TERRA ASTRA Nr. 349
Peter Griese – Sturz in die Vergangenheit (Sience Fiction-Stories) Experimente mit der Zeit – Mensc...
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TERRA ASTRA Nr. 349
Peter Griese – Sturz in die Vergangenheit (Sience Fiction-Stories) Experimente mit der Zeit – Menschen als Spielball gegeheiminsvoller Kräfte – 5 SF-Stories …
INHALT Betrug Kontaktversuch Sturz in die Vergangenheit Jenseits von heute Die Ein-Mann-Armee
Seite 3 Seite 15 Seite 26 Seite 50 Seite 67
Dieses eBook wurde im Januar 2003 erstellt und ist nicht für den Verkauf bestimmt!
Sturz in die
Vergangenheit
von PETER GRIESE
BETRUG 1. Das gleichmäßige Brummen der mächtigen Aggregate erfüllte das La bor. Nur der Verbund der drei riesigen Digitalrechner arbeitete völlig lautlos, schickte in Sekundenbruchteilen Bitströme aus, sammelte In formationen und Meßwerte aus dem gesamten System ein und verarbei tete sie weiter. Der Drei-D-Rechner hatte die Funktionen sämtlicher menschlicher Assistenten übernommen. Paul Ysker, oder besser Professor Doktor Paul Ysker, Zeitpraktiker Zweiter Ordnung, war allein mit den Maschinen. Er konnte ungestört arbeiten. Und das war gut so, denn bei dem, was er vorhatte, konnte er keinen Zeugen gebrauchen. Ganz besonders nicht seinen ersten und wichtigsten Assistenten, Conrad Wiffert. Die Hände des fast fünfzigjährigen Mannes huschten flink über die Tasten der Eingabeperipherie des Drei-D. Auf dem breiten, leuchtenden Wanddisplay erschienen die Antworten des Rechnerverbunds. Das Test programm war angelaufen. Sämtliche Funktionen der Zeitschleuder wurden nur durchgeprüft und mehreren Einzeltests unterzogen. An ih rem Ende würde feststehen, ob die Anlage in allen Belangen einwand frei war. Ysker wußte, daß dieser Testlauf etwa zwanzig Minuten dauern wür de. Selbst wenn keine Fehler im System gefunden werden würden, war damit noch nicht gesagt, daß die Zeitschleuder wie berechnet funk tionieren würde. Schließlich war die gesamte Anlage noch nie im Ver bund gelaufen. Nur einige Teilversuche hatte Ysker schon durchgeführt, und die waren erfolgversprechend gewesen. Es war gelungen, einige Gegenstände verschwinden zu lassen. Nach Yskers Berechnungen be fanden sich diese Dinge nun irgendwo in der Vergangenheit. Diese Berechnungen stützten sich auf die Arbeiten, die Yskers Schwiegervater Schedden Schedletzky durchgeführt hatte. Schedletzky hatte zu seinen Lebzeiten die Grundsteine für den Bau der Zeitschleuder gelegt, Indem er in mehreren umfassenden Abhandlungen die Möglich keiten der Zeitreise beschrieb und ihre Durchführung vorhersagte. Auch hatte er fast sämtliche theoretischen Grundlagen für den Bau der Zeit schleuder geliefert. Schedden Schedletzky war der geistige Vater der Zeitreise. Yskers 3
Aufgabe war es, dieses Erbe zu realisieren. Vor vier Jahren war Sched letzky gestorben. Damit waren alle Aufgaben an Ysker übergegangen. Das war so selbstverständlich gewesen, daß niemand darüber verwun dert war. Schließlich war er schon seit Jahren mit Schedletzkys Tochter Karen verheiratet. Vor einigen Monaten, als es ihm und seinem Team gelungen war, ei nige Gegenstände in die Zeit zu schleudern, hatte man ihm für diese Tat den Titel eines „Zeitpraktikers Zweiter Ordnung“ verliehen. Gleichzeitig hatte man ihm in Aussicht gestellt, Zeitpraktiker Erster Ordnung zu werden, wenn ihm eine Zeitreise nachweislich gelänge. Wenn nur das Problem Conrad Wiffert nicht gewesen wäre. Sicher, Wiffert war ein sehr tüchtiger Mann. Ohne seine Hilfe wäre Ysker noch Monate von seinem Ziel entfernt, Das Problem lag woanders. Paul Ysker hatte Karen Schedletzky vor gut acht Jahren geheiratet. Die Tochter des honorigen Zeittheoretikers war zwölf Jahre jünger als er, aber das hatte ihm nichts ausgemacht. Das Problem war, daß Conrad Wiffert nicht nur etwa gleichaltrig mit Karen war, sondern zudem noch wesentlich attraktiver aussah als Paul Ysker. Wiffert ließ keine Gelegenheit aus, um mit Karen zu flirten. Und Paul hatte bemerkt, daß dies seiner Frau mehr als willkommen war. Sein Ehrgeiz ließ einen Nebenbuhler nicht zu. Die Zeitschleuder war ihm zwar wichtiger als seine Frau, aber er wollte alles. Er wollte die Zeitschleuder, Karen, den Titel eines Zeitpraktikers Erster Ordnung, das damit verbundene Geld, das Ansehen, die Macht und die Bedeutung. Auf dem Wanddisplay leuchtete die Schrift des Drei-D zum Pro grammende auf. „TESTLAUF BEENDET – FESTGESTELLTE FEHLER: KEINE.“ Paul Ysker atmete tief durch und strich sich mit einer nervösen Geste das leicht angegraute Haar aus dem Gesicht. Nun galt es, einen kühlen Kopf zu bewahren. Die riesige Anlage würde in ihrer Mitte ein unstetes Temporalfeld erzeugen, das einen Gegenstand für eine definierte Zeit spanne an einen bestimmten Ort in die Vergangenheit schleudern würde. Danach müßte der Gegenstand wieder in der Realzeit auftauchen. So hatte Schedden Schedletzky es berechnet, und so war die Zeitschleuder in ihrem technischen Aufbau konzipiert worden. Während das in die Zeit geschleuderte Objekt mehrere Minuten oder gar Stunden in der Vergangenheit weilen würde, würde es dem Beob achter in der Gegenwart so erscheinen, als ob es nur eine Sekunde ver 4
schwunden wäre. Diese eine Sekunde war zwar auch variabel einstell bar, aber Schedletzky hatte in seinen theoretischen Untersuchungen diesen Wert aus energetischen Gründen so festgelegt. Und was ein Mann wie Schedden Schedletzky gesagt hatte, das tastete man nicht ohne zwingenden Grund an. Ysker dachte über diese Dinge nur kurz nach. Er starrte immer noch gebannt auf das Ergebnis des Testlaufs, das auf dem Bildschirm ge schrieben stand. »Der Grund dafür, daß ich eine Sekunde gewählt habe“, hatte der Zeittheoretiker einmal schelmisch gesagt, „ist einfach der, daß in der Gegenwart für die Dauer einer Zeitreise keine Zeit vergeht. Und das ist doch sehr praktisch.“ Ysker fiel dieser Satz seines verstorbenen Schwiegervaters ein, als er die Justierungen vornahm. Er wußte, daß er mit äußerster Vorsicht an die Experimente herangehen mußte. „Ein Zeitparadoxon merkt nur der Betroffene selbst“, war seine Kern aussage gewesen. Und die hatte bis heute noch niemand widerlegt. „Der Betroffene ist der, der die Zeitreise durchführt oder nur veranlaßt. Er ändert unter Umständen die Vergangenheit und beeinflußt damit die Gegenwart. Macht der Betroffene selbst eine Zeitreise und kehrt danach in seine Gegenwart zurück, so wird er Veränderungen vorfinden kön nen, die er verursacht hat und über deren früheren Zustand nur er allein weiß. Für alle anderen Menschen ist die Erinnerung verschwunden, denn sie haben die Zeitreise nicht durchgeführt und können keine Erin nerung an eine andere Vergangenheit haben. Er lebt dann in einer Zeit, die seine Realgegenwart ist. Seine Erinnerung spielt ihm eine Re alvergangenheit vor, die nicht mehr existiert. Der Betroffene besitzt dann keine Realvergangenheit mehr, sondern eben nur eine Erinnerung. Einfach ausgedrückt heißt dies; wer sich in der Vergangenheit umbringt, kann in der Gegenwart nicht vorhanden sein. Selbst wenn die Zeit schleuder den toten Körper des Zeitreisenden in die Gegenwart holt, so kommt dort doch niemals etwas an, denn in der neuen Realgegenwart existiert dieser Körper schon lange nicht mehr.“ Für Paul Ysker bedeutete dies ein Höchstmaß an planerischer Berech nung. Für seine ersten Experimente hatte er die Berechnungen schon vor Tagen abgeschlossen, ohne Conrad Wiffert dies wissen zu lassen! Er nahm seine Armbanduhr ab und stellte sie auf fünf Minuten vor zwölf Uhr. Sorgfältig legte er die Uhr auf der markierten Fläche ab, die 5
von den Energien der Zeitschleuder eingehüllt werden sollten. Dann schritt er zum Eingabepult des Drei-D. Mit wenigen Tastendrücken rief er das errechnete Programm aus einem Speicher ab, von dem nur er al lein wußte. Yskers, Bewegungen wirkten jetzt so sicher, als ob es sich um einen Routinevorgang handeln würde. Als letzte Information tastete er die Dauer der vorgesehenen Zeitreise ein. Die Uhr sollte für dreißig Minu ten in die Vergangenheit verschwinden. Als Ort hatte er den Keller seines Elternhauses gewählt und als Zeit punkt in der Vergangenheit seine eigene Geburtsstunde. Er war sicher, daß dies so unverfängliche Daten waren, so daß eine Beeinflussung der Gegenwart völlig auszuschließen war. Das Summen der Energieaggregate erhöhte sich, als er die Starttaste drückte. Über die Leuchtanzeigen des Drei-D-Rechnerverbunds husch ten bunte Lichter in rasender Folge. Paul Ysker stellte sich so, daß er gleichzeitig die Uhr auf der markier ten Fläche sah und auch das Wanddisplay des Drei-D. Auf dem Bild schirm lief eine Zahlenreihe rückwärts. Bei Null würde das Zeitfeld wirksam werden. Er überdachte noch einmal alle Punkte und kam zu dem Schluß, daß er nichts vergessen hatte. Nun wurde der Mann doch nervös. Ihm schien, als verginge die Zeit langsamer als normal. Einige unsinnige Gedanken kamen ihm in den Kopf. So hatte er plötzlich den Verdacht, daß der Drei-D absichtlich langsamer zählte, um ihn zu verwirren. Als die Null aufleuchtete, hingen seine Augen gebannt auf der Arm banduhr. Geschah es tatsächlich? Ja! Die Uhr verschwand. Die eine Sekunde, in der die markierte Fläche der Zeitschleuder leer blieb, wurde für Paul Ysker zur Ewigkeit. Erregt hielt er den Atem an. Da tauchte in einem matten Lichtschein die Uhr wieder auf, und gleich zeitig ging das Summen der Aggregate in einen abklingenden Ton über. Der Mann stürzte auf die Zeitschleuder zu und riß die Uhr vor seine Augen. Er mußte sich erst die Tränen der Erregung aus dem Gesicht wischen, bevor er die Zeit ablesen konnte. Zwölf Uhr und dreißig Minuten! Das bedeutete, daß die Uhr genau die halbe Stunde weiter war, als Ysker sie eingestellt hatte. Es war geschafft. 6
2. Der zweite Versuch mit der Zeitschleuder sollte aus einer Folge von sehr kurzen Zeitreisen bestehen, die zudem nur gering in die Vergangen heit reichen würden. Nachdem Paul Ysker durch das erfolgreiche Expe riment mit der Uhr vom einwandfreien Funktionieren der Anlage über zeugt war, begann er nun mit der Verwirklichung seines eigentlichen Planes. Er wollte sich mit Hilfe der Zeitschleuder die Beweise beschaffen, die ihm noch fehlten, um das Verhältnis seines Assistenten Conrad Wiffert zu Karen zu durchleuchten. Er hatte sich in den vergangenen Wochen sorgfältig Notizen gemacht. Schließlich hatte Paul Ysker so aus Zeit- und Ortsangaben knapp über hundert Ziele für Zeitreisen bestimmt. Der Drei-D las die Angaben mit der Leidenschaftslosigkeit einer Ma schine in das Programm ein. Der Mann vor dem Pult der Eingabeperi pherie jedoch war voller Erregung, Neugier und Eifersucht. Das Objekt für die Folge von Zeitreisen hatte Ysker nicht minder sorgfältig ausgewählt und vorbereitet. Es war eine automatische Kame ra, die in exakten Zwei-Sekunden-Abständen Bilder aufnehmen würde. Bevor er den Startknopf betätigte, überlegte der Zeitpraktiker noch einmal die möglichen Wirkungen dieser Zeitreisen auf seine eigene Gegenwart. Die Kamera würde an einigen Punkten der letzten Wochen für jeweils eine knappe Sekunde auftauchen, ein Bild aufnehmen und wieder verschwinden. Ein Bemerken war so gut wie ausgeschlossen, denn er hatte die Orte so bestimmt, daß die Kamera nur an gänzlich unauffälligen Stellen erscheinen würde. So sehr Ysker auch nachdachte, er konnte keine Gefahr in dem Expe riment erkennen. Er vergaß für einen Augenblick die mahnenden Worte des verstorbenen Schedden Schedletzky und gab den Start frei. Der gesamte Versuch dauerte fast zwei Minuten. In dieser Zeit tauchte die Kamera über einhundertmal in die Vergangenheit, materialisierte dort, nahm ein Bild auf und kehrte in die Gegenwart zurück. Ysker ver folgte gespannt das sich ständig wiederholende Auftauchen und Ver schwinden des Apparats. Der Drei-D zählte mit seinen Leuchtziffern dazu auf dem Wanddisplay. Als die siebzigste Rückkehr der Kamera erfolgte, brach Paul der Schweiß aus. Er konnte die letzten Sekunden 7
kaum noch erwarten. Erst als der Rechnerverbund das Ende des Versuchs anzeigte und die Kamera in der gekennzeichneten Fläche liegenblieb, beruhigte sich der Mann. Er nahm den Film heraus und legte ihn in den Entwicklungs automaten. Unmittelbar darauf spuckte der Automat in rascher Folge die Bilder aus. Paul Ysker überflog die Fotos. Das Ergebnis war niederschmetternd. Die Fotos, die in Pauls eigener Wohnung gemacht worden waren, zeig ten einen mehr oder weniger bekleideten Conrad Wiffert und eine noch weniger bekleidete Karen Ysker in Situationen, die man nur noch als eindeutig beschreiben konnte. Mit einer wütenden Geste warf der Mann die Bilder zu Boden. „Das ist dein Todesurteil, Conrad Wiffert“, murmelte er. Sein Gesicht verzog sich zu einer bösartigen Grimasse. „Eigentlich nicht dein Todesurteil, sondern … du wirst gar nicht ge boren werden!“ * Auch bei seinen weiteren Schritten ging der Zeitpraktiker mit äußerster Sorgfalt vor. Diesmal würde er selbst das Objekt sein, das die Zeitreise durchführen würde. Der Zeitpunkt selbst lag knapp vierzig Jahre in der Vergangenheit. Paul selbst war da noch keine zehn Jahre alt und lebte an einem anderen Ort. Wichtig an dem Zeitpunkt war allein die Tatsache, daß Conrad Wiffert noch nicht lebte. Über die Vergangenheit seines Assistenten besaß Ysker gute und ge naue Informationen. Wifferts Eltern waren in der Verwaltung der Uni versität tätig gewesen, an der Schedden Schedletzky seine Zeitfor schungsstudien betrieben hatte. Paul hatte mit seinem Schwiegervater, als dieser noch lebte, oft über die Vergangenheit gesprochen und von daher die erforderlichen Kenntnisse über die Tatsachen und über die ört lichen Verhältnisse. Da er in seiner Jugend an einem weit entfernten Ort gelebt hatte, bestand bei der vorgesehenen Zeitreise auch nicht die Ge fahr, daß er sich selbst als Kind begegnen würde. Schedletzky hatte vor einem solchen Zusammentreffen stets gewarnt, weil die Folgen unbe rechenbar waren. Sein Plan stand fest, und er war sich sicher, daß nichts schiefgehen konnte. Aus den Ausrüstungsgegenständen des Labors nahm er eine 8
kleine Nadlerpistole, die normalerweise zum Betäuben oder Töten von Tieren bei Versuchen verwendet wurde. Er wählte die tödliche Ladung und verstaute die Waffe sorgfältig in seinem Jackett. Dann programmierte er den Drei-D zur Steuerung der Zeitschleuder. Zum Abschluß dieser Arbeit gab er die Ortskoordinaten für seine An kunft ein. Er wählte einen Nebenraum der Heizungsanlage der Uni versität. Nun fehlte nur noch die Verweildauer in der Vergangenheit. Nach kurzem Nachdenken stellte Ysker eine Stunde ein. Diese Zeit sollte genügen, um Conrad Wifferts Vater ausfindig zu ma chen und zu töten. Nach einer Stunde in der Vergangenheit würde er – unabhängig da von, wo er sich dann befand – wieder in seine Gegenwart zurückge schleudert werden und hier im Labor auftauchen. Selbst wenn man ihn bei seinem Attentat erwischen würde, er würde immer entkommen kön nen. Ein leichtes Gefühl der Unsicherheit überflog ihn dennoch. Irgendwie hatte er eine Ahnung, als ob er etwas Wesentliches übersehen hätte. Er überdachte die möglichen Auswirkungen auf seine Gegenwart nach der Rückkehr, auf die neue Realgegenwart. Schedletzkys warnende Worte klangen noch in ihm nach. Nein, Wifferts Vater hatte keinen entscheidenden Einfluß auf sein Le ben gehabt. Er war ein kleiner Angestellter der Universität gewesen, mehr nicht. Paul Ysker zerstreute seine Zweifel. Sein Entschluß stand fest. Er drückte die Starttaste der Zeitschleuder. Bevor der Drei-D bis zum Zeitpunkt der Entmaterialisierung gezählt hatte, stand er längst in der Mitte der markierten Fläche der Zeitschleuder. Für einen Sekundenbruchteil wurde alles um ihn herum dunkel. Paul Ysker spürte die Weite der Zeit, die wie ein Hauch Unvergänglichkeit durch sein Gehirn wehte.
3. Der Raum, in dem er rematerialisierte, entsprach seinen Erwartungen. Er befand sich im Heizungskeller der Universität. Rasch blickte sich der Zeitreisende um. Er war allein. Unauffällig verließ Ysker den Raum und schlenderte gemächlich 9
durch das Universitätsgebäude in Richtung der Verwaltungsräume. Wiffert mußte irgendwo im dritten Obergeschoß gearbeitet haben, sagte er sich, nur um sich sogleich zu verbessern: Er muß da irgendwo arbeiten. Die gedankliche und gefühlsmäßige Umstellung von seiner ursprüng lichen Gegenwart auf die jetzige, die für ihn Vergangenheit war und die er als Gegenwart erlebte, fiel ihm nicht leicht. Paul Ysker brauchte nicht lange zu suchen. Er fand in der dritten Eta ge eine Tür mit dem Schild: Ch. Wiffert, Ang. – Essenmarkenausgabe. Das Ch konnte nur Christopher bedeuten, und Paul Ysker wußte, daß dies der Vorname von Conrad Wifferts Vater war. Skrupel hatte der Zeitreisende nicht. Er wußte, daß Christopher Wif fert schon wenige Jahre später bei einem Unfall bei einem Urlaubsflug zur Venus ums Leben kommen würde. Ohne Zögern betrat er den kleinen Büroraum. Enttäuscht mußte er feststellen, daß das Zimmer leer war. Wiffert war nicht da. Rasch blickte sich Paul um. Auf dem Schreibtisch lagen noch einige Unterlagen. Wif fert konnte also nicht weit sein, sonst hätte er das Zimmer abgeschlos sen. Ein Blick auf seine Uhr sagte Ysker, daß er noch vierzig Minuten Zeit hatte, um seine Tat durchzuführen. Danach würde ihn die Zeitschleuder unwiderruflich zurückholen, unabhängig davon, was hier geschah oder nicht geschah. Er setzte sich auf einen Stuhl und überlegte. Vielleicht hatte er doch nicht alle Einzelheiten bedacht, und es war besser, Wiffert nicht umzu bringen? Zweifel kamen in ihm auf und verunsicherten ihn. Seine Gedanken wurden erst unterbrochen, als sich die Tür öffnete und ein Mann eintrat. Der Zeitreisende erkannte sofort, wen er vor sich hatte. „Sind Sie Christopher Wiffert, der in der Park Lane 312 wohnt?“ Die Frage war nur eine letzte Sicherheit, die Ysker haben wollte. Der Mann nickte verwundert. Da stand es für Paul Ysker unwiderruflich fest. Er hatte sein Opfer gefunden. „Ich soll Ihnen dies hier geben“, sagte er mit belegter Stimme und griff in seine Jacke. Wiffert blickte ungläubig auf die Waffe. Er bekam nicht mehr mit, was geschah, da traf ihn schon der zischende Strahl aus der Nadlerpisto 10
le. Er verharrte noch einige Sekunden und stürzte dann, wie vom Blitz getroffen, zu Boden. Paul Ysker untersuchte den Mann und stellte den Tod fest. „Du wirst keinen Bastard namens Conrad in die Welt setzen“, mur melte er grimmig. Dann wischte er sich die Schweißperlen von der Stirn und verstaute die Waffe. Ohne beachtet zu werden, konnte er den Raum verlassen. Er schloß die Tür hinter sich ab und warf den Schlüssel in den Abfallverwerter. Es blieben ihm noch gut zehn Minuten, bis die Zeitschleuder ihn zu rückholen würde. Diesen Vorgang wollte er unbemerkt von seiner Um gebung erleben. Er schloß sich in einer Toilette ein, und als der Zeit punkt der Rückkehr unmittelbar bevorstand, öffnete er das Schloß. Vielleicht konnte sogar eine verschlossene Toilettentür die Zukunft verändern, dachte er dabei ironisch, weil er selbst nicht daran glaubte. Paul Ysker war mit sich zufrieden. Der Nebenbuhler war beseitigt. Er lachte in sich hinein, als ihn das Dunkel der Zeitströme erfaßte. Fast übergangslos fand er sich in seinem Labor in der neuen Realge genwart wieder. Der Schock traf ihn wie ein Hammer.
4. Es dauerte eine ganze Weile, bis Paul Ysker sich einigermaßen beruhigt hatte. Zusammengesunken saß der Zeitpraktiker auf einem Hocker und betrachtete das Labor. Vergebens suchte er nach der Zeitschleuder. Die Maschine war nicht mehr vorhanden! Überhaupt hatte er Mühe, das Labor wiederzuerkennen. Eigentlich stimmten nur die Wände und Türen in ihrer Anordnung mit dem über ein, was ihm seine Erinnerung sagte. Ein paar ausgediente Aggregate kamen ihm noch bekannt vor. Sonst wirkte die Umgebung völlig fremd. Paul Ysker wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Durch die Ermordung von Christopher Wiffert hatte er die Geburt von dessen Sohn Conrad verhindert. Das war klar. Damit hatte er aber nicht nur seinen Nebenbuhler ausgeschaltet, sondern auch seinen wertvollsten Assistenten verloren. Die Arbeiten an der Zeitschleuder konnten also noch gar nicht so weit gediehen sein, wie es in seiner früheren Real 11
gegenwart der Fall gewesen war. Vielleicht habe ich in meiner neuen Gegenwart einen anderen Platz gewählt, um die Zeitschleuder zu bauen? überlegte er. Es galt, sich rasch der neuen Lage anzupassen. Das bedeutete, daß er vorsichtig und unverfänglich nachforschen mußte, wie die Vergangen heit zu seiner jetzigen Realgegenwart aussah. Ein dunkles Gefühl der Unsicherheit ließ ihn erahnen, daß ihm noch weitere Überraschungen bevorstanden. Er verließ unbemerkt den Raum und eilte durch die Gänge zum nächsten Telefonanschluß. Die Umge bung kam ihm hier schon vertrauter vor. Er wählte die Nummer seiner eigenen Wohnung. „Hier bei Dr. Ysker“, meldete sich eine weibliche Stimme. „Ja, hier ist Dr. Ysker selbst“, antwortete er hastig. „Ich möchte meine Frau sprechen.“ „Wie bitte? Sind Sie es, Herr Doktor?“ fragte die ihm Unbekannte höflich zurück. „Ja doch!“ Paul Ysker war nervös und unwirsch. „Ich möchte meine Frau sprechen.“ Nebenbei registrierte er unbewußt, daß die Unbekannte ihn mit Herr Doktor, nicht aber mit Herr Professor anredete, was eigentlich richtiger gewesen wäre. Aber was war nach seiner Reise in die Vergangenheit noch richtig? „Hier ist Katy, Ihre Haushälterin, Herr Doktor. Machen Sie einen Scherz mit mir? Sie sind doch gar nicht verheiratet.“ „Sehr gut“, antwortete der Mann schweratmend. „Es hat nichts zu be deuten.“ Er hängte den Hörer auf und lehnte sich an die Wand. Irgend etwas war völlig anders verlaufen. Er war nicht verheiratet! Wo war Karen? Was hatte er angerichtet? Paul Ysker wußte, daß er die Antworten selbst finden mußte, weil sie niemand außer ihm kennen konnte. Als er sich von dem neuerlichen Schock etwas erholt hatte, suchte er sein Büro auf. Und das, was da auf dem Türschild stand, raubte ihm fast die Sinne. PROF. DR. CONRAD WIFFERT, ZEITPRAKTIKER ZWEITER ORDNUNG. Er würgte den Kloß herunter, der ihm im Hals saß und eilte weiter. Nach wenigen Schritten stand er vor der Tür, hinter der sein Conrad 12
Wiffert gearbeitet hatte. Und da stand lapidar: Dr. P Ysker, Assistent. Rasch trat er ein. Der Raum war ähnlich eingerichtet, wie es der von Wiffert gewesen war. Erschöpft sank Paul Ysker in einen Sessel. Seine Gedanken rasten wie wild. Krampfhaft versuchte er eine Erklärung für die zahlreichen Veränderungen zu finden. Er wollte doch nur Conrad Wiffert ausschalten. Und jetzt dieses Desaster! Wiffert lebte. Und er war der Zeitpraktiker Zweiter Ordnung. Nach Yskers Plan und seinen Über legungen war dies undenkbar. Er zog alle möglichen Kalkulationen heran, aber er kam zu keinem Ergebnis. Es gab nur einen Weg. Er mußte sich vorsichtig weitere Informa tionen besorgen. Doch dazu kam er nicht mehr. Aus dem kleinen Lautsprecher über der Tür ertönte eine Stimme: „Bitte alle Doktoren der Abteilung Zeitforschung in den Konferenz raum B zur Pressekonferenz – bitte alle Doktoren …“ Paul Ysker bekam einen Würgeanfall. Was sollte er tun? Schließlich rang er sich zu einem Entschluß durch. Er durfte nicht auffallen. Das war das oberste Gebot. Unauffällig begab er sich zu dem genannten Konferenzraum. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er im Eingangsraum Conrad Wiffert erblickte. Neben Wiffert stand eine junge Frau, die Ysker unbe kannt war. Auf ihrem Identifikationsschild las er den Namen der Frau ab: Dr. Helen Wiffert. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? grübelte er. Er wurde freundlich von den beiden begrüßt. Nur Wiffert sagte in ei nem ungewohnten Ton: „Sie sehen heute etwas blaß aus, mein lieber Ysker.“ Er schluckte die nach seiner Vergangenheit unverschämte Äußerung herunter, ließ sich aber auch sonst nichts anmerken. Paul Ysker nahm auf einem der hinteren Plätze des Konferenzsaals Platz und harrte der Dinge, die da kommen würden. Wenig später hatten sich alle Teilnehmer eingefunden. Er erkannte nur bekannte Gesichter, wenn man einmal von Wifferts Frau absah. Eine große Frage blieb für Paul Ysker. Wo war Karen Schedletzky, seine Frau? Das Gemurmel im Raum erstarb, als Conrad Wiffert vor die versam melten Menschen trat. Er blickte erwartungsvoll auf eine Seitentür. Schließlich öffnete sich die Tür, und ein gebückt gehender, alter 13
Mann trat herein. Langsam schritt er zum Rednerpult. Paul Ysker mußte zweimal hinsehen, um die Person zu identifizieren. Ein neuer Schock! Der Mann war Schedden Schedletzky, der Zeittheoretiker Erster Ord nung. Er war der Mann, der nach Paul Yskers Vergangenheit sein Schwiegervater war, der Vater seiner Frau Karen. Und es war der Mann, der seit vier Jahren tot war! Rätsel über Rätsel. Er konnte keinen Zusammenhang zwischen Chri stopher Wifferts Ermordung und den vielen Veränderungen in der neuen Gegenwart finden. Rasch flüsterte er seinem Nachbarn zu: „Wie geht es eigentlich der Tochter von Schedletzky?“ Der Mann stutzte einen Moment. „Ich wüßte nicht, daß Schedletzky eine Tochter hätte. Er hat doch ü berhaupt nur … aber das wissen Sie ja, Kollege Ysker.“ Paul Ysker schluckte wieder und schwieg. Vorn am Podium begann Schedden Schedletzky zu sprechen. „Meine Damen und Herren! Seit meiner schweren Krankheit vor vier Jahren, die ich nur überwinden konnte, indem ich alle Belastungen von meiner Seele nahm und Conrad Wiffert als meinen leiblichen Sohn an erkannte, haben wir wesentliche Fortschritte beim Bau der Zeitschleuder erzielt. Die besonderen Verdienste hat sich mein Sohn erworben. Meine Förderung und Unterstützung mögen sicher nur eine kleine Rolle dabei gespielt haben.“ Beifall brandete für den alten Mann auf, der liebevoll zu Conrad Wif fert hinüberblickte. Unbeirrt fuhr Schedden Schedletzky fort. „Gestern gelang es meinem Sohn, eine Uhr für eine halbe Stunde in die Vergangenheit zu schicken. Als weitere Experimente planen wir …“ Paul Ysker hörte nicht mehr zu. Schlagartig erkannte er die Zusam menhänge. Schedden Schedletzky war der leibliche Vater von Conrad Wiffert. Er, Paul Ysker, hatte mit Christopher Wiffert den falschen Mann umgebracht! Sicher, der Professor und seine Frau hatten jahrelang im gleichen Haus gearbeitet wie die vermeintlichen Eltern von Conrad Wiffert. Und wer wußte schon, was sich da hinter den öffentlichen Kulissen ab gespielt hatte? Keiner! Woher hätte Ysker vom Verhältnis Schedden Schedletzkys wissen sollen? 14
Und Karen? Paul Ysker zuckte unter der Erkenntnis zusammen. Da sie in seiner jetzigen Realgegenwart nicht existierte, gab es nur eine ein leuchtende Erklärung. Schedletzky war nicht Karens Vater gewesen. Nein … es blieb nur eine Möglichkeit. Schließlich hatte er nur eine ein zige Veränderung in der Vergangenheit herbeigeführt. Er hatte Christo pher Wiffert erschossen. Und das besagte schon alles! Er hatte Karens leiblichen Vater getötet, bevor diese geboren war. Paul Ysker schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen.
KONTAKTVERSUCH Als ich ihn zum erstenmal sah, hatte er die Gestalt meines ältesten Soh nes angenommen. Jedenfalls hatte er das versucht. Ich war erst auf ihn aufmerksam geworden, als ich das meckernde Lachen hörte. Ich trat in das Wohnzimmer und wurde von der hellen Lache überrascht. „Ha-ha-ha! Ha-ha-ha!“ Er lachte ununterbrochen in einem exakten, sich ständig wiederholen den Rhythmus. „Laß das blöde Lachen!“ fuhr ich ihn an. Und als er weiterlachte, blickte ich genauer hin. Es war nicht mein Sohn Martin. Es war etwas, was so wie er sein wollte! Die Gestalt war etwas zu groß geraten. An einigen Stellen im Gesicht wirkten die Konturen unfertig. Wie ein schlecht geratenes Produkt für ein Wachsfigurenkabinett. Eigenartigerweise bedeutete die Begegnung für mich gar nichts. Ich war nicht geschockt oder verwirrt. So blieb ich auch ganz ruhig. Er lachte pausenlos weiter und strahlte mich freundlich, aber mit ei nem dümmlichen Gesichtsausdruck an. Ich machte mir keine Gedanken, um das Rätsel der seltsamen Erscheinung zu lösen. Irgendwie wußte ich vom ersten Moment an, daß dies unmöglich wäre. Spontan verließ ich das Zimmer. Ich dachte daran, daß mein Sohn, dessen halbfertige Nachbildung mir eben entgegengetreten war, noch in der Schule weilte. Das Lachen in meinen Ohren verklang erst, als ich das Haus verlassen hatte. Am Kiosk an der Straßenecke holte ich mir eine Zeitung, die ich in al ler Ruhe las. Langsam ging ich nach Hause zurück. Die Neuigkeiten aus der Zeitung waren auch nicht umwerfend. Rassenkonflikte in Afrika, 15
steigende Arbeitslosenzahl, ein Verkehrsunfall auf der Autobahn von Köln nach Frankfurt und Kommentare zu den Fußballspielen vom letz ten Wochenende. Als ich in meiner Wohnung ankam, traf ich meine Frau, die von eini gen Einkäufen zurückgekehrt war. Ich begrüßte sie kurz, wobei ich fest zustellen versuchte, ob etwas Außergewöhnliches vorgefallen war. Mei ne Frau wirkte aber ganz normal. Ich ging einmal durch alle Zimmer, konnte aber auch da nichts Ab sonderliches bemerken. „Wo ist eigentlich der Hund?“ rief ich vom Flur aus meiner Frau zu, die in der Küche hantierte. Wir hatten einen kleinen Rauhhaardackel. Ob ich eine Antwort bekam, ließ sich nicht feststellen, denn im selben Moment erklang neben mir wieder das rhythmische Lachen. Wenige Schritte von mir entfernt stand das komische Wesen. Diesmal hatte es die Gestalt meiner Frau angenommen. Wieder waren einige Unfertig keiten zu bemerken. Besonders auffällig war die falsche Haarfarbe. „Was willst du? Was soll der Quatsch?“ schrie ich ihn an. Aber eine Reaktion blieb aus. Die dumme Figur lachte einfach weiter. Meine Frau kam aus der Küche und warf mir einen fragenden Blick zu. Dabei schaute sie auch in die Richtung, in der dieses lachende Etwas stand. Es schien, als ob sie die Figur nicht bemerkte. „Warum schreist du so?“ fragte sie mich ruhig. Ich zeigte mit ausge strecktem Arm auf das lachende und grinsende Ding. „Schau dir doch einmal diese alberne Erscheinung an.“ Meine Frau sah nichts. Sie ließ mich einfach stehen und ging ihrer Hausarbeit weiter nach. Sie wollte in die Kammer, aber auf dem Weg dorthin mußte sie zwangsläufig mit der Erscheinung zusammenstoßen. Ich wartete gespannt, was nun geschehen würde. Gleichzeitig spürte ich aber auch ein Desinteresse in mir, als ob ich irgendwie lethargisch beeinflußt werden würde. Es kam nicht zu dem Zusammenstoß des lachenden Wesens mit mei ner Frau. Bevor diese heran war, brach das Lachen ab. Mit hastigen Schritten lief die Nachbildung in Richtung Wohnzimmer, wo die Tür halb offen stand. Sie mußte dicht an mir vorbei. Blitzschnell stieß ich ein Bein vor. Die komische Erscheinung stolperte darüber und fiel der Länge nach zu Boden! Meine Frau registrierte dies alles nicht. Für mich stand fest, daß ich allein diese Erscheinung wahrnahm. Ich fragte mich, was das alles solle. 16
Kaum hatte ich diese Frage gedanklich formuliert, da verbreitete sich wieder dieses eigenartige Desinteresse in mir. Schnell stand der Lacher wieder auf und begann mit seinem Gekicher. Dabei löste sich aus seinem Leib mein Hund, den ich zuvor gar nicht gesehen hatte. Der Hund verhielt sich so normal, daß ich annahm, daß er die fremde Gestalt ebenfalls nicht bemerkte. Das Wesen verschwand lachend im Wohnzimmer. „Da ist doch der Hund“, sagte meine Frau gelassen und blickte von der Kammertür herüber. Ich stand fassungslos da. Spielte man verrückt mit mir oder unterlag ich einer fortgesetzten Halluzination? Leicht verwirrt wischte ich mir über die Augen. Dann gab ich mir einen Ruck und betrat das Wohnzim mer. Dort war niemand. Die Verandatür war von innen verschlossen. Am Nachmittag – meine beiden Jungen waren längst aus der Schule zurück – klingelte es an der Haustür. Ich öffnete. Draußen stand Silke, ein Mädchen aus der Nachbarschaft, das schon des öfteren mit meinem Sohn Werner spielte. Die Kleine war etwas schüchtern. Da sie schwieg, sagte ich freundlich: „Du möchtest sicher mit Werner spielen. Komm doch herein. Werner ist draußen auf der Veranda.“ Ich ging voraus und erwartete, daß sie mir folgen würde. Keine drei Schritte kam ich weit, da ertönte hinter mir das inzwischen schon be kannte Lachen. „Nein“, sagte ich unwillig und drehte mich um. Gleichzeitig fühlte ich, wie sich wieder die Gleichgültigkeit in mir ausbreitete. Oder war es etwas, das mich beruhigen wollte? Da stand das Mädchen mit dem gleichen dümmlichen Gesichtsaus druck, den ich schon von den anderen Nachbildungen kannte. Nun erst bemerkte ich, daß auch ihre Gesichtsformen nicht voll ausgebildet wa ren. Ich hatte von der blöden Lache im wahrsten Sinn des Wortes die Nase voll. Für einen Moment war ich in der glücklichen Lage, ein impulsives Wutgefühl zu entwickeln. Ich riß die Wohnungstür auf und schrie: „Raus!“ Tatsächlich befolgte die lachende Gestalt meine Aufforderung. Sie verschwand auf der Straße zwischen anderen Menschen. Meine Frau kam aus einem Zimmer. 17
„Du hast mich gerufen?“ „Aber nein“, beeilte ich mich zu sagen. „Nun mach’ aber einen Punkt“, sagte sie trotzig. „Du willst mich wohl auf den Arm nehmen. Ich habe deutlich gehört, daß du ,Maus‘ gerufen hast.“ Verlegen biß ich mir auf die Lippen. Was sollte ich sagen? Wenn ich ihr von dem Spuk erzählen würde, liefe ich nur Gefahr, mich lächerlich zu machen. „Ist schon gut“, sagte ich kurz angebunden und ließ meine Frau ein fach stehen. Auf der Veranda spielte mein Sohn. Er hatte von der ganzen Sache nichts mitbekommen. Ich setzte mich in meinen Schaukelstuhl und zün dete mir gemächlich eine Pfeife an. „Es wird Zeit, daß ich mich mit diesem komischen Ding etwas genau er befasse“, murmelte ich vor mich hin. Lange brauchte ich auf eine erneute Begegnung nicht zu warten. Auf dem Weg zu meinem Arbeitszimmer passierte es erneut. Diesmal hatte er wieder die Körpergestalt meines älteren Sohnes Martin angenommen. Allerdings hatte sich dieses Wesen in der Fähigkeit des Nachbildens er heblich verbessert. Was würde passieren, überlegte ich kurz, wenn es sich bis zur Vollkommenheit steigern würde? Da stand die Imitation breitbeinig und lachte mich mit seinem alber nen Hahaha an, als wolle es sagen: Bin ich nicht ein lieber Kerl. Meine guten Vorsätze für eine vernünftige Kontaktaufnahme ver schwanden schnell. Ich schrie den ewigen Störenfried an und forderte ihn auf, für immer zu verschwinden. Durch mein Geschrei lockte ich die ganze Familie an. Aber keiner nahm von dem lachenden Wesen Notiz. Meine Frau und die Kinder blickten mich nur merkwürdig an, als wür den sie an meinem Verstand zweifeln. „Das finde ich aber gar nicht witzig“, bemerkte der Jüngste trocken. Mich störte das wenig. Zufällig bekam ich einen Federballschläger in die Hand, der auf einem Regal liegengeblieben war. Damit hieb ich heftig auf die Imitation ein. Tatsächlich spürte ich auch den körperlichen Widerstand. Dem Lacher schien dies jedoch nichts auszumachen, denn er fuhr unbeirrt fort, sein gellendes Hahaha auszustoßen. Dann wich er jedoch langsam in Richtung des Ausgangs zurück. Unter meinen fortgesetzten Hieben zerriß die Bespannung. Ich stülpte das offene Oval mit den abgerissenen Kunststoffäden über den Kopf der 18
Nachbildung. Dann riß ich den Schläger vor und zurück. Der lachende Kopf wurde hin- und hergerissen. Am Hals bildeten sich rote Streifen. Das Lachen wurde um eine Nuance höher, verstummte aber nicht. Ich achtete genau darauf, daß die Figur dem Griff des Federballschlä gers nicht entkommen konnte. Dennoch gelang dies ihr mit einem uner klärlichen Trick. Sie durchdrang praktisch den beschädigten Holz rahmen direkt, ohne diesen weiter zu zerstören. Der Hals glitt einfach hindurch. Dann drehte sich der Lacher um und rannte aus der Wohnung. Ich stand da wie ein begossener Pudel, in meiner Hand den zerfetzten Federballschläger. Meine Söhne blickten mich vorwurfsvoll an, und meine Frau schüttelte nur den Kopf. „Den Schläger mußt du mir ersetzen“, war Martins ganzer Kommen tar. Ich zuckte nur verlegen mit den Schultern. Es war klar, daß ich allein die fremde Erscheinung gesehen und gehört hatte. Erklärungen wären also völlig sinnlos, das wußte ich. „Dann eben nicht“, brummte ich ausweichend, nahm meine Pfeifen tasche und machte mich auf den Weg in die Kneipe an der nächsten Ecke. Bei einigen Bieren wollte ich in aller Ruhe über die ganze Ge schichte nachdenken. Nach dem sechsten Bier wußte ich, was ich zu tun hatte. Ich notierte mir meinen Vorsatz auf einem Bierdeckel: „Morgen suchst du einen Psychiater auf!“ Das Ausrufezeichen malte ich besonders groß, und den Deckel ver staute ich sorgfältig in meiner Pfeifentasche. * Am nächsten Morgen war mein erster Weg zu meinem Chef. Ich bat ihn, mich für den Nachmittag freizustellen. Er wollte den Grund für mein Anliegen wissen. Natürlich konnte ich ihm nicht sagen, daß ich einen Psychiater aufsuchen wollte. Nach einigem Zögern entsprach er meinem Wunsch. Als ich wieder in meinem Arbeitszimmer war, suchte ich im Telefon buch die Adresse eines Psychiaters auf. Ich hatte Glück, denn bei mei nem Anruf erhielt ich direkt einen Termin für den Nachmittag. Damit waren die wichtigsten Vorsätze für den heutigen Tag erledigt, und ich konnte mich meiner Arbeit zuwenden. 19
Da öffnete sich die Tür, und mein Chef trat ein. Im ersten Moment glaubte ich, er habe sich das mit der Freistellung noch einmal anders überlegt, dann erkannte ich die Unterschiede in seinem Gesicht. Mir war sofort klar, daß es sich nur um eine Nachbildung meines Chefs handeln konnte. Ich nahm den Locher von meinem Schreibtisch und warf ihn nach der Erscheinung. Auch diesmal zeigte sich, daß das Wesen real war, denn der Locher prallte ab und fiel zu Boden. „Aufheben!“ rief ich der Erscheinung zu. „Und zwar sofort, du unfer tige Figur!“ Die Gestalt reagierte nicht. Ich versuchte es nun anders und ahmte das albern klingende Lachen nach. Aber auch das war ohne sichtbaren Er folg. „Bitte, nehmen Sie doch Platz“, sagte ich schließlich. „Welchen Wunsch haben Sie?“ Vielleicht klang meine Stimme zu sarkastisch! Jedenfalls reagierte er auch darauf nicht. Es klopfte an der Tür, und mein Kollege Reichhelm trat ein. „Ach, Ihr Besuch ist schon wieder weg“, sagte er, nachdem er sich kurz im Raum umgeblickt hatte. „Ich hörte doch eben Stimmen von nebenan.“ Die lachende Chef-Imitation, die noch mitten im Raum stand, beach tete er nicht. Ein schrecklicher Verdacht keimte in mir auf. Vielleicht hatte sich meine ganze Umwelt gegen mich verschworen. Vielleicht trieb man ein abgekartetes Spiel mit mir, um mich ins Irrenhaus zu brin gen! Sofort wurde ich äußerlich ganz ruhig. „Ja“, antwortete ich dem Kollegen mürrisch, „der Besuch ist weg. Und ich habe zu tun.“ Reichhelm trat zwei Schritte vor und kam in die Nähe der lachenden Figur. „Ich habe aber niemand gesehen, der Ihr Büro verließ.“ Mir stockte der Atem, als er zu einem weiteren Schritt ansetzte. Jetzt mußte er auf die Nachbildung stoßen! Was dann geschah, raubte mir den letzten Nerv. Mein Kollege trat bis an meinen Schreibtisch heran. Und dabei ging er mitten durch die Imitation hindurch! „Sie sehen etwas blaß heute aus“, meinte er mit gespieltem Mitgefühl. „Es ist besser, wenn Sie mich in Ruhe arbeiten lassen.“ Tatsächlich begriff er meinen Hinweis. Mit einer gemurmelten Ent 20
schuldigung verließ er das Zimmer. Und wieder schritt er mitten durch die lachende Figur hindurch! Als ich allein war, trat ich auf die Gestalt zu. Vorsichtig tastete ich mit der rechten Hand nach dem Oberarm der Erscheinung. Sie war von fes ter Körpersubstanz. Für mich! sagte ich mir im selben Moment. „Wie soll ich Kontakt mit dir aufnehmen“, murmelte ich leise, „wenn du immer nur dämlich lachst?“ Erwartungsgemäß erhielt ich keine Antwort. Es war zum Wahnsin nigwerden. Schließlich rannte ich aus dem Zimmer und schloß hinter mir ab. Für eine Viertelstunde versteckte ich mich auf der Toilette. Dann wagte ich mich zurück. * Der Psychiater hieß Prof. Dr. V. Schober. Er hörte sich geduldig meine Geschichte an, ohne mich zu unterbrechen. Mehrfach runzelte er nach denklich die Stirn. Dann wurde meine Erzählung durch einen Telefonanruf unterbrochen. Der Professor entschuldigte sich und bat mich, kurz auf ihn zu warten. Er verließ den Behandlungsraum, und ich hatte Muße, das Zimmer zu betrachten. In einem Wandschrank standen reihenweise Bücher und Fachzeitschriften. Ich wollte mich gerade von dem bequemen Stuhl erheben, als sich die Tür öffnete und Prof. Schober wieder eintrat. Aber er forderte mich nicht auf, in meiner Schilderung fortzufahren. Statt dessen begann er mit einem albernen Gelächter. Für einen Moment stutzte ich. War das nun der richtige Professor, der mich mit einem Trick testen wollte oder handelte es sich wieder um eine Nachbildung? Ich blickte genauer hin. Wenn es tatsächlich wieder das unbekannte Wesen war, dann hatte es die Fähigkeit zur Imitation außer ordentlich vervollkommnet. „Sie machen das Lachen sehr gut nach, Professor“, sagte ich schließ lich in der Hoffnung, daß der echte Doktor sich nun eine Blöße geben würde. Es gab jedoch keine Reaktion. Ich setzte mich wieder in meinen Sessel und beachtete den Lacher nicht mehr. Nach gut zwei Minuten, in denen ich ununterbrochen das blöde La chen hören mußte, öffnete sich erneut die Tür. 21
Prof. Schober trat ein. „Ich hoffe, es hat nicht zu lange gedauert“, entschuldigte er sich höf lich Für mich war damit klar, daß der erste Schober eine Imitation war. Ich sprang erregt auf. „Herr Professor“, sagte ich und bemühte mich um innere Gelassen heit. „Die Imitation ist wieder da. Diesmal hat er Sie kopiert. Da steht diese komische Figur und lacht auf die albernste Weise, die Sie sich vorstellen können.“ Der Professor stutzte einen Moment. „Setzen Sie sich bitte wieder hin“, meinte er beherrscht. „Ich werde Ihnen beweisen, daß da nichts ist.“ Er nahm aus einem Regal einen Photoapparat und ein kleines Ton bandgerät. Während er den Recorder einschaltete, fragte er mich, wo die lachende Figur stände. Ich zeigte ihm den genauen Platz. „Bitte stellen Sie sich daneben“, sagte er. „Ich möchte Sie auf dem Bild haben, damit Sie nicht glauben, ich würde Ihnen ein altes Photo meiner Praxis zeigen.“ Ich legte der Imitation des Professors die Hand auf die Schulter. Der Arzt schoß in rascher Folge drei Bilder. „Sie entwickeln sich selbständig“, sagte er dann. „Gleich können Sie sehen und hören, beziehungsweise nicht sehen und nicht hören, daß Sie einer Illusion Ihres Verstands aufgesessen sind.“ Er schaltete den Recorder ab. „Haben Sie etwas dagegen“, fragte ich vorsichtig, „wenn ich diese la chende Imitation aus dem Fenster werfe?“ Der Professor blickte mich mißtrauisch an. So betrachtet er einen Verrückten, dachte ich. „Aber nein, mein Lieber“, sagte er leutselig. „Werfen Sie sie ruhig aus dem Fenster. Es wird ihr ja nichts ausmachen, daß wir im neunten Stockwerk sind.“ Sein Spott war mir gleichgültig. Ich öffnete das Fenster. Dann trat ich zu der Nachbildung und warf sie mir über die Schulter. In hohem Bogen schleuderte ich sie in die Tiefe. Endlich verklang das Lachen. „So, hier haben wir die Bilder.“ Der Professor hatte einen Ton an sich, wie man zu einem Dreijährigen spricht. „Alles gelungen, und da sehen wir …“ 22
Er stockte plötzlich und atmete tief durch. Dann warf er die Bilder auf einen Tisch. Ich trat hinzu und blickte darauf. Auf allen Fotos war ich zu sehen. Und meine Hand lag auf der Schul ter eines Mannes, der eine fast getreue Nachbildung des Professors war! Ich hörte, wie das Tonband zurücklief. Als Prof. Schober es abspielte, sah ich an seinem Gesicht, daß auch er das Lachen jetzt hörte. Der gute Mann war nun verwirrter als ich. Lange betrachtete er die Bilder. Drei mal spielte er das Band wortlos ab. „Sie brauchen mir das Ende der Geschichte, soweit Sie es noch nicht erzählt haben, nicht mehr zu sagen. Denn hier sind zwei Beweise dafür, daß Sie nicht unter einer Psychose leiden. Allerdings muß ich Ihnen sa gen, daß ich Ihnen nicht weiterhelfen kann. Außersinnliche Wahrneh mungen fallen nicht in meinen Arbeitsbereich. Da müssen Sie jemand anders aufsuchen. Als Zeuge für das Geschehen stehe ich Ihnen zur Ver fügung. Vielleicht läßt sich der Beweis auch wiederholen.“ Er lachte verlegen, und als ich schwieg, fuhr er fort: „Sie nehmen etwas wahr, was andere Menschen nicht sehen oder hö ren. Das ist alles, was ich sagen kann, warum das so ist, weiß ich nicht.“ Mit einem bedauernden Lächeln verabschiedete er sich von mir. Im Fahrstuhl stand plötzlich eine lachende Frau neben mir. Es war die Empfangsdame von Prof. Schober. Ihr Gesicht wirkte aus der Nähe un fertig, und ihre Haarfarbe stimmte nicht. Ich drückte die Stop-Taste und verließ den Fahrstuhl vorzeitig. Die letzten Etagen rannte ich die Treppe hinunter, und dann mischte ich mich auf der Straße rasch unter die Men schen. * Während der nächsten Tage beobachtete ich argwöhnisch meine Um gebung. Ständig erwartete ich das Auftauchen neuer Imitationen. Aber seit dem Besuch bei Professor Schober und dem Hinauswurf aus dem Fenster geschah nichts Ähnliches mehr. Allmählich beruhigten sich meine angeschlagenen Nerven. Ich fing an zu glauben, daß der Spuk vorbei sei. Da ich auch in den folgenden Wochen den Trugbildern (oder was immer sie gewesen sein mögen!) nicht mehr begegnete und auch mit niemand darüber sprach, begann ich die Sache zu vergessen. Nur an einem seligen Bierabend in meiner Kneipe kam ich noch ein mal darauf zu sprechen. Ein guter Freund saß mit mir zusammen. Er war 23
ein gleichermaßen begeisterter Leser und Schreiber von ScienceFiction-Geschichten. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte. Er hörte mir geduldig zu, bis ich am Ende war. Dann lachte er amüsiert. „Gut erfunden.“ Natürlich glaubte er mir kein Wort. „Ich bringe dich zu Professor Schober“, antwortete ich leicht verär gert. „Der kann dir alles bestätigen, die Fotos zeigen und das Band vor spielen.“ Mein Freund lachte wieder. „Was würden ein paar Fotos beweisen, auf denen du mit einem Psy chiater abgebildet bist? Nichts! Und ein albernes Gelächter auf einem Tonband? Erst recht nichts! Das Lachen kannst du für ein paar Mark in einem Lachsack in jedem Kaufhaus bekommen. Ich meine diesen MiniPlattenspieler. Und die Aussage des Psychiaters? Die nimmt doch keiner ernst. Sage mir lieber, warum du dir die Geschichte ausgedacht hast?“ Ich schwieg, weil ich einsah, daß ich ihn nicht überzeugen konnte. Als ich an diesem Abend nach Hause kam, erlebte ich eine kleine Ü berraschung. Zugegeben, daß ich einige Gläser Bier getrunken hatte. Aber ich war noch so klar, daß ich sofort sah, daß jemand ein bedrucktes Blatt auf meinen Schreibtisch gelegt hatte. Erstaunt las ich. „Mensch! Durch deine gedankenintensive Erzählung heute abend konnte ich doch noch einen kurzen Kontakt zu dir herstellen. Er ist, wie alles was die Menschen betrifft, von hoher zeitlicher Instabilität. Daher habe ich auch nur für wenige Worte Zeit. Wenn du mehr wissen willst, so schreibe die ganze Geschichte nieder und lege ein paar leere Blätter dazu. Ich kann mich dann an deinem Text orientieren, denn ohne Bezugspunkt ist eine Kontaktaufnahme unmöglich. Falls du es wünschst, werde ich die leeren Blätter für die Erklärungen füllen. Du wirst auch diesen Text nicht lange lesen können, denn die Instabilität deiner Zeitebene ist …“ An dieser Stelle brach der Druck ab. Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Kurz darauf begannen die Buchstaben zu verschwimmen. Dann lag nur noch ein leeres Blatt vor mir. Der gedruckte Text war ver schwunden. In den nächsten Tagen überlegte ich sorgfältig, was ich zu tun hätte. Dann fiel mir die Lösung ein. Mein ungläubiger Freund würde mich doch nur wieder auslachen. Also beschloß ich folgendes: Da ich ohnehin gerade an einem Terra-Astra-Band arbeitete, wollte ich die Geschichte mit in diesen aufnehmen. Ich werde den Verlag bitten, am Ende der Ge 24
schichte etwa eine Seite unbedruckt zu lassen. Da kann dann der Unbe kannte, der mit seinen Imitationen mein Leben verwirrte, seine Erklä rungen hinsetzen. Damit bin ich am Ende meiner Geschichte. Wenn die folgende Seite unbedruckt ist, dann habe ich Pech gehabt und muß den Verlag um Entschuldigung bitten. Wenn sie aber bedruckt ist und tatsächlich eine Erklärung für die Imitationserscheinungen ent hält, dann wird mein ungläubiger Freund aus dem Staunen nicht heraus kommen. Ich muß nur beim Tippen des Manuskripts darauf achten, daß ich kei ne leeren Seiten versehentlich in die Nähe der bereits geschriebenen lege. Ende Viel Platz hast du mir nicht gelassen, Mensch. Aber für die wichtigs ten Fakten dürfte es ausreichen. Der Kontaktversuch mit dir ist gescheitert. Damit ist ein Zusam mentreffen zwischen den Yrrl-Dah und den Menschen für alle Zeiten ausgeschlossen. Ihr seid eine nette Rasse, aber so fremdartig und wirr. Euer größter Fehler ist, daß Ihr allesamt zeitlich instabil seid. Keiner von Euch lebt wirklich gleichzeitig mit einem anderen. Daß Ihr dennoch untereinander Kommunikation ausüben könnt, liegt nur daran, daß Ihr ständig in der Größe einiger Milliardstel Sekunden in der Zeit hin und her schwimmt. Für mich ist das leider unmöglich, denn mein Volk ist temporal absolut fixiert, so wie jede höher ste hende Rasse. Daran scheiterte der Kontaktversuch. Aber selbst wenn ich mich besser an deine Zeitpendelei angepaßt hätte, wäre eine richtige Kontaktaufnahme unmöglich gewesen. Du hast ja auf die Grundelemente einer vernünftigen Kommunikation nicht reagiert. Es liegt wohl daran, daß Ihr Menschen für uns vom Volk der Yrrl-Dah völlig fremd seid. In wenigen Wochen verlasse ich Euer Sonnensys tem. Ich bin traurig, weil ich den Kontakt nicht zustande bringen konnte. Natürlich erwartet mich in meiner Heimat eine Strafe für mein Versagen. Wahrscheinlich werde ich wieder einen Kopf opfern müssen. Das wäre dann der dritte innerhalb weniger Jahrtausende nach deiner Zeitrechnung. Aber dich braucht das nicht zu kümmern. Sorge du dafür, daß die zeitliche Instabilität Eures Daseins ein Ende findet. Dann seid Ihr reif für einen Kontakt zu anderen Völkern des 25
Alls. Und versuche nicht, mein Verhalten zu verstehen. Ich bin dir geistig weit überlegen und verfüge über eine Technologie, die Ihr Menschen vielleicht in 10 000 Jahren haben werdet. Und ich habe dich und deine Mitmenschen dennoch nicht verstehen können.
STURZ IN DIE VERGANGENHEIT Das Raumgewitter brach mit einer Plötzlichkeit und Stärke über die CALAUMES herein, daß die Besatzung des terranischen Raumschiffs kaum noch Zeit für Vernünftige Reaktionen hatte. Der Erste Pilot wurde spontan aus seinem Sessel geschleudert und prallte gegen die Armaturen der Funkanlagen. Dort blieb er bewußtlos liegen. Die Kommandantin der CALAUMES, die vierzigjährige Grid Wie derstein, reagierte am schnellsten. Ohne sich um den regungslos dalie genden Piloten zu kümmern, sprang sie in dessen Sessel und übernahm die Steuerung des Schiffes. Die erste Maßnahme war das Einschalten des energetischen Schutzschirms rund um das Schiff. Beim normalen Flug war dieses Energiefeld nur in Flugrichtung wirksam, um vor Kolli sionen mit interstellarer Materie zu schützen und um Energie zu sparen. Dann drosselte sie die Geschwindigkeit der CALAUMES. „Ortung!“ rief Grid Wiederstein mit schneidender Stimme. „Feststel len, wo eine ruhigere Zone ist.“ Ihre Stimme übertönte nur mit Mühe das Ächzen und Stöhnen, das di rekt aus den Schiffswänden zu kommen schien. Die unbekannten Kräfte zerrten an dem Schiff und erzeugten schauerliche Klänge. „Es ist nichts feststellbar, Madam“, meldete der Mann an den Or tungsanlagen. „Es muß sich um ein Raumgewitter handeln, das aufgrund seines überdimensionalen Charakters von unseren Meßgeräten nicht registriert wird.“ Die Kommandantin biß sich auf die Lippen. Schon einmal, vor we nigen Wochen, hatten sie ein ähnliches Phänomen erlebt. Sie hatten es Raumgewitter genannt. Der Name besagte eigentlich nichts, denn die Vorgänge, die sich draußen im All abspielten, waren der Besatzung des Raumschiffs verborgen geblieben. Nur die Auswirkungen hatte man zu spüren bekommen. Schon die ersten Anzeichen dieses Raumgewitters hatten es allen zwölf Menschen deutlich vor Augen geführt, daß dieses Gewitter das 26
erste an Heftigkeit bei weitem übertraf. Der eingeschaltete Schutzschirm konnte das Tosen nicht mildern. Grid Wiederstein entschloß sich, ihr Schiff aus der augenblicklichen Flugbahn zu reißen. Dabei wußte keiner an Bord der CALAUMES, ob es überhaupt ein solches Zentrum wirklich gab. Man wußte nichts über diese Erscheinung. Die Hände der Kommandantin lagen schon auf den Steuersensoren, als die Tür des Kommandostands aufflog und Fred Wolkewitz, der Chefwissenschaftler des Raumschiffs, hereinstürmte. „Was machen Sie da schon wieder?“ herrschte er die Frau an. „Sie fliegen uns noch in die Hölle!“ Den Männern und Frauen auf der CALAUMES waren die ständigen Streitigkeiten zwischen der Kommandantin und dem Wissenschaftler nur zu gut bekannt. Die Streitigkeiten hatten schon wenige Tage nach dem Verlassen des heimatlichen Sonnensystems begonnen und während des nun schon elf Wochen dauernden Fluges unvermindert angedauert. Dabei war weder den Beteiligten noch den Streitenden eigentlich klar, worin die Differenzen bestanden. „Ich fliege die CALAUMES aus dem Raumgewitter.“ Grid Wieder steins Stimme war eiskalt. „Und das ist eine Maßnahme der Schiffsfüh rung. Damit steht Ihnen nicht die geringste Kritik daran zu.“ „Wenn es um das Leben der Besatzung geht, dann habe ich sehr wohl etwas zu sagen“, brüllte Wolkewitz zurück. Grid Wiederstein betätigte die Steuerung. In einem Kreisbogen setzte das von heftigen Stößen geschüttelte Schiff seinen Flug fort. Die Frau blickte Wolkewitz herausfordernd an. Gerade als sie etwas sagen wollte, traf ein neuer Stoß das Schiff. Ge genstände wirbelten durch die Zentrale, und die Menschen klammerten sich an ihre Sessel und Pulte. Mehrere Alarmanlagen lösten schrille Pfeiftöne aus. Am Pult des Ersten Piloten blinkten rote Lämpchen auf. Die Kommandantin hielt sich noch mühsam auf den Beinen. Dann traf sie ein zweiter Stoß, und sie wurde zu Boden geschleudert. Taumelnd kam sie noch einmal auf die Beine. Dann warf sie ein von schrillem Pfeifen begleiteter Schlag unter das Navigationspult, wo sie bewußtlos liegenblieb. Fred Wolkewitz hatte sich während der Attacken des Raumgewitters zwischen die Seiten des Eingangsschotts geklemmt und so die Stöße überstanden. Erschrocken stellte er fest, daß das führungslos gewordene 27
Schiff in Taumelbewegungen geriet. Die Automatik kam mit den wo genden Stößen des Raumgewitters nicht mehr klar. „Wir brauchen einen Piloten“, rief er laut. Aber die übrigen Menschen in dem Kommandostand waren mit sich selbst so beschäftigt, daß keiner zunächst auf seinen Ruf reagierte. Die Kommandantin und der Erste Pilot lagen bewußtlos auf dem Boden. Der Zweite Pilot mußte in seiner Kabine sein. Vielleicht war auch er besinnungslos. Über den schwankenden Boden des Raumschiffs kam ein junger Mann auf Fred Wolkewitz zugetorkelt. „Sir, ich bin Piko, der Reservefunker. Ich habe eine halbe Pilotenaus bildung. Bis Sie einen richtigen Piloten fit gemacht haben, könnte ich die CALAUMES steuern.“ Wolkewitz nickte nur und hielt sich krampfhaft an einer Verstrebung fest. Er kannte den Mann, der Piko genannt wurde, nur flüchtig. Piko galt als fähiger Funker. Aber er war ein Träumer und Einzelgänger. Während sich der Wissenschaftler um den aus einer Platzwunde am Kopf blutenden Ersten Piloten kümmerte, übernahm Piko die Steuerung der CALAUMES. Sofort wurde die Flugbahn des Raumschiffs ruhiger. Wenig später hörte das Raumgewitter so plötzlich auf, wie es begon nen hatte. Piko übergab wortlos die Steuerung des Schiffes an den Ers ten Piloten. Auch Grid Wiederstein war wieder bei vollem Bewußtsein. Sie blick te lange auf die Bildschirme. Dann sagte sie: „Ich weiß nicht, wo Sie die CALAUMES hingesteuert haben, wäh rend ich bewußtlos war. Jedenfalls sind wir völlig vom Kurs abgekom men und befinden uns in einem Sektor der Milchstraße, der abseits der geplanten Strecke liegt.“ „Wenige Lichtminuten von hier steht eine Sonne“, meldete die Or tung. „Das ist nicht möglich“, fauchte die Kommandantin. „Als das Gewit ter begann, war im Umkreis von mehreren Lichtjahren kein Stern. Wo soll er also plötzlich herkommen? Prüfen Sie gefälligst Ihre Geräte!“ Fred Wolkewitz hatte sich ruhig verhalten. Jetzt platzte ihm aber der Kragen. „Müssen Sie Ihre Leute immer so anfauchen? Daß da draußen eine Sonne steht, sehe sogar ich mit dem bloßen Auge. Aber Sie, Miß Wie derstein, haben nichts Besseres zu tun, als Ihre eigene Blindheit auf 28
schuldlose Orter abzuwälzen.“ Grid Wiedersteins Augen funkelten zornig. „Das Kommando habe ich“, sagte sie mit aller Schärfe. „Und ich will Sie in der Zentrale nur noch sehen, wenn ich gerufen habe.“ * Fred Wolkewitz war in höchstem Maße unzufrieden. Die Expedition verlief nicht nach seinen Vorstellungen. Schuld daran war nach seiner Meinung die Kommandantin des Schiffes, die sich schon kurz nach dem Start von Terra in einer unerklärlichen Art gewandelt hatte. Grid Wie derstein war zu einer Tyrannin geworden. Die CALAUMES war das elfte Raumschiff, das von Terra aus einen interstellaren Raumflug angetreten hatte. Nachdem man das Sonnensy stem erobert hatte und dabei keine anderen Lebensformen fand, war endlich mit der Entwicklung des Zerdodim-Triebwerks der Flug aus dem Sonnensystem heraus möglich geworden. Die Suche nach anderem Leben und nach neuen Rohstoffquellen ging weiter. Nur die Entfer nungen hatten sich um ein Vieltausendfaches gesteigert. Ein bitterer Geschmack bildete sich im Mund des Wissenschaftlers, wenn er daran dachte, daß von den vor ihnen gestarteten zehn Schiffen nur drei zur Erde zurückgekehrt waren. Leben oder bewohnbare Pla neten hatten sie nicht gefunden. Einige geringwertige Rohstoffquellen hatte man entdeckt und registriert. Wann man mit ihrer Ausbeutung be ginnen konnte, war aber noch eine ungeklärte Frage. Die riesigen Ent fernungen ließen sich noch nicht problemlos überwinden. Von den sieben verschollenen Schiffen fehlte jede Spur. Fred Wol kewitz wußte, daß ihre Besatzungen nicht mehr leben konnten, denn zu viel Zeit war schon verstrichen, als daß die Nahrungs- und Sauerstoff reserven noch ausreichen würden. Noch während er über diese Fragen nachgrübelte, trat einer seiner As sistenten ein. „Wir haben unsere Position feststellen können, Sir. Wir wurden durch das Raumgewitter um etwa vierundzwanzig Lichtjahre versetzt. Wie dies geschehen konnte, bleibt ein Rätsel.“ Wolkewitz zuckte nur mit den Schultern. „Was haben Sie über die in der Nähe befindliche Sonne herausbe kommen?“ fragte er dann. 29
„Sie scheint unserer Sonne sehr ähnlich zu sein. Zumindest wird sie von vier Planeten umkreist. Einer davon, er wurde Paff genannt, um kreist die Sonne in einer Entfernung, die für das eventuelle Tragen von Leben äußerst günstig erscheint.“ Der Wissenschaftler runzelte die Stirn.
„Paff? Wer ist denn auf diesen idiotischen Namen gekommen?“
„Na, wer schon? Natürlich die Wiederstein.“
„Sicher hat sie das nur gemacht, um mich zu ärgern.“
„Wir werden auf Paff landen. Das hat die Wiederstein schon angeord
net. Unsere Energiereserven langen dann noch sicher für einen Rückflug zur Erde.“ * Im Kommandostand der CALAUMES herrschte angespannte Stille. Nur vereinzelt gab Grid Wiederstein ihre Befehle, als das Raumschiff sich auf den Antigravpolstern der Oberfläche von Paff entgegenbewegte. Schon aus großer Höhe konnte man feststellen, daß weite Teile des Planeten von einem saftigen Grün überzogen waren. Mehrere große Meere umsäumten die Landflächen. „Wir landen auf dem großen Kontinent direkt in der Anflugrichtung.“ Fred Wolkewitz, der sich unauffällig in die Zentrale begeben hatte, wollte dieser Anweisung der Kommandantin schon widersprechen. Im letzten Augenblick besann er sich jedoch und schwieg. Der Kontinent kam rasch näher. Die Fallgeschwindigkeit der CA LAUMES wurde weiter gedrosselt. Als sich die ersten klaren Konturen auf der Planetenoberfläche herausschälten, machte sich eine euphorische Stimmung bei den Menschen breit. „Ein Planet wie die Erde!“
„Terra II, wir kommen!“
Solche und ähnliche Rufe erklangen. Nur Piko, der Funker, verhielt
sich völlig ruhig und abwartend. Schließlich sank das Schiff in einer savannenartigen Landschaft nie der. In der Nähe war ein ausgedehntes Waldgebiet erkennbar. Eine Her de Tiere, die an Gazellen erinnerten, stob davon. Am Horizont schälten sich schneebedeckte Gipfel eines Gebirgsrückens heraus. Fred Wolkewitz übernahm das Kommando über seine wissenschaft lichen Mitarbeiter. Die Luft wurde analysiert, die Schwerkraft gemessen 30
und der Raum nach Bakterien, Viren und Giften abgesucht. Nach einer knappen halben Stunde lagen die Analysen vor. Paff ähnelte in geradezu verblüffender Weise der heimatlichen Erde. Das galt nicht nur für die gemessenen Werte, sondern auch für die Fau na und Flora. „Wir können ohne Schutzanzüge das Schiff verlassen“, schloß Fred Wolkewitz das Ergebnis der Untersuchungen ab. Die Kommandantin stellte drei Erkundungskommandos zusammen, die zu je drei Personen mit einem Antigrav-Fluggleiter die nähere Um gebung untersuchen sollten. Sie selbst, der Wissenschaftler Wolkewitz und der Funker Piko bildeten das Team, das die unmittelbare Region um den Landeplatz erforschen würde. Die drei Erkundungskommandos und das Mutterschiff standen unter einander in ständiger Funkverbindung. Als die ersten Beobachtungen ausgetauscht worden waren, schälte sich ein Bild des entdeckten Plane ten heraus. Paff glich der Erde, wie diese vor etwa 10 000 Jahren gewe sen war. „Ich komme mir vor, als wären wir in eine ferne Vergangenheit Ter ras entrückt“, dozierte Fred Wolkewitz. „Jetzt fehlt nur noch, daß wir unseren Vorfahren begegnen.“ „Vergangenheit!“ meinte Grid Wiederstein mit überheblichem Ton. „So ein Unsinn! Fangen Sie bloß nicht an durchzudrehen.“ Der Wissenschaftler wurde einer Antwort enthoben, denn seine Auf merksamkeit wurde durch den ausgestreckten Arm Pikos erregt. Der junge Mann wies schweigend auf den Waldrand, dem sich der Flug gleiter jetzt näherte. Und dann sahen sie sie. Die Paffer. Sie waren ohne Zweifel humanoid. Sie mochten im Durchschnitt fünfzig Zentimeter groß sein. Somit waren sie nach menschlichen Maß stäben Zwerge. Als Bekleidung trugen sie nur einen aus Blättern ge flochtenen Lendenschurz. Ihre ansonsten absolut menschenähnliche Erscheinungsform wies nur ein gravierendes Merkmal der Abweichung auf. Die Paffer waren blauhäutig. „Blaue Zwerge!“ staunte Grid Wiederstein. „Und Paffer im wahrsten Sinn des Wortes.“ Damit spielte sie auf die langen, zigarrenähnlichen Dinger ab, die in den Mündern der Paffer steckten und qualmten. „Paffende blaue Zwerge.“ Wolkewitz konnte plötzlich lachen, denn 31
die kleine Gruppe von Lebewesen machte einen komischen und harm losen Eindruck auf ihn. Der Fluggleiter landete unweit der Paffer. „Sie können uns nicht gefährlich werden“, sagte die Kommandantin der CALAUMES selbstbewußt. „Sie stehen auf einer Entwicklungs stufe, die tatsächlich im Vergleich mit den Menschen fernste Vergan genheit ist. Wir werden mit ihnen Kontakt aufnehmen.“ Sie sprang aus dem Gleiter und bedeutete Fred Wolkewitz, ihr zu fol gen. Vier Paffer lösten sich aus der Gruppe von etwa zwanzig Lebewesen und kamen langsam auf die beiden Menschen zu. Sie wirkten völlig unbefangen. In ihren Händen hielten sie kleine Speere. Ein Paffer, es schien sich um ein weibliches Wesen zu handeln, trug eine Keule. Den noch wirkten die kleinen Gestalten harmlos und friedfertig. Nur wenige Meter voneinander getrennt blieben die Menschen und die Paffer stehen. Einer der blauhäutigen Zwerge trat einen Schritt vor und hob eine Hand. Dann sprudelten aus seinem Mund eine Menge unverständlicher Worte. „Das hört sich an wie ein Gemisch aus ungarisch und finnisch“, mein te Fred Wolkewitz freundlich. „Dummes Zeug“, fauchte Grid Wiederstein. „Sie sollten die Sprache lieber aufzeichnen, damit wir sie schnell analysieren können.“ Wolkewitz schaltete wortlos ein kleines Bandgerät ein. Dann ver suchten die beiden Terraner, sich mit Gesten und Zeichen verständlich zu machen. Nach verständlichen anfänglichen Schwierigkeiten glaubten sie nach einer ganzen Weile, daß es ihnen gelungen war, ihre friedlichen Absichten zu bekunden. „Ich wundere mich“, sagte die Kommandantin zu dem Wissen schaftler, „daß die Paffer überhaupt keine Scheu vor uns zeigen. Man sollte doch meinen, daß sie eine Höllenangst vor riesigen Lebewesen ha ben müssen, die mit einem Raumschiff auf ihrer Welt landen. Sie sind jedoch ausgesprochen selbstbewußt und sicher.“ „Vielleicht ist das nur eine Maske. Oder die Paffer sind in ihrer Ent wicklungsstufe noch so ungebildet, daß sie die Unterschiede zwischen sich und uns gar nicht erkennen.“ Fred Wolkewitz zog eine kleine, vergoldete Uhr aus einer Tasche und zeigte sie dem Sprecher der Paffer. Er fand damit jedoch kein Interesse bei dem blauen Zwergmenschen. Der zuckte nur mit den Schultern, griff 32
dann in die Blätter seines Lendenschurzes und holte eins der Zigarren ähnlichen Dinger hervor und bot es dem Mann an. „Sie wollen nichts von uns, und sie bieten uns statt dessen ihre komi schen Zigarren an“, staunte er. „Sie können das Ding gern rauchen“, meinte Grid Wiederstein bissig. „Ich rühre es jedenfalls nicht an.“ Wolkewitz nahm die Zigarre vorsichtig entgegen und erntete dafür ein dankbares Lächeln des Paffers. Der Zwerg holte einen kleinen, durch sichtigen Stein hervor und hielt ihn hoch. Mit einer Geste deutete er an, daß sich Wolkewitz bücken sollte. Der Mann verstand rasch, was der Zwerg vorhatte. Der Stein wirkte wie ein Brennglas und sollte den Rauchstengel entzünden. Lachend winkte er ab. Ohne gründliche Analyse wollte er doch lieber nicht rauchen. Der Paffer zuckte wieder nur mit den Schultern und ließ den durchsichtigen Stein in seinem Lendenschutz verschwinden. Das kleine Armbandfunkgerät der Kommandantin summte. „Verflixt und zugenäht“, schimpfte die Frau. „Warum geht Piko nicht an das Funkgerät, wenn wir gerufen werden?“ Sie blickte sich nach dem Fluggleiter um. Das Fahrzeug war leer. Der Paffer verstand diese Geste sofort. Er stieß einen Ruf aus und deutete zur Seite an den Waldrand. Dort saß Piko, der Funker, in der Mitte einer Gruppe Paffer auf dem Boden. Er rauchte einen der bräunlichen Glimmstengel und diskutierte mit den blauen Zwergen. * Die drei Fluggleiter waren zur CALAUMES zurückgekehrt. Grid Wie derstein ließ sich die ersten Erkenntnisse vortragen. „Paff ist eine kerngesunde Welt“, trug Nob Dencker vor, der den zweiten Gleiter geführt hatte. „Wir haben zahlreiche Siedlungen der Paffer entdeckt. Sie bewohnen einfache Hütten, die aus Holz, Stroh und Lehm gefertigt sind, und leben von Pflanzen und Tieren, die es in Hülle und Fülle gibt. Die Tierwelt ist der der Erde sehr ähnlich. Das gilt auch für die Größenverhältnisse. Nur die intelligenten Bewohner dieses Pla neten, nämlich die Paffer, sind im Vergleich zu uns viel zu klein gera ten. Einen Grund konnten wir dafür nicht finden. Unsere erste Vermu tung, daß wir uns auf einer Erde der Vergangenheit befinden, hat sich 33
jedoch grundsätzlich bestätigt. Unsere Beurteilung der Paffer deckt sich mit den Aussagen der Kommandantin. Die Bewohner dieses Planeten leben in kleinen Sippen ohne staatliche Organisation, und sie sind harm los und friedlich.“ Mit einer Geste gab Grid Wiederstein dem Leiter des dritten Erkun dungskommandos zu verstehen, daß er an der Reihe war. Dr. Baud, Geologe aus dem Team von Fred Wolkewitz, räusperte sich erst um ständlich, bevor er begann. „Paff ist eine Goldgrube. Wenn wir zur Erde zurückkehren können, haben wir genau das Ziel erreicht, das uns gesetzt worden war, nämlich eine rohstoffreiche Welt zu finden.“ Er machte eine Pause und betrachtete die erwartungsvollen Gesichter. „Nun, Paff hat das alles, was wir suchten. Eisenerze, Aluminiumvor kommen, Gold, Platin und Erdöl. Unsere Messungen und Untersu chungen lassen den Schluß zu, daß wir für die nächsten Jahrhunderte ausgesorgt haben.“ „Das sind in der Tat gute Nachrichten.“ Grid Wiederstein wirkte plötzlich gelöst. „Und damit stehen unsere nächsten Aktivitäten fest. Wir sammeln Proben aller Art und stellen einen Plan zum Abbau der Mineralien auf. Zehn Tage sollten dafür reichen. Inzwischen wird die CALAUMES überprüft, und dann geht es zurück nach Terra.“ „Sie überschreiten schon wieder ihre Kompetenzen“, brummte Wol kewitz erregt. „Für die Bodenproben und den Abbau der Erze und des Erdöls bin ich zuständig.“ „Für die Durchführung!“ schrie die Kommandantin zurück. „Aber nicht für die Tatsache, daß es gemacht wird.“ „Das wollen wir doch sehen. Wer ist denn hier der Wissenschaftler? Kümmern Sie sich um das Schiff, und überlassen Sie gefälligst mir mei ne Aufgaben.“ Bevor Grid Wiederstein etwas antworten konnte, geschah etwas sehr Seltsames. Der ewig schweigende Funker Piko meldete sich zu Wort. Mit monotoner Stimme sagte er: „Es ist völlig müßig, sich über die Kompetenzen zu streiten. So wie die Dinge jetzt liegen, werden wir Paff niemals ausbeuten können. Die Erze und das Öl und alles andere, das sie gefunden zu haben glauben, gehört nämlich gar nicht uns.“ Grid Wiedersteins Zorn wandte sich schlagartig dem unscheinbaren Funker zu. 34
„Den Paffern?“ fauchte sie. „Sie haben wohl den Verstand verloren. Überlassen Sie das Denken gefälligst denen, die den richtigen Verstand dafür haben. Diese unterentwickelten Zwerge mögen zwar selbstbewußt auftreten, aber ich lasse mich mit ihnen auf nichts ein.“ „Es könnte doch sein“, wandte Piko vorsichtig ein, „daß die Paffer sich gegen die Ausbeutung ihrer Welt wehren.“ „Womit denn?“ Die Kommandantin fuchtelte wütend mit den Armen in der Luft herum. „Mit ihren Mini-Speeren oder Spielzeug-Keulen? Oder mit ihrem Gepaffe?“ Piko schwieg. * Die nächsten Tage verliefen für die Besatzung der CALAUMES in be triebsamer Hektik. Die Fluggleiter waren fast pausenlos unterwegs. Sie schafften Geräte für Probebohrungen an verschiedene Plätze des Plane ten. Grid Wiederstein überprüfte mit einigen Technikern die CALAU MES. Das Raumgewitter, in das sie beim Hinflug geraten waren, hatte keine nennenswerten Schäden hinterlassen. Die Kommandantin hatte Fred Wolkewitz die Leitung über sein Team überlassen. Der Wissen schaftler war so den ganzen Paff-Tag unterwegs, um die Bohrstellen zu besichtigen. Dadurch sahen sich die beiden Streithähne nur selten. Bereits am dritten Tag nach der Ankunft lagen die ersten Probeboh rungen in dem kleinen Labor der CALAUMES vor. Die Erwartungen, die die Menschen nach dem ersten Bericht von Dr. Baud erfüllt hatten, wurden bestätigt. In dem allgemeinen Trubel fiel es nur wenigen Menschen auf, daß der Funker Piko sich täglich mit den Paffern am Waldrand traf, mit ihnen die komischen Zigarren rauchte und diskutierte. Als am vierten Tag die Überprüfung des Raumschiffs abgeschlossen war, startete Grid Wiederstein, begleitet von Dr. Baud, zu einer Besich tigung der Bohrstellen. Beim Verlassen der CALAUMES entdeckte sie erstmals Piko, der friedlich in der Runde der Paffer saß. Sie landete neben der Gruppe und schritt mit forschen Schritten auf den jungen Mann zu. „Was machen Sie hier?“ Piko erhob sich langsam. 35
„Ich diskutiere mit den Paffern. Sie heißen übrigens nicht Paffer, son dern Hakoles. Das bedeutet, die, die die Zukunft kennen.“ „Lächerlich. Ich glaube, daß diese Primitiven, die allenfalls unserer tiefsten Vergangenheit in ihrem Entwicklungsstadium entsprechen, sich grenzenlos überschätzen. Wieso können Sie ihre Sprache verstehen?“ „Es wäre gut, Madam“, sagte Piko sanft, „wenn Sie nicht so oft über unsere Vergangenheit sprechen.“ „Ich spreche über das, worüber ich sprechen will. Merken Sie sich das. Und jetzt beantworten Sie meine Frage. Können Sie die Paffer wirklich verstehen?“ Piko trat verlegen von einem Bein auf das andere. „Ihre Sprache ist sehr einfach und mit etwas Mühe leicht zu erlernen.“ „Kein Wunder, daß dieses primitive Volk eine einfache Sprache hat.“ „Die Einfachheit einer Sprache ist doch kein Maßstab für den Geist ihrer Benutzer, Madam.“ „Schluß mit der Diskussion.“ Grid Wiederstein fuhr unwirsch mit der Hand durch die Luft. „Sorgen Sie lieber dafür, daß sich diese Zwerge ru hig verhalten und unsere Arbeiten nicht stören.“ „Aber sie tun doch gar nichts.“ Piko schüttelte verwundert seinen Kopf. „Sie essen, schlafen, jagen und rauchen. Sonst nichts.“ „Sie sind und bleiben ein Träumer. Es ist besser, wenn Sie jetzt sofort an Bord der CALAUMES gehen und sich dort zur Verfügung halten. Womöglich drehen Sie sonst noch ganz durch.“ Wortlos und nur mit einer Geste verabschiedete sich Piko von den blauen Zwergen und trottete gemächlich in Richtung des Raumschiffs. „Ein komischer Typ“, meinte Dr. Baud zu der Kommandantin, als diese den Gleiter startete. „Zur Bohrstelle Charlie“, befahl Grid Wiederstein knapp. „Ich will mich selbst davon überzeugen, daß diese Primitiven Ruhe bewahren.“ Als der Fluggleiter hinter dem Horizont verschwand, drehte sich Piko um. Dann schritt er ohne Hast zurück zu den Paffern. Den Rest seiner Zigarre warf er in einen Tümpel. * An sämtlichen Bohr- und Forschungsstellen traf Grid Wiederstein auf Paffer. Die blauen Zwerge saßen meist unweit der Bohrlöcher und beo bachteten teilnahmslos das Tun der Menschen. Vor den Maschinen, die 36
völlig fremdartig auf sie wirken mußten, zeigten sie keine Scheu. „Vereinzelt kommen sie auch ganz nah heran und betrachten alles mit neugierigen Blicken“, erläuterte eine Frau der Kommandantin. „Wenn sie dann alles genau gesehen haben, zünden sie sich eine neue dieser ko mischen Zigarren an und verschwinden wieder.“ Grid Wiederstein war zufrieden. Dennoch wurde sie ein leichtes un behagliches Gefühl nicht los. „Glauben Sie, daß diese Zwerge irgend etwas gegen uns aushecken?“ Die Technikerin lachte. „Nein, ganz bestimmt nicht. Sie nehmen nur in einer für uns etwas ungewohnten Weise alles Neue ganz gelassen hin. Aber sie sind liebe Kerle. Ich habe einige Paffer gestern bei der Jagd beobachtet. Sie scho nen die Jungtiere, die in Begleitung der Muttertiere sind. Sie können nicht schlecht oder gemein sein. Sie plappern eine Menge, aber wir ver stehen das ja nicht. Es hört sich an, wie wenn ein Kleinkind seine ersten Sprechversuche startet.“ In diesem Augenblick traten zwei Paffer auf die beiden Frauen zu. Der eine verzog seinen Mund zu einem Lächeln und sagte zu Grid Wie derstein: „Kolemne te oles na hetka ilnig drut.“ Grid Wiederstein prägte sich diesen Satz ein. Als sie später nach der Inspektion von zwei weiteren Bohrstellen zur CALAUMES zurückgekehrt war, suchte sie Piko auf. Der Funker saß mit geschlossenen Augen vor seinen Geräten, die er erst wieder in Erd nähe benutzen würde. „Aufwachen!“ herrschte sie den Mann an. „Ich schlafe nicht“, sagte Piko langsam und ohne die Augen zu öff nen. „Ich denke intensiv und gründlich nach.“ „Dann denken Sie einmal darüber nach, was der Satz ,Kolemne to o les na hetka ilnig drut‘ bedeutet.“ Piko schlug überrascht die Augen auf und sprang von seinem Sessel hoch. „Sie haben die Sprache der Hakoles gelernt, Madam? Das ist gut, denn es kann uns vor dem Untergang …“ „Unsinn“, schnauzte Grid Wiederstein den Mann an. „Ich habe diesen Satz von einem Paffer gehört und möchte wissen, was er bedeutet.“ „Zu wem hat der Hakole das gesagt?“ Die Kommandantin der CALAUMES runzelte die Stirn. 37
„Spielt das denn eine Rolle?“ „Vielleicht, denn der Satz lautet: Du vergeudest deine Zeit. Oder: Du verspielst deine Zeit.“ „Und was soll das bedeuten? Sie kennen diese blauen Zwerge doch besser als ich.“ Piko zuckte zunächst mit den Schultern. Dann sagte er: „Ich kenne die Hakoles zwar besser als Sie, Madam. Aber wirklich kennen? Vielleicht hat der Hakole, der dies zu Ihnen sagte, gemeint, daß die Tätigkeit, die Sie in dem Augenblick durchführten, überflüssig sei. Angefangen von der Landung bis zu den Probebohrungen und dem Er arbeiten von Plänen für den Abbau der Erze und Mineralien. Ich tippe eher auf die zweite Möglichkeit, denn die Hakoles werden es sich nicht gefallen lassen, daß man ihre Welt ausplündert. Schließlich haben sie ja auch noch eine Zukunft vor sich.“ * In den restlichen Tagen, die bis zum vorgesehenen Start zur Erde verblieben, machte sich immer mehr das Gerücht breit, daß die Paffer etwas gegen die Terraner im Schilde führten. Grid Wiederstein bemerkte des öfteren, daß ihre Leute plötzlich schwiegen, wenn sie unvermutet hinzutrat. Sie machte zunächst Fred Wolkewitz, ihren ewigen Widersacher, für die Gerüchte verantwortlich. Ein klärendes Gespräch, in dem sich der Wissenschaftler aber nicht provozieren ließ, stellte jedoch klar, daß er ebenso wie die Kommandan tin gegen die Angstparolen ankämpfte. „Vielleicht liegt es daran, daß wir uns auf dieser fremden Welt ein fach nicht sicher fühlen“, meinte Wolkewitz. „Das ist absolut unlogisch“, behauptete die Frau. „Ich habe gemein sam mit vielen Menschen die Planeten des Sonnensystems in der ersten Phase der Eroberung des Weltalls besucht. Sicher fühlten wir uns ein sam und durch die völlig fremden Umweltbedingungen verängstigt und unsicher. Aber solche Gerüchte kamen nie auf.“ Fred Wolkewitz überlegte eine Weile. „Zuerst dachte ich, daß dieser Piko unsere Leute im eventuellen Sinn der Paffer beeinflußt. Ich habe ihn lange beobachten lassen. Er hat mit keinem anderen gesprochen. Außerdem haben wir keine Anzeichen er kennen können, aus denen man schließen könnte, daß die Paffer etwas 38
gegen unser Tun haben. Der Funker sympathisiert offensichtlich mit den blauen Zwergen. Darin sehe ich aber nur eine seiner Träumereien. Die Verständigungsschwierigkeiten und die unverschämte Gelassenheit der Paffer können unsere Leute verunsichert haben. Ich habe mit Nob Den cker darüber gesprochen. Er ist ja auch Psychologe, und er mißt dieser Deutung eine hohe Wahrscheinlichkeit bei.“ „Es gibt noch eine andere Möglichkeit“, sinnierte Grid Wiederstein. „Die Paffer beeinflussen uns parapsychisch, um uns zu vertreiben oder an einer Rückkehr zu ihrem Planeten zu hindern.“ Fred Wolkewitz schüttelte den Kopf. „Para-Fähigkeiten sind bis heute unbewiesen. Sicher gibt es Anzei chen dafür, aber ein wirklich realer Fall ist nicht bekannt.“ „Könnten wir solche Kräfte nachweisen?“ „Vielleicht auf der Erde. Mit den begrenzten Möglichkeiten der CA LAUMES ist es absolut unmöglich. Ich kann Ihnen aber schlüssig be weisen, daß eine Beeinflussung durch die Paffer nicht vorliegt. Denn ich glaube nicht daran, daß diese primitiven Zwerge etwas gegen uns pla nen.“ Die beiden führenden Personen der CALAUMES waren am Ende des Gesprächs nicht schlauer als zum Beginn. „Noch zwei Tage“, sagte die Kommandantin. „Dann beginnt der Rückflug zur Erde. Die Aggregate sind überprüft. In zwei getrennten Überlicht-Etappen, die schon berechnet sind, sollte der Flug klappen. Dann wird das Gefasel von der Paffer-Gefahr auch aufhören.“ Wenig später entdeckte Grid Wiederstein ihren Funker Piko im Auf enthaltsraum der CALAUMES. Der junge Mann saß verträumt in einer Ecke und qualmte an einem braunen Stengel. „Jetzt rauchen Sie dieses Zeug auch schon an Bord!“ herrschte sie Pi ko an. „Wer hat Ihnen das erlaubt?“ Der zuckte nur gleichmütig mit den Schultern. „Es steht nirgendwo geschrieben, daß das Rauchen im Aufenthalts raum verboten ist.“ Da dies stimmte, wechselte die Frau das Thema. „Wissen Sie überhaupt, was Sie da in sich hineinpaffen?“ Nachdenklich blickte Piko erst auf die Kommandantin, dann auf den zigarrenähnlichen Stengel. „Natürlich weiß ich das. Es ist Hako, ein Naturprodukt dieses Pla neten. Hako enthält keine Gifte, kein Nikotin und ist auch nicht schäd 39
lich. Sie dürfen es nicht mit terranischen Rauchwaren vergleichen, auch wenn eine äußere Ähnlichkeit besteht. Hako öffnet den Geist und gibt einem die Möglichkeit, die Zeiten zu überblicken. Die Hakoles sagen, wenn man es lange genug genossen hat, kann man die Zeit sogar beein flussen.“ „Sie spinnen und sind drogensüchtig, Piko. Ich verbiete Ihnen, noch einen Zug von diesem Zeug zu nehmen. Sie melden sich umgehend beim Bordarzt zur Untersuchung.“ Piko drückte den Rest des braunen, glimmenden Stengels in einem Ascher aus und sagte: „Ich habe schon so viele Hakos genossen, daß ich diesen Augenblick vorhersehen konnte. Ich kann Ihnen auch sagen, was der Arzt bei mir finden wird. Nichts, gar nichts.“ Langsam trottete er aus dem Raum. Einer plötzlichen Eingebung folgend, rief Grid Wiederstein hinter ihm her. „Wenn Sie schon in die Zukunft sehen können“, höhnte sie, „dann können Sie mir sicher sagen, ob wir die Erde wieder erreichen.“ Piko drehte sich mit ermüdender Langsamkeit zu der Frau um. Seine Augen schienen in eine weite Ferne gerichtet zu sein. „Sie werden unversehrt die Erde erreichen. Sie, die anderen, die CA LAUMES. Dafür garantiere ich.“ Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: „Auch ich werde die Erde wiedersehen.“ * Auch die beiden letzten Tage vor dem Start verliefen ohne Zwischen fälle. Sämtliche Bodenproben wurden an Bord der CALAUMES ge bracht. Die hervorragenden Funde hatten die Gerüchte um ein Eingrei fen der Paffer unterdrückt. Mit dem näherrückenden Zeitpunkt des Star tes von Paff gewannen die Menschen ihr Selbstvertrauen wieder. Piko war vom Bordarzt untersucht worden. Der hatte ihm jedoch völ lige Gesundheit bescheinigt, so daß Grid Wiederstein nichts unternahm, als man ihr mitteilte, daß der Funker am letzten Tag im Kreis der blauen Zwerge seinen Abschied feierte. Pünktlich eine Stunde vor dem Start kam der Mann zur CALAUMES zurück. In seiner Begleitung befanden sich über zweihundert Paffer, die an seiner Seite bis zu dem Raumschiff 40
mittippelten. Piko winkte ihnen noch einmal zu, dann verschwand er in dem Schiff. Grid Wiederstein und Fred Wolkewitz beobachteten den Aufmarsch der Paffer aus dem Kommandostand. Die beiden Menschen sahen, wie sich die blauen Zwerge kreisförmig um das Schiff verteilten und nie derhockten. In der Luft lag das bläulich-graue Schimmern des Rauches ihrer braunen Stengel. Als alle Bordsysteme Grünwerte meldeten, betrat Piko die Zentrale. „Was soll dieser Aufmarsch der Zwerge?“ fragte die Kommandantin unwirsch. „Ist das eine Abschiedsfeier oder die Freude darüber, daß wir Paff, diese Welt der Vergangenheit, verlassen?“ „Ich weiß es nicht, Madam“, sagte Piko sehr leise. „Sie haben mich um Verständnis dafür gebeten, daß sie ihre Welt so behalten wollen, wie sie ist.“ „Und?“ „Sonst nichts, Madam.“ „Haben sie Sie darum gebeten, daß wir nicht wiederkommen und die Rohstoffe abbauen?“ „Nein.“ Piko schüttelte unsicher den Kopf. „Sie sagen, daß sie wissen, daß wir nicht wiederkommen.“ Die Kommandantin war verunsichert. „Sollen wir sie vertreiben?“ „Wozu?“ Fred Wolkewitz stellte diese Frage. „Sie können uns nichts anhaben.“ „Und außerdem gehen sie von allein“, fügte Piko hinzu und wies nach draußen. Dort hatten sich die Paffer erhoben. Mit ihren tippelnden Schritten zogen sie im Schein der untergehenden Sonne in Richtung des nahen Waldrands, begleitet von einer mächtigen Qualmwolke. Die Szene hatte etwas Unheimliches und Gespenstiges an sich. Die Konturen der einzelnen Paffer schienen teilweise zu verschwimmen. Dann bildete sich an dem Waldrand ein Abendnebel, der die blauen Zwerge von Paff verschlang. „X minus 30 Sekunden“, sagte die mechanische Stimme des Bord computers und riß die Menschen wieder in die rauhe Wirklichkeit zu rück. „Alle Mann auf ihre Posten.“ Grid Wiederstein hatte ihre feste Stim me rasch zurückgewonnen. 41
Im Unterteil der CALAUMES liefen die Aggregate an, die das Schiff zum Start schwerelos machen würden. Dann drückte die Kommandantin den Startknopf. Ohne Komplikationen hob die CALAUMES ab, gewann rasch an Hö he und verschwand aus den Blicken der Hakoles, die in einer langen Reihe am Waldrand standen. „Erklno kra oles!“ rief einer der blauen Zwerge. Daraufhin warfen alle ihre glimmenden Stengel zu Boden und stampften mit ihren Speeren und Keulen die Glut aus. In kleinen Gruppen zogen sich die Hakoles in ihre Dörfer zurück. * Schon während der ersten Fernetappe geriet die CALAUMES in ein erneutes Raumgewitter, das in seiner Heftigkeit dem des Hinflugs gleichkam. Grid Wiederstein hatte allerdings vorgesorgt und befohlen, daß sich alle, die mit der Schiffsführung betraut waren, während des ganzen Fluges anschnallten. Die nackte Angst stand den Frauen und Männern dennoch im Gesicht. Nur Piko blieb völlig ruhig. „Ich weiß“, brüllte er durch das Tosen und Ächzen der Schiffswände, „daß wir heil die Erde erreichen.“ Fred Wolkewitz wünschte sich, daß der seltsame junge Mann die Wahrheit sagte. Grid Wiederstein flog mehrere Ausweichmanöver, um den Gewalten des Alls zu entkommen, aber ein Erfolg stellte sich zunächst nicht ein. „Noch eine Minute“, rief Piko, „dann ist der Spuk vorbei.“ Wolkewitz warf einen raschen Blick auf den Bordchronometer. Und tatsächlich … nach genau einer Minute herrschte völlige Stille. Der Wissenschaftler löste die Anschnallgurte und ging zu dem Fun ker. „Piko, ich muß mit Ihnen reden. Die Kommandantin hat mir von Ihrer angeblichen Weissagung berichtet. Gerade eben haben Sie das Ende des Raumgewitters exakt vorausgesagt. Ist das Zufall oder was sonst?“ Piko wand sich wie ein Wurm in seinem Sessel. „Sir“, sagte er schließlich holprig, „ich weiß es auch nicht genau. Es kommt von dem Rauch des Hakos. Er öffnet den Blick für die Zeit. Das weiß ich von den Hakoles, die diese Kunst bis zur Perfektion beherr 42
schen. Ich habe nur einen Hauch davon zu spüren bekommen und er kenne einige Dinge, die wenige Tage in der Zukunft liegen. Aber auch die weiß ich nur unvollkommen.“ „Was Sie sagen, Piko, klingt völlig unglaubwürdig.“ „Es ist mir gleichgültig, Sir, ob Sie mir glauben oder nicht. Es genügt mir zu wissen, daß ich die Wahrheit sage.“ Fred Wolkewitz versuchte es sanft und fast väterlich. „Sie sind schon ein Kauz, Piko. Sie müssen sich doch Gedanken dar über machen, wieso Sie etwas über die Zukunft wissen.“ „Es ist genau umgekehrt, Sir. In dem Moment, in dem man etwas mit völliger Sicherheit über die Zukunft weiß, weiß man auch, daß diese Dinge unabänderlich sind. Damit erlischt jegliches Interesse, noch etwas zu verändern, denn ich weiß ja, daß es unmöglich ist.“ „Bitte geben Sie mir eine von diesen Hako-Zigarren. Ich möchte sie untersuchen.“ Piko blickte den Wissenschaftler entschuldigend an. „Das ist leider nicht möglich, denn ich habe keine Hakos mehr. Die Kommandantin hat mir verboten, sie an Bord zu rauchen. Wozu hätte ich sie also mitnehmen sollen? Aber ich kann Sie trösten. Sie hätten weder in den Hakos noch in ihrem Rauch etwas gefunden, was Auf schluß über diese seltsame Wirkung gegeben hätte. Und auch darüber lohnt es sich nicht nachzudenken, weil man das Rätsel nicht lösen kann. Selbst wenn man es gelöst hätte, würde man es nicht verstehen, weil der menschliche Verstand dafür nicht geschaffen ist.“ „Wollen Sie damit sagen, daß Ihre primitiven Paffer-Freunde intelli genter sind als wir?“ mischte sich Grid Wiederstein ungehalten ein. „Durchaus nicht, Madam. Die Halokes nutzen diese Kräfte nur, ver stehen wollen sie sie gar nicht. Das ,In-die-Zeit-sehen‘ ist nur ein gerin ger Effekt des Hakos. Zumindest behaupten das die Hakoles.“ „Das ist alles Unsinn und dummes Gerede“, stellte Grid Wiederstein energisch fest und wollte damit das Gespräch beenden. „Aber das ist kein Unsinn“, sagte da Fred Wolkewitz mit seltsam be legter Stimme und wies mit ausgestrecktem Arm auf Piko. „Seine Um risse verschwimmen.“ Grid Wiederstein erstarben die Worte auf den Lippen, als sie den Funker anstarrte. Die Körperform des jungen Mannes wirkte plötzlich unscharf. Teile seines Gesichts bekamen einen hellen Schimmer und wurden halb 43
transparent. Ein Kontrollicht hinter Piko leuchtete durch diesen hin durch. „Was ist mit Ihnen, Piko?“ schrie die Frau hysterisch auf. Piko betrachtete seine Hände. „Mit mir ist nichts, Madam“, antwortete er ruhig. „Aber Sie und die anderen und die Geräte wirken plötzlich verschwommen und teilweise durchsichtig.“ „Sie sind verschwommen und durchsichtig“, schrie Grid Wiederstein. „Nicht wir! Das kommt von Ihrem blödsinnigen Hako-Rauchen.“ „Oh nein, Madam!“ Piko war ganz gelassen. „Ich weiß ganz sicher, daß Sie sich aus der Regelmäßigkeit entfernen und nicht ich. Aus Ihrer Warte mag das so aussehen, aber ich habe recht.“ Die Kommandantin blickte hilfesuchend zu Fred Wolkewitz. „Vielleicht ist es eine Auswirkung des Raumgewitters“, meinte der Wissenschaftler unsicher. Im gleichen Moment wußte er, daß dies nicht stimmen konnte. Plötzlich stabilisierte sich der Körper des Funkers wieder, so als ob nichts gewesen wäre. Grid Wiederstein atmete auf. Da kam eine neue Meldung von dem Pi loten. „Madam, wir haben die Orientierung verloren. Das Raumgewitter muß uns in eine andere Region verschlagen haben, ähnlich wie beim Hinflug nach Paff.“ „Ich werde unsere Position herausfinden“, erbot sich Wolkewitz. * Das Ergebis, das Fred Wolkewitz der Kommandantin wenig später vor legte, war wenig ermutigend. Die CALAUMES war durch die uner klärlichen Effekte des Raumgewitters um gut einhundert Lichtjahre seitlich zur Flugrichtung versetzt worden. Wolkewitz’ Team hatte die Position genau bestimmt. Das Tragische an der Versetzung war die Tat sache, daß sich das Raumschiff nun in einer größeren Entfernung von der heimatlichen Erde befand. Und die vorhandenen Energien reichten nicht aus, um die CALAUMES bis zum Sonnensystem zu bringen. „Wir können noch einen Überlichtflug durchführen. Der bringt uns aber nur bis auf etwa zwanzig Lichtjahre an die Erde heran. Für mehr reicht die Energie nicht. Um die Reststrecke zu überwinden, brauchen 44
wir mit Antigrav und Steuerdüsen über zweihundert Jahre“, schloß Wolkewitz seine Erklärungen ab. „Sollte es uns tatsächlich auch so ergehen, wie es mit den vielen ver schollenen Schiffen passiert ist“, sinnierte Grid Wiederstein betreten. Dann gab sie sich plötzlich einen Ruck und fuhr Piko an. „Sie haben doch vorausgesagt, daß wir sicher die Erde erreichen. Wo stimmen denn noch Ihre dämlichen Weisheiten?“ Für einen Moment verschwammen wieder die Umrisse des Funkers. Als er sprach, war davon aber nichts mehr zu bemerken. „Lassen Sie Ihre Wut über das Raumgewitter nicht an mir aus, Ma dam“, sagte Piko ungerührt. „Ich kann nichts für diese kosmische Er scheinung. Wenn ich gesagt habe, daß die CALAUMES mit der Besat zung die Erde erreichen wird, dann stimmt das auch. Ich kann Ihnen auch sagen, was Sie weiter tun werden, um die Erde zu erreichen.“ „Ich lasse mir doch nicht von Ihnen vorschreiben, was ich zu tun ha be, Sie unverschämter Flegel. Wenn wir tatsächlich noch nach Hause gelangen, dann gibt es für Sie ein Nachspiel wegen Aufsässigkeit gegen die Schiffsführung.“ Piko ließ sich nicht beirren. „Madam, ich habe lediglich gesagt, daß ich weiß, was Sie tun werden. Ich sehe es deutlich vor mir. Damit schreibe ich Ihnen nichts vor.“ Fred Wolkewitz trat neben Grid Wiederstein und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. „Lassen Sie ihn“, flüsterte er leise, so daß Piko es nicht hören konnte. „Und was wird die Kommandantin tun?“ „Das sage ich Ihnen nur, wenn Sie mir ein Versprechen geben.“ Grid Wiederstein wollte schon wieder aufbrausen, aber der sanfte Druck von Fred Wolkewitz hielt sie zurück. „Was sollen wir Ihnen versprechen, Piko?“ fragte der Wissenschaft ler. Der Funker drukste eine Weile herum. Schließlich faßte er sich ein Herz. „Wenn wir an unserem Sonnensystem angekommen sind, möchte ich mit einem der Rettungsboote die CALAUMES verlassen. Wenn ich an Bord bleibe, werde ich sterben.“ „So“, sagte die Kommandantin bissig. „Sie wollen das Schiff verlas sen, um nicht zu sterben. Und wir?“ „Sie werden sicher auf der Erde landen, Madam. Keiner wird um 45
kommen.“ „Können Sie mir verraten, wie ich Ihnen diesen Unsinn glauben soll?“ „Das kann ich nicht. Es ist auch nicht wichtig, ob Sie mir glauben, denn ich weiß jetzt schon, wie alles kommen wird. Sie werden meine Bitte erfüllen. Ich muß vor der Landung von Bord, weil ich sonst im leeren All sterbe. Ich beginne jetzt schon teilweise, mich aus Ihrer Zeit zu entfernen. Kurz nach der Ankunft werden Sie alle und das ganze Schiff für mich nicht mehr existieren.“ Grid Wiederstein schüttelte heftig den Kopf. „Wenn unsere Situation nicht so hoffnungslos wäre, würde ich Ihnen gar nicht zuhören, sondern Sie auf Ihren Geisteszustand untersuchen lassen.“ „Bekomme ich das Beiboot?“ fragte Piko hartnäckig. „Ich würde es Ihnen gern geben“, antwortete die Kommandantin. „A ber was soll ich nach der Rückkehr auf Terra sagen, wo Sie und das Rettungsboot geblieben sind? Man wird mir Vorwürfe machen und mich vor Gericht stellen.“ Wieder verschwammen die Konturen Pikos für einen Moment. „Nein“, sagte er dann langsam, „es ist sicher, daß niemand Ihnen ei nen Vorwurf machen wird. Ich sehe es ganz deutlich. Es ist unabänder lich.“ „Also gut, Piko.“ Für Grid Wiederstein war die Sache damit erledigt. „Sie sagen mir, was zu tun ist. Wenn wir unser Sonnensystem tatsäch lich erreichen, bekommen Sie das Beiboot.“ Piko nickte mehrmals vor sich hin. Dann blickte er ängstlich von ei nem zum anderen. „Es klingt idiotisch, was ich jetzt sage, aber Sie alle können mir glau ben. Programmieren Sie irgendeinen Kurs und gehen Sie in den Über lichtflug. Wählen Sie eine beliebige Entfernung für den Flug. Die CA LAUMES wird in ein neues Raumgewitter kommen, das uns in das Sonnensystem versetzt. Wir werden etwa in der Höhe der Saturn-Bahn herauskommen. Dann habe ich nur noch wenige Minuten, um mich mit dem Beiboot zu retten. Ich habe dann zwar noch gut achtzig Tage Flug zeit bis zur Erde, aber ich werde weiterleben.“ Lange herrschte Stille im Kommandostand der CALAUMES. Schließlich sagte Fred Wolkewitz mit einer Stimme zu Grid Wieder stein, die alle bisherigen Streitereien vergessen ließ. „Grid, wir haben keine andere Möglichkeit. Wir sollten den Versuch 46
riskieren. Wenn wir gar nichts tun, kommen wir ohnehin um.“ * Die neue Flugetappe währte nun schon vier Tage, ohne daß etwas ge schehen war. Allmählich wurde die Besatzung unruhig und unzufrieden. Grid Wiederstein und Fred Wolkewitz als die beiden führenden Perso nen an Bord hielten aber eisern zusammen und räumten alle Bedenken aus. Aus den beiden Kampfhähnen war urplötzlich ein Team geworden. Die Hoffnung auf Rettung durch den Kauz Piko hatte die beiden zusam mengeschweißt. Der Funker hielt sich meistens in seiner Kabine auf und ließ sich nicht ansprechen. Erst am fünften Tag erschien er in der Kommandozentrale. Sein Blick war abwesend und seine Augen waren gerötet, als ob er lange nicht geschlafen hätte. „Wie geht es Ihnen, Piko?“ fragte Grid Wiederstein freundlich, aber der Funker ging nicht darauf ein. „In zehn Minuten beginnt das Raumgewitter, das die CALAUMES zum Solsystem versetzt“, murmelte er. „Sie sollten sich anschauen.“ Für einen Moment wurde Piko völlig durchscheinend, und Grid Wie derstein stieß einen leisen Schrei aus. Dann stabilisierte sich der Körper wieder. „Es ist nur das Vorgeplänkel der zeitlichen Auswanderung“, erklärte Piko. „Das hat nichts zu bedeuten, und Sie brauchen sich keine Gedan ken darüber zu machen.“ Er setzte sich vor die Funkgeräte und schnallte sich an. Dann brach das Raumgewitter mit urplötzlicher Wucht herein. „Wir schaffen es“, rief Fred Wolkewitz lachend Grid Wiederstein zu. „Piko lügt nicht Auch wenn wir nicht verstehen, wie er zu diesen Er kenntnissen kam; es steht für mich fest, daß eine seltsame Veränderung mit ihm vorgegangen ist und noch vorgeht.“ Piko saß mit geschlossenen Augen in seinem Sessel. Teilweise wurde sein Körper wieder durchsichtig. Plötzlich öffnete er die Verschlüsse der Anschnallgurte und erhob sich. Im selben Moment endete das Raum gewitter, und die gewohnte Ruhe kehrte wieder ein. „Ich muß mich beeilen“, sagte Piko leise. Sein Körper war nur noch schemenhaft erkennbar. „Ich danke für das Vertrauen. Jetzt gehe ich zu dem Beiboot und verschwinde. Wie Sie sehen, stehen wir nur unweit 47
von Saturn.“ Das typische Bild des Planeten leuchtete unweit der CALAUMES vor dem schwarzen Hintergrund des Weltalls. Grid Wiederstein stand auf und schritt zu Piko hinüber. „Leben Sie wohl, Piko. Vielleicht sehen wir uns auf der Erde wieder.“ Es klang mehr wie eine Frage. Die fast völlig transparente Figur des Funkers bewegte sich auf das Eingangsschott zu. Grid Wiederstein woll te die Hand des Mannes ergreifen, aber sie verspürte keinen Widerstand mehr. Erschrocken fuhr sie zurück. „Leben Sie wohl und viel Glück.“ Pikos Stimme klang wie aus weiter Ferne und wurde von einem seltsamen Echo begleitet. „Ich habe noch eine Nachricht für Sie hinterlassen. Sie werden sie finden. Viel Glück.“ Die Gestalt stabilisierte sich noch einmal. Dann hastete Piko, ohne sich noch einmal umzudrehen, aus dem Kommandostand. Zwei Minuten später meldete der Bordcomputer, daß das Beiboot CAL-1 das Schiff verlassen habe. „Kurs Erde!“ befahl Grid Wiederstein mit fester Stimme. Zufällig richtete sie dabei den Blick auf den Planeten Saturn. Dieser verschwand plötzlich, um in größerer Entfernung wieder aufzutauchen. Die Kom mandantin überzeugte sich davon, daß die CALAUMES noch keine Fahrt aufgenommen hatte. Zwei Meldungen des Personals erreichten sie kurz hintereinander. Der Pilot teilte mit, daß die Planeten des Sonnensystems sprungartig eine andere Position eingenommen hatten. „Es ist ohne Zweifel unser Sonnensystem. Es war es auch bei der An kunft. Wie durch Zauberei stehen aber die Planeten plötzlich an anderen Stellen ihrer Bahnen. Das ist unerklärlich.“ Die andere Meldung kam von der Ortung. „Die CAL-1 ist im gleichen Moment von den Ortungsanzeigen ver schwunden. Sie war auf Kurs zur Erde.“ Grid Wiederstein blickte Fred Wolkewitz an, aber der schwieg. „Was hat das nun wieder zu bedeuten, Fred?“ fragte sie freundlich. „Ich weiß es nicht. Und von Piko habe ich gelernt, daß man nicht im mer alles unbedingt verstehen muß, was an geheimnisvollen Dingen im All geschieht. Siehst du den Punkt dort in der Ferne? Das ist unsere Erde. Dort warten die Menschen auf unsere Rückkehr. Mich interessiert im Augenblick nur das. Und nicht Phänomene wie Raumgewitter, blaue Zwerge, unsichtbar werdende Funker oder springende Planeten.“ 48
„Du hast recht, wir wollen nach Hause.“ Während der Pilot das Schiff auf Kurs brachte, setzte Grid Wieder stein die ersten Funksprüche nach der Erde ab. Noch waren die Entfer nungen zu groß, als daß sie bei den langen Laufzeiten der Wellen eine rasche Antwort hätte bekommen können. Aber sie Wollte die Ankunft der CALAUMES ankündigen. Erst viele Stunden später wurde sie unruhig, als auf allen Kanälen der Funkgeräte völlige Stille herrschte. Auch Kontaktaufnahmen mit den Basen der Menschen auf den Jupitermonden oder auf Mars scheiterten. Die Funkanlagen wurden überprüft, aber man fand keine Fehler. Schließlich setzte Grid Wiederstein die Ersatzägeräte ein. Auch hier war kein Erfolg beschieden. Nur das übliche statische Störgeräusch klang aus den Empfängern, und kein Anruf wurde beantwortet. „Etwas stimmt nicht, Fred“, sagte sie beunruhigt zu Wolkewitz. Schließlich schwenkte die CALAUMES in einen erdnahen Orbit ein. Die Fernbeobachtungskameras wurden eingeschaltet Und lieferten die ersten Bilder von der Erde. Fred Wolkewitz betrachtete die Aufnahmen lange und schweigend. Sein Gesicht war aschfahl geworden. Die Kontinente wiesen in etwa die gewohnte Form auf. In der Mitte des Atlantiks erhob sich jedoch ein von Norden nach Süden laufender Landrücken. Bebauungen waren an keiner Stelle zu finden. Die Bevölkerung war allgemein dichter als gewohnt, und zahlreiche Vulkane waren tätig. „Mein Gott, Fred“, stammelte Grid Wiederstein, „was hat unsere gute Erde so verändert?“ „Nein, Grid.“ Fred Wolkewitz’ Stimme klang heiser vor Erregung. „Es ist grausam, aber wahr. Nicht die Erde hat sich verändert, sondern wir. Ich kann es noch nicht begreifen, es will mir nicht in den Kopf.“ Er sprang plötzlich auf und rannte aus der Kommandozentrale. Kurz darauf kam er zurück. In seiner Hand hielt er einen Bogen Papier. „Es ist schlimm, was mit uns geschehen ist“, sagte er niedergeschla gen, „aber wir müssen uns damit abfinden. Schaut diese Bilder an. Der amerikanische Kontinent liegt noch näher an Europa und Asien. Dazwi schen erhebt sich das sagenumwobene Atlantis. Die Erde ist ohne Be völkerung. Zahllose Vulkane sind aktiv, und weite Flächen, die wir als fruchtbares Land kennen, sind Wüste oder Sumpf. Ganze Gebiete sind von Eis überzogen. Dafür gibt es nur eine Erklärung. Wir befinden uns irgendwo in der fernen Vergangenheit unserer Erde. Ich schätze, daß wir 49
einen Zeitsprung von über einer Million Jahre gemacht haben, und ich würde mich nicht wundern, wenn wir dort unten Mammuts und unseren Ur-Vorfahren begegnen.“ Grid Wiederstein schlug die Hände vor das Gesicht. „Wie ist das möglich?“ schluchzte sie. „Auch dafür gibt es eine Erklärung.“ Fred Wolkewitz deutete auf das Blatt Papier, das er mitgebracht hatte. „Dies ist die letzte Nachricht von Piko. Hört, was er geschrieben hat.“ Glaubt mir, ich habe alles getan, was ich für euch tun konnte. Nicht ich habe mich aus eurer Zeit entfernt, sondern ihr euch aus meiner, aus der realen Zeit unseres gemeinsamen Lebens. Die Ursa che liegt in den geheimnisvollen Kräften, die die Hakoles aus dem Hako-Rauch gewonnen haben. Sie haben euch durch die Zeit ge schleudert, aber ich weiß nicht wohin. Ich konnte es nicht verhin dern, aber die Hakoles haben es verhindert, daß wir Menschen ihre Welt ausbeuteten. Lebt wohl! Lernt daraus für eure Zukunft. Piko. „Für unsere Zukunft“, flüsterte Grid Wiederstein kreidebleich, als sich die CALAUMES auf ihren Antigrav-Polstern langsam dem Insel kontinent in der Mitte des Atlantiks näherte. * Am 24. September 2247 landete der einzige Überlebende des elften terranischen Forschungsraumschiffs, das das Sonnensystem verlassen hatte, mit dem Beiboot CAL-1 auf der Erde. Er berichtete, daß die CA LAUMES in einer kosmischen Katastrophe verlorenging. An Einzel heiten konnte er sich durch den Schock bis an sein Lebensende nicht erinnern. Nur manchmal faselte er im Traum von blauen Zwergen, die die Zeit manipulierten.
JENSEITS VON HEUTE Es ging laut her in Kolanis Napoleon-Bar. Die Theke war überfüllt von Männern, die mit rauhen Stimmen diskutierten und den Getränken kräf tig zusprachen. Zur Untermalung seiner Worte hieb ein bärtiger Fernfah rer mit der Faust auf die Theke, daß die uralte Napoleon-Figur zu hüp fen begann, die als einzige Zierde den Schanktisch schmückte. Die Luft 50
war zum Schneiden dick vom Qualm der Zigarren, Zigaretten und Pfei fen. Als Money Zeumer mit seinem Sportwagen vor der Napoleon-Bar hielt, übertönte der Lärm der Stimmen und des Gläsergeklirrs sogar den Verkehr auf der Interstate 56, an der Kolanis Bar lag. Eigentlich war es gar keine Bar, sondern eher eine Fernfahrer-Kneipe. Es kamen aber auch alle möglichen Leute aus der näheren und weiteren Umgebung hierher. „Früher war hier mal ’ne Bar“, pflegte Kolani in seinem gebrochenen Englisch stets zu sagen, denn er stammte irgendwoher aus dem Orient. „Heute ist es eine Kneipe für alle.“ Money Zeumer, den man den Spieler oder den Wetter nannte, betrat das Lokal. Zunächst wurde er gar nicht beachtet, obwohl er in seinem pikfeinen Anzug zwischen den rauhen Gesellen sofort auffiel. Dann blickte einer seiner Bekannten zum Eingang und johlte los. Sofort stimmten die anderen in das Geschrei ein, denn Moneys Anwesenheit versprach immer Stimmung und Spaß. Sogar die beiden einzigen Frau en, die anwesend waren, begrüßten den Wetter überschwenglich. „Na, Money, wen hast du denn heute aufs Korn genommen?“ fragte eine dralle Blondine mit strähnigen Haaren. „Dich bestimmt nicht“, lachte Money, „denn bei dir ist ja nichts zu holen.“ Moneys richtigen Vornamen kannte niemand. Selbst Kolani, der alle seine Gäste genau kannte, begnügte sich mit dem Spitznamen Money. Bei Zeumer drehte sich stets alles um das Geld, und das hatte ihm diesen Namen eingetragen, den er sich gern gefallen ließ und der seiner Spiel und Wettleidenschaft das notwendige Image gab. „He, Money!“ brüllte ein stiernackiger Fernfahrer. „Was ist? Hast du keine Lust, ein paar lumpige Dollars an mich zu verlieren? Wie war’s mit einem schönen Würfelspiel?“ Money Zeumer tat, als hätte er den Rufer nicht gehört. Genießerisch leerte er sein erstes Glas. Bevor dieses wieder auf der Theke stand, stell te Kolani ein neues, volles Glas hin. Money griff lässig in die Tasche seines Jacketts. Eine Zehn-Dollar-Note kam zum Vorschein und landete auf der Theke. „Eigentlich habe ich es heute nicht nötig, dir dein sauer verdientes Geld abzuknöpfen“, bemerkte er dazu, „denn ich habe erst vor einer Stunde in Bud’s Corner einen Fünfhunderter an Land gebracht. Aber ich 51
will dir natürlich auch eine Chance geben.“ Solche und ähnliche Sprüche kannten die Gäste der Napoleon-Bar von Money Zeumer zur Genüge. Sie gehörten zum Spiel dazu wie das Salz in die Suppe. Dann knallten die Würfelbecher auf die Theke, daß die Gläser zu hüp fen begannen. Begleitet von nicht immer stubenreinen Sprüchen nahm das Spiel seinen Gang. Als nach der neunten Runde noch immer keine Entscheidung gefallen war, traten dem Fernfahrer die Schweißperlen auf die Stirn. ,,Driver“, sagte Money mit eiskalter Gelassenheit, „du hast wohl ver gessen, dir nach dem Waschen das Gesicht abzutrocknen.“ „Quatsch nicht, du Dünnmann. Dir zittern ja schon die Knie“, konterte der Stiernackige gereizt. „Jetzt fällt die Entscheidung, und dann bist du um zehn Dollar ärmer und um eine Erfahrung reicher.“ „Oder um zwanzig Dollar?“ lockte Money. „Okay“, brüllte der Fernfahrer und legte einen zweiten Schein auf die Theke. Beim nächsten Wurf war das Spiel zu Ende. Money Zeumer verzog keine Miene, als er die gewonnenen Scheine lässig einsteckte. „Gib dem Driver ein Bier von mir“, meinte der Spieler nur und blick te herausfordernd in die Runde. Aber im Augenblick schien kein anderer Lust an einem Spiel zu haben. „Gewinnen Sie immer?“ fragte eine weibliche Stimme in Moneys Rü cken. Langsam drehte sich Money Zeumer um. Vor ihm stand eine kleine, schmächtige Frau mit langen, schwarzen Haaren. Er hatte diese Frau noch nie gesehen, und an den erstaunten Gesichtern der Männer an der Theke erkannte er, daß auch diesen die Frau unbekannt war. Sie besaß ein fremdländisches Aussehen. Ihre Sprache war fehlerfrei, wies aber einen Akzent auf, den Money noch nie gehört hatte. „Wie sieht es aus?“ fragte die Fremde weiter. „Wollen Sie ein Spiel mit mir riskieren?“ „Warum nicht?“ Moneys Antwort wirkte scheinbar gelangweilt. „Wer bist du, schönes Kind?“ Die Fremde, sie mochte etwa fünfundzwanzig Jahre alt sein, verzog leicht die Mundwinkel und blickte den Mann aus großen, tiefen Augen an. „Wenn Sie unbedingt einen Namen hören wollen, dann nennen Sie 52
mich Jenny.“ „Okay, Jenny. Und welches Spiel soll es sein?“ „Ein ganz einfaches Spiel. Ein Würfel, ein Wurf. Der höhere Wurf gewinnt. Einverstanden?“ Money Zeumer nickte. „Einsatz?“ Die Fremde, die sich Jenny nannte, antwortete ebenfalls knapp. „1000 Jahre!“ „Du meinst wohl 1000 Mäuse“, lachte Money und legte zwei 500Dollar-Noten auf die Theke. „Nein“, antwortete Jenny, „ich meine das, was ich sagte. 1000 Jahre.“ „Ich spiele nicht um Jahre. Ich spiele um Geld. Verstehst du das?“ Money hatte das Gefühl, daß sich die Fremde über ihn lustig machen wollte. Jenny ließ sich jedoch nicht irritieren. Von irgendwoher zog sie einen funkelnagelneuen 1000-Dollar-Schein hervor. „Mein Einsatz“, sagte sie mit ernster Stimme. „Wenn Sie gewinnen, gehört der Schein Ihnen. Wenn Sie verlieren, bekomme ich von Ihnen 1000 Jahre. Einverstanden?“ „Das ist das idiotischste Spiel, von dem ich je gehört habe. Wie soll ich dir denn die 1000 Jahre geben, wenn ich tatsächlich verlieren sollte? In Monaten? In Tagen oder in Stunden? Oder hätte es die Dame gern in Sekunden?“ Damit hatte er die Lacher erst einmal auf seiner Seite. „Sie scheinen wirklich lange nicht mehr verloren zu haben, wenn Sie nicht wissen, wie man seine Spielschuld begleicht.“ „Das letzte Mal, als ich verloren habe, war im Februar“, sagte Money mit gespieltem Ernst und scheinbar nachdenklicher Miene. „Vor zwei Jahren“, fügte er dann hinzu und hatte wieder die Lacher gewonnen. „Ich habe nicht viel Zeit.“ Jenny ließ sich durch das Gejohle der Män ner nicht irritieren. „Deshalb will ich Ihnen entgegenkommen. Wenn Sie verlieren sollten, werde ich mir meinen Gewinn einfach nehmen. Das erspart Ihnen die Mühe, die 1000 Jahre zu begleichen.“ „Ich bin einverstanden.“ Money lachte. „Aber vorher mußt du mir versichern, daß in deinem Oberstübchen alles in Ordnung ist.“ „Es ist alles in Ordnung. Und nun fangen Sie endlich an.“ Der Spieler packte den Würfelbecher und schüttelte ihn. Das Leder knallte auf die Theke. Fünf Augen waren zu sehen. Dann faßte die zierliche Hand der Fremden nach dem Würfel. Sie 53
schüttelte den Becher nur einmal und setzte ihn genau auf die 1000Dollar-Note. Erstaunte Ausrufe der Zuschauenden erklangen, als eine Sechs zum Vorschein kam. „Sie haben verloren“, sagte Jenny, packte ihren Geldschein wieder ein und verließ die Napoleon-Bar. Etwas verdutzt blieb Money Zeumer zurück. „Die war doch nicht richtig im Kopf“, tröstete ihn Kolani. „Wahr scheinlich wollte sie einen Jux machen oder sich aufspielen.“ Als Money Zeumer wenig später bei einer Poker-Runde achtzig Dol lar kassierte und lachend einsteckte, hatte er den komischen Zwischen fall mit der fremden Frau schon fast vergessen. * Zwei Stunden später jagte Money Zeumer seinen Sportwagen über die Interstate 56 in Richtung Jefferson City. Die abendliche Dunkelheit brach langsam herein. Der Spieler war mit sich und der Welt zufrieden, denn es war ein erfolgreicher Tag gewesen. Die Kasse stimmte, und er hatte kein Spiel verloren. Die Begegnung mit der komischen Fremden zählte Money dabei nicht mit, denn sie hatte ihm keinen Verlust ge bracht. Mit aufgeblendeten Scheinwerfern fuhr der Sportwagen in den IndianTunnel ein. Money achtete kaum auf seine Umgebung, denn er kannte die Strecke mit dem sechs Kilometer langen Tunnel wie seine We stentasche. Er stutzte nur kurz, als sich die Tunnelbeleuchtung plötzlich änderte, als er etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte. Statt der fünfreihi gen Neonröhren glimmte nun ein angenehmes, warmes Licht aus einem breiten Streifen in der Mitte des Tunnelgewölbes. Er blickte an die Seitenwände, aber die Reihen mit den Neonlichtern waren verschwunden. Die Wände waren völlig glatt und besaßen ein un gewohntes Aussehen. Nun fiel ihm auch auf, daß die Teerdecke der Fahrbahn gänzlich an ders aussah. Die Farbe war jetzt dunkler und die weißen Leitlinien fehl ten völlig. Statt dessen zogen sich schmale Striche in vier Bahnen längs der Fahrroute dahin. Money Zeumer war verwirrt. Der Indian-Tunnel hatte sich völlig ver ändert. Das Licht stimmte nicht, die Farben waren falsch, und der ganze 54
Tunnel schien um gut zehn Meter breiter und höher geworden zu sein. Seine Überlegungen wurden unterbrochen, als er von einem Fahrzeug überholt wurde, das mit einer wahnwitzigen Geschwindigkeit an ihm vorbeiraste. Das Modell des Autos wirkte wie ein Spuk aus einer frem den Welt. Money hatte noch nie in seinem Leben ein solches Fahrzeug gesehen. Und der Wagen fuhr mindestens 300 Stundenkilometer. Money Zeumer hatte kaum Zeit, diese Eindrücke zu verarbeiten, da war der Wagen auch schon verschwunden. Eine neue Überraschung wartete auf ihn, als das Ende des Tunnels nahte. Draußen war heller Tag. Nach dem Stand der Sonne mußte es frü her Morgen sein. Die Landschaft war ebenfalls kaum wiederzuerkennen. Es war einfach alles anders. Der völlig verwirrte Mann wischte sich die Schweißperlen aus dem Gesicht und wollte auf die Bremse drücken. „Ich spinne doch nicht“, flüsterte er mit belegter Stimme. Da klang hinter ihm ein schriller Ton auf, der rasch und rhythmisch den Klang wechselte. Noch bevor Money Zeumer die Bremse betätigen konnte, fühlte er, wie sein Sportwagen die Geschwindigkeit stark ver langsamte. Dann stand der Wagen still. Im selben Moment kurvte ein Gefährt an ihm vorbei und hielt unmittelbar vor Moneys Sportwagen. Erstaunt riß der Spieler seine Augen auf, als er an dem Fahrzeug keine Räder entde cken konnte. Überhaupt entsprach nur die Größe in etwa der der bekannten Fahr zeugmodelle. Das fremdartige Gefährt hatte einen kastenartigen Unter bau von fast einem halben Meter Höhe. Das ganze Fahrzeug schwebte wenige Zentimeter über dem Boden. Die obere Hälfte bestand aus einer durchsichtigen Halbkugel. Dahinter erblickte Money zwei Männer, die ihm noch den Rücken zukehrten. Die transparente Halbkugel teilte sich in zwei Hälften, die nach vorn und hinten zurückklappten. Money stellte den Motor seines Wagens ab, da sich dieser ohnehin nicht mehr bewegen ließ. Die beiden Männer kamen mit schnellen Schritten auf ihn zu. Auf ih ren Overalls stand in leuchtend roter Farbe das Wort ROBOT-POLICE. Money stockte der Atem. „Das kann nur ein Traum sein“, tröstete sich der Mann. Da erblickte er die Gesichter der beiden Männer, und er fühlte sich in einen ScienceFiction-Film versetzt. Das waren keine Männer, das waren tatsächlich 55
Roboter. Die Gesichter waren nach dem Vorbild des Menschen gebaut, aber sie bestanden aus Metall. Die Augen waren Kameraobjektive, und in dem leicht geöffneten Mundschlitz sah Money eine Lautsprecher membrane. Der eine Roboter hielt sich im Hintergrund und musterte Money Zeumers Sportwagen. Der andere trat heran und machte eine leichte Verbeugung. „Guten Morgen, mein Herr“, sagte der Roboter mit absolut mensch licher Stimme. „Ich bin der Robot-Polizist 438. Ich muß Ihnen einige Fragen stellen, denn Sie haben gegen mehrere Gesetze und Vorschriften verstoßen.“ Als Money bleich vor Schreck und Erstaunen nichts antwortete, sprach der Roboter weiter. „Es besteht der Verdacht, daß Sie dieses Fahrzeug aus einem Museum entwendet haben.“ Money Zeumer wurde wütend. „Ich glaube, ich bin bei lauter Irren ge landet. Das ist mein Wagen, und hier sind die Papiere.“ Er griff in seine Brusttasche und holte den Fahrzeugschein heraus. Der Roboter griff nach dem dargebotenen Papier und musterte es auf merksam. Dann sagte er: „Es ist nicht erlaubt, mit den offiziellen Polizeiorganen Scherze zu treiben. Diese Papiere scheinen aus dem vorigen Jahrtausend zu stam men. Wahrscheinlich haben Sie sie ebenfalls aus einem Museum ent wendet.“ „Aus dem vorigen Jahrtausend?“ schrie Money noch wütender. „Bei Ihnen piept es wohl.“ „Die Robot-Polizei ist wie alle Roboter mit du anzusprechen“, belehr te die Maschine den Mann. Dann fuhr sie fort: „Neben dem Verdacht des Diebstahls eines veralteten Kraftfahrzeugs aus einem Museum ha ben Sie sich weiterer Vergehen schuldig gemacht. Sie haben dieses Fahrzeug auf einer Straße benutzt, die nur für den Leitschienenverkehr zugelassen ist. Dadurch haben Sie andere Menschen gefährdet.“ Money fühlte sich der Situation nicht mehr gewachsen. In seiner Ver zweiflung fragte er den Roboter, wie die Sache nun weitergehen sollte. „Das ist ganz einfach“, erfuhr er. „Schließlich wird jeder Mensch frühzeitig über alle Erfordernisse des Lebens aufgeklärt. Dazu gehört auch das Verhalten im Leitschienenverkehr. Das Fahrzeug wird sicher gestellt und an den rechtmäßigen Eigentümer übergeben. Ich muß Sie 56
bitten, uns ohne Widerstand zur nächsten Zentrale zu folgen. Dort wird festgestellt, welche Vergehen Sie begangen haben und wie Sie bestraft werden.“ Schwer atmend lehnte sich Money gegen seinen Wagen. „Aber das ist doch alles absurder Unsinn. Ich weiß überhaupt nicht, wo ich bin.“ „Sie befinden sich auf der GL-56“, antwortete der Polizei-Roboter ge duldig. „Wir müssen Sie ohnehin mitnehmen, da der Verdacht einer geistigen Störung bei Ihnen besteht.“ „Steigen Sie bitte in unseren Gleiter ein“, forderte ihn der zweite Ro boter auf und wies auf das seltsame Gefährt ohne Räder. Money fügte sich in das Unvermeidliche. Der Robot-Gleiter hatte zwei vordere Sitzplätze. Money Zeumer muß te sich auf die Rückbank setzen. Das durchsichtige Dach schloß sich ge räuschlos. Mit atemberaubender Geschwindigkeit hob der Gleiter vom Boden ab und schoß in die Hohe. Money registrierte verblüfft, daß er keinen An druck von der Beschleunigung verspürte. Er musterte die Armaturen des Fahrzeugs. Auf der Geschwindig keitsanzeige las er die Zahl 350. Sollten das 350 Stundenkilometer be deuten? Dann wanderten seine Augen etwas weiter nach rechts. Über einer der vielen Anzeigen stand das Wort DATUM-ZEIT. Und was Money dort las, verschlug ihm endgültig den Atem. 4. APR 2978 stand dort. Er blickte auf die Datumsanzeige seiner Armbanduhr. Danach war heute der 4. April 1978. Unbewußt bestimmte er die Differenz. Es waren (abgesehen von eini gen Stunden, denn es war Morgen, und nach seiner Erinnerung und Uhrzeit war es Abend) genau 1000 Jahre. „Das ist doch nicht möglich“, flüsterte er entsetzt, als ihm das Spiel mit der fremden Frau wieder einfiel. Sollte es tatsächlich möglich sein, daß er auf diese Weise seine Spielschuld von 1000 Jahren begleichen mußte? Vor dem Gleiter tauchte das Bild einer Stadt auf. Die Gebäude wirk ten auf Money fremdartig. Es handelte sich fast ausschließlich um Hochhäuser, die aber in ihren Farben und in ihrer Vielfalt ein durchaus harmonisches Bild abgaben. 57
„Jefferson City“, sagte der eine Roboter erklärend. Money Zeumer konnte nur den Kopf schütteln. Das war nicht sein Jefferson City. Der Spieler fügte sich in das scheinbar Unvermeidliche und fand sich mit der Tatsache ab, daß er auf unerklärliche Weise um 1000 Jahre in die Zukunft versetzt worden war. Dadurch wurde er innerlich wieder etwas ruhiger und gefaßter. Er beobachtete seine Umgebung nun aus dieser Perspektive. Unter dem Polizeigleiter, der in knapp fünfzig Meter Höhe in die Stadt einflog, zogen sich Straßen dahin, auf denen sich Fahrzeuge mit Irrsinns geschwindigkeiten bewegten. Der Luftraum war leer. Offensichtlich war er den Polizeiorganen vorbehalten. Dann verringerte sich die Geschwindigkeit des Gleiters. In einer sanf ten Kurve schwenkte er auf ein hohes Gebäude zu und landete auf dem Dach. Money erkannte weitere Gleiter, auf der Dachplattform, die alle das gleiche Aussehen hatten wie sein Polizei-Gleiter. „Bitte folgen Sie uns“, sagte ein Roboter, als sich das durchsichtige Verdeck geöffnet hatte. Die beiden Roboter eskortierten Money Zeumer zu einem Eingang. Erschrocken hielt der Mann an, als er einen schier endlosen Schacht er blickte, der in die Tiefe führte. Er fühlte die stählerne Hand in seinem Rücken, mit der ihn ein Robo ter sanft auf die Öffnung zuschob. „Nun kommen Sie schon“, erklang es sanft. Money stemmte sich gegen den Druck. „Wollen Sie mich umbringen?“ schrie er auf. Die beiden Roboter stutzten sichtlich. Es verging eine ganze Weile, bis schließlich der eine fragte: „Sind Sie noch nie mit einem Antigrav-Lift gefahren oder leiden Sie an einem Trauma?“ Der Mann blickte wütend auf die beiden Roboter. „Ich weiß überhaupt nicht, was ein Antigrav-Lift ist. Diese ganze Welt ist ein Traum. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen. Aber ich komme aus dem 20. Jahrhundert. Irgend etwas hat mich um 1000 Jahre in die Zukunft versetzt.“ „Klarer Fall von geistiger Verwirrung“, sagte der Roboter mit der Nummer 438 zu dem anderen. „Damit gilt Paragraph 177A. Komm.“ Money fühlte sich von den beiden Robotern an den Oberarmen ge packt. Sie hoben ihn hoch, ohne daß er etwas dagegen tun konnte. Mit 58
einem Satz sprangen sie in den Schacht. Zu seinem Erstaunen schwebte Money langsam nach unten. In jedem Stockwerk, das sie passierten, zweigten aus dem Schacht seitliche Gän ge ab. Schließlich drückte ein Roboter eine Kontaktleiste an der Schachtwand. Am nächsten Seitengang wurden die drei seitlich aus dem Schacht geschoben und landeten sicher auf den Füßen. Die Roboter ließen Money auch jetzt nicht los. Sie führten ihn den Gang entlang, bis sie vor einer Tür hielten. Der Roboter 438 stieß die Tür an, worauf sich diese geräuschlos zur Seite bewegte. Money wurde in den Raum geschoben. An einem halbkreisförmigen Tisch, der mit zahlreichen Bildschirmen und Bedienungselementen versehen war, saßen ein Mann und eine Frau. Die beiden trugen eine einfache, einheitliche Kleidung von mattroter Farbe. Der Roboter 438 schilderte in wenigen Worten das Vorgefallene. „In Ordnung, 438“, sagte die Frau. „Du kannst gehen.“ Die beiden Roboter verschwanden. Money Zeumer bekam einen Stuhl angeboten. „Nun können Sie sich zu der Sache äußern“, forderte ihn der Mann auf. „Nennen Sie uns aber zu Beginn Ihren Namen und Ihre Personal nummer.“ Money holte tief Luft. Die Roboter hatten alles wahrheitsgemäß be richtet. Was sollte er also noch sagen? „Ich heiße Fred Zeumer“, sagte er dann. „Mann nennt mich aber Mo ney. Ich weiß, daß es unglaublich klingt, aber ich bin nicht aus Ihrer Welt. Ich stamme aus dem 20. Jahrhundert. Das Ganze ereignete sich so …“ Money erzählte den beiden Menschen die Geschichte von dem Mo ment an, in dem er die Napoleon-Bar betreten hatte. Die Frau und der Mann hörten ihm geduldig zu und unterbrachen ihn nicht einmal. Zum Schluß legte Money seine Ausweispapiere auf den Tisch. „Ich weiß nicht, ob Sie das als Beweis anerkennen. Eine Personal nummer habe ich nicht. So etwas gab es 1978 noch nicht. Hier sehen Sie noch andere Mitbringsel aus meiner Zeit, Dollarnoten und das ist die Zeitung von gestern, ich meine von gestern vor 1000 Jahren.“ Interessiert, aber immer noch schweigend, betrachteten die Frau und der Mann die Sachen. „Es scheint sich tatsächlich um eine uralte Währung zu handeln“, sag 59
te der Mann schließlich. „So etwas besitzt heute einen erheblichen Sammlerwert. Sie können gern nach Dienstschluß mit mir über einen Verkauf verhandeln. In der Dienstzeit sind Geschäfte mit Straftätern verboten.“ „Ist das Ihre ganze Sorge?“ Money wurde ungehalten. „Ich werde in eine andere Zeit verschlagen, und Sie haben nichts anderes im Sinn, als mir meine Dollarnoten abzuhandeln?“ „Bitte beruhigen Sie sich doch“, sagte die Frau. „Ihre Angaben wer den doch noch vom Zentralrechner überprüft. Er stellt die Diagnose und erhebt die Anklage. Nicht wir.“ „Was ist das für eine verrückte Welt, in der ich da gelandet bin“, seufzte Zeumer. Da erklang plötzlich eine Stimme aus einem unsichtbaren Lautspre cher. „Hier Zentralrechner Jeff-Com-1. Eine Person namens Fred Zeumer ist nicht registriert. Die Angaben des Festgenommenen über eine Zeit versetzung können nicht stimmen, da dies nach Auskunft des Wissen schaftlichen Rechners Wash-Com-24 unmöglich ist. Es wird eine medi zinische Untersuchung nach den Programmen Medo-12 bis Medo-17 an geordnet. Ende.“ „Ich habe mir das fast gedacht“, sagte die Frau und blickte Money mitleidig an. „Würden Sie mir bitte sagen, was das zu bedeuten hat?“ fauchte Mo ney. „Wissen Sie das nicht? Sie werden auf Ihren Geisteszustand unter sucht, und der Wahrheitsgehalt Ihrer Aussagen wird bestimmt.“ Eine Seitentür öffnete sich, und ein Gebilde rollte in den Raum, das an einen überdimensionierten, metallenen Sessel erinnerte. Um einen Sitzplatz in der Mitte waren zahlreiche Geräte angeordnet, deren Sinn Money nicht deuten konnte. Eine Halbkugel hing über dem Sitzplatz. „Sind Sie bereit, freiwillig dort für die Untersuchung Platz zu neh men?“ fragte die Frau höflich. „Wenn es mir hilft, den Wahrheitsgehalt meiner Aussagen zu unter mauern, dann bin ich zu allem bereit.“ Ein ungutes Gefühl beschlich Money, als er in der leise summenden Maschine saß. Die Untersuchung dauerte nur wenige Minuten, dann wurde er aus dem Sessel entlassen. „Nehmen Sie doch Platz“, forderte man ihn auf. „Der Zentralrechner 60
wertet die Daten noch aus.“ Money zündete sich eine Zigarette an, die er aus seiner Jacke gezogen hatte. Die beiden Menschen an dem halbrunden Tisch betrachteten ihn neugierig. „Was tun Sie da?“ fragte die Frau schließlich. „Ich rauche.“ Moneys Antwort klang patzig. „Das sehen Sie doch.“ „Rauchen?“ Ungläubig betrachtete die Frau Money Zeumer. „Aber das wurde doch schon vor Jahrhunderten abgeschafft. Es gibt doch gar keinen Tabacko mehr oder wie man dieses Zeug nannte.“ „Da sehen Sie, was Ihnen in Ihrer Welt alles fehlt“, höhnte der Spie ler. Die Diskussion wurde nicht weiter fortgesetzt, denn der Zentralrech ner meldete sich wieder. „Der Festgenommene ist sofort unter strengste Bewachung zu stellen. Es liegt der zwingende Verdacht vor, daß es sich um einen einge schleusten Agenten des Asiatischen Völkerblocks handelt. Eigene Si cherheitsorgane sind unterwegs, um die Vernehmung fortzuführen. En de.“ Der Mann blickte die Frau vielsagend an. „Da haben wir wohl zufällig einen ganz dicken Fisch an Land gezo gen.“ Er musterte Money plötzlich mit einem grimmigen Gesichtsaus druck. „Eine Ratte aus dem Asienblock? Mein Freund, du hast Glück, daß das Fesselfeld mich daran hindert, dir sofort den Schädel einzu schlagen.“ Seine Stimme klang haßerfüllt. Die Frau zog ein verächtliches Gesicht und wandte sich von Money ab. Der wollte aufspringen, um den Irrtum aufzuklären, aber eine unsichtbare Kraft umschloß ihn. „Die Fesselfelder der West-Union kann auch ein asiatischer Strolch nicht durchdringen“, höhnte der Mann. „Aber das ist doch alles Unsinn“, rief Money. „Warum glaubt mir denn keiner? Ich habe keine Ahnung von einem Asienblock und einer Westunion. Ich komme aus den USA des 20. Jahrhunderts und habe bei einem Spiel 1000 Jahre verloren. Deshalb bin ich hier.“ „Keine Ahnung?“ Der Mann höhnte weiter. „Aber ich weiß, welche bösartigen Waffen ihr entwickelt, um uns zu vernichten. Psychenkiller und Gravitationstornados. Auch von der Sonnenlinse habe ich schon ge hört. Aber täuscht euch nicht. Unsere Städte haben gute Abwehrschirme, und unsere Waffen sind auch nicht von schlechten Eltern.“ 61
Übergangslos beruhigte er sich wieder. „Warum rege ich mich eigentlich auf?“ sagte er zu der Frau. „Unser Sicherheitsdienst wird ihn schon kleinkriegen.“ Money Zeumer fühlte sich so unbehaglich wie noch nie in seinem Le ben. Er wußte mit aller Eindringlichkeit, daß das Erlebte Realität war. Und er wußte, daß er mit seinen Mitteln nichts ausrichten konnte. Er drückte die Zigarette auf dem Boden aus. Das Bild der fremden Frau, die ihn mit ihrem Spiel in diese Situation gebracht hatte, tauchte vor seinen Augen auf. Er verfluchte den Moment in der Napoleon-Bar, als er sich mit der schwarzhaarigen Jenny auf das Spiel eingelassen hatte. Je mehr Zeit verstrich, um so besser fand er sich mit seinem Schicksal ab. Er gelobte sich heimlich, nie mehr zu spielen. Der Mann und die Frau kümmerten sich nicht mehr um ihn. Sie gin gen anderen Tätigkeiten nach. Money sah, daß sie über Bildfunk mit verschiedenen Polizei-Robotern verkehrten und diesen Anweisungen gaben. So mochte eine Stunde vergangen sein, als sich die Tür öffnete und ein anderer Mann in Begleitung einer Frau eintrat. Die beiden gingen so fort auf ihn zu. „Ich bin Mile-23“, stellte sich die Frau vor. „Und das ist Steve-480. Wie Sie sich denken können, sind wir vom Sicherheitsdienst der WestUnion. Für uns steht fest, daß Sie ein Agent der Gegenseite sind. Unsere Computer haben Sie und Ihr Lügenspiel durchschaut.“ „Sie befinden sich total auf dem Holzweg, meine liebe Nummer drei undzwanzig“, antwortete Money sarkastisch. „Ihre Computer spinnen. Möglich, daß sie einem Fall wie mir noch nie begegnet sind. Deshalb sage ich es Ihnen noch einmal: Ich heiße Fred Zeumer und komme aus dem Amerika des 20. Jahrhunderts.“ Die beiden Abwehrleute reagierten darauf nicht. „Sie haben natürlich eine Chance“, sagte der Mann, der als Steve-480 vorgestellt worden war. „Wenn Sie für uns arbeiten, uns Informationen liefern und auspacken, lassen wir Sie nach einer gewissen Zeit wieder laufen. Andernfalls wartet das übliche Urteil auf Sie.“ „Darf man fragen, was das übliche Urteil ist?“ fragte Money ironisch. „Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind. Natürlich Tod im Kon verter.“ „Oh je“, seufzte Money. „Menschheit, wie hast du dich verändert. In 62
meinem Jahrhundert hat man gerade begonnen, die Todesstrafe abzu schaffen.“ „Sie wissen, daß wir nicht scherzen“, erklärte die Frau eisig. „Die weltpolitische Lage ist viel zu ernst. Ihr Staatenblock verfügt über eine Reihe gefährlicher Waffen. Ich erinnere nur an die kürzlich installierten Sonnenlinsen. Wir können diesen Vorteil nur bedingt durch die Venu sischen Lethargie-Viren ausgleichen, da diese bis zur Auslösung des Schlafeffekts über eine Stunde benötigen. Freilich arbeiten wir schon an wesentlich verbesserten Viren. Aber bis zur Einsatzreife wird noch eini ge Zeit vergehen. Also, wie stehen Sie zu unserem Angebot?“ Money Zeumer schüttelte verzweifelt den Kopf. „Ich glaube, es hat überhaupt keinen Sinn, mit Ihnen zu diskutieren. Was ich nicht verstehe, ist folgendes. Bei Ihrer Supertechnik müssen Sie doch festgestgestellt haben, daß ich in keinem Wort gelogen habe. Wie so glauben Sie mir also nicht, daß ich aus dem 20. Jahrhundert stam me?“ Die Frau lachte überheblich. „Meinen Sie ehrlich, wir wissen nicht, daß der Asienblock seit vier zehn Jahren über die Manip-Droge verfügt? Sie sind nicht der erste Fall, in dem eingeschleuste Spione ihre Lügen mit dieser Droge kaschierten.“ „Okay, auch wenn Sie mir nicht glauben. Nach der Zeit, aus der ich komme, ist es jetzt zwei Uhr nachts. Das heißt, daß ich hundemüde bin. Außerdem habe ich noch kein Abendessen gehabt. Daher verweigere ich jetzt jede Aussage.“ „Dafür haben wir Verständnis“, meinte die Frau unpersönlich. „Sie bekommen eine Mahlzeit und vier Stunden Ruhe. Danach verhandeln wir weiter.“ * Es war später Nachmittag, als Money Zeumer wieder erwachte. Er war allein in der kleinen, schmucklosen Zelle, in die man ihn gesperrt hatte. Überraschenderweise verlangte man von ihm, er solle eine möglichst exakte Beschreibung von dem Jefferson City seines angeblichen 20. Jahrhunderts abgeben und Skizzen von der Umgebung und insbesonders von der Napoleon-Bar anfertigen. Money war ein schlechter Zeichner, aber er tat sein Bestes. Zwei weitere Männer beteiligten sich an den Verhören. Sie wurden 63
ihm als Doktoren vorgestellt. Dann wurde er mit einem Luftgleiter zu der Stelle gebracht, wo nach seiner Beschreibung die Napoleon-Bar gelegen war. Dabei lernte Money die Welt des 20. Jahrhunderts wieder etwas besser kennen. Das änderte aber nichts daran, daß sie ihm fremd und verschlossen blieb. An der Stelle, an der sich nach seiner Erinnerung die Napoleon-Bar befunden hatte, stand ein riesiges Rasthaus mit vollautomatischen Be dienungsanlagen. „Zu meiner Zeit ging es hier gemütlicher zu“, sagte Money zu den vier Begleitern. Diese reagierten aber nicht darauf. Überhaupt be schränkten sie sich rein auf das Stellen von Fragen. Untereinander un terhielten sie sich in einer Sprache, die der Spieler nicht kannte. Schließlich fragte er Mile-23: „Welche Sprache benutzen Sie eigentlich?“ Die Frau schaute ihn mißtrauisch an. „Wir haben schon festgestellt, daß Sie die West-Einheitssprache nicht verstehen wollen oder können. Aber natürlich kann das auch nur ein Trick von Ihnen sein.“ Einer der Doktoren trat hinzu. „Wir haben tatsächlich in uralten Archiven einen Namen Fred Zeumer gefunden. Das Erstaunliche daran ist, daß dieser Mann wirklich am 4. April 1978 in den damals noch existierenden Vereinigten Staaten von Amerika verschwunden ist. Das besagt aber nichts, denn der Asienblock kann über diese Information ebenfalls verfügen oder sie nachträglich durch andere Agenten bei uns eingebracht haben. Allerdings wird die strenge Überwachung, der Sie unterliegen, etwas gelockert. Sie dürfen sich ab sofort in unserer Gegenwart frei bewegen. Aber entfernen Sie sich nicht weiter als einhundert Meter.“ Immerhin ein kleiner Fortschritt in dieser unmöglichen Welt, dachte Money. „Dann werde ich versuchen, ob ich in Ihrem supermodernen Automatik-Rasthaus ein anständiges Bier bekomme“, sagte Money. Mile-23 lachte plötzlich. „Supermodern? Das ist so ziemlich das älteste und unbequemste Rast haus an der ganzen GL-56.“ Dann überreichte sie Money eine kleine Plastikkarte, in der verschie dene Lochungen angebracht waren. „Ohne Kreditkarte bekommen Sie nichts“, erklärte sie. „Sie finden an 64
den Ausgaberobots eine Leuchtplatte, auf die Sie die Karte legen müs sen.“ Money steckte die Karte ein und betrat das Rasthaus. Es handelte sich um einen Flachbau von gut 500 Metern. An der einen Seite waren die Ausgabeschalter, gegenüber standen bequeme Polsterstühle und kleine Tische. Leuchtschriften unter der Decke wiesen in Englisch und in einer unbekannten Sprache (vermutlich dieses Einheits-West) auf die Geträn ke und Speisen hin. Aber auch von den englischen Namen waren die meisten für Money unbekannt. Er irrte an der langen Reihe entlang. Nur wenige Menschen verliefen sich in der Halle. Durch die gläserne Seitenwand sah Money seine vier Begleiter im Freien stehen. Die Männer und die Frau diskutierten, ohne ihn im Augenblick zu beobachten. Für einen Moment spielte Money mit dem Gedanken zu fliehen. Aber dann verwarf er diese Überlegung wieder. Wohin hätte er sich in dieser fremdartigen Umgebung wenden sollen? Gerade als er eine Leuchtschrift entdeckt hatte, die auf verschiedene Biersorten hinwies, wurde er angesprochen. „Kann ich Ihnen behilflich sein?“ Es war eine weibliche Stimme, und Money fuhr wie elektrisiert her um. Vor ihm stand Jenny, die unbekannte, dunkelhaarige Fremde aus der Napoleon-Bar. „Das ist doch nicht möglich“, entfuhr es ihm. „Warum nicht, Money Zeumer?“ fragte sie höflich. „Sie haben das Spiel verloren. Und wir hatten um 1000 Jahre gespielt. Gefällt Ihnen dieses Zeitalter nicht?“ Money mußte erst einmal nach Luft ringen. „Nein, diese Welt gefällt mir überhaupt nicht. Alle reden nur von ei nem bevorstehenden Krieg zwischen dem Asienblock und der WestUnion. Alles ist kalt, technisiert und unpersönlich. Ich will zurück in mein Jahrhundert.“ Die Frau blickte ihn nur schweigend aus ihren tiefen Augen an. „Wie kommen Sie überhaupt hierher?“ fragte Money, einer plötzli chen Eingebung folgend. „Und wer sind Sie?“ Ein feines Lächeln spielte um die Lippen der Frau. „Ich bin eine Inkarnation der Zeit. Und ich spiele in der Zeit und mit der Zeit.“ 65
In Money Zeumer keimte eine wilde Hoffnung auf. Gleichzeitig brach seine Spielerseele in ihm durch. „Machen wir ein neues Spiel? Mit der Zeit? Um 1000 Jahre? Wenn ich gewinne, müssen Sie mich wieder in die Napoleon-Bar des 20. Jahr hunderts befördern.“ „Gern. Ich setze 1000 Jahre dagegen.“ „Mir ist egal, was Sie setzen, wenn Sie mit meinen Bedingungen ein verstanden sind.“ Der Spieler holte eine Münze aus seiner Tasche hervor. „Kopf und Zahl. Sie haben die Wahl.“ Ohne zu zögern antwortete die Frau. „Kopf. Um 1000 Jahre.“ Money warf die Münze in die Luft und fing sie mit geschlossener Hand auf. Mit der gleichen Handbewegung knallte das Geldstück auf das Ausgabepult der Robotküche. Es war der Kopf! „Es tut mir leid, Money Zeumer“, sagte die Frau. „Aber Sie haben wieder verloren.“ Sie drehte sich um und schritt davon. „Halt!“ schrie der Spieler hinter ihr her. „Doppelt oder nichts.“ Sie schüttelte den Kopf, ohne sich umzudrehen. Money wollte hinter herlaufen, aber er war plötzlich wie gelähmt. Da war die geheimnisvolle Frau auch schon zwischen einer Lücke der Robotausgabe ver schwunden. Money vergaß das Bier, das er trinken wollte. Er stürzte zum Aus gang, um seinen Begleitern von der neuerlichen Begegnung mit Jenny zu berichten. Ein heißer Windstoß riß ihn zu Boden, als er ins Freie trat. Der Mann richtete sich halb auf. Seine Augen suchten die vier Begleiter. Aber er fand sie nicht. Vor seinem Blick erstreckte sich ein leicht hügeliges Wüstengelände. Kein Baum und kein Grashalm wuchs weit und breit. Die Luft war heiß. Money glaubte, ein leises Knistern aus allen Richtungen zu hören. Er richtete sich ganz auf und blickte in die Runde. Er sah keine Stra ße, kein Rasthaus, keine Menschen und nichts, was darauf hinwies, daß hier je Menschen gewesen waren. Als er einige Schritte zu gehen versuchte, sackten seine Füße bis zu den Knöcheln in den heißen Sand. Mühsam erklomm er eine kleine 66
Anhöhe. Da sah er in wenigen Kilometern Entfernung wenigstens etwas, was auf die ehemalige Existenz der Menschen hinwies. Aus dem Sand erho ben sich skelettartig und schief die zerbröckelten Gemäuer eines Hoch hauses. Davor zogen sich breite Sandwälle durch die Wüstenlandschaft. Money Zeumer rang nach Luft. Übelkeit stieg in ihm hoch, als er durch den Sand weitertaumelte. Plötzlich hörte er ein Plätschern. Der Durst trieb ihn in diese Richtung. Aber er wurde enttäuscht. Alles was er fand, war eine wenige Meter durchmessende Mulde im Wüstensand, in der sich der Sand verflüssigt hatte und kochte. Die Hitze ließ ihn zurückweichen. Das Knistern in der Luft war in der Nähe des kochenden Sandes stärker. Während Money ziellos weitertaumelte und einen Schatten suchte, überlegte er. Das Knistern, der kochende Sand, waren das die letzten Spuren von atomaren Explosionen? Die seltsamen Sandwälle, waren das die Produkte der Gravitationstornados? Und was hatten die Psychenkil ler und die Venus-Viren und all die anderen schrecklichen Waffen be wirkt? „Es gibt kein Leben mehr auf der Erde“, flüsterte er. „Wahrscheinlich bin ich der letzte Mensch …“ So torkelte er weiter, bis er radioaktiv völlig verseucht und vor Hun ger und Durst geschwächt zusammenbrach. Die Nacht, die mit eisiger Kälte hereinbrach, raubte ihm schnell die Sinne. Sein Wunsch, nie mehr zu erwachen, erfüllte sich rasch. „Jenny … noch ein Spiel … um 2000 Jahre in die Vergangenheit …“ Danach war nichts mehr. Nichts. Selbst das Datum dieses Tages hatte keine Bedeutung mehr, denn es war niemand da, der sich dafür interessierte, daß heute der 5. April 3978 war.
DIE EIN-MANN-ARMEE „Ich kann mich nicht erinnern, wann und zu welchem Zweck ich mich hier und in diesem Zeitpunkt abgesetzt habe“, sagte ich zu mir. „Das ist auch nicht möglich“, antwortete ich mir, „denn ich wur de in der Vorphase und ohne mein Wissen erzeugt, ausgerüstet und 67
abgesetzt.“ „Ausgerüstet?“ „Ja.“ Ich öffnete eine Seite meines Overalls. Mein Blick fiel auf eine Bombe, die in die Haut eingepflanzt war. „Sie zündet automatisch, wenn ich meinen Auftrag erfüllt habe. Es ist eine Selbstvernichtungsanlage.“ Ich verstand mich nicht. Da ich meinen fragenden Blick sah, erläuterte ich mir, was ich nicht wissen konnte. „Ich bin ein Sicherheitsfaktor.“ „Ich habe meinen Auftrag erfüllt.“ „Das ist gut. Dann kann ich auch meinen erfüllen.“ Ich zog meine Waffe und erschoß mich. „Es tut mir leid“, sagte ich zu meinen sterblichen Überresten, „a ber es mußte sein. Nur so wird der Friede gewährleistet …“ Ein leises Summen kündigte jetzt die Auslösung der Bombe an. * Die Abrüstungskonferenz dauerte jetzt schon fast drei Jahre. Dabei muß man wissen, daß auf Prokyon IV ein Jahr 517 Erdentage dauerte. Einen Fortschritt hatte man nicht erzielt. Die beiden Parteien standen sich mit unverminderter Hartnäckigkeit gegenüber. Auf der einen Seite waren das die Repräsentanten von NEW TERRA, dem Kontinent, der die Südwest-Seite von Prokyon IV bedeckte. Die Leute von NEW TERRA waren die ersten Kolonisten gewesen und behaupteten vor allem von daher ihre Ansprüche. Ihre Widerstreiter stammten von dem zweiten Kontinent dieser Welt, von MIDDLEWORLD. Ihre Vorfahren waren zwanzig Jahre später auf Prokyon IV gelandet und hatten den lang gestreckten Kontinent auf der Ost-Halbkugel besiedelt. Über einhundert Jahre hatten die beiden Gruppen von Menschen friedlich nebeneinander gelebt. Dann hatte der Streit um die UNKNOWM-Inseln begonnen. Und auf diesen Inseln fand nun, nach mehreren lokal begrenzten Kriegen, die Abrüstungskonferenz statt. Beide Seiten verfügten über starke und bestens ausgerüstete Armeen, über eine erhebliche Luftstreitmacht und über eine kampfstarke Marine. Die Robotisierung der Waffenfabriken hatten ein unglaubliches Potenti al geschaffen. Fast eine Million Menschen und dreimal so viele Roboter 68
standen bereit, um loszuschlagen. Einige wenige besonnene Politiker hatten kurz vor dem Ausbruch der Kampfhandlungen die Abrüstungskonferenz zustande gebracht. Ihr Ar gument hatte die Schwankenden überzeugt. Die Radikalen in beiden Lagern aber warteten auf den Startschuß. Eine recht einfache Computerberechnung hatte ergeben, daß jede Sei te in der Lage war, die andere mindestens zwanzigfach zu vernichten. Und daß dies den totalen Untergang der jungen, terranischen Kolonial welt Prokyon IV bedeuten würde. Nur mit dieser drohenden Selbst vernichtung war es den besonnenen Kräften gelungen, die wichtigsten politischen Persönlichkeiten an den Verhandlungstisch zu bringen. Am 1388 Tag der Konferenz baten die Newters, wie sich die Men schen von NEW TERRA nannten, um eine mehrtätige Unterbrechung. MIDDLEWORLD war einverstanden. Die Politiker und Wissenschaftler von NEW TERRA verließen den Konferenzort jedoch nicht. Sie zogen sich zu internen Beratungen zu rück. Es sickerten keine Informationen durch. Trotzdem machte sich das Gerücht breit, daß NEW TERRA vor einer sensationellen Ankündigung stünde. Am 41. Hexamber des Jahres 117 (das entsprach dem 6. August des Erdenjahres 2577, aber man hatte auf Prokyon IV wegen der völligen Loslösung von Terra eine eigene Zeitrechnung eingeführt) wurde die Konferenz wieder aufgenommen. Es wurde ein schicksalhafter Tag für alle Menschen auf Prokyon IV. Der Präsident von NEW TERRA unterbreitete selbst den Vorschlag vor den Delegierten der beiden Welten. Es war nur eine kurze Rede, aber sie schlug ein wie eine Bombe. „Wir von NEW TERRA sind zu der Ansicht gekommen, daß unsere Friedensbemühungen nur noch dann wirksame Maßnahmen der Gegen seite auslösen, wenn wir selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Ich biete daher MIDDLEWORLD die totale Abrüstung allen Kriegsmaterials auf unserer Seite an. Hierzu benötigen wir 200 Tage. MIDDLEWORLD darf Beobachter zu allen Rüstungszentren abstellen und zu allen militä rischen Stützpunkten und Einheiten entsenden. Es wird keine Geheim haltung geben, und kein Zutritt wird verwehrt werden. Wenn unser Po tential nach 100 Tagen zur Hälfte abgebaut ist, sollte die andere Seite mit der Abrüstung beginnen, so daß am Ende der 200 Tage mindestens auch die Hälfte ihrer Streitkräfte abgebaut und das Kriegsmaterial ver 69
nichtet sind. Ab dem 100. Tag möchten auch wir Beobachter entsenden dürfen.“ Nach einer kleinen Pause, in der der Präsident die erstaunten Gesich ter der Verantwortlichen von MIDDLEWORLD betrachtete, fügte er hinzu. „Wir möchten lediglich einen Soldaten behalten, einen einzigen, als Symbol für unsere dann nicht mehr existierenden Streitkräfte.“ Die Delegation von MIDDLEWORLD beriet sich nur knapp eine Stunde und erklärte dann ihr uneingeschränktes Einverständnis. Noch am gleichen Tag wurde der Erste Friedensvertrag von Prokyon IV von beiden Seiten unterzeichnet. Die Radikalen von NEW WORLD zwangen den Präsidenten zum Rücktritt. Er ging lächelnd und selbstsicher von der politischen Bühne ab. Sein engster Wissenschaftler-Stab mit Prof. Dr. Emanuel Gomez an der Spitze folgte ihm. * Der 42. Hexamber 117 war die Geburtsstunde meines zweiten Lebens. Ich ahnte nicht, wieviele weitere Leben noch folgen sollten und was mich am Ende erwarten würde. Seit meinem 15. Lebensjahr hatte ich in der Militär-Kolonie VICTORY-GAMMA gelebt. In VICTORY-GAMMA war eine Spezialeinheit der Newters stationiert. Hier war ich zum Soldaten ausgebildet worden. Ein glückliches Schicksal oder eine besondere Begabung für Waffen technik und Einsatztaktik hatten mir zu einer wohl einmaligen Karriere verholfen. Ich war so etwas wie das Paradepferd von VICTORY GAMMA. An jenem 42. Hexamber herrschte eine verständliche Aufregung in unserer Kolonie, denn Fernsehen und Rundfunk berichteten von dem sensationellen Ausgang der Abrüstungskonferenz und von dem Frie densvertrag zwischen NEW TERRA und MIDDLEWORLD. Unser Kommandeur ließ alle Einheiten antreten und verkündete die Auflösung. Er verlas mehrere Befehle des nationalen Verteidigungs kommandos und sagte zum Schluß: „Sie brauchen sich um Ihre Zukunft keine Sorgen zu machen. Die Re gierung schafft für uns alle Arbeitsplätze durch Stillegung von einer halben Million Arbeitsrobotern. 70
Eine besondere Ehre für unsere Garnison ist die Tatsache, daß der symbolische Soldat aus unseren Reihen ausgewählt wird. Unser Compu ter hat bereits den richtigen Mann genannt, und allen wird klar sein, daß es sich dabei nur um einen handeln kann. Gonzales y Mendozza, sind Sie bereit, für unser Land als einziger Soldat weiter den Dienst zu ver sehen?“ Beifall brandete aus den Reihen der angetretenen Kämpfer auf, als ich einen Schritt vortrat. Ohne jede Befangenheit antwortete ich mit fester Stimme: „Ich betrachte es als eine Ehre, die ich gern erfüllen werde.“ Schon zwei Tage später, gerade als die ersten Beobachter von MIDD LEWORLD eintrafen, schickte man mich nach Orizaba, der Hauptstadt von NEW TERRA. Ein unauffällig gekleideter Regierungsbeamter holte mich am Flughafen ab. Ich wurde in einen Wagen verfrachtet und an einen Ort außerhalb von Orizaba gebracht. Schließlich hielt der Wagen vor einem Wochenendhaus in einem ein sam gelegenen Waldstück. „Gehen Sie hinein“, sagte der Beamte nur. Kaum hatte ich den Wagen verlassen, da nahm dieser schon Fahrt auf und verschwand. Ich stand allein vor dem Haus. Mein bestens geschulter Verstand registrierte alles, kam aber zu kei ner zwingenden Schlußfolgerung über den Sinn dieser Maßnahmen. Die Tür des kleinen Hauses war nur angelehnt. Ich trat ohne Zögern ein. „Bitte hierher, Mr. Mendozza“, erklang eine männliche Stimme aus einem Raum. An einem einfachen Tisch saßen zwei Männer, die jeder Newter nur zu gut aus zahlreichen Fernsehnachrichten kannte: Der Präsident, oder besser, der ehemalige Präsident. Und Dr. Gomez, sein engster Berater. Nur mühsam unterdrückte ich mein Erstaunen. Man bat mich, Platz zu nehmen. „Wir haben Sie seit langem beobachtet, Gonzales y Mendozza. Wir glaubten, daß Sie nicht nur ein Mann mit außerordentlichen Fähigkeiten sind, die sowohl Ihren Verstand als auch Ihre körperlichen Eigenschaf ten betreffen, sie stehen auch loyal zu unserem Staat.“ Gomez machte eine Pause und wechselte einen Blick mit dem Präsi denten. Als dieser ihm zunickte, fuhr er fort. „Mr. Mendozza, ich muß Sie dennoch noch einmal fragen. Sind Sie 71
bereit, alles für die Erhaltung des Friedens in unserem Land zu tun, Ihr Leben einzusetzen und es notfalls auch zu opfern?“ Ich verstand den Sinn der Frage nicht, denn schließlich hatte ich ja ei nen Eid geschworen, der den Herren bekannt sein mußte. So antwortete ich einfach mit „Ja“. Dr. Gomez hielt plötzlich eine kleine Pistole in der Hand. Ich sah, wie sich sein Finger krümmte. Einen Knall vernahm ich nicht, aber im glei chen Augenblick fühlte ich einen stechenden Schmerz in der Brust. Dann schwanden mir die Sinne. * Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einem einfachen Bett in einer fensterlosen Kammer. Ein untrügliches Gefühl sagte mir, daß eine lange Zeit verstrichen sein mußte. Außerdem verspürte ich starken Hunger. Ich untersuchte den knapp drei mal drei Meter großen Raum. Die ein zige Tür war fest verschlossen. Außer dem Bett bestand das Mobiliar aus einem Stuhl, einem Tisch, auf dem ein kleines Fernsehgerät stand und einer Toilette mit Waschbecken. Das jahrelange Training in VICTORY-GAMMA hatte mich zu einem geduldigen Menschen gemacht. Aber was das Einsperren in dieser Zelle jetzt bedeuten sollte, war mir unklar und versetzte mich in leichte Ver wirrung. Ich versuchte das Fernsehgerät einzuschalten. Tatsächlich erhellte sich der Bildschirm. Es war die abendliche Nachrichtensendung. Aus der Datumsangabe konnte ich entnehmen, daß ich über zwei Tage be sinnungslos gewesen sein mußte. Die weiteren Nachrichten, die ich in Bild und Ton vernahm, machten die ganze Sache noch rätselhafter, und ich begann am Wahrheitsgehalt der Informationen zu zweifeln. Zunächst wurde über die weiteren Ab rüstaktionen berichtet. Bilder wurden gezeigt, auf denen die RobotHeere von NEW TERRA eingeschmolzen wurden. Der nächste Bericht zeigte zunächst ein Photo des Wochenendhauses, in dem ich noch vor zwei Tagen gewesen sein mußte. Dann folgte ein Bild der gleichen Ge gend, jedoch war das Haus bis auf das Fundament abgebrannt. Der Kommentator erläuterte dazu: „Der zurückgetretene Präsident von NEW TERRA und sein engster Berater, Prof. Dr. Emanuel Gomez, sind beim Brand des privaten Land 72
sitzes des Ex-Präsidenten ums Leben gekommen. Ihre verkohlten Lei chen konnten eindeutig identifiziert werden. Als Brandursache wird ein Versagen der Robot-Küche vermutet.“ Während der nächsten für mich belanglosen Informationen versuchte ich Klarheit in meine Angelegenheiten zu bringen. Zweifellos mußte mein Besuch in einer Beziehung zu dem Brand stehen. Das sagte mir mein ausgeprägter Instinkt für solche Situationen. Ich kam aber zu kei nem Ergebnis meiner Überlegungen, denn eine andere Nachricht schlug mich in ihrem Bann. Ich sah mich! Wie der Kommentator dazu bemerkte, waren die Aufnahmen am glei chen Nachmittag vor dem Regierungssitz von NEW TERRA entstanden. In einer prächtigen, aber nach meinem Geschmack völlig unzweckmä ßigen Uniform, wurde ich als die symbolische Armee von NEW TER RA der Öffentlichkeit vorgestellt. Man nannte mich die Ein-MannArmee. Dazu wurden meine Aufgaben erläutert, die in reinen Repräsen tationszwecken lagen und die die Erinnerung an unsere glorreichen Streitkräfte aufrechterhalten sollten. Mir fehlten zwar zwei Tage in meiner Erinnerung, da ich bewußtlos gewesen war. Aber ich wußte mit tödlicher Sicherheit, daß ich der Mann auf dem Bildschirm selbst war. Ich kannte meine Gestik und mein Ver halten zu genau. Andererseits wußte ich mit der gleichen Sicherheit, daß ich der Mann dort in der Gala-Uniform nicht sein konnte. Seitdem ich in dem Land haus gewesen war, war ich schließlich ohne Besinnung geblieben. Es sollte noch rätselhafter werden. Hinter mir sagte eine bekannte Stimme: „Nun, Gonzales y Mendozza, wie gefallen Sie sich als Ein-MannArmee?“ Ich fuhr herum. Vor mir standen Dr. Gomez und der Ex-Präsident. Sie lächelten mir freundlich zu. „Sie sind unsere Ein-Mann-Armee“, sagte das ehemalige Staats oberhaupt zu mir, „allerdings in einem anderen Sinn, als Sie es eben in den Nachrichtensendungen gesehen haben. Natürlich waren Sie das, der dort seinen Repräsentationszweck erfüllte. Und es waren auch unsere verkohlten Leichen, die in meinem Landsitz gefunden wurden. Sie wer den das nach und nach verstehen, Mendozza.“ 73
Ich verstand nichts. Auch nicht, als Dr. Gomez auf mich zuschritt und meinen Overall öffnete. Zu meinem erneuten Erstaunen blickte ich auf zwei flache Metallscheiben, die in die Haut meiner Brust eingepflanzt worden waren. „Bitte kommen Sie jetzt mit.“ Dr. Gomez wies auf die Öffnung in der Wand, hinter der ein langer, künstlich beleuchteter Gang sichtbar wurde. Wortlos folgte ich den beiden Männern, die vor mir herschritten. Der Ex-Präsident wandte sich im Gehen zu mir um. „Sie sind psychisch und physisch stark genug, um weitere Überra schungen zu verkraften?“ „Ja“, sagte ich in meiner gewohnt knappen Art. „Dann nehmen Sie zunächst zur Kenntnis, daß es nie meine Absicht gewesen ist, unsere Heimat schutzlos den Leuten von MIDDLE WORLD auszuliefern. Andererseits haben Dr. Gomez und ich und unse re wenigen Mitarbeiter nicht vor, gegen den Friedensvertrag zu versto ßen. Die Sache ist ganz einfach. Sie sind unsere Ein-Mann-Armee. Sie sind ein in allen Belangen bestens ausgebildeter Kämpfer. Sie werden allein gegen MIDDLEWORLD antreten, wenn man uns von dort am Ende der Abrüstungsaktion überfällt.“ „Ich habe keine Angst zu sterben, Sir“, sagte ich. „Aber ich bezweifle, daß ein Mann gegen eine solche Übermacht wirklich etwas ausrichten kann.“ „Ihre Zweifel werden schwinden“, erklärte Dr. Gomez selbstbewußt, „wenn Sie erfahren, wie oft es Sie gibt und zu welchen Zeitpunkten und an welchen Orten.“ Er öffnete eine seitliche Tür. Der riesige Raum dahinter mußte eine unterirdische Höhle sein. Sie war angefüllt mit fremdartigen Maschinen. Dazwischen bewegten sich einige wenige Männer. Einer dieser Männer trat auf mich zu. Zum erstenmal stand ich mir in leiblicher Form selbst gegenüber. „Hallo, Gonzales“, sagte ich zu mir. „Ich bin Nummer 2 aus der ersten Fünferserie. Ich freue mich, das Original kennenzulernen.“ * In den nächsten beiden Tagen wurde mir der ganze Plan des abge tretenen Präsidenten und seiner Mitarbeiter deutlich. Da waren zunächst die rein politischen Maßnahmen. Die Computerberechnungen Dr. Go 74
mez’ hatten mit tödlicher Sicherheit vorhergesagt, daß MIDDLE WORLD am Ende der 200 Tage nicht nur über noch genügend mili tärisches Potential verfügen würde, um NEW TERRA auszuschalten, sondern auch, daß dies die unveränderliche Absicht unserer Gegner sein würde. Darauf richteten sich nun die taktischen und vor allem techni schen Maßnahmen ab. Voraussetzung für die Durchführung dieser Maßnahmen war vor allem die Technik, die Gomez mit seinen wenigen Mitarbeitern in völliger Geheimhaltung entwickelt hatte. „Es handelt sich um eine zeitliche und räumliche Versetzung auf la tenter Grundlage“, erläuterte mir der Professor. „Wir stellen von Ihnen Duplikate in praktisch beliebiger Anzahl her, rüsten diese mit entspre chenden Waffen aus und versetzen sie in die Stützpunkte und Kampf einheiten des Gegners. Latent bedeutet, daß die Duplikate erst dann in der nahen Zukunft real werden, wenn die entsprechende Auslösung erfolgt ist. Lieber Mendozza, Sie existieren dann vieltausendfach und an verschiedenen Orten im Feindesland und zu verschiedenen Zeiten. Aber Sie tauchen nur dann wirklich auf, wenn aus unserem geheimen Ver steck der Auslöseimpuls gegeben wird. Sie werden viele Leben haben, aber auch viele Tode, denn Ihre Einsätze als Ein-Mann-Armee werden nach unseren Berechnungen in der Regel mit Ihrem Tod enden.“ Ich zuckte nur gleichmütig mit den Schultern. Sicher hing ich an mei nem Leben. Aber was würde es mir ausmachen, wenn meine Duplikate sterben würden? Nichts, sagte ich mir. „Sie haben doch bereits fünf Exemplare von mir hergestellt“, fragte ich. „Wo sind diese?“ „Zwei haben Sie schon gesehen. Ein Mendozza spielt den offiziellen Repräsentanten unserer Ein-Mann-Armee in der Öffentlichkeit. Er weiß nicht, daß er ein Duplikat ist. Er hält sich für das Original. Nummer 2 trafen Sie vorgestern. Er ist ein Sicherheitsfaktor.“ „Ein Sicherheitsfaktor?“ fragte ich neugierig. „Ja, Mendozza, wir haben für alle Eventualitäten einen Sicherheits faktor. Wenn Ihnen durch einen Zufall etwas zustoßen sollte, übernimmt Nummer 2 die Aufgabe der Originalschablone. Man kann ja nie wissen, was passiert. Übrigens existieren die Nummern 3 bis 5 nicht mehr. Sie dienten nur für Versuchszwecke. Die Versuche waren in allen Punkten erfolgreich.“ „Wie kann die Nummer 2 wissen, daß sie nicht das Original ist? Der andere Mendozza in der Paradeuniform meint aber, er sei ich.“ 75
Dr. Gomez lächelte überlegen. „Genaugenommen weiß keiner außer mir, wer das Original ist, denn alle Duplikate glauben zunächst, sie seien das Original. Mendozza 2 weiß es von mir, daß er nicht das Original ist. Ich habe ihm einen Film von seiner Entstehung vorgeführt. Allerdings ist es völlig unerheblich, wer das Original ist. Jeder Mendozza, der in den Einsatz gehen wird, glaubt, er sei das Original.“ Mir schwindelten die Sinne. Wenn das stimmte, was der Professor mir da sagte, dann war es möglich, daß ich auch nur ein Duplikat war. Gomez betrachtete mich aufmerksam. „Ich sehe, was Sie denken, Mendozza. Grübeln Sie nicht zu viel dar über nach, denn Sie kommen zu keinem Ergebnis. Sie sind die EinMann-Armee. Und jeder Mendozza, der zum Einsatz kommt, sind Sie selbst.“ * Pünktlich nach 200 Tagen war die Abrüstaktion in NEW TERRA been det. Die Radikalen, die sich der Durchführung des Friedensvertrags widersetzen wollten, wurden rücksichtslos in den Hintergrund gedrängt. Der neue Präsident setzte das Programm seines Vorgängers in allen Konsequenzen durch. Am 204. Tag nach der Unterzeichnung des Abkommens verbreiteten die Nachrichtenmedien von MIDDLEWORLD erstmals, daß ihr Land von den Newtern hintergangen worden sei. Angeblich bestünden weiter starke Spezialverbände, die MIDDLEWORLD in einer Art Guerilla krieg erobern sollten. Von NEW TERRA folgten Dementis und der Hinweis, daß MIDDLEWORLD noch über die Hälfte ihrer Streitkräfte verfügte und damit NEW TERRA zehnfach ausradieren könnte. Eine Eskalation von Beschuldigungen und Dementis schloß sich in den nächsten Tagen an. Sie gipfelte in der offiziellen Kriegserklärung von MIDDLEWORLD, der sich eine Kapitulationsaufforderung an schloß. Der Präsident von NEW TERRA bat um einen Tag Bedenkzeit. In diesen 24 Stunden liefen die Flotten von MIDDLEWORLD aus, wurden die Fernraketen startklar gemacht und die Kampfeinheiten mobilisiert. Am 14. Dolomond des Jahres 117 (das entsprach dem 18. April des Erdenjahres 2578) verkündete der Präsident von NEW TERRA seine 76
Antwort auf die Kriegserklärung von MIDDLEWORLD. Sie war über alle Nachrichtenmedien beider Nationen vernehmbar. Am Schluß seiner Erklärung brach auf Prokyon IV ein weltweites Gelächter aus. Und so lauteten die Sätze des Präsidenten: „MIDDLEWORLD hat uns betrogen. Wir haben total abgerüstet. Un sere ganzen Streitkräfte bestehen noch aus einem einzigen Mann, Gon zales y Mendozza.“ Ein Bild der Ein-Mann-Armee (Mendozza in Paradeuniform) wurde eingeblendet. „Dennoch weise ich die Aufforderung von MIDDLEWORLD zur Ka pitulation zurück. Mein Vorgänger hat für den Fall des Friedensbruchs vorgesorgt. Ich stelle unsere Ein-Mann-Armee gegen MIDDLE WORLD.“ Es folgten eine Reihe von Bildern, die allesamt Gonzales y Mendozza zeigten, der mit verschiedenen Waffen und Sprenggeräten behangen war. Ich entstand plötzlich aus dem Nichts. Mir war, als ob ich lange Zeit besinnungslos gewesen war. Aber ich kannte meinen Auftrag. Die HYDRA-11, das größte Schlachtschiff der Flotte von MIDDLEWORLD mußte ausgeschaltet werden. Leidenschaftslos machte ich den Spreng satz klar. Es war meine selbstverständliche Pflicht, mich bei diesem Einsatz zu opfern. * Eigentlich war es unter meiner Würde, gegen ein so unbedeutendes Ziel wie ein kleines Nachschubkommando eingesetzt zu werden. Aber Auf trag war Auftrag. Das Automat-MG hatte ich mit wenigen Handgriffen feuerbereit. Es feuerte immer noch auf die Trümmerreste, als ich plötz lich einen Schmerz in meinem Rücken fühlte. Dann war nichts mehr. * Die Raketenbasis POWER-I mußte als erstes ausgeschaltet werden. Das war mir völlig klar. Ich programmierte die erste Rakete, neben der ich materialisiert war, so um, daß sie nach einem Kurzflug ihre eigene Basis vernichten mußte. Es machte mir nichts aus, daß ich selbst dabei ums Leben kommen würde, denn eine rechtzeitige Flucht war einfach un 77
möglich … * „Nummer 4318 hat versagt“, sagte Dr. Gomez zu seinem Assistenten. „Schicken Sie die Reserve-Nummer 8001 nach.“ Während sein Assistent die Weisung ausführte, erhob sich der Pro fessor und trat zu mir und dem ehemaligen Präsidenten. „Es klappt alles recht gut. Sie leisten gute Arbeit, Mendozza. Die we nigen Versager fangen wir durch die Reserven leicht auf. In wenigen Minuten müßte der Kampf entschieden sein. Eine wichtige Mission steht noch aus. Und für die habe ich Sie selbst vorgesehen, Mendozza. Es wird die kriegsentscheidende Tat sein, wenn Sie den gesamten Daten bestand von MIDDLEWORLD auslöschen. Zuvor möchte ich aber ab warten, ob die Ausschaltung der Einsatzzentrale in vollem Umfang ge lungen ist. Dort existieren Sie viermal in vier verschiedenen Zeiten …“ * Ich bog um einen Verteilerschrank und stand mir gegenüber. Verblüfft ließ ich meine Waffe sinken. Es gab also Duplikate von mir. Diese Er kenntnis befiel mich schlagartig. Und sie erklärte die wahren Absichten der führenden Männer von NEW TERRA. Mein zweites Ich mußte zu dem gleichen Ergebnis kommen. Wir ei nigten uns rasch und wandten uns in verschiedene Richtungen der feind lichen Einsatzzentrale, um unsere mitgebrachten Bomben mit Zeitzün dern versteckt abzulegen. Bei dieser Aktion traf ich erneut auf mich … Es wunderte mich, daß man mir, dem Original von Gonzales y Men dozza, nicht die volle Wahrheit gesagt hatte … * Endlich kam ich selbst, das Original, zum Einsatz. Ziel war das riesige Rechenzentrum von MIDDLEWORLD. Gomez strahlte mich direkt ab, das bedeutete ohne zeitliche Verzögerung und ohne Herstellung eines Duplikats. „Sie sind der letzte Mendozza, der in den Einsatz geht“, sagte der ExPräsident lächelnd zu mir. Er hatte in den letzten Stunden in ständigem 78
Kontakt mit seinem Nachfolger gestanden. Ich materialisierte direkt unter den Speicherbänken des Rechenzen trums. Die Bombe, die einen begrenzten, aber unlöschbaren Mate riebrand auslösen würde, war rasch versteckt und gezündet worden. Dann begann meine Flucht. Ich hatte nicht vor zu sterben, so wie es die Duplikate hatten tun müssen. Denn schließlich war ich das Original von Gonzales y Mendozza. Alle Kniffe und Tricks, die ich in meiner Ausbildungszeit gelernt hat te, halfen mir, aus einem Lüftungsschacht ins Freie zu gelangen. Die Absperrungen konnte ich überwinden, weil die Aufregung über den ausgebrochenen Materiebrand die Posten zu Unachtsamkeiten verleitete. Schließlich verbarg ich mich in einer leerstehenden Lagerhalle, au ßerhalb des Gefahrenbereichs des Materiebrandes. Ich sinnierte über mein Schicksal nach. Über achttausendmal war ich (oder meine Dupli kate) in den letzten Stunden in den Einsatz gegangen. Aus der Einsatz stellung von Gomez hatte ich das Auftauchen von Gonzales y Mendozza in zigtausendfacher Weise verfolgen können. Ob Gomez mit mir unzu frieden sein würde, weil ich mich selbst retten wollte? Ich fuhr herum, als hinter nur ein Geräusch erklang. Vor mir stand ur plötzlich eines meiner Duplikate. Ich war verwundert, denn nach mei nem Kenntnisstand gab es keine Duplikate mehr. „Ich kann mich nicht erinnern, wann und zu welchem Zweck ich mich hier und in diesem Zeitpunkt abgesetzt habe“, sagte ich zu dem Dupli kat. „Das ist auch nicht möglich“, antwortete es, „denn ich wurde in der Vorphase und ohne dein Wissen erzeugt, ausgerüstet und abgesetzt.“ „Ausgerüstet?“ fragte ich neugierig. „Ja“, sagte das Duplikat und öffnete eine Seite des Overalls. Mein Blick fiel auf eine Bombe, die in seine Haut eingepflanzt worden war. „Sie zündet automatisch, wenn ich meinen Auftrag erfüllt habe“, er klärte das Duplikat. „Es ist eine Selbstvernichtungsanlage.“ Ich verstand den Zusammenhang nicht. Daß Gomez nicht eine Viel zahl von Duplikaten übrigbehalten wollte, war mir klar. Schließlich durfte es mich, die Ein-Mann-Armee, gemäß dem Friedensvertrag nur einmal geben. Aber warum wollte er das Original auch vernichten? „Ich bin ein Sicherheitsfaktor“, erläuterte das Duplikat. Ich zuckte mit den Schultern. „Ich habe meinen Auftrag erfüllt.“ „Das ist gut“, lächelte mein Gegenüber. „Dann kann ich auch meinen 79
erfüllen.“ Ehe ich zu einer Gegenreaktion ansetzen konnte, zog das Duplikat ei ne Waffe. Den tödlichen Schmerz verspürte ich nur für einen Sekun denbruchteil. * „Es hat alles geklappt“, freute sich Dr. Gomez und strahlte den Ex-Präsidenten an. „Bitte benachrichtigen Sie Ihren Amtsnachfolger.“ Die beiden Männer schüttelten sich die Hände. „Was geschieht mit dem Original von Mendozza?“ fragte das ehema lige Staatsoberhaupt. Gomez zog ein kleines Kästchen aus der Tasche und betätigte einen Signalknopf. Fast geräuschlos glitt eine Wand zur Seite. Dahinter wurde in einem matten Licht ein männlicher Körper sichtbar, der in einer Nähr flüssigkeit zu schweben schien. „Wir lassen ihn da, wo er ist“, meinte Gomez. „Vielleicht brauchen wir ihn eines Tages noch einmal …“ ENDE