Robert Silverberg
Als die Vergangenheit verlorenging
Man sollte niemals vergessen, daß die Zivilisation das Produkt de...
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Robert Silverberg
Als die Vergangenheit verlorenging
Man sollte niemals vergessen, daß die Zivilisation das Produkt des menschlichen drei-Pfund-Hirns ist, des am feinsten gegliederte Stücks Masse, das wir kennen. Angenommen, jemand ist gewissenlos genug, genau an diesem Punkt anzusetzen und dort eine nachhaltige Störung zu bewirken...
Der Tag, an dem ein asozialer Unhold eine amnesieerzeugende Droge in die städtische Wasserversorgung kippte, war einer der schönsten, die San Francisco seit langem erlebt hatte. Die feuchte Wolke, die drei Wochen lang über allem geschwebt hatte, trieb an jenem Mittwoch endlich über die Bucht nach Berkeley, und die Sonne kam strahlend und warm hervor und bescherte der alten Stadt den bislang wärmsten Tag des Jahres 2003. Die Temperatur stieg bis weit über zwanzig Grad, und selbst jene Alten, die es nicht geschafft hatten, auf die Celsius-Skala umzulernen, merkten, daß es heiß war. Vom Golden Gate bis zum Embarcadero summten die Klimaanlagen. Pacific Gas & Electric, die Elektrizitätswerke, registrierten zwischen zwei und drei Uhr nachmittags die höchste Belastung ihrer Geschichte. Die Parks waren überfüllt. Die Leute tranken große Mengen Wasser, einige erheblich mehr als andere. Gegen Abend begannen die durstigsten von ihnen bereits, einzelne Dinge zu vergessen. Am nächsten Morgen befanden sich sämtliche Einwohner der Stadt, mit wenigen Ausnahmen, in Schwierigkeiten. Es war wirklich ein idealer Tag zum Begehen eines monströsen Verbrechens gewesen. Am Tag, bevor die Vergangenheit verschwand, hatte Paul Mueller ernsthaft erwogen, den Staat zu verlassen und Schutz in einem der Zufluchtsorte für Schuldner zu suchen – vielleicht in Reno oder Caracas. Es war zwar nicht ausschließlich seine Schuld, aber er befand sich mit fast einer Million in den roten Zahlen, und seine Gläubiger wurden langsam unwillig. Es war bereits so weit gekommen, daß sie ihre Inkassoroboter vorbeischickten, um ihn persönlich zu belästigen, und das etwa alle drei Stunden. “Mr. Mueller? Ich bin beauftragt, Sie davon zu unterrichten, daß auf Ihrem Konto bei Modern Age Recreators, Inc. die Summe von $ 8.005,97 überfällig sind. Wir haben uns an Ihren Finanzverwalter gewandt und sind von Ihrer Zahlungsunfähigkeit unterrichtet, und falls bis zum Elften dieses Monats nicht eine Zahlung von $ 395,61 eingeht, könnten wir uns genötigt sehen, Beschlagnahmemaßnahmen gegenüber Ihrer Person einzuleiten. Daher rate ich Ihnen –”
“ – die Summe von $ 11.554,97, zahlbar am neunten August, 2002, ist bisher bei Luna Tours, Ltd. nicht eingegangen. Wir haben nach dem Kreditgesetz von 1995 gegen Sie Zwangsvollstreckung beantragt und gehen davon aus, eine Verfügung uns zustehender persönlicher Arbeitsleistung zu erwirken, falls wir keine Zahlung erhalten, und zwar bis zum –” “ – wie in Ihrem Vertrag festgelegt, werden auf den von Ihnen nicht bezahlten Betrag Zinsen in Höhe von vier Prozent monatlich berechnet –” “ – Säumniszuschläge werden jetzt fällig und erfordern die umgehende Überweisung von –” Mueller gewöhnte sich langsam an diesen Vorgang. Die Roboter konnten ihn nicht anrufen – Pacific Tel & Tel, die Telefongesellschaft, hatte ihn schon vor Monaten aus ihrem Datennetz ausgesperrt, also kamen sie vorbei, diese höflichen, gesichtslosen Maschinen mit den aufgedruckten Firmenemblemen, und teilten ihm mit sanft schnurrenden Stimmen präzise mit, wie tief er in diesem Moment in der Tinte saß, wie schnell sich die Mahngebühren ansammelten und was sie mit ihm vorhatten, wenn er nicht augenblicklich seine Schulden beglich. Wenn er ihnen zu entkommen versuchte, spürten sie ihn wie unermüdliche Gerichtsvollzieher einfach auf der Straße auf und verkündeten der ganzen Stadt seine Schande. Also versuchte er nicht, ihnen zu entkommen. Aber ihre Drohungen würden wohl bald konkrete Gestalt annehmen. Sie konnten ihm schreckliche Dinge antun. Die Verfügung persönlicher Arbeitsleistung würde ihn zum Beispiel zum Skla ven machen, er würde zum Angestellten seines Gläubigers werden, und zwar bei einem vom Gericht zu bestimmenden Gehalt, aber jeder Cent, den er verdiente, würde auf seine Schulden angerechnet, während sein Gläubiger ihn mit einem Minimum an Nahrung, Unterkunft und Kleidung versorgte. Es konnte ihm passieren, daß er gezwungen war, zwei oder drei Jahre lang niederste Arbeiten zu verrichten, auf die selbst ein Roboter pfeifen würde, nur um diese eine Schuld zu begleichen. Persönliche Beschlagnahmemaßnahmen
waren noch schlimmer; bei einer solchen Vereinbarung konnte es ihm passieren, daß er faktisch zum Bediensteten eines der leitenden Angestellten der Gläubigerfirma wurde, Schuhe putzen und Hemden falten mußte. Man konnte ihn auch mit einem unbegrenzten Beschlagnahmungsbefehl belegen, demzufolge er und seine Nachkommen, falls vorhanden, über die Jahre einen bestimmten Prozentsatz ihres jährlichen Einkommens zu zahlen hätten, bis die Schulden samt den darauf angesammelten Zinsen schließlich beglichen waren. Und es gab noch andere Mittel, um mit Zahlungsunfähigen fertig zu werden. Er hatte keine Möglichkeit, in Konkurs zu gehen. Die einzelnen Staaten und die Bundesregierung hatten 1995 die Konkursgesetze für ungültig erklärt, nach der sogenannten Kreditepidemie der 80er Jahre, als es eine Zeitlang tatsächlich Mode wurde, sich unwiderruflich zu verschulden und sich dann auf Gnade oder Ungnade den Gerichten auszuliefern. Die Zuflucht eines bequemen Konkursverfahrens existierte nicht mehr; wenn man zahlungsunfähig wurde, hatten die Gläubiger einen in der Hand. Der einzige Ausweg bestand darin, in ein Schuldnerparadies zu fliehen, an einen Ort, wo die dort geltenden Gesetze die Auslieferung wegen eines Kreditvergehens untersagten. Es gab etwa ein Dutzend solcher Zufluchtsorte, und man konnte dort bequem leben, vorausgesetzt, man besaß irgendeine besondere Fertigkeit, die man teuer verkaufen konnte. Es war notwendig, gut zu verdienen, denn in einer Schuldnerzuflucht gab es alles nur gegen bar – und zwar im Voraus, selbst für einen Haarschnitt. Mueller besaß eine Fertigkeit, von der er glaubte, sie werde ihn durchbringen: Er war ein Künstler, Hersteller von Klangskulpturen, und seine Arbeiten waren immer gefragt. Alles, was er brauchte, waren ein paar tausend Dollar, um eine Grundausrüstung an Handwerkszeug anzuschaffen – sein letzter Satz Modelliergeräte war vor ein paar Wochen gepfändet worden –, dann konnte er in einem der Zufluchtsorte, für die Robotermeute unerreichbar, ein Studio einrichten. Er glaubte, er könne immer noch einen Freund auftreiben, der ihm ein paar tausend Dollar leihen werde. Um der Kunst willen, sozusagen. Für einen guten Zweck.
Falls er zehn Jahre lang ununterbrochen am Zufluchtsort blieb, würde man ihm seine Schulden erlassen, und er konnte ihn als freier Mann wieder verlassen. Die Sache hatte nur einen Haken, und der war nicht unbedeutend. Wenn jemand sich einmal in eine Zuflucht begeben hatte, waren ihm sämtliche Kreditquellen ein für allemal versperrt, wenn er wieder in die Welt draußen zurückkehrte. Er konnte nicht einmal mehr eine Postkreditkarte bekommen, geschweige denn einen Bankkredit. Mueller war sich nicht sicher, ob er so überhaupt leben konnte, wenn er den Rest seines Lebens alles bar bezahlen mußte. Es würde schrecklich beschwerlich und unerfreulich sein. Schlimmer noch: Es wäre barbarisch. Er machte einen Vermerk auf seinen Notizblock: Morgen früh Freddy Munson anrufen und drei Riesen borgen. Ticket nach Caracas kaufen. Modellierzeug kaufen. Die Würfel waren gefallen - falls er sich nicht morgen noch anders entschied. Er spähte verdrießlich hinaus auf die Reihe gleißend weiß gestrichener, kurz nach dem Erdbeben gebauter Häuser, die sich an der steil abfallenden Straße den Telegraph Hill hinab in Richtung Fisherman's Wharf erstreckten. Sie glitzerten im ungewohnten Sonnenlicht. Ein wunderschöner Tag, dachte Mueller. Ein wunderschöner Tag, um sich in der Bucht zu ertränken. Verdammt. Verdammt. Verdammt. Bald würde er vierzig Jahre alt werden. Er war an dem gleichen schwarzen Tag in die Welt getreten, an dem Präsident John F. Kennedy sie verlassen hatte. In einer bösen Stunde geboren, zu einem düsteren Schicksal verdammt. Mueller blickte finster drein. Er ging zum Hahn und holte sich ein Glas Wasser. Das war das einzige, was er sich zur Zeit zu trinken leisten konnte. Er fragte sich, wie er es jemals geschafft hatte, sich in solch einen Schlamassel hineinzumanövrieren. Schulden von fast einer Million! Trübsinnig legte er sich hin, um ein Nickerchen zu machen. Als er gegen Mitternacht aufwachte, fühlte er sich besser, als er sich seit langem gefühlt hatte. Es war, als sei eine große Wolke fortgezogen, genau wie sie an jenem Tag von der Stadt fortgezogen war. Mueller war tatsächlich fröhlicher Stimmung. Er hatte keine
Ahnung, warum. In einem eleganten Stadthaus am Marina Boulevard probte der Sagenhafte Montini seine Nummer. Der Sagenha fte Montini war ein professioneller Gedächtniskünstler: ein kleiner, schmucker Mann von sechzig Jahren, der niemals etwas vergaß. Er war tief gebräunt, mit dunklem, exakt zurückgekämmtem Haar, kleinen schwarzen Augen, die vor Selbstbewußtsein glitzerten, und schmalem, wählerisch gespitztem Mund. Er zog ein Buch aus einem Regal und ließ es wahllos aufklappen. Es war eine einbändige Shakespeare-Ausgabe, ein geläufiges Requisit seiner NachtclubNummer. Er überflog die Seite, nickte, warf einen kurzen Blick auf eine weitere Seite, dann auf eine dritte, und lächelte sein nach innen gerichtetes Lächeln. Das Leben meinte es gut mit dem Sagenhaften Montini. Auf Tournee verdiente er bequem $ 30,000 die Woche, indem er eine ausgefallene Begabung in ein profitables Geschäft verwandelte. Morgen abend würde er ein einwöchiges Gastspiel in Las Vegas eröffnen, danach ging es weiter nach Manila, Tokio, Bangkok, Kairo. Und so weiter um den ganzen Erdball. In zwölf Wochen würde er sein Jahreseinkommen verdient haben; dann konnte er sich wieder ausruhen. Es war alles so einfach. Er kannte so viele gute Tricks. Sollten sie doch eine zwanzigstellige Zahl herausschreien; er würde sie ihnen umgehend zurückschreien. Sollten sie ihn doch mit langen Serien bedeutungsloser Silben bombardieren; er würde das Kauderwelsch fehlerlos wiederholen. Sollten sie doch komplizierte mathematische Formeln auf den Computerschirm schreiben; er würde sie bis zu letzten Exponentialgröße wiedergeben. Sein Gedächtnis war perfekt, sowohl optisch als auch akustisch, genau wie in den anderen Wahrnehmungsbereichen. Die Shakespeare-Sache, eine seiner einfachsten Nummern, versetzte die leicht zu beeindruckenden Teile des Publikums unfehlbar in Erstaunen. Den meisten Leuten schien es unglaub lich, daß jemand das Gesamtwerk Seite für Seite auswendig lernen konnte. Er benutzte sie gerne als Eröffnungsnummer. Er reichte das Buch Nadia, seiner Assistentin. Sie war außerdem seine Geliebte; Montini liebte es, den Kreis seiner Vertrauten klein
zu halten. Sie war zwanzig Jahre alt, größer als er, mit riesigen, lidschattenglänzenden Augen und einer Flut glänzenden, künstlich azurblau leuchtenden Haares: in jeder Hinsicht modisch auf dem Laufenden. Sie trug ein gläsernes Mieder, eine angemessene Verpackung für das, was sich darin befand. Sie war nicht besonders klug, aber sie tat das, was Montini von ihr verlangte, und das tat sie ganz gut. Er schätzte, sie würde in etwa achtzehn Monaten ersetzt werden. Seine Frauen langweilten ihn schnell. Sein Gedächtnis war zu gut. “Laß uns anfangen”, sagte er. Sie öffnete das Buch. “Seite 537, linke Spalte.” Sofort erschien die Seite vor Montinis innerem Auge. “König Heinrich der Sechste, II. Teil”, sagte er. “König Heinrich: Sag, Mann, waren das deine Worte? Horner: Mit Eurer Majestät Erlaubnis, ich habe niemals etwas dergleichen gesagt oder gedacht. Gott ist mein Zeuge, daß ich von dem Bösewicht fälschlich angeklagt werde. Peter: Bei diesen zehn Gebeinen, gnädige Herren, er sagte es mir eines Abends auf der Dachkammer, als wir Mylords von York Rüstung abputzten. York: Gemeiner Köter, Schurke und –” “Seite 778, rechte Spalte”, sagte Nadia. “Romeo und Julia. Mercutio spricht: ... deine Augen dazu, darin Grund zu einem Streit zu erblicken. Dein Kopf ist so voll Zänkereien, wie ein Ei voll Dotter, und doch ist dir dein Kopf für dein Zanken schon dotterweich geschlagen. Du hast mit einem angebunden, der auf der Straße hustete, weil er deinen Hund aufgeweckt, der in der Sonne schlief. Hast du nicht –” “Seite 307, in der rechten Spalte vierzehn Zeilen von oben beginnend.” Montini lächelte. Er mochte diese Passage. Bei der Vorstellung würde ein Bildschirm sie dem Publikum zeigen. “Was Ihr wollt”, sagte er. “Der Herzog spricht: Zu alt, beim Himmel! Wähle doch das Weib sich einen Altern stets! So fügt sie sich ihm an, so herrscht sie ewig gleich in seiner Brust. Denn, Knabe, wie wir uns auch preisen mögen, sind unsre Neigungen doch wankelmütiger, unsichrer –”
“Seite 495, linke Spalte.” “Einen Moment”, sagte Montini Er goß sich ein großes Glas Wasser ein und trank es mit drei schnellen Schlucken. “Diese Arbeit macht mich immer durstig.” Taylor Braskett, Kapitänleutnant a.D., U.S. Space Service, betrat federnden Schrittes sein Zuhause an der Oak Street, direkt am Golden Gate Park. Mit 71 schaffte es Commander Braskett immer noch, sich flott zu bewegen, und er war bereit, sofort wieder seine Uniform anzulegen, falls sein Land ihn brauchte. Er war der Meinung, daß sein Land ihn heute mehr denn je brauchte, da der Sozialismus wie ein Steppenb rand die Hälfte der Nationen Europas durchzog. Wenigstens die Heimatfront mußte doch bewacht werden. Das, was von der traditionellen Freiheit Amerikas noch übrig war, mußte beschützt werden. Was wir eigentlich brauchen, glaubte Commander Braskett, ist ein Netz in Umlaufbahn befindlicher CBomben, bereit, die Feinde der Demokratie mit dem Höllentod zu überziehen. Ganz egal, was dieser Vertrag besagt, wir müssen bereit sein, uns zu verteidigen. Commander Brasketts Theorien waren nicht allgemein akzeptiert. Die Leute zollten ihm natürlich dafür Respekt, daß er einer der ersten Amerikaner auf dem Mars gewesen war, aber er wußte, daß sie ihn im Stillen für verschroben hielten, daß sie glaubten, er habe einen Sprung in der Schüssel, er halte sich, wie jene Milizionäre des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, für einen Minuteman und mache sich immer noch Sorgen um die Rotröcke. Sein Sinn für Humor war ausgeprägt genug, um zu erkennen, daß er diesen jungen Leuten als absurde Gestalt erscheinen mußte. Aber er meinte es ernst mit seiner Entschlossenheit, dabei mitzuhelfen, Amerika seine Freiheit zu erhalten – die Jugend vor der Knute des Totalitarismus zu bewahren, ob sie nun über ihn lachten oder nicht. Diesen ganzen wunderbar sonnigen Tag lang war er durch den Park gelaufen und hatte versucht, mit den Jungen zu reden, hatte sich bemüht, ihnen seine Position zu erklären. Er war höflich, aufmerksam, erpicht darauf, jemanden zu finden, der ihm Fragen stellte. Die Schwierigkeit war nur, daß ihm niemand zuhörte. Und dann diese
Jugend – im Sonnenschein bis zur Taille nackt, Mädchen wie Jungen, sie nahmen in aller Öffentlichkeit Drogen, benutzten ganz beiläufig die obszönsten Schimpfwörter ... Manchmal neigte Commander Braskett zu der Ansicht, die Schlacht um Amerika sei bereits verloren. Aber er gab die Hoffnung nie ganz auf." Er war stundenlang im Park gewesen. Nun, zu Hause, ging er am Trophäenzimmer vorbei in die Küche, öffnete den Kühlschrank und holte eine Flasche Wasser hervor. Commander Braskett ließ sich jeden zweiten Tag drei Flaschen mit Bergquellwasser ins Haus liefern; es war eine Gewohnheit, die er fünfzig Jahre zuvor aufgenommen hatte, als man zuerst darüber zu reden begonnen hatte, dem Wasser Fluor zuzusetzen. Er war sich des versteckten Lächelns durchaus bewußt, das man ihm schenkte, wenn er zugab, daß er nur abgefülltes Quellwasser trank, aber das machte ihm nichts aus; er hatte bereits viele der Lächelnden überlebt, und er schrieb seine ausgezeichnete Gesundheit seiner Weigerung zu, das verschmutzte, verseuchte Wasser anzurühren, das die meisten anderen Menschen tranken. Erst Chlor, dann Fluor – wahrscheinlich schütteten sie inzwischen noch ganz andere Sachen hinein, dachte Commander Braskett. Er nahm einen tiefen Schluck. Man hat keine Möglichkeit, festzustellen, was für gefährliche Chemikalien sie heutzutage in die öffentliche Wasserversorgung schütteten, sagte er sich. Bin ich verschroben? Dann bin ich eben verschroben. Aber ein Mann, der seine Sinne beisammen hat, trinkt nur Wasser, dem er trauen kann. Wie ein Fötus zusammengerollt, die Knie fast bis ans Kinn hochgezogen, zitternd, schwitzend, schloß Nate Haldersen die Augen und versuchte den Schmerz seiner Existenz zu lindern. Ein weiterer Tag. Ein wunderbarer, sonniger Tag. Fröhliche Menschen spielten im Park. Väter und Kinder. Ehemänner und ihre Frauen. Er biß sich auf die Unterlippe, so fest, daß die Haut fast aufplatzte. Er war ein Experte in der Kunst, sich selbst zu bestrafen. Sensoren, die in seinem Bett auf der Psychotrauma-Station des Fletcher Memorial Hospital angebracht waren, hielten ihn ständig
unter Beobachtung, schickten einen ununterbrochenen Strom von Meßwerten an Dr. Bryce und sein Team von Quacksalbern. Nate Haldersen wußte, daß er ein Mann ohne Geheimnisse war. Sein Hormonspiegel, sein Enzymumsatz, Atmung, Kreislauf, selbst der gallige Geschmack in seinem Mund – all das erfuhr umgehend das Krankenhauspersonal. Wenn die Sensoren feststellten, daß er unter die Depressionsschwelle sank, schoben sich Ultraschalldetektoren aus den Tiefen der Matratze empor, Influenzdüsen, die seine Lage auf dem Bett feststellten, die geeigneten Venen, fanden und ihn mit Aufputschmittel voll pumpten, um ihn aufzuheitern. Die moderne Wissenschaft war wunderbar. Sie konnte alles für Haldersen tun, nur seine Familie konnte sie ihm nicht zurückgeben. Die Tür glitt auf. Dr. Bryce trat ein. Das Aussehen des Oberquacksalbers entsprach seiner Rolle: Er war groß, ernst, aber charmant, mit ergrauten Schläfen, eindeutig jemand, der über Macht verfügte und in Geheimnisse eingeweiht war. Er setzte sich neben Haldersens Bett. Wie üblich gab er deutlich zu erkennen, daß er nicht vorhatte, die Reihe von Computerschirmen neben dem Bett anzusehen, auf denen die neuesten Details von Haldersens Zustand abzulesen waren. “Nate?” sagte er. “Wie geht's?” “Es geht”, murmelte Haldersen. “Möchten Sie ein Weilchen reden?” “Eigentlich nicht. Holen Sie mir einen Schluck Wasser?” “Klar”, sagte der Arzt. Er holte das Wasser und sagte: “Es ist ein wunderschöner Tag. Wie wär's mit einem Spaziergang im Park?” “Ich habe diesen Raum seit zweieinhalb Jahren nicht mehr verlassen, Doktor. Das wissen Sie doch.” “Es gibt immer einen Zeitpunkt, an dem man sich loslösen kann. Körperlich fehlt Ihnen überhaupt nichts, wissen Sie.” “Ich habe einfach keine Lust, mit Leuten zusammenzukommen”, sagte Haldersen. Er gab das leere Glas zurück. “Mehr?” “Wollen Sie etwas stärkeres trinken?” “Wasser ist ganz in Ordnung.” Haldersen schloß die Augen. Hinter seinen Lidern tanzten ungewollte Bilder: die Linienrakete, wie sie
über dem Pol explodierte, wie die Passagiere sich aus ihr ergossen, gleich herbstlichen Samen, die aus ihrer Hülse hervorbrechen, wie Emily hinabstürzte, immer tiefer hinab, wie sie vierundzwanzigtausend Meter tief fiel, wobei ihr goldenes Haar vom dünnen, kalten Luftzug hochgewirbelt wurde, ihr kurzer Rock um ihre Hüften flatterte, ihre wunderbaren langen Beine den Himmel nach einem festen Halt absuchten. Und wie die Kinder neben ihr herabfielen, Engel, die vom Himmel stürzen, hinab, immer tiefer hinab, dem beruhigend weißen Vlies des Polareises entgegen. Sie schlafen in Frieden, dachte Haldersen, und ich habe den Flug verpaßt, ich bin als einziger zurückgeblieben. Und Hiob sprach und sagte: Verdammet sei der Tag, da ich geboren wurde, und die Nacht, da es hieß: Es ist ein Knabe empfangen. “Das ist elf Jahre her”, sagte Dr. Bryce zu ihm. “Warum können Sie nicht davon ablassen?” “Was für dummes Gerede von einem sogenannten Psychiater. Warum läßt es nicht von mir ab?” “Sie wollen nicht, daß es das tut. Sie sind zu sehr in Ihre Rolle verliebt.” “Heute ist wohl wieder die harte Tour dran, wie? Holen sie mir noch etwas Wasser.” “Stehen Sie auf und holen Sie es sich selbst”, sagte der Arzt. Haldersen lächelte bitter. Er verließ sein Bett, durchquerte etwas unsicher den Raum und füllte sein Glas. Er hatte viele verschiedene Arten von Therapie durchgemacht – Zuwendungstherapie, Streittherapie, Drogen, Schocktherapie, ortho doxe Freud'sche Analyse, das ganze Repertoire. Sie hatten ihm allesamt nicht geholfen. Immer blieb das Bild einer sich öffnenden Kapsel und fallender Gestalten vor einem stahlblauen Himmel. Der Herr hat gegeben und der Herr hat genommen; gelobt sei der Name des Herrn. Meine Seele ist dieses Lebens müde. Er hob das Glas an die Lippen. Elf Jahre. Ich habe den Flug verpaßt. Ich habe mit Marie gesündigt, und Emily ist gestorben, und John, und Beth. Wie es sich wohl anfühlte, so tief zu fallen? War es wie fliegen? Spielte dabei Ekstase mit? Haldersen füllte sein Glas ein weiteres Mal.
“Durstig heute, was?” “Ja”, sagte Haldersen. “Sind Sie sicher, daß Sie nicht einen kleinen Spaziergang machen wollen?” “Sie wissen genau, daß ich das nicht will.” Ein Zittern durchlief Haldersens Körper. Er drehte sich um und faßte den Psychiater am Oberarm. “Wann wird es vorbeigehen, Tim? Wie lange muß ich das mit mir herumschleppen?” “Bis Sie gewillt sind, es abzulegen.” “Wie kann ich eine bewußte Anstrengung unternehmen, etwas zu vergessen? Tim, Tim, gibt es keine Droge, die ich nehmen könnte, etwas, das die Erinnerung fortschwemmt, die mich umbringt?” “Nichts Wirksames.” “Sie lügen”, murmelte Haldersen. “Ich habe von den Amnesieerzeugern gelesen. Von den Enzymen, welche die Gedächtnis-RNS fressen. Den Experimenten mit Di-Isopropyl-Fluorphosphat. Puromycin. Die -” Dr. Bryce sagte: “Wir haben keine Kontrolle über ihre Wirkung. Wir können nicht einfach einen einzelnen Block traumatischer Erinnerungen aufspüren und dabei den Rest Ihres Gedächtnisses unversehrt lassen. Wir müßten auf gut Glück um uns schlagen und hoffen, daß wir den Herd treffen, ohne je genau zu wissen, was wir noch alles löschen. Sie würden ohne Ihr Trauma aufwachen, aber vielleicht auch ohne Erinnerung an irgend etwas anderes, das Sie im Alter von, sagen wir, vierzehn bis vierzig erlebt haben. Vielleicht werden wir in fünfzig Jahren genau genug Bescheid wissen, um die Dosis an einen bestimmten –” “Ich kann nicht fünfzig Jahre warten.” “Es tut mir leid, Nate.” “Geben Sie mir die Droge trotzdem. Ich nehme das Risiko sonstiger Verluste auf mich.” “Darüber reden wir ein andermal, ja? Diese Drogen befinden sich im Experimentalstadium. Wir müßten uns monatelang mit der Bürokratie herumschlagen, ehe ich die Genehmigung bekommen könnte, sie an einem Menschen zu testen. Sie müssen sich darüber im
klaren sein –” Haldersen schaltete ab. Er sah nur noch mit seinem inneren Auge, sah die stürzenden Leiber, durchlebte zum abermillionsten Mal seinen Verlust, schlüpfte mühelos in seine selbstge wählte Rolle des Hiob zurück. Ich bin den Drachen ein Bruder und den Eulen ein Gefährte. Er hat mich niedergeworfen auf jegliche Weise, und ich bin verloren: Und meine Hoffnung hat er genommen wie einen Baum. Der Arzt fuhr fort zu reden. Haldersen fuhr fort, ihm nicht zuzuhören. Er goß sich mit zitternden Händen ein weiteres Glas Wasser ein. Es war fast Mitternacht an jenem Mittwoch, ehe Pierre Gerard, seine Frau, ihre beiden Söhne und ihre Tochter Gelegenheit hatten, ihr Abendessen einzunehmen. Sie waren die Inhaber, Köche und das gesamte Personal des Restaurants Petit Pois in der Sansome Street, und das Geschäft war den ganzen Abend außerordentlich, ja erschöpfend gut gewesen. Normalerweise konnten sie gegen halb sechs essen, ehe der abendliche Ansturm begann, aber heute hatten die Leute früher einzutreffen begonnen – zweifellos vom guten Wetter zum Überschwang verführt –, und seit der Cocktailstunde hatte keiner von ihnen mehr auch nur einen Augenblick Muße gehabt. Die Gerards waren lebhaftes Geschäft gewöhnt, denn ihnen gehörte das wahrscheinlich beliebteste in Familienbesitz befindliche Bistro der ganzen Stadt, mit leidenschaftlich treuer Stammkundschaft. Trotzdem, ein Abend wie dieser war einfach zuviel. Sie verzehrten bescheiden die Fehlschläge des Abends: einen übergaren Lammrücken, einen leicht nach Korken schmeckenden 97er Chateau Beychevelle, ein zusammengefallenes Souffle und ähnliches. Sie waren sparsame Leute. Ihr einziger Luxus war das Evian-Wasser, das sie aus Frankreich importierten. Pierre Gerard hatte seit dreißig Jahren seine Heimatstadt Lyon nicht mehr betreten, aber er bewahrte viele Gebräuche seines Mutterlandes, einschließlich der traditionellen Haltung gegenüber Wasser. Ein Franzose trinkt nicht viel Wasser; aber das, was er trinkt, kommt immer aus der
Flasche, nie aus dem Hahn. Jedes andere Verhalten hieße, ein Leberleiden zu riskie ren. Und auf seine Leber mußte man achtgeben. An jenem Abend holte Freddy Munson Helene in ihrer Wohnung in der Geary Street ab und fuhr mit ihr wie üblich über die Brücke nach Sausalito zum Abendessen bei Ondine's. Ondine's war eines von nur vier Restaurants, allesamt berühmt und alteingesessen, in denen Munson in regelmäßigem Turnus speiste. Er war ein Mann mit festen Gewohnheiten. Er wachte unfehlbar jeden Morgen um sechs Uhr auf und befand sich um sieben an seinem Schreibtisch bei der Börsenmaklerfirma, um sich in die Datenkanäle einzuklinken und zu erfahren, was auf den europäischen Finanzmärkten geschehen war, während er geschlafen hatte. Um halb acht Ortszeit öffnete die New Yorker Bö rse, und dann begann das eigentliche Geschäft. Bis halb zwölf war New York für den Tag abgehakt, dann ging Munson um die Ecke zum Mittagessen, und zwar immer ins Petit Pois, dessen Besitzer er mit zum Millionär gemacht hatte, indem er ihm zweieinhalb Jahre vor der großen Fusion Anteile an mehreren Tochterfirmen der Consolidated Nucleonics besorgt hatte. Um halb zwei war Munson dann wieder im Büro, um auf eigene Rechnung Geschäfte an der Pacific Coast-Börse zu tätigen; an drei Tagen in der Woche ging er um drei nach Hause, aber dienstags und donnerstags blieb er bis gegen fünf, um einige Transaktionen an den Börsen von Honolulu und Tokio mitzubekommen. Danach ging es zum Dinner, ins Theater oder ins Konzert, immer in angenehmer weiblicher Begleitung. Gegen Mitternacht versuchte er zum Schlafen oder doch mindestens ins Bett zu kommen. Ein Mann in Freddy Munsons Position mußte ordentlich sein. Seine Unterschlagungen von seinen Klienten beliefen sich zu jedem beliebigen Zeitpunkt auf sechs bis neun Millionen Dollar, und er bewahrte sämtliche Details seiner Manipulationen in seinem Kopf auf. Er konnte es nicht wagen, sie aufzuschreiben, weil es überall Scanneraugen gab und er konnte sie erst recht nicht dem Datennetz anvertrauen, da allgemein bekannt war, daß jede Information, die man in einen Computer eingab, unweigerlich einem anderen Computer zugänglich war, ganz egal, wie komplex der Schutzcode
war, mit dem man die Eingabe belegte. Also war es für Munson notwendig, sich an fünfzig oder mehr illegale Transaktionen, an eine ständig wechselnde Kette von Unterschlagungen erinnern zu können, und ein Mann, der eine derartige unumgängliche Gedächtnisdisziplin praktiziert, entwickelt bald die Gewohnheit, diese Disziplin auch auf alle anderen Bereiche seines Lebens auszudehnen. Helene kuschelte sich an ihn. Ihr schwach psychedelisches Parfüm stieg ihm in die Nase. Er schaltete den Wagen in den SausalitoRegelkreis ein und lehnte sich bequem zurück, während der Verkehrskontrollcomputer die Steuerung übernahm. Helene sagte: “Ich habe gestern im Haus der Bryces zwei Skulpturen von deinem bankrotten Freund gesehen.” “Paul Mueller?” “Den meine ich. Die Skulpturen waren sehr gut. Eine von ihnen hat mich angeschnarrt.” “Was hast du bei den Bryces zu suchen?” “Ich bin mit Lisa Bryce aufs College gegangen. Sie hat mich zusammen mit Marty eingeladen.” “Ich wußte gar nicht, daß du schon so alt bist”, sagte Munson. Helene kicherte. “Lisa ist erheblich jünger als ihr Mann, Liebling. Was kostet eine Skulptur von Paul Mueller?” “So um die Fünfzehn- bis Zwanzigtausend. Mehr bei besonderen Objekten.” “Und trotzdem ist er pleite?” “Paul besitzt ein seltenes Talent zur Selbstzerstörung”, sagte Munson. “Er versteht einfach nichts von Geld. Aber in gewisser Weise ist das seine künstlerische Rettung. Je tiefer er verschuldet ist, um so besser werden seine Arbeiten. Er schöpft sozusagen aus seiner Verzweiflung. Obwohl er sich bei der neuesten Krise übernommen zu haben scheint. Er hat völlig aufgehört zu arbeiten. Ein Künstler, der nicht arbeitet, versündigt sich an der Menschheit.” “Du kannst dich manchmal so gut ausdrücken, Freddy”, sagte Helene leise. Als der Sagenhafte Montini am Donnerstagmorgen erwachte, bemerkte er nicht sofort, daß sich etwas verändert hatte. Sein
Gedächtnis war, gleich einem guten Diener, immer zur Hand, wenn er es benötigte, aber die Menge perfekt gespeicherter Fakten, die er in seinem Gehirn aufbewahrte, blieb unter der Oberfläche, bis er sie benötigte. Ein Bibliothekar mochte seine Regale durchsehen und feststellen, daß Bücher fehlten; es war Montini nicht möglich, ähnliche Lücken in seinen Synapsen zu entdecken. Er war vor einer halben Stunde aufgestanden, war unter die Molekulardusche getreten, hatte sein Frühstück abge rufen und Nadia geweckt, um ihr zu sagen, sie solle die Zubringerreservierungen nach Las Vegas bestätigen, als er schließlich, gleich einem Konzertpianisten, der einige Arpeggien herunterspult, um seine Finger für die tägliche Arbeit zu lockern, in den Speicher seines Gedächtnisses griff, um ein wenig Shakespeare hervorzuholen, und es erschien kein Sha kespeare. Er blieb ganz still stehen, die Hände auf dem Astrolabium, das sein Panoramafenster schmückte, und starrte in plötzlicher Verwirrung auf die Brücke hinaus. Er hatte es nie nötig gehabt, zur Vergegenwärtigung von Fakten eine bewußte Anstrengung zu unternehmen. Er hatte lediglich hingeschaut, und da waren sie, aber wo war Shakespeare? Wo war die linke Spalte der Seite 136, die rechte Spalte der Seite 654, wo die rechte Spalte der Seite 806, sechzehn Zeilen von oben? Fort? Er zog Nieten. Der Bildschirm seines Gehirns zeigte ihm nur leere Seiten. Ganz ruhig. Dies ist ungewöhnlich, aber keine Katastrophe. Du mußt aus irgendeinem Grund verspannt sein, und darum forcierst du, das ist alles. Entspann dich, zieh etwas anderes aus dem Speicher. Die New York Times vom Mittwoch, dem 3. Oktober, 1973. Ja, da war sie, die Titelseite, wunderbar klar, in der unteren rechten Ecke der Bericht über das Baseball-Spiel, die Schlagzeile über das Flugzeugunglück groß und schwarz, sogar den Urhe berhinweis für das Foto konnte er deutlich erkennen. Sehr gut. Jetzt versuchen wir's mal mit Der St. Louis Post-Dispatch von Sonntag, dem 19. April, 1987. Montini erschauerte. Er sah die obersten zehn Zentimeter der Seite, sonst nichts. Ausgelöscht. Er ging die anderen von ihm gespeicherten Zeitungen durch, die er
sich für seine Nummer eingeprägt hatte. Einige waren vorhanden. Andere nicht. Einige, wie die Post-Dispatch, waren zum Teil gelöscht. Röte stieg ihm ins Gesicht. Wer hatte an seinem Gedächtnis herumgepfuscht? Er versuchte es noch einmal mit Shakespeare. Nichts. Er versuchte es mit dem Chikagoer Datennetz-Adreßbuch von 1997. Es war da. Er versuchte es mit seinem Erdkundebuch der dritten Grundschulklasse. Es war da, das große rote Buch mit dem verschmierten Druck. Er versuchte es mit dem Fünf-Uhr-Xerofax-Bulletin vom letzten Freitag. Weg. Er schwankte und sank auf den Diwan, den er, wie er sich erinnerte, am neunzehnten Mai 1985 für 4200 türkische Pfund in Istanbul gekauft hatte. “Nadia!” rief er. “Nadia!” Seine Stimme war kaum mehr als ein Krächzen. Sie kam gelaufen, die Augen erst halb geschminkt, ihr Morgengesicht verzogen. “Wie sehe ich aus?” wollte er wissen. “Mein Mund – ist mein Mund in Ordnung? Meine Augen?” “Dein Gesicht ist ganz gerötet.” “Abgesehen davon!” “Ich weiß nicht”, keuchte sie. “Du scheinst furchtbar aufge regt zu sein, aber –” “Die Hälfte meines Gedächtnisses ist verschwunden”, sagte Montini. “Ich muß einen Schlaganfall gehabt haben. Kannst du eine Gesichtslähmung feststellen? Das ist eins der Symptome. Hol meinen Arzt, Nadia! Ein Schlaganfall, ein Schlaganfall! Das bedeutet für Montini das Ende!” Als Paul Mueller am Mittwoch gegen Mitternacht aufwachte und sich seltsam erfrischt fühlte, versuchte er, sich zu orientieren. Warum war er vollständig angezogen, und warum hatte er geschlafen? Vielleicht ein Nickerchen, das sich zu lange ausge dehnt hatte? Er versuchte, sich zu erinnern, was er im Laufe des Tages getan hatte, aber es gelang ihm nicht, einen Hinweis darauf zu finden. Er war verwirrt, aber nicht beunruhigt; seine vorherrschende Empfindung
war ein übermächtiger Drang, sich an die Arbeit zu machen. In seinem Kopf drängten sich die Vorstellungen von fünf Skulpturen, alle vollständig geplant und geradezu danach schreiend, konstruiert zu werden. Am besten fange ich gleich an, dachte er. Ich arbeite bis zum Morgen durch. Die kleine zwitschernde, silbrige – die ist das Richtige für den Anfang. Ich werde den Entwurf skizzieren, vielleicht sogar einen Teil der Aufbauten angehen – “Carole?” rief er. “Carole, bist du da?” Seine Stimme hallte in dem seltsam leeren Apartment wider. Zum ersten Mal bemerkte Mueller, wie wenig Möbel herumstanden. Ein Bett – eigentlich ein Feldbett, nicht ihr Doppelbett – und ein Tisch und eine winzige Warmhalteeinheit für Speisen und etwas Geschirr. Kein Teppichboden. Wo waren seine Skulpturen, wo war seine Privatsammlung seiner eigenen besten Arbeiten? Er betrat sein Studio und stellte fest, daß es von Wand zu Wand leer war, all sein Werkzeug auf mysteriöse Weise verschwunden, nur ein paar nicht mehr gebrauchte Skizzen lagen auf dem Boden. Und seine Frau? “Carole? Carole?” Er begriff das alles nicht. Während er schlief, hatte anscheinend jemand die Wohnung ausgeräumt, seine Möbel, seine Skulpturen, sogar den Teppich gestohlen. Mueller hatte von solchen Diebstählen gehört. Sie kamen mit einem Lastwagen, traten ziemlich dreist auf und gaben sich als Möbelpacker aus. Vielleicht hatten sie ihm eine Art Droge verabreicht, während sie arbeiteten. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, daß sie seine Skulpturen mitgenommen hatten; der Rest war unwichtig, aber er hatte diese zwölf Arbeiten wie seinen Augapfel gehütet. Ich sollte lieber die Polizei rufen, beschloß er und eilte zum Terminal der Dateneinheit, doch die war ebenfalls verschwunden. Würden Einbrecher so etwas auch mitnehmen? Auf der Suche nach Aufklärung huschte er von Wand zu Wand und entdeckte eine Notiz in seiner eigenen Handschrift. Morgen früh Freddy Munson anrufen und drei Riesen borgen. Ticket nach Caracas kaufen. Modellierzeug kaufen. Caracas? Vielleicht eine Urlaubsreise? Und warum sollte er eine
Modellierausrüstung kaufen? Offenbar war das Werkzeug schon fort gewesen, bevor er eingeschlafen war. Warum? Und wo war seine Frau? Was ging hier eigentlich vor? Er fragte sich, ob er jetzt gleich Freddy anrufen sollte, statt bis zum Morgen zu warten. Vielleicht wußte Freddy Bescheid. Und Freddy war um Mitternacht immer schon zu Hause. Wahrscheinlich hatte er eins seiner verdammten Mädchen bei sich und würde nicht gestört werden wollen, aber zum Teufel damit; was nützte es, Freunde zu haben, wenn man sie in einer Krise nicht belästigen dur fte? Auf dem Weg zur nächstgelegenen öffentlichen Kommunikatorzelle eilte er aus seinem Apartment und stieß im Flur beinahe mit einem geschniegelten Mahnroboter zusammen. Diese Dinger kennen keine Gnade, dachte Mueller. Die belästigen einen zu jeder Tages- und Nachtzeit. Zweifellos war dieser hier auf dem Weg, um dieser Schmarotzerfamilie Nicholson am Ende des Flurs Scherereien zu machen. Der Roboter sagte: “Mr. Paul Mueller? Ich bin rechtmäßig bestellter Repräsentant der Firma International Fabrikation Cartel Amalgamated. Ich bin hier, um Sie davon in Kenntnis zu setzen, daß Ihr Konto einen Fehlbetrag von $ 9.150,55 aufweist, und dieser Betrag wird ab morgen früh 0900 Uhr mit einem Strafzins von insgesamt 5 Prozent monatlich belegt, da Sie auf unsere bishe rigen drei Zahlungsaufforderungen nicht reagiert haben. Ich muß Sie weiterhin davon unterrichten, daß -” “Du hast ja nicht mehr alle Neutrinos im Schrank”, fuhr Mueller ihn an. “Ich schulde I.F.C. keinen Cent! Endlich einmal bin ich im Plus, und versuche nicht, mir das Gegenteil einzureden.” Der Roboter erwiderte geduldig: “Soll ich Ihnen die Transaktionen ausdrucken? Am fünften Januar 2003 haben sie bei uns die folgenden Metallprodukte bestellt: drei Viermeterrohre aus geflammtem Iridium, sechs Zehnzentimeterkugeln aus –” “Der fünfte Januar 2003 ist leider erst in drei Monaten”, sagte Mueller, “und ich habe keine Zeit, mir verrückte Roboter anzuhören. Ich habe einen wichtigen Anruf zu erledigen. Wirst du es wohl schaffen, mich ins Datennetz zu schalten, ohne alles
durcheinanderzubringen?” “Ich bin nicht autorisiert, Ihnen zu gestatten, von meinen Systemeinrichtungen Gebrauch zu machen.” “Sperrenüberbrückung wegen Notfall”, sagte Mueller. “Menschliches Wesen in Gefahr. Da sag' mal was dagegen!”. Die Kondit ionierung des Roboters war intakt. Die Behaup tung eines Notfalls veranlaßte ihn sofort, eine Verbindung zum Hauptkommunikationsnetz herzustellen. Mueller gab Freddy Munsons Nummer durch. “Ich kann lediglich eine Audioverbindung herstellen”, sagte der Roboter und stellte den Anruf durch. Es verging fast eine Minute. Dann knurrte Freddy Munsons wohlbekannte tiefe Stimme aus dem Lautsprechergitter in der Brust des Roboters: “Wer ist da und was wollen Sie?” “Hier spricht Paul. Es tut mir leid, daß ich dich stören muß, Freddy, aber ich bin in großen Schwierigkeiten. Ich glaube, ich verliere den Verstand, oder aber alle anderen verlieren ihren.” “Vielleicht verlieren alle anderen den Verstand. Wo liegt das Problem?” “Meine sämtlichen Möbel sind verschwunden. Ein Mahnroboter versucht, mich um neun Riesen anzugehen. Ich weiß nicht, wo Carole ist. Ich kann mich nicht erinnern, was ich heute den ganzen Tag gemacht habe. Ich habe hier eine Notiz über Tickets nach Caracas, die ich selbst geschrieben habe, und ich weiß nicht, warum. Und –” “Vergiß den Rest”, sagte Munson. “Ich kann nichts für dich tun. Ich habe meine eigenen Probleme.” “Kann ich. wenigstens vorbeikommen, um mit dir zu reden?” “Auf gar keinen Fall!” Mit gesenkter Stimme sagte Munson: “Hör zu, Paul, ich wollte dich nicht anschreien, aber hier ist etwas passiert, etwas sehr Beunruhigendes -” “Du mußt dich nicht verstellen. Du hast Helene bei dir, und du möchtest, daß ich dich in Ruhe lasse. Schon gut.” “Nein. Ehrlich”, sagte Munson. “Ich habe Probleme, ganz plötzlich. Ich bin ganz und gar nicht in einer Position, um dir zu helfen. Ich brauche selbst Hilfe.”
“Inwiefern? Kann ich irgendwas für dich tun?” “Ich fürchte nein. Und wenn du mich jetzt entschuldigst, Paul –” “Sag mir wenigstens eines. Wo ci h Carole finden kann. Hast du irgendeine Ahnung?” “Bei ihrem Mann zu Hause, würde ich sagen.” “Ich bin ihr Mann.” Es entstand eine lange Pause. Endlich sagte Munson: “Paul, sie hat sich letzten Januar von dir scheiden lassen und im April Pete Castine geheiratet.” “Nein”, sagte Mueller. “Wie, nein?” “Nein, das ist nicht möglich.” “Hast du irgendwelche Pillen eingeworfen, Paul? Irgendwas geschnupft? Gras geraucht? Hör mal, es tut mir leid, aber ich habe jetzt nicht die Zeit, um –” “Sag' mir wenigstens, was heute für ein Tag ist.” “Mittwoch.” “Welcher Mittwoch?” “Mittwoch, der achte Mai. Zu dieser nachtschlafenen Zeit eigentlich schon Donnerstag, der neunte.” “Und welches Jahr?” “Um Himmels willen, Paul –” “Welches Jahr?” “2003.” Mueller sank in sich zusammen. “Freddy, ich habe irgendwo ein halbes Jahr verloren! Für mich ist noch Oktober 2002. Ich leide unter einer seltsamen Art von Amnesie. Das ist die einzige Erklärung.” “Amnesie”, sagte Munson. Der angespannte Tonfall schwand aus seiner Stimme. “Ist es das, was du hast? Amnesie? Ob es wohl so etwas wie eine Amnesie-Epidemie gibt? Ist sie ansteckend? Vielleicht solltest du doch lieber hier vorbeikommen. Weil Amnesie nämlich auch mein Problem ist.” Donnerstag, der 9. Mai, versprach genauso schön zu werden wie der vorangegangene Tag. Wieder strahlte die Sonne über San Francisco, der Himmel war klar, die Luft mild und warm.
Commander Braskett erwachte wie immer früh am Morgen, rief sein übliches spartanisches Frühstück ab, studierte die morgendlichen Xerofax-Nachrichten, verbrachte eine Stunde damit, seine Memoiren zu diktieren, und verließ gegen neun das Haus zu einem Spaziergang. Die Straßen waren außerge wöhnlich belebt, stellte er fest, als er das Einkaufsviertel an der Haight Street erreichte. Die Leute wanderten ziellos und verwirrt umher, fast wie Schlafwandler. Waren sie betrunken? Standen sie unter Drogen? Dreimal innerhalb von fünf Minuten wurde Commander Braskett von jungen Männern angehalten, die das Datum wissen wollten. Nicht die Uhrzeit, das Datum. Er sagte es ihnen, kurz angebunden, verächtlich, er versuchte, tolerant zu sein, aber es fiel ihm schwer, Leute nicht zu verachten, die so schwach waren, daß sie ungedingt ihr Gehirn mit Stimulantien, Narkotika, psychedelischen Drogen und ähnlichem Müll vergiften mußten. An der Ecke Haight/Masonic Street hielt ihn ein verloren wirkendes hübsches Mädchen von etwa siebzehn Jahren mit großen, ausdruckslosen blauen Augen an und sagte: “Sir, diese Stadt ist doch San Francisco, oder etwa nicht? Ich meine, ich sollte im Mai aus Pittsburgh hierher ziehen, und wenn wir jetzt Mai haben, dann ist dies San Francisco, stimmt's?” Commander Braskett nickte brüsk und wandte sich peinlich berührt ab. Er war erleichtert, als er einen alten Freund, Lou Sandler, den Geschäftsführer der Bank of America-Filiale, auf der anderen Straßenseite erblickte. Sandler stand vor dem Eingang zur Bank. Commander Braskett ging zu ihm hinüber und sagte: “Ist es nicht eine Schande, Lou, daß heute morgen die ganze Straße voller Süchtiger ist? Was hat das zu bedeuten, irgendeine Jubiläumsfeier zum Gedenken an die 60er Jahre?” Woraufhin Sandler ihm ein leeres Lächeln schenkte und sagte: “Ist das mein Name? Lou? Sie wissen nicht zufällig auch noch meinen Nachnamen? Irgendwie ist er mir entfallen.” In jenem Augenblick erkannte Commander Braskett, daß mit seiner Stadt etwas Schreckliches geschehen war, vielleicht sogar mit dem ganzen Land, daß die Machtübernahme der Linken, die er schon so lange gefürchtet hatte, jetzt eingetreten sein mußte und es
nun für ihn an der Zeit war, seine alte Uniform wieder anzulegen und zu tun, was er konnte, um dem Feind entgegenzutreten. Nate Haldersen erwachte an jenem Morgen voller Freude und Verwirrung und stellte fest, daß er auf irgendeine seltsame und wunderbare Weise verwandelt worden war. Sein Kopf pochte, aber nicht vor Schmerz. Ihm schien, als sei eine schreckliche Last von seinen Schultern genommen worden, als habe die furchtbare Totenha nd an seinem Hals endlich ihren Griff gelockert. Von unzähligen Fragen erfüllt sprang er aus dem Bett. Wo bin ich? Was ist dies für ein Ort? Warum bin ich nicht zu Hause? Wo sind meine Bücher? Warum fühle ich mich so wohl? Es schien sich hier um ein Krankenhauszimmer zu handeln. Ein Schleier überzog sein Gedächtnis. Er durchstieß dessen trübe Falten und erinnerte sich, daß er sich – letzten August - nein, vorletzten August – selbst im Fletcher Memorial Hospital – in Behandlung begeben hatte, weil er an schweren seelischen Störungen gelitten hatte, hervorgerufen durch – hervorgerufen durch – Noch nie hatte er sich glücklicher gefühlt als in diesem Moment. Er erblickte einen Spiegel. In ihm war die obere Hälfte von Dr. phil. Nathaniel Haldersen zu sehen. Nate Haldersen lächelte sich zu. Ein großer, schmaler, langnasiger Mann mit lächerlich strohfarbenem Haar, lächerlich blauen Augen, schmalen, lächelnden Lippen. Ein knochiger Körper. Er knöpfte sein Pyjamaoberteil auf. Blasse, haarlose Brust, auf jeder Schulter ein knochiger Höcker, wie Epauletten. Ich war lange krank, dachte Haldersen. Jetzt muß ich hier heraus, zurück in meinen Hörsaal. Ende des Urlaubs. Wo sind meine Kleider? “Schwester? Doktor?” Er drückte seinen Klingelknopf dreimal hintereinander. “Hallo? Ist da jemand?” Niemand erschien. Seltsam; sie kamen sonst immer. Haldersen zuckte die Achseln und trat in den Flur hinaus. An dessen anderem Ende erblickte er drei Krankenwärter, die sich mit zusammengesteckten Köpfen unterhielten. Sie ignorierten ihn. Ein Serviceroboter, der Frühstückstabletts trug, glitt an ihm vorbei. Einen Augenblick später kam einer der jüngeren Ärzte den Flur entlang
gerannt und weigerte sich, anzuhalten, als Haldersen ihn rief. Verärgert ging er in sein Zimmer zurück und sah sich nach Kleidung um. Er fand keine, lediglich einen kleinen Haufen Zeitschriften am Boden des Einbauschranks. Er betätigte den Klingelknopf weitere drei Male. Endlich kam einer der Roboter ins Zimmer. “Es tut mir leid”, sagte er, “aber das menschliche Krankenhauspersonal ist zur Zeit beschäftigt. Kann ich Ihnen behilflich sein, Dr. Haldersen?” “Ich möchte einen Satz Kleidungsstücke. Ich verlasse das Krankenhaus.” “Es tut mir leid, aber es gibt keinen Hinweis auf Ihre Entlassung. Ohne Zustimmung von Dr. Bryce, Dr. Reynolds oder Dr. Kamakura ist es mir nicht erlaubt, Ihnen zu gestatten, sich zu entfernen.” Haldersen seufzte. Er wußte, daß es keinen Sinn hatte, sich mit einem Roboter zu streiten. “Wo befinden diese drei Herren sich denn im Augenblick?” “Sie sind beschäftigt, Sir. Wie Sie vielleicht wissen, befindet sich heute morgen die Stadt im medizinischen Notstand, und Dr. Bryce und Dr. Kamakura helfen, das Komitee für öffentliche Sicherheit zu organisieren. Dr. Reynolds hat sich heute früh nicht zum Dienst gemeldet, und es ist uns nicht gelungen, seinen Aufenthaltsort zu ermitteln. Es wird angenommen, daß er ein Opfer der gegenwärtigen Schwierigkeiten ist.” “Was für gegenwärtige Schwierigkeiten?” “Massiert auftretender Gedächtnisverlust auf Seiten der Humanbevölkerung”, sagte der Roboter. “Eine Amnesie-Epidemie?” “Das ist eine der Interpretationen des Problems.” “Wie kann so etwas –” Haldersen unterbrach sich. Er verstand jetzt den Grund für seine Freude heute morgen. Erst gestern nachmittag hatte er mit Tim Bryce die Anwendung gedächtnislöschender Drogen auf sein eigenes Trauma diskutiert, und Bryce hatte gesagt Haldersen erinnerte sich nicht mehr an die Ursache seines eigenen Traumas. “Warte”, sagte er, als der Roboter im Begriff war, das Zimmer zu
verlassen. “Ich brauche Informationen. Aus welchem Grund war ich hier in Behandlung?” “Sie haben an sozialer Desorientierung und Verdrängungssymptomen gelitten, deren Ursprung, glaubt Dr. Bryce, in einer Situation traumatischen persönlichen Verlustes liegt.” “Verlust wovon?” “Ihrer Familie, Dr. Haldersen.” “Ja. Das stimmt. Ich entsinne mich jetzt – ich hatte eine Frau und zwei Kinder. Emily. Und ein kleines Mädchen – Margaret oder Elizabeth, oder so ähnlich. Und einen Jungen namens John. Was ist ihnen zugestoßen?” “Sie waren Passagiere an Bord des Intercontinental Airways-Fluges Nr. 103, von Kopenhagen nach San Francisco, am 5. September 1991. Das Flugzeug wurde über dem arktischen Ozean von explosionsartiger Dekompression betroffen, und es gab keine Überlebenden.” Haldersen nahm diese Information so ruhig auf, als teile man ihm die Ermordung Julius Caesars mit. “Wo hielt ich mich auf, als das Unglück geschah?” “In Kopenhagen”, erwiderte der Roboter. “Sie hatten beabsichtigt, gemeinsam mit Ihrer Familie mit Flug Nr. 103 nach San Francisco zurückzukehren. Ihrer hier gespeicherten Akte zufolge verwickelten Sie sich jedoch in eine emotionale Beziehung zu einer Frau namens Marie Rasmussen, die Sie in Kopenhagen kennen gelernt hatten, und erreichten deshalb nicht mehr rechtzeitig Ihr Hotel, um noch zum Flughafen gelangen zu können. Ihre Frau, der die Situation offenbar bekannt war, beschloß, nicht auf Sie zu warten. Ihr kurz darauf erfolgter Tod, sowie der Ihrer Kinder, rief bei Ihnen eine traumatische Schuldreaktion hervor, die dazu führte, daß Sie sich für ihr Ableben verantwortlich fühlten.” “Es sieht mir ähnlich, eine solche Haltung dazu einzunehmen, nicht wahr?” sagte Haldersen. “Schuld und Sühne. Mea culpa, mea maxima culpa. Ich habe den Begriff der Sünde immer sehr ernst genommen, selbst wenn ich gerade dabei war, zu sündigen. Ich hätte ein alttestamentarischer Prophet werden sollen.”
“Soll ich Ihnen weitere Informationen zukommen lassen, Sir?” “Gibt es denn noch weitere?” “In unseren Akten findet sich Dr. Bryces Bericht mit dem Titel Der Hiob-Komplex: Eine Studie schuldinduzierter Paralyse.” “Erspar mir das”, sagte Haldersen. “Es ist gut, geh jetzt.” Er war wieder allein. Der Hiob-Komplex, dachte er. Nicht ganz passend, oder? Hiob war ein Mann ohne Sünde, und doch wurde er schwer geprüft, um eine Laune des Allmächtigen zu befriedigen. Es wäre ein wenig anmaßend, würde ich meinen, mich mit ihm zu identifizieren. Kain wäre eine bessere Wahl. (Und Kain sprach zum Herrn: Meine Strafe ist schwerer, als ich ertragen kann. Aber Kain war ein Sünder. Ich war ein Sünder.) Ich habe gesündigt und Emily ist dafür gestorben. Wann war das, vor elf, elfeinhalb Jahren? Und jetzt weiß ich nichts mehr darüber, außer dem, was mir die Maschine gerade erzählt hat. Erlösung durch Vergessen, würde ich das nennen. Ich habe für meine Sünde gebüßt, und jetzt bin ich frei. Ich habe in diesem Krankenhaus nichts mehr verloren. Eng ist die Pforte und schmal der Pfad, der in das Leben führet, und wenige sind es, die ihn erkennen. Ich muß hier raus. Vielleicht kann ich anderen behilflich sein. Er knotete den Gürtel seines Bademantels, nahm einen Schluck Wasser und verließ das Zimmer. Niemand hielt ihn auf. Der Aufzug schien nicht zu funktionieren, aber er fand die Treppe und stieg etwas unsicher hinab. Er hatte sich seit mehr als einem Jahr nicht mehr so weit von seinem Zimmer entfernt. Auf den unteren Stockwerken des Krankenhauses herrschte Chaos – Ärzte, Krankenwärter, Roboter, Patienten, alle liefen sie aufgeregt durcheinander. Die Roboter versuchten, die Leute zu beruhigen und sie in die ihnen zugewiesenen Räume zurückzugeleiten. “Verzeihung”, sagte Haldersen gelassen. “Verzeihung. Verzeihung.” Er verließ das Krankenhaus durch den Haupteingang, ohne angehalten zu werden. Die Luft draußen war frisch wie neuer Wein; als sie ihm in die Nase stieg, meinte er, er müsse in Tränen ausbrechen. Erlösung durch Vergessen. Die Katastrophe hoch über der Arktis beherrschte nicht mehr seine Gedanken. Er betrachtete sie
genau wie etwas, das vor langer Zeit der Familie eines anderen Mannes geschehen war. Haldersen begann lebhaft die Van Ness Avenue entlang zu gehen, wobei er spürte, wie mit jedem Schritt die Kraft in seine Beine zurückströmte. Eine heftig schluchzende junge Frau schoß aus einem Gebäude hervor und stieß mit ihm zusammen. Er fing sie auf, stützte sie und war von seiner eigenen Kraft überrascht, als er sie vor dem Fallen bewahrte. Sie zitterte und schmiegte ihren Kopf an seine Brust. “Kann ich irgend etwas für Sie tun?” fragte er. “Kann ich Ihnen behilflich sein?” Während des Dinners bei Ondine's am Mittwochabend begann Panik sich auf Freddy Munson herabzusenken. Er hatte mitten während der getrüffelten Hühnerbrüstchen angefangen, sich über Helene zu ärgern, also hatte er begonnen, über geschäftliche Einzelheiten nachzudenken; zu seinem Erstaunen schienen die Details in seinem Kopf nicht ganz richtig geordnet zu sein und so verspürte er einen ersten Anflug von Schrecken. Das Ärgerliche war, daß Helene sich endlos über die Kunst der Klangskulptur im Allgemeinen und Paul Mueller im Besonderen ausließ. Ihr Interesse war stark genug, um bei Munson einen leichten Anfall von Eifersucht hervorzurufen. Bereitete sie sich darauf vor, von seinem Bett in das von Paul zu hüpfen? Dachte sie daran, den wohlhabenden, gutaussehenden, aber im Grunde prosaischen Börsenmakler zugunsten des verantwortungslosen, verarmten, faszinierend begabten Bildhauers zu verlassen? Natürlich traf sich Helene auch mit einer Anzahl anderer Männer, aber die kannte Munson, und als Rivalen zählten sie für ihn nicht; es handelte sich um Nullen, Begleiter, die ihre müßigen Abende füllten, während er zu beschäftigt war, um sich mit ihr zu treffen. Bei Paul Mueller lag der Fall jedoch anders. Munson konnte den Gedanken nicht ertragen, Helene könne ihn zugunsten von Paul verlassen. Also verlagerte er seine Konzentration auf die geschäftlichen Manipulationen des Tages. Er hatte dem Schaeffer-Konto eintausend Anteile der Vorzugsaktien zu $ 5,87 entnommen und sie als Sicherheit angegeben, um den Fehlbetrag bei den ComsatSchuldverschreibungen zu decken, und dann hatte er das Howard-
Konto um fünftausend Pfandbriefanteile der South-east Energy Corporation erleichtert, um damit – oder waren die Pfandbriefe vom Brewster-Konto gekommen? Brewster besaß viele Anteile von Energiebetrieben. Das gleiche galt für Howard, aber auf dessen Konto, gingen bevorzugt Mid-Atlantic Power-Anteile, konnte sich also darauf auch noch ein Haufen Southeast Energy befinden? Auf alle Fälle hatte er die Pfand briefe beim Züricher Termingeschäft mit Uran eingesetzt, oder sicherten sie seine Beteiligung an der ÖlGeschichte in der Antarktis ab? Er konnte sich nicht erinnern. Er konnte sich nicht erinnern. Er konnte sich nicht erinnern. Jede Transaktion hatte ihr eigenes Fach besessen. Plötzlich waren die Trennwände verschwunden. In seinem Gehirn purzelten Ziffern umher, als befände sich sein Kopf im freien Fall. Sämtliche Geschäfte von heute wirbelten durcheinander. Es erschreckte ihn. Er begann sein Essen herunterzuschlingen, wollte nur noch hier weg, wollte Helene loswerden, es bis nach Hause schaffen und seine Aktivitäten vom vergangenen Nachmittag rekonstruieren. Seltsamerweise konnte er sich ganz deutlich an alles erinnern, was er gestern unternommen hatte - das Xerox-Switchgeschäft, die StahlArbitrage – aber der heutige Tag wurde von Minute zu Minute verschwommener. “Geht's dir nicht gut?” fragte Helene. “Nein”, sagte er. “Ich habe mir irgendwas geholt.” “Den Venus-Virus. Alle Welt hat ihn zur Zeit.” “Ja, das muß es sein. Der Venus-Virus. Du solltest dich heute abend lieber von mir fernhalten.” Sie ließen das Dessert aus und machten sich schnell aus dem Staub. Er setzte Helene bei ihrer Wohnung ab; sie schien kaum enttäuscht zu sein, was ihn beunruhigte, jedoch lange nicht so sehr wie das, was mit seinem Gedächtnis geschah. Als er endlich allein war, versuchte er die Ereignisse seines Arbeitstages in Umrissen aufzuschreiben, aber inzwischen war ihm noch mehr entfallen. Im Restaurant hatte er noch gewußt, mit welchen Aktien er zu tun gehabt hatte, obwohl er sich nicht sicher gewesen war, was er mit ihnen gemacht hatte. Jetzt
konnte er sich nicht einmal mehr der Namen der Papiere entsinnen. Er hatte Millionen von Dollar, die anderen Leuten gehörten, für sich verplant, und jedes Detail dieser Transaktionen war in seinem Gehirn gespeichert, und sein Gehirn war dabei, sich aufzulösen. Zu dem Zeitpunkt, als Paul Mueller anrief, kurz nach Mitternacht, war Munson bereits der Verzweiflung nahe. Er war erleichtert, wenn auch nicht gerade erheitert, als er erfuhr, daß dieser seltsame Einfluß, der sein Gedächtnis ange griffen hatte, Mueller noch viel härter getroffen hatte. Mueller hatte alles vergessen, was seit letztem Oktober geschehen war. “Du bist bankrott gegangen”, mußte Munson ihm erklären. “Du hattest diesen wirren Plan ausgeheckt, eine zentrale Makleragentur für Kunstwerke einzurichten, eine Art Effektenbörse – ein Unterfangen, wie es nur ein Künstler in Angriff nehmen würde. Ich konnte dich nicht davon abbringen. Dann hast du begonnen, Wechsel zu unterschreiben und an Bedingungen geknüpfte Verbindlichkeiten einzugehen, und ehe das Projekt sechs Wochen alt war, hattest du ein halbes Dutzend Zivilklagen am Hals, und die ganze Sache begann zu kippen.” “Wann genau ist das passiert?” “Die Idee ist dir Anfang November gekommen. Um Weihnachten warst du schon in großen Schwierigkeiten. Du hattest bereits einen Haufen persönliche Schulden aus der Zeit davor, die unbezahlt geblieben waren, und dein Guthaben schmolz dahin und in deiner Arbeit bist du an eine schreckliche Sperre geraten und hast überhaupt nichts mehr zustande gebracht. Kannst du dich wirklich an überhaupt nichts mehr von alledem erinnern, Paul?” “An gar nichts.” “Nach dem ersten Januar fingen die Gläubiger, die am schnellsten reagierten, damit an, gegen dich Verfügungen zu erwirken. Sie pfändeten alles, was dir gehörte, außer den Möbeln und dann holten sie auch noch die Möbel. Du hast von all deinen Freunden geborgt, aber sie konnten dir nicht annä hernd genug geben, weil du dir Tausende geliehen hast und Hunderttausende schuldig warst.” “Um wie viel bin ich dich angegangen?”
“Um elf Riesen”, sagte Munson. “Aber mach dir darüber jetzt keine Sorgen.” “Mache ich mir auch nicht. Ich mache mir um gar nichts Sorgen. In meiner Arbeit war eine Sperre aufgetreten, sagst du?” Mueller kicherte. “Die ist jedenfalls verschwunden. Es juckt mich geradezu, mit der Arbeit anzufangen. Alles, was ich brauche, ist Werkzeug ich meine Geld, um mir Werkzeug zu kaufen.” “Was würde das denn kosten?” “Zweieinhalb Riesen”, sagte Mueller. Munson räusperte sich. “Na gut. Ich kann das Geld nicht auf dein Konto überweisen, weil deine Gläubiger es sofort pfänden lassen würden. Ich hole etwas Bargeld von der Bank. Du kannst morgen drei Riesen haben, und ich gönne sie dir.” “Du bist ein Engel, Freddy”, sagte Mueller. “Diese Art Gedächtnisschwund ist eine gute Sache. Ich habe mir so viele Sorgen um Geld gemacht, daß ich nicht mehr arbeiten konnte. Jetzt mache ich mir überhaupt keine Sorgen mehr. Ich nehme an, ich habe immer noch Schulden, aber ich rege mich nicht darüber auf. Erzähl mir jetzt, was mit meiner Ehe passiert ist.” “Carole hatte dich satt und die Schnauze voll”, sagte Munson. “Sie war von Anfa ng an gegen deinen Einstieg ins Geschäftsleben. Als dieses Leben dich aufzufressen begann, hat sie getan, was sie konnte, um dich daraus zu befreien, aber du wolltest unbedingt mit noch mehr Krediten die Geschichte durchziehen, und da hat sie die Scheidung eingereicht. Als sie frei war, hat Peter Castine zugeschlagen und sie sich gekrallt.” “Das ist der Teil der Geschichte, den ich am wenigsten glauben kann. Daß sie einen Kunsthändler heiraten würde, einen vollkommen unkreativen Menschen, einen – einen Parasiten eigentlich –” “Sie waren schon immer gut miteinander befreundet”, sagte Munson. “Ich möchte nicht behaupten, er war ihr Geliebter, weil ich darüber nichts Genaues weiß, aber sie standen sich nahe. Und Pete ist eigentlich gar nicht so schrecklich. Er besitzt Geschmack, Intelligenz, alles was ein Künstler braucht, außer Begabung. Ich halte es sowieso für gut möglich, daß sie begabte Menschen satt hatte.”
“Wie habe ich es aufgenommen?” fragte Mueller. “Du schienst es kaum zu bemerken, Paul. Du warst zu sehr mit deinen Finanzschiebereien beschäftigt.” Mueller nickte. Er schlenderte zu einer seiner eigenen Arbeiten hinüber, einem drei Meter hohen Arrangement aus oszillierenden Metallstäben, welches das ganze Klangspektrum bis in die höchsten Kilohertzbereiche durchlief, und fuhr mit zwei Fingern über das Aktivatorauge. Die Skulptur begann zu raunen. Nach ein paar Augenblicken sagte Mueller: “Du hast dich furchtbar aufgeregt angehört, als ich dich anrief, Freddy. Du sagst, du würdest auch unter einer Art Amnesie leiden?” Bemüht, gelassen zu erscheinen, sagte Munson: “Ich stelle fest, daß ich mich an einige wichtige Transaktionen, die ich heute durchgeführt habe, nicht mehr erinnern kann. Unglücklicherweise sind sie außer in meinem Kopf nirgendwo aufge zeichnet. Aber vielleicht werden mir die Informationen wieder einfallen, wenn ich erst mal darüber geschlafen habe.” “Dabei kann ich dir überhaupt nicht helfen.” “Nein. Das kannst du nicht.” “Woher kommt diese Amnesie, Freddy?” Munson zuckte die Achseln. “Vielleicht hat jemand eine Droge in die Wasserversorgung getan oder die Nahrungsmittel vergiftet oder so was. Heutzutage weiß man ja nie. Hör mal. Ich habe noch zu tun, Paul. Falls du heute nacht hier schlafen willst –” “Ich bin hellwach, danke. Ich komme morgen früh wieder vorbei.” Nachdem der Bildhauer gegangen war, bemühte sich Munson eine Stunde lang fieberhaft, seine Daten zu rekonstruieren, aber es gelang ihm nicht. Kurz vor zwei nahm er eine Vier- Stunden-Schlaftablette. Als er wieder aufwachte, erkannte er voller Entsetzen, daß er an die Zeit vom l. April bis zum gestrigen Mittag überhaupt keine Erinnerung mehr hatte. Während dieser fünf Wochen hatte er zahllose Wertpapiertransaktionen getätigt, wobei er anderer Leute Eigentum als Sicherheiten benutzt und auf seine Fähigkeit vertraut hatte, jedes Teilchen in seinem Puzzlespiel wieder an seinen angestammten Platz zurücklegen zu können, ehe die
Wahrscheinlichkeit bestand, daß jemand danach suchte. Er hatte immer die Fähigkeit besessen, sich an alles zu erinnern. Jetzt konnte er sich an gar nichts mehr erinnern. Er betrat wie immer um sieben Uhr früh sein Büro und schaltete sich gewohnheitsmäßig in die Datenkanäle ein, um die Züricher und Londoner Notierungen zu studieren, aber die auf dem Schirm erscheinenden Preise sagten ihm nichts, und da wußte er, daß es um ihn geschehen war. Im gleichen Augenblick am Donnerstagmorgen löste der Hauscomputer von Dr. Timothy Bryce einen Impuls aus, und die Weckstimme in seinem Kopfkissen sagte ruhig, aber bestimmt: “Es ist Zeit, aufzuwachen, Dr. Bryce.” Er regte sich, blieb jedoch liegen. Nach Ablauf der vorgegebenen zehn Sekunden sagte die Stimme in etwas schärferem Tonfall: “Es ist Zeit, aufzuwachen, Dr. Bryce.” Gerade noch rechtzeitig richtete Bryce sich auf; das Heben des Kopfes vom Kissen schaltete die dritte, erheblich strengere Wiederholung aus, der die ersten Akkorde der Jupiter-symphonie gefolgt wären. Der Psychiater öffnete die Augen. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, daß er das Bett mit einem bestechend attraktiven Mädchen teilte. Sie war honigblond, mit tief gebräunter Haut, hellbraunen Augen, vollen, blassen Lippen und einem geschmeidigen, ele ganten Körper. Sie wirkte ziemlich jung, gut zwanzig Jahre junger als er – so etwa zwischen fünf- und achtundzwanzig Jahre alt. Sie war unbekleidet und in tiefen Schlaf versunken, wobei ihre Unterlippe zu einer Art unwillkürlichem Schmollen herabgesunken war. Weder ihre Jugend noch ihre Schönheit oder ihre Nacktheit überraschten ihn, verwirrend fand er lediglich, daß er keine Ahnung hatte, wer sie war oder wie sie dazu kam, bei ihm im Bett zu liegen. Er hatte das Gefühl, sie noch nie gesehen zu haben. Jedenfalls wußte er ihren Namen nicht. Hatte er sie gestern abend bei irgendeiner Party aufgegabelt? Irgend wie konnte er sich nicht erinnern, wo er gestern abend gewesen war. Er berührte sanft ihren Ellbogen. Sie erwachte schnell, klapperte mit den Augenlidern, schüttelte den Kopf.
“Oh”, sagte sie, als sie ihn erblickte, und zog die Bettdecke bis unter den Hals hoch. Dann ließ sie sie mit einem Lächeln wieder sinken. “Was für ein Unsinn. Es hat keinen Zweck, jetzt noch schamhaft zu sein, will mir scheinen.” “Mir auch. Hallo.” “Hallo”, sagte sie. Sie wirkte genauso verwirrt wie er. “Es hört sich wahrscheinlich dumm an”, sagte er, “aber irgend jemand muß mir gestern abend ein kurioses Kraut untergejubelt haben, denn ich furchte, ich bin mir nicht sicher, wie ich dazu gekommen bin, Sie mit nach Hause zu nehmen. Oder wie Sie heißen.” “Lisa”, sagte sie. “Lisa – Falk.” Sie stolperte über den Nachnamen. “Und Sie sind –” “Tim Bryce.” “Sie erinnern sich nicht, wo wir uns kennengelernt haben?” “Nein”, sagte sie. “Ich auch nicht.” Er stieg aus dem Bett, wobei ihn seine eigene Nacktheit zögern ließ, aber er unterdrückte seine Hemmungen. “Also muß man uns beiden das Gleiche zu rauchen gegeben haben. Weißt du” – er grinste schüchtern – “ich kann mich nicht einmal erinnern, ob wir uns gestern abend zusammen gut amüsiert haben. Ich hoffe, daß es so war.” “Ich glaube, ja”, sagte sie. “Ich kann mich auch nicht daran erinnern. Aber ich fühle mich von innen her wohl – so, wie ich mich sonst fühle, wenn ich –” Sie hielt inne. “Wir können uns nicht erst gestern abend kennen gelernt haben, Tim.” “Woher willst du das wissen?” “Ich habe das Gefühl, als würde ich dich schon länger kennen.” Bryce zuckte die Achseln. “Ich sehe nicht ganz, wie. Ich meine, ohne jetzt allzu grob klingen zu wollen, offenbar waren wir gestern abend beide high, so richtig gut drauf, und da haben wir uns kennen gelernt und sind hierher gekommen, und –” “Nein. Ich fühle mich hier zu Hause. Als wäre ich vor vielen Wochen hier bei dir eingezogen.”
“Ein wunderbarer Gedanke. Aber ich bin sicher, daß du das nicht getan hast.” “Warum fühle ich mich dann hier so zu Hause?” “In welcher Hinsicht?” “In jeder Hinsicht.” Sie ging zum Schlafzimmerschrank hinüber und ließ ihre Hand auf der Tastplatte ruhen. Die Schrank tür glitt auf; offenbar hatte er den Hauscomputer auf ihre Fingerabdrücke eingestellt. Hatte er das auch gestern abend getan? Sie griff hinein. “Meine Sachen”, sagte sie. “Schau. All diese Kleider, Mäntel, Schuhe. Eine komplette Garderobe. Es kann keinen Zweifel geben. Wir haben zusammengelebt und können uns nicht daran erinnern!” Ein kalter Schauer überlief ihn. “Was hat man mit uns angestellt? Ziehen wir uns an und frühstücken, dann gehen wir zusammen ins Krankenhaus und lassen uns untersuchen. Wir -” “Ins Krankenhaus?” “Ins Fletcher Memorial. Ich arbeite dort in der neurologischen Abteilung. Was immer man uns auch gestern abend verabreicht hat, jedenfalls leiden wir davon beide unter lakunärer, retrograder Amnesie – einer Lücke in unserem Gedächt nis -, und es könnte etwas Ernstes sein. Falls es Gehirnschä den verursacht hat, sind sie vielleicht noch nicht irreversibel, oder wir können es uns nicht leisten, damit zu spaßen.” Sie fuhr sich ängstlich mit der Hand an den Mund. Bryce verspürte plötzlich das dringende Bedürfnis, diese wunderschöne Fremde zu beschützen, sie zu behüten und zu trösten, und er erkannte, daß er in sie verliebt sein mußte; obwohl er sich nicht erinnern konnte, wer sie war. Er durchquerte das Zimmer, um sie kurz, aber innig zu umarmen; sie reagierte freudig auf seine Umarmung, wobei sie ein wenig zitterte. Um Viertel vor acht hatten sie das Haus verlassen und waren bei ungewöhnlich geringem Verkehr unterwegs zur Klinik. Bryce führte das Mädchen eilig zum Personalaufenthaltsraum. Ted Kamakura war bereits anwesend und umgezogen. Der kleine japanische Psychiater nickte kurz und sagte: “Morgen, Tim.” Dann blinzelte er. “Guten Morgen, Lisa. Wie kommt es, daß du hier bist?” “Kennst du sie?” fragte Bryce.
“Was ist das denn für 'ne Frage?” “Eine todernste.” “Natürlich kenne ich sie”, sagte Kamakura, und sein Begrüßungslächeln verschwand abrupt. “Warum? Ist daran irgend was nicht in Ordnung?” “Du kennst sie vielleicht, aber ich nicht”, sagte Bryce. “Oh mein Gott. Nicht auch noch du!” “Sag' mir, wer sie ist, Ted.” “Sie ist deine Frau, Tim. Du hast sie vor fünf Jahren geheiratet.” Um halb zwölf am Donnerstagvormittag hatte die Familie Gerard alle Vorbereitungen getroffen und war für den mittäglichen Ansturm im Petit Pois gerüstet. Die Suppe brodelte im Topf, die Bleche mit Escargots standen bereit, um in den Ofen geschoben zu werden und die Saucen nahmen Gestalt an. Pierre Gerard war ein wenig überrascht, als die meisten seiner mittäglichen Stammgäste nicht erschienen. Selbst Mr. Munson, der sonst immer pünktlich um halb zwölf eintraf, war nicht gekommen. Einige dieser Männer hatten seit fünfzehn Jahren an keinem Wochentag den Lunch im Petit Pois ausgelassen. An der Börse muß sich etwas Schreckliches ereignet haben, dachte Pierre, das all diese Geldleute an ihre Schreibtische fesselt, und nun sind sie zu beschäftigt, anzurufen und ihre Tischreservie rung abzubestellen. Das mußte die Antwort sein. Es war undenkbar, daß irgendeiner seiner Stammgäste vergessen würde, ihn anzurufen. An der Börse mußte der Teufel los sein. Pierre ermahnte sich, daran zu denken, daß er nach dem Lunch seinen Makler anrufen und herausfinden mußte, was vorging. Gegen zwei Uhr am Donnerstagnachmittag ging Paul Mueller bei Metchinkoff's Art Supplies vorbei, dem Künstlerbedarfsladen in North Beach, um zu versuchen, einen Lötkolben, etwas Rohmetall, Lautsprecherfarbe und all die anderen Dinge zu bekommen, die er für die Wiedergeburt seiner Bildhauerkarriere benötigte. Metchnikoff begrüßte ihn mürrisch mit den Worten: “Bei mir bekommen Sie keinen Kredit, Mr. Mueller, nicht einmal fünf Cents!” “Das geht schon in Ordnung. Diesmal zahle ich bar.” Die Miene des Händlers hellte sich auf. “In dem Fall geht es
vielleicht in Ordnung. Haben Sie Ihre Schwierigkeiten überwunden?” “Ich hoffe es”, sagte Mueller. Er gab seine Bestellung auf. Sie belief sich auf etwa $ 2.300 als der Zeitpunkt zum Bezahlen gekommen war, erklärte er, daß er nur mal kurz in die Montgomery Street laufen müsse, um das Geld von seinem Freund Freddy Munson zu holen, der drei Riesen für ihn bereithielt. Metchnikoff begann wieder finster dreinzublicken. “Fünf Minuten!” rief Mueller. “Ich bin in fünf Minuten zurück!” Aber als er Munsons Büro betrat, stellte er fest, daß überall Aufruhr herrschte und Munson nicht da war. “Hat er einen Umschlag für Mr. Mueller hinterlassen?” fragte er eine vollkommen verwirrte Sekretärin. “Ich sollte heute nachmittag hier etwas Wichtiges abholen. Würden Sie bitte mal nachschauen?” Das Mädchen rannte einfach vor ihm davon. Ebenso das nächste Mädchen. Ein stämmiger Makler teilte ihm mit, er solle aus dem Büro verschwinden. “Wir haben geschlossen, Mann”, brüllte er. Verwirrt ging Mueller wieder. Da er sich nicht traute, mit der Nachricht zu Metchnikoff zurückzukehren, daß es ihm doch nicht gelungen war, das Geld auf zutreiben, ging Mueller einfach nach Hause. Drei Mahnroboter belagerten seine Wohnungstür, und alle begannen sie ihre Hiobsbotschaften zu krächzen, als er erschien. “Tut mir leid”, sagte Mueller, “ich kann mich an all das überhaupt nicht erinnern”, dann betrat er seine Wohnung und ließ sich auf dem nackten Boden nieder, wütend, weil er an all die brillanten Stücke dachte, die er hätte schaffen können, wäre er nur irgendwie an Werkzeug gekommen. Statt dessen machte er Skizzen. Wenigstens hatten die Leichenfledderer ihm Bleistift und Papier gelassen. Na ja, das war vielleicht nicht so effizient wie ein Computerschirm und ein Lichtgriffel, aber Michelangelo und Benvenuto Cellini waren auch ganz gut ohne Computerschirme und Lichtgriffel ausgekommen. Um vier Uhr klingelte es an der Tür. “Verschwinde”, sagte Munson durch die Gegensprechanlage. “Wende dich an meinen Finanzberater! Ich will keine Mahnungen mehr hören, und das nächste Mal, wenn ich einen von euch
idiotischen Robotern vor meiner Tür antreffe, dann –” “Ich bin's, Paul”, sagte eine nichtmechanische Stimme. Carole. Er eilte zur Tür. Dort draußen standen sieben Roboter und umringten sie, versuchten, durch die Tür zu kommen, aber er stieß die Belagerer zurück, so daß sie eintreten konnte. Ein Roboter durfte es nicht wagen, ein menschliches Wesen anzurühren. Er knallte ihnen die Tür vor den metallenen Nasen zu und verriegelte sie. Carole sah gut aus. Ihr Haar war länger als zu seiner Zeit, sie hatte etwa acht Pfund zugenommen, verteilt auf all die richtigen Stellen, und sie trug einen schillernden Umhang mit Gucklöchern, den er nie zuvor gesehen hatte und der eigentlich nicht das richtige Kleidungsstück für den Nachmittag war, ihr jedoch hervorragend stand. Sie wirkte mindestens fünf Jahre jünger, als sie in Wirklichkeit war; offenbar waren ihr anderthalb Monate Ehe mit Peter Castine besser bekommen als neun Jahre Ehe mit Paul Mueller. Sie strahlte einen gewissen Glanz aus. Außerdem wirkte sie nervös und angespannt, aber das schien nur oberflächlich zu sein, das Produkt irgendeiner Aufregung der letzten paar Stunden. “Ich scheine meinen Schlüssel verloren zu haben”, sagte sie. “Was willst du hier?” “Ich verstehe dich nicht, Paul.” “Ich meine, warum bist du hierher gekommen?” “Ich wohne hier.” “Tatsächlich?” Er lachte rauh. “Sehr witzig.” “Du hattest schon immer einen seltsamen Sinn für Humor, Paul.” Sie trat an ihm vorbei. “Nur daß es sich hierbei um keinen Witz handelt. Wo ist denn alles geblieben? Die Möbel, Paul. Meine Sachen.” Plötzlich brach sie in Tränen aus. “Ich glaube, ich werde verrückt. Heute morgen wache ich in einem völlig fremden Apartment auf, völlig alleine, dann verbringe ich den ganzen Tag damit, wie betäubt herumzuwandern, was ich überhaupt nicht begreife, und nun komme ich endlich nach Hause und stelle fest, daß du unseren gesamten verdammten Besitz verpfändet hast oder so was, und –” Sie biß sich auf die Knöchel. “Paul?”
Es hat sie auch erwischt, dachte er. Die Amnesie-Epidemie. Ruhig sagte er. “Es mag sich komisch anhören, daß ich dich das frage, Carole, aber könntest du mir sagen, was wir heute für ein Datum haben?” “Also – den vierzehnten September – oder haben wir den fünfzehnten –” “2002?” “Was glaubst du denn? 1776?” Es hat sie noch schlimmer erwischt als mich, sagte sich Mueller. Sie hat einen ganzen Monat mehr verloren. Sie erinnert sich nicht an meinen Versuch, ins Geschäftsleben einzusteigen. Sie erinnert sich nicht, daß ich all mein Geld verloren habe. Sie erinnert sich nicht daran, daß sie sich hat von mir scheiden lassen. Sie glaubt immer noch, sie sei meine Frau. “Komm hier herein”, sagte er und führte sie ins Schlafzimmer. Er deutete auf das Feldbett, das an der gleichen Stelle stand, wo sich vorher ihr Ehebett befunden hatte. “Setz dich, Carole. Ich werde versuchen, es dir zu erklären. Es wird nicht sehr viel Sinn ergeben, aber ich werde es zu erklären versuchen.” Unter den gegebenen Umständen wurde das Konzert des gastierenden New Yorker Philharmonischen Orchesters am Donnerstagabend abgesagt. Trotzdem versammelte sich das Orchester um halb drei am Nachmittag zu einer Probe. Die Gewerkschaft bestand auf einer gewissen Anzahl – bezahlter Proben pro Woche; und deshalb probte das Orchester unge achtet der verheerenden Umwälzungen, die sich in der Außenwelt abspielten. Aber es gab Probleme. Maestro Alvarez, der einen elektronischen Dirigentenstab benutzte und stolz darauf war, daß er ohne Partitur dirigierte, drückte den Knopf für einen Auftakt, und mit einem Gefühl, als stürze er durch eine Falltür, stellte er plötzlich fest, daß die Vierte von Brahms vollständig aus seinem Gedächtnis verschwunden war. Das Orchester reagierte holperig auf seine zögernde Anleitung; einige der Musiker hatten keinerlei Schwierigkeiten, aber der Konzertmeister starrte entgeistert auf seine
linke Hand und fragte sich, wie er wohl die Finger auf die Saiten setzen müsse, um die Töne zu erzeugen, die seine Violine hervorzubringen hatte, und die zweite Oboe konnte die richtigen Klappen nicht finden, und der erste Fagottist hatte es noch nicht einmal geschafft, sich zu erinnern, wie sein Instrument zusammenzusetzen war.
Gegen Abend war es Tim Bryce gelungen, sich die Geschichte soweit zusammenzureimen, daß er begriff, was da nicht nur ihm und Lisa, sondern der gesamten Stadt passiert war. Eine oder mehrere Drogen, die mit ziemlicher Sicherheit über die kommunale Wasserversorgung verbreitet worden waren, hatten dazu geführt, daß beinahe jedermann das Gedächtnis versagte. Das ist halt der Haken am modernen Leben, dachte Bryce, daß uns die Technologie jedes Jahr die Möglichkeit zu immer neuen, komplizierteren Katastrophen an die Hand gibt, aber sie befähigt uns offenbar nicht dazu, uns vor ihnen zu schützen. Gedächtnisdrogen waren ein alter Hut, es gab sie seit dreißig, vierzig Jahren. Er selber hatte sich ausführlich mit mehreren Arten beschäftigt. Erinnerung ist einesteils ein chemischer Prozeß, andernteils ein elektrischer, einige der Drogen setzten am elektrischen Ende an und blockierten die Synapsen, über die sich Gehirnströme fortpflanzen, wieder andere entfalteten im molekularen Zellgewebe ihre Wirkung, in dem Langzeiterinnerungen festgelegt sind. Bryce wußte, wie man das Kurzzeitgedächtnis zerstört, indem man die synaptische Übertragung behindert, und er wußte, wie man das Langzeitge dächtnis zerstört, indem man die komplexen Ribonukleinsäure-Ketten vernichtet, jene RNS des Gehirns, mittels derer es dem Gehirn eingeprägt wird. Aber derartige Drogen hatten experimentellen Charakter, waren unzuverlässig und unvorhersehbar in ihrer Wirkung; er hatte Bedenken gehabt, sie auf menschliche Versuchsobjekte anzuwenden; mit Sicherheit aber wäre es ihm nie eingefallen, jemand könne sie einfach in eine Wasserleitung schütten und einer ganzen Stadt eine simultane Lobotomie verpassen. Sein Büro im Fletcher Memorial war zu einer improvisierten
Operationszentrale für ganz San Francisco geworden. Der Bürgermeister war da, bleich und verhärmt; der Polizeichef drehte ihnen, erschöpft und ratlos wie er war, von Zeit zu Zeit den Rücken zu und warf eine Pille ein; ein benommen dreinblickender Medienbeauftragter lungerte in einer Zimmerecke herum und überwachte nervös das hastig aufgebaute Kommunikationssystem, mit dem das von Bryce einberufene Komitee für öffentliche Sicherheit seine Anweisungen überall in der Stadt bekanntmachen konnte. Der Bürgermeister war zu gar nichts zu gebrauchen. Er konnte sich nicht einmal erinnern, je für das Amt kandidiert zu haben. Der Polizeichef war in noch schlimmerer Verfassung, er war die ganze Nacht aufgewesen, weil er unter anderem seine Privatadresse vergessen hatte und sich scheute, einen Computer danach zu fragen, aus Angst, wegen Trunkenheit seinen Job zu verlieren. Inzwischen war sich der Polizeichef der Tatsache bewußt, daß er nicht der einzige in der Stadt war, der heute Probleme mit dem Gedächtnis hatte, und er hatte in den Akten seine Adresse nachgeschlagen und sogar schon mit seiner Frau telefoniert, aber er war dem Zusammenbruch nahe. Bryce hatte darauf bestanden, daß beide Männer als Symbole der öffentlichen Ordnung dablieben; er wollte allerdings nur ihre Gesichter und ihre Stimmen zu seiner Verfügung haben, nicht ihren strohköpfigen offiziellen Beistand. Darüber hinaus hatte sich etwa ein Dutzend sehr verschiedenartiger Bürger in Bryces Büro versammelt. Um fünf Uhr nachmittags hatte er über sämtliche Medien einen Appell ausgegeben und jedermann, dessen Erinnerung an kürzlich Vergangenes erhalten geblieben war, gebeten, zum Fletcher Memorial zu kommen. “Sollten Sie in den vergangenen vierundzwanzig Stunden kein städtisches Leitungswasser zu sich genommen haben, sind Sie vermutlich gesund. Kommen Sie hierher. Wir brauchen Sie.” Er hatte eine recht merkwürdige Versammlung angelockt. Da gab es den stocksteifen, greisen Weltraumhelden Taylor Braskett, einen Körnerfresser, der ausschließlich Gebirgswasser trank. Da gab es eine Familie französischer Gastwirte, Mutter, Vater, drei erwachsene
Kinder, die aus ihrer Heimat eingeflogenem Mineralwasser den Vorzug gaben. Da gab es einen Computerverkäufer mit Namen McBurney, der sich geschäftlich in Los Angeles aufgehalten und nichts von dem verseuchten Wasser zu sich genommen hatte. Da gab es einen pensionierten Polizisten namens Adler, der in Oakland wohnte, wo keine Gedächtnislücken auftraten; er war von jenseits der Bucht herbeigeeilt, sobald er hörte, daß San Francisco Probleme hatte. Das war vor dem Zeitpunkt gewesen, an dem auf Bryces Anordnung hin jeglicher Zugang zur Stadt gesperrt worden war. Und es gab noch ein paar andere von zweifelhaftem Nutzen, jedoch mit eindeutig intaktem Gedächtnis. Die drei Bildschirme, die der Kommunikationsmensch aufgestellt hatte, lieferten Bildfolgen von wichtigen Punkten in der Stadt. Soeben überwachte einer davon den Fisherman's-Wharf-Distrikt von einer Kamera hoch über dem Ghirardelli Square aus, einer verschaffte einen Überblick über das Bankenviertel von einem Hubschrauber über dem alten Ferry Building Museum aus, und einer übertrug Bilder, die von einem fahrenden Lastwagen im Golden Gate Park aufgenommen wurden. Überall glichen sich die Szenen: umherirrende Menschen, die Fragen stellten und keine Antworten bekamen. Noch gab es keine offenkundigen Hinweise auf Plünderungen. Nirgendwo brannte es. Die Polizei, jedenfalls der Teil, der bei Verstand geblieben war, befand sich im verstärkten Einsatz, und Aufruhrbekämpfungsroboter patrouillierten auf den Hauptverkehrsstraßen, nur für den Fall, daß man sie brauchte, um ihre erstickenden Schaumteppiche über plötzlich in Panik geratene Menschenansammlungen zu versprühen. Bryce wandte sich an den Bürgermeister: “Ich möchte, daß Sie um halb sieben über alle Medien den Appell verbreiten, Ruhe zu bewahren. Wir werden Sie mit allem versorgen, was Sie zu sagen haben.” Der Bürgermeister stöhnte. Bryce sagte: “Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde Ihnen die ganze Rede über Knochenleitung vorsagen. Konzentrieren Sie sich nur darauf, deutlich zu sprechen und direkt in die Kamera zu
schauen. Wenn Sie als völlig verängstigter Mann rüberkommen, kann das für uns alle das Ende bedeuten. Wenn Sie cool aussehen, kommen wir womöglich durch.” Der Bürgermeister schlug sich die Hände vors Gesicht. Ted Kamakura flüsterte: “Du kannst ihn nicht über den Äther schicken, Tim! Er ist ein Wrack, und jeder wird das sehen!” “Der Bürgermeister der Stadt muß sich zeigen”, beharrte Bryce. “Verpaß' ihm einen doppelten Schuß Beruhigungsmittel. Laß' ihn diese eine Rede halten, und dann können wir ihn aufs Altenteil schicken.” “Und wer soll dann der offizielle Sprecher sein?” fragte Kamakura. “Du? Ich? Polizeichef Dennison?” “Ich weiß nicht”, murmelte Bryce. “Wir brauchen eine Autoritätsfigur, die alle halbe Stunde oder so Bekanntmachungen verliest, und ich werde verdammt keine Zeit dazu haben. Du auch nicht. Und Dennison -” “Meine Herren, dürfte ich einen Vorschlag machen?” Es war der alte Raumfahrer Braskett, der das sagte. “Ich habe den Wunsch, mich als Sprecher zur Verfügung zu stellen. Sie müssen zugeben, ich strahle eine gewisse Autorität aus. Und ich bin es gewohnt, vor der Öffentlichkeit zu sprechen.” Bryce verwarf die Idee sofort. Dieser reaktionäre Irre, dieser passionierte Schreiber wirrer Leserbriefe an jedes Nachrichtenmedium im Staat, dieser Paul Revere der Neuzeit? Er als Sprecher des Komitees? Aber noch während er diese Idee verwarf, akzeptierte er sie. Niemand achtete im Grunde auf derartig abwegige politische Aktivitäten; wahrscheinlich kannten neun von zehn Leuten in San Francisco Braskett wenn überhaupt, nur als Helden der Ersten Marsexpedition. Außerdem war er ein ansehnlicher alter Gaul, in eleganter Manier und hager. Tiefe Stimme, standhafter Blick. Ein Mann voller Kraft und Präsenz. Bryce sagte: “Commander Braskett, falls wir Sie zum Vorsitzenden des Komitees für öffentliche Sicherheit ernennen –” Ted Kamakura gab ein Keuchen von sich. “ – hätte ich dann Ihre Zusicherung, daß sämtliche Meldungen, die
Sie abgeben würden, sich ausschließlich auf politische Äußerungen beschränken, die vom gesamten Komitee getragen werden.” Commander Braskett lächelte eisig. “Sie wollen mich als Galionsfigur benutzen, ist es das?” “Als unseren Sprecher, mit dem offiziellen Titel eines Vorsitzenden.” “Wie ich schon sagte: als Galionsfigur. Na gut, ich bin einverstanden. Ich werde wie eine brave Marionette meinen Text abliefern, und ich werde nicht versuchen, einen meiner radikalen, extremistischen Gedanken in meine Äußerungen einfließen zu lassen. Ist es das, was Sie wünschen?” “Ich glaube, wir verstehen uns ganz richtig”, sagte Bryce und lächelte und wurde ebenfalls überraschend herzlich angelä chelt. Nun hackte er auf sein Datenpult ein. Jemand im Pathologielabor acht Stockwerke unter seinem Büro meldete sich, und Bryce sagte: “Liegt schon eine aktuelle Analyse vor?” “Ich verbinde Sie mit Dr. Madison.” Madison erschien auf dem Bildschirm. Er war eigentlich Leiter der Radioisotopenabteilung des Krankenhauses: ein muskulöser, rotgesichtiger Mann, der aussah, als müsse er von Beruf Brauereivertreter sein. Er verstand etwas von seinem Fach. “Wir haben das natürlich bereits vor anderthalb Stunden theoretisch angenommen, aber nun gibt's keinen Zweifel mehr. Ich habe Spuren von zwei verschiedenen gedächtnislähmenden Drogen entdeckt, und es besteht die Möglichkeit, daß noch eine dritte vorhanden ist. Wer das auch gewesen sein mag, er ist kein Risiko eingegangen.” “Was sind das für Drogen?” fragte Bryce. “Nun ja, einmal wäre da ein kräftiger Schuß AcetylcholinTerminase”, sagte Madison, “was die Synapsen durcheinanderbringt und die Fixierung des Kurzzeitgedächtnisses stört. Dann gibt's noch etwas anderes, vermutlich ein Eiweiß lösendes Puromycin- Derivat, das sich an der Gehirn-RNS zu schaffen macht und weiter zurückliegende Erinnerungen vernichtet. Ich habe außerdem den Verdacht, daß wir es mit einem der neueren, im Versuchsstadium befindlichen Amnesieerzeugern zu tun haben, mit etwas, das ich
noch nicht isoliert habe und das in der Lage ist, sehr tief einzudringen und ganz grundle gende notorische Muster zu zerstören. Demnach haben die uns oben, unten und in der Mitte ihre Schläge versetzt.” “Das erklärt vieles. Die Kerle, die sich nicht entsinnen können, was sie gestern getan haben, die Kerle, die eine Portion ihrer Erinnerungen als Erwachsene verloren haben, und die, die sich nicht einmal mehr an ihre Namen erinnern können – das Zeug setzt bei den Leuten auf sämtlichen Gedächtnisebenen an.” “Je nach individuell verschiedenem Metabolismus, Alter, Gehirnstruktur, und danach, wie viel Wasser sie gestern trinken mußten, ja.” “Ist die Wasserversorgung immer noch damit verseucht?” fragte Bryce. “Ich würde mal versuchsweise sagen, nein. Ich habe mir Wasserproben aus den in der Wasserversorgung stromaufwärts gelegenen Bezirken kommen lassen, und dort ist alles in Ordnung. Das Wasseramt hat seine eigene Überprüfung durchge führt; sie sagen das gleiche. Offenbar ist das Zeug gestern früh ins System geraten, ist runter in die Stadt gekommen und inzwischen generell verschwunden. Könnte sein, daß noch Rückstände in den Leitungen sind; ich wäre jedenfalls auch heute noch vorsichtig mit dem Wassertrinken.” “Und was sagt die Pharmakologie über die Wirksamkeit dieser Drogen?” Madison zuckte die Achseln. “Keine Ahnung. Das müßten Sie eher wissen als ich. Läßt die Wirkung nach?” “Nicht im gewöhnlichen Sinn”, sagte Bryce. “Es geschieht folgendes: Das Gehirn stellt einen Notstromkreis auf und verschafft sich allmählich Zugang zu einem Duplikat der betroffenen Erinnerungen – schaltet sozusagen auf eine andere Band spur – vorausgesetzt, es war von Anfang an ein Duplikat des in Frage kommenden Gehirnsektors vorhanden, und vorausge setzt, das Duplikat ist nicht mit ausgelöscht worden. Einige Leute werden in ein paar Tagen oder ein paar Wochen Teile ihres Gedächtnisses
wiederkriegen. Andere nicht.” “Wunderbar”, sagte Madison. “Ich werde Sie auf dem Laufenden halten, Tim.” Bryce unterbrach die Verbindung und sagte zu dem Kommunikationsmann: “Haben Sie die Knochenleitung? Stecken Sie sie Seiner Exzellenz hinters Ohr.” Der Bürgermeister zuckte zusammen. Das kleine Instrument wurde an Ort und Stelle befestigt. Bryce sagte: “Herr Bürgermeister, ich werde Ihnen eine Rede diktieren, und Sie werden sie über sämtliche Medien verbreiten, und das ist das Letzte, was ich von Ihnen verlange, bis Sie die Gelegenheit hatten, sich wieder zu fangen. Okay? Hören Sie genau zu, was ich sage, sprechen Sie langsam, und tun Sie so, als sei morgen Wahltag und Ihr Amt hinge davon ab, wie gut Sie jetzt rüberkommen. Wir werden nicht live senden. Es wird eine Verzögerung von fünfzehn Sekunden geben, und wir verfügen über einen Löschkreis, so daß wir irgendwelche Versprecher korrigieren können, und es besteht absolut kein Grund, Lampenfieber zu haben. Konnten Sie mir soweit folgen? Sind Sie bereit, alles zu geben, was Sie haben?” “Ich bin ganz benebelt.” “Hören Sie mir einfach zu und wiederholen Sie vor der Kamera, was ich sage. Verlassen Sie sich auf Ihre Politikerreflexe. Hier haben Sie die Chance, einen Helden aus sich zu machen. Wir machen in diesem Moment Geschichte, Herr Bürgermeister. Was wir heute hier tun, wird ebensoviel Beachtung finden wie die Vorgänge anläßlich des Großbrandes 1906. Lassen Sie uns jetzt anfangen. Sprechen Sie mir nach. Ihr Menschen der wunderbaren Stadt San Francisco -” Die Worte kamen Bryce ohne Mühe von den Lippen, und, Wunder über Wunder, der Bürgermeister nahm sie auf und sprach sie mit deutlicher, herrlich tönender Stimme nach. Während er seine Rede fortentwickelte, spürte Bryce, wie ihn ein überwältigendes Machtgefühl durchströmte, und er stellte sich kurze Zeit vor, der gewählte Befehlshaber der Stadt zu sein und nicht nur ein selbsternannter Notstandsdiktator. Das war ein sehr interessantes,
beinahe ekstatisches Gefühl. Lisa, die ihm dabei zusah, schenkte ihm ein liebevolles Lächeln. Er lächelte ihr zu. In diesem ruhmreichen Augenblick gelang es ihm sogar beinahe, den Schmerz über das Wissen zu ignorieren, daß er sein gesamtes Gedächtnisarchiv über sein Leben mit ihr verloren hatte. Sonst fehlte offenbar nichts. Aber die Droge im Leitungswasser hatte all das sauber und mit idiotischer Selektivität abgeschnitten, was sich auf seine fünf Jahre Eheleben bezog. Kamakura hatte ihm vor einigen Stunden gesagt, es habe sich um die glücklichste Ehe gehandelt, die ihm je untergekommen sei. Vergessen. Wenigstens hatte Lisa aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz einen identischen Gedächtnisverlust erlitten. Das machte es irgendwie leichter zu ertragen; es wäre schrecklich gewesen, wenn sich einer von ihnen an die schöne Zeit erinnert und der andere gar nichts gewußt hätte. Er schaffte es beinahe, das peinigende Gefühl des Verlusts zu ignorieren, während er mit anderen Dingen beschäftigt war. Beinahe. “Der Bürgermeister wird in einer Minute sprechen”, sagte Nadia. “Willst du ihn hören? Er wird erklären, was passiert ist.” “Das geht mich nichts an”, sagte der Sagenhafte Montini trübsinnig. “Es ist irgendeine Art epidemischer Amnesie. Als ich vorhin draußen war, habe ich alles darüber” gehört. Jeder ist davon betroffen. Nicht nur du! Und du dachtest, es ist ein Schlaganfall, aber das war's gar nicht. Du bist gesund.” “Mein Verstand ist ruiniert.” “Doch nur vorübergehend.” Ihre Stimme klang schrill und wenig überzeugend. “Es ist vielleicht irgendwas in der Luft. Irgendeine Droge, die getestet wurde und hier eingeströmt ist. Wir haben allesamt damit zu tun. Ich kann mich überhaupt nicht an letzte Woche erinnern.” “Was geht mich das an?” sagte Montini. “Die meisten die ser Leute haben nicht einmal dann Erinnerungen, wenn sie kerngesund sind. Aber ich? Ich? Ich bin vernichtet. Nadia, ich sollte mich eigentlich gleich in mein Grab legen. Es hat keinen Sinn, weiter rumzulaufen.”
Die Stimme aus dem Lautsprecher sagte: “Meine Damen und Herren, Seine Exzellenz Elliot Chase, Bürgermeister von San Francisco.” “Laß' uns zuhören”, sagte Nadia. Der Bürgermeister erschien auf dem Wandschirm und hatte seine feierliche Miene aufgesetzt, sein Bürger-Wir-Stehen-Vor-EinerSchweren-Herausforderung-Gesicht. Montini warf einen flüchtigen Blick auf ihn, zuckte die Achseln und sah weg. Der Bürgermeister sagte: “Ihr Menschen der wunderbaren Stadt San Francisco, wir haben soeben den schlimmsten Tag seit fast einem Jahrhundert überstanden, seit jener entsetzlichen Katastrophe im April 1906. Heute hat die Erde nicht gebebt, auch sind wir nicht vom Feuer heimgesucht worden und doch hat uns ein plötzliches Unheil einer schweren Prüfung unterzogen. Wie Sie alle sicherlich wissen, wurde die Bevölkerung San Franciscos seit gestern abend von etwas betroffen, das man am besten als epidemische Amnesie bezeichnet. Es ist zu einem massenhaften Verlust des Gedächtnisses gekommen, der von leichten Fällen von Vergeßlichkeit bis zum beinahe totalen Identitätsverlust geht. Wissenschaftlern, die am Fletcher Memorial Krankenhaus tätig sind, ist es gelungen, die Ursache für diese einzigartige und plötzlich eingetretene Katastrophe festzustellen. Es hat den Anschein, als hätten kriminelle Saboteure die städtische Wasserversorgung mit gewissen verbotenen Drogen verseucht, deren Eigenschaft es ist, Gedächtnisstrukturen aufzulösen. Die Wirkung dieser Drogen ist zeitlich begrenzt. Es besteht im Grunde kein Anlaß zur Besorgnis. Selbst jene, die am stärksten betroffen sind, werden feststellen, daß ihre Erinnerungen allmählich wiederzukommen beginnen, und wir haben allen Grund, binnen Stunden oder Tagen die vollständige Erho lung zu erwarten.” “Er lügt”, sagte Montini. “Die Verantwortlichen sind bisher nicht gefaßt, aber wir rechnen jeden Moment mit ihrer Verhaftung. Das Stadtgebiet von San Francisco ist die einzige betroffene Region, woraus hervorgeht, daß die Drogen direkt außerhalb der Stadtgrenzen eingeleitet worden
sind. In Berkeley, in Oakland, in Marin County und anderen außerhalb gelegenen Bezirken ist alles normal. Mit Rücksicht auf die öffentliche Sicherheit habe ich angeordnet, daß die Brücken San Franciscos geschlossen werden, ebenso wie die Schnellbahn von der Bucht her und andere Zufahrten zur Stadt. Wir gehen davon aus, daß diese Restrik tionen zumindest bis morgen vormittag aufrechterhalten werden müssen. Ihr Zweck besteht darin, Unruhen vorzubeugen und einen möglichen Zustrom unerwünschter Elemente in die Stadt zu verhindern, solange die Probleme andauern. Wir Bewohner San Franciscos sind uns selbst genug, und wir können ohne Einmischung von draußen für uns selber sorgen. Allerdings habe ich mit dem Präsidenten und mit dem Gouverneur Kontakt aufgenommen, und beide haben mir jede mögliche Unterstützung zugesichert. Das Leitungswasser ist gegenwärtig frei von der Droge, und es werden alle Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, eine Wiederho lung dieses Verbrechens gegen eine Million unschuldiger Menschen zu verhindern. Allerdings wurde mir mitgeteilt, daß möglicherweise noch einige Stunden lang Verseuchungen in den Rohrleitungen zurückbleiben könne. Ich empfehle Ihnen, bis auf Widerruf Ihren Wasserkonsum niedrig zu halten und alles Wasser, das Sie verwenden wollen, vorher abzukochen. Noch etwas: Polizeichef Dennison, ich selber und Ihre übrigen städtischen Beamten werden sich rund um die Uhr den Nöten der Stadt widmen, solange die Krise anhält. Möglicherweise werden wir keine Gelegenheit haben, uns mit weiteren Berichten den Medien zu stellen. Daher habe ich mich zu dem Schritt entschlossen, ein Komitee für öffentliche Sicherheit zu ernennen, das aus berühmten Persönlichkeiten und Wissenscha ftlern San Franciscos besteht und als koordinierendes Gremium bei der Verwaltung der Stadt und bei der Abgabe von Berichten an ihre Bürger helfen wird. Vorsitzender dieses Komitees ist der weithin bekannte Veteran so zahlreicher Forschungsreisen im Weltraum, Commander Taylor Braskett. Bekanntmachungen, die das Fortschreiten der Krise betreffen, werden in den verbleibenden Abendstunden von Commander
Braskett kommen, und Sie dürfen davon ausgehen, daß seine Worte die unserer städtischen Beamtenschaft sind. Ich danke Ihnen.” Braskett kam ins Bild. Montini grunzt. “Sieh dir den Mann an, den sie dafür auftreiben. Einen manischen Patrioten!” “Aber die Droge wird in ihrer Wirkung nachlassen”, sagte Nadia. “Dein Verstand wird wieder funktionieren.” “Ich kenne diese Drogen. Es besteht keine Hoffnung. Ich bin vernichtet.” Der Sagenhafte Montini begab sich zur Tür. “Ich brauche frische Luft. Ich werde rausgehen. Lebwohl, Nadia.” Sie versuchte, ihn aufzuhalten. Er stieß sie beiseite. Als er den Marina Park betreten hatte, machte er sich auf den Weg zum Jachtklub; der Türsteher ließ ihn ein und achtete nicht weiter auf ihn. Montini ging hinaus auf die Pier. Die Droge, heißt es, wirkt nur zeitweise. Sie wird nachlassen. Mein Kopf wird wieder klar werden. Ich bezweifle das sehr. Montini spähte auf das dunkle, ölige Wasser, das im von der Brücke reflektiertem Licht glitzerte. Er erforschte sein beschädigtes Gehirn, suchte systematisch nach Lücken. Ganze Erinnerungs abschnitte waren verschwunden. Die Mauern waren zerbröckelt, klumpenweise war der Verputz abgefallen und hatte nacktes Lattenwerk freigelegt. Er konnte so nicht leben. Vorsichtig, stöhnend vor Anstrengung ließ er sich über eine metallene Leiter ins Wasser gleiten und stieß sich von der Pier ab. Das Wasser war furchtbar kalt. Seine Schuhe kamen ihm ungeheuer schwer vor. Er glitt auf die alte Gefängnisinsel zu, aber er zweifelte daran, daß er noch längere Zeit über Wasser bleiben würde. Im Dahingleiten unternahm er eine Inventur seines Gedächtnisses, sah, was ihm geblieben war, und erkannte, daß es nicht ausreichte. Um auszuprobieren, ob wenigstens seine besondere Gabe erhalten geblieben war, versuchte er, aus dem Gedächtnis die Rede des Bürgermeisters zu wiederholen, und stellte fest, daß die Worte verschwammen und undeutlich wurden. Dann sei's drum, sagte er sich, und glitt weiter und ging unter. Carole bestand darauf, den Donnerstagabend mit ihm zu verbringen. “Wir sind nicht mehr Mann und Frau”, mußte er ihr mitteilen. “Du
hast dich von mir scheiden lassen.” “Seit wann bist du so spießig? Wir haben zusammengelebt, bevor wir verheiratet waren, und jetzt können wir zusammenleben, nachdem wir verheiratet waren. Vielleicht erfinden wir gerade eine neue Sünde. Nachehelichen Sex.” “Das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, daß du anfingst, mich wegen meiner Unordentlichkeit in Finanzdingen zu hassen, und mich verlassen hast. Wenn du jetzt versuchst, zu mir zurückzukommen, wendest du dich gegen deine eigene vernünftige und wohlüberlegte Entscheidung vom vergangenen Januar.” “Für mich liegt der vergangene Januar immer noch vier Monate in der Zukunft”, sagte sie. “Ich hasse dich ganz und gar nicht. Ich liebe dich. Das habe ich immer getan und werde es immer tun. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich je dazu kommen konnte, mich von dir scheiden zu lassen, aber vor allem kann ich mich nicht erinnern, daß ich mich von dir habe scheiden lassen, und du erinnerst dich nicht daran, daß ich mich von dir habe scheiden lassen, und wieso können wir nicht einfach an dem Punkt weitermachen, wo unsere Erinnerungen aufhören?” “Unter anderem deswegen, weil du zufällig inzwischen Pete Castines Frau bist.” “Das hört sich für mich völlig unwirklich an. Das mußt du geträumt haben.” “Freddy Munson hat es mir aber erzählt. Es ist wahr.” “Wenn ich jetzt zu Pete zurückgehen würde”, sagte Carole, “käme ich mir sündig vor. Bloß, weil ich ihn angeblich geheiratet habe, verlangst du von mir, ich soll mit ihm ins Bett steigen? Ich will nicht. Ich will nicht. Kann ich nicht hier bleiben?” “Falls Pete –” “Falls Pete, falls Pete, falls Pete! Vom Bewußtsein her bin ich Mrs. Paul Mueller, und von deinem Bewußtsein her bin ich es auch, und zur Hölle mit Pete und dem, was Freddy Munson dir erzählt hat, und allem anderen. Das hier ist ein alberner Streit, Paul. Laß' uns damit aufhören. Wenn du mich raushaben willst, dann sag' es mir jetzt gleich und mit diesen Worten. Wenn nicht, dann laß' mich hier
bleiben.” Er konnte ihr nicht sagen, sie solle gehen. Er besaß nur das eine schmale Feldbett, aber sie schafften es, gemeinsam darauf zu liegen. Es war unbequem, aber auf amü sante Weise. Eine Zeitlang fühlte er sich wieder wie zwanzig. Am Morgen standen sie lange zusammen unter der Dusche und dann ging Carole los, um einiges fürs Frühstück einzukaufen, da sein Service gesperrt war und er keine Nahrungsmittel abrufen konnte. Ein Mahnroboter vor seiner Tür sagte zu ihm, als Carole hinausging: “Der Antrag auf angemessene persönliche Arbeitsleistung ist inzwischen gestellt, Mr. Mueller, und bei Gericht anhängig.” “Du bist mir nicht bekannt”, sagte Mueller. “Hebe dich hinweg!” Heute, sagte er sich, würde er irgendwie Freddy Munson auftreiben und das Geld von ihm kriegen und die Werkzeuge kaufen, die er brauchte, und wieder zu arbeiten anfangen. Soll die Welt dort draußen den Verstand verlieren; solange er an der Arbeit war, war alles gut. Falls er Freddy nicht finden konnte, vielleicht konnte er dann den Einkauf auf Caroles Kredit durchziehen. Sie war gesetzlich von ihm geschieden, und seine beeinträchtigte Kreditfähigkeit würde nicht auf sie abfärben; als Mrs. Pete Castine würde es ihr sicher nicht schwer fallen, ein paar Riesen locker zu machen, um Metchnikoff zu bezahlen. Möglicherweise waren die Banken wegen der Gedächtniskrise heute geschlossen, überlegte Mueller, aber Metchnikoff würde von Carole gewiß kein Bargeld verlangen. Er schloß die Augen und stellte sich vor, was es für ein gutes Gefühl sein würde, wieder Dinge anzufertigen. Carole blieb eine Stunde fort. Als sie mit Lebensmitteln bepackt wiederkam, war Pete Castine bei ihr. “Er ist mir gefolgt”, erläuterte Carole. “Er wollte mich nicht allein lassen.” Er war ein schlanker, aufrechter, beherrschter Mann, recht muskulös, mehrere Jahre älter als Mueller – vielleicht gar schon über Fünfzig – wirkte jedoch sehr jung. Gelassen sagte er: “Ich war sicher, daß Carole hierher gekommen ist. Das ist völlig verständlich, Paul. Sie war die ganze Nacht hier, hoffe ich?”
“Kommt es darauf an?” fragte Mueller. “Gewissermaßen. Es ist mir lieber, wenn sie die Nacht mit ihrem ehemaligen Mann verbringt als mit irgendeinem Dritten.” “Sie war die ganze Nacht hier, ja”, sagte Mueller verdrießlich. “Ich möchte, daß sie jetzt mit mir nach Hause geht. Schließlich ist sie meine Frau.” “Sie kann sich daran nicht erinnern. Ich auch nicht.” “Das habe ich gemerkt.” Castine nickte freundlich. “Was meinen Fall angeht, so habe ich alles vergessen, was mir vor meinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr passiert ist. Ich könnte Ihnen nicht den Vornamen meines Vaters sagen. Es ist jedoch eine Angelegenheit objektiver Realität, daß Carole meine Frau ist, und ihre Trennung von Ihnen war eine recht bittere Erfahrung, und ich bin der Ansicht, sie sollte sich nicht länger hier aufhalten.” “Warum sagen Sie mir das alles?” fragte Mueller. “Wenn Sie möchten, daß Ihre Frau mit Ihnen nach Hause geht, dann bitten Sie sie, daß sie mit Ihnen nach Hause geht.” “Das habe ich getan. Sie sagt, sie geht nicht, es sei denn, Sie schicken sie fort.” “Das stimmt”, sagte Carole. “Ich weiß, wessen Frau ich zu sein glaube. Wenn Paul mich rauswirft, gehe ich mit dir. Sonst nicht.” Mueller zuckte die Achseln. “Ich wäre ein Idiot, wenn ich sie rauswerfen würde, Pete. Ich brauche sie, und ich will sie, und was es auch für eine Trennung gewesen sein mag, die sie und ich durchgemacht haben, für uns ist sie nicht real. Ich weiß, das ist hart für Sie, aber ich kann's nicht ändern. Ich nehme an, Sie werden keine Probleme haben, eine Anullierung zu erhalten, sobald die Gerichte eine Bestimmung erarbeitet haben, die Fälle wie diesen erfaßt.” Castine schwieg einige Zeit. Schließlich sagte er: “Wie ist es mit Ihrer Arbeit vorangegangen, Paul?” “Wie ich höre, habe ich das ganze Jahr über nichts zustande gebracht.” “So ist es.” “Ich habe vor, wieder anzufangen. Man könnte sagen, Carole hat
mich dazu inspiriert.” “Fabelhaft”, sagte Castine ohne jegliche Betonung. “Ich vertraue darauf, daß dieses kleine Wirrwarr bezüglich unserer – ah – gemeinsamen Ehefrau die harmonische Beziehung zwischen Künstler und Kuns thändler nicht stören wird, derer wir uns in der Vergangenheit erfreut haben?” “Ganz und gar nicht”, sagte Mueller. “Sie bekommen nach wie vor meinen gesamten Ausstoß. Warum zum Teufel sollte ich irgend etwas übel nehmen, was Sie getan haben? Carole war ein freier Mensch, als Sie sie geheiratet haben. Es gibt da nur ein kleines Problem.” “Ja?” “Ich bin pleite. Ich habe keine Werkzeuge, und ich kann ohne Werkzeuge nicht arbeiten und ich habe keine Möglichkeit, mir Werkzeug zu kaufen.” “Wie viel brauchen Sie?” “Zweieinhalb Riesen.” Castine sagte: “Wo ist Ihre Dateneingabe? Ich werde einen Kredittransfer vornehmen.” “Die Telefongesellschaft hat sie längst stillgelegt.” “Dann lassen Sie mich Ihnen einen Scheck geben. Sagen wir glatte Dreitausend? Ein Vorschuß auf zukünftige Geschäfte.” Castine brauchte eine Weile, bis er ein leeres Scheckformular entdeckte. “Der erste, den ich seit ungefähr fünf Jahren aus stelle. Komisch, wie man sich ans Geldausgeben mit dem Telefon gewöhnt hat. Da haben Sie ihn, und viel Glück. Euch beiden.” Er machte eine höfliche, erbitterte Verbeugung. “Ich hoffe, ihr werdet glücklich miteinander. Und rufen Sie mich an, wenn Sie ein paar Stücke fertig haben, Paul. Ich schicke dann den Lastwagen. Ich nehme an, bis dahin werden Sie wieder Telefon haben.” Er ging hinaus. “Es liegt ein Segen darin, vergessen zu können”, sagte Nate Haldersen. “Die Erlösung im Vergessen nenne ich es. Was San Francisco diese Woche zugestoßen ist, ist nicht unbedingt eine Katastrophe. Für einige unter uns ist es das Schönste auf der Welt.” Sie hörten ihm zu – wenigstens fünfzig Menschen, die sich ihm zu
Füßen versammelt hatten. Er stand auf dem Konzertpodium im Park, gleich gegenüber dem De Young Museum. Die Schatten wurden länger. Freitag, der zweite volle Tag der Gedächtniskrise, näherte sich seinem Ende. Haldersen hatte letzte Nacht im Park geschlafen, und er hatte vor, heute nacht wieder hier zu schlafen; er hatte im Anschluß an seine Flucht aus dem Krankenhaus festgestellt, daß seine Wohnung bereits längere Zeit aufgelöst war und seine Habseligkeiten irgendwo aufbewahrt wurden. Das machte gar nichts. Er würde von den Früchten des Landes leben und sich Eßbares zusammensuchen. Die Flamme der Prophezeiung loderte in ihm. “Lassen Sie mich Ihnen sagen, wie es bei mir war”, rief er. “Noch vor drei Tagen befand ich mich wegen einer geistigen Störung im Krankenhaus. Einige von Ihnen werden vielleicht lächeln und zu mir sagen, daß ich auch jetzt dort hingehöre, doch nein! Sie verstehen mich falsch. Ich war unfähig, der Welt ins Auge zu sehen. Wohin ich mich auch wandte, sah ich glückliche Familien, Eltern und Kinder, und das machte mich krank vor Neid und Haß, so daß ich meinen Platz in der Gesellschaft nicht einnehmen konnte. Warum? Warum? Weil meine eigene Frau und meine Kinder 1991 bei einem Luftunglück umgekommen sind, deshalb, und ich habe das Flugzeug versäumt, weil ich an jenem Tag eine Sünde begangen habe und wegen meiner Sünde starben sie und ich lebte fortan in endloser Qual! Aber nun ist all dies aus meinen Gedanken fortgeschwemmt. Ich habe gesündigt, und ich habe gelitten, und nun bin ich in gnädigem Vergessen erlöst!” Eine Stimme erhob sich aus der Menge. “Wenn Sie das alles vergessen haben, wieso kommt's, daß Sie uns die Geschichte erzählen?” “Eine gute Frage! Eine ausgezeichnete Frage!” Haldersen spürte, wie ihm der Schweiß aus den Poren brach und das Adrenalin in die Adern schoß. “Ich kenne die Geschichte nur deshalb, weil eine Maschine im Krankenhaus sie mir gestern morgen erzählt hat. Sie ist von außen an mich herangetragen worden, eine Erzählung aus zweiter Hand. Die Erfahrung in mir, die Narben, all das ist fortgespült worden. Der Schmerz ist verschwunden. Oh ja, ich bin
traurig, daß meine unschuldige Familie umgekommen ist, aber ein gesunder Mann lernt es nach elf Jahren, mit seiner Trauer fertigzuwerden, er nimmt seinen Verlust hin und geht zur Tagesordnung über. Ich war krank, hier oben krank, und ich konnte nicht mit meinem Jammer leben, aber nun kann ich es, ich blicke objektiv darauf zurück, verstehen Sie? Und darum sage ich, es liegt ein Segen darin, vergessen zu können. Wie steht es mit Ihnen da? Es müssen einige unter Ihnen sein, die ähnlich schmerzliche Verluste haben hinnehmen müssen und sich jetzt nicht mehr daran erinnern können, die nun erlöst und von der Qual befreit sind. Gibt es so jemanden? Gibt es sie? Heben Sie Ihre Hände. Wer wurde in seliges Vergessen gehüllt? Wer von Ihnen weiß, er wurde reingewaschen, auch wenn er sich nicht entsinnen kann, wovon er reingewaschen wurde?” Hände beganne n sich zu heben. Sie schluchzten jetzt, sie jubelten, sie winkten ihm zu. Haldersen kam sich ein wenig wie ein Scharlatan vor. Aber nur ein klein wenig. Er hatte immer das Zeug zum Propheten gehabt, sogar damals, als er vorgab, ein harmloser Akademiker zu sein, ein verstaubter Philosophieprofessor. Er hatte besessen, was jeder Prophet braucht, ein geschärftes Empfinden für den Kontrast zwischen Schuld und Reinheit, das Bewußtsein von der Existenz der Sünde. Es war dieses Bewußtsein, das ihn elf Jahre hind urch niedergeschmettert hatte. Es war dieses Bewußtsein, das ihn jetzt dazu trieb, öffentlich seine Freude kundzutun, nach Gefährten zu suchen, die ebenfalls Befreiung erfahren hatten – nein, nach Jüngern –, um hier im Golden Gate Park die Kirche des Vergessens zu gründen. Das Krankenhaus hätte ihm diese Drogen vor Jahren verabreichen und ihm die Qualen ersparen können. Bryce hatte sich geweigert, Kamakura, Reynolds, all die heuchlerischen Ärzte hatten sich geweigert; sie warteten auf weitere Tests, Experimente mit Schimpansen, Gott weiß was. Und Gott hatte gesagt: Nathaniel Haldersen hat lange genug für seine Sünde gelitten und daher hatte Er eine Droge in die Wasserversorgung von San Francisco geschüttet, die gleiche Droge, die die Ärzte ihm vorenthalten hatten, und die Leitungen von den
Bergen herab war die süße Arznei des Vergessens gekommen. “Trinkt mit mir!” brüllte Haldersen. “Ihr alle, die Ihr gepeinigt werdet, Ihr, die Ihr in Sorge lebt! Wir werden uns diese Droge selber beschaffen! Wir werden unsere leidgeprüften Seelen reinwaschen! Trinkt das gesegnete Wasser, und lobpreiset Gott, der uns Vergessen schenkt.” Freddy Munson hatte sich am Donnerstag nachmittags und abends sowie den gesamten Freitag über in seiner Wohnung verbarrikadiert und alle Kommunikationsleitungen nach draußen abgeschaltet. Er beantwortete und unternahm keine Anrufe, ignorierte die Teleschirme und hatte in jenen sechsunddreißig Stunden nur dreimal den Xerofax eingeschaltet. Er wußte, daß er am Ende war und er versuchte zu entscheiden, wie er darauf reagieren sollte. Seine Gedächtnislage schien sich stabilisiert zu haben. Es fehlten ihm lediglich fünf Wochen Markttransaktionen. Es kam nicht zu weiterem Verfall - nicht, daß es darauf angekommen wäre, er steckte ohnehin in der Patsche – und entgegen einer optimistischen Stellungnahme durch Bürgermeister Chase am vergangenen Abend hatte Munson keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß der Gedächtnisverlust sich wieder umkehrte. Er war unfähig, irgendeins der verschwundenen Details zu rekonstruieren. Es bestand keine unmittelbare Bedrohung, das wußte er. Die meisten Klienten, mit deren Konten er jongliert hatte, waren reiche alte Schachteln, die sich keine Sorgen um ihr Vermögen machen würden, bis sie die Kontoauszüge des nächsten Monats bekamen. Sie hatten ihm Vollmacht erteilt, was überhaupt erst dazu, geführt hatte, daß er in der Lage war, ihre Resourcen zu seinen Gunsten anzuzapfen. Bisher war es Munson immer gelungen, jede Transaktion innerhalb eines Monats abzuschließen, so daß alle Auszüge einen ausgeglichenen Saldo aufwiesen. Er war mit dem Problem des Deckungsverlustes, den die Auszüge hätten ausweisen müssen, fertiggeworden, indem er den Hauscomputer so präpariert hatte, daß der solche Verluste löschte, vorausgesetzt, es kam von Monat zu Monat nicht zu einem Nettoeffekt; auf diese Weise konnte
er zwei - Wochen lang 10 000 Anteile von United Spaceways oder Com-sat oder IBM auslernen, die Aktien als Sicherheit für sein eigenes Geschäft einsetzen und sie rechtzeitig wieder dem richtigen Konto gutschreiben, ohne daß es jemandem auffiel. In drei Wochen allerdings würden die monatlichen Auszüge verschickt werden und in aller Deutlichkeit zeigen, daß all seine Konten mit unerklärlichen Abbuchungen gespickt waren, und es würde ihm an den Kragen gehen. Möglicherweise würde der Ärger noch früher losgehen und zwar aus einer ganz anderen Richtung. Seit die San-Francisco- Probleme angefangen hatten, war es auf dem Markt steil bergab gegangen, und am Montagmorgen würden vermutlich Deckungsforderungen bei ihm eingehen. Die Börse von San Francisco war natürlich geschlossen; sie hatte am Donnerstagmorgen nicht eröffnen können, weil die Amnesie so viele Effektenmakler so schwer getroffen hatte. Aber die New Yorker Börse war geöffnet, und man hatte negativ auf die Nachrichten aus San Francisco reagiert, vermutlich aus Angst, es sei eine Verschwörung im Gang und das ganze Land werde bald dem Chaos anheimfallen. Falls die hiesige Börse am Montag wieder aufmachte, falls sie überhaupt aufmachte, würde sie höchstwahrscheinlich mit den neuesten New Yorker Kursen eröffnen, oder in ihrer Nähe, und weiter fallende Tendenz zeigen. Munson würde aufgefordert werden, Bargeld oder weitere Sicherheiten aufzubringen, um seine Schulden zu decken. Das Bargeld hatte er mit Sicherheit nicht, und die einzige Möglichkeit, an weitere Sicherheiten zu kommen, bestand darin, aus noch mehr Konten abzuschöpfen und sein Vergehen schlimmer zu machen; falls er andererseits den Deckungsaufforderungen nicht entsprach, würde man ihn pfänden, und er würde es nie schaffen, die Aktien auf die richtigen Konten zurückzubuchen, auch wenn es ihm gelang, sich zu erinnern, welche Anteile wohin gehörten. Er saß in der Falle. Er konnte noch ein paar Wochen rumhängen und das Niedersausen des Henkerbeils abwarten, oder er konnte jetzt gleich abhauen. Er zog es vor, jetzt gleich abzuhauen. Und wohin gehen?
Caracas? Reno? Sao Paulo? Nein, Schuldnerparadiese würden ihm nichts nützen, weil er kein gewöhnlicher Schuldner war. Er war ein Dieb, und diese Zufluchtsstätten schützten keine Verbrecher, nur Bankrotteure. Er mußte weiter weg, bis nach Luna Dome. Vom Mond konnte man ihn nicht ausliefern. Allerdings bestand auch keine Hoffnung, je von dort zurückzukommen. Munson setzte sich ans Telefon und hoffte, er würde sein Reisebüro erreichen. Zwei Fahrkarten nach Luna, bitte. Eine für ihn, eine für Helene; wenn ihr nicht danach war, mitzukommen, würde er allein reisen. Nein, keine Rückfahrkarte. Aber das Reisebüro meldete sich nicht. Munson wählte die Nummer mehrmals. Achselzuckend beschloß er, direkt zu bestellen, und rief als nächstes United Spaceways an. Er bekam ein Besetztzeichen. “Sollen wir Ihren Anruf auf Warteliste setzen?” fragte das Datennetz. “Es wird beim gegenwärtigen Rückstau von Anrufen drei Tage dauern, bis wir durchstellen können.” “Schwamm drüber”, sagte Munson. Es war ihm soeben aufgegangen, daß San Francisco ohnehin von der Außenwelt abgeschnitten war. Er konnte die Stadt nicht verlassen, um zum Raumha fen zu gelangen, es sei denn, er versuchte hinzuschwimmen, selbst wenn er es schaffte, Fahrkarten nach Luna zu kaufen. Er saß hier fest, bis man die Durchgangswege wieder aufmachte. Wie lange würde das dauern? Bis Montag, Dienstag, nächsten Freitag. Die konnten die Stadt doch nicht auf ewig zuhalten – oder? Worauf es hinauslief, das sah Munson, war ein Wettstreit der Wahrscheinlichkeiten. Würde jemand die Diskrepanzen auf seinen Konten entdecken, bevor er eine Möglichkeit gefunden hatte, nach Luna zu entkommen, oder würde sich sein Fluchtweg zu spät eröffnen? So betrachtet würde es zu einem interessanten Glücksspiel, statt zu einer ausweglosen Situation. Er würde das Wochenende damit verbringen, einen Weg aus San Francisco heraus zu suchen, und falls ihm das mißlang, würde er versuchen, dem Kommenden stoisch ins Auge, zu sehen. Nun wieder ruhig, erinnerte er sich, daß er versprochen hatte, Paul
Mueller ein paar tausend Dollar zu leihen, um ihm dabei zu helfen, daß er sein Studio wieder aufbaute. Munson war traurig, weil er zugelassen hatte, daß ihm das entfallen war. Er half gerne. Und selbst in dieser Lage, was bedeuteten ihm schon zwei oder drei Riesen? Er besaß ausreichend wieder aktivierbare Geldanlagen. Er konnte genauso gut Paul ein wenig von dem Geld zukommen lassen, bevor die Anwälte anfingen, danach zu grabschen. Ein Problem. Er hatte weniger als hundert Dollar Bargeld bei sich – wer machte sich schon die Mühe, Bargeld dabeizuha ben? Und er konnte keine telefonische Überweisung von Geldern auf Muellers Konto vornehmen, weil Paul beim Datennetz kein eigenes Konto mehr unterhielt, geschweige denn ein Telefon. Es gab auch keinen Ort, wo man zu dieser Abendstunde so viel Bares bekommen konnte, noch dazu, da die Stadt praktisch lahmgelegt war. Und das Wochenende rückte näher. Munson hatte aber eine Idee. Wie wäre es, wenn er am folgenden Tag mit Mueller einkaufen ginge und einfach sein eigenes Konto mit dem belasten würde, was der Bildhauer brauchte? Ausgezeichnet. Er griff zum Telefon, um die Verabredung zu treffen, entsann sich, daß man Mueller nicht anrufen konnte, und beschloß, Paul direkt davon zu erzählen. Jetzt gleich. Etwas frische Luft würde ihm sowieso gut tun. Er erwartete beinahe, draußen die Robot-Gerichtsdiener vorzufinden, die darauf warteten, ihn zu verhaften. Aber natürlich war noch niemand hinter ihm her. Er ging zu Fuß zur Garage. Es war ein wunderbarer Abend, kühl, sternenklar, mit einer bloßen Andeutung von Nebel im Osten. Aber die Lichter von Berkeley glitzerten durch den Dunst. Die Straßen waren still. In Krisenzeiten bleiben die Leute offenbar lieber daheim. Er fuhr rasch zu Muellers Wohnung. Vier Roboter standen davor. Munson beäugte sie verdrießlich mit dem unsteten Blick des Mannes, der genau weiß, daß der Sheriff in einer Weile auch hinter ihm her sein wird. Mueller dagegen nahm, als er zur Tür kam, keine Notiz von den Mahnern. Munson sagte: “Tut mir leid, daß die Verbindung zwischen uns abgerissen war. Das Geld, das ich dir zu leihen versprochen hatte -” “Das macht doch nichts, Freddy. Pete Castine war heute morgen
hier und ich habe mir die drei Riesen von ihm geborgt. Ich hab' mein Studio schon wieder zusammengebaut. Komm' rein und sieh es dir an.” Munson trat ein. “Pete Castine?” “Eine gute Investition für ihn. Er verdient Geld, wenn er Arbeiten von mir zu verkaufen hat, richtig? Es ist ganz in seinem Interesse, mir bei meinem Neubeginn zu helfen. Carole und ich waren den ganzen Tag damit beschäftigt, uns wieder einzurichten.” “Carole?” sagte Munson. Mueller führte ihn ins Studio. Das gesamte Drum und Dran eines Schallbildhauers lag auf dem Boden – ein Schweißstift, eine Vakuumglocke, ein großer Strukturierbottich, einige Barren und Drahtstücke und solches Zeug. Carole stopfte soeben nicht mehr benutzbare Pappkartons in den Mülls chlucker an der Wand. Als sie aufsah, lächelte sie unsicher und fuhr sich mit der Hand durch das lange dunkle Haar. “Hallo, Freddy.” “Seid ihr wieder gut Freund miteinander?” fragte er verblüfft. “Keiner von uns erinnert sich, daß wir je verfeindet waren” sagte sie. Sie lachte. “Ist es nicht wunderbar, wenn einem so die Erinnerungen gelöscht sind?” “Wunderbar”, sagte Munson freudlos. Commander Braskett sagte: “Dürfte ich Ihnen allen etwas Wasser anbieten?” Tim Bryce lächelte. Lisa Bryce lächelte. Ted Kamakura lächelte. Sogar Bürgermeister Chase, dieses armselige Wrack, lächelte. Commander Braskett wußte dieses Lächeln zu deuten. Sogar jetzt noch, nach drei Tagen des engen Kontakts in angespannter Lage, hielten sie ihn für verrückt. Er hatte einen Wochenvorrat in Flaschen abgefülltes Wasser von daheim zum Kommandoposten hier im Krankenhaus schaffen lassen. Alle sagten ihm immer wieder, daß es jetzt ungefährlich sei, das städtische Wasser zu trinken, daß die Gedächtnisdrogen daraus verschwunden waren; warum konnten sie bloß nicht begreifen, daß seine Aversion gegen Leitungswasser aus einer Epoche stammte, als Gedächtnisdrogen noch unbekannt waren? Schließlich befanden sich
zahlreiche andere Chemikalien im Reservoir. Er erhob sein Glas zu einem eleganten Prosit und zwinkerte ihnen zu. Tim Bryce sagte: “Commander, wir möchten, daß Sie um halb elf heute morgen wieder zur Bevölkerung sprechen. Hier ist Ihr Text.” Braskett überflog die Vorlage. Sie beschäftigte sich vor allem mit der Lockerung des Befehls, Wasser vor dem Trinken abzukochen. “Sie verlangen also von mir, ich soll sämtliche Medien In Anspruch nehmen”, sagte er, “und den Leuten erzählen, es sei jetzt ungefährlich, Wasser aus der Leitung zu trinken, wie? Das ist eigentlich eine Zumutung für mich. Selbst ein als Sprecher eingesetzter Strohmann hat das Recht auf ein gewis ses Maß persönlicher Integrität.” Bryce sah kurze Zeit verwirrt drein. Dann lachte er und nahm den Text wieder an sich. “Sie haben absolut recht, Commander. Ich kann nicht von Ihnen verlangen, im Hinblick auf Ihre - äh - besonderen Ansichten diese Bekanntmachung zu verlesen. Wir wollen unseren Plan ändern. Sie leiten den Spot ein, indem Sie mich vorstellen, und ich werde die Sache mit dem Nicht-Abkochen abhandeln. Wäre Ihnen das recht?” Commander Braskett gefiel die taktvolle Art und Weise, wie sie auf seine persönliche Marotte Rücksicht nahmen. “Ich stehe zu Diensten, Doktor”, sagte er ernsthaft. Bryce hörte auf zu sprechen, und die Kamerascheinwerfer wandten sich von ihm ab. Er sagte zu Lisa: “Wie steht's mit dem Mittagessen? Oder dem Frühstück oder was es auch für eine Mahlzeit sein mag, die grade dran wäre?” “Es ist alles bereit, Tim. Wann immer du es bist.” Sie aßen zusammen im Holographenraum, der zur Küche des Kommandopostens geworden war. Riesige Kameras und Fässer mit Ätzflüssigkeit umgaben sie. Die anderen ließen sie rücksichtsvoll allein. Diese kurzen gemeinsamen Mahlzeiten waren die einzigen privaten Augenblicke, die er und Lisa in den zweiundfünfzig Stunden gehabt hatten, seit er aufgewacht war und sie schlafend neben sich vorgefunden hatte.
Er starrte bewundernd über den Tisch auf dieses reizende blonde Mädchen, das, wie man ihm sagte, seine Frau war. Wie wunderschön ihre sanften braunen Augen vor dem Hintergrund des goldenen Haars waren! Wie perfekt die Form ihrer Lippen, der Schwung ihrer Ohrläppchen! Bryce wußte, daß niemand etwas dagegen haben würde, wenn er und Lisa fortgingen und sich ein paar Stunden in einem der Privatzimmer einschließen würden. So unentbehrlich war er nicht und es gab so vieles, was er in Bezug auf seine Frau neu zu erfahren hatte. Aber er schaffte es nicht, seinen Posten zu verlassen. Er war, seit die Krise entstanden war, nicht aus dem Krankenhaus herausgekommen, nicht einmal aus diesem Stockwerk; er hielt sich aufrecht, indem er sich alle sechs Stunden eine halbe Stunde lang an den Schlafdraht hängte. Vielleicht war es eine Illusion, geboren aus zu wenig Schlaf und zu vielen Daten, aber er war zu der Überzeugung gelangt, daß das Überleben der Stadt von ihm abhing. Er hatte seine berufliche Laufbahn hindurch versucht, einzelne kranke Köpfe zu heilen, und nun hatte er sich um eine ganze Stadt zu kümmern. “Müde?” fragte Lisa. “Ich bin in dem Stadium der Müdigkeit, wo man aufhört, Müdigkeit zu empfinden. Mein Kopf ist so klar, daß mein Schädel keinen Schatten werfen würde. Ich nähere mich dem Nirwana.” “Das Schlimmste ist vorbei, denke ich. Die Stadt erholt sich wieder.” “Es ist aber immer noch schlimm. Hast du die Selbstmordfahrten gesehen?” “Schlimm?” “Entsetzlich. Die Norm für San Francisco liegt bei 220 im Jahr. Wir hatten annähernd fünfhundert in den vergangenen zweieinhalb Tagen. Und das sind nur die gemeldeten Fälle, die entdeckten Leichen und so weiter. Vermutlich können wir die Zahl verdoppeln. Dreißig Selbstmorde, die am Mittwochabend gemeldet wurden, etwa zweihundert am Donnerstag, das gleiche am Freitag und bisher etwa fünfzig heute morgen. Zumindest hat es den Anschein, als sei der Höhepunkt dieser Welle überschritten.”
“Aber warum, Tim?” “Manche Leute reagieren übel auf Verluste. Vor allem auf den Verlust eines Abschnitts ihrer Erinnerungen. Sie sind ent rüstet – sie sind niedergeschmettert – sie sind erschrocken – und sie greifen zur Todespille. Selbstmord ist heut zutage sowieso viel zu einfach. In der guten alten Zeit reagierte man auf Enttäuschungen, indem man das Porzellan zerschlug, heute schlägt man einen gefährlicheren Weg ein. Natürlich gibt es Ausnahmen. Einen Mann namens Montini, den sie aus der Bucht gefischt haben – einen professionellen Gedächtniskünst1er, der in Nachtclubs mit seiner Nummer aufgetreten ist, unfehlbares Gedächtnis. Ich kann es ihm kaum übel nehmen, daß er das Handtuch geworfen hat. Und ich nehme an, es hat noch eine Menge anderer gegeben, die ihre Geschäfte mit dem Kopf abgewickelt haben – Glücksspieler, Wertpapierspekulanten, Sprachpoeten, Musiker –, die womöglich versuchen werden, allem ein Ende zu machen, anstatt die Scherben aufzusammeln.” “Aber wenn die Wirkung der Droge nachläßt –” “Tut sie das?” fragte Bryce. “Du hast es selbst gesagt.” “Ich habe um der Bevölkerung willen optimistische Laute von mir gegeben. Wir besitzen keinerlei experimentelle Langzeitstudien über diese Drogen bei menschlichen Versuchspersonen. Zur Hölle, Lisa, wir kennen nicht einmal die zugeführte Dosierung; als es uns endlich gelang, Wasserproben zu nehmen, war ein Großteil des Leitungsnetzes schon wieder klargespült, und die automatischen Überwachungsgeräte an den Pumpstationen der Stadt wurden bei der Verschwörung gleich mitsabotiert, so daß sie nichts Außergewöhnliches anzeigten, Ich habe nicht die mindeste Ahnung, ob es überhaupt zu einer meßbaren Erholung des Gedächtnisses kommen wird.” “Aber das tut's, Tim. Ich habe schon wieder angefangen, mich an einiges zu erinnern.” “Was?” “Schrei mich doch nicht so an? Du hast mich erschreckt.” Er klammerte sich an der Tischkante fest. “Erlebst du tatsächlich
eine Erholung?” “Ganz am Rand. Ich erinnere mich bereits wieder an einiges, in Bezug auf uns.” “Wie zum Beispiel?” “Wie wir das Aufgebot bestellt haben. Ich stehe splitterfasernackt im Innern einer Diagnostatmaschine, und eine Stimme aus dem Lautsprecher fordert mich auf, direkt in die Scanner zu sehen. Und ich erinnere mich dunkel an die Zeremonie. Nur eine kleine Gruppe von Freunden, auf dem Standesamt. Dann haben wir uns in die Kapsel nach Acapulco gesetzt.” Er sah finster drein. “Wann hat das angefangen, dir wieder einzufallen?” “Gegen sieben heute morgen, glaube ich.” “Gibt's noch mehr davon?” “Ein bißchen. Unsere Flitterwochen. Der Roboterpage, der in unsere Hochzeitsnacht reingeplatzt kam. Du hast daran keine –” “Erinnerung? Nein. Nichts. Unbeschriebenes Blatt.” “Das ist alles, woran ich mich erinnere, das frühere Zeug.” “Ja natürlich”, sagte er. “Die älteren Erinnerungen sind immer die ersten, die bei jeglicher Form von Amnesie wiederkommen. Das zuletzt verlorengegangene Zeug ist als erstes wieder da.” Seine Hände zitterten, nicht nur vor Erschöpfung. Eine seltsame Trostlosigkeit überfiel ihn. Lisa erinnerte sich. Er nicht. War das eine Funktion ihrer Jugend oder der chemischen Zusammensetzung ihres Gehirns oder – ? Er konnte den Gedanken nicht ertragen, daß sie nicht länger im Vergessen vereint waren. Er wollte nicht, daß die Amnesie ein einseitiges Problem für sie wurde; es war erniedrigend, sich nicht an die eigene Hochzeit zu erinnern, während sie es tat. Du verhältst dich irrational, sagte er sich. Arzt, heile dich selbst! “Laß uns wieder rübergehen”, sagte er. “Du hast dein Essen nicht –” “Später.” Er betrat den Kommandoraum. Kamakura hatte in beiden Händen Telefonhörer und brüllte zugleich Daten in einen Recorder. Die
Bildschirme waren von morgendlichen Szenen erfüllt, Samstag in der Großstadt, Menschenmengen am Union Square. Kamakura beendete beide Anrufe und sagte: “Ich habe einen interessanten Bericht von Dr. Klein am Letterman Gene ral Hospital erhalten. Er sagt, sie bekommen heute morgen die ersten Hinweise auf ein Wiedereinsetzen des Gedächtnisses rein. Ausschließlich Frauen unter dreißig.” “Lisa sagt auch, daß sie wieder anfängt, sich zu erinnern”, sagte Bryce. “Frauen unter dreißig”, sagte Kamakura. “Ja. Außerdem geht die Selbstmordrate deutlich zurück. Es könnte sein, daß wir allmählich aus der Sache rauskommen.” “Fabelhaft”, sagte Bryce dump f. Haldersen lebte in einer über drei Meter hohen Blase, die einer seiner Jünger mitten im Golden Gate Park für ihn aufgepustet hatte, direkt westlich vom Arboretum. Fünfzehn gleichartige Blasen waren um die seine herum entstanden, was der Gegend den Anblick eines modernen Eskimodorfes mit Plastikiglus vermittelte. Die Bewohner des Lagers waren, von Haldersen abgesehen, Männer und Frauen, denen so wenige Erinnerungen geblieben waren, daß sie nicht wußten, wer sie waren und wo sie wohnten. Er hatte ein Dutzend dieser Verlorenen am Freitag aufgesammelt, und bis zum späten Samstagnachmittag hatten sich ihm an die vierzig weitere angeschlossen. Irgend wie breitete sich die Nachricht in der Stadt aus, daß alle Heimatlosen eingeladen seien, sich vorübergehend bei der Gruppe im Park niederzulassen. So war es auch während der Katastrophe von 1916 gewesen. Die Polizei war ein paarmal vorbeigekommen, um sie zu kontrollieren. Beim ersten Mal hatte ein würdevoller Lieutenant versucht, die ganze Gruppe dazu zu überreden, daß sie ins Fletcher Memorial umzog. “Dort werden die meisten Opfer behandelt, wissen Sie. Die Ärzte geben ihnen etwas, und dann versuchen wir sie zu identifizieren und ihre Angehörigen zu finden –” “Vielleicht ist es aber das Beste für diese Leute, sich eine Weile von ihren Angehörigen fernzuhalten”, behauptete Haldersen. “Ein
wenig Meditation im Park – eine Exploration der Freuden des Vergessenhabens – das ist alles, was wir hier tun.” Er selber würde nicht ins Fletcher Memorial gehen, es sei denn unter Zwang. Was die anderen anging, so hatte er das Gefühl, im Park mehr für sie tun zu können als irgend jemand im Krankenhaus. Das zweite Mal, als die Polizei kam, am Samstagnachmittag als seine Gruppe sich stark vergrößert hatte, brachten sie ein mobiles Kommunikationssystem mit. “Dr. Bryce vom Fletcher Memorial möchte mit Ihnen sprechen”, sagte ein anderer Lientenant. Haldersen sah zu, wie der Schirm zum Leben erwachte “Hallo, Doktor. Machen Sie sich meinetwegen Sorgen?” “Ich mache mir um jedermann Sorgen, Nate. Was zum Teufel machen Sie im Park?” “Ich gründe, glaube ich, eine neue Religion.” “Sie sind ein kranker Mann. Sie sollten hierher zurückkommen.” “Nein, Doktor. Ich bin nicht mehr krank. Ich habe meine Therapie gehabt und es geht mir gut. Das war eine wunderbare Behandlungsweise: selektives Vergessen. Genau das worum ich gebetet habe. Das gesamte Trauma ist fort.” Bryce schien davon fasziniert zu sein. Sein stirnrunzelnder Ausdruck offizieller Verantwortung verschwand einen Moment lang und machte professionellem Interesse Platz. “Interessant”, sagte er. “Wir haben Leute, die nur sämtliche Hauptwörter vergessen haben, und Leute, die vergessen haben, wen sie geheiratet haben, und Leute, die vergessen haben, wie man Geige spielt. Aber Sie sind der erste, der ein Trauma vergessen hat. Trotzdem sollten Sie hierher zurückkommen. Sie können nicht selber beurteilen, wie fit Sie sind, sich der Außenwelt zu stellen.” “Oh, das kann ich wohl”, sagte Haldersen. “Mir geht es prächtig. Und meine Leute brauchen mich.” “Ihre Leute?” “Waisen. Streuner. Die mit dem Totalverlust.” “Wir möchten diese Leute im Krankenhaus haben, Nate. Wir wollen sie wieder ihren Familien zuführen.” “Ist denn das notwendigerweise eine gute Tat? Vielleicht können ja
einige unter ihnen die zeitweilige Trennung von Ihren Familien gut gebrauchen. Diese Menschen sehen glücklich aus, Dr. Bryce. Ich habe gehört, es gibt eine Menge Selbstmorde, aber hier nicht. Wir führen eine Therapie des gegenseitigen Beistands durch. Suchen nach den Freuden, die im Vergessen zu finden sind. Es scheint zu funktionieren.” Bryce starrte einige Zeit schweigend vom Bildschirm herab, Dann sagte er ungeduldig: “Na gut, Sie sollen erst einmal ihren Willen haben. Aber ich wünschte, Sie würden aufhören, sich wie eine Kombination aus Jesus und Freud aufzuführen, und den Park verlassen. Sie sind nach wie vor ein kranker Mann, Nate, und die Leute bei ihnen haben ernste Probleme. Ich spreche später noch mal mit Ihnen.” Die Verbindung brach ab. Die Polizei zog unverrichteter Dinge ab. Haldersen sprach um fünf Uhr kurz zu seinem Volk. Dann schickte er sie als Missionare aus, um weitere Opfer aufzusammeln. “Rettet so viele, wie ihr könnt”, sagte er. “Sucht nach jenen, die völlig verzweifelt sind, und bringt sie in den Park, bevor sie sich das Leben nehmen können. Erklärt ihnen, daß der Verlust der eigenen Vergangenheit nicht den Verlust aller Werte bedeutet.” Die Jünger schwärmten aus. Und kamen wieder und geleiteten jene herbei, die weniger Glück gehabt hatten als sie. Die Gruppe wuchs, bis es Abend wurde, auf über hundert an. Irgend jemand trieb wieder den Extruder auf und blies weitere zwanzig Blasen als Unterkunft für die Nacht auf. Haldersen hielt seine Predigt von der Freude und blickte dabei in die leeren Augen, in die erschlafften Gesichter jener, deren Identität am Mittwoch fortgespült worden war. “Warum aufgeben?” fragte er sie. “Jetzt habt ihr die Gelegenheit, euch ein neues Leben aufzubauen. Ihr habt reinen Tisch! Sucht euch die Richtung aus, die ihr einschlagen werdet, definiert durch Anwendung des freien Willens euer neues Ich – ihr seid wiedergeboren im seligen Vergessen, ihr alle. Ruht euch nun aus, ihr, die ihr gerade erst zu uns gestoßen seid. Und ihr anderen, zieht wieder aus, sucht die Wanderer, die Streuner, die Verlorenen, die sich in den Winkeln der Stadt verbergen –”
Als er gerade zum Schluß kam, sah er, daß ein Knäuel Menschen aus Richtung des South Drive auf ihn zu eilte. Da er befürchtete, es könne Schwierigkeiten geben, ging Haldersen ihnen entgegen, doch als er näher kam, sah er ein halbes Dutzend Jünger, die einen struppigen, unrasierten, verängstigten kleinen Mann festhielten. Sie warfen ihn vor Haldersen nieder. Der Mann zitterte wie ein Hase, den die Hunde umzingelt haben. Seine Augen glitzerten, sein keilförmiges Gesicht mit spitzem Kinn und spitzen Wangenknochen war bleich. “Das ist der, der das Leitungswasser vergiftet hat!” rief einer. “Wir haben ihn in einem Logierhaus in der Judah Street gefunden. Mit einem Haufen Drogen auf seinem Zimmer und den Bauplänen des Leitungssystems und einem Bündel Computerprogramme. Er gibt alles zu. Er gibt es zu!” Haldersen blickte nacht unten. “Stimmt das?” fragte er. “Bist du derjenige, welcher?” Der Mann nickte. “Wie heißt du?” “Sag' ich nicht. Will einen Anwalt sprechen.” “Tötet ihn jetzt!” kreischte eine Frau. “Reißt ihm Arme und Beine aus!” “Tötet ihn!” ertönte ein Antwortschrei von der anderen Seite der Menge. “Tötet ihn!” Die Versammlung, erkannte Haldersen, würde ohne weiteres zum Mob werden. Er sagte: “Sage mir deinen Namen, Und ich werde dich beschützen. Andernfalls kann ich keine Verantwortung übernehmen.” “Skinner”, murmelte der Mann kläglich. “Skinner. Und du hast das Leitungswasser verseucht.” Wieder ein Nicken. “Warum?” “Um mich zu rächen.” “An wem?” “An jedermann. Jedermann.” Der klassische Paranoide. Haldersen empfand Mitleid. Nicht die
anderen, sie wollten Blut sehen. Ein hochgewachsener Mann bellte: “Gebt dem Bastard sein eigenes Gift zu trinken!” “Nein, tötet ihn! Zertretet ihn!” Die Stimmen wurden immer drohender. Die wütenden Gesichter kamen näher. “Hört mich an”, rief Haldersen und seine Stimme übertönte das Gemurmel. “Hier wird heute abend nicht getötet.” “Was haben Sie denn vor, ihn der Polizei zu überlassen?” “Nein”, sagte Haldersen. “Wir werden gemeinsam Kommunion feiern. Wir werden diesen erbarmungswürdigen Mann die Segnungen des Vergessens lehren und dann werden wir selber an neuen Freuden teilhaben. Wir sind menschliche Wesen. Wir besitzen die Fähigkeit, selbst dem schlimmsten aller Sünder zu verzeihen. Wo befinden sich die Gedächtnisdrogen? Hat da nicht jemand gesagt, ihr hättet die Gedächtnisdrogen gefunden? Hier. Hier. Reicht sie weiter, hier herauf. Ja. Brüder, Schwestern, laßt uns dieser düsteren und entstellten Seele zeigen, was Erlösung bedeutet. Ja. Ja. Holt etwas Wasser bitte. Danke. Hier, Skinner. Helft ihm auf, ja? Haltet seine Arme fest. Sorgt dafür, daß er nicht hinfällt. Wartet eine Sekunde, bis ich die angemessene Dosierung gefunden habe. Ja. Ja. Hier, Skinner. Vergebung. Süßes Vergessen.” Es war so schön, wieder zu arbeiten, daß Mueller nicht aufhö ren wollte. Am Samstag im Laufe des frühen Nachmittags war sein Studio fertig eingerichtet; er hatte längst die Entwürfe für das erste Stück ausgearbeitet; jetzt war es nur noch eine Frage von Zeit und Arbeitsleistung, und schon würde er etwas haben, was er Pete Castine zeigen konnte. Er arbeitete bis weit in den Abend hinein, stellte seine Armaturen auf und unternahm einige Probeläufe mit den Schallsequenzen, die er in das Werkstück einzubauen gedachte. Er hatte einige interessante neue Einfalle, was sie sonischen Auslöser anging, jene Vorrichtungen, die den Schalleffekt in Gang setzte, wenn der Betrachter in ihre Reichweite kam. Carole mußte ihm schließlich sagen, daß das Abendessen fertig sei. “Ich wollte dich nicht stören” sagte sie, “aber es sieht so aus, als müßte ich es tun,
sonst hörst du nie auf.” “Tut mir leid. Die kreative Ekstase.” “Heb' dir was von dieser Energie auf. Es gibt noch andere Ekstasen. Als erstes die Ekstase des Abendessens.” Sie hatte alles selbst gekocht. Wunderbar. Danach machte er sich wieder an die Arbeit, aber um halb zwei Uhr morgens unterbrach Carole ihn. Jetzt war er bereit, aufzuhören. Er hatte einen anständigen Arbeitstag hinter sich gebracht, und er war vom edlen Schweiß wohlgetaner Arbeit bedeckt. Zwei Minuten unter dem Molekularreiniger und der Schweiß war verschwunden, aber der angenehme Schmerz tugendhafter Erschöpfung blieb zurück. So hatte er sich seit Jahren nicht mehr gefühlt. Er erwachte mit sonntäglichen Gedanken an unbezahlte Schulden. “Die Roboter sind immer noch da”, sagte er. “Sie werden nicht weggehen, oder? Obwohl die ganze Stadt lahmgelegt ist, hat keiner den Robotern gesagt, sie sollen sich zurückziehen.” “Ignoriere sie doch einfach”, sagte Carole. “Das habe ich schon die ganze Zeit getan. Aber ich kann nicht die Schulden ignorieren. Letztendlich wird es zu einer Abrechnung kommen.” “Du arbeitest aber wieder! Du wirst Einkünfte hereinbekommen.” “Weißt du denn, wie viel ich denen schulde?” fragte er. “Beinahe eine Million. Wenn ich ein Jahr lang pro Woche ein Stück anfertigen und jedes Stück für zwanzig Riesen verkaufen würde, könnte ich vielleicht alles abzahlen. Aber ich kann so schnell nicht arbeiten, und der Markt kann unmöglich so viele Muellers aufnehmen, und Pete kann sie auf keinen Fall alle im Hinblick auf zukünftige Geschäfte aufkaufen.” Er merkte, wie sich Caroles Gesicht bei der Erwähnung Pete Castines verdüsterte. Er sagte: “Dir ist klar, was ich werde tun müssen? Nach Caracas gehen, wie ich es vorhatte, ehe die ganze Sache mit den Erinnerungen losging. Ich kann dort arbeiten und mein Zeug an Pete schicken. Und vielleicht werde ich in zwei oder drei Jahren meine Schulden bezahlt haben, einhundert Cent pro Dollar, und ich kann
hier neu anfangen. Weißt du zufällig, ob das geht? Ich meine, ob man, wenn man in ein Schuldnerparadies flieht, für immer den Kredit gesperrt kriegt, auch wenn man abzahlt, was man schuldet?” “Weiß ich nicht”, sagte Carole abwesend. “Das werde ich später noch rausfinden. Das Wichtigste ist, daß ich wieder arbeiten kann, und ich muß irgendwo hingehen, wo ich arbeiten kann, ohne verfolgt zu werden. Und dann werde ich jedermann alles zurückzahlen. Du kommst doch mit mir nach Caracas, nicht wahr?” “Vielleicht müssen wir gar nicht fort”, sagte Carole. “Aber wie -” “Du solltest jetzt schon an der Arbeit sein, oder etwa nicht?” Er arbeitete, und während er arbeitete, stellte er in Gedanken Listen von Gläubigern auf und träumte von jenem Tag, an dem sämtliche Namen auf sämtlichen Listen ausgestrichen sein würden. Als er Hunger bekam, verließ er das Studio und fand Carole trübselig im Wohnzimmer sitzend vor. Ihre Augen waren gerötet, die Lider geschwollen. “Was ist passiert?” fragte er. “Willst du doch nicht mit nach Caracas?” “Bitte, Paul – laß uns nicht darüber sprechen –” “Ich habe aber wirklich keine Alternative. Ich meine, wenn wir uns nicht einen der anderen Zufluchtsorte aussuchen. Sao Paulo? Spalato?” “Das ist es nicht, Paul.” “Was denn dann?” “Ich fange wieder an, mich zu erinnern.” Ihm blieb die Luft weg. “Oh”, sagte er. “Ich erinnere mich an November, Dezember, Januar. An die Verrücktheiten, die du begangen hast, die Darlehen, das finanzielle Durcheinander. Und an die Auseinandersetzungen, die wir hatten. Es waren fürchterliche Auseinandersetzungen.” “Oh.” “Die Scheidung. Ich erinnere mich, Paul. Gestern abend fing es an, mir wieder einzufallen, aber du warst so glücklich, daß ich nichts
sagen wollte. Und heute morgen ist alles noch viel deutlicher. Du erinnerst dich immer noch an gar nichts?” “An nichts, was seit dem letzten Oktober gewesen ist.” “Ich aber”, sagte sie zitternd. “Du hast mich geschlagen, wußtest du das? Du hast mich an der Lippe verletzt. Du hast mich gegen die Wand gestoßen, gleich dort drüben, und dann hast du die chinesische Vase nach mir geworfen, und sie ist zerbrochen.” “Oh. Oh.” Sie fuhr fort: “Ich erinnere mich auch, wie gut Pete zu mir war. Ich glaube, ich kann mich sogar beinahe daran erinnern, wie ich ihn geheiratet habe, wie ich seine Frau war. Paul, ich habe Angst. Ich spüre, wie in meinem Kopf alles wieder Gestalt annimmt, und das macht mir genauso viel Angst, als würde mir der Kopf auseinanderbrechen. Es war so schön, Paul, diese letzten paar Tage. Es war, als wäre ich wieder frisch verheiratet mit dir. Aber nun kommt alles wieder, was daran schlimm war, der Haß, die Häßlichkeit, für mich ist das alles wieder lebendig. Und Pete tut mir so leid. Wie wir beide ihn am Freitag ausge schlossen haben. Er hat sich dabei wie ein Gentleman benommen. Aber Tatsache ist, er hat mich gerettet, als ich unterzuge hen drohte, und ich bin ihm deswegen etwas schuldig.” “Was hast du vor?” fragte er gefaßt. “Ich glaube, ich sollte zu ihm zurückgehen. Ich bin seine Frau. Ich habe kein Recht hier zubleiben.” “Aber ich bin nicht mehr der Mann, den du hassen gelernt hast”, protestierte Mueller. “Ich bin der alte Paul, der vom letzten Jahr und noch früher. Der Mann, den du geliebt hast. Alles, was hassenswert an mir war, habe ich verloren.” “Ich aber nicht. Jetzt nicht.” Sie schwiegen beide. “Ich denke, ich sollte zurückgehen, Paul.” “Wie du meinst” “Ich denke, das sollte ich. Ich wünsch' dir alles erdenkliche Glück, aber ich kann nicht hier bleiben. Wird es deiner Arbeit schaden, wenn ich wieder gehe?”
“Das weiß ich erst, wenn du es tust.” Sie teilte ihm noch drei oder vier Mal mit, sie habe das Gefühl, zu Castine zurückkehren zu müssen, und dann schlug er ihr in höflichem Ton vor, sie solle doch gleich zurückgehen, wenn ihr das notwendig erschiene, und sie tat es. Er verbrachte eine halbe Stunde damit, durch die Wohnung zu streifen, die nun wieder entsetzlich leer wirkte. Beinahe hätte er einen der Mahnroboter hereingebeten, um ihm Gesellschaft zu leisten. Statt dessen machte er sich wieder an die Arbeit. Zu seiner Überraschung kam er recht gut voran, und nach einer Stunde hatte er ganz aufgehört, an Carole zu denken. Am Sonntagnachmittag unternahm Freddy Munson einen Kredittransfer und schaffte es, die meisten seiner flüssigen Mittel auf ein altes Konto zu überweisen, das er bei der Bank of Luna besaß. Gegen Abend begab er sich zum Kai und ging an Bord eines Dreimann-Luftkissenboots im Besitz eines Fischers, der bereit war, es mit dem Gesetz nicht so genau zu nehmen. Sie schlüpften hinaus in die Bucht, ohne von Suchscheinwerfern erfaßt zu werden, und überquerten die Bucht in einem großen Diagonalbogen, worauf sie einige Zeit später wenige Kilometer nördlich von Berkeley anlegten. Munson fand ein Taxi, um sich zum Flughafen von Oakland fahren zu lassen, und erwischte den Mitternachtsflug nach Los Angeles, wo es ihm nach vielem Hin und Her gelang, sich einen Platz an Bord der nächsten Rakete Richtung Luna zu kaufen, die am Montagmorgen um zehn abheben sollte. Er verbrachte die Nacht im Raumhafengebäude. Er hatte nichts mitgenommen als die Kleidung, die er am Leib hatte, seine wertvollen Besitztümer, seine Bilder, seine Anzüge, seine Mueller-Skulpturen und alles übrige blieb in seiner Wohnung zurück und würde letztlich verkauft werden, um die Ansprüche gegen ihn zu befriedigen. Zu schade. Er wußte, daß er sowieso nicht zur Erde zurückkehren würde, nicht wenn ein Haftbefehl wegen Unterschlagung oder Schlimmeres auf ihn wartete. Ebenfalls sehr schade. Es war so lange so nett hier gewesen, und wem nützte schon eine Gedächtnisdroge in der Wasserversorgung? Munson hatte nur einen einzigen Trost. Es war Gegenstand seiner Philosophie, daß früher oder später, ohne Rücksicht darauf, wie
sorgsam man sein Leben organisiert hatte, das Schicksal einem eine Falltür unter den Füßen öffnete und einen ins Unbekannte und Unangenehme hinauskatapultierte. Nun wußte er, daß das zutraf, sogar auf ihn. Sehr, sehr schade. Er fragte sich, wie wohl seine Chancen standen, dort droben neu anzufangen. Brauchten sie Börsenmakler auf dem Mond? In seiner Rede an die Bevölkerung am Montagabend sagte Commander Braskett: “Das Komitee für öffentliche Sicherheit freut sich, berichten zu können, daß wir den schlimmsten Teil der Krise überstanden haben. Wie viele von Ihnen bereits festgestellt haben, fangen die Erinnerungen an, zurückzukehren. Der Erholungsprozeß wird für einige schneller voranschreiten als für andere, aber es sind schon große Fortschritte erzielt worden. Mit Wirkung von morgen früh um sechs Uhr werden die Verkehrsverbindungen von und nach San Francisco wieder geöffnet. Es wird normale Postzustellung geben, und viele Geschäftsbetriebe werden normal arbeiten. Liebe Mitbürger, wir haben wieder einmal den wahren Charakter des amerikanischen Geistes demonstriert. Die Gründungsväter müssen heute auf uns hernieder lächeln! Wie hervorragend haben wir das Chaos vermieden, und wie wunderbar sind wir zusammengerückt, um uns gegenseitig in einer Stunde Beistand zu leisten, die zur Stunde des Tumults und der Verzweiflung hätte werden können! Dr. Bryce bittet mich, Sie daran zu erinnern, daß ein jeder, der immer noch an einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des Gedächtnisses leidet – vor allem solche, die Ident itätsverlust erfahren haben, eine Störung lebenswichtiger Körperfunktionen oder andere Gebrechen –, sich in der Notaufnahmestation des Fletcher Memorial Krankenhauses melden soll. Hier wird Ihnen Behandlung angeboten, und es steht eine Computeranalyse für diejenigen zur Verfügung, die ihr Zuhause und ihre Lieben nicht finden können. Ich wieder hole –” Tim Bryce wünschte, der gute Commander hätte darauf verzichtet, diesen Einschub vom wahren Charakter des amerikanischen Geistes zu machen, vor allem im Hinb lick auf dir Notwendigkeit, gleich darauf die verbliebenen Opfer ins Krankenhaus einzuladen. Aber es wäre unbarmherzig gewesen, dagegen Einspruch zu erheben. Der
alte Weltraummann hatte das ganze Wochenende über in seiner Eigenschaft als Die Stimme der Krise gute Arbeit geleistet, und ein paar patriotische Ausschmückungen zum jetzigen Zeitpunkt waren harmlos. Die Krise war natürlich keineswegs auch nur annähernd vorbei, wie Commander Brasketts Rede angedeutet hatte, aber das Selbstvertrauen der Öffentlichkeit mußte gestärkt werden. Bryce hatte die neuesten Zahlen vorliegen. Die Selbstmorde beliefen sich nun auf 900, seit am Mittwoch die Schwierigkeiten begonnen hatten; der Sonntag war ein unerwartet schlimmer Tag gewesen. Von mindestens 40 000 Menschen fehlte immer noch jede Spur, obwohl man 1000 pro Stunde aufspürte und sie wieder ihren Familien zuführte, beziehungs weise einer Intensivstation. Vielleicht 750 000 weitere hatten immer noch Probleme mit dem Gedächtnis. Die meisten Kinder hatten sich voll erho lt, und viele Frauen befanden sich auf dem Weg der Besserung; aber ältere Leute und Männer im allgemeinen hatten fast gar kein Wiedereinsetzen ihres Gedächtnisses erlebt. Selbst jene, die beinahe ganz genesen waren, hatten keinerlei Erinnerung an die Ereignisse von Dienstag und Mittwoch und würden sie wahrscheinlich auch in Zukunft nicht bekommen; dagegen würde es für eine große Anzahl Menschen erforderlich werden, große Abschnitte der Vergangenheit durch äußere Einwirkung zu lernen, wie Unterrichtsstunden in Geschichte. Lisa brachte ihm auf diese Weise ihre Ehe nahe. Die Reisen, die sie unternommen hatten – die guten Zeiten, die schlechten – die Feste, die Freunde, die gemeinsamen Träume - sie schilderte ihm alles, so lebhaft sie konnte und er klammerte sich an jeder Anekdote fest und versuchte sie wieder zu einem Teil seines Ichs zu machen. Er wußte, es war im Grunde hoffnungslos. Er würde den Ablauf kennen, niemals die Substanz. Dennoch war es vermutlich das Beste, worauf er hoffen konnte. Er war plötzlich ganz entsetzlich müde. Er sagte zu Kamakura: “Gibt es schon irgendwas Neues aus dem Park? Dieses Gerücht, wonach Haldersen tatsächlich einen Vorrat von der Droge gekriegt hat?”
“Scheint zu stimmen, Tim. Es heißt, er und seine Freunde hätten den Typ erwischt, der die Wasserversorgung sabotiert hat, und ihn um ein ganzes Zimmer voller unterschiedlicher Amnesieerzeuger erleichtert.” “Wir müssen sie beschlagnahmen”, sagte Bryce. Kamakura schüttelte den Kopf. “Nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Die Polizei schreckt vor irgendwelchen Maßnahmen im Park zurück. Sie sagt, die Lage ist unklar.” “Aber wenn diese Drogen in Umlauf sind –” “Überlaß' es ruhig mir, mich darum zu kümmern, Tim. Sieh mal, warum gehen Lisa und du nicht eine Weile nach Hause? Du bist seit Donnerstag pausenlos hier gewesen.” “Genau wie –” “Nein. Alle anderen haben eine Verschnaufpause gehabt. Geh ruhig. Wir haben das Schlimmste überstanden. Entspannt euch, schlaft mal richtig, liebt euch mal richtig. Sieh zu, daß du deine prachtvolle Frau wieder ein wenig kennenlernst.” Bryce wurde rot. “Ich würde lieber hier bleiben, bis ich das Gefühl habe, es mir leisten zu können, daß ich gehe.” Stirnrunzelnd entfernte sich Kamakura, um mit Commander Braskett zu konferieren. Bryce besah sich die Bildschirme und versuchte sich vorzustellen, was wohl gerade im Park vor sich ging. Einen Augenblick darauf kam Braskett zu ihm herüber. “Dr. Bryce?” “Wie?” “Sie sind bis Sonnenuntergang am Dienstag Ihren Pflichten enthoben.” “Eine Sekunde mal –” “Dies ist ein Befehl, Doktor. Ich bin Vorsitzender des Komitees für öffentliche Sicherheit, und ich sage Ihnen, Sie sollen aus diesem Krankenhaus verschwinden. Sie werden einem Befehl doch nicht zuwiderhandeln, oder?” “Hören Sie mal, Commander –” “Hinaus. Keine Meuterei, Bryce. Hinaus. Befehl ist Befehl. Bryce versuchte zu protestieren, aber er war zu erschöpft, um
größeren Widerstand leisten zu können. Gegen Mittag befand er sich auf dem Weg nach Hause, mit vor Erschöpfung breiigem Kopf. Lisa war am Steuer. Er saß ganz still da und mühte sich ab, sich an Einzelheiten seiner Ehe zu erinnern. Nichts kam dabei heraus. Sie steckte ihn ins Bett. Er war sich nicht sicher, wie lange er schlief, aber dann spürte er sie an seinem Körper, warm, seidenweich. “Hallo”, sagte sie. “Kennst du mich noch?” “Ja”, log er dankbar. “Oh, ja, ja, ja!” Indem er die Nacht durcharbeitete, beendete Mueller am Montag gegen Morgengrauen seinen Aufbau. Er schlief eine Weile und begann am frühen Nachmittag die inneren Lautsprecherleisten aufzumalen: Etwa fünfhundert Lautsprecher auf einen Zentimeter, ein jeder von höchstens ein paar Molekülen Dicke, aus denen die Klänge seiner Skulptur mit tönender Fülle hervortreten würden. Als dies getan war, hielt er inne, um sich dem Problem der Oberflächenstruktur seiner Skulptur zu widmen, und gegen sieben an jenem Abend war er soweit, zur nächsten Projektphase überzugehen. Die Dämonen der Kreativität hatten von ihm Besitz ergriffen; er sah nicht ein, warum er essen sollte und nur bis zu einem gewissen Grade, warum er schlafen sollte. Um acht, als er gerade für die lange Nachtarbeit richtig in Schwung kam, hörte er ein Klopfen an der Tür. Caroles Signal. Er hatte die Klingel abgestellt und Robotern fehlte der Grips, einfach anzuklopfen. Besorgt ging er zur Tür. Sie war da. “Nun?” sagte er. “Nun bin ich zurückgekommen. Nun fängt alles wieder von vorne an.” “Was soll das?” “Kann ich reinkommen?” fragte sie. “Von mir aus. Ich arbeite, aber komm ruhig rein.” Sie sagte: “Ich habe alles mit Pete durchgesprochen. Wir kamen beide zu dem Schluß, daß ich zu dir zurückgehen sollte.” “Du hast wohl nicht viel für Konsistenz übrig, wie?” fragte er. “Ich muß die Dinge nehmen, wie sie kommen. Als ich mein
Gedächtnis verloren habe, bin ich zu dir gekommen. Als ich mich wieder an alles erinnert habe, hatte ich das Gefühl, gehen zu müssen. Ich wollte nicht gehen. Ich hatte das Gefühl, ich sollte gehen. Das ist etwas anderes.” “Tatsächlich”, sagte er. “Tatsächlich. Ich bin zu Pete gegangen, aber ich wollte nicht mit ihm Zusammensein. Ich wollte hier sein.” “Ich habe dich geschlagen und deine Lippe zum Bluten gebracht. Ich habe die Mingvase nach dir geworfen.” “Es war nicht Ming, es war K'ang-hsi.” “Verzeihung. Mein Gedächtnis ist immer noch nicht sehr gut. Wie dem auch sei, ich hab' dir schreckliche Dinge angetan und du hast mich genug gehaßt, um dir die Scheidung zu wünschen. Warum kommst du also zurück?” “Du hattest recht, gestern. Du bist nicht der Mann, den ich hassen gelernt habe. Du bist wieder der alte Paul.” “Und wenn meine Erinnerung an die vergangenen neun Monate wieder einsetzt?” “Und wenn”, sagte sie. “Die Menschen ändern sich. Du bist durch die Hölle gegangen und am anderen Ende wieder rausgekommen. Du arbeitest wieder. Du bist nicht bedrückt und gereizt und verwirrt. Wir werden nach Caracas gehen oder wohin du willst, und du wirst deine Arbeit tun und deine Schulden bezahlen, so wie du es gestern gesagt hast.” “Und Pete?” “Er wird die Annullierung vorbereiten. Er verhält sich fabelhaft in der Beziehung.” “Der gute alte Pete”, sagte Mueller. Er schüttelte den Kopf. “Wie lange wird das schöne Happy-End anhalten, Carole? Wenn du glaubst, es besteht die Möglichkeit, daß du am Mittwoch wieder in die andere Richtung galoppierst, sag es lieber gleich. In dem Fall würde ich mich nämlich nicht gern erneut auf die Sache einlassen.” “Auf keinen Fall. Auf gar keinen.” “Es sei denn, ich werfe die Ch'ien-lung-Vase nach dir.” “K'ang-hsi”, sagte sie.
“Ja. K'ang-hsi.” Er brachte ein Grinsen zustande. Plötzlich spürte er, wie sich die während der letzten Tage aufgestaute Müdigkeit bemerkbar machte. “Ich hab' zuviel gearbeitet” sagte er. “Eine Orgie der Kreativität, um die verlorene Zeit wettzumachen. Laß uns Spazierengehen.” “Au ja”, sagte sie. Sie gingen hinaus, gerade als ein Mahnroboter eintraf” Einen wunderschönen guten Abend, mein Herr”, sagte Mueller. “Mr. Mueller, ich vertrete die Inkassoabteilung der Firma Anne Brass und –” “Wenden Sie sich an meinen Anwalt”, sagte er. Nebel rollte vom Meer herein. Es gab keine Sterne. Die Lichter der Innenstadt waren nicht zu sehen. Er und Carole gingen nach Westen, auf den Park zu. Ihm war sonderbar leicht im Kopf, nicht ausschließlich aus Mangel an Schlaf. Traum und Wirklichkeit hatten sich vermengt; dies waren außergewöhnliche Zeiten. Sie betraten den Park am Panhandle und schlenderten Arm in Arm auf die Museumsgegend zu, ohne viele Worte zu wechseln. Als sie am Gewächshaus vorbeikamen, wurde Mueller einer Menschenmenge vor ihnen gewahr, Tausende von Leuten, die alle in die Richtung starrten, wo sich die Konzertmuschel befand. “Was, meinst du, geht da vor?” fragte Carole. Mueller zuckte die Achseln. Sie drängten sich durch die Menge. Zehn Minuten später waren sie nahe genug herangekommen, um die Bühne zu sehen. Ein großer, dünner, wirr dreinblickender Mann mit struppigem gelblichem Haar stand darauf. Neben ihm befand sich ein kleiner, knochiger Mann in zerlumpter Kleidung, und sie wurden von einem Dutzend weiterer Personen flankiert, die Keramikschüsseln hielten. “Was geht da vor?” fragte Mueller jemanden in der Menge. “'ne religiöse Zeremonie.” “Häh?” “'ne neue Religion. Kirche des Vergessens. Das ist der Oberprophet da droben. Sie ha'm wohl noch nichts davon gehört?” “Keine Silbe.”
“Hat ungefähr Freitag angefangen. Sehen Sie diesen Typen neben dem Propheten, der wie eine Ratte aussieht?” “Ja.” “Das ist der, der das Zeug ins Leitungswasser gekippt hat. Er hat alles gestanden, und die haben ihn gezwungen, seine eigene Droge zu schlucken. Jetzt kann er sich an überhaupt nichts erinnern, und er ist der Assistenzprophet. Völlig verrücktes Zeug!” “Und was machen die dort oben?” “Sie haben die Droge in diesen Schüsseln. Sie trinken und vergessen noch mehr.” Der aufkommende Nebel schluckte die Laute derer auf der Bühne. Müller strengte sich an, um etwas zu hören. Er sah die glänzenden Augen des Fanatismus; der angebliche Wasservergifter glühte geradezu. Worte schwebten hinaus in die Nacht “Brüder und Schwestern.... die Freude, die Süße des Vergessens ... kommt hier herauf zu uns, feiert mit uns die Kommunion ... Vergessen ... Erlösung ... selbst die bösartigsten ... vergessen ... vergessen ...” Sie reichten die Schüsseln auf der Bühne herum, tranken, lächelten. Leute stiegen hinauf, um die Kommunion in Empfang zu nehmen, griffen nach einer Schüssel, nippten daran, nickten glücklich. Im Bühnenhintergrund wurden die Schüsseln von drei nüchtern wirkenden Funktionären wieder aufgefüllt. Mueller fröstelte. Er hatte irgendwie den Verdacht, daß das, was während dieser Woche hier im Park ins Leben gerufen worden war, noch lange weiterbestehen würde, nachdem die Krise San Franciscos schon längst Geschichte geworden war, und es schien ihm, als sei etwas Neues und Furchteinflößendes über das Land gekommen. “Nehmet... trinket... vergesset...” schrie der Prophet Und die Gläubigen brüllten: “Nehmen ... trinken ... vergessen ...” Die Schüsseln wurden herumgereicht. “Was soll das alles?” flüsterte Carole. “Nehmet... trinket ... vergesset...” “Nehmen ... trinken ... vergessen ...” “Gelobt sei das süße Vergessen.”
“Gelobt sei das süße Vergessen.” “Süß ist es, abzulegen die Bürde der Seele.” “Süß ist es, abzulegen die Bürde der Seele.” “Freudenreich ist der Neubeginn.” “Freudenreich ist der Neubeginn.” Der Nebel wurde dichter. Mueller konnte kaum das Gebäude des Aquariums gleich auf der anderen Seite des Weges erkennen. Er umschloß Caroles Hand fest mit der seinen und begann zu überlegen, wie er am besten aus dem Park herauskam. Er mußte allerdings zugeben, daß diese Leute irgendwo ein Quentchen Wahrheit getroffen hatten. War er etwa nicht besser dran, dadurch, daß er eine Chemikalie in seinen Blutkreislauf aufgenommen und so ein Stück seiner Vergangenheit abgelegt hatte? Ja, natürlich. Und doch – sich auf diese Art den eigenen Kopf zu verstümmeln, absichtlich, freudig, einen tiefen Schluck vom Vergessen zu nehmen –. “Gesegnet sind jene, die vergessen können”, sagte der Prophet. “Gesegnet seien jene, die vergessen können”, antwortete dröhnend die Menge. “Gesegnet seien jene, die vergessen können”, hörte Mueller seine eigene Stimme rufen. Und er begann zu zittern. Und er empfand plötzliche Furcht. Er spürte die Kraft dieser seltsamen neuen Bewegung, die wachsende Stärke des Appells des Propheten an die Unvernunft. Vielleicht war es ja an der Zeit für eine neue Religion, für einen Kult, der die Befreiung von allem inneren Ballast anzubieten hatte. Man würde diese Droge synthetisch herstellen und tonnenweise ausliefern, dachte Mueller, und wiederholt einzelnen Städten Dosen davon verabreichen, um jedermann dazu zu bekehren, damit jedermann die Freuden des Vergessens auskosten konnte. Niemand wird in der Lage sein, sie aufzuhalten. Nach einer Weile wird niemand sie aufhalten wollen. Und so werden wir weitermachen, in liefen Zügen trinken, bis wir von allem Schmerz und allen Sorgen reingewaschen sind, von allen traurigen Erinnerungen, wir werden ein Täßchen Freundlichkeit schlürfen und von der guten alten Zeit Abschied nehmen, wir werden den Kummer
aufgeben, den wir mit uns herumtragen, und wir werden alles übrige mit aufgeben, Identität, Seele, unser Ich, unseren Verstand. Wir werden vom süßen Vergessen trinken. Mueller schauderte. Er wandte sich plötzlich ab, packte Carole dabei grob am Arm, schob sich durch die jubelnde, andächtige Menge und eilte traurig in die nebelverhüllte Nacht hinaus, um einen Weg aus dem Park zu suchen. Ende