität sich in den Zeiten der Globalisierung von jener in Deutschland immer weniger unterscheiden ließ.
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Ausblick: Eine Dynastie? Keine Familie hat sich im Amerika des 20. und 21. Jahrhunderts so erfolgreich als Bestandteil des »permanent government« verstanden und sich, eine dem Populismus geschuldete Paradoxie, zugleich als so wandelbar präsentiert wie die Bushs. Nach einer ganzen Reihe von Anpassungen, durch die sie der südlich-christlichen Mehrheit immer näher gerückt sind, stehen sie nun für die Behauptung der Republikaner, seit Reagan die strukturelle Mehrheit der US-Gesellschaft zu bilden. Das bedeutet auch, dass die acht Jahre von Bill Clinton nur ein historischer Irrtum gewesen seien, bestenfalls eine Ausnahme, die die Regel bestätigt. Es gibt gehaltvolle Argumente für die These vom republikanischen Zeitalter. Das wichtigste liegt in demografischen Verschiebungen innerhalb der USA verborgen. Auf jede dieser Verschiebungen haben die Bushs reagiert. Eine der politischen Übersetzungen für die sich wandelnde Zusammensetzung der amerikanischen Bevölkerung ist die immer größere Bedeutung, die »ethnic politics« zukommt, dem zielstrebigen Umgarnen der einen oder anderen kollektiven Bindestrich-Identität Amerikas. So hat George W. Bush es vermocht, das Verhältnis seiner Republikaner zu Amerikas Juden auf eine neue Grundlage zu stellen. Dies ist einer der kulturell wie politisch intellektuell interessantesten Trends, obgleich er nicht der zahlenmäßig bedeutsamste ist. Immer deutlicher wurde nach dem 11. September, dass Bush zu Israel ein besonders inniges Verhältnis hat. Auf seinem bisher einzigen Besuch im Jahre 1998 ließ er sich von Premierminister Ariel Scharon im Hubschrauber die Situation in der Westbank erklären. Anschließend stellte er sich mit bedecktem Haupt andächtig vor die Klagemauer. Wie kein anderer aus seiner Familie fühlte Bush sich den Juden und Israel 288
verbunden. Großvater Prescott war noch der Kollaboration mit den Nazis bezichtigt worden; Bush 41 lag mit Israel wegen des Siedlungsbaus im Dauerstreit. Und vom damaligen Außenminister James Baker ist das drastische Zitat überliefert: »Fuck the Jews. They don’t vote for us anyway.« (»Scheiß auf die Juden. Die wählen uns eh’ nicht.«) Amerikas Juden waren tatsächlich stets stramme Parteigänger der Demokraten gewesen. Für Al Gore stimmten im November 2000 stolze 79 Prozent, für George W. Bush lediglich 19 Prozent. Bush war ihnen wegen seiner Familienzugehörigkeit und seiner Ölgeschäfte lange Zeit verdächtig. Er galt als araberfreundlich und unsensibel. Nach einer Wahlkampfvisite im Simon-Wiesenthal-Zentrum in Los Angeles, wo eine große Holocaust-Ausstellung zu besichtigen ist, hatte Bush befremdlicherweise ins Gästebuch geschrieben: »God bless this world!« (»Gott segne diese Welt!«) Der 11. September 2001 veränderte alles. Während sich viele Europäer im ersten Schock den Amerikanern nahe fühlten, empfanden viele Amerikaner eine neue Nähe zu Israel. »Nun wissen wir, was Terror bedeutet«, war oft zu hören. Die Tendenz verstärkte sich, in Israel, das von einem Heer blutrünstiger Tyrannen und Terroristen umgeben sei, vor allem einen Hort der Freiheit und der Demokratie zu sehen. Hinzu kam ein zweiter Trend: Immer mehr Evangelikale in den USA glauben fest daran, dass die Juden einen biblisch begründeten Anspruch auf das gesamte Heilige Land haben. Sie lehnen jeden territorialen Kompromiss ab. »Die virulenteste Groß-IsraelLobby in den USA saß nach dem Terror von Manhattan nicht länger in Kalifornien und New York, sondern in Alabama und Mississippi«, hat der Journalist Malte Lehming beobachtet. Dies bedeutete: Israels aktivster amerikanischer Freund war nicht länger die Demokratische Partei, sondern die sich langsam bildende Allianz aus Republikanern, christlicher Rechten und jüdischen Organisationen.
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Sie stehen für das »republikanische Zeitalter« in den Vereinigten Staaten. Mit wenigen Ausnahmen stellten die Republikaner in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Großteil der US-Präsidenten. Von links nach rechts: George Bush (1989-93), Ronald Reagan (1981-89), der Demokrat Jimmy Carter (1977-81), Gerald Ford (1974-77) und Richard Nixon (1969-74) hier bei einem offiziellen Einweihungstermin.
Die Neo-Cons sind eher eine Denkschule denn eine organisierte, politische Bewegung. Ihr Einfluss auf das Pentagon ist indes immens. Bushs erste Amtszeit stand für den Schulterschluss zwischen der evangelikalen Rechten und den säkular geprägten Neokonservativen. Da unter Letzteren auch zahlreiche Juden waren, weitete sich die Allianz der Bush-Unterstützer aus bis tief hinein in ein ehemals demokratisches Unterstützerfeld. Die Koalition aus Neokonservativen und einer stetig wachsenden Zahl von christlichen Fundamentalisten hat sich zu einer neuen politischen Macht entwickelt. In deren Wahrnehmung muss Al Qaida ebenso entschieden bekämpft werden wie Hamas, zwischen Osama bin Laden und Jassir Arafat wird kaum ein Unterschied gesehen. 290
Immer mehr Bündnisse wurden geschlossen, um diesen Bund zu festigen. Gary Bauer, ein prominenter christlicher Konservativer aus Kentucky, tat sich mit Bill Kristol zusammen, dem Intellektuellen aus New York und Chef des »Project for the New American Century«. Der orthodoxe Rabbiner Yechiel Eckstein gründete gemeinsam mit dem ehemaligen Direktor der »Christian Coalition«, Ralph Reed, eine Organisation mit dem bezeichnenden Namen »Stand for Israel«. Der prominente protestantische Prediger Jerry Falwell rief aus: »Ich liebe und unterstütze Israel, weil ich glaube, dass Gott das Heilige Land den Juden versprochen hat!« Israels Expremier Benjamin Netanjahu wurde von Falwell als »Israels Ronald Reagan« verehrt – aus dem Munde eines Konservativen das ultimative Lob. Und dies alles geschah in einem Milieu der christlichen Rechten, die noch kurz zuvor in jedem Juden einen Schlächter Jesu Christi gesehen hatten. Diese Kreise und ihre neuen Netzwerke durfte Bush mit seiner Nahostpolitik nicht verprellen. Denn er wollte der Mann sein, dem es gelingen würde, die seit acht Jahrzehnten eng gestrickten Verbindungen zwischen den amerikanischen Juden und der demokratischen Partei aufzubrechen. Das war zumindest die große Hoffnung der republikanischen Strategen, und bewahrheiten sollte sie sich bei Bushs Wiederwahl im November 2004. Dabei ging es nicht allein um Wählerstimmen – Amerikas Juden stellen nur knapp vier Prozent der Wahlberechtigten, überdies lebt die große Mehrheit in Kalifornien und New York, wo Republikaner in Präsidentschaftswahlkämpfen einen ohnehin sehr schweren Stand haben. In den bevölkerungsreichen und daher politisch bedeutsamen »Schaukelstaaten« Florida, Illinois, Michigan und Pennsylvania allerdings könnten die Juden Amerikas das Zünglein an der Waage sein. Es ging auch um Geld. 21 Prozent der Spendeneinnahmen für den demokratischen Vorwahlkampf im Jahr 2000 stammten von 291
Juden, wie Lehming recherchiert hat. Die Kasse der Republikaner dagegen wurde nur zu 2,5 Prozent von Juden gefüllt. In der Washington Post wurden Republikaner 2003 mit der Prognose zitiert, Bush werde 2004 40 Prozent der jüdischen Stimmen bekommen – und einen entsprechend größeren Anteil der im US-System allentscheidenden Wahlkampfspenden. Für seine Wiederwahl setzte Bush aber nicht allein auf die Überwindung des traditionellen Gegensatzes zwischen Republikanern und Amerikas Juden. Es gab noch andere Minderheitengruppen, die man den Demokraten durch »ethnic politics« abspenstig machen wollte. Bei den Spanischsprachigen hoffte Bush durch seine Betonung von »Familienwerten« zu punkten; zudem half die prominente Ehe seines Bruders Jeb. Asiatischen Amerikanern sollte der republikanische Widerstand gegen Quoten im Bildungssystem gefallen, da diese Festlegungen sich als Bremse des wirtschaftlichen Aufstiegs ehrgeiziger Einwanderer aus Fernost erwiesen hatten. Dem schwarzen Mittelstand wurde das Engagement Bushs für Afrika und gegen Aids vor Augen geführt. Eine Minderheitengruppe, die zu über 80 Prozent Ronald Reagan, George Bush und George W. Bush unterstützt hatte, waren die kubanischen Amerikaner vor allem im Süden Floridas. Ihr Hass auf das Castro-Regime in der alten Heimat machte sie zu treuen Anhängern der Republikaner. Hier sahen sie ihren strikten Antikommunismus am besten aufgehoben. Aus der Nähe der kubanischen Amerikaner zu den Republikanern ergab sich indes auch eine Episode, die in den USA kaum bekannt ist, aber als düsterer Fleck auf der weißen Jacke des Bushschen Kampfes gegen den Terror zu sehen ist. 1976 war eine Maschine der kubanischen Staatslinie Cubana über Barbados von einer Bombenexplosion zerrissen worden. 73 Menschen starben. Einer der Attentäter hieß Orlando Bosch, ein Mann mit besten CIA-Kontakten. Bosch wurde verurteilt und saß seine Strafe zunächst in den USA ab – eine Auslieferung an 292
Kuba lehnte Amerika strikt ab. 1989 jedoch sprach die kubanisch-amerikanische Abgeordnete Ileana Ros-Lehtinen zugunsten von Bosch bei Präsident George Bush vor. Den Kontakt hatte Jeb Bush hergestellt, der damals in Florida für Ros-Lehtinen arbeitete. Jebs Vater zeigte sich für die Argumente der radikalen Kubanerlobby höchst zugänglich. Im Sommer 1990 begnadigte Bush Bosch. Nur die New York Times übte damals heftige Kritik an dem Beschluss des Weißen Hauses. Der gerichtlich überführte Terrorist Orlando Bosch lebt seitdem unbehelligt in Florida und gilt unter kubanischen Anti-CastroExtremisten als Held. Nach dem 11. September wurde der Fall Bosch verschiedentlich als Beleg für die nicht ganz so stringente Antiterrorhaltung der Bushs angeführt. Der Nähe der Bushs zu den US-Kubanern tat dies freilich keinen Abbruch. Von allen Bindestrich-Amerikanern waren die Kubaner die einzigen, auf deren klares Mehrheitsvotum George W. Bush hoffen durfte. Die Amerikaner sind mehrheitlich ideologische Zwitterwesen aus »fiscal conservative«, also der Tendenz zum Zurückdrängen des Staates, zu soliden Finanzen, niedrigen Steuern und möglichst ausgeglichenen Haushalten auf der einen Seite, und aus »social liberal« auf der anderen Seite. Das heißt sie sind tolerant gegenüber Minderheiten, unterstützen Hilfsprogramme der öffentlichen Hand für wirklich Benachteiligte und sind für Freiräume des Einzelnen gegen staatliche Bevormundung. Anders gesagt: Ein Amerikaner ist ein halber Republikaner und ein halber Demokrat. Insgesamt gingen die Planer des Projekts Wiederwahl davon aus, dass die US-Bürger in den Zeiten des Terrors den Wunsch nach Sicherheit aber über alle anderen Werte stellen würden. Dann sollte Bushs Kombination aus Steuersenkungen und Sicherheit allemal reichen. Bush betrieb seine Wiederwahl daher mit klaren Vorteilen – und leicht zu benennenden Nachteilen. Bei drei der Themen, die den US-Bürgern wichtig waren, galten die Republikaner stets als kompetenter als die Demokraten. Steuern, Sicherheit, Moral: 293
Das waren die Schlagworte, bei denen kein Oppositionsvertreter dem Mann im Weißen Haus das Wasser reichen konnte. Wobei das Stichwort »Sicherheit« die Brücke vom Trauma des 11. September zur Außenpolitik bildete. Selbst der namhafteste aller demokratischen strategischen Vordenker, Zbigniew Brzezinski, musste einräumen: »Mir fällt kein einziger Demokrat ein, der nach dem 11. September eine tiefschürfende strategische Analyse vorgelegt hat. Dagegen hat sich Bush als effektiver politischer Führer positioniert.« Umgekehrt indes hatten die Demokraten als Partei und ihre möglichen Präsidentschaftskandidaten als Politikerpersönlichkeiten einen Vertrauensvorschuss, wenn es um das Schaffen von Arbeitsplätzen, die Reform des Gesundheitswesens, um Korrekturen im Bildungssystem oder die Sicherung der Rente ging. Die Gemengelage glich damit aus demokratischer Sicht jener von 1992, als Bill Clinton mittels eines innen- und wirtschaftspolitisch angelegten Wahlkampfs den Golfkriegssieger George Bush besiegt hatte. George W. Bushs persönliche Popularität blieb zunächst noch hoch. Rund zwei Drittel der Amerikaner waren kurz nach dem Irakkrieg mit seiner Amtsführung zufrieden; einige Monate später waren es trotz offenkundiger Probleme in der Außenpolitik wie in der Wirtschaft immer noch rund 50 Prozent. Noch etwas höher lag der Prozentsatz jener, die ihn persönlich für einen honorigen Mann und guten Präsidenten hielten. Allerdings glaubte die Bevölkerung nicht, dass sich Amerika insgesamt auf einem guten Weg befand. Auf die Frage, ob die USA sich in die richtige Richtung bewegten, antworteten 60 Prozent mit Nein. Auch die Frage, ob es ihnen persönlich besser gehe als bei Bushs Amtsantritt 2001, wurde mehrheitlich verneint. Und die Zukunft schien düster. Nur eine Minderheit erwartete zum Jahreswechsel 2003/2004, dass es ihr in zwei Jahren besser gehen würde als damals. Bei jenem Thema, das neben der ökonomischen 294
Zukunftserwartung dominierte, beim Irak, hatten es die Demokraten schwer, sich von Bush abzugrenzen. Ihre Mehrheit hatte dem Krieg zugestimmt. Das Kernargument der demokratischen Irakkriegsbefürworter im Wahlkampf wurde am kräftigsten von Ron Asmus propagiert. Demokraten aus der Mitte dürften Bush nicht vorwerfen, zu aktionistisch oder interventionistisch auf den Terror reagiert oder zu viel Geld für die »homeland security« ausgegeben zu haben. Stattdessen müssten sie das Gegenteil tun, forderte Asmus: Mehr verlangen – vor allem mehr Mittel für eine wirksame Verteidigung des Heimatlandes. Es war dies ein strategischer Ansatz, der bereits einmal funktioniert hatte. John F. Kennedy war 1960 knapp gegen den republikanischen Vizepräsidenten Richard Nixon erfolgreich gewesen, weil er ihn in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik – damals ganz unter dem Eindruck des Kalten Krieges – rechts überholt hatte. »Triangulation« ist einer der Begriffe für diese Taktik, die Bill Clinton auch in Wirtschaftsfragen gegenüber George Bush ausprobiert hatte. Bushs strategischer Chefplaner Karl Rove hoffte auf die Früchte eben dieser Taktik des politischen Gegners. Denn dass die Demokraten in Sicherheitsfragen einen Stich gegen Bush haben würden, hielt er für ausgeschlossen. Da gab es nur einen potenziellen Rivalen, der von vielen Demokraten als Kandidat herbeigesehnt wurde, sich aber auch aus Rücksicht auf seine Familie lange sehr bedeckt hielt: Wesley Clark, General und ehemaliger NATO-Oberbefehlshaber während der Balkankriege. Clark hatte den Irakkrieg von 2003 massiv kritisiert und vor dem Waffengang die zutreffendsten Prognosen abgeliefert. Er sagte einen leichten militärischen Sieg in kurzer Zeit voraus, massive Probleme bei der anschließenden Arbeit am Wiederaufbau und ein Ausbleiben des erwünschten friedensstiftenden Effekts auf Israelis und Palästinenser. Clark hatte als überzeugter Multilateralist auch massive Vorbehalte gegen die diplomatische Vorbereitung des Krieges geäußert. »Dies ist eine 295
Regierung, die ihre Verbündeten nicht wirklich respektiert. Wenn du wirklich Verbündete haben willst, dann musst du dir ihre Meinungen anhören«, rügte er das Bush-Team. Als erwiesener Nichtpazifist und Südstaatler aus Arkansas – wie Clinton – durfte Clark so reden. Er hatte zudem die Musterbiografie eines Kandidaten: An der Militärakademie in West Point schloss er als Klassenbester ab, in Oxford studierte er als Rhodes-Stipendiat – wie Clinton – Philosophie, Politik und Wirtschaft, im Vietnamkrieg wurde er vierfach verwundet und mit Orden für seine Tapferkeit ausgezeichnet, und in der Militärhierarchie legte er danach eine steile Karriere hin, die 1997 in der Spitze der NATO gipfelte. Am 17. September 2003 ging Clark offiziell ins Rennen. Doch schon kurz danach geriet er ins Stolpern, als er sich gezwungen sah, seine eigene Irakkriegskritik zu konterkarieren. Ja, räumte Clark ein, auch er hätte Ende 2002 wohl für die Ermächtigung Bushs zum Waffengang gestimmt, wäre er Senator gewesen. Karl Rove ging davon aus, dass die Demokraten einen Zentristen wie Clark (oder einen der beiden Senatoren John Kerry und John Edwards beziehungsweise den Fraktionschef Dick Gephardt) nominieren würden, also nicht den Exgouverneur Howard Dean, der der einzige wirkliche Irakkriegsgegner war. Dean war in Wirtschaftsfragen zwar ein Mann der Mitte, profitierte aber vom wachsenden Unmut der Amerikaner mit den Geschehnissen im Irak und erlebte 2003 einen meteoritenhaften Aufstieg zum Hoffnungsträger der Linken. Er kanalisierte als einziger überzeugender Kritiker der Bush-Außenpolitik die Emotionen seiner Basis. Damit wiederum zwang er seine innerparteilichen Konkurrenten, ebenfalls die Außenpolitik zum Thema zu machen. Dort aber hatten all jene Senatoren und Abgeordneten, die im November 2002 für den Irakkrieg gestimmt hatten, ein enormes Glaubwürdigkeitsproblem, sobald sie Bush zu attackieren versuchten. 296
Roves Analyse zufolge war Bush damit in einer »Win-win«Situation. Mit Dean wären die Demokraten chancenlos, da die Mehrheit ihn im November 2004 als außenpolitischen Extremisten betrachten würde. Mit einem Zentristen dagegen wäre der linke Flügel der demokratischen Wählerschaft ebenso anfällig für die Wahlkampagne der Grünen, wie er dies 2000 für Ralph Nader gewesen war. Naders Prozentpunkte hatten Al Gore letztlich den Sieg gekostet. Rove spekulierte nun, ein gegen Bush letztlich chancenloser, moderater Kandidat der Demokraten würde unfreiwillig dazu beitragen, dass am linken Rand die Grünen die Fünfprozenthürde überspringen und zu einer etablierten Partei mit einem Anrecht auf staatliche Parteizuwendungen werden würden. Damit wäre die Linke in den USA permanent gespalten: Die Demokraten hätten sich dauerhaft einer Opposition ökologischer und progressiver Radikaler zu erwehren. Für Bush war diese Überlegung nichts anderes als der Wunsch, Rache für 1992 zu nehmen, als Ross Perot seinem Vater die entscheidenden Prozentpunkte abgenommen und so Bill Clintons Sieg ermöglicht hatte. Damals war die rechte Mitte gespalten worden. Nun ging es darum, die linke Mitte als einheitlichen Block aufzulösen – und damit die republikanische Ära zu verfestigen. Diesem für Bush günstigen Szenario stand indes eine machtvolle Entwicklung entgegen. Der alte Bush hatte das Patrizierhafte seiner Herkunft weder abgelegt noch geleugnet. Sein Sohn hat zwar von Reagans Populismus gelernt, sich damit aber nicht wirklich aus den Beziehungsgeflechten der WASPElite verabschiedet. Den Amerikanern wurde dies von Monat zu Monat klarer, und so spiegelten die drei wichtigsten personalpolitischen Entwicklungen des Jahres 2003 deutlich den Willen der US-Bürger, hier eine Korrektur vorzunehmen. Die Wahl des Bodybuilders und Hollywoodstars Arnold Schwarzenegger zum kalifornischen Gouverneur im Oktober 2003, zeitgleich der Zulauf zu Wesley Clark, der nie ein 297
politisches Amt bekleidet hatte, und zuvor die Begeisterung für Howard Dean: Alle drei Tendenzen waren ein offener Protest gegen das dynastische Prinzip von Macht, für das die Bushs standen. Sollte der Impuls, die Reinigung des »Systems Washington« einem Außenseiter anvertrauen zu wollen, übermächtig werden, so wären die Wiederwahlchancen George W. Bushs entsprechend geringer. Und plötzlich würde Howard Dean, den Al Gore früh unterstützte, doch auf Sieg setzen können. Die zweite große Unbekannte im Wahlkampf von 2004 war die Frage, inwieweit sich die Zukunftsängste, Verunsicherungen und Erschütterungen der amerikanischen Seele – nach dem 11. September und wegen der angespannten Wirtschaftslage – gegen Bush richten würden oder diesem vielmehr zugute kommen konnten. Versprach sich Amerika von den Demokraten eine Verbesserung oder eine weitere Verschlechterung? Bushs Strategie musste daher sein, die Lage nicht schönzureden, sich aber als den Garanten dafür zu präsentieren, aus einer düsteren Lage das Beste zu machen. »Mit den anderen ginge es euch doch noch viel schlimmer« – diese in einem Wahlkampf nicht leicht zu kommunizierende Botschaft würde Bushs Kernaussage sein. Wie die Wahlentscheidung im November 2004 ausgehen würde, musste trotz der erkennbaren Vorteile des Amtsinhabers bis zuletzt offen bleiben. Aber Richard Perle war sich bereits im Juni 2003 sicher: »Ich habe keinerlei Zweifel daran, dass Bush in einem überwältigenden Wahlsieg bestätigt werden wird.« Zur selben Zeit prognostizierte Walter Russell Mead: »Sofern die Wirtschaft nicht völlig zusammenbricht, ist es sehr schwer, sich Bush als Verlierer vorzustellen.« Doch eben die Wirtschaft bereitete Bush zunehmende Sorgen. Im Sommer 2003 stieg die Arbeitslosenquote in den USA auf 6,4 Prozent. Die amerikanische Berechnungsgrandlage ist nicht identisch mit der deutschen, daher ist ein direkter Vergleich der Ziffern schlecht 298
möglich. Für Bush aber waren diese Zahlen alarmierend, denn sie bedeuteten, dass die Arbeitslosigkeit auf den höchsten Stand seit neun Jahren gestiegen war. Die Demokraten begannen zu spotten: Bush 43 hatte die miserablen Daten von Bush 41 eingeholt. Während in Clintons Amtszeit Millionen zusätzliche Jobs entstanden waren, hatte die Ägide von Bush 43 zum damaligen Zeitpunkt ein Minus von absolut 3,4 Millionen Arbeitsplätzen gebracht. Und das war nicht alles. Das Haushaltsdefizit des Bundes wuchs und wuchs; die Etats der Einzelstaaten, denen die Landesverfassungen häufig vorschrieben, dass Defizite nicht erlaubt waren, ließen sich nur noch durch drastische Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen retten; der Dollar blieb schwach. Es gab allerdings auch positive Daten, die Bush als Bestätigung für seine Steuersenkungspolitik bewertete. So wuchs die amerikanische Volkswirtschaft im dritten Quartal 2003 um spektakuläre 8,2 Prozent. Doch ökonomische Ziffern waren nicht alles. Während des Wahlkampfes 2004 wurde für Bush ein Umstand immer bedrohlicher, mit dem er gar nicht gerechnet hatte. Die überzogene Beschwörung der Gefahr durch den Terror und Saddam einerseits und andererseits Bushs laxe Haltung gegenüber »corporate greed«, gegenüber den Verfehlungen etlicher großer Unternehmen mit direkten Kontakten zu ihm, wurden mehr und mehr im Zusammenhang gesehen. Politische Zentristen wie der Vizechef des Washingtoner Thinktanks New America Foundation, Steve Demons, attestierten Bush unter der Überschrift »Die Enronisierung der Bush-Regierung« einen fatalen Hang zur Geheimniskrämerei: Der Präsident »versteckt bezüglich aller Politikfelder, nicht nur in Fragen der nationalen Sicherheit, mehr vor der Öffentlichkeit als irgendein anderer Präsident seit dem von Verschwörungstheorien besessenen Richard Nixon… Dieser Präsident mag keine schlechten Nachrichten oder Sachinformationen, die mit seiner Agenda kollidieren, ganz unabhängig davon, wie objektiv sie sind, und 299
dies selbst dann, wenn Mitglieder seiner eigenen Regierung entsprechende Analysen veranlasst haben.« Aber auch die Meldungen zum dominierenden Thema Sicherheit und Kampf gegen den Terror waren alles andere als erfreulich. In Afghanistan war keine staatliche Ordnung zu erkennen, die über Kabul hinausreichte. Niemand schien für das nötige Großengagement bereit. Im Irak waren nach dem Kriegsende mehr Soldaten getötet worden als während der gesamten Kriegshandlungen. Und immer noch starb durchschnittlich ein US-Soldat täglich: Langsam begannen sich Guerillastrukturen zu etablieren, die die ersehnten Befreier zunehmend zu verhassten Besatzern werden ließen. Und ausgerechnet jener Mann, der als der diplomatischste und besonnenste in Bushs Regierung galt, der von den Europäern so geschätzte Außenminister Colin Powell, ließ erkennen, dass er nicht zwangsläufig einer zweiten Administration von Bush 43 angehören würde. Sofort wurde spekuliert, in einer zweiten Bush-Amtszeit könnte Condoleezza Rice Außenministerin werden; Paul Wolfowitz habe Chancen, ihr auf den Sessel des Nationalen Sicherheitsberaters nachzufolgen. Damit wäre die Außenpolitik noch unmittelbarer von den harten Zivilisten an der Spitze des Pentagon geprägt – und für das alte Europa noch schwerer verdaulich. Umgekehrt würde mit Powells Abschied ein weiteres Verbindungsseil von Bush 41 zu Bush 43 gekappt werden. Der Terror war nur eine Unwägbarkeit. Eine weitere war die Frage, wie ein mögliches Ergreifen Osama bin Ladens den USWahlkampf beeinflussen würde. Doch auf solche Spekulationen brauchte sich kein Republikaner zu stützen. Sie hatten ein gewichtiges strukturelles und ein ebenso schwerwiegendes politisches Argument, das die Chancen für Bushs Wiederwahl in einem guten Licht erscheinen ließ. Da war zunächst der politische Vergleich mit dem Vater, der Blick auf den »record«, die »score card«, den »Ergebniszettel«. Gewiss hatte Bush 41 300
einen Golfkrieg gewonnen und war dennoch gestürzt worden. Doch George Bush hatte eben auch Steuersenkungen versprochen und Erhöhungen durchgesetzt. Bush 43 konnte dagegen mit Afghanistan und Irak gleich zwei gewonnene Kriege unter Haben verbuchen; er hatte die Steuern dreimal gesenkt, auch wenn dies Einzelstaaten wie Kalifornien in bitterste Haushaltsnöte gebracht hatte; und er hatte 9-11 als sein größtes politisches Kapital. Bei diesem nationalen Trauma hatte er sich nach der überwiegenden Ansicht seines Volkes ebenso vernünftig wie entschlossen verhalten. Nicht minder schwer wog das strukturelle Argument. Europa ist die vergangenen Jahrzehnte über säkularer und postnationalistischer geworden. Dies dürfte der Generaltrend sein, unter dem sich viele Entwicklungen von Spanien bis Polen zusammenfassen lassen. Für die US-Gesellschaft gilt indes seit Jahrzehnten: »America moves to the South, the West and the right.« Grundsätzlich ist die persönliche Mobilität in den USA enorm. Zwischen 1995 und 2000 zogen 46 Prozent der Amerikaner um, wobei sich die Schwerpunkte der Bevölkerungsdichte nach Süden und Westen verlagerten. Politisch bedeutet diese Wanderungsbewegung eher eine Tendenz nach rechts – und hin zu größerer Frömmigkeit. Walter Russell Mead bejahte eine solche Werteverschiebung und prognostizierte: »Im 21. Jahrhundert könnte Religion gut jene Rolle spielen, die säkulare Ideologien wie Faschismus und Kommunismus im 20. Jahrhundert eingenommen haben. Für sich genommen hat dies noch nichts mit Fundamentalismus zu tun, wie ja auch die zunehmende Religiosität der US-Gesellschaft keine fundamentalistische ist. Aber wenn man sich das erhebliche Wachstum von sowohl Islam als auch Christentum im Weltmaßstab ansieht, kann man schon die These wagen: Amerikas weiter erstarkende Religiosität ist näher dran am Puls der Welt als Europas fortschreitende Säkularisierung.« 301
Wenn dies die ideologisch philosophische Dimension war, die Bush Hoffnung auf einen erneuten Wahlsieg und eine dauerhafte Vorrangstellung seiner Republikaner machte, so gab es daneben ganz praktische Zahlen, die sich aus den demografischen Verschiebungen ergaben. »Die Republikaner verzeichnen seit dem Jahr 2000 in 13 der 50 Bundesstaaten signifikante Zugewinne bei der Zahl jener Bürger, die sich als Stammwähler bezeichnen. Sechs dieser 13 Bundesstaaten sind bei Wahlen hart umkämpfte ›Schaukelstaaten‹ wie Florida und Michigan«, hieß es in einer Studie des angesehenen Pew Research Center for the People and the Press vom November 2003. »Zuwächse der Stammwählerschaft haben die Republikaner in fast allen Bevölkerungsgruppen erreichen können, außer bei Afroamerikanern. Ihre größten Gewinne verzeichnen die Republikaner unter Hispanics im Westen und Südwesten der USA, weißen Katholiken und weißen, evangelikalen Protestanten.« So standen die Chancen für 2004 insgesamt nicht schlecht. Doch die These der Republikaner, ein ganzes Zeitalter dominieren zu können, bedeutete auch, bereits frühzeitig den Blick nicht nur auf die Wahl 2004 zu richten, sondern auch die Kandidatenkür für die nächste Präsidentenwahl im Jahr 2008 ins Kalkül zu nehmen. Aber auch die Demokraten waren weitsichtig. Hillary Clintons im Juni 2003 veröffentlichte Autobiografie wurde als kühl kalkulierte Grundlage dafür betrachtet, aus dem Schatten der Lewinsky-Affäre herauszutreten und die Vergangenheit ein für alle Mal ad acta zu legen. Damit wäre der Weg frei: Aus der Senatorin von New York könnte eine Kandidatin für die demokratische Nominierung zur Präsidentschaft 2008 werden. Ein möglicher Gegenkandidat hieß – Bush. Allerdings würde George W. im Falle seiner Bestätigung 2004 dann nicht wieder antreten können, da die USVerfassung nach Franklin Delano Roosevelts vier Amtszeiten die zulässige Verweildauer im Weißen Haus auf zwei 302
Wahlperioden beschränkte. Doch da gab es ja noch Jeb Bush. »Ich weiß: Jeb Bush wird antreten. Ganz bestimmt!« So äußerte sich im Sommer 2003 in einer gewagten, zugegebenermaßen langfristigen und daher wohl nicht 100prozentig ernst gemeinten Prognose John Fund vom Bush-nahen Wall Street Journal. Es gab rationale Erwägungen, die seiner Voraussage Glaubwürdigkeit verliehen. Jeb Bush war Ende 2002 mit 58 Prozent der Stimmen als Gouverneur von Florida bestätigt worden. Mit der Wahl 2006 muss er ausscheiden – ebenfalls ein »Opfer« der »term limits«, der Amtszeitbeschränkung. Was würde Jeb Bush hernach für einen möglichen Anlauf auf das Weiße Haus mitbringen? Fraglos den Namen und die nationale Bekanntheit, fraglos das finanzielle Unterstützernetz seiner Familie. Doch die Ausgangsbasis Florida bot mehr. Schon die knappe Präsidentschaftswahl 2000 hatte gezeigt, wie entscheidend der Staat im Südosten der USA sein konnte. Florida war nicht nur demografisch ein Schwergewicht, es war wegen seiner Bevölkerungszusammensetzung aus vielen spanischsprachigen Gruppen und einer großen schwarzen Gemeinde auch soziologisch ein Labor der Zukunft Amerikas. Die Zensusdaten belegen den rasanten Wandel und die Jugendlichkeit des Bundesstaates. Vor allem war Florida mit all diesen Verschiebungen ein Testfall für die Tauglichkeit jener Kandidaten, die Wechselwähler ansprechen. Den Republikanern schien dies in Florida zu gelingen. Unter Jeb Bushs Regierung waren zwei Drittel der Sitze im Landesparlament und sämtliche Wahlämter auf Landesebene an die GOP, an die »Grand Old Party«, wie die Republikaner genannt werden, gegangen. Mehr Erfolg unter Wechselwählern und in einem Bundesstaat, der das neue Amerika abbildete, war kaum zu erringen. Hillary Clinton hatte stets gleich viele Anhänger wie Gegner. Sie polarisierte extrem. 2003 gaben 44 Prozent der amerikanischen Wahlbürger an, sich keinerlei Umstände 303
vorstellen zu können, unter denen sie ihr Kreuz für die Ex-FirstLady machen würden. Jeb Bush dagegen punktete bei den immer wichtiger werdenden Immigrantengemeinden, wo die Demokraten traditionell einen Vorsprung hatten, ebenso wie bei den Konservativen. Denn als einem der ganz wenigen Gouverneure war es ihm 2002 und 2003 noch gelungen, trotz Wirtschaftskrise und den Zusatzbelastungen aus der Terrorbekämpfung weitere Steuersenkungen auf Landesebene durchzusetzen. Seine Steuerpolitik und seine Justizreform waren zwei erhebliche Pluspunkte auf dem Konto von Jeb Bush. Sein Name brachte Vorteile, aber natürlich auch Nachteile. Die Republikaner sahen sich der Gefahr gegenüber, zum Vehikel einer Familiendynastie zu werden. Doch dem könnte man entgegensteuern, wenn man die Persönlichkeit Jeb Bushs in den Vordergrund rücken würde. Für ihn sprach Praktisches: Jeb Bush war Gouverneur im größten und wichtigsten von den Republikanern dominierten Staat (der republikanische Landesvater George Pataki in New York galt als Ausnahme), war vom Alter her ein denkbarer Kandidat für 2008 und zugleich ein Politiker, der sich als das verkaufen konnte, was seit Jahrzehnten am Besten zieht im politischen System der USA: ein »Washington-Außenseiter«. Carter, Reagan, Clinton, G. W. Bush: Sie alle waren aus der Provinz ins Weiße Haus aufgebrochen, sie alle waren Gouverneure gewesen, sie alle geißelten die »Washington-Insider« als Krebsgeschwür im Herzen eines überbordenden Regierungsapparats. George Bush, der aufgerückte Vizepräsident, war die Ausnahme zu einer Regel gewesen, die sich in Al Gores Niederlage wieder bestätigt hatte. George Bush, Bill Clinton, George W. Bush, dann Hillary Clinton gegen Jeb Bush: Es lag im Bereich des nicht nur Möglichen, sondern durchaus Rationalen, eine solche Abfolge zu erwarten. Amerikas Politik wäre damit über Jahrzehnte 304
hinweg zur Kampfarena zweier Familien geworden, die so unterschiedliche Lehren aus 1968 und den damit verbundenen gesellschaftlichen Erschütterungen gezogen haben. Und sollte irgendetwas nicht klappen, sollte George W. Bush seine Wahl 2004 verlieren oder Jeb Bush 2008 nicht antreten, dann gab es bei den Bushs ja immer noch eine weitere Option für die Zukunft: Jebs Sohn »P«, den halb hispanischen Jungjuristen als makelloses Abbild des ganz neuen Amerika. »P« hatte bereits zweimal, 1988 für seinen Großvater wie zwölf Jahre später für seinen Onkel, Reden bei republikanischen Wahlparteitagen halten dürfen. 1988 trug er den »pledge of allegiance« vor, jenen Fahneneid, zu dem Mike Dukakis angeblich ein gebrochenes Verhältnis hatte. Und »P« hatte zur besten Sendezeit an jenem Abend, an dem George W. Bush 2000 die Präsidentschaftskandidatur seiner Partei offiziell angenommen hatte, seine eigene Version des Bush-Erbes benannt. »Fearlessly inclusive« sei sein Onkel: furchtlos bereit, auf nichttraditionelle Wählergruppen zuzugehen. In 14 USBundesstaaten hatte der Jugendvorsitzende der Republican National Convention zu diesem Zeitpunkt bereits Werbung für den Onkel aus Texas gemacht. Das Magazin People hatte dem ambitionierten Schönling bereits eine Fotostrecke gewidmet, wie sie sonst eher Schauspielgrößen denn Nachwuchspolitikern gewidmet wird. Und People hatte ihn auch zum viertattraktivsten Junggesellen Amerikas gekürt, ihn also in jene Galerie aufgenommen, in der John F. Kennedys Sohn »JohnJohn« einst den Spitzenplatz belegte. »P« war damit der offizielle Erbprinz der Bush-Dynastie. »Der wird mal der erste Typ in der Politik«, hat im gewohnt schnoddrigen Bush-Ton sein Cousin Pierce, Sohn von Neil Bush, einmal über »P« gesagt. Opa George Bush hatte unfreiwillig dazu beigetragen, dass »P« nationale Berühmtheit erlangte, als er während des Parteitags 1988 Präsident Reagan und seine Frau Nancy auf »P« und seine Geschwister 305
aufmerksam gemacht und als »the little brown ones« (»die kleinen Braunen«) charakterisiert hatte. »P« rächte sich für die wenig schmeichelhafte Beschreibung, indem er seine scharfzüngige Großmutter Barbara zitierte. Die nämlich habe ihm für seinen künftigen Lebensweg empfohlen, er möge doch bitte »kein Angeber wie mein Großvater« werden.
Die nächste Generation für eine Bush-Präsidentschaft? Jeb Bushs Sohn George »P.« Bush, Absolvent der Rice-Universität und der Juristenausbildung an der Universität von Texas, hat den Einstieg in die Politik bereits geschafft. Der Jugendvorsitzende der Republican National Convention unterstützte seinen Onkel bereits in mehreren Bundesstaaten.
So hat es sich eben eingerichtet, das System Bush im Lande Amerika. Der britische Adelskalender »Burke’s Peerage« hatte schon in den 80er Jahren bewundernd festgestellt, dass die 306
Bushs die »königlichste« aller Politdynastien der USA seien – um etliche Ecken sind sie selbst mit Queen Elizabeth verwandt. Und man kommt an dieser Familie nicht mehr vorbei, will man Amerika verstehen. Es sieht so aus, als würde unabhängig vom Ausgang des Präsidentschaftswahlkampfes 2004 eines feststehen: Die Bushs werden Amerika erhalten bleiben. Und damit auch der ganzen Welt.
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ZEITTAFEL 1895 Prescott Bush wird geboren. 1913 Prescott Bush beginnt sein Studium an der Yale University, die auch sein Sohn und sein Enkel besuchen werden, und wird in die Geheimorganisation »Skull and Bones« aufgenommen, wie später auch George und George W. 1924 George Bush wird geboren. 1925 Barbara Pierce wird geboren. 1942 George Bush beendet die Schule und geht zur Marine, um Kampfpilot zu werden. Im Pazifik wird er 1944 abgeschossen und kommt nur knapp mit dem Leben davon. 1945 George Bush und Barbara Pierce heiraten. 1946 George W. Bush wird geboren. 308
1948 Die Bushs ziehen nach Texas um, George steigt ins Ölgeschäft ein. 1949 Robin Bush wird in Kalifornien geboren. Midland in Westtexas wird die neue Heimat der Familie. 1952 Prescott Bush wird in den Senat gewählt. 1953 Jeb Bush wird geboren. Robin stirbt an Leukämie. George Bush gründet seine eigene Ölfirma Zapata. 1955 Neil Bush wird geboren. 1956 Marvin Bush wird geboren. 1959 Dorothy Bush wird geboren. 1962 Prescott Bush scheidet aus dem US-Senat aus. George Bush wird Kreisvorsitzender seiner Partei in Houston.
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1966 George Bush, der zuvor mit einer Kandidatur für den Senat gescheitert war, erringt einen Sitz im US-Repräsentantenhaus. 1968 George W. Bush beendet sein Studium und beginnt die Ausbildung zum Kampfpiloten in der Texas Air National Guard – dies erspart ihm den Einsatz in Vietnam. 1971 George Bush wird amerikanischer Botschafter bei den Vereinten Nationen in New York City. 1972 George Bush wird »Chairman of the Republican National Committee«, faktisch also Generalsekretär der Partei. 1973 George W. Bush studiert an der Harvard Business School und steigt anschließend ins Ölgeschäft ein. 1974 Jeb Bush heiratet Columba Garnica Gallo, aus der Ehe gehen die Kinder George P., Noelle und Jebby hervor. George Bush wird Vertreter der USA in China. 1976 George Bush wird Chef des CIA. 1977 310
George W. heiratet Laura Welch, aus der Ehe gehen die 1981 geborenen Zwillinge Jenna und Barbara hervor. 1978 George W. bewirbt sich ohne Erfolg um einen Sitz im Repräsentantenhaus. 1980 George Bush bewirbt sich um die Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Republikaner. Er unterliegt Ronald Reagan, der ihn zum Vizepräsidenten beruft. Beiden wird vorgeworfen, eine »October Surprise« zugunsten Jimmy Carters durch Zusagen an Teheran verhindert zu haben. Zwischen Iran und Irak bricht der erste Golfkrieg aus. 1985/86 George W. Bush entsagt dem Alkohol und findet als »born again Christian« zum Glauben. 1985-88 Zwei Skandale erschüttern die USA: Im »Savings and Loans Scandal« gehen Hunderte kleinerer Banken zugrunde, Neil und Jeb Bush sind an den Pleiten beteiligt. Die Iran-Contra-Affäre erschüttert Washington; Reagan und Bush geben an, nicht voll informiert gewesen zu sein. 1988 George Bush erringt einen klaren Wahlsieg gegen den Demokraten Mike Dukakis und wird im Januar 1989 als 41. Präsident der USA vereidigt. 1989/90 311
George Bush wird zu einem der Väter der deutschen Einheit George Bush ordnet eine Invasion in Panama zur Ergreifung des Machthabers Noriega an. 1990 Irak überfällt und besetzt Kuwait. George W. Bush verkauft seine Anteile an der Ölfirma Harken und wird Miteigentümer des Baseballteams »Texas Rangers«. 1991 George Bush führt eine internationale Allianz in den Krieg gegen Saddam Hussein, den zweiten Golfkrieg, auf einen Sturz des irakischen Machthabers verzichtet Bush aber. 1992 George Bush beginnt eine humanitäre Intervention in Somalia und verliert angesichts schlechter Wirtschaftszahlen im November die Präsidentschaftswahl gegen den Demokraten Bill Clinton. 1994 George W. Bush erringt gegen die Demokratin Ann Richards das Amt des Gouverneurs von Texas. 1998 George W. Bush wird im Amt bestätigt, er erringt 69 Prozent. Jeb Bush wird im zweiten Anlauf zum Gouverneur von Florida gewählt. 2000 312
George W. Bush besiegt in den republikanischen Vorwahlen John McCain und wird im November mit hauchdünnem Vorsprung vor dem Demokraten Al Gore zum Präsident gewählt; im Januar 2001 tritt er sein Amt als 43. Präsident der USA an. 2001 Nach den Terroranschlägen vom 11. September führt George W. Bush eine breite Allianz von Nationen in den Krieg gegen die Taliban und Al Qaida in Afghanistan. 2002 Floridas Gouverneur Jeb Bush wird im Amt bestätigt. 2003 George W. Bushs Feldzug gegen Saddam Hussein, der dritte Golfkrieg, entzweit Europa, die UNO und die NATO und führt zu heftigen transatlantischen Spannungen. Ende September treffen sich George W. Bush und Gerhard Schröder erstmals nach 16 Monaten wieder zu einem Zwiegespräch. 2004 George W. Bush sieht sich vor den Präsidentschaftswahlen im November wachsender Kritik an seiner Irak-Politik ausgesetzt.
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QUELLEN Mein besonderer Dank gilt allen Gesprächspartnern, die sich für Debatten über die Bushs und ihre Politik zur Verfügung gestellt haben. Ohne diese Beobachter, ihre Einsichten und ihre Organisationen gäbe es dieses Buch nicht. Ohne die zahlreichen formellen und informellen Runden, die von den Trägern des transatlantischen Dialogs veranstaltet werden, erst recht nicht. Ich danke Craig Kennedy und Heike MacKerron vom German Marshall Fund, Jack Janes vom American Institute for Contemporary German Studies (AICGS) der Johns Hopkins Universität (die Zitate stammen aus einem taz-Interview vom 19. Juli 2003), Gerry Livingston (Zitate aus einem Streitgespräch mit Egon Bahr, Vorwärts, Juli/August 2003), Gary Smith von der American Academy, J. D. Bindenagel vom Chicago Council on Foreign Relations, Bruce Jackson, Christopher Makins und Wayne Merry vom Atlantic Council, Simon Serfaty vom Center for Strategic and International Studies, Walter Russell Mead (die Zitate stammen aus einem Gespräch am 18. Juni 2003) und Charles Kupchan vom Council on Foreign Relations, Bill Kristol vom Weekly Standard, W. Michael Blumenthal, Beate Lindemann von der AtlantikBrücke, Frank-Dieter Freiling vom Arthur-F.-Burns-Programm der IJP, den Schriftstellern Peter Schneider und Stefan Sullivan, Ralph Bauer von der University of Maryland, Henni Löwisch, Peter Ross Range, Steve Demons von der New America Foundation, Robert Kagan vom Carnegie Endowment, Edward Djerejian vom James-Baker-Institut der Rice University, Dieter Dettke von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Sascha MüllerKraenner von der Böll-Stiftung, Claus Gramckow, Timothy Garton Ash, Forrest Rogers, Wolfgang Pordzik, Arno Lustiger, 314
Henryk Broder, Margarita Mathiopoulos, den Botschaftern Wolfgang Ischinger, Thomas Matussek, Jürgen Chrobog, Richard Holbrooke, John Kornblum, Robert Kimmitt und Daniel Coats, Carne Ross, Stephen Coady, Gebhard Schweigler, Andrew Steinfeld, Hans-Henning Blomeyer-Bartenstein, Ludger Siemes, Jane Kramer, Elizabeth Pond, Dean Curran, Deidre Berger vom American Jewish Committee, Alexander Longolius von der Checkpoint Charlie Stiftung, Uwe Schmitt von der Welt, Michael Streck von der taz, meinem Kollegen Malte Lehming vom Tagesspiegel in Washington, auf dessen Recherchen zu den Themen junge Mitarbeiter im Weißen Haus, Verbindungen der Republikaner zu jüdischen Organisationen und Angst als Politikfaktor sich meine Darstellung stützt, Jeff Gedmin vom Aspen-Institut, Heinz Ickstadt und Winfried Fluck vom J.-F.Kennedy-Institut der FU Berlin, Barbara Ischinger von der HU Berlin, Karl Kaiser von der DGAP, Christoph Bertram von der SWP, Ron Asmus, Walther Stützle, Michael Zöller vom Council on Public Policy, Steve Erlanger von der New York Times, der Körber-Stiftung in Hamburg, Bill Drozdiak, Chuck Lane, Fred Kempe, Jacob Heilbrunn, Jim Hoge von Foreign Affairs, Jim Hoagland von der Washington Post, Doug Blackmon vom Wall Street Journal, Marc Pachter vom Smithsonian, Aliza Marcus vom Boston Globe für großzügige archivarische Hilfe, Stefan Theil von Newsweek, Bruce Stokes vom National Journal, Steven Sokol, Raimo Mischke, Mark Smith, Paul Brazell, Jeremiah Riemer, Werner Ott und Bernd Scherer vom GoetheInstitut, Mark Brueggemann und Carter Dougherty. Keiner der Genannten muss mit auch nur einer einzigen der Wertungen, die hier getroffen wurden, einverstanden sein. Meine Wertungen sind indes solche, die sich im Gespräch mit jedem der Genannten geschärft haben. Und manchmal genügt sogar ein Halbsatz am Rande eines Empfangs für eine Fährte, die zu neuen Einsichten führt. Nicht minder herzlich danke ich jenen, die mit mir gesprochen haben, aber aus den 315
unterschiedlichsten Gründen wollten – oder wollen mussten –, dass ihre Namen hier nicht erscheinen. Eindrücke, die hier wiedergegeben sind, stammen auch aus Begegnungen mit George Bush, George W. Bush, Barbara Bush, Jeb Bush, »P« Bush, Colin Powell, Richard Perle (die Zitate stammen aus Gesprächen am 16. und 17. Juni 2003 und aus einem Vortrag bei der DGAP), Karl Rove, John Ashcroft, George Tenet, Jim Baker, Henry Kissinger (die Zitate stammen aus einem Gespräch in Berlin am 23. Mai 2003), Tom Ridge, Richard Falkenrath, Bill Clinton, Al Gore, Madeleine Albright (die Zitate stammen aus einem Gespräch in Wien am 22. Oktober 2003), Zbigniew Brzezinski, Richard von Weizsäcker (die Zitate stammen aus einer Pressekonferenz der AtlantikBrücke in Berlin am 11. April 2002), Helmut Kohl, Gerhard Schröder, Joschka Fischer, Angela Merkel, Paul Wolfowitz, Robert Zoellick, Volker Rühe, Wolfgang Schäuble, Friedbert Pflüger, Christian Schmidt, Hans-Ulrich Klose, Rudolf Scharping, Chuck Hagel, John McCain und Werner Hoyer. Weitere Quellen sind die Memoiren von Politikern aus der Amtszeit George Bushs und Bücher über George W. Bush, insbesondere Colin Powells mit Joseph Persico geschriebene Autobiografie My American Journey von 1995, H. Norman Schwarzkopfs Lebenserinnerungen It Doesn’t Take a Hero von 1993, Hans-Dietrich Genschers 1995 veröffentlichte Erinnerungen, George Bushs 1987 erschienene und zusammen mit Vic Gold geschriebene Autobiografie Looking Forward, George Bushs All the Best – My Life in Letters and Other Writings von 1999, George W. Bushs Wahlkampfautobiografie A Charge to Keep aus dem Jahr 1999, Molly Ivins’ Shrub – The Short but Happy Political Life of George W. Bush von 2000, Bill Minutaglios 1999 erschienener Band First Son – George W. Bush and the Bush Family Dynasty, Petra Pinzlers und Günther Wessels George W. Bush – Wende in Amerika von 2001, Barbara Bushs A Memoir von 1994, Pamela Kilians 2002 316
erschienenes Porträt Barbara Bush – Matriarch of a Dynasty, Bob Woodwards Bush at War, Bill Sammons Fighting Back – The War on Terrorism from Inside the Bush White House sowie Michael Linds Made in Texas – George W. Bush and the Southern Takeover of American Politics (alle drei aus dem Jahr 2002), das faktisch gleich investigative wie in seinen Wertungen mit Vorsicht zu genießende Werk George Bush: The Unauthorized Biography von Webster G. Tarpley und Anton Chaitkin und Walter Russell Meads Special Providence: American Foreign Policy and How It Changed the World über das mitunter unfreiwillige Zusammenwirken der unterschiedlichen außenpolitischen Denkschulen in Washington. Tausende von Zeitungsartikeln und Hunderte von Magazinbeiträge waren wertvolle Hilfen. Ihre Nennung würde jeden Rahmen sprengen. Stellvertretend für alle seien nur fünf genannt: Bill Kellers »Reagan’s Son« in der New York Times vom 26. Januar 2003, David Gelernters »GWB & JFK« im Weekly Standard vom 3. Februar 2003, John Van Oudenarens »What is ›Multilateral‹?« im Policy Review vom Februar/März 2003, Andrei Markovits’ »European Anti-Americanism: Past and Present of a Pedigreed Prejudice« (Antrittsvorlesung an der University of Michigan, Ann Arbor, 24. September 2003) und Dirk Schattschneiders »Der deutsche Weg – Umweg, Sackgasse oder Abkürzung?« (Manuskript für die Zeitschrift Liberal, September 2003). Ich danke Karin Graf und Barbara Wenner, und bei Campus Thomas Carl Schwoerer, Jürgen Neubauer und Sabine Niemeier – for unrelenting interest. Und ich danke Ana für viele Stunden, auf die er verzichtet hat, sowie meinen Freunden für Zeit, die ich stehlen durfte.
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