Owl Goingback
Dunkler als die Nacht
Aus dem Englischen von Michael Krug
Otherworld Verlag
1. Auflage: März 2008 De...
28 downloads
765 Views
979KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Owl Goingback
Dunkler als die Nacht
Aus dem Englischen von Michael Krug
Otherworld Verlag
1. Auflage: März 2008 Deutsche Erstveröffentlichung Titel der englischen Originalausgabe: DARKER THAN NIGHT By arrangement with the author © 1999 by Owl Goingback © für die deutschsprachige Ausgabe 2008 by Otherworld Verlag Krug KEQ, Kaisdorf bei Graz
Lektorat: Ulrike Gerstner / Christian Volk Satz / Layout: Christian Volk Titelillustrationen: Claudia Flor Druck und Verarbeitung: Finidr, s.r.o. Gedruckt in Tschechien ISBN-10: 3-902607-03-3 ISBN-13: 978-3-902607-03-4 www.otherworld-verlag.com
Die nach „Crota“ neue Horror-Geschichte des Indianer-Autors beginnt recht behutsam, als der bekannte Schriftsteller Mike Anthony mit seiner Familie in die Missouri-Kleinstadt ins ererbte Haus seiner paranoiden Großmutter einzieht. Bald jedoch huschen ständig dunkle Schatten durch die Wohnung und merkwürdige gesichtsähnliche Flecken präsentieren sich auf dem Boden, die nicht zu entfernen sind. Mysteriöse Geheimnisse machen sich in dem einsamen Haus breit, die Angst und Schrecken hervorrufen. Michael versucht, dem anhaltenden Albtraum auf die Spur zu kommen. Die Polizei ist keine Hilfe. Warum verändern sich die aufgestellten Indianerpuppen ohne menschliches Zutun? Bevor die Szene völlig eskaliert, zündet Michael das Haus an, um die Geister hoffentlich endgültig zu vertreiben.
Dieses Buch ist für Mike Heidbrink und Bruce Chiu. Außerdem für meine guten Freunde Tom Fourre, Ken Kiger und Jerry Power. Die drei wilden Männer von Torrejon.
PROLOG
Wieder hielt die Nacht Einzug. Wie ein hungriges Tier kroch sie über das Land und vertrieb die ermattende Glut des Sonnenuntergangs. Sie erfüllte den Wald und bedeckte die Straße mit Dunkelheit, raste die Einfahrt entlang und drückte die kalte, schwarze Nase gegen die Fenster eines alten Bauernhauses. Vivian Martin wich von ihrem Wohnzimmerfenster zurück. Sie fürchtete die Nacht, die sich an das Glas schmiegte, fürchtete die Gefahren, die sich in der Dunkelheit verbergen konnten. Vivian stand in der Mitte eines Raumes, den Lampen und Kerzen erhellten, um die Nacht durch ihren warmen, bernsteinfarbenen Schein zurückzudrängen. Von jenen, die sich nicht wie Vivian vor der Finsternis fürchteten und es vorzogen, sich über eine alte Frau lustig zu machen, statt ihr zu helfen, war das Zimmer in einem hässlichen Dunkelgrün gestrichen worden. Vivian wandte sich vom Fenster ab und sah sich um. Irgendwo im Wohnzimmer befanden sich ein Sofa und zwei Sessel, doch sie lagen unter Bergen von Kartons und Tüten vergraben. Auch der Kaffeetisch und ein Großteil des Fußbodens waren längst außer Sicht geraten. Nur ein schmaler Pfad war geblieben, der quer durch das Zimmer vom Fenster zum Flur führte. Im Rest der Räume des Hauses, sowohl im Erd- als auch im Obergeschoss, herrschte dasselbe Chaos. Vor einem Monat, vielleicht auch schon letztes Jahr, hatte sie Dutzende Kartons und Tüten in der Hoffnung durchsortiert, die Unordnung ein wenig zu verringern, doch sie hatte nichts gefunden, das sie bereit war wegzuwerfen. Auf gar keinen Fall
konnte sie sich von ihrer Sammlung alter Zeitungen und Zeitschriften trennen, denn die konnte eines Tages vielleicht wertvoll werden. Und es wäre töricht gewesen, die Tüten mit Kleidern zu entsorgen, weil die Lumpen sich als praktisch erweisen würden, wenn sie je beschlösse, einen Quilt für ihren Sohn anzufertigen. Eine verkniffene Miene brachte ihre Mundwinkel zum Zucken. Sie konnte keinen Quilt für ihren Sohn anfertigen, weil er tot war. Er war vor vielen Jahren bei einem Autounfall gestorben, und seine Frau mit ihm. Für Tote machte man keinen Quilt; das wäre dumm. Die Leute würden über sie reden. Aber vielleicht könnte sie einen Quilt für ihren Enkelsohn nähen – er lebte noch. Ihr Enkel wohnte in New York City, allerdings hatte sie nicht mehr mit ihm gesprochen, seit er ein Knabe gewesen war. Früher hatte er bei ihr gelebt, aber die Behörden hatten ihn ihr weggenommen. Mittlerweile hauste sie einsam in ihrer Abgeschiedenheit, aber nicht allein. Nein. Niemals allein. Die Nacht brachte Besucher. Uneingeladene, gefährliche Besucher. Vivian stützte das Gewicht auf einen abgebrochenen Rechenstiel, durchquerte langsam das Wohnzimmer und trat in den Flur. Früher hatte sie den Rechenstiel nicht gebraucht, aber vor drei Jahren war sie auf einer vereisten Stelle ausgerutscht und hatte sich die Hüfte gebrochen. Seither bereitete es ihr Schmerzen, ohne Stütze zu laufen. Selbst mit dem Stock hatte sie Mühe dabei, und die Treppe vermochte sie überhaupt nicht mehr zu bewältigen, um in die oberen Räume zu gelangen. Ebenso wenig konnte sie in den Keller hinab, um den Ofen in Betrieb zu nehmen, was bedeutete, dass im Winter stets Kälte im Haus herrschte.
Manchmal wurde es so kalt, dass sie ihre Ohren nicht mehr spürte. Dann musste sie eine Strickmütze aufsetzen, sich einen Schal um den Hals schlingen und drei Paar Socken in den Gummistiefeln tragen. Weder die Socken noch der Schal störten sie, aber sie hasste die Strickmütze, weil es sich damit schwierig gestaltete, Radio zu hören. Ihr Gehör war schon so nicht mehr das beste, und sie musste sich das tragbare Radio dicht vor das linke Ohr halten, um ihren Lieblingssendungen zu lauschen – hauptsächlich Talkshows, manchmal auch spätabendlichen Krimis. Die Strickmütze war dabei entsetzlich hinderlich. Vielleicht sollte sie doch versuchen, in den Keller zu gehen und den Ofen anzumachen, doch die Stufen waren grässlich steil. Und selbst bei eingeschaltetem Licht herrschte im Keller immer Dunkelheit. Vivian hatte Angst vor der Dunkelheit – große Angst. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Vivian sich weder vor der Nacht noch vor der Finsternis gefürchtet, die damit einherging. Als sie als junge Frau in St. Louis gelebt hatte, hatte sie es geliebt, nach Sonnenuntergang Spaziergänge durch die Parks zu unternehmen oder im Freien zu sitzen und die Sterne zu zählen. Dann jedoch war sie aufs Land gezogen, und alles hatte sich verändert. Mit dem Geld aus der Erbmasse ihres verstorbenen Mannes hatte sie ein Stück Land gekauft, das weit billiger gewesen war als die Grundstücke ringsum. Damals hatte sie weder den Gerüchten, die sich um die Liegenschaft rankten, noch dem Umstand Beachtung geschenkt, dass die meisten ihrer Nachbarn bereits weggezogen waren. Mit dem Geld, das sie beim Kaufpreis gespart hatte, konnte sie es sich leisten, ein hübsches, einstöckiges Haus samt einer Scheune daneben zu bauen. Ihr war sogar genug geblieben, um einen Obstgarten
mit Apfelbäumen anzulegen. Sie liebte Äpfel und hatte die Absicht gehabt zu verkaufen, was sie selbst nicht essen konnte. Es war lange her, dass sie den Obstgarten zuletzt besucht hatte. Zum einen besaß sie nicht mehr die Kraft, um größere Entfernungen zurückzulegen, zum anderen fürchtete sie sich vor den Schatten, die unter den Bäumen lauerten. Ihr Hund Gypsy hatte keine Angst vor ihnen gehabt. Bevor sie sich die Hüfte brach, hatte er sie oft auf langen Spaziergängen durch den Obstgarten begleitet. Manchmal waren sie sogar gemeinsam in den Wald gegangen, aber nur tagsüber. Niemals bei Nacht. Nicht einmal Gypsy war tapfer genug gewesen, um sich nachts in den Wald zu wagen. Ebenso wenig hatte er je einen Fuß in den Keller gesetzt. Vivian blieb im Flur stehen, ergriff einen auf einem Karton liegenden Revolver und vergewisserte sich, dass er geladen war. Als Gypsy noch gelebt hatte, hatte sie nie das Bedürfnis nach einer Schusswaffe verspürt, doch der arme Hund war letzten Sommer gestorben. Irgendetwas hatte ihn getötet. Kaum hatte sie den Revolver ergriffen, da erspähte sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Ein kleiner Schatten war quer durch den Flur gehuscht und in die Küche verschwunden. Vivian setzte nicht dazu an, hinter dem Schatten herzuhetzen, um zu sehen, worum es sich handelte. Stattdessen drehte sie sich um und feuerte die Pistole ab, ohne zu zielen. Die Kugel schlug in den Boden neben dem Kücheneingang ein und grub sich tief in ein Dielenbrett. Ein weiterer Schatten zuckte durch den Gang. Vivian feuerte zwei weitere Male. Der Geruch von Schießpulver brannte ihr in der Nase. Aus der Küche erklang ein seltsames Flüstern, das sich beinah wie Gelächter anhörte. Sie hatte gerade zu einem Schritt nach vorne angesetzt, als die Lichter ausgingen. »O nein. Bitte nicht.« Durch die Dunkelheit, die sie schlagartig umhüllte, sah sie sich von Grauen erfüllt um. Im
Flur hatte sie keine Kerzen, nichts, womit sie die Finsternis in ihre Schranken weisen konnte. Im Wohnzimmer hatte sie Kerzen, jede Menge sogar, auch ein paar in der Küche und im Badezimmer, aber keine im Flur. Nicht eine einzige. »Ich muss wohl eine Sicherung getroffen haben«, murmelte sie, wobei ihre Stimme belegt und zaghaft klang. Sie stützte das Gewicht auf den Rechenstiel, ließ die Pistole in einen Karton fallen und eilte den Flur hinab zum Wohnzimmer. Aus der Dunkelheit hinter ihr drang abermals das seltsame Flüstern, das ihr eiskalte Schauder über den Rücken jagte. Sie wagte nicht, anzuhalten und zurückzuschauen, weil sie sich davor fürchtete, was sie vielleicht sehen würde. Dankbar für den freundlichen Schimmer der Kerzen betrat sie das Wohnzimmer. Doch als sie die Schwelle überquerte, huschte etwas hinter einem der Kartons hervor. Etwas Kleines, Schwarzes und sehr Schnelles, das geschmeidig wie Flüssigkeit wirkte, als es ihren Pfad kreuzte. Erschrocken wich Vivian zurück und verlagerte dabei das volle Gewicht auf die einstmals gebrochene Hüfte. Ein Schrei entrang sich ihrer Kehle, als der morsche Knochen ihres linken Oberschenkels wie ein mürber Kartoffelchip brach. Verzweifelt versuchte sie, irgendwie das Gleichgewicht zu halten, doch sie stürzte unweigerlich rücklings und krachte gegen die Wand. Ein weiterer Schmerz schoss ihr durch die linke Körperhälfte und trieb ihr Tränen in die Augen. Es war die lodernde Pein eines schwachen Herzens, das über seine Grenzen hinaus beansprucht worden war. Vivian legte die rechte Handfläche auf die Brust, drückte kräftig darauf und hoffte, dass die Schmerzen nachlassen würden. Stattdessen wurden sie nur schlimmer, und ihr wurde klar, dass ihr Herz im Begriff war, aufzugeben. Aus der Dunkelheit im Flur hinter ihr ertönte das Geräusch gedämpften Gelächters. Sie versuchte, in jene Richtung zu schauen, aber
die Qualen erwiesen sich als zu schlimm. Die alte Frau konnte nur daliegen, ihr Herz umklammern und das angestrengte Pochen eines sterbenden Organs spüren. Eine weitere Bewegung erregte ihre Aufmerksamkeit – diesmal über ihr. Als sie zur Decke aufschaute, streifte ihr Blick das Ablagebrett, das die gegenüberliegende Wand säumte. Darauf befand sich ihre Sammlung von Indianerstatuen. Während Vivian hinsah, begannen die Statuen, magisch zu vibrieren, sich zu bewegen und sich der Wand zuzudrehen – um sich etwas zu stellen, das von der anderen Seite durchzudringen versuchte. »Nein«, flüsterte sie und spürte, wir ihr Herzschlag sich verlangsamte. »Nein. Nein. Nein.« Vivian Martins Herz vollführte einen letzten Schlag, ehe es verstummte. Der Engel des Todes kam und trug sie an einen Ort ohne Dunkelheit. Die winzigen Statuen auf dem Ablagebrett bewegten sich weiter.
Teil I
»Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes. Man will sehen, was nach einem greift, man will es erkennen oder zumindest einreihen können. Überall weicht der Mensch der Berührung durch Fremdes aus.« Elias Canetti
KAPITEL 1
Es heißt, man soll nie zurückblicken, aber manchmal muss man das. Manchmal teilt das Leben überraschend Karten aus, die dazu zwingen, die Uhr zurückzudrehen und einen gründlichen Blick auf das zu werfen, was besser verborgen bliebe. Tief im Unterbewusstsein vergrabene Erinnerungen kriechen an die Oberfläche wie Zombies aus einem Grab im Mondlicht. Alte Wunden reißen wieder auf. Geister sprechen. Michael Anthony spürte, wie ihn ein Schauder durchlief, als er das rostige Straßenschild erblickte, das wie ein Wächter zwischen dem hohen Unkraut aufragte. Ein Schauder der Angst? Nervöse Vorfreude? Vermutlich beides. Über dreißig Jahre waren vergangen, seit er zuletzt in Hudson County, Missouri gewohnt hatte; dreißig lange Jahre, seit er am Ende einer schmalen Schotterstraße namens Sawmill Road gelebt hatte. Er hatte die Gegend vor einer halben Ewigkeit verlassen, noch als Junge, der im Schatten seiner Großmutter auf gewachsen war. Einer Frau, die nicht ganz richtig im Kopf gewesen war. Nun kehrte er als Mann zurück, als erfolgreicher Autor von über einem Dutzend düsterer Fantasyromane, als Ehemann, als Vater zweier gesunder, wunderbarer Kinder. Doch die Geister, die ihn erwarteten, kümmerte weder seine Karriere noch seine Familie. »Sind wir bald da, Dad?«, fragte Tommy, als sein Vater den Van verlangsamte. »Hm, Dad? Sind wir?« »Fast«, antwortete Mike und nickte, wobei sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. Die Reise war für sie alle langwierig und eintönig gewesen, ganz besonders für Tommy, der im reifen Alter von acht Jahren die nervöse Energie eines
Sacks voll Hummeln besaß. Die Bücher und die Spiele für die Taschenkonsole, die sie mitgenommen hatten, hatten den Jungen den Großteil der Fahrt beschäftigt, doch nun, da sie sich dem Ende näherten, spürte er die Befreiung aus der Enge des Autos wie ein Pferd, das Wasser bereits aus einem Kilometer Entfernung wittert. Hätte Megan nicht mit bewundernswerter Geduld die Rolle der großen Schwester gespielt, wäre Tommy inzwischen vermutlich an die Decke gegangen. Über mehrere Stunden hinweg hatte die Fünfzehnjährige ihren Bruder mit Wortspielen, Rätseln und der Beantwortung unzähliger Fragen abgelenkt, womit sie Mike und seiner Frau Holly eine dringend nötige Pause verschafft hatte. Allerdings war es Megan vor etwa acht Kilometern leid geworden, ihren jüngeren Bruder zu unterhalten. Sie hatte sich die Kopfhörer ihres tragbaren CD-Players aufgesetzt und war dazu übergegangen, aus dem Fenster in die Dunkelheit ringsum zu starren. Zuerst hatte Mike gedacht, sie wäre eingeschlafen, doch gelegentlich beugte sie sich vor, um Pinky zu streicheln, den Familienkater. Die fast acht Kilo schwere, gelbe Tigerkatze lag ausgestreckt auf dem Boden zwischen den beiden Rücksitzen und schlief auf ihrer zerfransten Lieblingsmatte. »Wie weit ist es noch, Dad?«, quengelte Tommy, lehnte sich auf dem Sitz vor und bäumte sich gegen die Schultergurte auf. »Nur noch die Straße runter«, antwortete Mike, der es ebenso wenig wie sein Sohn erwarten konnte, auszusteigen und sich die Beine zu vertreten. »Gut. Ich muss nämlich pinkeln«, verkündete Tommy. Mike und Holly lachten. »Du musst andauernd pinkeln«, schalt ihn Megan, nahm die Kopfhörer ab und hängte sie sich um den Hals. »Na ja, ich muss eben.«
»Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht so viel Orangenlimonade trinken«, meinte Holly lächelnd. »Aber ich war durstig«, entgegnete Tommy. »Wir sind in ein paar Minuten da, Großer«, meldete Mike sich zu Wort und betrachtete seinen Sohn im Innenspiegel. »Hältst du noch so lange durch?« Tommy überlegte kurz, dann nickte er. »Das schaffe ich.« »Das ist mein Junge.« Als Mike in die Sawmill Road bog, dachte er an die schon damals betagte Frau, die sich um ihn gekümmert hatte, nachdem seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren – bevor der Staat Missouri zu dem Entschluss gelangt war, dass er bei einer Ziehfamilie besser aufgehoben wäre. Mike erinnerte sich kaum noch an Vivian Martin oder an die Jahre, die sie zusammen verbracht hatten. Der Schock des tragischen und jähen Verlusts beider Eltern und seines Zuhauses hatten einen Großteil seiner Erinnerung an jene Zeit ausgelöscht. Geblieben waren ihm nur Bruchstücke, vereinzelte Bilder, die im Verlauf der Zeit längst verblasst waren. Die Jahre bei seiner Großmutter glichen nur noch ein paar staubigen Kapiteln im Aktenschrank seines Lebens, so staubig wie das Haus, in dem sie einst gewohnt hatte. Jenes Haus gehörte nun zusammen mit sechzehn Hektar Land ihm. Vor sechs Wochen hatte er einen eingeschriebenen Brief von einem Anwalt in Braddock erhalten, einer Kleinstadt acht Kilometer östlich der Sawmill Road. Dem Schreiben war eine Kopie von Vivian Martins letztem Willen beigelegt, in dem er als ihr einziger noch lebender Erbe benannt wurde. Sie hatte ihm das Haus, das Grundstück und all ihre weltlichen Besitztümer vermacht. Ein Geschenk von einer Frau, die er so gut wie vergessen gehabt hatte.
Mike hatte Reisevorkehrungen getroffen, um sich mit dem Anwalt zu treffen, die notwendigen Dokumente zu unterschreiben, die Hausschlüssel zu übernehmen und um die Angelegenheiten seiner Großmutter zu regeln. Ihr Begräbnis hatte mehrere Tage vor seiner Ankunft stattgefunden. Es war eine schlichte Beerdigung gewesen, die mit dem auf ihrem Sparkonto verbliebenen Geld bezahlt worden war. Da Mike in Eile gewesen war, hatte er wenig mehr getan, als sich das Haus und das Grundstück kurz anzusehen. Die Baumasse des alten Bauernhauses erwies sich als in guter Verfassung, allerdings musste es gründlich gereinigt werden. Sehr gründlich. Er hätte das Erbe ablehnen oder das Haus und das Grundstück für eine beträchtliche Summe verkaufen können. Doch er brauchte kein Geld. Was er hingegen sehr wohl brauchte, war eine Fluchtmöglichkeit aus New York und all dem Wahnsinn, der mit dem Großstadtleben einherging. Früher hatte er die Stadt geliebt, in der er fast achtzehn Jahre gelebt hatte, aber in den vergangenen zwei Jahren war ihm schmerzlich bewusst geworden, wie übervölkert der Big Apple tatsächlich war. Hatte er das geschäftige Treiben, die Menschenmassen, die Lichter, die Geräusche, sogar den Verkehr früher genossen, so sehnte er sich mittlerweile nach einem stilleren, beschaulicheren Lebensstil. Obwohl er ein geräumiges Apartment ein paar Blocks nördlich des Central Parks besaß, fühlte er sich von den Menschenmassen, die ihn umgaben, regelrecht erdrückt. Wenig hilfreich war der Umstand, dass ihm plötzlich das Verbrechen in der Großstadt Sorgen bereitete, eine Erkenntnis, die ihn mit der Wucht eines Schlags ereilt hatte, als einer seiner besten Freunde, ebenfalls ein Schriftsteller, spät eines Nachts nach einer Verlegerparty bei einem Raubüberfall erschossen worden war. Mike war ebenfalls bei der Feier gewesen und hatte sie nur wenige Minuten vor seinem Freund
verlassen. Ebenso gut hätten die Räuber ihn als Opfer wählen und seinen Körper tot und kalt in einer Blutlache am Randstein zurücklassen können. Seit dem Mord an seinem Freund sah Mike sich häufiger als früher die Abendnachrichten an. Die Anzahl der Vergewaltigungen, Raubüberfälle und Morde, die sich tagtäglich in der Stadt ereigneten, die er als Heimat betrachtete, entsetzte ihn. Mit jedem Bericht spürte er, wie die Stadt ihm näher zu Leibe rückte, fester zudrückte, ihm die Luft abschnürte. In seinem Magen hatte sich ein fester Knoten der Angst gebildet. Eine winzige Saat, die erblühte und wuchs, an seinen Eingeweiden nagte wie eine hungrige Ratte. Er sorgte sich um seine Familie und traf zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen, um das Wohlergehen seiner Frau und Kinder zu gewährleisten. Auch seine Arbeit litt – er fand es nahezu unmöglich, düstere Fantasy- und Horrorgeschichten zu schreiben, wenn die Welt voll von weit größeren Ängsten war, als er sie sich je in seiner Fantasie auszumalen vermocht hätte. Wesentlich Furcht einflößender als Zombies und Vampire waren die Drogenhändler, die an Straßenecken standen und ihr Gift an Kinder auf dem Heimweg von der Schule oder an Gangmitglieder verkauften, die ältere Obdachlose in Brand steckten, nur um zu sehen, wie ihr Fleisch brutzelte und verbrannte. Wie konnte man Mitleid für jemanden empfinden, der in einem Roman von einer sabbernden Bestie verfolgt wurde, während im echten Leben dreizehnjährige Mädchen gezwungen wurden, als Prostituierte zu arbeiten? Sie wurden ihrer Kindheitsträume beraubt und zu Opfern von weit gefährlicheren Dämonen, als sie je in den finstersten Wäldern von Transsilvanien erschaffen worden waren.
Das Geschenk seiner Großmutter hatte eine Fluchtmöglichkeit für Mike und seine Familie aus einer Stadt eröffnet, die dunkel und gefährlich geworden war. Es bot einen Grund, endlich aus ihr wegzuziehen und die Dinge hinter sich zu lassen, die er zu fürchten begonnen hatte. Eine Chance, seinen Verstand von all dem Müll zu säubern und als Schriftsteller neu zu beginnen. Und wenn sich im Zuge dessen ein paar Geister aus der Vergangenheit regten, dann sollte es ihm recht sein. Ein paar Geister haben noch nie jemanden verletzt. Von der Straße aus war das Haus nicht zu sehen, denn es lag hinter einem Gewirr aus Eichen und Wacholdersträuchern versteckt. Das Blattwerk war bewusst so gepflanzt worden, um das einstöckige Bauernhaus vor neugierigen Blicken abzuschirmen, wenngleich herzlich wenige Menschen in der Gegend lebten. Noch weniger hatten Grund, die Sawmill Road zu verwenden, die etwa achthundert Meter nach dem Haus in einer Sackgasse endete. Mike bog in die Auffahrt, brachte den Van zum Stehen und betrachtete das neue Heim seiner Familie. Das Haus stand still und düster im fahlen Mondlicht. Die ausgebleichte Farbe wirkte eher grau als weiß. Dunkelgrüne Läden säumten jedes der Fenster, und entlang der Vorderseite erstreckte sich eine große Holzveranda. Hinter dem Haus befanden sich eine Scheune mit durchhängendem Dach und ein Apfelhain, der dort endete, wo sich das schwarze Wasser des Bloodrock Creek durch den umliegenden Wald wand. Laut örtlicher Geschichte verdankte der Bach seinen Namen einem kleineren Geplänkel, das zu Beginn des Bürgerkriegs ausgetragen worden war. Männer, die entlang der Ufer des Baches gefallen waren, lagen dort wahrscheinlich auch begraben. Ihre Namen waren längst im Strudel der Zeit in Vergessenheit geraten.
Während Mike dasaß und das Haus anstarrte, beschlich ihn das Gefühl, beobachtet zu werden. Er stellte sich vor, wie seine Großmutter durch eines der Fenster zu ihm herausspähte, wie sie es häufig getan hatte, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Immer hatte sie ihm aus der Sicherheit ihres Heims zugesehen, eines Gefängnisses, das aus Neurosen und Ängsten entstanden war. Mike verdrängte das Gefühl, stellte den Motor ab, holte eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach hervor und stieg aus. Er nahm sich einen Augenblick Zeit, um die verspannten Glieder zu strecken, bevor er sich in Richtung des Hauses in Bewegung setzte. Seine Familie ließ Pinky im Wagen und folgte ihm, als er die Veranda überquerte und den Schlüssel in die Eingangstür steckte. Niemand sprach ein Wort, nicht einmal Tommy, wodurch die Geräusche der Nacht umso deutlicher zur Geltung kamen. Landgeräusche. Ein nächtlicher Chor von Grillen, Laubfröschen und einem aufgeregten Kauz. Die Tür öffnete sich mit einem Unheil verkündenden Knarren und entließ einen Schwall unangenehmer Gerüche in die Nacht. Hustend wich Mike zurück, als ihm der Moder von Mottenkugeln, Insektenspray und Desinfektionsmittel in die Nase stieg. »Puh… Das stinkt«, stellte Tommy fest und rümpfte die Nase. Auch Megan hustete und fächelte mit der Hand vor dem Gesicht. Holly sah Mike fragend an. »So schlimm ist es nicht«, meinte Mike und versuchte, zu Atem zu gelangen. »Wir müssen nur ordentlich lüften, das ist alles.« Ihm fiel ein, dass seine Großmutter ständig mit irgendetwas gesprüht hatte. Nicht, dass sie eine übermäßig sauberkeitsliebende Frau gewesen wäre. Tatsächlich konnte er sich nicht erinnern, sie je putzen gesehen zu haben. Gesprüht hatte sie, ja, eine Dose Insekten- und Desinfektionsspray nach der anderen, aber sie hatte nie sauber gemacht.
Er trat über die Schwelle, schwenkte den Strahl der Taschenlampe von links nach rechts und erhellte die Diele, den Flur, die Treppe und einen Teil des Wohnzimmers. Das Haus war immer noch möbliert. Alles präsentierte sich wie zu Lebzeiten seiner Großmutter. Genau, wie es gewesen war. Weitere Erinnerungen kamen hoch, als er den Blick über das Gewirr der Kartons, Stapel alter Zeitungen und Magazine und Plastikmüllsäcke mit allem Möglichen von alten Kleidern bis hin zu Zwirn- und Garnresten wandern ließ. An so gut wie jedem verfügbaren Platz im Haus türmten sich Gerümpel und Unrat. Dazwischen befanden sich nur schmale Pfade, über die man von einem Zimmer zum nächsten gelangte. Seine Großmutter war von jeher sammelwütig gewesen und hatte nie etwas weggeworfen, das sie auch nur im Entferntesten für wertvoll hielt. Gegenstände, die von anderen als Müll betrachtet worden wären, stellten allesamt Schätze für sie dar. Es war eine Manie gewesen, die in den kargen Tagen der Depression entstanden war, als sie und ihre Familie häufig gezwungen gewesen waren, selbst ohne die grundlegendsten Notwendigkeiten auszukommen. Unmittelbar neben der Tür entdeckte Mike einen Schalter und knipste das Licht an. Er hatte veranlasst, dass der Strom vor seiner Ankunft wieder angestellt wurde, aber die Lichter drängten die Dunkelheit kaum zurück. Über Jahre angesammelter Staub und Dreck verkrusteten die Lampen. Von vielen hingen Spinnweben wie hauchdünne Kronleuchter. Mike trat eine Tüte mit Zeitungen beiseite und schob die Eingangstür ganz auf. Seine Familie blieb auf der Veranda stehen und starrte an ihm vorbei. Eine Mischung aus Ehrfurcht und nacktem Entsetzen stand ihnen in die Gesichter geschrieben.
»Wollt ihr die ganze Nacht dort draußen stehen oder kommt ihr rein?« »Ich bleibe hier«, gab Megan zurück. »Ich auch«, teilte Tommy ihre Meinung. Mike zwang sich zu einem Lächeln. »Hier gibt es nichts, wovor man sich fürchten müsste. Das ist nur ein großes, altes Haus. Ein wenig dreckig, aber Dreck hat noch niemandem wehgetan.« »Spinnen«, sagte Megan. »Was ist damit?«, fragte Mike. »Da drin hat es Spinnen.« Tommy nickte. »Und ich wette, ziemlich große. Vielleicht sogar Taranteln.« »Und Kakerlaken«, fügte Megan hinzu. »Und fette, gemeine Ratten mit langen, scharfen Zähnen.« Tommy krümmte Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand unter die Lippen, um spitze Rattenzähne anzudeuten. Holly spürte, dass die Dinge aus dem Ruder zu laufen drohten, schlang die Arme um Megan und Tommy und drückte sie beruhigend. Dann schnupperte sie deutlich vernehmbar die Luft. »Es gibt keine Spinnen, Kakerlaken oder Ratten, die widerstandsfähig genug wären, um eine Nacht bei all diesem Insektenspray und all den Mottenkugeln zu überleben. Kommt rein, bevor uns die Moskitos hier draußen bei lebendigem Leib auffressen.« »Aber…«, setzte Tommy stammelnd an. »Kein aber. Gehen wir.« Damit scheuchte sie die Kinder hinein und ließ die Tür offen, um das Haus auslüften zu lassen. Beeindruckt davon, wie mühelos seine Frau eine potenzielle Rebellion im Keim erstickt hatte, lächelte Mike. Dennoch entging ihm nicht, wie Hollys Maske der Zuversicht etwas abglitt, als sie sich umsah und die Ausmaße des Chaos erkannte, mit dem sie konfrontiert waren. Die vier Mitglieder
der Familie Anthony erwartete ein Berg an Reinigungsarbeit. Es würde Tage, vielleicht Wochen dauern, um das Haus vollständig bewohnbar zu gestalten. »Ich schätze, ich hätte euch wegen der Unordnung warnen sollen«, meinte er. »Wenn ihr wollt, können wir in die Stadt zurückfahren und uns für die Nacht ein Hotel suchen.« Holly schüttelte den Kopf. »Ich habe kein Hotel gesehen, als wir durch den Ort gefahren sind. Die Kinder sind müde und hungrig. Ich übrigens auch. Wir machen einen raschen Rundgang, danach entscheiden wir, wo wir schlafen: im Haus oder im Auto. Ich hole einen Teil unseres Reiseproviants herein und mache uns Sandwichs und Suppe.« Sie lächelte. »Mit vollem Magen sieht alles besser aus.« »Das hoffe ich«, flüsterte Mike, während er das schier überwältigende Chaos betrachtete. Das Haus war groß. Es besaß fünf Schlaf- und zwei Badezimmer. Drei der Zimmer befanden sich oben, zwei weitere unten am Beginn der Treppe auf gegenüberliegenden Seiten des Flurs. Eines davon führte in die Bibliothek, weshalb Mike es als sein künftiges Büro beanspruchte. Das Zimmer gegenüber nahm Holly als Atelier für ihre Malerei in Beschlag. Früher hatte sie als Grafikerin gearbeitet, mittlerweile widmete sie ihre Zeit Öl- und Acrylgemälden persönlicherer Art. Da die Zimmer oben deutlich größer als jene im Erdgeschoss waren, erhoben die Kinder keine Einwände dagegen, Räume im selben Stockwerk zu beziehen, in dem sich das Elternschlafzimmer befand. Megan entschied sich für das Zimmer in der Nähe der Treppe auf derselben Seite des Flurs wie das Elternschlafzimmer. Tommy wählte das hintere Zimmer, das näher am Bad lag und einen Ausblick auf die Scheune, den Obstgarten und den Wald bot. Außerdem wies es vor den Fenstern zwei Einbautruhen aus Zedernholz auf, die
sich perfekt für die Verwahrung seiner Sammlung von Star Wars-Figuren eigneten. Während sie das Haus erkundeten, wurde der angegriffene Geisteszustand von Mikes Großmutter immer offenkundiger. Mit Ausnahme der dunkel getäfelten Bibliothek erwiesen sich alle Räume im Erdgeschoss als in hässlichem Dunkelgrün ausgemalt – Böden, Decken und Wände. Sogar die Fliesen des Küchenfußbodens waren mit einem so dunklen Grün bemalt, dass es fast schwarz wirkte. Die Farbe vermittelte den Eindruck, als wären sämtliche Zimmer mit einer dicken Algenschicht bedeckt wie die schleimigen Wände einer Unterwasserhöhle. Der zur Treppe führende Flur war ebenfalls grün bemalt. Die Farbe war dick auf abblätternde Tapeten aufgetragen. In der Wand prangten Dutzende Löcher, als hätte jemand wiederholt mit einem Hammer darauf eingeschlagen. Holly blieb stehen, steckte den Finger in eine der Öffnungen und runzelte die Stirn. »Vielleicht haben wir Termiten«, scherzte Mike. Sie sah ihn an, erwiderte sein Grinsen jedoch nicht. Indem sie einem schmalen Pfad zwischen Müllsäcken und Kartons hindurch folgten, gelangten sie erst ins Wohnzimmer, dann in die Bibliothek. In beiden Räumen säumte eine einzelne Ablage aus Holz die Wände, auf der hunderte geschnitzte Holzfiguren standen, verziert mit Federn und bunten Stofffetzen. Aus vergangenen Recherchen über Indianerkulturen wusste Mike, dass es sich bei den Holzfiguren um Hopi-Kachinas handelte. Die Hopi hielten die Kachinas für übernatürliche Geister und Götter, die in den Bergen des amerikanischen Südwestens lebten. Während zeremonieller Tänze verließen diese Götter angeblich ihre Gebirgshorte, um die verschiedenen Dörfer zu besuchen. Männliche Tänzer, die
eigens für die Aufgabe ausgewählt und geschult wurden, legten dabei Holzmasken und aufwändige Kostüme an, um die Geister auf Besuch darzustellen. Holzpuppen, die stellvertretend für die Kachinas standen, wurden verwendet, um den Kindern der Dörfer etwas über die Geister und Götter beizubringen, die ihre Welt bevölkerten. Es gab über hundert verschiedene Kachinas, von denen jede einen eigenen Namen, eine unverkennbare Gestalt und eine individuelle Kluft besaß. Die Puppen wurden nie wie Spielzeug behandelt. Stattdessen betrachtete man sie als Sinnbilder, von denen man glaubte, dass jedes einen Teil der Macht des Kachina-Geistes beherbergte. Nachdem eine Kachina-Figur einem Kind geschenkt worden war, wurde sie als wertvoller Besitz gehütet und an einem Balken oder einer Wand im Haus aufgehängt, damit ihr nichts geschehen konnte. Mike wusste, dass authentische Kachina-Puppen ziemlich teuer waren, zumal er die Preise aus einigen IndianerSouvenirgeschäften in New York City kannte. Die Sammlung seiner Großmutter stellte vermutlich einen Wert von tausenden Dollar dar. Seltsamerweise standen sämtliche Puppen der Sammlung mit den Gesichtern zur Wand und den Rücken zum Zimmer. Er durchquerte den Raum, um einen näheren Blick auf die Figuren zu werfen. »Irgendwie gefallen mir die Kachinas. Ich hätte nichts dagegen, sie zu behalten, wenn das in Ordnung für dich ist. Eine Sammlung dieser Größe muss ein kleines Vermögen wert sein. Sie muss Jahre gebraucht haben, um sie anzulegen.« Auch mehrere groteske Holzmasken zierten eine Wand der Bibliothek. Sie stellten abscheuliche Karikaturen menschlicher Gesichter mit verzerrtem Grinsen, vorquellenden Augen und heraushängenden Zungen dar. In gewisser Weise ähnelten sie den »falschen Gesichtsmasken«, die einst von den Irokesen bei Heilzeremonien verwendet worden waren,
dennoch bestanden genügend Unterschiede, um Mike vermuten zu lassen, dass es sich bei ihnen um etwas gänzlich anderes handelte. Vielleicht waren es Hilfsmittel, die von Indianern bei uralten, magischen Ritualen verwendet worden waren, um die Übel der sie bedrängenden Weißen abzuwenden, oder vielleicht hatten sie auch nur dazu gedient, kleine Kinder zu erschrecken, damit sie ihren Eltern gehorchten. Auf jeden Fall sahen sie abscheulich genug aus, um selbst den Tapfersten Albträume zu bescheren. »Tut mir Leid«, sagte er, als er den angewiderten Ausdruck in Hollys Gesicht sah, während sie die Masken anstarrte. »Ich wusste nicht, dass es so schlimm um meine Großmutter gestanden hatte. Schon als ich ein kleiner Junge war, ist sie etwas wunderlich gewesen, aber nicht so verrückt, wie das hier erahnen lässt. Wenn du willst, verschwinden wir noch heute Nacht von hier. Gleich morgen Früh rufe ich einen Immobilienmakler an und beauftrage ihn, das Haus zum Verkauf anzubieten. Noch können wir nach Hause zurück.« Ein paar Sekunden verharrte der Ausdruck noch in ihren Zügen, dann schüttelte sie den Kopf. »In New York gibt es nichts mehr für uns. Das hier ist jetzt unser Zuhause.« Sie drehte sich ihm zu und rang sich ein Lächeln ab. »Es ist alles gut – das Haus muss nur gründlich gereinigt werden.« Sie deutete an die Wand. »Die Kachinas kannst du meinetwegen behalten, aber diese Masken müssen raus.«
KAPITEL 2
Viel zu früh hielt der Sonnenaufgang Einzug, und Strahlen goldenen Lichts schillerten durch die vergilbten Vorhänge der Fenster im Elternschlafzimmer. Sie hatten alle im selben Raum im ersten Stock geschlafen, nachdem sie die Kartons und Zeitungsstapel auf den Flur geschoben hatten, um Platz zu schaffen. Die Kinder hatten sich ins Doppelbett gelegt, wo Pinky sich neben Tommys Füßen eingerollt hatte. Holly und Mike hatten mit auf dem Holzboden am Fußende des Bettes ausgebreiteten Schlafsäcken Vorlieb genommen. Anfangs war der Moder im Zimmer schlimm gewesen, fast Übelkeit erregend. Die Fenster hatten sich als mit Dichtmasse und Farbe versiegelt erwiesen, aber Mike war es mit einem Schraubenzieher und erheblicher Kraftanstrengung gelungen, sie aufzuzwängen. Außerdem hatte er den uralten Deckenventilator in Betrieb genommen. Erst hatte er laut gequietscht, doch nach ein paar Minuten war das Geräusch zu einem kaum wahrnehmbaren Summen verflacht. Es war eine warme Nacht gewesen, dennoch hatte eine leichte Brise aus Nordosten geherrscht, die geholfen hatte, das Zimmer zu kühlen und einen Teil der Gerüche hinauszuwehen. Doch obwohl der Ventilator auf höchster Stufe lief und die Fenster offen standen, erwachte Mike mit dem Geschmack von Schimmel und Insektenspray im Mund. Außerdem hatten sich hinter seinen Lidern leichte Kopfschmerzen gebildet. Er setzte sich auf, streckte sich und versuchte, einige der Verspannungen aus seinem Rücken und seinen Schultern zu bekommen. Zwei Tage ständigen Fahrens und eine Nacht auf einem harten Holzfußboden hatten ihm mehr wunde Stellen
beschert, als er zu zählen vermochte. Mit vierzig Jahren war er kein junger Mann mehr und erholte sich von körperlichen Anstrengungen nicht mehr so schnell wie früher. Und obwohl er sich bemühte, in Form zu bleiben, indem er zwei Mal die Woche trainierte und so oft wie möglich ausgedehnte Spaziergänge unternahm, begann das sitzende Leben eines Schriftstellers Tribut von ihm zu verlangen. An seinen Oberarmen prangten nicht mehr dieselben Muskeln wie vor fünfzehn Jahren, auch den Gürtel hatte er im Verlauf dieser Zeit ein oder zwei Löcher weiter schnallen müssen. Er rieb sich den Nacken und stemmte sich vom Boden hoch. Mit unsteten Schritten ging er durch das Zimmer zu seinem Koffer und tastete unter Hemden und Unterwäsche nach der Aspirinpackung. Er steckte sich zwei Tabletten in den Mund, zerbiss sie, steckte den Rest der Packung in den Koffer zurück und drehte sich um. Holly beobachtete ihn mit einem halb geöffneten Auge. Ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. Langsam setzte sie sich auf, wischte sich eine Strähne rötlichblonden Haars aus dem Gesicht und schaute zu den Kindern. Megan und Tommy schliefen Seite an Seite im Bett und bekamen von der Welt noch nichts mit. Sie sah Mike an und flüsterte: »Soll ich sie wecken?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Lass sie schlafen. Sie sind völlig erschöpft. Außerdem ist es noch früh.« Holly spähte aus dem Fenster. »Wie spät ist es?« Mike schaute auf die Uhr. »Kurz nach sieben. Zeit, sich an die Arbeit zu machen.« Sie stöhnte. »Aber der Hahn hat doch noch gar nicht gekräht. Wir sind hier auf dem Land, da muss es doch irgendwo einen Hahn geben.« »Einen Hahn? Wir brauchen keinen stinkenden Hahn. Bauern stehen mit der Sonne auf.«
»Bauern? Seit wann bist du ein Bauer? Du hast es ja noch nicht mal geschafft, dass deinem Chia-Kopf Haare gewachsen sind.« »Ah, aber das war mein altes Ich. Mein neues Ich ist ein echtes Landei. Ich habe sogar schon Dreck zwischen den Zehen.« »Wohl eher zwischen den Ohren«, erwiderte sie lachend. »Ich glaube, du hast dir zu viele Folgen von Unsere kleine Farm angesehen.« Sie stand auf und streckte sich. Holly war drei Jahre jünger als er und körperlich in wesentlich besserer Verfassung, obwohl sie nie Diät hielt und selten ins Fitnessstudio ging oder Sport trieb. »Na schön, Bauernjunge«, meinte sie und band sich die Haare zu einem Pferdeschwanz. »Gehen wir los und erlegen wir uns etwas zum Frühstück.« Leise schlichen sie aus dem Raum, um die Kinder nicht zu wecken. Bevor sie ins Erdgeschoss gingen, legten sie einen Zwischenstopp im Badezimmer ein, um sich die Zähne zu putzen und sich zu waschen. Zuerst spritzte das Wasser wegen zahlreicher Lufteinschlüsse in der Leitung stotternd aus dem Hahn, außerdem enthielt es winzige Flocken sichtbarer Ablagerungen, doch nach einer Weile wurde es klar und verwandelte sich in einen angenehmen, steten Strahl. Das Wasser stammte aus einem tiefen Brunnen unmittelbar hinter dem Haus und schmeckte unverkennbar nach Mineralien – hauptsächlich nach Eisen –, aber wesentlich besser als das chemisch aufbereitete Wasser, an das sie in New York gewöhnt gewesen waren. Nachdem sie im Badezimmer fertig waren, schlichen sie an der offenen Schlafzimmertür vorbei und gingen die Treppe hinab. Selbst bei Tageslicht wirkte das Erdgeschoss bedrückend dunkel, da das hässliche Grün alles wie einen Teil
eines mittelalterlichen Verlieses aussehen ließ. Als sie sich im Zickzackkurs durch das Chaos einen Weg in die Küche bahnten, schaltete Holly die Lichter ein und öffnete in dem Versuch, für mehr Helligkeit zu sorgen, die Vorhänge in der Bibliothek und im Wohnzimmer. Ihre Bemühungen bescherten ihr nur einen Teilerfolg. Der Gasofen mit vier Brennerfeldern in der Küche wurde von einem großen weißen Propantank versorgt, der sich auf der Westseite des Hauses befand. Da der Tank noch Gas enthielt, konnte Holly einen Topf Wasser für löslichen Kaffee erhitzen. Während sie den Kaffee zubereitete, griff sich Mike einen sauberen Teller und richtete ein Frühstück aus Donuts vom Vortag darauf an. Um dem Chaos im Haus zu entfliehen, nahmen sie die Donuts und den Kaffee mit hinaus auf die Veranda. Sie setzten sich auf die Stufen und beobachteten, wie die Sonne langsam über den Baumwipfeln im Osten aufging. Draußen war es erheblich kühler als im Haus. Der Luft haftete eine schneidende Note an, die sie daran erinnerte, dass der offizielle Herbstbeginn in wenigen Wochen bevorstand. Außerdem empfanden sie die Luft als spürbar sauberer als jene, die sie aus der Stadt kannten. Im Wind wehten die angenehmen Gerüche von Kiefern und fruchtbarer, schwarzer Erde. Am Ende der Auffahrt tollten in den Schatten einiger Eichen zwei Kaninchen in einem Kleebeet umher. Dabei entging ihnen völlig, dass hoch über ihnen ein Falke mit roten Schwanzfedern auf der Suche nach einer Morgenmahlzeit kreiste. Der Falke wiederum konnte die Kaninchen nicht gesehen haben, denn er schwebte auf unsichtbaren Aufwinden weiter Richtung Süden. Mike beobachtete, wie der Vogel verschwand. Dass er bewundern konnte, wie die Natur sich vor ihm in all ihrer schlichten Schönheit entfaltete, ließ ein tiefes Glücksgefühl in
seiner Brust anschwellen. In den bevorstehenden Wochen würden solche Anblicke vermutlich alltäglich werden, doch vorerst fühlte sich für ihn alles aufregend neu an. Holly teilte seine Freude offenbar, denn auch sie schaute dem Falken nach, bis er nicht mehr zu sehen war. Mike senkte den Blick und trank einen Schluck von dem Kaffee, der so weit abgekühlt war, dass er ihm nicht mehr die Zunge verbrannte. Der Kaffee schmeckte wunderbar, verfeinert genau mit dem richtigen Schuss Haselnusssahne und umso köstlicher durch die Anblicke, Geräusche und Gerüche der Umgebung. Mike stellte die Tasse auf dem Knie ab und ergriff einen glasierten Donut von dem Teller, der zwischen ihm und Holly stand. Sie entschied sich für einen mit Himbeerfüllung und lachte voll kindlichem Vergnügen, als ihr ein Batzen klebriger Marmelade über das Kinn rann. Sie genossen beide je zwei Donuts und zwei Tassen Kaffee, gefolgt von derselben Anzahl Zigaretten, um das Frühstück zu verlängern und den Arbeitsbeginn ein paar weitere Minuten hinauszuzögern. Sie fühlten sich noch ziemlich müde, weshalb es mehr als der üblichen Menge an Zucker, Nikotin und Koffein bedurfte, um ihre Kreisläufe in Schwung zu bringen. Als ihnen klar wurde, dass sie die Aufgabe, die sie erwartete, nicht länger vor sich herschieben konnten, trugen Mike und Holly die leeren Tassen und den Teller mit Donuts zurück in die Küche, danach wandten sie die Aufmerksamkeit dem allgegenwärtigen Chaos zu. Das Gerümpel im Haus schien endlos, deshalb beschlossen sie, zuerst einen Schlachtplan zu entwickeln, statt sich blindlings darauf zu stürzen. Sie begannen im Flur gleich neben der Eingangstür und arbeiteten sich langsam zur Küche und zum Wohnzimmer vor. Die Kartons und Tüten trugen sie nach draußen und lagerten sie entlang der Seite des Hauses zwischen. Sie enthielten alte
Kleider, Schallplatten, schimmelnde Bücher, Zeitschriften und Zeitungsstapel, einige mit über zwanzig Jahre alten Ausgaben. Neben der Eingangstür entdeckten sie hinter einem Müllberg verborgen zwei modrige Matratzen, die an der Wand lehnten. Hinter den Matratzen kam ein antiker Schrank mit kaputten Puppenteilen und alten Grammofonplatten zum Vorschein. Da der Schrank ebenso widerwärtig roch wie die Matratzen, entschieden sie, dass auch er hinaus musste. Nachdem er ausgelüftet und gründlich gereinigt wäre, würden sie ihn vielleicht zurück ins Haus tragen. Als die Kinder erwachten und matt die Treppe herabkamen, war es kurz nach zehn Uhr. Weder Megan noch Tommy wollte im Haus bleiben. Die beiden holten sich Donuts, schenkten sich Gläser mit Milch ein, setzten sich auf die Veranda und beobachteten, wie ihre Eltern eine Ladung Müll nach der anderen an ihnen vorbeitrugen. Sie trödelten, solange sie konnten beziehungsweise solange Holly es ihnen gestattete. Danach schickte sie die beiden ins Wohnzimmer und trug ihnen auf, die kleineren Kisten und Gegenstände hinauszubefördern, die nicht ganz so übel moderten. Kurz vor Mittag überließ Mike den Hausputz Holly und den Kindern. Er musste nach Braddock fahren, um die Telefonleitung anschließen zu lassen. Außerdem musste er zur Gemeindeverwaltung, um einen Müllcontainer zu beantragen. Megan und Tommy wollten ihn begleiten, wahrscheinlich eher, um der Arbeit zu entrinnen, als um die Stadt bei Tageslicht zu sehen, wie sie behaupteten, aber er lehnte ihre Gesuche ab. Es stand entsetzlich viel Arbeit an, und es wäre unfair gewesen, alles Holly allein aufzubürden. Mike ignorierte ihre stirnrunzelnden, unglücklichen Mienen, stieg in den Wagen und rollte die Schotterstraße hinab los. Entlang der Sawmill Road gab es keine weiteren Häuser, zumindest keine bewohnten. Mike erspähte zwar zwei andere
Bauernhäuser und eine kleine Hütte, doch es war unübersehbar, dass sie seit Jahren leer standen. Die Bauernhäuser präsentierten sich in tristem Braun mit glaslosen Fenstern, die seine Vorbeifahrt wie die leeren Augenhöhlen eines Totenschädels beobachteten. Auch die Scheiben der Hütte waren längst zerbrochen. Die verrottenden Holzblöcke ihrer Außenwand lagen teilweise in den Schatten von Kiefern verborgen. Alle drei Gebäude standen verlassen und verwahrlost dar, ein Paradies für Spinnen, Schlangen und gespenstische Erinnerungen. Die Sawmill Road mündete in die Asphaltfahrbahn der Staatsstraße 315, die seit fast zwanzig Jahren keinen neuen Belag erhalten hatte. Folgte man der 315 nach Osten, gelangte man durch die Ortschaften Braddock, Warrenton und Logan, bis man schließlich auf die Interstate 70 stieß. Fuhr man die 315 weiter nach Westen, endete man wahrscheinlich irgendwo in der Wildnis. Im Gegensatz zur Sawmill Road säumten die 315 tatsächlich ein paar bewohnte Eigenheime, wenngleich nicht viele. Hauptsächlich Bauernhäuser, dazwischen vereinzelte Wohnwagen. Mike fragte sich, weshalb die Gegend so spärlich besiedelt war, allerdings nur kurz. Das Gebiet lag abgeschieden, war hügelig und dicht bewaldet und somit alles andere als ideal, sowohl für landwirtschaftliche Zwecke als auch dafür, eine Familie großzuziehen. Die kleine Ortschaft Braddock, Missouri wies eine Bevölkerung von knapp unter zweitausend Einwohnern auf. Das Nest schien in der Zeit erstarrt zu sein, erinnerte, an eine aus einem Buch über die 1930er herausgerissene Seite. Es gab weder ein Einkaufszentrum noch große Supermärkte. Stattdessen befanden sich alle Geschäfte in den Gebäuden aus der vorigen Jahrhundertwende entlang der Hauptstraße, die sich wenig mehr als sieben Blocks weit erstreckte, ehe sie an
einer Kreuzung mit der einzigen eingeschalteten Ampel der Ortschaft endete. Jener sieben Blocks umfassende Abschnitt der Hauptstraße enthielt zwei Gemischtwarenläden, ebenso viele Kneipen, ein Geschäft für Futtermittel und Viehzuchtbedarf, einen Laden, der Überbestände der Army und Navy verkaufte, ein paar Bekleidungsgeschäfte, zwei Restaurants, einen Friseursalon, und die örtliche Billardhalle. Am westlichen Ende der Straße befand sich der Sitz der Bezirksverwaltung. Das zweistöckige Ziegelsteingebäude mit Kuppeldach war vor dem Bürgerkrieg errichtet worden und beherbergte sämtliche Bezirksämter, darunter das Grundbuchamt, das Steuerbüro, die Telefon-, Müllentsorgungs- und Energieverwaltung, das Büro des Bürgermeisters und den Gerichtssaal. Rechterhand grenzte das Bezirksgefängnis an, ein kleiner, einstöckiger Ziegelsteinbau mit Gittern vor allen Fenstern im Obergeschoss. Hinter dem Verwaltungsgebäude lag die Stadtbibliothek von Braddock. Mike parkte den Van zwischen zwei Kleinlastern, stieg aus und ging den langen Bürgersteig entlang zum Verwaltungsgebäude. Bevor er es betrat, hielt er kurz an einer Gedenktafel aus Granit inne und las, dass der Bau im Jahr 1854 auf dem ehemaligen Booneslick Trail errichtet worden war. Laut dem Text war jener Pfad von Daniel Boone und dessen Söhnen im Zuge ihrer Suche nach Salzminen angelegt worden, da Salz in den Tagen des alten Daniel als kostbarer Rohstoff galt. Was die Gedenktafel zu erwähnen vergaß, war der Umstand, dass derselbe Pfad, der Besiedelung und Wohlstand in die Region gebracht hatte, wenige Jahre später – 1863 – von der Regierung der Vereinigten Staaten für die Zwangsumsiedelung der Cherokees und anderer friedlicher Indianerstämme in ihre neue Heimat in Oklahoma benutzt worden war. Auf dem Weg
über den Mississippi nach Missouri hatten die Indianer einen bitteren Winter verbracht, in dem sie wie Vieh Daniel Boones ursprünglichen Salzpfad entlanggetrieben wurden. Tausende waren durch Krankheit, Hunger und die klirrende Kälte gestorben. Allerdings wollte natürlich jede Ortschaft unter den Teppich kehren, dass ihre winzige Gemeinschaft bei jenem Holocaust eine Rolle gespielt hatte. Braddock bildete in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Mike wusste all das nur aus Recherchen für einen seiner Romane. Kopfschüttelnd betrat er das Gebäude. Alle wichtigen Ämter waren im Erdgeschoss untergebracht, deshalb dauerte es nicht lange, den Anschluss einer Telefonleitung und die vorübergehende Nutzung eines Müllcontainers zu beantragen. Da er außerhalb der Stadtgrenzen lebte, brauchte er keine weiteren Versorgungsdienste. Das Wasser im Haus stammte aus einem tiefen Brunnen, und den Müll musste er einmal wöchentlich zu einer etwa anderthalb Kilometer von seinem Grundstück entfernten Sammelstelle schleppen. Einen Kabelfernsehanbieter gab es nicht, folglich fielen MTV und HBO flach, ein Umstand, von dem die Kinder noch nichts wussten. Vielleicht würde er später eine Satellitenschüssel kaufen, um ihnen eine Freude zu bereiten – sofern es etwas Derartiges in Braddock zu kaufen gab. Nachdem er die notwendigen Besorgungen des Tages erledigt hatte, wollte er gerade zum Van zurückkehren, als die Bibliothek von Braddock seine Aufmerksamkeit erregte. Das graue Ziegelhaus stand im Schatten mächtiger Eichen und wirkte wie eine Oase der Kühle an einem ansonsten strahlend sonnigen Tag. Während er dastand und die Bibliothek betrachtete, stiegen ein paar lange vergessene Erinnerungen an die Oberfläche seines Bewusstseins. Als er noch ein Junge gewesen war, hatte
die Bibliothek zu seinen Lieblingsorten gezählt – ein Königreich der Wunder, in dem zwischen den Deckeln Leder gebundener Bücher Träume existierten. Er fragte sich, ob die Bibliothek noch so war, wie er sie im Gedächtnis hatte. Vergiss die Bibliothek. Du musst zurück nach Hause. Dort wartet Arbeit. Jede Menge Arbeit. Du kannst die Nase später in Bücher stecken. Mike runzelte die Stirn. Er musste wirklich zurück. Es war unfair, den ganzen Hausputz Holly und den Kindern zuzumuten. Abermals setzte er sich in Richtung des Vans in Bewegung, dann jedoch überlegte er es sich anders und schritt über das Gras auf die Bibliothek zu. Ein kurzer Blick hinein würde schließlich keine Ewigkeit dauern. Vor dem Gebäude parkten keine Autos, weshalb er sich fragte, ob die Bibliothek womöglich geschlossen hatte. Doch als er den Knauf zu drehen versuchte, öffnete sich die Tür, und eine Glocke bimmelte leise. Er trat ein, blieb unmittelbar hinter der Tür stehen und ließ den Augen Zeit, sich an die plötzliche Veränderung der Helligkeit anzupassen. In der Bibliothek herrschten Düsternis und die Kühle einer Höhle. Der herrliche Duft uralter Bücher erfüllte sie. Mike schloss die Augen, atmete tief ein und fühlte sich einen Lidschlag lang in eine längst vergangene Zeit zurückversetzt. In eine viel einfachere Zeit. Als Junge hatte er unzählige Stunden in der Bibliothek verbracht und gelesen – Fantasy, Kriminalromane und Science-Fiction. Hier war seine Liebe zur Literatur erblüht und hatte die kreative Saat gepflanzt, die ihn später zu einem Schriftsteller werden ließ. »Die Klimaanlage läuft aber nicht kostenlos.« Von der Stimme erschrocken, schlug Mike die Augen auf. Eine grauhaarige Frau, die hinter dem Entleihschalter saß, beobachtete ihn mit einer entschieden missbilligenden Miene. Verlegen schloss er die Tür hinter sich.
»Tut mir Leid«, murmelte er. »Ich hatte wohl gerade einen Tagtraum. Hier bin ich zuletzt als Kind gewesen.« Er sah sich um und löste sich so vom Blick der Frau. »Dieser Ort hat sich nicht die Spur verändert.« »Es besteht kein Grund, Dinge zu verändern, wenn sie nicht kaputt sind.« Ihr Blick wurde milder, und sie lächelte. Mike lächelte zurück. Er trat an den Schalter und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Mike – « »Mike Anthony«, beendete sie den Satz für ihn. »Ich weiß, wer Sie sind. Ich bin Connie Widman. Bitte nennen Sie mich Connie.« »Sie kennen mich?«, fragte er etwas überrascht. Sie lachte herzlich, wobei sich ihre Augenwinkel runzelten. »Selbstverständlich kenne ich Sie. Schließlich stelle ich die Bücher in die Regale, oder? Dabei schaue ich unweigerlich manchmal auf die Buchrücken. Allerdings sehen Sie in Natura etwas anders aus als auf Ihren Fotos. Und ich bezweifle, dass Sie diese Pfeife wirklich rauchen, die Sie fast immer zu halten scheinen.« Mike hüstelte. »Nein. Ich bin kein Pfeifenraucher. Nicht wirklich. Ich habe nur versucht, für die Fotos würdevoll auszusehen, um dem zu entsprechen, wie die Leute sich einen Schriftsteller vorstellen. Meine Frau hielt die Pfeife für eine dumme Idee. Sie meinte, ich sähe albern damit aus.« »Nächstes Mal sollten Sie auf Ihre Frau hören. Frauen haben ein Gespür dafür, was auf einem Foto gut aussieht und was nicht.« Sie lachte. »Trotzdem sehen Sie auf Ihren Bildern auch nicht alberner aus als damals als Junge.« »Sie haben mich schon als Kind gekannt?«, fragte er. »Sie und Ihre Großmutter sind regelmäßig an Samstagen hergekommen. Damals waren Sie spindeldürr, rundum knochig und schienen nur aus Ellbogen und Knien zu bestehen. Auch hatten Sie eine Unmenge an Sommersprossen, wenn ich mich
recht erinnere. Und Sie waren sehr schüchtern. Damals dachte ich immer, Sie hätten Angst vor Ihrem eigenen Schatten. Oft hätte ich am liebsten ›Buh!‹ gerufen, um zu sehen, was geschehen würde. Wahrscheinlich hätten Sie sich in die Hose gemacht.« Mike runzelte die Stirn. »So schlimm war es?« Connie nickte. »Ich glaube, ich habe Sie nie reden gehört. Kein Wort. Ihre Großmutter brachte Sie regelmäßig jeden Samstag mit. Während sie die Zeitungen las und gelegentlich mal in einem Krimi schmökerte, haben Sie den Großteil der Zeit in der Science-Fiction-Abteilung verbracht. Ich hielt Sie für ein sonderbares Kind, weil Sie solches Zeug gelesen haben, aber ich schätze, Sie waren nicht annähernd so sonderbar wie Ihre Großmutter.« Mike senkte den Blick. »Es tut mir Leid«, murmelte Connie kleinlaut. »Das hätte ich nicht sagen sollen, nachdem sie erst unlängst verstorben ist.« Mike hob den Kopf. »Nein, schon gut. Das macht mir nichts. Meine Großmutter war wunderlich, zumindest soweit ich mich an sie erinnern kann. Ich hatte sie nicht mehr gesehen, seit ich als Kind von hier weggeholt wurde, deshalb ist mir nicht viel im Gedächtnis geblieben. Nur Bruchstücke. Ein Großteil meiner Kindheitserinnerungen ist verloren gegangen. Wahrscheinlich aufgrund des Schocks, weil ich meine Eltern verloren habe, als ich noch sehr klein war.« »Ihre Großmutter war mächtig stolz auf Ihren Erfolg. Sie kam oft her und zeigte mir Zeitungsartikel über Sie. Außerdem hat sie darauf geachtet, dass ich all Ihre Bücher in der Bibliothek hatte. Das hatte ich auch, aber ein paar der Ausgaben sind im Verlauf der Jahre verschwunden.« Um das Thema zu wechseln und von seiner Großmutter abzulenken, schlug Mike vor: »Sagen Sie mir einfach, welche
Bücher fehlen, und ich bringe Ihnen gerne Ersatzexemplare. Signiert, wenn Sie möchten. Das ist das Mindeste, was ich für die Bibliothek tun kann, die den Grundstein für meine Karriere gelegt hat.« »Abgemacht«, willigte die Bibliothekarin lächelnd ein. »Ich stelle eine Liste zusammen und gebe sie Ihnen nächstes Mal, wenn Sie herkommen.« Sie plauderten noch eine Weile über seine Laufbahn als erfolgreicher Autor, über Veränderungen in der Ortschaft seit seinem Wegzug und ein wenig über den örtlichen Klatsch. Außerdem gab Connie ihm den Namen und die Telefonnummer eines Mädchens im Teenageralter aus dem Ort, das seine Dienste als Babysitterin anbot, falls er und Holly mal ausgehen wollten. Mike verließ die Bibliothek mit dem Gefühl, dass er einen kleinen Teil seiner lange verlorenen Kindheit wiedererlangt hatte. Einige weitere Erinnerungsbrocken waren aus den Tiefen seines Unterbewusstseins aufgestiegen und hatten sich in das Puzzle seines Gedächtnisses gefügt. Dennoch fehlten noch etliche Teile.
KAPITEL 3
Die Handwerker trafen früh am Donnerstagmorgen in einer geräuschvollen Parade aus vier Pritschenwagen und einem Kleinlaster ein. Mittlerweile hatten Mike, Holly und die Kinder mehrere Tage Reinigungsarbeiten hinter sich und genug Müll aus dem Haus geschafft, um den grünen Container davor bis zum Anschlag zu füllen. Zumindest konnten die Handwerker nun ins Haus, um die Reparatur- und Verbesserungsarbeiten vorzunehmen, für die sie angeheuert worden waren. Mike stand auf der Veranda und beobachtete, wie zehn Männer aus der Ansammlung von Fahrzeugen stiegen. Mit Kaffeebechern und Zigaretten in den Händen wuselten sie herum, während sie warteten, bis ihr Boss eintraf. Der Vorarbeiter der Firma, ein Mr. Charles »Chuck« Strickland, kam wenige Minuten später in einem hellgrünen Cadillac an. Er besaß eine beeindruckende Statur, war vermutlich über einen Meter neunzig groß und um die hundertzwanzig Kilo schwer. Seine Haut war von der Sonne bronzebraun gebrannt, zwischen seinen Zähnen klemmte ein Zigarrenstummel. Trotz seiner Masse wirkte er alles andere als fettleibig. Stattdessen vermittelte er den Eindruck, längere Zeit im Marinekorps gedient oder ein paar Jahre als Profiringer verbracht zu haben. Während die Arbeiter vor der Ankunft ihres Chefs schläfrig und unwillig gewirkt hatten, sich zu schnell zu bewegen, nahmen sie schlagartig eine regelrechte Habachtstellung ein, als er auftauchte. Zigaretten wurden hastig ausgedrückt, Kaffee rasch ausgetrunken und weiße Overalls angezogen, dann begannen sie emsig, Werkzeug und Material aus den Wagen zu
laden. Mike hätte angesichts des plötzlichen Haltungsumschwungs der Arbeiter beinah laut aufgelacht. Stattdessen begnügte er sich mit einem Lächeln und trat von der Veranda, um den Polier zu begrüßen. »Guten Morgen«, sagte Mike, als er sich dem Cadillac näherte. »Sie und Ihre Mannschaft sind ja angenehm früh dran.« Chuck stieg aus dem Auto aus und schloss die Tür hinter sich. »Wir versuchen immer, pünktlich zu sein«, gab er zurück und schüttelte Mike die Hand. »Obwohl es manchmal schwierig ist, die Jungs frühmorgens in Schwung zu kriegen, besonders bei einem Projekt dieser Größe.« Er bemerkte den randvollen Müllcontainer und nickte in dessen Richtung. »Sieht so aus, als wären Sie selbst schon fleißig gewesen. Haben Sie uns noch Arbeit übrig gelassen oder schon alles selbst erledigt?« Mike schaute zum Container. »Keine Sorge, es gibt noch reichlich zu tun, das können Sie mir glauben. Wir wollten Ihnen nur das schlimmste Chaos aus dem Weg räumen.« »Das war ja richtig entgegenkommend von Ihnen.« Chuck grinste. »Wenn Sie mir zeigen, was alles zu machen ist und wo wir anfangen sollen, dann setze ich diese Jungs in Bewegung, bevor sie auf die Idee kommen, dass eigentlich eine weitere Kaffeepause angebracht wäre.« Mike nickte und führte Chuck ins Haus. Er zeigte ihm, welche Reparaturen anstanden und für welche Räume welche Böden vorgesehen waren. Die Belege und die Linoleumfliesen für die Küche waren bereits im Vorfeld ausgewählt worden und befanden sich im Lieferwagen, aber Mike musste noch bestätigen, wohin was kommen sollte. Chuck fertigte sich in jedem Raum sorgfältig Notizen an, um zu gewährleisten, dass keine Fehler gemacht würden. Dann erstellte er einen Auftragszettel, der die Arbeitskosten auswies und den Mike
unterschreiben musste. Der Preis für die Bodenbelege und die Farben war bereits im Vorhinein telefonisch ausverhandelt worden. Als sie zurück ins Freie gingen, wurde Mike aufgefordert, die Teppichböden und Linoleumfliesen zu überprüfen, bevor sie ausgeladen wurden. »Sonst noch etwas?«, fragte Mike, als er damit fertig war und vom Lieferwagen zurücktrat. »Nein, das sollte es gewesen sein«, antwortete Chuck und zündete sich seine Zigarre wieder an. »Vorerst jedenfalls. Irgendetwas Unerwartetes tritt während der Arbeiten fast immer auf.« Er drehte sich um und betrachtete das Bauwerk. »Haben Sie daran gedacht, das Haus ausräuchern zu lassen? In einem so alten Gemäuer wimmelt es wahrscheinlich vor Insekten.« Mike widerstand dem Drang zu lachen. »Meine Großmutter hatte eine ausgeprägte Insektenphobie. Sie hat ständig dagegen gesprüht. Ich bezweifle, dass es notwendig ist, das Haus ausräuchern zu lassen.« Chuck nickte. »Ich werde den Jungs trotzdem sagen, sie sollen die Augen offen halten, wenn wir die alten Böden rausreißen. Wäre schade um all die Arbeit, wenn Sie einen Monat später rausfinden müssten, dass die Hütte von Termiten verseucht ist.« Damit schloss Chuck die Hecktüren des Lieferwagens, scheuchte seine Männer an die Arbeit und wies sie an, welche Räume als erste an die Reihe kamen. Mike beruhigte das Wissen, dass es im Haus bald mehr wie in einem richtigen Heim denn wie in einem Schweinestall aussehen würde. Allerdings würde es bis dahin noch ein Weilchen dauern, denn als die zehn Männer damit begannen, überall im Haus neue Böden zu verlegen, die Fliesen in der Küche auszutauschen und die Zimmer sowie den Flur neu auszumalen, entstand zunächst nur weiteres Chaos. Bald lagen überall Schutzfolien,
Stofffetzen und Reste alter Bodenbeläge verstreut, die es genauso schwierig gestalteten, sich durch das Haus zu bewegen, wie es ursprünglich bei ihrer Ankunft gewesen war. Und wenngleich der Gestank von Desinfektionsmittel, Insektenspray und Mottenkugeln verschwand, trat an seine Stelle jener von Farbe, Verdünner, neuen Böden und Chucks billiger Zigarren. Holly und Mike hatten sich für beige Böden im gesamten unteren Stockwerk entschieden, für hellblaue und grüne in den oberen Zimmern. Mit Ausnahme der Bibliothek wurden unten alle Räume weiß. Das Ausmalen erwies sich als ziemliche Herausforderung, denn es bedurfte mehrerer Farbschichten, um das hässliche Dunkelgrün zu überdecken. Außerdem mussten im Flur die Löcher gekittet und die alten Tapeten entfernt werden, bevor mit dem Ausmalen begonnen werden konnte. Oben gestaltete es sich einfacher, weil die Farbe der Zimmer beinah dem Farbton der zu verlegenden Bodenbeläge entsprach. Es war kurz nach zwölf Uhr mittags, als Chuck vom Flur unten nach Mike rief. Der Polier unterhielt sich mit einem seiner Arbeiter über die Löcher in den Wänden. »Stimmt etwas nicht?«, erkundigte sich Mike, als er auf die beiden Männer zuging. Chuck schüttelte den Kopf. »Alles in Ordnung, nur sind wir auf etwas Eigenartiges gestoßen.« »Tatsächlich?«, fragte Mike. »Und was?« »Sie sagten, dass Ihre Großmutter vor Ihnen hier gewohnt hat. War sie die Erstbesitzerin des Hauses oder hat sie es jemandem abgekauft?« »Soweit ich weiß, war sie die Erstbesitzerin. Ich glaube, sie ließ es irgendwann in den 1940ern bauen. Warum?« Chuck kratzte sich am Kopf. »Es sind diese Löcher. Die meisten sehen aus, als wären sie mit einem Hammer gemacht
worden, fast so, als hätte jemand zum Spaß auf die Wände eingedroschen. Die meisten, aber nicht alle. Das hier hat Larry aus der Wand gekratzt.« Er öffnete die Hand und offenbarte drei runde, graue Metallstücke. Mike ergriff eines davon und betrachtete es eingehend. »Das sind Kugeln«, stellte er fest. Chuck nickte. »Aus dem Stegreif würde ich sagen, aus einem 38er Revolver abgefeuert.« Verwirrt sah Mike den Arbeiter an. »Und die haben Sie in der Wand entdeckt?« Larry nickte. »Genau. Es könnten noch mehr sein – so genau habe ich nicht geschaut.« »Das ergibt keinen Sinn«, meinte Chuck. »In eine tadellose Wand zu schießen, ist nicht unbedingt etwas, das eine Frau normalerweise tun würde. Bei einem Mann könnte ich es noch eher verstehen. Ein Bursche lebt hier ganz allein, besäuft sich eines Abends und beschließt, ein wenig mit seiner Kanone rumzuballern. Was soll’s, denkt er sich. Ist doch bloß ne Wand, und die Löcher kann man einfach zukitten. Vielleicht ist ihm auch gerade die Freundin davongelaufen, und er muss Dampf ablassen. Aber eine Frau… Frauen machen so etwas nicht.« »Höchstens, wenn sie auf etwas geschossen hat«, erwiderte Mike und betrachtete die Wand. »Sie meinen, sie könnte auf jemanden gezielt haben?«, fragte der Vorarbeiter. »Keine Ahnung«, gab Mike schulterzuckend zurück. »Vielleicht.« Chuck überlegte kurz. »Womöglich haben Sie Recht. Könnte ja sein, dass eines Nachts jemand hier eingebrochen ist. Wenn ja, hat denjenigen wohl eine ziemliche Überraschung erwartet.«
Holly kam mit ihrer Tasche in der Hand aus der Küche. Sie wollte gerade dazu ansetzen, etwas zu sagen, doch Mike unterbrach sie, indem er ihr die Kugel reichte. »Was ist das?«, fragte sie. »Wonach sieht es denn aus?« »Nach einer Kugel. Wo hast du die her?« »Larry hat sie aus der Wand geholt. Anscheinend hat meine Großmutter das Haus als Schießstand verwendet. Oder vielleicht ist mal jemand eingebrochen, den sie davon überzeugt hat, es nie wieder zu versuchen.« »Eingebrochen?« Ein nervöser Blick huschte über ihre Züge. »Wird denn hier in der Gegend öfter eingebrochen?« »Ist mir noch nie zu Ohren gekommen«, beruhigte sie Chuck. »Die meisten Leute in der Umgebung schließen nachts nicht mal die Türen ab.« »Vielleicht sollten sie das«, meinte Mike. Holly runzelte die Stirn. »Wenn deine Großmutter eine Pistole hatte, muss sie noch irgendwo hier im Haus sein. Wir sollten besser danach suchen, bevor die Kinder sie finden.« »Wir haben doch bereits alles durchgesehen«, entgegnete Mike. »Ich glaube nicht, dass die Waffe noch im Haus ist. Wahrscheinlich haben wir sie zusammen mit dem ganzen anderen Müll rausgeworfen, ohne es zu merken. Aber ich werde mich trotzdem noch mal umsehen. Sicher ist sicher.« »Ich helfe dir«, bot Holly ihm an. Er blickte auf die Tasche in ihrer Hand hinab. »Sieht so aus, als wolltest du gerade irgendwohin.« Holly schaute ebenfalls auf die Tasche, als hätte sie völlig vergessen, was sie damit vorgehabt hatte. »Ach ja, ich wollte in die Stadt, um ein paar Lebensmittel einzukaufen, aber das kann warten, bis wir nach der Pistole gesucht haben.« »Nein, fahr du nur. Wird dir gut tun, mal eine Weile aus dem Haus wegzukommen. Ich suche die Waffe.«
»Na, gut, wenn du meinst«, willigte sie zögerlich ein. »Aber sei vorsichtig. Sie könnte noch geladen sein.« »Vorsichtig? Teufel auch, wenn ich das Ding finde, will ich damit schießen.« Mike grinste. »Mal sehen, ob ich nicht noch ein paar Löcher in die Wand ballern kann, bevor der Tag rum ist.« Holly lächelte. »Aber mach’s im Flur. In meiner Küche dulde ich keine Schießerei. Wenn ich auch nur ein einziges Loch in einer meiner Pfannen finde, kannst du was erleben.« »Kein Rumballern in der Küche. Verstanden.« Mike umarmte sie kurz, dann schickte er sie los zum Einkaufen, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Er setzte dazu an, Chuck die 38er Kugel zurückzugeben, dann jedoch beschloss er, sie als Souvenir zu behalten. Er fragte sich, weshalb seine Großmutter eine geladene Schusswaffe im Haus gehabt hatte und worauf sie geschossen haben mochte. Tatsächlich auf Einbrecher? Auf Herumtreiber? Oder auf Schatten? Vermutlich würde er es nie erfahren.
Eigentlich brauchte Holly keine Lebensmittel. Die Vorratskammer war bereits prall gefüllt. Was sie tatsächlich brauchte, war eine Auszeit von dem Chaos, das ihr neues Zuhause beherrschte. Sie hatte den Lärm und die Unordnung satt. Ebenso den Geruch der billigen Zigarren, die dieser Chuck im Haus rauchte, obwohl sie Mike mehrfach gebeten hatte, dem Mann zu sagen, dass er damit nach draußen gehen soll. Was sie brauchte, war eine Dosis Ruhe und Frieden, und wenn es notwendig war, dafür einkaufen zu fahren, sollte es ihr recht sein. Lieber wäre sie alleine losgezogen, aber Megan hatte sie regelrecht angefleht, sie begleiten zu dürfen. Auch sie empfand die Handwerker als primitiv und widerlich, besonders jene mit
der ärgerlichen Angewohnheit, sie als »Süße« oder »Herzchen« zu bezeichnen. Tommy hingegen faszinierten all die Arbeiten rings um ihn. Er zog es, vor, zu bleiben und seinem Vater zu helfen, die Arbeiter zu beaufsichtigen. Der Achtjährige grinste übers ganze Gesicht, als ihm einer der Handwerker erlaubte, seinen Hammer zu tragen. Der Ausflug zum Supermarkt begann recht routinemäßig. Holly entschied sich für den Kroger-Laden am östlichen Ende der Hauptstraße, den sie dessen Konkurrenten IGA vorzog, weil er größer und moderner war. Außerdem bot er eine recht ansprechende Auswahl an Feinkost, die im anderen Geschäft gänzlich fehlte. Während Holly einen Einkaufswagen vor sich herschob, wählte sie verschiedene Schnellgerichte aus. Daneben stockte sie ihren Vorrat an Reinigungsmitteln auf und fragte sich, ob das Schrubben, Abstauben und Bodenwischen in ihrem neuen Haus je ein Ende nehmen würde. Sie hoffte es aufrichtig, weil ihre Hände – obwohl sie während des Putzens die meiste Zeit Gummihandschuhe trug – allmählich auszusehen begannen wie etwas aus einem wirklich schlechten Gruselfilm. Was sehnte sie sich doch nach einer angenehmen Maniküre, einem beschaulichen Abendessen und einem guten Glas Rotwein… Hör auf zu träumen. Das feine Leben ist Geschichte. Du bist jetzt ein hart arbeitendes Landmädchen. Mit manikürten Nägeln kann man keine Heuballen umherhieven, Felder pflügen und Kühe melken. Während sie einkauften, beschlich Holly das sonderbare Gefühl, dass sie und Megan beobachtet wurden. Zunächst dachte sie sich nichts dabei und schrieb es ihrer Müdigkeit zu, doch mehrere Male, wenn sie etwas aus einem Regal ergriff und sich umdrehte, starrte einer der anderen Kunden sie an. Einige derer, die sie dabei ertappte, wandten rasch den Blick
ab, als wären sie bei etwas Verbotenem erwischt worden. Andere starrten sie weiter unverhohlen an. »Mom, was ist denn?«, fragte Megan, die anscheinend die sorgenvolle Miene ihrer Mutter bemerkt hatte. »Was?« Sie schaute zu ihrer Tochter und schüttelte den Kopf. »Ach, gar nichts, Liebes. Ich bin bloß ein wenig zerstreut und habe gerade überlegt, was ich heute zum Abendessen kochen soll, das ist alles.« »Aber warum glotzen uns alle so an?« »Anglotzen? Was meinst du?«, gab Holly zurück und sah sich um, als hätte sie nichts davon bemerkt. »Die Leute’ beobachten uns andauernd, als ob sie denken, dass wir etwas klauen wollen. Und nicht nur die Angestellten. Die Kunden auch.« Holly zwang sich zu einem Lachen. »Wahrscheinlich liegt das daran, dass wir neu in der Stadt sind. Oder vielleicht fragen sie sich, woher zwei so unverschämt hübsche Frauen kommen könnten. Ich bin sicher, mehr ist nicht dran. Schenk ihnen einfach keine Beachtung.« »Mir ist das aber unheimlich.« »Es hat noch niemandem wehgetan, angeglotzt zu werden. Und wenn sie dich allzu lästig anstarren, dann starr einfach zurück.« Megan lächelte gequält und machte sich wieder daran, den Einkaufswagen zu beladen. Holly entspannte sich ein wenig und empfand Erleichterung darüber, dass es ihr offenbar gelungen war, ihre Tochter zu beruhigen. Als in New York aufgewachsenes Kind war sie an Verschrobenheiten anderer gewöhnt, rechnete manchmal fast damit, doch dies war nicht New York. Von einer Kleinstadt mitten in Missouri erwartete man etwas anderes. Mehr Freundlichkeit. Vermutlich waren die Einheimischen tatsächlich nur neugierig auf die neuen Gesichter in der Stadt. Oder vielleicht fanden sie, dass eine
recht attraktive Mutter und ihre Tochter es wert waren, einen Blick auf sie zu riskieren. Woran es auch liegen mochte, als sie sich schließlich zur Kasse begaben, fühlte auch sie sich restlos entnervt von den starrenden Blicken, die sie verfolgten. Nachdem Holly die Einkäufe auf den Tresen gelegt hatte, begann sie, einen Scheck zu schreiben, doch dann fiel ihr ein, dass man einen auf eine Bank außerhalb der Stadt ausgestellten Scheck wahrscheinlich nicht akzeptieren würde. Sie hatte vorgehabt, ein neues Konto bei der Bank im Ort zu eröffnen, aber über all dem Putzen hatte sie es völlig vergessen. Panik keimte in ihr auf, als sie das Scheckbuch zurück in die Tasche steckte und nach Bargeld zu suchen anfing, um den Einkauf zu bezahlen. Es war zu spät, noch etwas zurückzulegen, denn die Kassiererin war bereits eifrig damit beschäftigt, alles einzugeben. »Mist«, fluchte sie leise und schob ihre Puderdose beiseite, um das versteckte Seitenfach in ihrer Handtasche zu öffnen. »Was ist denn, Mom?«, fragte Megan und legte die Fernsehzeitschrift hin, in der sie geblättert hatte. »Ach, nichts, Liebes. Ich habe nur vergessen, dass man hier einen Scheck aus einem anderen Bundesstaat wahrscheinlich nicht annimmt. Ich dürfte nicht genug Bargeld dabeihaben, um alles zu bezahlen.« »Ich habe auch Geld mit«, erwiderte Megan, öffnete ihre Handtasche und kramte eine zerknüllte Zwanzig-Dollar-Note sowie ein paar Ein-Dollar-Scheine hervor. »Hilft dir das?« »Ja, Liebes, danke.« Holly nahm das Geld aus der Hand ihrer Tochter entgegen und stellte plötzlich fest, dass sie im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit an der Kasse stand. Die starrenden Blicke, die sich auf sie geheftet hatten, wurden nicht mehr verhohlen. Niemand versuchte mehr, sie zu verbergen. Sie spürte, wie ihr Schamesröte das Gesicht wärmte, als sie das restliche Geld aus der eigenen Tasche holte
und es dem hinzufügte, das Megan ihr gegeben hatte. Zwanzig. Dreißig. Fünfunddreißig. Vierzig. Achtundvierzig Dollar. Mehr als genug, um ihren Einkauf zu bezahlen. Gott sei Dank, dachte sie und widerstand dem Drang, die anderen Kunden anzubrüllen, sie sollten sie nicht so anglotzen. Mit nach wie vor geröteten Zügen wartete Holly, während die Kassiererin die Gesamtsumme ermittelte. Dann reichte sie dem Mädchen zwei Zwanziger und einen Fünfer und nahm ihr Wechselgeld sowie den Kassenbon in Empfang. Anschließend lud sie die Tüten in den Einkaufswagen und steuerte auf den Ausgang zu. Dabei wagte sie nicht, sich umzudrehen, weil sie immer noch die bohrenden Blicke der anderen Kunden im Rücken spürte. Sobald sie draußen war, fühlte Holly sich schlagartig besser. Es schien töricht, sich von ein paar neugierigen Augen dermaßen aus der Fassung bringen zu lassen, aber sie konnte nichts dagegen tun. Es widerstrebte ihr zutiefst, angestarrt zu werden, vor allem, wenn sie nicht wusste, weshalb. Hatte sie einen Riss in der Hose gehabt, durch den ihr Hintern hervorgelugt hätte, oder schillernd violette Haare, hätte sie das Gaffen der Leute verstehen können, doch es gab einfach keinen Grund, der ihr einfiel. Nur, um ganz sicher zu gehen, fuhr sie sich rasch mit der Hand über den Hinterteil der Hose. Nein. Kein Riss. Rechterhand der zweiflügeligen Ausgangstür befand sich ein Zeitungsständer, der die neueste Ausgabe der Braddock Tribune enthielt, der wöchentlich erscheinenden Zeitung des Ortes. Holly kramte in ihrer Geldbörse nach fünfzig Cent und kaufte ein Exemplar. Sowohl sie als auch Mike brannten darauf, mehr über die neue Gemeinde zu erfahren, die sie nun ihr Zuhause nannten, und es gab keine bessere Möglichkeit, um damit anzufangen, als das Lokalblatt.
Sie wollte die Zeitung gerade in eine der Einkaufstüten stecken, als ihr auf der Rückseite ein PR-Foto von ihr und Mike auffiel. Das Bild begleitete ein Artikel darüber, dass ein Bestsellerautor mit seiner Familie in die Gegend gezogen war. »Herrgott. Kein Wunder, dass uns alle angestarrt haben.« »Lass mal sehen«, bat Megan und trat näher, um das Foto zu betrachten. Holly hielt die Zeitung schräg, um es ihr zu zeigen, dann überflog sie rasch, was über ihren Mann geschrieben worden war. Der Artikel beschränkte sich auf das Wesentliche und enthielt lediglich, was bereits in der Vergangenheit über Mike berichtet worden war. Man hatte weder mit ihr noch mit ihm wegen des Artikels Verbindung aufgenommen, weshalb sie vermutete, dass ein Großteil der Informationen aus anderen Zeitungen und Zeitschriften stammte. Allerdings wurde sehr wohl erwähnt, dass Mike früher in Hudson County gelebt hatte und dass seine Großmutter eine langjährige Bewohnerin der Gegend gewesen war. Das war sonst noch nirgends über Mike geschrieben worden, aber für die Einheimischen stellte es wahrscheinlich keine Neuigkeit dar. »Sie hätten das Foto wenigstens auf der Titelseite bringen können«, meinte sie lächelnd, faltete die Zeitung zusammen und verstaute sie in einer der Einkaufstüten. Sie wandte sich Megan zu. »Wie fühlt es sich an, prominent zu sein?« »Es nervt«, gab ihre Tochter zurück. Holly lachte auf. »Tja, gewöhn dich schon mal daran. In einer Kleinstadt wie dieser gibt es wahrscheinlich nicht allzu viele Berühmtheiten, über die man tratschen kann.« »Oder die man anstarren kann.« Nach einem letzten Blick zurück auf den Lebensmittelladen schob Holly den Einkaufswagen über den Parkplatz. Sie befand sich auf halbem Weg zum Van, als sie einen alten Mann erspähte, der mit raschen Schritten auf sie zulief. Er war
schlank und dunkelhäutig, besaß ein von der Sonne ledrig gegerbtes Gesicht und lange, graue Haare, die ihm auf die Schultern fielen. Um den Hals trug er eine Kette aus Silberperlen, während Türkisringe die meisten seiner Finger zierten. Seine Kleider waren dreckig, zerknittert und sahen so aus, als hätte er in ihnen geschlafen. Als er sich näherte, stellte Holly fest, dass er laut mit sich selbst redete und hektische Gesten mit den Händen und dem Kopf vollführte. Insgesamt wirkte er wie ein verstörter Obdachloser, vermutlich ein Indianer und wahrscheinlich verrückt. Womöglich sogar gefährlich. Ohne die Augen von dem herannahenden Mann zu lösen, schob Holly den Einkaufswagen schneller und eilte auf den Van zu, wenngleich sie und Megan unmöglich die Einkäufe in den Wagen laden und wegfahren könnten, bevor er sie erreichte. »Scheiße«, flüsterte Holly. Sie warf Megan den Autoschlüssel zu. »Steig ein und verriegle die Türen.« »Was? Warum?« Megan hatte die verwahrloste Gestalt noch nicht bemerkt – erst, als sie sich umdrehte, erblickte sie den alten Mann, der auf sie zueilte. Furcht huschte über ihre Züge. »Was ist mit dir, Mom?«, fragte Megan und spähte an ihrer Mutter vorbei auf den heruntergekommenen Greis. »Tu einfach, was ich dir sage.« Megan gehorchte. Sie lief voraus, sperrte die Beifahrertür des Vans auf, stieg ein und verriegelte die Tür hinter sich. Mit dem Wissen, dass ihre Tochter sich in Sicherheit befand, schwenkte Holly den Einkaufswagen in die Richtung des herannahenden Mannes, um sich ihm zu stellen. Mit den Händen tastete sie in einer der Einkaufstüten nach einer behelfsmäßigen Waffe, um sich im Notfall zu verteidigen. Ein paar Schritte von ihr entfernt blieb der Greis stehen und starrte sie mit leicht schief gelegtem Kopf an.
»Was wollen Sie von mir?«, verlangte Holly zu erfahren und hoffte, dass die Kunden im Lebensmittelladen sie beobachteten, falls etwas geschehen sollte. »Was ich will? Was ich will?«, wiederholte der alte Mann und schien, sie zu verhöhnen. Er fuhr sich mit einer verdreckten Hand durch die Haare, dann schlug er in die Luft. »Die Frage ist: Was wollen sie?« »Wer?«, hakte Holly nach. »Die Schreckgespenster«, antwortete er und sah sich hastig um, als würde er verfolgt. »Was wollen sie? Was wollen sie immer? Das ist die Frage. Ja, das ist sie.« Der alte Mann wedelte mit den Armen über dem Kopf. Holly wich einen Schritt zurück. »Sie werden es erleben. Sie werden es erleben«, sagte er eindringlich. »Sie werden die Frage herausfinden, aber nicht die Antwort. Fragen Sie einfach Sam Tochi. Sam weiß alles über die Schreckgespenster, aber niemand glaubt mir. Nein, nein. Aber Sie werden es erleben. Und ob Sie das werden. Sie haben ihr Haus.« Damit wankte er an ihr vorbei und ließ sie wie benommen, verwirrt zurück. Holly drehte sich um und beobachtete, wie er den Parkplatz überquerte, am Bürgersteig nach links bog und den Weg die Straße hinab fortsetzte. Sie sah ihm nach, bis er außer Sicht geriet, dann schüttelte sie den Kopf und seufzte vor Erleichterung. Braddock entpuppte sich nach und nach als recht merkwürdiger Ort. Erst ein von Kugeln durchsiebtes Haus voll Müll, dann starrende Kunden eines Lebensmittelladens und zuletzt ein verrückter alter Indianer, der von Schreckgespenstern schwafelte. Wahnsinn in Reinkultur. Es musste wohl etwas in der örtlichen Wasserversorgung sein. Anders ließ es sich kaum erklären. Als Holly hinabschaute, stellte sie fest, dass sie zur Verteidigung eine Gurke gezückt hatte, wenngleich sie sich
nicht erinnern konnte, das Gemüse aus der Tüte gezogen zu haben. Eine Gurke zum Schutz? Etwas gezwungen lachte sie auf. »Ich glaube, allmählich werde ich genauso verrückt wie die Einheimischen hier.«
KAPITEL 4
Die Möbel trafen am folgenden Morgen ein. Der große Mayflower-Umzugslaster musste sich zwischen den Bäumen am Ende der Auffahrt hindurchzwängen. Der Wagen war ein willkommener Anblick, doch Mike und Holly weigerten sich, zu enthusiastisch zu werden, weil sie fürchteten, dass die Hälfte ihres Inventars auf der langen Reise aus New York zerbrochen oder zumindest beschädigt worden sein könnte. Die Handwerker hatten die Mal- und Bodenlegerarbeiten im Erdgeschoss bereits abgeschlossen, somit konnten alle Möbel und sämtliche Kartons abgeladen werden. Mike und Holly zeigten den Möbelpackern, wohin die größeren Stücke sollten, dann legten sie bei den Kartons selbst mit Hand an. Auch die Kinder halfen, wenngleich sie nur jene Schachteln trugen, auf denen ihre Namen standen. Sogar Pinky beteiligte sich – der große Kater beschnupperte gewissenhaft jedes Teil, das ins Haus geschleppt wurde. Holly verscheuchte ihn mehrere Male, weil sie fürchtete, dass einer der Arbeiter über ihn stolpern könnte, doch er kam ständig zurück. Gegen Mittag war der Laster vollständig entladen, und die meisten Möbel hatten den Weg in jene Räume gefunden, in denen sie bleiben sollten. Holly bereitete Sandwichs für alle vor, dann begann sie mit dem Auspacken der Kartons. Die Möbelpacker brachen kurz nach dem Essen mit einem Scheck über $ 1.200 in der Hemdtasche des Fahrers wieder auf. Das Reservezimmer mit Anbindung zur Bibliothek sollte Mikes Büro werden. In leerem Zustand schien der Raum reichlich Platz zu bieten, doch mit einem Walnussschreibtisch, einem Computerset, vier Aktenschränken, einem
Schreibmaschinentischchen, Regalen, zwei Bürostühlen und einem kleinen Holztisch für eine Kaffeemaschine und ein Faxgerät wirkte er ziemlich beengt. Noch waren der Schreibtisch und die meisten anderen Möbel unter dem Berg brauner Kartons voll Manuskripten, Exemplaren seiner Romane und verschiedenen wichtigen Unterlagen kaum zu sehen. Mike entfernte zwei Kartons vom Drehsessel, setzte sich und sah sich um, versuchte, ein erstes Gefühl für seinen neuen Arbeitsplatz zu entwickeln. Er hatte den Schreibtisch vor dem Fenster aufgestellt, das hinter das Haus wies und den Obstgarten sowie den Wald dahinter überblickte. Er überlegte, ob ihn die Aussicht beim Schreiben ablenken würde, gelangte jedoch zu dem Schluss, dass er lieber die Aussicht als eine nackte Wand vor sich hatte. Außerdem konnte er die Vorhänge zuziehen, sollte er zu sehr ins Tagträumen geraten. Sein Computer Marke Gateway 2000 stand in einem Schutzkarton auf dem Schreibtisch. Mehr als alles andere wollte er das System anschließen, denn ohne den Computer war sein Arbeitsplatz kein richtiges Büro. Allerdings wusste er, dass er dann sofort den Drang verspüren würde, sich hinzusetzen und zu schreiben, und es gab noch zu viel Arbeit zu erledigen. Außerdem wäre es egoistisch gewesen, sich zuerst seinem Büro zu widmen und den Rest des Hauses zu ignorieren. Wobei ihm natürlich völlig klar war, dass die Kinder sich oben darauf konzentrierten, ihre Zimmer einzurichten, während Holly sich auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs in dem Zimmer aufhielt, das ihr Atelier werden sollte. Mike konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Vielleicht war es das, was sie alle brauchten: ein wenig Zeit alleine in ihren jeweiligen Zimmern, um etwas Ordnung zurück in ihr Leben zu bringen. In den vergangenen zwei Wochen hatte
ständig Hektik geherrscht, und niemandem von ihnen war viel Zeit für sich selbst vergönnt gewesen. Dennoch hätte er sich schuldig dabei gefühlt, sein Büro einzurichten, und zum Schreiben würde er ohnehin erst in den nächsten Tagen kommen. Sollten die Kinder sich ruhig um ihre eigenen Dinge kümmern, er würde trotzdem mit dem Auspacken in den Familienräumen beginnen. Mike verließ sein Büro und überquerte den Flur, um nachzusehen, wie Hollys Atelier sich entwickelte. Da sie in dem Raum auf Leinwand malen würde, war über den Holzboden kein neuer Teppichbelag verlegt worden. Verschüttete Öl- und Acrylfarben ließen sich wesentlich einfacher von Holz abwaschen als aus einem Teppich schrubben. Als er das Zimmer betrat, stellte er fest, dass seine Frau keine Zeit verschwendet und sich bereits eingerichtet hatte. Ihre Staffelei hatte sie an der Wand gegenüber dem Fenster aufgestellt, wo sie das beste natürliche Licht nutzen konnte. Die an den Holzrahmen geklemmte Schwenklampe würde die Beleuchtung übernehmen, wenn Mutter Natur sich nicht von ihrer besten Seite zeigte. Neben der Staffelei und ein paar Regalen für Zubehör brauchte sie wenig. Sie musste nur noch ihre Farbtuben und töpfe, Pigmente und Versiegelungsmittel auspacken und die Pinsel und Schwämme in der richtigen Ordnung auflegen. Ein Regalblock würde Hollys Sammlung von Kunstbüchern und magazinen beherbergen, während der Schrank Stauraum für zahlreiche ihrer Gemälde bieten würde. »Mensch, hier sieht’s ja aus, als wärst du bereit, jederzeit loszulegen.« Holly drehte sich um und schenkte ihm ein Lächeln. »Ich wünschte, dem wäre so. Aber ich muss noch das ganze Zubehör auspacken und kann mich nicht erinnern, was in
welchem Karton ist. Ich wusste, ich hätte etwas mehr als bloß ›Kunstzubehör‹ draufschreiben sollen, als ich alles eingepackt habe.« Mike grinste. »Stell dir bloß vor, was für einen Spaß du haben wirst, wenn du die Kartons öffnest. Da du nicht weißt, was drin ist, wird jeder Karton zu einer neuen Überraschung.« »Darauf könnte ich verzichten«, gab sie zurück. »Wie sieht’s in deinem Büro aus? Alles eingerichtet und bereit für den nächsten großen Roman?« »Nicht annähernd. Ich habe noch nicht mal angefangen«, antwortete er. »Mir geht’s so ähnlich wie dir: Ich weiß nicht, wo ich zuerst angreifen soll.« Holly lachte. »Das ist einfach. Du packst als Erstes die Kaffeemaschine aus. Wir wissen beide, dass du keine zwei Worte aneinander reihen kannst, wenn du nicht vorher eine Tasse Kaffee hattest.« »Die Kaffeemaschine wird auch das Erste sein, was ich auspacke, aber ich bin nicht sicher, was ich danach angehen soll. Ich habe mit dem Gedanken gespielt, den Computer anzuschließen, nur das dauert eine Weile, und es gibt noch so viel Arbeit, die vorher erledigt werden muss. Ich glaube, ich lasse das Büro noch, bis das Wohnzimmer und die Räume oben fertig sind.« Holly sah sich um. »Ich helfe dir, sobald ich einen Teil von dem Zeug hier verstaut habe. Ich werd nicht lange dafür brauchen.« »Lass dir Zeit«, erwiderte er. »Das Letzte, was wir in diesem Haus brauchen, ist eine nervöse Künstlerin.« »Nervös? Wer ist hier nervös?«, fragte sie und rang mit einer unruhigen Bewegung die Hände. Dann grinste sie und hauchte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Ich komme dir in einer Minute helfen.« »Sicher.« Ebenfalls grinsend verließ er das Zimmer.
Da er ahnte, dass die Kinder ihn in Beschlag nehmen würden, um Wandschmuck aufzuhängen, falls er nach oben ginge, beschloss er, stattdessen mit dem Wohnzimmer zu beginnen. Die Umzugsleute hatten den Geschirrschrank, den Fernseher und die Möbel bereits dort aufgestellt, wo Holly sie haben wollte, somit blieb wenig zu tun, außer die Kartons durchzusehen und sie in jene aufzuteilen, die nach oben gehörten, und jene, die im Erdgeschoss blieben. In den Schachteln für das Wohnzimmer selbst befand sich überwiegend Dekor: Familienfotos und -porträts, Gemälde, Hollys Kristalldrachensammlung, seine Antiquitätensammlung sowie verschiedener sonstiger Nippes und Kuriositäten. Er sah sich um und entdeckte jenen Karton, der ihm mehr als alle anderen bedeutete, die Wohnzimmergegenstände enthielten. Das Wort »Stoker« zierte alle Seiten der Schachtel, sorgfältig in dicken, schwarzen Lettern mit Textmarker geschrieben. Mike hielt den Atem an, als er sie öffnete, und betete, der Inhalt möge die lange Reise unbeschadet überstanden haben. Erleichtert seufzte er, als er sah, dass die Trophäe in dem Karton den Umzug ohne Kratzer überlebt hatte. Der Bram Stoker Award wies die Form eines Miniaturspukhauses samt Wasserspeier und anderen gruseligen Effekten auf. Die von einem Schriftstellerkollegen, Harlan Ellison, ins Leben gerufene Auszeichnung wurde einmal jährlich von den stimmberechtigten Mitgliedern der Horror Writers Association vergeben. Mikes Roman Stunde Null hatte den Preis vor zwei Jahren errungen und dabei drei andere Finalisten aus dem Feld geschlagen. Mike war besonders stolz darauf, weil der Stoker Award die einzige literarische Auszeichnung darstellte, die er je erhalten hatte. Behutsam hob er die Statue aus dem Karton, trug sie durch das Zimmer und stellte sie auf die Anrichte. Er konnte dem
Drang nicht widerstehen, die winzige Vordertür des Hauses zu öffnen, obwohl er es in der Vergangenheit bereits hunderte Male getan hatte. Hinter der Tür kam eine Messingplakette zum Vorschein, auf der stand: Bester Roman Stunde Null von Michael Anthony Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er die Plakette las. Diese Anerkennung durch seine Schriftstellerkollegen aus dem Bereich des Horrors und der düsteren Fantasy stellte einen der Höhepunkte seiner literarischen Karriere dar. Bedauerlicherweise hatte der Gewinn des Preises keine Auswirkung auf das Geld, das er für seine Romane bekam. Würde er hingegen mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet… Er wandte sich von der Anrichte ab und wollte gerade einen weiteren Karton auspacken, als er ein Auto in die Auffahrt biegen hörte. Neugierig verließ er das Zimmer und steuerte auf die Eingangstür zu. Als er auf die Veranda trat, sah er den Streifenwagen des Sheriffs vor dem Haus zum Stehen kommen. Stirnrunzelnd fragte Mike sich, ob etwas nicht in Ordnung sein könnte. Hatten sie etwas gemacht, ohne zuvor die erforderliche Genehmigung einzuholen? Er war sicher, dass sie alle notwendigen rechtlichen Schritte für die Instandsetzung des Hauses unternommen hatten. Aus dem Streifenwagen stieg ein großer, muskulöser Mann in einer gelbbraunen Uniform. Er war etwa einen Meter neunzig, sah aus wie Ende vierzig und trug das Haar etwas länger als einen Bürstenschnitt. Mike erinnerte er an die verschiedenen Ausbildungsoffiziere, die er aus Hollywoodstreifen kannte, den
schlimmsten Albtraum eines Blumenkinds. Kurz ließ der Mann den Blick über die Umgebung wandern, dann nahm er die Sonnenbrille ab und wandte sich Mike zu. »Mr. Anthony?« Mike stieg von der Veranda und näherte sich dem Beamten, bei dem es sich tatsächlich um den Sheriff handelte, wie er am Abzeichen erkannte. »Mike Anthony«, bestätigte er mit einem Nicken. »Stimmt etwas nicht?« »Nein, Sir. Alles in bester Ordnung«, erwiderte der Sheriff und musterte Mike auf die merkwürdige, Polizeibeamten eigene Weise, als wöge er ihn geistig ab. »Ich bin Jody Douglas, Sheriff von Hudson County. Ich habe gehört, dass Sie in die Nachbarschaft gezogen sind, und wollte nur vorbeischauen, um hallo zu sagen.« Der Sheriff streckte ihm die Hand entgegen, lächelte dabei jedoch nicht und überließ es Mike, sich zu fragen, ob dies tatsächlich ein Freundschaftsbesuch war. Mike ergriff die ihm angebotene Hand und spürte den kräftigen Druck des Sheriffs. Dies war niemand, mit dem Mike je einen Boxkampf austragen wollte. Auch auf Armdrücken gegen diesen Mann konnte er verzichten. Aus irgendeinem Grund hatte Mike das Gefühl, er sollte den Sheriff kennen. Der Name klang vage vertraut. Plötzlich, noch während sie händeschüttelnd dastanden, stellte sich ein weiterer Erinnerungsbrocken ein. Jody Douglas war ein Name aus Mikes Kindheit, der einen unangenehmen Geschmack im Mund hinterließ. Der Mann, der vor ihm stand, der nun das Gesetz vertrat, hatte einst einer Gruppe von Teenagern aus dem Ort angehört, denen es Vergnügen bereitet hatte, Mikes Großmutter zu quälen. Mehrere Male pro Woche pflegten Jody und seine Spießgesellen die Sawmill Road am Haus vorbei
hinabzufahren und »Verrücktes Weib!« oder ähnliche Unflätigkeiten zu brüllen, so laut sie konnten. Manchmal waren sie sogar in die Einfahrt gebogen und hatten die alte Frau herausgefordert, sich aus dem Haus zu wagen und sich ihnen zu stellen. Mike ließ die Hand des Sheriffs los und musterte ihn. Er wollte etwas sagen, wurde jedoch von Pinky unterbrochen, der sich an seinem Bein rieb. Jody blickte auf den Kater hinab, wobei sich unverkennbar eine verächtliche Miene in seine Züge schlich. »Das ist aber ein ganz schöner Brocken von einer Katze, die Sie da haben, Mr. Anthony. Die muss mindestens sieben Kilo wiegen.« »Acht«, berichtigte Mike. »Ich hab mir nie viel aus Katzen gemacht«, fuhr Jody fort. »Bin eher ein Hundefreund. Hab selber ein paar Retriever.« Fast so, als verstünde er, was der Sheriff über ihn sagte, schaute Pinky zu Jody Douglas auf und fauchte. Der Sheriff wich einen Schritt zurück. »Ihre Katze scheint mir ein wenig wild zu sein. Sie sollten überlegen, Sie an die Leine zu nehmen.« Mike hätte beinah aufgelacht. Eine Katze konnte man nicht an die Leine legen, erst recht keine so eigenwillige wie Pinky. »Er hat noch nie jemanden angefallen«, erklärte er und bückte sich, um den Kater hinter den Ohren zu kraulen. »Wahrscheinlich riecht er bloß Ihre Hunde.« »Vielleicht«, räumte Jody nickend ein und sah Pinky argwöhnisch hinterher, der von dannen zog, um sich andernorts Aufmerksamkeit zu suchen. Der Sheriff beobachtete noch, wie der Kater ins Haus verschwand, dann wandte er sich wieder Mike zu. »Kommen den Samstagabend findet ein Gesellschaftstanz in der VFH Hall statt. Das ist so ne Art monatliche
Zusammenkunft der Einheimischen. Falls Sie noch nichts vorhaben, könnten Sie und Ihre Frau sich ja überlegen vorbeizukommen. Praktisch die ganze Ortschaft wird dort sein. Da Sie so ne Art Berühmtheit sind, schätze ich mal, ne Menge Leute wird erwarten, dass Sie aufkreuzen. Sie wollen Ihre Fans doch nicht enttäuschen, oder?« Mike bezweifelte, dass sich unter den Anwesenden auch nur einer seiner Leser befinden würde, doch die Tanzveranstaltung könnte eine gute Gelegenheit sein, einige ihrer neuen Nachbarn kennen zu lernen. Außerdem konnten Holly und er nach der harten Arbeit mit dem Umzug ein wenig Entspannung vertragen. »Ich werde versuchen, es einzurichten«, meinte Mike. Der Sheriff nickte und ging langsam zurück zu seinem Streifenwagen. »Wahrscheinlich sehen wir uns dann also«, sagte er, als er die Tür öffnete und hinter das Lenkrad kletterte. Er nickte Mike zu, setzte die Sonnenbrille wieder auf und startete den Motor. Mike beobachtete, wie Jody Douglas den Wagen wendete und die Auffahrt zurück hinunterfuhr. Während er dastand, fragte er sich, ob der Mann sich seit damals tatsächlich verändert hatte. Gewiss war die Grausamkeit, die er in seiner Jugend genossen zu haben schien, nur eine Dummheit seiner unreifen Tage gewesen, das Wüten der Hormone eines Teenagers. In einem ländlichen Bezirk wie Hudson boten sich jungen Leuten vermutlich nicht allzu viele Möglichkeiten, um Dampf abzulassen. Das Quälen von Mikes Großmutter, so gemein es gewesen sein mochte, hatte für eine Hand voll Jungen wahrscheinlich nur einen Weg dargestellt, aus ihrer Langeweile auszubrechen.
Zumindest hoffte Mike, dass Jody Douglas seine gemeine Ader aus der Vergangenheit zu Grabe getragen hatte, denn ein Sheriff, der sich immer noch derart aufführte, wäre tatsächlich etwas Schreckliches gewesen.
KAPITEL 5
Vor langer, langer Zeit, als die Welt noch neu war, lebten das uralte Volk und die uralten Kreaturen nicht auf der Erde – sie lebten darunter. Es gab vier Welten: jene an der Oberfläche und darunter drei Höhlenwelten, eine unter der anderen. Die Hopi bewohnten die Unterwelt, die ursprüngliche Heimat alles menschlichen Lebens. Zu Anfang war das Leben gut, und die Menschen waren glücklich. Doch dann hielt das Böse Einzug in die Unterwelt der ersten Hopi und in die Herzen der Hohepriester. Statt die geheiligten Riten zu hüten und ihr Volk zuführen, wie sie es sollten, begannen die Hohepriester, die Menschen zu hintergehen. Bald verwandelte die Unterwelt sich in einen schrecklichen Ort, und das Volk sehnte sich danach, anderswo zu leben. Da sie wussten, dass sie einen Weg aus der unterirdischen Welt finden mussten, versammelten sich Menschen reinen Herzens, um die Probleme zu besprechen und um eine Lösung zu beten. Sie hatten gehört, dass es eine Welt über der ihren gäbe, und wollten wissen, ob die Geschichten tatsächlich stimmten. Die Menschen baten die Vögel um Hilfe und fragten sie, ob sie in den Himmel fliegen würden, um zu sehen, ob es eine Öffnung in jene andere Welt gäbe. Sie wandten sich an den Kanarienvogel, die Schwalbe, den Falken und sogar den mächtigen Adler. Während jeder Vogel flog, so hoch er konnte – und mehrere von ihnen sahen, dass es tatsächlich eine Öffnung in eine andere Welt gab –, besaß keiner genug Kraft, um durch die Öffnung zu fliegen und die Welt zu sehen, die dahinter wartete.
Die Lage schien allmählich hoffnungslos, als die gutherzigen Menschen den Katzenvogel um Hilfe anriefen. Der Katzenvogel, ein Vetter der Spottdrossel, flog so hoch, dass er geradewegs durch die schmale Öffnung stieß, die zwischen der Unterwelt und der Welt darüber lag. Fast besinnungslos vor Erschöpfung kehrte der Katzenvogel zurück, um von den Wundern zu berichten, die in der Welt jenseits der Finsternis auf die Menschen warteten. Da sie wussten, dass sie nicht durch die Öffnung fliegen konnten, baten Sie das Streifenhörnchen um Hilfe. Das Streifenhörnchen pflanzte die Saat einer Fichte und sang magische Lieder, um den Baum rasch gen Himmel wachsen zu lassen. Doch die Fichte erwies sich als zu kurz für die Menschen, um durch die Öffnung zu klettern. Fest entschlossen, den Menschen zu helfen, die nächste Welt zu erreichen, pflanzte das winzige Streifenhörnchen die Saat einer Kiefer, doch auch sie war zu kurz, um die Öffnung zu erreichen. Als Nächstes pflanzte es Bambus, bedeckte ihn mit geheiligtem Maismehl und betete, der Bambus möge höher wachsen als die immergrünen Bäume, die es gepflanzt hatte. Das kleine Streifenhörnchen sang seine magischen Lieder weiter, bis die Bambuspflanze hoch genug war, um durch die Öffnung in die Welt darüber zu gelangen. Die Menschen packten ihre spärlichen Besitztümer zusammen, nahmen Gebetsgaben mit, schnitten eine Öffnung in den Fuß der Bambuspflanze und kletterten durch ihr Inneres in die neue Welt. Zurück ließen sie einen weisen alten Mann, der wartete, bis sein Volk die neue Welt erreicht hatte, danach hackte er die Bambuspflanze um, damit die bösen Menschen oder Kreaturen, die in der Finsternis lebten, ihnen nicht in ihre neue Heimat folgen konnten. Sam Tochi hatte die Schöpfungsgeschichten seines Volkes in all ihren Variationen gelernt, als er noch ein kleiner Junge im
Hopi-Reservat in Arizona gewesen war – viele Jahre, bevor die Weißen ihn seinen Eltern weggenommen und gezwungen hatten, das Indianerinternat in Phoenix zu besuchen. Doch erst als junger Mann hatte er die Wahrheit in diesen Geschichten erkannt. Er hatte die Wahrheit mit eigenen Augen gesehen, aber nur wenige Menschen glaubten ihm. Für die meisten war er nur ein verrückter, alter Indianer. »Verrückter alter Indianer. Vielleicht sind es die Weißen, die verrückt sind. Sie hören nicht auf die alten Legenden, haben die Geschichte ihrer eigenen Stadt vergessen. Die alten Menschen haben noch geglaubt, aber die sind mittlerweile alle von uns gegangen. Vivian hat geglaubt, aber auch sie weilt mittlerweile in der Geisterwelt.« In Bluejeans, Mokassins und einem alten, grünen Arbeitshemd saß Sam mit untergeschlagenen Beinen auf seinem. Hinterhof und beobachtete, wie die untergehende Sonne den westlichen Himmel in rote und orange Farbtöne tünchte. Vor ihm lag ein kleiner Altar aus Sand auf dem Boden. Den Sand hielt ein Rahmen aus vier Brettern, die jeweils gut einen halben Meter in der Länge maßen. In der Mitte des Altars befand sich eine Holzschale mit Wasser, und für jede Himmelsrichtung lag eine Kornähre bereit, jede in einer anderen Farbe: weiß für Osten, rot für Süden, blau für Westen und gelb für Norden. Neben den Kornähren enthielt der Altar zwei Gebetsstöcke und eine Adlerfeder. Auf den Boden daneben hatte Sam sein Medizinbündel gelegt, eine perlenverzierte Ledertasche, die seine heilige Pfeife, verschiedene Kräuter, Gebetsstöcke und andere schamanische Gegenstände enthielt. Sam öffnete die Tasche und holte die Pfeife sowie einen kleinen Lederbeutel mit Tabak hervor. Die Hopi verwendeten drei heimische Tabaksorten für ihren Rauch; der Tabak in Sams Beutel war jener, den sein Volk in den Kivas für bedeutende Zeremonien
einsetzte. Sam besaß in seinem Hinterhof keine unterirdische Kiva, doch er wusste, dass die Geister ihm dennoch helfen würden, solange er mit reinem Herzen betete. Er legte sich die Medizinpfeife auf den Schoß. Der Tonkopf maß etwa zweieinhalb Zentimeter im Durchmesser und etwas mehr als doppelt soviel in der Tiefe. Zickzacklinien zierten ihn, die sowohl Schlangen als auch Blitze repräsentierten. Schlangen galten unter den Hopi als geheiligte Tiere, denn man schrieb ihnen zu, dass sie Regen bescherten, der eine gute Ernte garantierte. Sam war einst ein Mitglied des religiösen Schlangenbunds gewesen und hatte an zahlreichen Schlangenzeremonien teilgenommen, als er noch im Hopi-Reservat gelebt hatte. Schlangenzeremonien wurden von den Schlangen- und Antilopenbünden durchgeführt und dauerten neun Tage. Die ersten paar Tage einer Zeremonie bereiteten sich die Mitglieder der Bünde, allesamt Männer, durch Gebete vor, brachten Gebetsgaben dar und richteten in den Kivas Altare ein. Danach zogen sie für vier Tage in die Wüste aus, um Schlangen zu fangen, sowohl giftige als auch ungiftige, die in spezielle Käfige in den Kivas gesperrt wurden. Am Morgen des neunten Tags hatten Sam und die anderen Mitglieder seines Bundes die Schlangen stets aus den Käfigen geholt. Sie wuschen sie in Wasser und trockneten sie anschließend in Sand. Als Probe, ob die Herzen der Männer rein und furchtlos waren, verteilten sie die Schlagen auf ihren Körpern. Auf denjenigen, die den Test bestanden, schliefen die Schlangen, andere bissen sie manchmal. Bei Sonnenuntergang am neunten Tag tanzte der Bund der Schlangen in einem Kreis um den Dorfplatz und trug die Reptilien dabei im Mund. Jeder Tänzer wurde von einem zweiten Mann begleitet, der eine aus Adlerfedern angefertigte Schlangenpeitsche hielt. Schlangen fürchteten sich vor Adlern,
und häufig genügte allein die Berührung der Federn, um sie davon abzuhalten, den Tänzer anzugreifen, der sie festhielt. Nach dem Tanz wurden die Schlangen zurück in die Wüste gebracht, damit sie die Gebete des Volkes den Geistern überbrachten und der Regen ins Land der Hopi zurückkehrte. Sam lächelte. Es war lange her, dass er ein Mitglied des Schlangenbundes gewesen war, noch länger, dass er zuletzt mit einer lebendigen Klapperschlange im Mund getanzt hatte. Mittlerweile tanzte er den Schlangentanz nicht mehr, doch er besaß immer noch den Kilt und den gefiederten Kopfschmuck des Bundes, die er als seine kostbarsten Besitztümer betrachtete und nicht gegen alles Geld der Welt eingetauscht hätte. Er öffnete den kleinen Lederbeutel und entnahm ihm eine Prise Tabak, die er in den Pfeifenkopf stopfte. Bald folgte eine zweite Prise, dann eine dritte. Danach verschloss er den Beutel, holte aus der Hemdtasche ein Butanfeuerzeug hervor und zündete die Pfeife an. Während er die Flamme an den Pfeifenkopf hielt, inhalierte Sam tief, sog den geheiligten Rauch in seinen Körper. Anschließend atmete er aus und hob die Pfeife als Gabe an den Großen Geist über den Kopf. Er inhalierte abermals und bot die Pfeife der Erde und den Geistern der vier Himmelsrichtungen an. Sam betete zu den Winden und den heiligen Geistern, bat sie, über sein Volk zu wachen. Zuletzt hob er die Pfeife neuerlich an und bat die Geister, ihm zu verraten, was am Dienstag mit ihm geschehen war, denn während er sich klar und deutlich an die Schlangentänze und Schöpfungsgeschichten der Hopi erinnern konnte, hatte er keine Ahnung mehr, was er am Vortag gemacht hatte. »Großer Geist, bitte erhöre mein Gebet. Ich entbiete; dir diese Pfeife auf geheiligte Weise. Bitte öffne mir die Ohren, auf dass ich deine Stimme zu hören vermag. Öffne mir die Augen,
damit ich die Dinge sehen kann, die du mir vor Augen hältst. Lass den Nebel, der meinen Verstand verhüllt, sich lichten, damit ich weiß, was ich gesagt und getan habe. Bitte, wenn es dein Wille ist, so gewähre mir, mich zu erinnern.« Es war nicht das erste Mal, dass in Sams Gedächtnis eine Lücke klaffte, und es würde nicht das letzte Mal sein. An den Vormittag des Vortags erinnerte er sich noch, doch dann war ein von seiner Krankheit verursachter Anfall eingetreten, und alles danach war verschwommen. Er musste zur Apotheke gegangen sein, um sich eine Nachfüllpackung des ihm verschriebenen Schmerzmittels zu holen, denn die einst leere Flasche war wieder voll, doch er konnte sich weder an den Hin- noch an den Rückweg erinnern. Ebenso wenig daran, ob er unterwegs mit irgendjemandem gesprochen hatte. Er hatte gestern schlicht und ergreifend völlig neben sich gestanden, ein vor sich hinschwafelnder, alter Indianer, den die Schmerzen eines stetig wachsenden Gehirntumors an den Rand des Wahnsinns getrieben hatten. Seine Erinnerung an den Vortag war ausgelöscht, und an ihre Stelle war das Gefühl getreten, dass sich bald etwas Schlimmes ereignen würde. Es war ein Gefühl, dass Sam nicht abschütteln konnte, so sehr er es versuchte. Selbst das Einnehmen des Doppelten seiner üblichen Schmerzmitteldosis hatte nicht geholfen. Die Schmerzen waren verebbt, aber das üble Gefühl war geblieben und suchte ihn heim. Nachdem er seine Gebete beendet hatte, buddelte er ein kleines Loch in den Boden und vergrub die Asche aus seiner Pfeife darin. Im Westen wurden die Farben des Sonnenuntergangs rasch von der Dunkelheit der hereinbrechenden Nacht verschluckt.
Ein Schauder der Furcht durchlief den alten Mann, als er das Herannahen der Finsternis beobachtete und an das Grauen zurückdachte, das die Nacht der Gegend in vergangenen Jahren beschert hatte. Wieder überkam Sam das Gefühl, dass bald etwas Schlimmes geschehen würde.
KAPITEL 6
Donnerstag. Tommy war aufgeregt, aber Megan verspürte weniger Freude darüber, eine neue Schule zu besuchen, vor allem eine in einer Kleinstadt wie Braddock. Sie hatte versucht, noch ein paar Tage herauszuschinden und hatte Erschöpfung durch den Umzug als Argument ins Feld geführt, doch ihre Eltern wollte nichts davon hören. Sie meinten, sie hätte bereits eine Woche versäumt und konnte sich keine weiteren Fehltage leisten. Auch der Gedanke, mit dem Schulbus fahren zu müssen, eingekeilt zwischen einem Haufen Teenagern, die sie nicht kannte, missfiel Megan zutiefst. Wahrscheinlich trugen sie alle Latzhosen, stanken nach Vieh und kauten Tabak. Eklig. ›Natürlich war Megan noch nie echter Landjugend begegnet, deshalb konnte sie nicht beschwören, dass alle Latzhosen trugen und Tabak kauten, aber so sahen sie im Fernsehen immer aus. In Sendungen wie jenen auf Nickelodeon wurde die Jugend vom Land immer als gesellschaftliche Außenseiter dargestellt, die von Vettern und Cousinen oder sogar Brüdern und Schwestern gezeugt worden waren. Die Jungs wogen hundertfünfzig Kilo, trugen abgerissene Jeans, hatten stets eine Packung Redman oder eine Dose SkoalTabak in der Gesäßtasche und trugen einen Sechserpack Pabst Blue Ribbon bei sich, wenn sie unterwegs zum Schrottplatz waren, um Radkappen zu stehlen, oder zum Fischteich, um Frösche mit Knallerbsen zu füttern und dabei zuzusehen, wie sie explodierten. Die Mädchen kleideten sich in Jutesackkleider, hatten lange, drahtige Haare, die nie mit einer Pflegespülung oder auch nur Shampoo in Berührung kamen,
wiesen fehlende Vorderzähne auf, weil ihre Väter eines Nachts betrunken nach Hause gekommen waren und mal jemand anders verprügeln wollten als immer ihre Frauen, machten die Beine für jeden Jungen im Wohnwagenpark breit, der auch nur in ihre Richtung schaute und stanken nach billigem Wein, Schweiß und anderen Gerüchen, über die man besser nicht allzu genau nachdachte. Megan stand an der Mündung der Auffahrt in die Sawmill Road und wünschte, sie wäre wieder in New York City bei den Anblicken, Klängen und Freunden, die sie liebte. Warum hatte ihr Vater überhaupt aufs Land ziehen müssen? Hier gab es nur Bäume, Felder, alte Bauernhäuser und überhaupt nichts, was man unternehmen konnte. Jedenfalls lag es keineswegs daran, dass sie arm waren. Ihre Eltern hatten es sich problemlos leisten können, in einem der besseren Stadtteile zu wohnen und sie und Tommy auf Privatschulen zu schicken. Wo sie gewohnt hatten, lungerten keine Drogenhändler an den Straßenecken herum und wüteten keine Gangs, die Graffiti an die Wände schmierten wie in anderen Vierteln. Upper Manhattan war anders als die üblen Gegenden, die oft in Sendungen wie 20/20 und Dateline gezeigt wurden. Sie waren nur umgezogen, weil ein Freund ihres Vaters getötet worden war. Es war nicht fair. Nicht Megans Freund war gestorben, zudem hatte sich der Mord nicht einmal in der Nähe ihrer Nachbarschaft ereignet. Soweit es sie anging, hatte der Kerl es vielleicht sogar verdient zu sterben. Womöglich war er ein Gangster mit Verbindungen zum organisierten Verbrechen gewesen, ein unredlicher Dealer, der es sich mit seinen Bossen verscherzt hatte, oder ein Schwerenöter, der mit der Frau oder Freundin eines anderen herumgemacht hatte. Megan war nicht sicher, weshalb der Freund ihres Vaters gestorben war, aber sie
wusste, dass es in keinem Zusammenhang damit stand, wo sie gewohnt hatten. Und sie hatte wegen des Vorfalls keine Angst davor bekommen, in der Stadt zu leben. Sehr wohl hingegen ihr Vater. Er war in jener Nacht bleich wie ein Gespenst nach Hause gekommen, hatte am ganzen Leib gezittert und geweint. Seine Finger hatten ein volles Glas Scotch umklammert und so heftig gezuckt, dass die Eiswürfel wie Knochen geklappert hatten, während er Holly die Geschichte erzählte. Er hatte leise gesprochen, damit seine Kinder ihn nicht hören, trotzdem hatte Megan jedes Wort verstanden. Ihr Vater hatte sich in jener Nacht verändert. Er hatte seine Unbeschwertheit verloren und Angst vor der Stadt entwickelt, die er einst geliebt hatte. Bereits am nächsten Tag hatte er eine Firma angerufen und damit beauftragt, eine Alarmanlage und ein Zusatzschloss mit Nachtriegel in ihrer Wohnung zu installieren. Sie waren immer öfter zu Hause geblieben und hatten »Familienabende« gehabt, statt wie früher auszugehen. New York bei Tag verhieß Spaß, aber in vollem Glanz erstrahlte die Stadt nachts, wenn sie sich farbenprächtig schillernd und schimmernd wie ein sagenumwobener Ort aus einem Märchenreich präsentierte. Bevor ihren Vater die Nerven im Stich gelassen hatten, war sie häufig mit Freundinnen abends losgezogen, um noch etwas einzukaufen, sich im Kino einen Film anzusehen oder bei einem der zahlreichen kleinen Coffeeshops eine Kleinigkeit zu essen. Manchmal hatten sie sich sogar zum Times Square hinuntergewagt, um sich die Lichter anzusehen und die Touristen zu beobachten. In der zweiundvierzigsten Straße herrschte immer aufregendes, pulsierendes Leben; sie glich einer Zirkusvorstellung dicht gedrängter Menschenmassen in einer Manege aus Beton.
Megan seufzte. In Braddock gab es nicht einmal ein Einkaufszentrum, keinen Ort für Jugendliche ihres Alters, an dem sie sich einfach herumtreiben und sich sehen lassen konnten. Auch keine Rollschuhbahn, kein öffentliches Schwimmbad oder einen Jugendklub. Das einzige »Szenelokal«schien die örtliche Dairy Queen Filiale zu sein, und das nur, weil sie sich am Ende dessen befand, was die offizielle Strecke für Spazierfahrten zu sein schien. Am vergangenen Abend war sie mit ihrer Familie dort gewesen und hatte beobachtet, wie eine Wagenladung mit Teenagern nach der anderen auf den Parkplatz gebogen war. Hupend und mit den Scheinwerfern blinkend hatten sie das Gebäude einoder zweimal umkreist, bevor sie wieder in die Richtung davonfuhren, aus der sie gekommen waren. Zunächst hatte sie gedacht, es wären verschiedene Autos, doch nach etwa einer halben Stunde war ihr aufgefallen, dass es immer wieder dieselben Fahrzeuge waren: verbeulte Pritschenwagen, PS-Monster aus den späten Sechzigern, die dringend neue Schalldämpfer und eine Lackierung brauchten, japanische Importmodelle mit Niedrigprofilreifen und dunkler Tönung, ein 1957er Chevy mit roten, auf die Motorhaube gemalten Flammen. Anscheinend gehörten sie der örtlichen Version der jungen Wilden: einem Haufen gelangweilter Teenager mit zu viel Zeit, keinem eigenen Ort für sich und absolut nichts zu tun. Während sie über die Jugend von Braddock nachdachte, fragte sie sich, ob sie auch so enden würde, wenn sie versuchte, dem zu entfliehen, was sich wahrscheinlich als langweiliges Leben in einem gleichermaßen langweiligen Kaff entpuppen würde. Megans Grübelei über ihre Zukunft in Hudson County wurde vom Auftauchen eines großen, gelben Schulbusses unterbrochen, der die schmale Schotterstraße herabgerast kam.
Der Bus wirkte regelrecht prähistorisch wie eine Kreatur, die in den grauen Nebelschleiern der Steinzeit gezeugt worden war. Eine menschenfressende Kreatur. Sie holte tief Luft und versuchte, ihre Befürchtungen zu verdrängen, doch ihr Herz fing unweigerlich an, schneller zu schlagen. »Verdammt noch mal, Dad, wie konntest du uns das nur antun?«, murmelte sie bei sich. »Wie konntest du das mir antun?« »Was hast du gesagt?«, fragte Tommy und sah seine große Schwester an. Sie schüttelte den Kopf. »Gar nichts. Ich hab bloß mit mir selbst geredet.« Tommy betrachtete sie noch kurz, dann lächelte er. Megan war froh, dass er sich mit ihrer Antwort zufrieden gab, denn sie hätte sich eine Standpauke sondergleichen von ihren Eltern anhören können, hätte sie ihn an seinem ersten Tag in einer neuen Schule verunsichert. Obwohl sie in unterschiedliche Klassen in verschiedenen Schulen gingen, befanden sich die Grundschule und die Highschool nebeneinander in derselben Straße. Beide Schulen begannen und endeten zu exakt denselben Zeiten, damit die Schüler dieselben Busse benutzen konnten. Somit wurde sie automatisch zu Tommys offizieller Babysitterin während der Fahrten. Der Bus verlangsamte und blieb vor ihnen stehen. Die Tür öffnete sich mit dem Unheil verkündenden Knarren eines Sargdeckels. Tommy ergriff den Handlauf und, erklomm die drei Stufen in den Bus. Megan schluckte schwer und tat es ihm gleich. Die Busfahrerin erwies sich als vierschrötige Frau mit flammend rotem Haar. Sie begrüßte die beiden mit einem Lächeln. Tommy antwortete mit einem »Hallo«. Megan hingegen nickte nur und drehte sich dem Meer unbekannter
Gesichter zu. Während sie dastand und nach einem freien Platz Ausschau hielt, spürte sie jedes einzelne Augenpaar auf sich. Es gab weder Unterhaltungen noch Gelächter oder sonstige Geräusche, die man in der Regel mit Kindern auf dem Weg zur Schule assoziierte; Schweigen hatte sich unter den Passagieren ausgebreitet, als Tommy und Megan eingestiegen waren. Megan hätte am liebsten kehrtgemacht und wäre vor der Stille geflüchtet, doch stattdessen setzte sie ihre tapferste Miene auf, scheuchte ihren Bruder vorwärts und hielt auf eine freie Sitzbank ein paar Reihen hinter der Busfahrerin zu. Trotz des fast vollen Busses war jene Sitzbank komischerweise frei geblieben, als wäre sie absichtlich für sie reserviert worden. Hatten die anderen gewusst, dass an diesem Morgen neue Kinder zusteigen würden? Und falls dem so war, bedeutete die freie Sitzbank, dass niemand neben ihnen sitzen wollte? Megan spürte, wie ihr Schamesröte ins Gesicht stieg, als sie sich setzte. Der Bus rollte wieder an, doch das Schweigen blieb. Nur vereinzeltes Getuschel von ganz hinten durchbrach die Stille. Mit dem Gefühl, immer noch von allen Augenpaaren angestarrt zu werden, schaute sie nach vorne und wagte nicht, sich umzudrehen und irgendjemanden anzusehen. Es gelang ihr, aus dem Augenwinkel ein paar verstohlene Blicke auf die anderen zu erhaschen. Zutiefst erleichtert stellte sie fest, dass niemand Latzhosen oder Strohhüte zu tragen schien. Ebenso wenig ging irgendjemand, soweit sie es erkennen konnte, barfuß zur Schule. Soviel dazu, wie die Landjugend im Fernsehen dargestellt wurde. Nach den Jungen und Mädchen zu urteilen, die in den Sitzreihen auf der anderen Seite des Ganges saßen, kleidete sich die Jugend in Hudson County ziemlich ähnlich wie in New York City. Obwohl niemand teure Markennamen zu tragen schien, war die Kleidung durchaus modern: weite Jeans,
Polohemden und Basketballschuhe im Fall der Jungen, Strickoberteile, Freizeitschuhe und Shorts oder Kleider im Fall der Mädchen. Das Kichern rings um sie hätte ihr verraten müssen, dass etwas nicht stimmte, aber Megan war noch nie zum Opfer der Gemeinheiten anderer Kinder geworden. In ihrer Privatschule in New York war sie bei ihren Mitschülerinnen und Mitschülern beliebt gewesen und nie von irgendjemandem bedroht worden. Sie bemerkte erst, dass ihr eine Falle gestellt worden war, als etwas sie am Nacken traf. Autsch. Als Megan sich an die Stelle fasste, stellte sie fest, dass sie von einem winzigen, nassen Papierkügelchen getroffen worden war. Einem Spuckebällchen. Ekel breitete sich in ihr aus, als ihr klar wurde, dass sie soeben jemandes Speichel berührt hatte. Angewidert warf sie das Spuckebällchen zu Boden und wischte sich die Finger am Hosenbein ab. Ein zweites Kügelchen verfing sich in ihren Haaren. Megan spürte, wie es sie traf, und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, bis sie es fand. Kaum hatte sie das zweite Bällchen entfernt, da traf ein drittes Tommy so heftig auf die rechte Wange, dass es ihm beinah Tränen in die Augen trieb. »Au, Megan, was war das? Irgendetwas hat mich getroffen.« Wütend drehte Megan sich auf dem Sitz herum. Sie ließ den Blick über ein Meer lächelnder oder kichernder Gesichter wandern und suchte nach ihren Angreifern. Es dauerte nicht lange, bis sie die Schuldigen fand, zumal diese sich keine Mühe gaben, Unschuld zu heucheln. Die Spuckebällchen waren von einer Gruppe älterer Jungen in der letzten Sitzreihe abgefeuert worden. Von großen, muskulösen Jungen, die zu alt wirkten, um noch zur Highschool zu gehen. Sie trugen alle ähnliche Bluejeans, TShirts und Baseballmützen und wiesen eine Bräune auf, die
von langen Sommertagen voll Feldarbeit auf den Bauernhöfen ihrer Familien zeugten. Einer der Jungen hielt die Hülse eines billigen Bic-Kugelschreibers in der linken Hand, ein behelfsmäßiges Blasrohr zum Abschießen der widerwärtigen Projektile. Der Junge sah Megan trotzig an, als er sich ein weiteres kleines Papierstück in den Mund steckte, zu kauen begann und sie unverhohlen herausforderte, etwas zu sagen oder zu tun. Megan konnte es weder körperlich mit den Burschen aufnehmen, noch konnte sie sich bei der Busfahrerin über sie beschweren. Als Petze abgestempelt zu werden, würde von vornherein jegliche Chancen zunichte machen, neue Freunde zu finden. Außerdem würde sie für sich und Tommy die Gefahr von Vergeltungsmaßnahmen der Jungen heraufbeschwören, sollten sie ihretwegen Ärger bekommen. Somit konnte sie weder zurückschlagen, noch irgendjemanden um Hilfe bitten. Ihre einzige Möglichkeit bestand in Rückzug. Sie drehte sich zurück nach vorn und rutschte so tief auf dem Sitz hinab, dass ihr Kopf kein Ziel mehr bot. Ein kurzes Zupfen an Tommys Handgelenk bewog ihn, es ihr gleichzutun. Während ein Hagel aus Spuckebällchen über ihre Köpfe hinwegsegelte, lachten die anderen Kinder sie ungeniert aus. Mehrere riefen sogar Hänseleien und stimmten einen kleinen Reim über den Wahnsinn von Megans Urgroßmutter Vivian Martin an. Die alte Vivian Martin, die hat graue Haar’ und sieht Schreckgespenster das ganze Jahr. Gespenster unterm Dach und unter ihren Händen, Gespenster unterm Bett und auch in den Wänden. Lasst uns die Schreckgespenster aus ihrem Kopf holen, sonst wird die Alte nicht mehr lange leben wollen. Megan verblüffte der Text. Wusste denn jeder in der Stadt vom augenscheinlichen Wahnsinn ihrer Großmutter, und galten sie und Tommy deshalb als gesellschaftlich geächtet?
Wenn ja, dann waren sie zu einem Leben der Qualen und des Unglücks in ihrer neuen Schule und Gemeinde verdammt. Allein die Busfahrten würden sich unerträglich gestalten. Es schien besser, auf der Stelle zu sterben, als sich dieser Art von Demütigung jeden Morgen zu stellen. Verdammt noch mal, Dad. Warum mussten wir aus New York wegziehen? Warum musstest du dieses dumme Haus erben? Eine Träne bildete sich in ihrem Augenwinkel. Rasch wischte Megan sie weg, da sie nicht wollte, dass Tommy oder die anderen Kinder sie bemerkten. Niemand sollte mitbekommen, dass sie es geschafft hatten, sie zum Weinen zu bringen; dadurch würde alles nur noch schlimmer, und solche Quälereien würden garantiert regelmäßig auf der Tagesordnung stehen. Auch Tommy durfte nicht sehen, dass sie weinte. Ihre Tränen würden ihm verraten, dass es nicht bloß ein harmloses Spiel war, das sich rings um ihn entfaltete. Erst würde Megan ihm Leid tun, dann er sich selbst, und schließlich würde er ebenfalls zu weinen beginnen. Und nicht bloß ein oder zwei Tränen, sondern ganze Eimer, die er schluchzend füllte. Das durfte sie nicht zulassen, weil er dadurch sofort als Heulsuse abgestempelt würde. Die anderen würden ihn mit größtem Vergnügen in der Hoffnung piesacken, ihn neuerlich zum Heulen zu bringen. Nachdem Megan die Träne weggewischt hatte, verkniff sie die Kiefer und starrte auf den Sitz vor ihr. Irgendwann, als die Kinder des Spiels überdrüssig wurden, verstummten die Hänseleien und das Gelächter, und die Spuckebällchen blieben aus. Megans Wut hingegen schwelte den ganzen Weg zur Schule unvermindert weiter.
KAPITEL 7
Langsam nahm das Haus Gestalt an. Nur die noch zu erledigenden Reinigungsarbeiten schienen nicht enden zu wollen. Praktisch alles war vom Dreck etlicher Jahre verschmutzt. Was noch nicht ersetzt oder übermalt worden war, musste geschrubbt und desinfiziert werden. Zierleisten, Schubladen, Holzarbeiten, Badezimmerarmaturen – alles bedurfte etwas Zuwendung und reichlich harter Arbeit. Holly stand mitten in der Bibliothek und versuchte zu entscheiden, was sie als Nächstes putzen sollte. Der Raum sah um tausend Prozent besser aus als früher, wozu auch der neue Teppichboden beitrug, trotzdem gab es noch reichlich zu tun. Die Wände waren getäfelt, deshalb waren sie nicht ausgemalt worden, und die Bücher in den Walnussregalen mussten allesamt genauso dringend und gründlich abgestaubt werden wie die Regale selbst. Von der Decke hingen wie fein gesponnene Zuckerwatte Spinweben, die alle oberen Buchreihen und das Fach mit den Kachina-Puppen bedeckten. Da Holly das Beseitigen der Spinnweben als zu aufwändig empfand, um sich ihm sofort zu widmen, richtete sie die Aufmerksamkeit stattdessen auf die abscheulichen Masken, die an einer Wand hingen. Sie waren handgeschnitzt und offensichtlich sehr alt. Die Jahre hatten das Holz beinah geschwärzt. Die verzerrten Fratzen der Masken wirkten wie etwas aus einem schlechten Horrorstreifen und wiesen schiefe Münder, vorquellende Augen und dämonisch lange Zungen auf. Einige waren in bunten Farben bemalt, vorwiegend in Rotund Blautönen. Andere waren unbemalt belassen worden. Bei
diesen bildeten in das Holz eingesetzte, gehämmerte Kupferplättchen die Augen. In die äußeren Ränder waren Aussparungen geschnitzt worden, an denen sich Lederriemen befestigen ließen. Daraus schloss Holly, dass die Masken tatsächlich getragen worden waren. Sie fragte sich, ob sie je für uralte Zeremonien verwendet worden waren, um böse Dämonen abzuwehren, Geister heraufzubeschwören oder Tote zum Leben zu erwecken. Vielleicht hatten die Masken aber auch nur alten Leuten dazu gedient, Kindern an kalten Winterabenden Angst einzujagen, wenn draußen der Wind heulte und der Vollmond den Anschein erweckte, als reckten die kahlen Bäume das Geäst wie schattige Finger über den frisch gefallenen Schnee. Ihr selbst jedenfalls hätten solche Masken als Mädchen zweifellos eine Heidenangst eingejagt und sie sich nachts im Bett die Decke über den Kopf ziehen lassen. Vielleicht waren die Masken gar nicht amerikanischen Ursprungs, sondern stammten aus den geheimnisvollen schwarzen Wäldern Nordeuropas. Vielleicht waren sie von einem einsamen Holzschnitzer in einem Land angefertigt worden, in dem Legenden von Vampiren und Werwölfen noch lebendig umherspukten und in dem stämmige Hausfrauen Knoblauch über die Fenster hängten, um ungebetene nächtliche Besucher fern zu halten. Ebenso konnten sie aus Afrika oder Südamerika aus den Dschungeln stammen, in denen greise Medizinmänner durch Angst, Einschüchterung und rituelle Magie über Volksstämme herrschten. Holly schüttelte den Kopf. Aus unerfindlichem Grund glaubte sie nicht, dass die schrecklichen Masken aus einem anderen Land eingeführt worden waren. Irgendetwas daran vermittelte ihr das Gefühl, dass sie eindeutig indianischen Ursprungs waren. Fast vermeinte sie, sich die Männer
vorstellen zu können, die sie einst getragen hatten: halb nackte Wilde mit bronzefarbener Haut, die um Leuchtfeuer in Wäldern aus hoch aufragenden Eichen und Kiefern tanzten und uralte Zeremonien schamanischer Magie vollzogen. Und gefesselt an einem Pfahl neben dem Feuer eine wunderschöne Weiße, am ganzem Leib zitternd.
Sie lächelte über das Bild, das plötzlich ihren Kopf füllte, und schalt sich dafür, ihre Fantasie mit ihr durchgehen zu lassen. »Genug damit. Überlass das Erfinden von Scheinwelten deinem Mann. Du hast keine Zeit, hier rumzustehen und dich Tagträumen hinzugeben.« Woher die Masken auch stammen mochten – aus Afrika, Europa oder einem Spielzeugladen in Cleveland –, sie mussten verschwinden. Basta. Mike hatte versprochen, sie wegzuschaffen, aber sie hingen noch immer an der Wand. Als Horrorschriftsteller mit einem tief sitzenden Hang zu allem Seltsamen und Bizarren hoffte er wahrscheinlich, dass sie es sich anders überlegen würde. »Nicht diesmal, mein Herr.« Sie durchquerte den Raum und hob eine der Masken von ihrer Halterung an der Wand. Das Holz erwies sich als leicht und glatt geschliffen. Wäre die Maske selbst nicht so grässlich anzusehen gewesen, hätte sie die Handwerkskunst, die in deren Erzeugung geflossen war, fast bewundert. Als Holly die Maske ergriff und von der Wand nahm, durchlief ein seltsames Kribbeln ihre Hände, als wäre von der Maske ein geringer elektrischer Strom in sie geflossen. Sie wollte es gerade als statische Entladung abtun, als das Zimmer zu ächzen schien. Es glich eher einer Vibration, als einem tatsächlichen Geräusch, stammte aus den tiefsten Eingeweiden des Hauses und kroch aufwärts durch die Decke. Die Vibration
dauerte höchstens ein, zwei Sekunden, ehe sie so jäh verpuffte, wie sie eingesetzt hatte. »Was um alles in der Welt war das?« Erschrocken wich sie einen Schritt zurück und sah sich um. Nichts hatte sich verändert. Eine Weile verharrte sie und wartete ab, ob die eigenartige Vibration erneut auftreten würde. Dabei fragte sie sich, ob Mike oder einer der Handwerker womöglich kurz irgendwo einen Motor eingeschaltet hatte. Als das Geräusch sich nicht wiederholte, blickte sie auf die Holzmaske hinab, die sie noch immer in den Händen hielt. »Es gefällt dir wohl nicht, von der Wand genommen zu werden, was?«, scherzte sie und schrieb den Vorfall nun doch bloß statischer Entladung, dem Setzen eines alten Gebäudes und einem schlimmen Fall von überreizter Fantasie zu. »Pech gehabt. Du landest in einer Kiste, und daran ist nicht zu rütteln.« Damit legte sie die Holzmaske in einen leeren Karton und kehrte zur Wand zurück, um die nächste zu holen. Fast erwartete sie, dass der Raum abermals ächzen würde, doch diesmal geschah nichts. Keine Vibration, auch kein Kribbeln in ihren Fingern. Sie ließ sich Zeit damit, die Masken sorgfältig zu verpacken, da sie für den Fall, dass sie sich als wertvoll herausstellen sollten, keine davon beschädigen wollte. Sie setzte gerade dazu an, nach der letzten Maske an der Wand zu greifen, als eine Bewegung ihre Aufmerksamkeit erregte. Etwas Kleines und Dunkles war an der offenen Tür vorbei und rasch den Flur hinabgehuscht. »Pinky?« Holly durchquerte das Zimmer und betrat den Flur. Sie wusste, dass es nicht der. Familienkater gewesen war. Pinky hatte sich noch nie so schnell bewegt, nicht einmal in seinen jüngeren Tagen. Ebenso wenig konnte es eine Maus oder eine
Ratte gewesen sein. Was immer sie gesehen haben mochte, es war etwas deutlich Größeres gewesen. Holly blickte in beide Richtungen den Flur hinab. Weit und breit kein Anzeichen von einer Katze oder einer sonstigen pelzigen Kreatur. Was es auch gewesen war, es musste in eines der anderen Zimmer gehuscht sein. Neugierig schritt sie durch den Flur und betrat ihr Atelier. Der Großteil ihres Künstlermaterials war bereits ordentlich in den Regalen verstaut, sodass nur noch wenige Kartons auf dem Boden standen, hinter denen sich eine Katze oder ein anderes kleines Tier verstecken konnte. Sie betrat das Atelier, ging vorsichtig weiter ins Zimmer, spähte hinter die verbliebenen Kartons und betete dabei, dass sie kein Nagetier entdecken würde. Sie fürchtete sich zwar nicht grundsätzlich vor ihnen, aber sollte eines plötzlich hinter einer der Schachteln hervorflitzen, könnte sich ihr unwillkürlich ein Schrei entringen; und ein solcher Schreckensschrei würde ihr endloses Gelächter und Gehänsel von Mike einbringen. Nichts lauerte hinter den Kartons, weder Ratten noch Katzen oder grinsende grüne Kobolde. Sie drehte sich um, durchquerte den Raum und durchsuchte rasch den Schrank, indem sie ein Gemälde nach dem anderen nach vorne neigte, bis sie hinter jedes einzelne geschaut hatte. Auch im Schrank versteckte sich nichts und niemand. Holly verließ das Atelier und ging in Mikes Arbeitszimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges. Im Vergleich zu ihrem Atelier präsentierte es sich als wildes Durcheinander. Unzählige Kartons, Bücher und Manuskriptstapel stapelten sich auf dem Boden und schufen Plätze, an denen sich etliche kleine, pelzige Kreaturen mühelos verstecken konnten. Sie schaltete die Arbeitslampe auf dem Schreibtisch ein, beugte sich vorwärts zwischen die Kartons, Bücherstapel und Papierberge und überprüfte im Gehen sorgfältig alle
Zwischenräume. Als sie am anderen Ende des Raumes angelangte, ohne etwas gefunden zu haben, nahm sie sich den Schrank vor. Wieder nichts. Die Verbindungstür zwischen dem Büro und der Bibliothek war geschlossen, folglich kam diese Richtung nicht infrage. Na schön. Wo bist du hin? Sie verließ das Büro wieder und folgte dem Flur zur Treppe. Oben am Kopfende verlegten die Handwerker gerade einen neuen Teppichboden, also war auch dieser Weg ausgeschlossen. Sogar für Pinky. Hätte der große Kater versucht, den Männern in die Quere zu kommen, hätten sie ihn die Treppe zurück hinuntergescheucht. Sie wollte die ganze Sache gerade als Tücke des Lichts abhaken, als ihr aus der Bibliothek ein lautes Geräusch entgegenhallte. Es hörte sich wie ein Pistolenschuss oder das Krachen eines hölzernen Baseballschlägers an. Auch die Handwerker hörten es, denn sie setzten in der Arbeit ab und schauten auf. »Was war das jetzt?« Holly eilte zurück in die Bibliothek, wo sie überrascht feststellte, dass die dritte Holzmaske, die noch an der Wand gehangen hatte, in zwei Teile zerbrochen mitten auf dem Boden lag; sie war zwischen den geschlitzten Augen in Längsrichtung entzweigespaltet. Holly ging darauf zu, hob die Teile auf und fragte sich, was den Fall verursacht haben mochte. Die Maske lag knapp zwei Meter von der Wand entfernt, demnach konnte sie sich nicht einfach vom Nagel gelöst haben. Vielmehr musste sie mit solcher Wucht von der Wand weggeschleudert worden sein, dass sie in zwei Hälften zerbrochen war. Sie betastete das Holz mit den Händen und versuchte, es zu verbiegen, doch es erwies sich als solide; so robust, dass es beträchtliche Kraft erfordert haben musste, es zu zerbrechen.
Vielleicht hatte das Holz einen Fehler oder einen feinen Riss gehabt, und der Druckwechsel zwischen Erwärmung und Abkühlung hatten letztlich ihren Tribut von der Maske gefordert. Häuser und Straßen unterlagen derlei Bedingungen, warum also, nicht auch Holzornamente? Womöglich war die Maske auch bereits zuvor zerbrochen gewesen, und Holly hatte lediglich die Stelle nicht bemerkt, an der sie zusammengeleimt gewesen war. Aber selbst das vermochte nicht zu erklären, wie die Maske so weit von der Wand weggeschleudert worden sein konnte. Sie drehte sich um und blickte zu der Stelle, an der das Ding gehangen hatte. Erstaunt sah sie, dass sich vom Boden zur Decke ein annähernd lotrechter, großer Riss über die Wand erstreckte, fast zweieinhalb Meter lang und mindestens einen halben Zentimeter breit. Eine eingehendere Überprüfung offenbarte, dass der Riss nicht nur in der Holztäfelung klaffte, sondern auch im Mauerwerk dahinter. Holly starrte erst die Maske, dann die Wand an und fragte sich, was den Schaden verursacht haben mochte. »Verdammt, diese Bude fällt rings um uns auseinander.«
KAPITEL 8
Mike und Holly saßen gerade am Küchentisch, um über den eben entstandenen Riss in der Wand der Bibliothek und darüber zu reden, was sie dagegen unternehmen sollten, als die Kinder von der Schule nach Hause kamen. Tommy stürmte zur Tür herein und konnte es kaum erwarten, seinen Eltern alles über seine neue Schule zu erzählen. Er griff sich einen Keks aus dem Glas auf der Anrichte und beschrieb ihnen die Schule, die Lehrerin und einige der anderen Kinder. »Meine Lehrerin heißt Mrs. Wilson. Sie ist richtig nett. Aber sie hat so eine komische Brille, mit der ihre Augen echt riesig aussehen.« Er legte den Keks beiseite und bildete mit den Fingern Ringe um die Augen, um vorzuführen, wie die Augen seiner Lehrerin aussahen. »Etwa so. Richtig groß. Wie bei einem Frosch. Ist komisch, wenn sie einen anschaut.« »Nenne sie bloß nicht Froschauge«, warten ihn Holly. »Ich glaube, das würde ihr nicht gefallen.« »Das würde ich nie tun«, gab Tommy kopfschüttelnd zurück. »Sie könnte wütend auf mich werden und mich ins Büro des Direktors schicken. Ich habe gehört, dass sie auch echt fies sein kann, wenn sie will. Zumindest hat das Jimmy Foss gesagt. Das ist ein Junge in meiner Klasse. Er sitzt neben mir. Jimmy meint, Mrs. Wilson kann sich in eine richtige Hexe verwandeln, wenn ihr danach ist. Heute hat sie zwei Jungs ins Büro des Direktors geschickt, nur weil sie geschwatzt haben.« »Du warst doch nicht etwa einer der beiden, oder?«, hänselte ihn Mike. »O nein. Aber ich habe das Büro trotzdem gesehen.«
Er beschrieb es als rundes Glasabteil mitten in der Schule. Wenngleich das Büro an sich eine höchst ungewöhnliche Konstruktion darstellte, hatte ihn etwas anderes noch mehr fasziniert, nämlich die Schaukästen mit ausgestopften Vögeln entlang der Wände direkt gegenüber. Dutzende Schaukästen. Hunderte Vögel. Von einem winzigen, blaugrünen Kolibri bis hin zu einem Weißkopf-Seeadler. Natürlich waren sie alle tot, ihre Augen aus Glas und einige der gefiederten Körper so alt, dass sie bereits auseinanderzufallen begannen, aber laut Tommy boten sie trotzdem noch einen ziemlich beeindruckenden Anblick. »Bist du sicher, dass es echte Vögel sind?«, fragte Holly. »O ja. Die sind echt. Ich habe sogar die Lehrerin danach gefragt. Sie sagte, die Vögel sind schon da, seit die Schule gebaut wurde.« Obwohl Holly ein Lächeln wahrte, teilte sie die Begeisterung ihres Sohnes für eine Sammlung ermordeter und ausgestopfter Vögel nicht. Sie fand, dass man wild lebende Tiere wild leben lassen und nicht für jemandes morbide Sammlung missbrauchen sollte. Zudem bereitete ihr Sorgen, was für eine Botschaft eine solche Ausstellung jungen Kindern vermittelte, erst recht in diesem ländlichen Gebiet, in dem Schusswaffen und die Jagd ohnehin zum allgemeinen Lebensstil gehörten. Megan betrat das Haus ein paar Minuten später mit einem Gebaren, das nicht gegenteiliger sein konnte als das ihres Bruders. Offenbar war ihr erster Eindruck von der neuen Schule alles andere als positiv gewesen. Wie sich herausstellte, mochte sie weder die Klassenzimmer noch die Lehrer oder ihre Mitschüler und Mitschülerinnen. »Du musst der Sache eine faire Chance geben«, forderte Mike sie auf. »Immerhin war das nur dein erster Tag. Sobald du die ersten Freundschaften geschlossen hast, wird alles besser, du wirst sehen.«
»Dem hier soll ich eine faire Chance geben?«, höhnte Megan unverkennbar aufgebracht. Sie griff in ihre Jeanstasche und zog behutsam eine zusammengefaltete Serviette hervor, aus der sie mehrere winzige Papierkügelchen auf den Küchentisch kullern ließ. »Was ist das?«, wollte Holly wissen und beugte sich vor, um einen genaueren Blick darauf zu werfen. »Das sind Spuckeknöllchen«, erwiderte Megan mit zorniger Stimme. »Ich habe mir heute Morgen im Bus sechs davon aus den Haaren gezogen.« »Ja, und ich wurde ins Gesicht getroffen«, meldete sich Tommy mit dem Mund voller Keks zu Wort. »Es hat wehgetan, aber ich habe nicht geweint. Nicht wahr, Megan?« »Nein, hast du nicht«, bestätigte Megan und versuchte, ihren Bruder zu ignorieren. »Und die Kinder im Bus haben Dinge gesagt. Gemeine Dinge.« »Was für Dinge?«, hakte Holly nach. »Dinge über Dads Großmutter; wie verrückt sie gewesen ist. Ein paar davon hatten sogar einen kleinen Reim darüber. Ich kann mich nicht an die genauen Worte erinnern, aber er war alles andere als nett.« Megans Augen wurden feucht, und Mike erkannte, dass sie mit Tränen der Wut kämpfte. »Ich glaube, die Kinder im Bus hassen uns wegen Vivian Martin. Ich glaube, sie halten uns für genauso verrückt wie sie, weil wir im selben Haus wohnen.« »Die alte Vivian Martin, die hat graue Haar’ und sieht Schreckgespenster das ganze Jahr. Gespenster unterm Dach und unter ihren Händen, Gespenster unterm Bett und auch in den Wänden.« sagte Tommy, der sich einen Teil des Reims gemerkt hatte, den die Kinder im Bus gesungen hatten. Plötzlich kicherte er, wahrscheinlich, weil er die Vorstellung komisch fand, dass eine, alte Frau Gespenster unter dem Bett haben könnte.
Holly zog eine Augenbraue hoch und bedachte Mike mit einem Blick, aus dem sprach, dass sie eine Erklärung verlangte. Mike sah erst seine Frau, dann seine Tochter an und versuchte, sich etwas Tröstliches einfallen zu lassen, um die Wogen zu glätten. Er wusste, dass Kinder grausam sein konnten, vermutete allerdings, dass die Spuckebällchen eher als Streich statt aus Bösartigkeit abgefeuert worden waren. Als er nichts sagte, ergriff Holly das Wort. »Ich werde in der Schule anrufen und dem auf der Stelle ein Ende bereiten.« Sie stand auf und steuerte auf das Telefon zu, doch Mike rief sie zurück. »Du solltest deshalb nicht in der Schule anrufen. Noch nicht.« »Warum nicht?« Er hob die Hände und versuchte, sie zu beruhigen. »Ich bin sicher, das war bloß ein harmloser Streich, den die anderen den beiden neuen Kindern spielen wollten. Morgen wird alles anders aussehen, glaubt mir. Wenn du in der Schule anrufst, wird die Busfahrerin die Kinder zusammenstauchen, und die Dinge werden sich nur noch zuspitzen.« Holly drehte sich um und starrte ihn an. »Ich lasse nicht zu, dass meine Kinder im Bus terrorisiert werden.« »Das will ich auch nicht«, erwiderte er. »Aber warten wir noch einen Tag ab, in Ordnung?« Holly überlegte kurz, dann nickte sie. »Na schön, wir warten noch. Aber wenn es noch einmal vorkommt, rufe ich den Direktor an.« »Abgemacht.« Mike nickte. Er wandte sich den Kindern zu. »Was ist mit euch?« Megan wusste, wie schlimm es werden konnte, wenn der Eindruck entstünde, sie hätte die anderen verpetzt. »Okay«, willigte sie ein. »Aber morgen trage ich einen Helm.«
»Ich auch«, sagte Tommy. Er zog einen weiteren Keks aus dem Glas, der ihm jedoch aus den Fingern glitt und unter den Tisch rollte. Da er seinen Nachmittagsimbiss nicht entwischen lassen wollte, hechtete er hinterher. »Hey, Dad, was ist das?«, fragte Tommy, als der den Schokokeks unter dem Tisch aufhob. »Was ist was?«, gab Mike zurück und schob den Stuhl zurück, um sich anzusehen, was sein Sohn entdeckt hatte. Tommy deutete auf einen dunklen Fleck auf dem Boden unmittelbar unter dem Tisch, ein unregelmäßiges Oval etwa fünfzehn Zentimeter lang und zehn Zentimeter breit. »Das war vorher, als ich gefegt habe, noch nicht da«, sagte Holly, die ebenfalls unter den Tisch spähte. Mike betrachtete den Fleck eine Weile und überleget, was ihn verursacht haben konnte. Die blassgelben Fliesen waren erst am Vortag verlegt worden; vielleicht hatten die Arbeiter etwas auf dem Boden verschüttet, das erst jetzt durch die Fliesen gedrungen war. Er beugte sich vor und fuhr mit den Fingerspitzen über den Fleck. Die Fliesen fühlten sich weder nass noch klebrig an. »Keine Ahnung, was das ist«, gestand Mike und richtete sich wieder auf. »Etwas muss von der anderen Seite durchgedrungen sein. Fühlt sich nicht wie Schimmel an. Vielleicht hatten die paar Fliesen von vornherein eine Macke. Ich rufe gleich morgen Früh die Handwerker an. Die sollen herkommen und sie austauschen.« »So kurzfristig bekommst du nie und nimmer jemanden«, meinte Holly, die noch immer auf den Fleck starrte. »Aber sicher«, entgegnete Mike. »Du vergisst, dass wir jetzt auf dem Land leben. Hier in der Gegend kann es gar nicht so viel Arbeit für Handwerker geben. Ich vermute, die meisten Leute machen ihre Reparaturen selbst, vor allem, wenn es um etwas so Einfaches wie das Tauschen von Bodenfliesen geht.«
»Sieht aus wie ein Gesicht«, mischte Tommy sich ins Gespräch. »Was?«, fragte Mike nach. »Der Fleck sieht aus wie ein Gesicht.« Mike blickte abermals hinab. Zuvor war es ihm nicht aufgefallen, weil er aus einem anderen Winkel hingeschaut hatte, aber der Fleck erinnerte tatsächlich an das Gesicht eines Menschen ohne Ohren. Innerhalb des Flecks prangten zwei dunklere Tupfen, die Augen bildeten, und eine weitere dunkle Schliere für den Mund. Außerdem waren da hellere Stellen, die man als Wangenknochen und Nasenrücken deuten konnte. »Das liegt bloß daran, wie das Licht darauf fällt«, meinte Holly, während sie den Fleck musterte. »Nein, Mom, schau nur.« Tommy kroch dichter an den Fleck und blockierte dadurch den Schein der Deckenbeleuchtung. Das Bild veränderte sich kaum. Wenn überhaupt, wirkte der Fleck noch mehr wie ein Gesicht als zuvor. Eigentlich genau wie ein Gesicht. Obwohl Mike wusste, dass er lediglich eine Verfärbung der Fliesen betrachtete, konnte er den Schauder nicht verhindern, der ihm über den Rücken kroch. Der Fleck ähnelte auf schaurige Weise einem Gesicht, als spähte jemand vom Boden zu ihm empor, der durch die Fliesen blickte wie durch ein Fenster. »Es ist nur ein Fleck mit einer merkwürdigen Form, das ist alles«, sagte er, um Tommy zu beschwichtigen, bevor mit dem Jungen die Fantasie durchgehen konnte. Und dennoch… tief in Mikes Kopf flüsterte eine leise Stimme, dass er mehr vor sich sah als einen bloßen Fleck. Viel, viel mehr.
KAPITEL 9
Nachdem Mike früh am Samstag in ihrem neuen Haus erwacht war, fand er Tommy bereits vor dem Fernseher vor, auf dem er sich Zeichentrickfilme ansah. Obwohl sie bislang immer noch nur etwa sechs Programme empfingen, reichte dies offenbar völlig aus, um den Jungen glücklich zu machen. Zumindest beklagte er sich nicht, dass er seine Lieblingssendungen vermisste, was, wie Mike aus Erfahrung wusste, geschehen würde, falls sein Sohn eine Episode seiner gerade aktuellen Lieblingsserie verpasste. Doch egal, was diese Lieblingsserie derzeit sein mochte, im Moment sah Tommy sich einen alten Bugs-Bunny-Cartoon an. Bugs und Daffy stritten gerade vor Eimer darum, ob gerade »Hasensaison« oder »Entensaison« sei. Mike blieb an der Tür stehen, um kurz mitzuschauen. Er lächelte, als Bugs Bunny den alten Wortverdrehertrick anwandte und Daffy dazu brachte zu sagen, dass Entensaison sei. Schnell wie der Blitz richtete Eimer die Mündung seiner altvertrauten Schrotflinte auf Daffys Kopf und drückte den Abzug, woraufhin der Entenschnabel plötzlich auf der Rückseite des Kopfs herausragte. Mike freute besonders, dass der Cartoon nicht der Schere der Fernsehzensur zum Opfer gefallen war. Es hatte eine Zeit gegeben, in der so gut wie jede Kindersendung unter Beschuss seitens Elternvertretergruppen stand, weil sie als zu gewalttätig für junge Seher betrachtet wurden. Für gewöhnlich standen die drei Stooges ganz oben auf der Liste, aber auch Zeichentrickfilme wurden in Mitleidenschaft gezogen, darunter die klassischen Looney Toons der Warner Bros.
Die Gruppen übten Druck auf die verschiedenen Sender aus und zwangen sie, die Sendungen entweder aus ihren Programmen zu entfernen oder so zu bearbeiten, dass keine Gewaltszenen darin verblieben. Dabei spielte es keine Rolle, ob die angebliche Gewalt Slapstick oder eine Parodie darstellte. Sie musste samt und sämtlich verschwinden. Gleichermaßen egal war, dass niemand beweisen konnte, ob aus einem Kind je ein gewalttätiger Irrer geworden war, weil er sich eine Folge der drei Stooges angesehen hatte. Mike hatte noch nie von einem Kind gelesen, dass sich Curly, Larry und Moe angesehen und danach seiner Mutter mit einer Bratpfanne ins Gesicht geschlagen oder den Kopf seines Vaters in einen Schraubstock eingespannt hatte. Und glaubten diese elterlichen Zensurgruppen wirklich, ein Kind würde versuchen, auf jemanden einen Tresor fallen zu lassen, wie es der Kojote oft beim Roadrunner probierte? Vielleicht fürchteten sie, ein fehlgeleiteter Teenager könnte einen Tunnel auf eine Bergwand malen, gegen die arglose Autofahrer mit ihren Fahrzeugen prallen könnten. Vielleicht aber auch, dass alle Kinder in ganz Amerika ihr Geld fürs Mittagessen sparen würden, um sich raketengetriebene Rollschuhe oder sonstigen hochtechnischen Kram von der Acme Company zu kaufen. Es war eine wahrhaft traurige Welt, wenn solche Gruppen alle ihre Aufmerksamkeit gegen alte Slapstick-Gags richteten und diese als die Wurzel allen Übels auf der Welt anprangerten, statt sich der Wirklichkeit zu stellen, die so aussah, dass sie einfach lausige Eltern waren. Würden dieselben Leute sich mehr Zeit nehmen, um ihren Kindern den Unterschied zwischen richtig und falsch beizubringen und sie lehren, Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen, wäre die Welt ein wesentlich besserer Ort.
Vielleicht begannen die Menschen bereits, die Dinge als das zu erkennen, was sie wirklich waren, denn viele der Cartoons, die in den 1980ern unter Beschuss geraten waren, wurden nicht mehr zensiert. Zumindest nicht derjenige, den Tommy sich gerade ansah. Mike war froh darüber, denn ein Bugs-BunnyCartoon war nicht im Geringsten komisch, wenn er völlig verstümmelt ablief. Und er wollte, dass Tommy dasselbe Vergnügen empfand, wenn er sich solche Klassiker ansah, wie einst Mike selbst. Der Junge saß unmittelbar vor dem Fernseher auf dem Boden, allerdings weit genug entfernt, um nicht von seiner Mutter gescholten zu werden. Auf dem Schoß hatte Tommy einen Karton Corn Pops, aus dem er die sich die knusprigen, süßen Cornflakes in den Mund steckte. Dabei kicherte er über die Mätzchen von Bugs und Daffy. Dass sein Vater ihn von der Tür aus beobachtete, hatte er noch immer nicht bemerkt. Mike spielte mit dem Gedanken, sich zu seinem Sohn vor den Fernseher zu setzen, doch ihm war klar, dass er dann vermutlich den Großteil des Vormittags damit vergeuden würde, sich Cartoons anzusehen. Also lächelte er stattdessen und setzte den Weg den Gang hinab zur Küche fort. Er überlegte, ob er ein Frühstück vorbereiten sollte, etwas anderes als Corn Pops direkt aus dem Karton, aber Holly und Megan schliefen noch tief und fest, und es widerstrebte ihm zutiefst, sich die Mühe anzutun, eine Mahlzeit nur für sich selbst zuzubereiten. Er gelangte zu dem Schluss, dass Tommy es richtig gemacht hatte – an einem Samstagmorgen schien der schnelle Weg zu frühstücken der beste –, griff sich ein paar Pop Tarts mit Erdbeergeschmack aus dem Schrank und setzte eine Kanne frischen Kaffee auf. Als er einen Stuhl vom Küchentisch zurückzog, viel Mike auf, dass inzwischen zwei Flecken auf dem Fliesenboden prangten. Der zweite Fleck präsentierte sich wie der erste als
dunkelgraues, etwa fünfzehn Zentimeter langes und zehn Zentimeter breites Oval. »Was um alles in der Welt…?« Er schob den Stuhl aus dem Weg, um die Flecken eingehender zu betrachten, und spürte, wie in ihm Ärger darüber aufstieg, dass etwas Derartiges bei einem brandneuen Boden auftrat. Es musste eine Erklärung dafür geben. Vermutlich gelangte Feuchtigkeit unter die Fliesen. Vielleicht war eine der Wasserleitungen undicht geworden. »Na, großartig. Genau, was wir brauchen. Noch mehr Reparaturarbeiten.« Er stellte die Pop Tarts auf den Tisch und ging durch die Küche zu der Tür, die in den Keller führte. Seit sie eingezogen waren, hatte er nur Zeit für einen flüchtigen Blick hinunter gehabt. Falls eine Wasserleitung undicht geworden war, würde er sie dort unten finden, weil die an die Küchenarmaturen angeschlossenen Rohre entlang der Holzbalken unter dem Boden verliefen. Er öffnete die Tür und legte den Lichtschalter am Kopf der Treppe um. Unten im Keller erwachten zwei Glühbirnen zum Leben, deren fahler Schein kaum in der Lage war, die Dunkelheit zurückzudrängen. Mit der Hand am Geländer stieg Mike die schmalen Stufen hinab. Aus den Schatten drang eine Vielzahl von Gerüchen auf ihn ein: Schimmel, Feuchtigkeit, Staub und vermutlich Kakerlaken. Auch ein spürbarer Temperaturunterschied zeichnete sich ab, während er die Stufen hinabging. Im Keller herrschte Grabeskälte. Als er den Kellerboden erreichte, wandte er sich nach rechts und bahnte sich einen Weg zwischen einem alten Ölofen und einem kleinen Stapel leerer Farbdosen hindurch. Dabei lief er in ein Spinnennetz. Die klebrigen Fäden hafteten an seinem Gesicht und in seinen Haaren und ließen ihn erschrocken zurückspringen.
»Verdammt! Verdammt, verdammt, verdammt«, fluchte er, wischte sich die Spinnweben ab und fuchtelte gegen imaginäre Spinnen, die, davon war er überzeugt, nun überall auf ihm herumkrabbelten. Er hätte eine Taschenlampe mitnehmen sollen, doch er hatte nicht damit gerechnet, dass es im Keller dermaßen dunkel sein würde. Er drehte sich herum und hielt Ausschau nach der Reihe winziger Fenster hoch oben entlang einer Wand, durch die eigentlich Licht einfallen sollte. Die Fenster entdeckte er zwar, aber die Scheiben waren schwarz angemalt worden. Mike stand da, starrte die Fenster an und erkannte, dass er ein weiteres sichtbares Anzeichen für das exzentrische Verhalten seiner Großmutter betrachtete. Die alte Frau musste die Scheiben angemalt haben, um zu verhindern, dass jemand in den Keller blicken konnte. Wenngleich es dort nichts zu geben schien, was sich zu betrachten lohnte. Mike merkte sich geistig vor, für das Fenster einen Schaber zu kaufen, dann drehte er sich um und zählte seine Schritte. Als er die Stelle erreichte, die sich schätzungsweise direkt unter dem Küchentisch befinden musste, blieb er stehen und betrachtete die Decke über ihm. Wo er stand, befanden sich keine Wasserleitungen, nichts, was ein Leck oder genug Feuchtigkeit verursachten konnte, um den Fleck am Küchenboden zu erklären. Da Mike wusste, dass Wasserschäden sich bisweilen auf seltsamen Wegen ausbreiteten, durchquerte er langsam den Keller, bis er die Wasserleitungen fand. Wiederum entdeckte er nichts, das auf eine undichte Stelle hinwies. Keine Pfützen, keine Tropfen. Nicht einmal übermäßige Feuchtigkeit. In der Überzeugung, dass irgendwo ein Leck sein musste, folgte er den Leitungen von einem Ende des Kellers zum anderen. Nichts. Er wollte gerade denselben Weg zurückgehen und die Rohre dabei einer zweiten Begutachtung unterziehen,
als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm, einen Schatten, der sich schwärzer als die Dunkelheit rings um ihn abzeichnete. Etwas Kleines huschte die Wand unter den Fenstern entlang. Unvermittelt blieb Mike mit pochendem Herzen stehen. Was um alles in der Welt war das? Es muss eine Ratte gewesen sein. Nein. Zu verdammt groß für eine Ratte. Vielleicht ein Opossum. Oder ein Stinktier. Mike schnupperte, roch jedoch nichts Auffälliges. Gott, bitte lass es kein Stinktier sein. Der Gedanke daran, wilde Tiere im Keller zu haben, bestürzte ihn, erst recht mit den Kindern im Haus. Zwar hielt er die Gefahr, dass sie gebissen werden könnten, für nicht allzu groß, dennoch würde er sich unter keinen Umständen mit unerwünschten Viechern abfinden. Den Blick auf die Wand unter den Fenstern geheftet durchquerte Mike langsam den Raum. Er bewegte sich so leise wie möglich und lauschte dabei mit leicht schief gelegtem Kopf auf das Trippeln winziger Füße. Allerdings stammten die einzigen Geräusche, die er hörte, von ihm selbst. Es muss wohl weg sein. Wahrscheinlich ist es durch ein Loch in der Wand oder im Boden geflüchtet. Vielleicht einen Tunnel hinab. Vermutlich habe ich es verscheucht. Er wandte die Aufmerksamkeit dem Bereich direkt unter den Fenstern zu und lief um ein Haar in eine der anderen Wände. Vorübergehend desorientiert durch das plötzliche Auftauchen der Wand vor ihm, hielt er inne. Als er sich umsah, stellte er fest, dass der Keller kein Rechteck bildete. Vielmehr wies er eine L-Form auf, und Mike befand sich in einer Nische, die aus dem Hauptraum ragte. Während er langsam die Orientierung wieder erlangte, erblickte er direkt über seinem Kopf etwas Dunkles, Pelziges.
Erschrocken sprang er zurück; um ein Haar hätte sich ein Schrei von seinen Lippen gelöst. Großer Gott! Er erwartete, dass ihn das Tier anspringen, mit den spitzen Zähnen nach seiner ungeschützten Kehle schnappen würde, doch nichts geschah. Die Kreatur und Mike verharrten reglos und starrten einander an. Zumindest vermutete er, dass sie ihn anstarrte – er konnte ihre Augen nicht sehen. Na schön, Großer, mach schon. Zeig mal, wie böse du wirklich bist. Hätte ich einen Baseballschläger dabei, würde ich dir auf der Stelle zeigen, wie böse ich sein kann. Eine Weile verstrich. Das Tier bewegte sich immer noch nicht. Was machst du? Schläfst du etwa? Oder bist du schon tot? Als ihm klar wurde, dass mit der Kreatur irgendetwas nicht stimmte, entspannte er sich etwas. Et trat einen Schritt vor und stellte fest, dass es sich tatsächlich um kein Tier handelte, sondern um eine geschnitzte Holzstatue, etwa fünfundzwanzig Zentimeter groß und mit Fell bedeckt. Sie stand auf einer Ablage aus Holz an der Wand. Daneben befanden sich weitere Statuen. Mike stieß den angehaltenen Atem aus. »Eine verdammte Kachina.« Im Gegensatz zu den anderen Puppen, die er bisher gesehen hatte, war diese völlig mit braunem Fell überzogen. Zudem trug sie Mokassins, Armbänder und eine bunte Schürze um die Mitte. Nach den bedrohlichen Klauenhänden und der Form des Kopfes zu urteilen, sollte die Statue vermutlich einen Bärengeist darstellen. »Du hast mich ganz schön erschreckt.« Er drehte die Puppe um, weil er ihr Gesicht sehen wollte. Wie die anderen in den Räumen oben standen alle der Wand zugekehrt. Das Gesicht der Bärenkachina erwies sich als mit einer offenen, mit
spitzen, weißen Zähnen gesäumten Schnauze als ziemlich wild. Über dem pelzigen Maul starrten Mike zornige Augen herausfordernd an. »Herrgott, von deinem Anblick könnte man glatt Albträume bekommen.« Er drehte die Puppe in den Händen, um sie im trüben Licht eingehender zu betrachten. »Ja. Du bist wirklich ziemlich Furcht einflößend. Ich würde sagen, du bekommst oben eine neue Heimat.« Er staube die Puppe ab und ging zurück durch den Keller. Leck hatte er keines gefunden, was bedeuten musste, dass die Flecken im Boden wahrscheinlich das Ergebnis fehlerhafter Fliesen waren. Er würde die Handwerker anrufen. Zwar würden sie keine Freude damit haben, herkommen zu müssen, um den Boden zu reparieren, doch das war nicht zu ändern. Er hatte für einen neuen, makellosen Küchenboden bezahlt, und den wollte er auch haben. Er wechselte die Bärenkachina in die linke Hand, ergriff mit der rechten das Geländer und erklomm die Treppe. Hätte er sich in jenem Augenblick umgedreht und zurückgeschaut, er hätte entlang der Stufen an der nächstgelegenen Wand einen kleinen Schatten über den Boden huschen gesehen. Allerdings nicht den Schatten eines Opossums, Stinktiers oder eines sonstigen Lebewesens. Nur einen Schatten, sonst nichts.
KAPITEL 10
Mike trug die Bärenkachina in die Küche und stellte sie auf den Tisch. Am liebsten hätte er die Handwerker wegen des Küchenbodens sofort angerufen, doch er wusste, dass er am Samstag niemanden erreichen würde. Also ging er stattdessen in die Bibliothek und begann, die alten Bücher in den Regalen durchzusortieren. Die Bände über Folklore, Magie und Übernatürliches, die seine Großmutter gehortet hatte, stellten eine willkommene Ergänzung seiner eigenen Sammlung von Nachschlagewerken dar. Leider besaß er mittlerweile so viele Bücher, dass nur ein Bruchteil davon in die Regale passen würde. Die interessantesten Stücke seiner Großmutter ließ er stehen, den Rest verstaute er in Kartons, um sie zwischenzulagern, bis er weitere Regale aufstellen konnte. Im Verlauf der Arbeit stolperte er über ein ziemlich ansprechendes Buch über Kachinapuppen. Neugierig schlug er es auf, blätterte es durch und betrachtete erfreut die zahlreichen Farbfotos, die es enthielt. Als er auf das Bild einer Bärenkachina stieß, die an die soeben aus dem Keller geholten Puppe erinnerte, hielt er inne. Aus dem Text unter dem Foto erfuhr er, dass die Hopi Bären für die Berater, Heiler und Helfer ihres Volkes hielten. Mit ihrer Hilfe bezwangen die Hopi Monster und Hexen und heilten seltsame Krankheiten. Als der größte Heiler unter den Tieren galt der Dachs, doch auch dem Bären wurden ähnliche Kräfte zugeschrieben, zumal er die Heilwirkung aller Wurzeln kannte und wusste, wie man sie verabreichte. Obendrein war der Bär ein Krieger, verstand
etwas von Gefahr und konnte Männern helfen, bärengleicher zu werden. Laut dem Buch konnten alle Tiere ihre Haut ablegen und sie aufhängen wie ein Kleidungsstück. Ohne ihre Häute sahen sie genau wie Menschen aus, hockten sich in Kivas, rauchten und besprachen ernste Angelegenheiten. Wenn es nötig war, sich in Tiere zurückzuverwandeln, schlüpften sie einfach wieder in ihre Häute. »Da brat mir doch einer nen Storch«, murmelte Mike lächelnd vor sich hin. »Man lernt wirklich nie aus.« Der Ausschnitt aus den Stammesüberlieferungen der Hopi, den er gerade gelesen hatte, faszinierte ihn. Er wollte unbedingt mehr über die Kachinasammlung seiner Großmutter erfahren, weshalb er das Buch an eine Stelle im Regal stellte, an der er es mühelos wieder finden würde. Am liebsten hätte er sofort weitergelesen, doch er wusste, wenn er sich erst mal richtig in das Buch vertiefte, würde er mit dem Aufräumen niemals fertig werden. Nachdem er mit dem Sortieren der Bücher fertig war, holte er sich aus der Küche einen Stuhl, auf den er stieg, um die Kachinasammlung abzustauben, die das einsame Ablagefach entlang der Wände nahe der Decke zierte. Seltsamerweise war jede einzelne Puppe nicht nur von Staub und Spinnweben bedeckt, sondern auch mit winzigen, rötlichen Holzraspeln gesprenkelt. Neugierig darauf, von welcher Holzart die Späne stammten, ergriff er eine Prise von einer der Puppen und roch daran. Der Duft war äußerst schwach, dennoch erkannte er den süßlichen Geruch von Zedernholz. Er fragte sich, weshalb seine Großmutter Zedernspäne über die Kachinas gesprenkelt haben mochte, doch dann fiel ihm ein, davon gelesen zu haben, dass viele Indianerstämme Zedernholz als geheiligt betrachteten. Es wurde häufig bei Zeremonien verwendet, entweder, indem es in einem Feuer
verbrannt wurde, um reinigenden Rauch zu spenden, oder indem es als Segnung über eine Person oder einen Gegenstand gesprenkelt wurde. Adlerfedern und Medizinpfeifen wurden häufig in Kästchen aus Zedernholz verwahrt, um negative Energien fern zu halten. Außerdem besaß das aromatische Holz eine abstoßende Wirkung auf Motten, weshalb vor langer Zeit viele Menschen ihre Lieblingskleider in Zedernholztruhen lagerten. Anscheinend hatte seine Großmutter den Kachinas spezielle Eigenschaften zugeschrieben, die sie vor etwaigen negativen Einflüssen im Haus zu schützen versucht hatte. Vermutlich hatten die Puppen einst bei Indianerzeremonien dazu gedient, Kranke, oder Verwundete zu heilen. Vielleicht hatte sie das Zedernholz aber auch eingesetzt, um Motten und sonstige unliebsame Käfer fern zu halten. Womöglich war ihr das Insektenspray ausgegangen, und sie hatte nur noch Zedernholz zur Verfügung gehabt. Was immer der Grund gewesen sein mochte, Mike teilte die Überzeugungen seiner Großmutter nicht. Er sah nichts, was dagegen sprach, die Puppen zu putzen. Es wäre unmöglich, den Staub und die Spinnweben zu beseitigen, ohne auch die Zedernholzspäne zu entfernen; daher musste alles verschwinden. Abwechselnd pustend und wischend reinigte er sorgfältig jede einzelne Kachina. Dabei drehte er die Puppen auch gleich um, sodass sie nicht mehr der Wand zugekehrt standen. Er überlegte, weshalb seine Großmutter ihre Sammlung mit den Rücken zu den Betrachtern aufgestellt haben mochte, doch nur kurz. Sie war eine verschrobene Frau gewesen, deren Verstand völlig anders funktioniert hatte als jener rational denkender Menschen. Für sie hatte es wahrscheinlich einen logischen Grund gegeben, die Holzpuppen verkehrt herum zu präsentieren. Für sie, und nur
für sie. Mikes Großmutter war meschugge gewesen. So einfach war das. Später an jenem Nachmittag beschlossen Holly und Mike, dass es eine gute Idee wäre, an der Tanzveranstaltung in der VFW Hall in Braddock teilzunehmen. Tatsächlich war es Holly, die den Ausschlag gab. Mike war ein wenig zögerlich, aber sie überzeugte ihn davon, dass es eine gute Gelegenheit sein könnte, neue Freundschaften zu schließen. Und da in der Zeitung ein Artikel über ihn gestanden hatte, wurde seine Anwesenheit bestimmt erwartet. Die Kinder zeigten sich alles andere als erfreut darüber, als sie erfuhren, dass sie an einem Samstagabend zu Hause bleiben sollten, während ihre Eltern ausgingen. Als Holly dann noch erwähnte, dass sie bereits eine Babysitterin organisiert hatte, fehlte nicht viel zu offener Rebellion. »Eine Babysitterin? Für uns?«, fragte Megan ungläubig. »Ich bin fünfzehn! Viel zu alt für eine Babysitterin. Was hast du vor, willst du meinen Ruf in diesem Kaff ruinieren, bevor ich mir überhaupt einen aufbauen kann?« »Aber, aber«, beschwichtigte Holly sie. »Sieh Tammy nicht als Babysitterin; denk sie dir stattdessen als Haushälterin.« »Das läuft aufs selbe raus«, gab Megan zurück. »Mir ist egal, als was du sie bezeichnest, ich werde sie nicht zu Gesicht’ bekommen, weil ich den Abend in meinem Zimmer verbringen werde.« Damit stürmte sie die Treppe hinauf in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Die Babysitterin traf pünktlich um sieben Uhr ein. Sie erwies sich als groß gewachsenes, dünnes Mädchen mit einem angenehmen Lächeln, vermutlich um die Anfang zwanzig. Holly überreichte ihr eine Liste mit Anweisungen und übergab Tommy ihrer Obhut. Megan verschanzte sich immer noch in ihrem Zimmer, das sie wohl auch nicht mehr verlassen würde, bevor die Nacht zu Ende war.
Der Parkplatz der VFW Hall war voll, weshalb Mike gezwungen war, den Van auf dem leeren Parkplatz auf der gegenüberliegenden Straßenseite abzustellen. So wie es aussah, hatte sich halb Braddock zu dem Tanzabend eingefunden. Mike fragte sich, ob Tanzveranstaltungen immer so gut besucht waren oder ob einige Leute nur kamen, um ihren neuesten, prominenten Nachbarn kennen zu lernen. Die Vorstellung, dass der Anlass für Holly und ihn zu einer Zurschaustellung für die Einheimischen ausarten könnte, bereitete ihm mehr als nur ein wenig Unbehagen. Innen erwies sich die VFW Hall also genauso überfüllt wie der Parkplatz. Kleine Holztische standen rings um einen rechteckigen Tanzboden, auf dem Paare zu den Klängen einer vierköpfigen Band tanzten. Gespielt wurde Countrymusic mit leichtem Jazzeinschlag. Der Blicke deutlich gewahr, die sich auf sie hefteten, als sie eintraten, bahnten sie sich langsam einen Weg durch den Saal zur Bar. Als Mike die Aufmerksamkeit des Barkeepers erlangte, bestellte er ein Budweiser für sich und ein Cola-Rum für Holly. Nachdem er die Getränke bezahlt hatte, drehte er sich um und hielt Ausschau nach einem freien Tisch. Leider gab es keinen. »Sieht so aus, als müssten wir an der Bar sitzen bleiben«, stellte er fest und reichte Holly ihren Drink. »Da dürftest du Recht haben«, pflichtete sie ihm bei und nickte. Sie musste ziemlich laut reden, um die Musik zu übertönen. »Ich schätze, wir hätten früher kommen sollen.« Holly grinste. »Was denn, und die Gelegenheit für einen solchen Auftritt sausen lassen?« Mike lachte und trank einen Schluck Bier. Dabei fiel ihm ein großer, dunkelhaariger Mann auf, der über den Tanzboden auf
die Bar zusteuerte. Mike hatte sofort das Gefühl, dass der Mann zu ihm wollte. Es stellte sich als richtig heraus. »Mr. Anthony, ich bin Jim Cowen, Chefredakteur der Braddock Tribune.« Er streckte die Hand aus. »Ich wollte Sie nur herzlich in der Nachbarschaft willkommen heißen.« Mike stellte sein Bier ab und schüttelte dem Mann die Hand. »Das ist meine Frau Holly.« »Freut mich«, sagte Jim und schüttelte auch ihr die Hand. »Hören Sie, diese Barhocker sind entsetzlich unbequem. Meine Frau und ich haben einen Tisch in der Ecke. Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie sich zu uns setzen.‹ Dort ist es außerdem viel leiser als hier, nicht so nah bei den Lautsprechern.« . »Intelligente Gesellschaft und der Schutz unserer Trommelfelle?« Mike lächelte. »Abgemacht.« Sie ergriffen ihre Getränke und folgten Jim Cowen durch den Saal. Wieder schienen sich sämtliche Augenpaare auf sie zu heften. Mike erhielt so viele Blicke, dass er sich fragte, ob sein Hosenstall offenstand, konnte jedoch dem Drang widerstehen, hinabzugreifen, um es zu überprüfen. Jim führte sie zu einem kleinen, runden Tisch in der hinteren Ecke des Saals, weit genug von der Band entfernt, um eine Unterhaltung zu ermöglichen, zudem weit genug vom Tanzboden, um nicht von den Paaren angerempelt zu werden, die sich ausgelassen den Freuden der Musik hingaben. Am Tisch saß eine atemberaubend schöne Frau. Sie war schlank und athletisch, hatte blaue Augen und dichtes, blondes Haar, das ihr wie ein Wasserfall über die Schultern fiel. Ihr schillernd rotes Kleid saß lose; ein Umstandskleid. Offensichtlich war Mrs. Cowen schwanger, allerdings wahrscheinlich noch in den ersten paar Monaten. »Mike, Holly, das ist meine Frau Karen«, stellte Jim sie einander vor.
Karen begrüßte sie mit einem herzlichen Lächeln und schüttelte ihnen die Hände. »Ist mir eine Freude, Sie kennen zu lernen. Ich hatte schon befürchtet, Sie würden nach dem Artikel, den Jim über Sie geschrieben hat, nichts mit uns zu tun haben wollen. Ich habe ihm gesagt, er soll noch mit der Veröffentlichung warten, aber Sie wissen ja, wie Zeitungsmenschen sind.« Jim legte verlegen den Kopf schief. »Dass ein Schriftsteller in die Stadt zieht, sind in dieser Gegend große Neuigkeiten. Ich hoffe, Sie haben keinen Anstoß an dem genommen, was ich geschrieben habe.« Holly lachte. »Nein, nein. Ganz und gar nicht. Obwohl ich mich schon gefragt habe, warum uns alle anstarren.« Mike und Holly stellten ihre Getränke ab und gesellten sich am Tisch zu den Cowens. Die Frauen begannen bald eine eigene Unterhaltung, die sich um Kinder und das Wunder der Geburt drehte. Karen war zum ersten Mal schwanger und freute sich bereits sehr darauf, Mutter zu werden. Es dauerte nicht lange, bis die beiden Frauen angeregt Geschichten austauschten und herzlich lachten. Mikes und Jims Gespräch konzentrierte sich mehr auf Ereignisse in der Gemeinde und Lokalpolitik. Außerdem sprach Jim über seinen Job als Chefredakteur der einzigen Zeitung der Stadt, eine Position, die er seit weniger als zwei Jahren innehatte. Etwa eine Stunde später, als Mike gerade zur Toilette gegangen war, fiel Holly plötzlich der verrückte alte Indianer ein, der ihr auf dem Parkplatz des Supermarkts begegnet war. »Jim, als Chefredakteur der Zeitung müssen Sie doch die meisten Leute aus dem Ort kennen, oder?« »Ja«, bestätigte Jim lächelnd. »Ist nicht so schwierig in einer so kleinen Ortschaft.« »Kennen Sie einen alten Mann namens Sam Tochi?«
Jims Lächeln verblasste. Er wechselte einen kurzen Blick mit seiner Frau. »Ja, ich kenne Sam. Obwohl ich gern darauf verzichten könnte. Er ist der offizielle komische Kauz der Stadt. Ein alter Hopi-Indianer, der vor langer Zeit ins Reservat hätte zurückkehren sollen. Er ist eine echte Nervensäge, abgesehen davon aber harmlos. Ich schätze, eine solche Type gibt es in jeder Kleinstadt, und Braddock bildet da keine Ausnahme. Sie sind ihm wohl begegnet, wie?« Holly nickte. »Er hat mich vor dem Kroger-Supermarkt angesprochen und angefangen, über ›Schreckgespenster‹ zu schwafeln. Er meinte, ich hätte ihr Haus, was immer das bedeuten mag. Im Nachhinein erscheint es mir ein eher komischer Zwischenfall, aber damals empfand ich ihn als beunruhigend. Haben Sie eine Ahnung, wovon er geredet haben könnte?« Wieder tauschten Jim und seine Frau einen raschen Blick. »Sie müssen wissen, dass Sam Tochi schon lange in dieser Gegend lebt. Er kennt viele der alten Geschichte und Legenden und galt früher als Quell des Wissens darüber, aber das war, als er noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war. Jetzt läuft er nur noch rum, murmelt vereinzelt etwas über die örtliche Folklore, vermischt sie mit Indianermythen und erschreckt die Kinder. Die Stadt hat schon mehrmals versucht, ihn zu seinem eigenen Besten einzuweisen, aber irgendwie gelingt es dem alten Schlitzohr immer wieder, die Ärzte davon zu überzeugen, dass er geistig gesund genug ist, um für sich selbst zu sorgen.« »Was genau sind Schreckgespenster?«, hakte Holly nach. »Und was meint er damit, dass ich ihr Haus hätte?« »Die Menschen, die dieses Gebiet ursprünglich besiedelten, stammten aus Nordeuropa. Sie waren ein ziemlich abergläubischer Haufen und brachten jede Menge ihrer Ängste und Phobien mit. Wenn irgendetwas schief ging – wenn
beispielsweise eine Kuh starb oder ein Pferd krank wurde –, schrieben sie es den Schreckgespenstern zu, bösen Kobolden. In den alten Tagen wurde das so verbreitet praktiziert, dass die Leute dachten, die Wälder seien voll von arglistigen kleinen Kreaturen.« »Welche Wälder?«, fragte Holly, die jedoch die Antwort bereits ahnte. Jim lächelte. »Die Wälder, die jetzt Teil Ihres Grundstücks sind. Aber das sind nur Legenden – alter Aberglaube, der von Hinterwäldlern und verrückten alten Indianern verbreitet wird.« Mike kehrte von der Toilette zurück und nahm neben Holly Platz. »Habe ich etwas verpasst?« »Nicht wirklich«, erwiderte Jim. »Ich habe Ihrer Frau nur gerade von Sam Tochi erzählt.« »Von wem?«, fragte Mike. »Dem offiziellen komischen Kauz unserer Gemeinde.« »Dem alten Indianer, von dem ich dir erzählt habe«, fügte Holly hinzu. »Der mich unlängst angesprochen hat.« »Ach, der«, sagte Mike und nickte. »Ist er gefährlich?« »Nein. Er ist vollkommen harmlos«, entgegnete Jim. »Die einzige Gefahr, die von ihm ausgeht, ist, dass er einem die Ohren wund quatscht.« »Das ist ja dann nicht so schlimm«, lachte Mike. »Die Chance würde ich ihm nämlich gar nicht erst geben.« Die Cowens erwiesen sich als reizende Gesellschaft, allerdings mussten sie relativ früh gehen und ließen Mike und Holly allein am Tisch zurück. Was sie jedoch nicht lange blieben, denn im Verlauf des Abends kamen mehrere Leute zu ihnen, um sich ihnen vorzustellen und sie willkommen zu heißen. Die meisten Menschen, die sie dabei kennen lernten, zeigten sich herzlich und freundlich, einige hingegen ziemlich
abstoßend. Ein paar ließen es sich nicht nehmen, eine negative Bemerkung über Mikes Bücher anzubringen. Mike tat sie ungerührt als Neider ab. Kurz nach Mitternacht allerdings geriet er in einen hitzigen Streit mit einem der örtlichen Trunkenbolde. Der Mann war zu ihrem Tisch gewankt, hatte Mike in die Augen gesehen und angefangen, über seine Großmutter herzuziehen. »Sie müssen wohl all ihre Geschichten von ihr haben. Die Alte war ein echter Fall für die Klapsmühle – sah andauernd Dinge, die gar nicht da waren. Was für eine Irre; muss wohl in der Familie liegen.« Mike hätte dem betrunkenen Mistkerl am liebsten ins Gesicht geschlagen, aber Holly hielt seinen Arm zurück. Stattdessen beschlossen sie, dass es Zeit war zu gehen, zogen ihre Jacken an und steuerten auf die Tür zu. Als sie zu Hause ankamen, waren sie immer noch wütend, doch ihr Zorn verflog rasch, als sie den Vorhof zur Veranda überquerten. Sie bezahlten die Babysitterin und warteten, bis sie davongefahren war, ehe sie das Haus für die Nacht verschlossen. Mike war gerade ins Wohnzimmer gegangen, um den Fernseher auszuschalten, als Holly aus der Küche nach ihm rief. »Mike!«, schrie sie. »Komm her!« Er eilte in die Küche und sah sofort, was seine Frau in solche Aufregung versetzt hatte. Auf dem Boden prangten nun mehr sechs Flecken – drei unter dem Tisch, zwei neben der Anrichte und ein weiterer in der Nähe der Tür. Alle wiesen eine ähnliche Größe und Form auf, wenngleich sich die beiden, die zuerst aufgetaucht waren, deutlich dunkler als der Rest abzeichneten. Mike spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufrichteten, als er vortrat, um einen näheren Blick auf die zwei ursprünglichen Flecken zu werfen. Da sie dunkler waren, bestand kein Zweifel
daran, was sie darstellten – es waren winzige Gesichter, die wie durch Magie auf die Fliesen gemalt wirkten. Gesichter mit offenen Augen, die ihn vom Küchenboden aus anstarrten. Es handelte sich eindeutig um Gesichter, das stand außer Frage, allerdings waren sie nicht menschlich.
KAPITEL 11
Mike hätte gerne länger geschlafen, aber ein dumpfer Schmerz im Kreuz ließ ihn kurz nach sieben Uhr morgens erwachen. So sehr er es versuchte, er konnte nicht mehr einschlafen. Schlimmer noch, durch sein Herumwälzen weckte er auch Holly. Da es ohnehin vorbei damit war, sich ordentlich auszuschlafen, beschlossen sie, aufzustehen und ein Frühstück aus Pfannkuchen und Würstchen vorzubereiten. Als Mike die Küche betrat, schaltete er das Licht ein und warf einen eingehenden Blick auf die sechs ovalen Flecken auf dem Boden. Sie wirkten unverändert gegenüber der vergangenen Nacht. Immer noch sahen sie aus wie Gesichter, die jemand mit Holzkohle oder einer ähnlich dunklen Farbe auf den Fliesenboden gemalt hatte. Natürlich konnten es keine Gesichter sein; das war lächerlich. Es musste eine logische Erklärung dafür geben, wenngleich er verflucht sein wollte, wenn ihm eine eingefallen wäre. Holly verwirrten die Flecken genauso sehr wie ihn. Der Boden fühlte sich weder nass noch klebrig an, ebenso wenig roch es in der Küche nach Schimmel. Holly sank sogar auf Knie und Hände, um an den Flecken selbst zu riechen, weil sie sich davon einen Hinweis auf ihre Ursache erhoffte. Doch da war kein Geruch. Nichts. Null. Nada. Die Flecken blieben ein Rätsel. Während Mike seiner Frau mit dem Frühstück half, versuchte er, nicht darüber nachzugrübeln, was seinen brandneuen Boden ruinierte, doch während er den Pfannkuchenteig in einer Schüssel rührte, wanderte sein Blick unweigerlich wieder zu den Flecken auf dem Boden. Gleich morgen Früh würde er die
Handwerker verständigen. Wahrscheinlich gab es eine ganz einfache Erklärung für das Problem. Nach dem Anrühren des Pfannkuchenteigs deckte er den Tisch, danach ging er nach oben, um die Kinder zu wecken. Er dachte, Megan könnte immer noch eingeschnappt wegen der Babysitterin sein und sich weigern, zum Essen nach unten zu kommen, doch als er an ihre Tür klopfte, rief sie, dass sie in einer Minute käme. Vermutlich lockte sie der Duft der bratenden Würstchen, der auch im ersten Stock deutlich zu riechen war. Als die Pfannkuchen und Würstchen angerichtet wurden, hatten sich sowohl Megan als auch Tommy in der Küche eingefunden. Das sonntägliche Frühstück galt im Hause Anthony als heilig; jegliche Probleme und Meinungsverschiedenheiten hatten dabei keinen Platz. Um nicht zu riskieren, eine angespannte Atmosphäre zu schaffen, mied Holly jegliche Diskussion über die Babysitterin oder die Tanzveranstaltung des Vorabends. »Mom, darf ich im Wohnzimmer frühstücken?«, fragte Tommy und blieb am Eingang zur Küche stehen. Holly stellte den letzten Teller auf den Tisch und drehte sich ihrem Sohn zu. »Tommy, du weißt, dass wir am Sonntag immer zusammen frühstücken. Das ist Familientradition. Außerdem könntest du Sirup auf den Teppichboden klecksen, wenn ich dich im Wohnzimmer essen lasse.« »Bitte, Mom. Ich bin auch ganz vorsichtig.« »Das kann ich mir nicht vorstellen«, gab sie zurück. »Warum überhaupt? Läuft etwas Besonderes im Fernsehen?« Tommy schüttelte den Kopf und deutete auf den Küchenboden. »Ich mag nicht, dass mich diese Gesichter ansehen. Sie sind unheimlich.« »Auch nicht unheimlicher als deine Visage«, meinte Megan und betrat an ihrem Bruder vorbei die Küche.
»Das sind keine Gesichter«, meldete Mike sich zu Wort, zog seinen Stuhl zurück und nahm am Tisch Platz. »Es sind Flecken, sonst gar nichts.« »Für mich sehen sie wie Gesichter aus«, beharrte Tommy. »Sie mögen so aussehen, aber es sind keine«, versuchte Holly, ihren Sohn zu beschwichtigen. »Ganz ehrlich. Komm jetzt und iss, bevor alles kalt wird.« Tommy blieb an der Tür. »Aber ich will nicht auf sie treten. Sie könnten mich beißen.« Mike blickte vielsagend auf die Füße seines Sohnes. »Du hast doch Schuhe an. Wenn sie versuchen, dich zu beißen, trampelst du einfach tüchtig auf sie drauf.« Holly warf ihm einen warnenden Blick zu, doch was er gesagt hatte, zeigte Wirkung bei Tommy. Der Junge betrat die Küche und kam zum Tisch, wobei er darauf achtete, auf keinen der Flecken zu treten. Da Holly das Thema wechseln und von unheimlich wirkenden Flecken ablenken wollte, erwähnte sie, dass Mike in der nächsten Woche vielleicht in die Stadt fahren und sich wegen der Montage einer Satellitenschüssel erkundigen würde. Der Hinweis sorgte für helle Freude bei den Kindern und lenkte das Gespräch auf all die Fernsehsendungen, die sie bald wieder empfangen und genießen würden. Nachdem Mike beim Abwasch geholfen hatte, ging er in die Bibliothek. Er wollte gerade ein Buch aus dem Regal nehmen, als ihm auffiel, dass alle Kachinas zurück zur Wand gedreht worden waren. »Was ist denn hier los?« Er trat näher ans Regal. Jede einzelne der Puppen war umgedreht worden. Keine war unberührt geblieben. »Wer, zum Henker, hat das gemacht?« Wütend durchquerte er das Zimmer und ging in den Flur. Zuerst setzte er sich in Richtung der Küche in Bewegung, doch dann betrat er stattdessen das Wohnzimmer. Ein rascher Blick
durch den Raum bestätigte, dass auch im Wohnzimmer sämtliche Kachinas zurück zur Wand gedreht worden waren. »Holly! Kinder!«, rief er, ohne die Augen von den Puppen abzuwenden. »Kommt doch mal kurz her.« »Was ist, Liebling?« Holly betrat den Raum und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. Die Kinder folgten ihr. »Ist das irgendjemandes Vorstellung von einem Witz?« Er deutete auf die Sammlung der Kachinas auf der Ablage. An die Kinder gewandt fragte er: »Habt ihr die Puppen gestern Abend umgedreht, während wir bei dieser Tanzveranstaltung waren?« Tommy schüttelte den Kopf. »Ich war’s nicht. Ganz ehrlich. Ich käme gar nicht so hoch rauf.« »Was ist mit dir, Megan?« Zuerst setzte das Mädchen eine leicht verletzte Miene auf, dann eine zornige. »Ich war’s auch nicht. Ich war den ganzen Abend in meinem Zimmer. Frag Tommy. Vielleicht hat es die Babysitterin getan.« »Warum sollte die Babysitterin die Kachinas umdrehen?« gab Mike zurück, der nicht restlos davon überzeugt war, dass seine Tochter die Wahrheit sagte. Insgeheim vermutete er, dass sie sich an den Puppen zu schaffen gemacht hatte, um ihm und Holly heimzuzahlen, dass sie eine Babysitterin geholt hatten. Vielleicht hatte sie den Streich auch gemeinsam mit Tommy ausgeheckt. Es hätte Mike nicht überrascht, wenngleich er Tommy noch nie dabei ertappt hatte, ihn zu belügen. Megan zuckte mit den Schultern. »Vielleicht mochte sie es nicht, von ihnen angestarrt zu werden.« Ihre Antwort überraschte Mike und ließ ihn eine Möglichkeit in Betracht ziehen, die er zuvor nicht bedacht hatte. Womöglich hatte seine Tochter Recht. Es könnte die Babysitterin tatsächlich beunruhigt haben, von Hunderten Furcht einflößenden Puppen angestarrt zu werden, besonders spätnachts in einem alten Bauernhaus. Dennoch schien es eine
ungewöhnliche Vorgangsweise, zumal es weit einfacher gewesen wäre, die Kachinas zu ignorieren, als auf einen Stuhl zu klettern und jede einzelne davon umzudrehen. Auch Holly vermutete einen Streich ihrer Kinder, konnte jedoch ohne ausreichende Beweise nicht schimpfen. Um den Druck von den Kindern zu nehmen, meinte sie: »Tja, falls es ein Streich sein sollte, hat sich jedenfalls jemand eine Menge Arbeit angetan. Vielleicht hat Megan Recht. Vielleicht wollte ja wirklich die Babysitterin nicht von den Puppen angestarrt werden. Kann ich ihr nicht mal verübeln. Wir können sie später zurückdrehen«, fuhr sie fort, »nachdem wir aus der Kirche zurück sind.« Da Holly immer noch in der neuen Gemeinde akzeptiert werden wollte, hatte sie beschlossen, mit den Kindern den Sonntagsgottesdienst in der Methodistenkirche zu besuchen. Sie war zwar keine regelmäßige Kirchgängerin, aber hin und wieder nahm sie ganz gern an einem Gottesdienst teil. Mike wollte nicht mitkommen, sondern lieber zu Hause bleiben und an seinem neuen Roman arbeiten. Er hatte die Geschichte seit fast zwei Wochen nicht mehr angerührt und fürchtete, sie könnte ihm entgleiten. Außerdem würde es ihm gut tun, eine Weile allein zu sein, um die alten, kreativen Säfte wieder zum Fließen zu bringen.
Die Vereinigte Methodistenkirche von Braddock war ein beeindruckendes Ziegelsteingebäude an der Ecke Main Street und Ashmore Drive. Sie stellte eine von nur zwei Kirchen in der Stadt dar; die andere war die Erste Baptistenkirche in der Mission Street. Katholiken mussten bis nach Warrenton fahren, um einen Gottesdienst zu besuchen. Die Messe begann gerade, als Holly mit dem Van auf den Nebenparkplatz rollte. Rasch warf sie einen Blick in den
Innenspiegel, um sich davon zu überzeugen, dass ihr Haar und ihr Makeup herzeigbar waren, dann stieg sie aus und wartete, bis die Kinder es ihr gleichgetan hatten. Nachdem sie den Wagen verriegelt hatte, überquerten sie gemeinsam den Parkplatz zur Kirche. In Wahrheit besaß Holly kein ausgeprägtes Religionsempfinden. Im vergangenen Jahr hatte sie nur zwei Mal einen Gottesdienst besucht, und selbst bei diesen Gelegenheiten nur, weil sie jemanden begleitet hatte. Sie betrachtete sich als Christin, weil sie an Gott glaubte, hielt es jedoch nicht für nötig, regelmäßig zur Kirche zu gehen, um vor der ewigen Verdammnis der Hölle gerettet zu werden. Tatsächlich glaubte sie nicht wirklich an die Hölle oder den Teufel. Sie vermutete, dass beides von religiösen Oberhäuptern in dem Versuch erfunden worden war, den Menschen Angst einzujagen und die Kollekte zu füllen. Wahrscheinlich entsprach der Teufel lediglich dem religiösen Gegenstück der Schreckgespenster; etwas, das man ungehorsamen Kindern und halb senilen, alten Frauen einredete. Sie erklomm die Steinstufen zur Kirche und öffnete für Tommy und Megan einen der massiven Holztürflügel. Die Kinder gingen nicht gern zur Kirche – ein weiterer Grund, weshalb Holly nicht regelmäßig den Gottesdienst besuchte. Sie wollte, dass die beiden ein grundlegendes Verständnis von Religion – aller Religionen – entwickelten, wollte es ihnen aber nicht unter Zwang einbläuen, wie es die meisten Eltern taten. Hollys Mutter war einst eine strenge Baptistin gewesen und hatte sie regelmäßig in die Kirche gescheucht, um zu versuchen, ihr gleichsam eine Gehirnwäsche zu verpassen, damit sie alles glaubte, was der Priester erzählte. Allerdings war jene Überzeugung erschüttert worden, als ihr Pfarrer dabei ertappt wurde, wie er sich in einem
zweitklassigen Motel von einer Prostituierten verwöhnen ließ. Es fiel schwer, an die Rechtschaffenheit eines geistlichen Gemeindeführers zu glauben, wenn dieser mit der Unterhose um die Knöchel und dem Penis in jemandes Mund erwischt worden war. Nein, Hollys Kinder sollten hinsichtlich Religion ihre eigenen Entscheidungen treffen. Intelligente Entscheidungen, die auf ihrer eigenen Vernunft beruhten, nicht auf dem Einfluss von Familienmitgliedern. Und sollten sie beschließen, überhaupt keine Religion anzunehmen, würde Holly zu hundert Prozent hinter ihnen stehen. Sie betrat die Kirche und führte die Kinder den Seitengang hinab, bis sie in einer der Kirchbänke freie Plätze entdeckte. Nachdem sie Platz genommen hatten, ergriff sie ein Programmheft aus der Halterung vor ihr und bedachte es mit einem kurzen Blick, bevor sie dazu überging, die Architektur zu bewundern. Über ihr ragte eine hohe Kuppeldecke aus poliertem Rotholz auf, die sorgsam darauf ausgelegt schien, die Blicke der Gläubigen andächtig emporzuziehen. Das Dach und die Balken, die sie stützten, dienten zugleich als Schalldeckel für die Orgel und ließen Schwingungen gleich der ominösen Stimme des Allmächtigen durch das Gebäude hallen. In den parallel zu den Kirchbänken verlaufenden Wänden prangten vier große Buntglasfenster, die jeweils eine berühmte Bibelszene darstellten. Auch im vorderen Bereich der Kirche war wirkungsvoll Holz eingesetzt worden, in Form von Balken, Täfelungen und des Ziergeländers um den Altar. Im Licht, das die von der Decke hängenden Beleuchtungskörper spendeten, schien alles zu schimmern. Als der Chor die Eröffnungshymne beendete, trat der Pfarrer vor, um mit der Predigt zu beginnen, wobei er
zunächst seine Anteilnahme für Gemeindemitglieder aussprach, die krank oder verletzt waren. Holly lehnte sich zurück, um den Gottesdienst zu genießen, und musste Tommy nur zwei Mal daran erinnern, nicht zu reden, während der Pfarrer sprach. Selbst die beiden Male flüsterte er lediglich, doch sie wusste, dass die Kirchgänger um sie herum selbst das als äußerst störend empfinden könnten. Im Verlauf des Gottesdienstes fiel ihr auf, dass mehrere Gemeindemitglieder immer wieder in ihre Richtung blickten und sie anstarrten. Zunächst vermutete sie, dass es sich lediglich um Neugier handelte, doch einige der Blicke, die sie erhielt, empfand sie als unverhohlen feindselig und vermittelten ihr das Gefühl, alles andere als willkommen zu sein. Sie dachte zurück an ihr und Megans ähnliches Erlebnis im Supermarkt und fragte sich, ob die Blicke etwas mit dem Zeitungsartikel über ihren Mann zu tun haben konnten. Ich wäre wirklich froh, wenn eine andere Berühmtheit in die Stadt zöge, damit die Leute aufhören würden, uns anzustarren. Der Gottesdienst endete ohne peinliche Missgeschicke. Megan machte kein allzu großes Theater daraus, dass sie die Zeremonie über sich ergehen lassen musste, und Tommy zappelte nicht mehr, als für einen Jungen seines Alters üblich war. Auch versuchte er nicht, einen Vierteldollar aus der Kollekte zu stibitzen, wie er es einst während einer Mitternachtsmesse im St.-Patrick-Dom getan hatte. Den Abschluss bildete das übliche Händeschütteln mit dem Pfarrer und anderen Würdenträgern der Kirche beim Verlassen des Gebäudes. Da sie neu in der Gemeinde waren, stellte Holly sich und die Kinder dabei dem Pfarrer vor. »Oh, ich weiß durchaus, wer Sie sind, Mrs. Anthony«, erwiderte Pfarrer Mitchell, wobei verkniffene Züge um seine Mundwinkel traten. »Ich bin auch damit vertraut, worüber Ihr Mann schreibt.«
An Pfarrer Mitchells Tonfall erkannte Holly, dass er sich negativ über Mikes Bücher äußern würde. Es wäre nicht die erste derartige Reaktion seitens eines religiösen Würdenträgers – schließlich schrieb Mike Horror und düstere Fantasy. Selbst in dieser modernen Zeit dachten noch viele Menschen, er stünde deshalb mit dem Teufel im Bunde. Am liebsten hätte sie den Pfarrer stehen gelassen, um in den Van zu steigen und einfach loszufahren. Stattdessen fragte sie: »Sie haben einige der Bücher meines Mannes gelesen?« Der Pfarrer schüttelte den Kopf. »Nein, das habe ich nicht, und aus gutem Grund, wie ich hinzufügen möchte. Weder ich noch meine Gemeinde billigen solche Werke. Ebenso wenig gefällt es uns, dass Ihr Mann diese anständige Ortschaft als Schauplatz für mehrere seiner Hexengeschichten gewählt hat.« Holly zeigte sich verdutzt. »Das muss ein Missverständnis sein. Mike hat diese Stadt noch nie in seinen Büchern verwendet.« Der Pfarrer lächelte herablassend, was Holly erzürnte. »Er verwendet verschiedene Namen und nimmt geringfügige Änderungen zu Gunsten der Geschichte vor, aber jeder, der mit Braddock vertraut ist, erkennt es mühelos als die in seinen Romanen beschriebene Stadt wieder.« »Er mag einige Dinge aus dieser Ortschaft entlehnt haben – vereinzelte Straßennamen, die Beschreibung eines Friedhofs oder einer Höhle – aber das machen alle Schriftsteller«, entgegnete Holly. »Sie schreiben über etwas, das sie kennen, und für Mike war diese Stadt ein wichtiger Teil seiner Kindheit. Hier liegen seine Wurzeln. Ich kann Ihnen versichern, wenn er ein wenig von Braddock in seine Geschichten verpackt, dann als Hommage an die Stadt, nicht um die Menschen, die hier leben, in Verlegenheit zu bringen.« »Mrs. Anthony, die Romane, die Ihr Mann schreibt, haben viele Bewohner dieser Ortschaft ziemlich wütend gemacht. Sie
wollen nicht mit literarischen Werken über Hexerei und Satanismus in Verbindung gebracht werden. In dieser Hinsicht vertreten sowohl ich als auch meine Gemeinde einen unverrückbaren Standpunkt; deshalb finde ich, es wäre im besten Interesse aller Beteiligten, wenn Sie und Ihre Familie eine andere Kirche besuchten.« Holly spürte, wie ihr Zornesröte ins Gesicht stieg. Sie musste an sich halten, um nicht zu fluchen. »Herr Pfarrer, Sie haben gesagt, Sie haben nie eines der Bücher meines Mannes gelesen, richtig?« Er nickte. »Das ist richtig, aber – « »Wie wollen Sie ihn oder das, was er schreibt, dann gerecht beurteilen? Mikes Bücher verherrlichen keineswegs das Böse. Vielmehr vermitteln sie eine Warnung gegen dessen Gefahren. Sein letzter Roman, Pentagrammträume, handelt von einem Vater, der dafür kämpft, sein Kind vor einem Satanskult zu retten. Es geht um gut gegen böse, wobei das Gute letztlich obsiegt. Sie können doch nicht schlecht über ein Buch denken, das andere vor dem Bösen warnt, oder?« »Es spielt keine Rolle, was ich von den Büchern Ihres Mannes halte, Mrs. Anthony«, antwortete Pfarrer Mitchell, der mit ihr sprach, als wäre sie ein Kind, das ihn einfach nicht verstand. »Was zählt, ist vielmehr, wie meine Gemeinde und die Stadt Braddock zu ihrem Mann und seinen Werken stehen. Und wie die Menschen hier die Lage sehen, habe ich Ihnen ja bereits dargelegt.« Holly wollte ihren Standpunkt weiter ausführen, doch der Pfarrer entließ sie mit einer abweisenden Handbewegung. »Einen schönen Tag noch, Mrs. Anthony. Wir werden für Sie und Ihre Familie beten.« Holly holte tief Luft, lächelte und rang ihre Wut zurück, die im Begriff war, die Kontrolle über ihre Zunge zu übernehmen. »Und ich werde dafür beten, dass Sie und Ihre Gemeinde vor
völliger Ignoranz bewahrt werden. Allerdings fürchte ich, dass es dafür bereits zu spät ist.« Mit dieser abschließenden Bemerkung wandte Holly sich von Pfarrer Mitchell ab und ließ ihn mit geröteten Zügen und entrüstet nach Luft ringend zurück. Sie bahnte sich mit den Kindern einen Weg durch die Menge und schaute erst zurück, als sie den Van erreichten. Der Pfarrer stand noch immer auf dem Bürgersteig und starrte ihr nach. Sie spielte mit dem Gedanken, ihm zur Betonung noch den Vogel zu zeigen, entschied sich jedoch dagegen. Es hatte keinen Sinn, sich auf das Niveau anderer hinabzulassen, wenn es nicht sein musste. »Mom, in diese Kirche gehen wir doch nicht mehr, oder?«, fragte Tommy und schaute zu ihr auf. Plötzlich wurde Holly klar, dass sie den Atem angehalten hatte. Sie blies die Luft aus, wodurch ein Teil der aufgestauten Anspannung von ihr abfiel. Sie blickte zu Tommy hinab, lächelte und strich ihm über den Kopf. »Nein. Hierher kommen wir nicht mehr.« Tommy überlegte kurz, dann lächelte auch er. »Gut. Hier gefällt es mir nämlich nicht.« »Mir auch nicht besonders.« Holly schloss den Wagen auf, stieg ein und ließ den Motor an. Sie wartete, bis die Kinder im Wagen waren und die Sitzgurte angelegt hatten, dann stieß sie aus dem Parkplatz zurück und rollte die Straße hinab los. Pfarrer Mitchel schaute ihr nach, während sie davonfuhr.
KAPITEL 12
Der leere Computerbildschirm starrte Mike an und forderte ihn auf, den grauen Hintergrund mit Worten zu füllen. Der Cursor blinkte höhnisch. Mike betrachtete den Monitor, tippte ein paar Worte, überlegte es sich anders und löschte, was er geschrieben hatte. Er schaute zur Uhr, die auf dem Schreibtisch stand, und runzelte die Stirn. Bereits eine Stunde war verstrichen, und er hatte noch nichts vorzuweisen. Aus den tiefen, dunklen Nischen seines Verstandes waren keine Visionen eines literarischen Meisterwerks aufgestiegen. Keine einzige Seite. Kein einziger Absatz. Nicht einmal eine einzige Dialogzeile, die es wert gewesen wäre, sie zu speichern. Er lehnte sich auf dem Stuhl zurücktrieb sich den Nasenrücken und fragte sich, wohin sein Talent verschwunden sein mochte. Gewiss, er könnte seinen Mangel an Kreativität der unvertrauten Umgebung seines neuen Büros zuschreiben. Auch dem Haus oder einer durch den Umzug herbeigeführten, geistigen Leere könnte er die Schuld dafür zuschieben. Doch das hätte nicht der Wahrheit entsprochen, denn der Schreibfluss war vor geraumer Zeit versiegt – bereits mehrere Wochen, bevor er überhaupt darüber nachgedacht hatte, aus New York wegzuziehen. Schreibblockade. Mike schüttelte den Kopf. Nein, nein, nein. Er durfte keine solchen Gedanken hegen. Eine Schreibblockade galt als der gefürchtetste Fluch der literarischen Welt. Sie setzte ohne Vorwarnung oder Grund ein, beraubte einen Autor jener inneren Stimme, die ihn durch einsame Nächte und unzählige
leere Seiten geleitete. Eine Schreibblockade konnte Monate, sogar Jahre dauern und die Karriere selbst des begabtesten Schriftstellers beenden. Ich habe keine Schreibblockade! Wenn doch, musste es einen Grund dafür geben. Vielleicht forderte der Druck des Schreibens letztlich seinen Tribut von ihm und pflanzte in seinen Verstand die Saat des Zweifels, dass sein Talent aufgebraucht sein könnte. Wie er wusste, warteten die Kritiker nur darauf, dass er einen Fehler beging, und hofften, sein nächster Roman würde nicht annähernd so gut wie der vorherige. Wie Löwen an einer Wasserstelle lauerten sie darauf, zuzuschlagen und ihn in die Welt verheerender Buchbesprechungen und Lagerhäuser voller unverkaufter Bücher hinabzuziehen. Ganz gleich, wie sehr er ihn zu verleugnen versuchte, der Druck war da, und Mike spürte ihn. Der nächste Roman musste so gut werden wie jene davor, andernfalls wäre er als Autor erledigt. Eigentlich hatte er gehofft, der Umzugs aufs Land – weg aus dem Herrschaftsgebiet der Verleger, Agenten und Kritiker – würde einen Teil des Drucks von ihm nehmen und die alten, kreativen Säfte wieder zum Fließen bringen. Doch so wie es aussah, stockte ihm der Verstand auf dem Land genauso wie in der Stadt. Er hatte nur noch drei Monate, um den ersten Entwurf des Romans fertig zu stellen, an dem er gerade schrieb, und er hatte noch nicht einmal die Hälfte. Denk an etwas Schönes. Oder etwas Blutrünstiges, immerhin wird es ein Horrorroman. Aber schreib. Gottverdammt, schreib. Vielleicht würde ein Spaziergang dabei helfen, die alten, kreativen Rädchen in Schwung zu bringen. Er hatte noch nicht viel Gelegenheit gehabt, hinauszugehen und über das Grundstück zu schlendern; vielleicht war es ein günstiger Zeitpunkt dafür.
Außerdem erschien ihm das Haus irgendwie gespenstisch, wenn niemand zu Hause war; fortwährend ereilte ihn das seltsame Gefühl, beobachtet zu werden. Außerdem nahm er ständig Bewegungen aus dem Augenwinkel wahr – kleine Schatten, die durch das Zimmer zu huschen schienen –, aber wenn er den Kopf nachdrehte und hinsah, war dort nichts. Nachdem er entschieden hatte, dass ein Spaziergang genau das war, was er brauchte, verließ er das Textverarbeitungsprogramm, das er gerade verwendete, und schaltete den Gateway 2000 ab. Er stand auf, schob den Stuhl unter den Schreibtisch zurück, deckte den Computer ab und knipste die Lampe aus. Danach ging er nach oben, um die Hausschlüssel und eine Sonnenbrille zu holen. Pinky, der am Kopfende der Treppe gedöst hatte, folgte ihm, als er zurück hinunterging. »Lust auf einen Spaziergang, Junge?« Der große Kater schmiegte sich an seine Beine, als er die Vordertür aufschloss, dann sauste das Tier hinaus, sobald die Tür weit genug offen stand. Mike setzte die Sonnenbrille auf, trat hinaus und schloss die Tür hinter sich wieder. Als er um das Haus herum zum Obstgarten mit den Apfelbäumen ging, rannte Pinky voraus, ehe er innehielt, um einem sonderbaren Geruch nachzuschnuppern oder einen Käfer durch das hohe Gras zu jagen. Grashüpfer erwiesen sich als offenkundiges Vergnügen für den Kater, dem es diebische Freue bereitete, sich in bester Dschungelkatzenmanier an sie anzuschleichen. Nur auf etwa der Hälfte der Bäume wuchsen Äpfel; der Rest präsentierte sich blätterlos und schien einer Krankheit zum Opfer gefallen zu sein. Mike fragte sich, ob sein solcher Befall sich auf die anderen Bäume ausbreiten könnte, und merkte sich geistig vor, es von jemandem in Erfahrung zu bringen, der sich mit derlei Dingen auskannte. Wenn eine Gefahr der
Ausbreitung auf die gesunden Bäume bestünde, wäre es am besten, jemanden damit zu beauftragen, die kranken zu fällen, bevor der ganze Obstgarten ausgelöscht wurde. Es gab keinen Grund, eine Quelle für frisches Obst zu verlieren, wenn es nicht sein musste. Jenseits des Obstgartens wucherte der Wald dicht und wild. Er bestand überwiegend aus Ulmen und Eichen, an einigen Stellen ragten jedoch auch hohe Kiefern gen Himmel. Bei Letzteren fiel Mike auf, wie gerade ihre Reihen wirkten, und ihm wurde klar, dass sie sorgsam von jemandem gepflanzt worden waren. Anscheinend bildeten die Eichen und Ulmen einen Teil des alten Hains, während die Kiefern in jüngerer Zeit hinzugefügt worden waren, um einst entfernte Bäume zu ersetzen. Er wusste, dass sich in der Gegend früher ein Sägewerk befunden hatte, demnach hatte der Wald, der nun ihm gehörte, vermutlich einen Bestandteil des Werks dargestellt. Die Kiefern waren vermutlich aufgrund ihres raschen Wachstums als Ersatz gepflanzt worden. Mike war zwar kein Experte für Bäume, doch er schätzte das Alter der Kiefern, die er sah, auf etwa sechzig bis siebzig Jahre. Er folgte einem alten, gewunden verlaufenden Trampelpfad und stieß bald auf den Bloodrock Creek. An der breitesten Stelle maß der Bach etwa drei bis vier Meter und war höchstens dreißig Zentimeter tief, wenngleich es Stellen gab, an denen das wirbelnde Wasser die Erde und den Fels ausgehöhlt und Becken gebildet hatte, die wahrscheinlich tief genug waren, um darin zu schwimmen. Das sanfte Gurgeln des Baches wirkte beruhigend, und Mike setzte sich auf einen großen Stein, um zu beobachten, wie das dunkle Wasser an ihm vorbeifloss. Er tauchte die Hand hinein und trank davon. Die Klarheit und Kälte belebte ihn. In New York wäre es undenkbar gewesen, aus einem Fluss zu trinken,
hier jedoch erschien es ihm völlig natürlich. Er hoffte nur, der Bach durchquerte weiter oben in seinem Verlauf nicht eine Rinderweide. Dennoch wäre Wasser mit etwas Kuhscheiße darin vermutlich immer noch wesentlich gesünder als die von Chemikalien verseuchte Brühe, die in der Großstadt aus dem Wasserhahn sprudelte. Während er auf dem Stein saß, entspannte er sich und genoss die Natur rings um ihn. Er erblickte mehrere Vogelarten und Eichhörnchen in Hülle und Fülle. Auch einige Insekten hatten sich entlang des Baches niedergelassen, darunter eine ziemlich lästige gelbe Fliege, die anscheinend unbedingt auf sich aufmerksam machen wollte. Ein paar gut gezielte Schläge überzeugten das Insekt schließlich davon, anderswo Aufmerksamkeit zu haschen. Die beschauliche Ruhe des Waldes gestaltete es schwierig, sich vorzustellen, dass in der Gegend einst eine Schlacht ausgetragen worden war. Laut der örtlichen Geschichte jedoch ging der Name des Bloodrock Creek auf ein Scharmützel zurück, dass in den frühen Tagen des Bürgerkriegs entlang seiner Ufer stattgefunden hatte. Die Schlacht vom Bloodrock Creek war kein geplanter Feldzug gewesen. Hier hatten keine gegnerischen Generäle ihre Truppen in geordneten Formationen aufmarschieren lassen, wie es häufig in Büchern und Filmen dargestellt wurde. Vielmehr hatte sich das Geplänkel daraus ergeben, dass sich eine Patrouille der Union verirrt hatte und zufällig über ein Lager von Südstaatensympathisanten gestolpert war. Die Sympathisanten im Lager hatten sich an jenem Tag ebenso wie die Soldaten der Patrouille ausgiebig betrunken, weshalb viele der bei dem Gefecht abgefeuerten Schüsse ihr Ziel verfehlten. Tatsächlich wurden nur drei Soldaten getötet: zwei der Sympathisanten und der Unionsoffizier, unter dessen Führung
sich seine Männer verlaufen hatten. Einige andere Soldaten wurden verwundet, aber keiner lebensbedrohend. Da jedoch bei der Schlacht Blut vergossen worden war, fühlten die Anwohner sich bemüßigt, den Bach von Johnson’s Creek (sehr zum Missfallen von Nathan Johnson, nach dem der Bach ursprünglich benannt worden war) in die düsterere Bezeichnung umzutaufen, die er immer noch trug. Da die Gedanken an uralte Wälder und vergessene Schlachten Mikes Fantasie beflügelten, beschloss er, zum Haus zurückzukehren und einen weiteren Versuch zu starten, etwas zu schreiben. Er rief Pinky, um sicherzugehen, dass ihm der große Kater folgen würde, dann verließ er den Wald und bahnte sich langsam den Weg zurück durch den Obstgarten. Kurz vor dem Haus hielt er jäh inne, als er in einem der oberen Fenster eine Bewegung erspähte. Das Fenster war eines der beiden von Tommys Zimmer. Alarmglocken schrillten in seinem Kopf. Holly und die Kinder waren noch nicht zurück, und Pinky war bei ihm, somit sollte sich niemand im Haus befinden. Dennoch hatte er eindeutig gesehen, wie etwas am Fenster vorbeigehuscht war. Während er dastand, erblickte er es abermals, einen dunklen Schemen, der an der gegenüberliegenden Seite des Glases vorbeiglitt. Es war keine Tücke des Lichts. Ebenso wenig konnte es sich um einen im Wind wehenden Vorhang gehandelt haben, denn das Fenster war geschlossen. Überzeugt davon, dass sich jemand in Tommys Zimmer aufhielt, eilte Mike zur Rückseite des Hauses. Er versuchte, die Hintertür zu öffnen, stellte jedoch fest, dass sie abgeschlossen war. Wer immer sich drinnen befinden mochte, über diesen Weg war er offenbar nicht hineingelangt. Mike wich von der Tür zurück und schlich um das Haus herum, dicht an der Mauer entlang, um von oben nicht gesehen zu werden. Im Vorbeigehen überprüfte er die Fenster, doch
alle schienen sicher verschlossen zu sein. Als er an der Vorderseite angelangte, erklomm er die Veranda und näherte sich langsam der Vordertür. Auch sie war geschlossen, was natürlich nicht bedeutete, dass sie nicht unlängst geöffnet worden sein konnte. Als er nach dem Türknauf griff, wurde ihm plötzlich klar, dass er unbewaffnet war. Wenn sich jemand im Haus herumtrieb, vielleicht ein Einbrecher, konnte es überaus gefährlich sein, demjenigen von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten. Kurz zögerte er und spielte mit dem Gedanken an Rückzug, um nach etwas zu suchen, mit dem er sich verteidigen konnte. Vielleicht könnte er in der Scheune ein Werkzeug finden oder auch nur ein kräftiges Brett, das genügen würde, um sich zu schützen. Allerdings könnte die Person im Haus entkommen, wenn er zur Scheune ginge. Unschlüssig stand er da und verspürte ein wenig Furcht angesichts der Möglichkeit, einem Eindringling unbewaffnet gegenüberzutreten. Zugleich war er wütend darüber, dass jemand in das Heiligtum ihres Heims eingebrochen war. In New York City hatte er die Wohnung mit einer Alarmanlage und einem Dreifachschloss gesichert, aber er hätte nie gedacht, dass etwas Derartiges hier nötig sein könnte. Auf dem Land galt es als sicher – zumindest war es früher so gewesen. Da er nicht von der Veranda weichen wollte, um den Eindringling nicht entwischen zu lassen, entschied Mike letztlich doch, das Haus zu betreten. Er holte tief Luft, wollte die Tür öffnen – und stellte überrascht fest, dass sie abgeschlossen war. Natürlich ist sie abgeschlossen. Wahrscheinlich hat der Einbrecher von innen wieder zugesperrt, damit alles genauso aussieht, wie er es vorgefunden hat. Er kramte den Hausschlüssel aus der Tasche, schob ihn ins Schloss und öffnete langsam die Tür. Dann huschte er rasch
hinein und schloss sie leise wieder hinter sich. Er verharrte, lauschte aufmerksam auf Geräusche. Im Haus herrschten Dunkelheit und Stille. Es schien friedlich unter der Mittagssonne zu schlummern. So leise wie möglich schlich er den Gang hinab ins Wohnzimmer. Kurz vor der Tür hielt er inne und lauschte abermals auf Geräusche, bevor er in den Raum spähte. Das Wohnzimmer erwies sich als verwaist und anscheinend unberührt. Ein rascher Blick zur Anrichte offenbarte, dass sein Bram Stoker Award noch unversehrt dort stand. Er zog sich vom Wohnzimmer zurück und setzte den Weg den Flur entlang fort. Links befand sich die Küche, die sich ebenfalls menschenleer präsentierte. Rasch ging er um den Küchentisch herum und holte ein Fleischermesser aus der Schublade neben dem Spülbecken. Bewaffnet fühlte er sich schlagartig besser. Geräuschlos schloss er die Lade wieder und verließ die Küche. Auch Hollys Atelier und sein Arbeitszimmer waren leer und unangetastet. Als er das Arbeitszimmer betrat, spielte er mit dem Gedanken, zum Telefon zu greifen und die Notrufnummer zu wählen, zögerte jedoch. Noch hatte er keinen Beweis, dass tatsächlich jemand in das Haus eingebrochen war. Es schien besser, zu warten, bis er sicher war, als später vor der Polizei wie ein Idiot dazustehen. Auch im Badezimmer im Erdgeschoss traf er niemanden an. Somit blieben nur noch die Schlafzimmer und das Bad im ersten Stock zu überprüfen. Eigentlich hatte Mike nicht erwartet, dass jemand im Erdgeschoss umherschleichen würde, schließlich hatte er die Bewegung am Fenster oben gesehen. Dennoch wollte er jedes Zimmer überprüfen, um zu verhindern, dass ihn jemand von hinten überrumpeln könnte.
Als er sich der Treppe näherte, blieb er kurz stehen und lauschte auf Geräusche von oben: auf Schubladen, die aufgezogen, Möbel, die verschoben wurden, Schritte Stimmen – irgendetwas, das auf die Anwesenheit eines Eindringlings hinweisen könnte. Doch im Haus herrschte ungebrochen Stille. Das einzige Geräusch war sein unruhiger Atem. Langsam, vorsichtig, eine Stufe nach der anderen erklomm er die Treppe. Als die fünfte Stufe unter seinem Gewicht knarrte, setzte sein Herz beinah einen Schlag aus. Mike hatte diese heikle Stelle vergessen gehabt; er war überzeugt davon, dass er sich durch das Geräusch verraten hatte. Mit dem Wissen, dass er das Überraschungsmoment ohnehin nicht mehr auf seiner Seite hatte, preschte Mike die restlichen Stufen hinauf und rannte den Gang hinab. Mit dem Fleischermesser in der rechten Hand riss er die Tür zu Megans Zimmer auf und stürmte hinein: Das Zimmer war menschenleer und wirkte genauso, wie er es zuletzt gesehen hatte. Er spähte unter das Bett und in den Schrank, vergewisserte sich, dass niemand sich im Zimmer versteckte. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass sich tatsächlich niemand im Raum befand, trat er zurück hinaus auf den Gang. Als nächstes überprüfte er das Bad und das Schlafzimmer. Beide Räume erwiesen sich als menschenleer. Somit blieb nur noch Tommys Zimmer, in dem er von draußen die Bewegung bemerkt hatte. Die Tür zum Zimmer seines Sohnes stand ein paar Zentimeter weit offen, doch als er sich den Flur entlang darauf zubewegte, schloss sie sich langsam. Mike erstarrte. Seine Eingeweide verwandelten sich in Eis. Es bestand kein Zweifel daran – jemand befand sich in Tommys Zimmer. Der Eindringling musste ihn gehört und deshalb die Tür zugemacht haben. Lauerte der Unbekannte unmittelbar dahinter mit einer Waffe in der Hand auf ihn?
Oder suchte der Eindringling nach einem Versteck oder einer Fluchtmöglichkeit? Erwartete ihn ein Kind, ein Teenager oder ein Erwachsener? Die Fragen stürmten auf ihn ein, während er wie angewurzelt im Gang stand und überlegte, was er tun sollte. Bilder zuckten durch seinen Verstand, Bilder davon, wie er von dem Mann – oder Ding – hinter der Tür angegriffen und geschlagen, vielleicht sogar getötet wurde. Ja, es musste sich um ein Ding handeln. Denn just in jenem, dem wohl ungünstigsten aller Augenblicke beschloss die Muse, ihn zu küssen und ihm Bilder von Werwölfen, Vampiren und sabbernden Kreaturen in den Kopf zu pflanzen, die in jenem kleinen Zimmer auf ihn lauerten. Sich einer Gefahr zu stellen, war niemals einfach, doch besonders schwierig gestaltete es sich, wenn man Horrorschriftsteller und mit einer Vorstellungskraft geschlagen war, die stets das schlimmstmögliche Szenario heraufbeschwor. Was bist du? Ein Mann oder eine Maus? Während er weiter an all die Dinge dachte, die sich hinter der Tür verbergen mochten, dämmerte ihm die Antwort. Eine Maus. Aber verdammt noch mal, dies war sein Haus, und er würde nicht vor einer möglichen Bedrohung seines Heims zurückschrecken. Er schuldete es Holly und den Kindern, ihr Beschützer zu sein, der wackere Ritter in strahlender Rüstung. Fest entschlossen, auf Gedeih und Verderb seinen Mann zu stehen, holte er tief Luft und trat vor. Die Tür hatte sich nicht ganz geschlossen; er sah einen winzigen Spalt zwischen ihr und dem Rahmen. Da er somit wusste, dass er den Knauf nicht zu drehen brauchte, stürmte er vorwärts und trat mit aller Kraft gegen die Tür. Sie schwang auf und prallte mit lautem Knall gegen die Wand dahinter, wuchtig genug, um jeden bewusstlos zu
schlagen, der so töricht gewesen wäre, sich dahinter zu verstecken. Er hatte das Zimmer noch nicht betreten, als ihn etwas mit einem durch Mark und Bein gehenden Kreischen ansprang: ein heulender Dämon aus gelblichem Fell und mit Krallen schoss an ihm vorbei und raste den Flur hinab davon. »Pinky!« Mike hatte gedacht, der Kater wäre draußen geblieben, aber er musste sich an ihm vorbeigeschlichen haben, als er das Haus betrat. Offenbar war er beim Durchsuchen der unteren Räume so konzentrierte gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, wie ihm die große Katze gefolgt war. Tommy musste seine Zimmertür wohl weit genug offen gelassen haben, dass Pinky sich hineinzwängen konnte. Drinnen war der Kater wohl gegen die Tür gestoßen und hatte sich eingesperrt. Und als Mike die Tür aufgetreten hatte, musste er Pinky einen Mordsschrecken versetzt haben. Und Pinky mir umgekehrt genauso. Dann schoss ihm ein beunruhigender Gedanke durch den Kopf. Was, wenn etwas anderes die Katze erschreckt hatte? Er wandte die Aufmerksamkeit wieder seiner Aufgabe zu und eilte durch die offene Tür in Tommys Zimmer. Rasch blickte er erst nach rechts, dann nach links, doch zu beiden Seiten des Eingangs verbarg sich nichts und niemand. Ebenso wenig wurde er im Schrank oder unter dem Bett fündig. Das Zimmer war menschenleer. »Hier ist niemand. Ich habe mir wohl etwas eingebildet.« Er wollte das Zimmer gerade verlassen, als er von unten ein seltsames Klopfen vernahm, drei Mal, dann kehrte wieder Stille ein. Das Geräusch war sehr laut und jäh gewesen, als hätte jemand mit einem Hammer gegen Holz geschlagen. Und es hatte sich angehört, als hätte es aus der Küche gestammt. »Das habe ich mir nicht eingebildet!«
Mike raste aus Tommys Zimmer, die Treppe hinab und in die Küche. Wieder fand er sie verwaist vor, dennoch musste sich wenige Augenblicke zuvor jemand darin aufgehalten haben. Beim Betreten der Küche fiel ihm sofort auf, dass die Bärenkachina vom Tisch gestoßen worden war und nun in mehrere Teile zerbrochen auf dem Boden lag. Überzeugt davon, dass sich doch ein Eindringling im Haus befand, verließ er die Küche und überprüfte abermals sämtliche Räume im Untergeschoss – wieder fand er alle leer vor. Diesmal sah er zusätzlich im Flurschrank nach, dann ging er nach draußen, um sich rings um das Haus umzuschauen, doch er fand niemanden. Nach einem Blick in die Scheune kehrte er in die Küche zurück. Er legte das Fleischermesser auf den Tisch und hob die zerbrochenen Teile der Kachina auf. Jemand wollte ihm offenbar einen Streich spielen; eine andere logische Erklärung gab es nicht. Jemand musste ins Haus eingedrungen und sich versteckt haben, während er das Untergeschoss durchsucht hatte. Dann musste derjenige die Kachina zerbrochen und weggerannt sein, bevor Mike wieder aus dem ersten Stock heruntergekommen war. Aber warum? Und wer? Er legte die zerbrochene Kachina auf die Arbeitsfläche neben dem Herd und wandte sich zum Gehen. Dabei fiel ihm ein großer Sprung im Boden unmittelbar neben dem Küchentisch auf. Der Sprung maß über einen halben Meter, war etwa einen Zentimeter breit und verlief zickzackförmig zwischen den ovalen Flecken. »Verfluchter Mist«, stieß er hervor und kniete sich hin, um den Riss näher zu betrachten. Es war bereits der zweite seit sie in das Haus gezogen waren. Wie der Riss in der Wand der Bibliothek musste auch jener unter dem Küchentisch durch starke Spannung oder starken Druck entstanden sein. Vielleicht setzte sich das Haus,
andererseits müsste das bei einem so alten Gebäude doch schon längst erfolgt sein. Ein neuer Gedanke bescherte ihm einen Anflug von Panik: Was, wenn sie über einer unbekannten Verwerfungslinie lebten und die Sprünge daher rührten, dass sich zwei Landmassen verschoben? Die berüchtigte Verwerfungslinie von New Madrid befand sich nur zweihundert Meilen südlich. Vielleicht gab es andere, kleinere, die sich durch diese Gegend zogen. Mike schüttelte den Kopf. Er hatte die geologischen Gutachten für dieses Gebiet gesehen, und darin hatte nichts auf Verwerfungslinien in der näheren Umgebung hingewiesen. Und soweit er wusste, war das Haus auch nicht über einer unterirdischen Höhle errichtet worden. Wenn sich das plötzliche Auftreten der Risse nicht der Natur zuschrieben ließ, konnte nur mit dem Haus selbst etwas nicht in Ordnung sein. Vielleicht lag es an einem Fehler im Fundament oder sogar in der Gebäudekonstruktion selbst. Oder vielleicht hatte es schon früher Risse gegeben, die seine Großmutter verdeckt hatte. Als er mit den Fingern über den Riss fuhr, spürte er, wie kühle Feuchtigkeit aus dem Boden empordrang. Aus unerfindlichem Grund erinnerte ihn die Feuchtigkeit an uralte Tunnel und tiefe, dunkle Brunnen. Wieder fragte er sich, ob irgendwo Wasser austrat. Eines jedenfalls stand fest: Er würde gleich am nächsten Morgen die Handwerker anrufen. Da er sie ohnehin bereits wegen der ovalen Flecken brauchte, würde er gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Er wollte gerade wieder aufstehen, als ihm auffiel, dass die ovalen Flecken auf dem Fliesenboden deutlich dunkler als zuvor an jenem Tag aussahen. Seltsamerweise wirkten sie zugleich klarer definiert, als hätte sie jemand mit einem Farbstift um Schattierungen ergänzt. Wie die beiden ersten
Flecken erinnerten auch die anderen an Gesichter… Gesichter mit Augen, die jede Bewegung zu beobachten schienen. Ein Schauder kroch ihm den Rücken hinab. Er hatte versucht, die Flecken als Makel der Fliesen oder als Folge einer undichten Rohrleitung abzutun. Allerdings ließ sich nicht länger leugnen, dass die Flecken tatsächlich Gesichter darstellten. Zornige Gesichter.
KAPITEL 13
Holly und die Kinder kamen kurz nach 13:00 Uhr von der Kirche nach Hause. Als Mike hörte, wie der Van in die Auffahrt bog, ging er auf die Veranda, um sie zu begrüßen. An Hollys Gesichtsabdruck konnte er ablesen, dass der Kirchgang anders als geplant verlaufen war, doch er zog es vor zu warten, bis sie ihm davon erzählte, statt von sich aus zu fragen. Holly setzte sich auf die Stufen und wartete, bis die Kinder ins Haus gegangen waren, ehe sie ihrem Mann berichtete, was sich ereignet hatte. »Ich kann immer noch nicht glauben, was dieser Mann sich herausgenommen hat«, sagte sie zum Abschluss ihrer Schilderung. Sie kramte ein Päckchen Zigaretten aus der Handtasche hervor, zündete sich eine an, nahm einen Zug und fügte hinzu: »Und der nennt sich einen Diener Gottes. Ein Diener der Bigotterie und Dummheit wäre zutreffender. Der Typ hat mich wirklich zur Weißglut getrieben. Ich bin immer noch wütend.« »Das kommt davon, wenn man die Brut des Satans heiratet«, hänselte Mike sie, wenngleich er wusste, dass er sich ähnlich aufgeregt hätte, wäre er dabei gewesen und hätte mit angehört, wie der Pfarrer über ihn herzog. »Das ist nicht witzig«, knurrte sie und runzelte die Stirn. »Wie sollen wir je ein Teil dieser Gemeinde werden, wenn die Einheimischen uns für schlechte Menschen halten?« Mike zuckte mit den Schultern. »Die Menschen auf dem Land sind nun mal etwas eigen. Die meisten erwärmen sich unheimlich langsam für Auswärtige.« Er setzte sich neben sie und nahm einen Zug von ihrer Zigarette. »Ich bin sicher, das
legt sich, sobald ihnen klar wird, dass wir nicht auf Besen durch die Gegend reiten oder bei Vollmond kleine Kinder opfern. Es wird wohl nur ein Weilchen dauern, sie für uns einzunehmen.« »Solange dieser Priester allen predigt, dass wir schlecht und verdorben sind, wird es nicht ein Weilchen, sondern eine Ewigkeit dauern.« »Eigentlich hat er ja zum Ausdruck gebracht, dass nur ich schlecht und verdorben bin«, berichtigte Mike sie. »Und es ist ja nicht so, als wäre mir Ähnliches nicht schon früher vorgeworfen worden, zudem von wesentlich ein flussreicheren Leuten. Ich bin überzeugt davon, dass der gute Herr Pfarrer damit aufhört, gegen uns zu wettern, sobald er erkennt, dass wir nicht so sind, wie er glaubt. Das Beste, was wir in der Zwischenzeit tun können, ist, uns um unseren eigenen Kram zu kümmern und ihn einfach zu ignorieren.« Holly stieß den Atem und damit einen Teil des in ihr aufgestauten Ärgers aus. »Vielleicht hast du Recht. Ich mache mir bloß Sorgen wegen der Kinder. Für sie ist es so schon schwierig genug, sich einzugewöhnen und neue Freunde zu finden.« Mike lächelte. »Unser Kinder sind New Yorker. Sie können überall Freunde finden. Und wenn ihnen das nicht gelingt, können sie sich zumindest ihrer Haut erwehren wie kaum jemand sonst.« Holly lachte. Die Wut, die sie zuvor verspürt hatte, war fast völlig verflogen. »Und wie war dein Tag?« Mike erzählte ihr von der Bärenkachina, die er zerbrochen vorgefunden hatte, und von dem Riss mitten im Küchenboden. »Glaubst du, zwischen der zerbrochenen Puppe und dem Riss besteht ein Zusammenhang?« »Nein«, antwortete er. »Ehrlich, ich wüsste nicht, wie. Dafür hätte ein Erdbeben auftreten müssen, das stark genug gewesen
wäre, die Kachina vom Tisch zu schleudern und den Boden aufzureißen. Und wäre das der Fall gewesen, hätte ich es gespürt, schließlich war ich zu der Zeit im Haus.« »Glaubst du, Pinky könnte die Puppe vom Tisch gestoßen haben?« »Möglich, aber eher unwahrscheinlich«, erwiderte Mike und drehte sich ihr zu. »Die Kachina besteht aus Pappelholz. Nur durch den Sturz vom Tisch wäre sie nicht in so viele Zeile zerbrochen.« »Das verstehe ich nicht. Du hast doch gesagt, du hättest sie auf dem Boden gefunden, oder?« »Ja, aber ich glaube nicht, dass sie nur vom Tisch gefallen ist. Ich denke, sie wurde zu Boden geschleudert, und wahrscheinlich wurde anschließend noch darauf herumgetrampelt.« Überraschung huschte über Hollys Züge. »Darauf herumgetrampelt? Du glaubst, jemand hat die Kachina absichtlich zerbrochen?« Mike nickte. »Aber das würde ja bedeuten, dass jemand im Haus war. Wer? Und wie ist derjenige hineingelangt?« Mike schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich hatte Probleme beim Beginn des neuen Kapitels, deshalb beschloss ich, mit Pinky einen Spaziergang zu unternehmen. Ich war nicht lange fort, allerhöchstens eine Stunde. Als ich wegging, habe ich die Vordertür abgeschlossen; die Hintertür war von innen abgesperrt. Beide Türen waren immer noch abgeschlossen, als ich zurückkam, und, es gab keine Anzeichen auf ein gewaltsames Eindringen. Trotzdem könnte ich schwören, jemanden an einem der oberen Fenster gesehen zu haben.« Holly schaute auf, wenngleich sie die Fenster oben von der Stelle aus nicht erblicken konnte, an der sie saß. »An welchem Fenster?«
»An einem von Tommys Zimmer.« »Konntest du erkennen, wer es war?« »Nein. Ich habe nur gesehen, wie sich ein Schatten bewegte. Dann ging ich rein und sah mich um, fand aber alles unangetastet vor… abgesehen von der zerbrochenen Kachina. Ich rufe morgen die Handwerker an, damit sie sich um die Risse und die Flecken auf dem Küchenboden kümmern. Bei der Gelegenheit lasse ich sie auch gleich sämtliche Schlösser austauschen, nur für den Fall, dass uns jemand einen Streich spielen will.« »Einen Streich?«, fragte Holly. »Du denkst, jemand spielt uns einen Streich?« Mike zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Ich bin nicht sicher. Womöglich ist ein Teenager ins Haus gelangt, der noch nicht wusste, dass hier wieder jemand wohnt. Aber falls das jemandes Vorstellung von einem Streich ist, finde ich ihn nicht lustig.«
Beim Abendessen vermieden Holly und Mike es, über die Ereignisse jenes Tages zu sprechen, um die Kinder nicht zu beunruhigen. Als Tommy den Besuch in der Kirche zur Sprache brachte, wurde kurzerhand das Thema gewechselt, was den Jungen nicht weiter störte. Er wusste, dass es Kirschkuchen zum Nachtisch geben würde, abgesehen davon kümmerte ihn alles andere nur wenig. Nach dem Dessert gingen die Kinder ins Wohnzimmer, um fernzusehen. Während des Abendessens war das Thema aufgekommen, dass sie weder HBO noch MTV hatten, und Mike hatte versprochen, sich darum zu kümmern, demnächst eine Satellitenanlage zu kaufen. Holly wollte gerade das
schmutzige Geschirr in das Spülbecken stapeln, als Tommy stirnrunzelnd in die Küche zurückkehrte. »Mom, hast du Pinky gesehen?« »Nein, mein Schatz«, gab sie zurück und wischte sich die Hände in einem Geschirrtuch ab. »Hast du schon oben nachgeschaut? Wahrscheinlich hält er in einem der Betten ein Nickerchen.« »Ich war oben, aber da ist er nicht. Ich habe ihn seit heute Morgen nicht mehr gesehen. Glaubst du, er versteckt sich irgendwo?« Mike war damit beschäftigt gewesen, den Tisch abzuwischen. Er hielt inne und spähte zu Pinkys Schüssel in der Ecke. Der Inhalt der Dose Katzenfutter, die er zuvor geöffnet hatte, war noch unangetastet. »Das ist merkwürdig. Pinky hat sein Futter nicht angerührt. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, fällt mir auf, dass er gar nicht da war, um beim Abendessen zu betteln.« Wie sich herausstellte, hatte den ganzen Nachmittag niemand von ihnen den großen Kater gesehen. Und es sah Pinky ganz und gar nicht ähnlich, eine Gelegenheit auszulassen, beim Abendessen neben dem Tisch zu betteln. Holly legte das Geschirrtuch auf die Arbeitsfläche und drehte den Wasserhahn des Spülbeckens ab. »Pinky lässt niemals eine Mahlzeit aus, wenn es nicht sein muss.« »Vielleicht ist er irgendwo eingesperrt.« Mike schob die Stühle an den Tisch. »Oben hast du also bereits nachgeschaut?« Tommy nickte. »Ich habe ihn gerufen, aber keine Antwort gehört.« »Tja, lass uns zusammen noch einmal nachsehen. Wie ich diesen dummen Kater kenne, schläft er wahrscheinlich in irgendeinem Schrank. Oder unter einem Bett. Geh und sag deiner Schwester, das wir eine abgängige Katze suchen müssen.«
Mike, Holly und die Kinder durchforsteten jeden Raum im Haus nach dem vermissten Kater, doch er war nirgends zu finden. Sie schauten unter Betten und in Schränke, öffneten sogar Schubladen, um nachzusehen, ob er womöglich irgendwie zwischen die Wäsche geraten war. Schließlich dachte Mike, Pinky könnte unbemerkt hinausgehuscht sein, holte eine Taschenlampe und suchte draußen rings um das Haus. Er spähte hinter sämtliche Büsche und unter die Veranda, doch alles, was er fand, waren ein alter Gummiball und ein paar Spinnen der Größe von Silberdollars. »Na schön, Katze. Das ist nicht witzig. Du stiehlst mir Kaffeezeit.« Mike stand auf und wischte sich ab. Er ließ den Strahl der Taschenlampe über den Hof in Richtung der Straße wandern und hoffte, in der Dunkelheit den Widerschein grüner Augen zu erblicken. Nichts. Mike gelangte zu dem Schluss, dass der nächstbeste Ort zum Suchen die Scheune wäre, ging um das Haus herum und auf das alte Holzgebäude zu. Wahrscheinlich diente die Scheune ganzen Heerscharen von Feldmäusen als Zuflucht. Vielleicht hatte Pinky entschieden, sein Jagdgeschick zu testen. Schließlich konnte sich kein Kater als Landkatze bezeichnen, solange er sich nicht als Jäger bewiesen hatte. Was würden die Nachbarkatzen von Pinky denken, wenn er nicht einmal in der Lage wäre, eine lausige Maus zu fangen? Langsam näherte sich Mike der Scheune. Dabei wurde ihm schlagartig bewusst, dass der alte Holzbau nachts bedeutend unheimlicher wirkte als unter Tags. Tagsüber nahm man ihn nur als altes Holzgebäude wahr, dessen rote Farbe durch die Einwirkung der Sonne und zahlreiche Gewitter Blasen warf und abblätterte; als Ort stiller Erinnerungen, die von langen, trägen Sommern handelten, von Feldern mit reifendem Heu und vielleicht von einem Hauch verbotener Teenagerliebe.
Nachts jedoch nahm die Scheune ein völlig anderes Bild an. Im silbrigen Mondlicht zeichnete sie sich grau wie eine Gruft ab und erinnerte an einen Ort der Schatten und der Dunkelheit – einen Ort, an dem Geister rasten mochten, während sie über die heimgesuchte Landschaft zogen und taten, was immer Geister bei ihren nächtlichen Ausflügen trieben. Mike erinnerte sich an einige angeblich wahre Gespenstergeschichten, die er im Lauf der Jahre gelesen hatte, und erkannte, dass viele davon in ebensolchen Gebäuden spielten wie jenem, auf das er gerade zuging. »Ich glaube nicht an Geister«, sprach er laut aus, um sich ins Gedächtnis zu rufen, dass er zwar oft Gespenstergeschichten schrieb, aber nicht wirklich an die Existenz von Geistern, verirrten Seelen und ähnlichen übernatürlichen Erscheinungen glaubte. Hingegen glaubte er sehr wohl an tollwütige Nagetiere, giftige Spinnen und Schlangen und hinterhältige Insekten, die zweifellos allesamt nachts in der alten Scheune anzutreffen waren. Nichtsdestotrotz musste er die Katze finden und würde sich nicht davon abhalten lassen, zumindest einen kurzen Blick in die Scheune zu werfen. Er bahnte sich durch das hohe Unkraut einen Weg zu der großen Doppeltür an der Seite des Gebäudes. Nur eine der Türen war noch intakt; die andere war vor Jahren aus den Angeln gefallen und verrotte auf dem Boden. Mike trat an die Öffnung, an der sich die zweite Tür einst befunden hatte, und zielte mit dem Strahl der Taschenlampe in die Scheune. Das Innere war in Abschnitte unterteilt. Der Tür am nächsten befand sich ein Bereich, der früher für die Lagerung von landwirtschaftlichen Geräten verwendet worden war. Unmittelbar neben dem Eingang lag eine alte Heugabel auf ein paar Eisenrädern, was zusammen wie eine alte Kriegswaffe aussah. Dahinter grenzten niedrige Wände einen Bereich zum Einstellen von Rindern oder Pferden bei Schlechtwetter ab.
Oben erstreckte sich über die halbe Länge der Scheune ein Heuboden, in dem schon lange kein Heu mehr gelagert hatte. »Pinky?«, rief Mike und schwenkte suchend die Taschenlampe. In den meisten Trennwänden prangten Lücken, wo die Bretter sich entweder gelöst hatten oder entfernt worden waren, um sie für andere Zwecke zu verwenden. Durch diese Öffnungen konnte er einen Großteil des Inneren der Scheune überblicken, ohne sich allzu weit vorzuwagen. Er nahm eine Bewegung zu seiner Linken wahr, doch als er die Taschenlampe darauf richtete, sah er nur ein winziges Wuseln unter einem Haufen Laub. Wahrscheinlich eine Kakerlake auf der Flucht vor dem grellen Licht. Jedenfalls schien sich Pinky sich nicht in der Scheune herumzutreiben. Mike verließ die Scheune und überlegte, ob er den Obstgarten und vielleicht einen Teil des Waldes durchsuchen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Falls Pinky beschlossen hatte, sein Territorium abzugrenzen, konnte er sich mittlerweile auf halbem Weg zur Stadt befinden. Wenngleich Mike das nicht wirklich glaubte – auf Hollys Drängen war Pinky bereits vor Jahren kastriert worden. Er war kein draufgängerischer Don Juan mehr und hatte keinen Grund, sich auf die Suche nach Abenteuern und zu erobernden Gebieten zu begeben. Er war eine Rentnerkatze. Eine fette, glückliche, faule Rentnerkatze. Mike dachte an den unangetasteten Fressnapf in der Küche. Holly und den Kindern gegenüber hatte er es nicht erwähnen wollen, aber er hatte Pinky zuletzt gesehen, als er Tommys Zimmertür auftrat. Der große Kater war zu Tode erschrocken gewesen, und Mike fragte sich, ob es daran liegen mochte, dass er nun verschwunden war. Eines jedenfalls stand fest: Es war nicht normal für Pinky, ein Abendessen auszulassen. Ganz und gar nicht normal.
Teil II
»Es gibt Dinge, von denen wir nichts wissen. Seltsame Dinge, die in der Dunkelheit lauern. Dass wir nichts von ihnen wissen, bedeutet nicht, dass es sie nicht gibt.« Jay Little Hawk
KAPITEL 14
Manche Montage sind schlimm. Manche sind schlimmer als andere. Jener spezielle Montag erwies sich bald als die Mutter aller schlimmen Tage. Die Handwerker trafen ein, kurz nachdem die Kinder zur Schule aufgebrochen waren. Nach einer Überprüfung des Küchenbodens behaupteten sie, mit den von ihnen verlegten Fliesen wäre alles in Ordnung. Allerdings fanden sie auch keinerlei Anzeichen für einen Wasseraustritt. Statt mit ihnen zu diskutieren, beschloss Mike, dafür zu bezahlen, neue Fliesen verlegen zu lassen. Ebenso ließ er den Riss im Boden und jenen in der Wand der Bibliothek ausbessern. Wie bei den Flecken konnten die Handwerker auch bei den Rissen nicht bestimmen, was sie verursacht hatte. Das Fundament des Hauses schien in gutem Zustand, und es gab keine Hinweise darauf, dass es sich setzte. Während die Arbeiter damit beschäftigt waren, den Küchenboden herauszureißen, wollte Mike den Keller ein wenig ausmisten. Weniger als eine Stunde, nachdem er damit begonnen hatte, entdeckte er Pinkys leblosen Körper unter einem Stapel alter Kartons. »Oh, großer Gott«, stieß er hervor und sprang zurück. Kurz drehte er sich um und vergewisserte sich, dass Holly in der Zwischenzeit nicht in den Keller gekommen war – allem Anschein nach befand sie sich noch oben und beaufsichtigte die Arbeiten in der Küche –, dann näherte er sich erneut der toten Hauskatze. Pinky lag mit ausgestreckten Beinen auf der linken Seite. Die Zunge ragte zwischen den Vorderfängen hervor. Der große
Kater war getötet und verstümmelt worden – man hatte ihm die Augen ausgehöhlt und die Kehle herausgerissen. Sein Körper wies mehrere weitere Wunden auf, und das Fell war zerrissen und verfilzt, was darauf schließen ließ, dass er in einen wilden Kampf verstrickt worden war. Seltsamerweise hatte sich unter dem Körper kein Blut angesammelt. Demnach war er nicht verletzt worden und zwischen die Kartons gekrochen, um zu sterben. Im Gegenteil, jemand musste ihn hergeschleift haben, nachdem er bereits tot gewesen war. Mike drehte sich um und ließ den Blick auf der Suche nach Blutstropfen, Fellfetzen oder sonst etwas durch den Keller schweifen, das darauf hinwies, wo der Kampf stattgefunden und womit Pinky gerungen hatte. Als er nichts dergleichen fand, regte sich in ihm der Verdacht, dass es vielleicht gar kein Tier gewesen war, das den Tod seiner geliebten Katze verursacht hatte. Womöglich hatte ein Mensch Pinky umgebracht und anschließend seinen Kadaver zwischen den Kartons versteckt. Zuletzt hatte Mike den großen Kater am Vortag gesehen, als er das Haus nach einem möglichen Eindringling durchsucht hatte. Pinky hatte ihn zu Tode erschreckt, als er wie ein geölter Blitz aus Tommy Zimmer gerast war, nachdem Mike die Tür aufgetreten hatte. Der Kater hatte selbst völlig verängstigt gewirkt und war die Treppe hinab ins Erdgeschoss geflüchtet. Als die Bärenkachina zerbrochen wurde, hatte sich die Katze bereits unten befunden. Vielleicht hatte derjenige, der die Statue kaputt gemacht hatte, beschlossen, auch gleich einen willkürlichen Akt der Grausamkeit an der Familienkatze der Anthonys vorzunehmen. Es wäre nicht schwierig gewesen. Pinky war recht zutraulich gewesen und in der Regel auch auf völlig Fremde zugegangen, um sich streicheln zu lassen. Hatte der Kater sich der falschen Person genähert? »Aber wie ist er hier runter in den Keller gelangt?«
Mike glaubte, die Antwort vielleicht zu kennen. Als er am Vortag das Haus durchsucht hatte, war ihm nie der Gedanke gekommen, im Keller nach dem Eindringling zu suchen. Der Unbekannte musste gesehen haben, wie er sich dem Haus genähert hatte, und sich hier unten versteckt haben, um eine Gelegenheit zur Flucht abzuwarten. Vor dem Verlassen des Hauses hatte der Eindringling offenbar aus unerfindlichen Gründen beschlossen, die Bärenkachina zu zertrümmern. Dabei musste Pinky die Küche betreten haben, was der Eindringling anscheinend genutzt hatte, um ein weiteres Verbrechen gegen die Familie zu üben. Tränen traten Mike in die Augen, während der Pinkys Kadaver betrachtete. Der Katze die Kehle aufzuschlitzen, war ein grausamer Akt des Mordes gewesen, aber ihr auch noch die Augen auszustechen, ging weit darüber hinaus. Das glich einer unaussprechlichen Abscheulichkeit, die nur von einem kranken, gefährlichen Irren verübt worden sein konnte. Aber warum? Warum hatte jemand etwas so Grauenhaftes getan? Mike und seine Familie hatten keine wirklichen Feinde – niemand hatte einen Grund, sich an ihnen zu rächen, indem er die Familienhauskatze folterte. Er dachte an die Konfrontation seiner Frau mit Pfarrer Mitchell und überlegte, ob ein Mitglied der Kirchgemeinde den Kater in dem Bestreben getötet haben könnte, sie aus der Gegend zu vertreiben. Wenn dem so war, was für Gift versprühte der gute Herr Pfarrer dann von seiner Kanzel? Mike schüttelte den Kopf. Er glaubte nicht, dass der Pfarrer oder ein Mitglied seiner Kirchengemeinschaft hinter dem Verbrechen stand. Sie mochten seine Bücher boykottieren und seine Familie aus der Kirche verbannen, vielleicht sogar die Heiligen darum anrufen, seine Seele in Öl zu sieden, aber er bezweifelte, dass sie so weit gehen würden, eine unschuldige
Katze zu ermorden und zu verstümmeln, erst recht nicht eine so liebenswerte wie Pinky. »O nein.« Die Stimme erschreckte ihn. Als er sich umdrehte, stand Holly ein paar Schritte hinter ihm. Mike hatte sie nicht die Treppe herunterkommen gehört, zu sehr hatte ihn der Fund von Pinkys Kadaver aufgeregt. Er hatte nicht gewollt, dass seine Frau die Katze so sah, hatte ihr die Neuigkeit behutsam beibringen wollen, nachdem er Pinky beerdigt hätte, doch nun war es zu spät. Holly stand hinter ihm und starrte mit vor Grauen geweiteten Augen auf ein Haustier, das sie und die Kinder noch inniger geliebt hatten als er. »O nein«, wiederholte sie, wobei ihre Lippen die Worte so behutsam bildeten, als beherrschte sie keine anderen. Mike trat vor sie und versperrte ihr die Sicht auf den leblosen Kater. »Es tut mir Leid, Liebling. Ich habe ihn vor ein paar Minuten gefunden.« Holly schaute zu ihm auf, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Sie wich leicht zur Seite aus und spähte an ihm wieder auf den Boden. »Seine Augen«, stieß sie mit einer Stimme hervor, die kaum mehr war als ein Flüstern. Kurz betrachtete sie Pinky noch, dann wandte sie sich Mike zu. Ihre Züge verfinsterten sich vor Wut. »Wer hat das getan?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte er und trat auf sie zu, um sie zu trösten. Er spürte, dass sie Tränen zurückrang und ihren Zorn nutzte, um ihre restlichen Gefühle unter Kontrolle zu halten. Sie hasste es zu weinen. »Ruf den Sheriff an«, forderte sie ihn auf und ballte die Hände an den Seiten zu Fäusten. Eine Träne löste sich von ihrem linken Auge und kullerte ihr über die Wange. »Was soll ich den Kindern sagen? Was Tommy? Es wird ihm das Herz brechen.«
»Wir lassen uns etwas einfallen.« Mike legte seiner Frau den Arm um die Schultern und führte sie zur Treppe. »Komm, wir gehen nach oben und rufen im Büro des Sheriffs an.« Nachdem Mike die Nummer des Büros des Sheriffs von Hudson County aus dem Telefonbuch herausgesucht hatte, schilderte er der Vermittlung, was geschehen war, dann wartete er kurz. Als die Vermittlung sich wieder meldete, teilet man ihm mit, dass sobald wie möglich jemand zu seinem Haus geschickt würde. Mike bedankte sich und legte auf. Etwa eine Stunde später bog ein Streifenwagen in die Auffahrt. Überrascht stellte Mike fest, dass statt einem der Hilfssheriffs des Countys Sheriff Jody Douglas höchstpersönlich hinter dem Steuer saß. Einen Augenblick fragte er sich, ob sich das County überhaupt Hilfssheriffs leistete, weil er noch nie welche gesehen hatte, dann jedoch folgerte er, dass der Sheriff wahrscheinlich deshalb selbst gekommen war, weil er den Anrufer kannte. Vermutlich wollte er sich persönlich um den berühmten Schriftsteller im Ort kümmern. Oder es hatte an jenem Tag einfach wenig Unrecht zu bekämpfen gegeben, und er war froh über eine Gelegenheit gewesen, das Büro verlassen zu können. Mike begrüßte den Sheriff, führte ihn in den Keller und zeigte ihm Pinkys Kadaver. Holly begleitete sie nicht. Dass sie den verstümmelten Kater ein Mal gesehen hatte, reichte ihr vollauf. Sie blieb stattdessen in der Küche und spülte in dem Versuch Geschirr, sich abzulenken und nicht über den Tod des Familienhaustiers nachzudenken. Sheriff Douglas zog eine Taschenlampe von seinem Revolvergurt, kauerte sich hin und untersuchte ein, zwei Minuten lang Pinkys misshandelten Körper. Anschließend stand er wieder auf, schaltete die Taschenlampe aus und drehte sich Mike zu. »Die Kehle ihrer Katze wurde nicht mit einem Messer durchgeschnitten, falls Sie das glauben. Dafür ist der
Schnitt zu ausgefranst und rau. Dasselbe gilt für die kleineren Wunden am Körper und um die Augen. Aus dem Stegreif würde ich sagen, dass der Kater wahrscheinlich an Altersschwäche gestorben ist und sich erst danach etwas über ihn hergemacht hat.« »Das muss ein Irrtum sein«, widersprach Mike. »So alt war Pinky noch nicht. Und er war kerngesund. Erst kurz vor unserer Abreise aus New York haben wir ihn noch einmal von einem Tierarzt untersuchen lassen. Es kann weder eine Krankheit noch Altersschwäche gewesen sein.« »Was glauben Sie dann, was ihn getötet haben könnte, Mr. Anthony?«, fragte der Sheriff. »In diesem County gibt es kein größeres Viehzeug als Waschbären und Opossums, und ich bezweifle, dass sich allzu viele davon hier unten in diesem Keller herumtreiben.« »Ich weiß nicht, was meine Katze getötet hat. Oder wer. Ich weiß nur, dass Pinky nicht an Altersschwäche gestorben ist und es kein Opossum gibt, das groß genug wäre, um es mit ihm aufzunehmen.« »Mr. Anthony, ich weiß ja nicht, wie das in der Großstadt ist, aber hier auf dem Land sterben Katzen aus allen möglichen Gründen; manche werden von Autos überfahren, andere von Hunden gerissen, wieder andere kippen einfach ohne ersichtlichen Grund tot um.« Der Sheriff steckte die Taschenlampe zurück an den Gürtel. »Sie wollen gar nichts unternehmen?«, fragte Mike frustriert. »Tja, ich kann keinen Bericht über ihre Katze schreiben, weil es keinerlei Beweise für ein Verbrechen gibt. Hätte ihn jemand erschossen, sähe die Sache anders aus. Ist aber nicht der Fall. Und ich bezweifle schwer, dass sich jemand hier runtergeschlichen hat, um – « »Ich glaube, dass ich gestern jemanden hier im Haus gesehen habe«, fiel Mike ihm ins Wort.
Der Sheriff zog eine Augenbraue hoch. »Tatsächlich? Wann?« »Gegen Mittag. Ich kam gerade von einem Spaziergang zurück und dachte, ich hätte jemanden an einem der oberen Fenster gesehen.« »Können Sie die Person beschreiben?« Mike schüttelte den Kopf. »Ich konnte sie nicht richtig erkennen. Eigentlich habe ich nur flüchtig eine Bewegung wahrgenommen. Ich bin ins Haus gegangen und habe alle Räume durchsucht, aber niemanden gefunden. Als ich allerdings oben war, hörte ich aus der Küche ein lautes Knallen, als hätte jemand mit einem Hammer auf den Boden geschlagen. Bis ich wieder unten war, hatte das Geräusch aufgehört, und die Küche war leer, aber die Bärenkachina war zerbrochen.« »Die was?«, hakte Sheriff Douglas ein. »Die Bärenkachina«, wiederholte Mike. »Eine dieser Indianerpuppen. Sie stand mitten auf dem Küchentisch. Als ich ins Haus kam, war sie noch dort, daran kann ich mich erinnern, weil ich in der Küche war, um mir ein Fleischermesser zu holen, bevor ich das Haus durchsuchte. Zu dem Zeitpunkt stand die Kachina noch unversehrt auf dem Tisch. Als ich später heruntergerannt kam, um dem Geräusch auf den Grund zu gehen, fand ich die Puppe in Trümmern auf dem Boden.« Der Sheriff schaute an Mike vorbei, offenbar zu den Puppen auf dem Ablagefach entlang der Wand. »Wurde abgesehen davon noch etwas beschädigt oder gestohlen?« »Nein. Es fehlt nichts. Und das Einzige, was kaputtgegangen ist, war die Kachina.« »Und Sie haben niemanden gesehen, nachdem sie ins Haus gegangen waren?« »Nein. Derjenige muss irgendwie geflüchtet sein.«
»Was ist mit den Türen und Fenstern? Waren alle geschlossen und verriegelt?« Mike nickte. »Ja.« »Von innen?« »Ja, von innen. Warum?« Der Sheriff schüttelte den Kopf. »Ach, nur so. Es scheint mir einfach merkwürdig, wie jemand unbemerkt an Ihnen vorbeigelangt sein soll, erst recht, wenn Sie oben waren und alle Fenster und Türen von innen verriegelt hatten.« Schlagartig erkannte Mike, dass der Sheriff ihn nicht ernst nahm, ihn wie ein Kind behandelte, das ihm ein gewaltiges Märchen auftischte. Ihm wurde warm im Gesicht, als Zorn in ihm aufstieg, doch er riss sich zusammen und schwieg. Der Sheriff musste ihm seine Wut an den Augen oder am Gesichtsausdruck abgelesen haben, denn er lächelte. »Ich weiß einfach nicht, wie ich Ihnen helfen kann, Mr. Anthony. Ein Einbruch ist erst dann ein Einbruch, wenn tatsächlich jemand eingebrochen ist. Und ein Raub liegt nur dann vor, wenn etwas gestohlen wurde.« Damit schob er sich an Mike vorbei und steuerte auf die Treppe zu. »Was ist mit der zerbrochenen Kachina?« Der Sheriff hielt inne und sah ihn an. »Was soll damit sein? Ich bin sicher, Sie haben jede Menge Ersatz. Falls nicht, schlage ich vor, Sie besorgen sich einen Eimer Leim. Und am besten auch gleich eine Schaufel, um Ihre Katze zu begraben, bevor Ihre Kinder von der Schule nach Hause kommen.« Mit dieser abschließenden Bemerkung erklomm Sheriff Douglas die Treppe und ließ Mike allein im Keller zurück. Allein und ziemlich wütend.
KAPITEL 15
Mike vergrub Pinky hinter der Scheune und nahm sich die Zeit, das Grab ordentlich mit Laub und Gras zu verdecken. Holly und er wollten nicht, dass die Kinder erführen, was ihrem Haustier widerfahren war. Jedenfalls noch nicht. Der Umzug in eine völlig neue Umgebung und die Eingewöhnungsphase in eine neue Schule schienen vorerst belastend genug. Sie würden es ihnen später, zu einem geeigneteren Zeitpunkt mitteilen. Während Mike mit der Schaufel die Erde des Grabs festklopfte, überlegte er, ob ein paar Worte des Gedenkens angebracht wären. Er hatte noch nie ein Familienhaustier beerdigt und wusste nicht, wie man sich dabei verhielt Sprach man ein Gebet, und wenn ja, weshalb? Er war keineswegs überzeugt davon, ob Tiere eine Seele besaßen, deshalb wusste er nicht, ob es richtig wäre, ein paar Worte an den großen Boss im Himmel zu richten. Gab es ein Katzenparadies, einen Ort, an dem Katzen nach ihrem Tod nach Herzenslust herumtollten und spielten? Mike bezweifelte es, dennoch fühlte sich die Vorstellung tröstlich an, dass es so sein könnte. Während er auf die Schaufel gelehnt dastand, malte er sich aus, wie Pinky an einem Ort weilte, an dem Katzen die Tage damit verbrachten, auf flauschigen Wolken zu dösen, aus mit Sahne gefüllten Silberschalen zu trinken und sich an frischer Leber und Tunfisch zu laben. Natürlich würde es im Katzenhimmel keine Hunde geben, nur fette, köstliche Mäuse zum Jagen und Verspeisen. Und die Katzen hätten keine Flügel. Nein, keine Engelsflügel im Katzenhimmel – die wären bei der täglichen Fellpflege nur im Weg. Außerdem brauchte
man keine Flügel, um zu rennen, zu springen, sich herumzurollen und sich mit all den anderen Katzen im Himmelsreich zu balgen. Wenn es einen Katzenhimmel gab, stand für Mike fest, dass Pinky dorthin aufgenommen worden war. Wahrscheinlich schlug sich der große Kater dort oben bereits den Bauch mit seinen Lieblingsgerichten voll. Es spielte keine Rolle, ob es ein solches Paradies wirklich gab oder nicht, so jedenfalls würde er es Tommy beschreiben, wenn die Zeit käme, dem Jungen mitzuteilen, dass sein geliebter Kater gestorben war. Wut durchflutete Mike und zerrte seine Mundwinkel verkniffen nach unten. Jemand oder etwas hatte den Kater getötet. Pinky war keineswegs an Altersschwäche verendet, wie der Sheriff gemutmaßt hatte. Je mehr er über die Worte von Sheriff Douglas nachgrübelte, desto wütender wurde er. Der Sheriff glaubte nicht, dass Pinky von jemandem getötet worden war. Schön und gut. Jedem Menschen stand das Recht auf eine eigene Meinung zu. Aber er hatte zudem nicht geglaubt, was Mike ihm erzählt hatte, und war sogar so weit gegangen, ihn unverhohlen zu beleidigen. Seine Blicke, seine Gesten, alles an dem Mann hatte Mike verraten, dass er von oben herab belächelt wurde wie ein harmloser Geistesgestörter. Genau, wie er früher über meine Großmutter gelacht hat. Ein Schauder tänzelte ihm über den Rücken, als sich ein weiterer, lange vergessener Erinnerungsfetzen aus seiner Kindheit wieder einstellte und hinter seinen Augen ablief wie auf einer magischen Leinwand. Jenes Bruchstück war nicht nur in Vergessenheit geraten, sondern vollständig aus seinem Gedächtnis gelöscht gewesen, als hätte es jemand herausgekratzt. Nun jedoch kehrte es in lebendigen Farben und Stereoklang zurück.
Ein paar Monate, nachdem er zu seiner Großmutter gekommen war, hatte es sich zugetragen – ein paar Monate nach jenem schrecklichen Autounfall, bei dem seine Eltern ums Leben gekommen waren. Mike hatte sich oben in jenem Zimmer befunden, das nun Tommy gehörte.
Seltsamerweise war Mike bisher auch entfallen gewesen, dass der nunmehrige Raum seines Sohnes früher der seine gewesen war. In meiner Erinnerung klaffen so viele Löcher. Jedenfalls hatte er in jenem Zimmer auf dem Bett gelegen und ein Kinderbuch gelesen, das ihm seine Großmutter aus der Bibliothek besorgt hatte. Die Worte konnte er damals noch nicht lesen, doch das war nicht so schlimm, zumal das Buch reichlich mit Zeichnungen ferner Welten und magischer Königreiche illustriert war. Was er nicht lesen konnte, reimte er sich anhand der Bilder zusammen. Er war völlig in die Geschichte eingetaucht, als er Schreie aus dem vorderen Teil des Hauses vernahm, gefolgt vom Gebrüll eines Automotors. Neugierig legte er das Buch beiseite und markierte sorgsam die Stelle, an der er sich befand. Während er die Treppe hinabging, wurden die Geräusche noch lauter. Er musste sich langsam einen Weg die Stufen hinabbahnen, um nicht über die darauf verstreuten Kartons und Tüten zu stolpern. Schon damals war seine Großmutter nicht ganz richtig im Kopf gewesen, wenngleich es noch nicht annähernd so schlimm gewesen war, wie es später werden sollte. Das Erdgeschoss war von einem grellen Licht durchflutet, das so schaurig wie jenes in Filmen über Entführungen durch Außerirdische wirkte. Allerdings stammte das Licht, das er sah, nicht von einem Raumschiff, sondern von einem gänzlich irdischen Fahrzeug.
Von dem strahlenden, weißen Gleißen regelrecht geblendet, bewegte Mike sich weiter auf dessen Quelle und die Geräusche zu, die er gehört hatte. Er hatte etwa die Hälfte des Ganges durchschritten, als er erkannte, dass die Vordertür offen stand – was ihn beunruhigte, zumal seine Großmutter die Vordertür niemals offen ließ, schon gar nicht nachts. »Oma!«, rief er, doch seine kraftlose Stimme wurde vom Gebrüll des Motors verschluckt. Ein zweites Mal rief er sie nicht, weil er sich fürchtete. Eigentlich wollte er nur zurück in die Sicherheit seines Zimmers laufen und zu dem Buch flüchten, das er gerade las. Doch er konnte nicht wegrennen; er musste nachsehen, was los war. Am meisten ängstigte ihn das Licht, weil er damit schlimme Erinnerungen in Verbindung brachte. Auch in der Nacht, in der seine Eltern gestorben waren, hatte es Lichter gegeben: die Scheinwerfer des von einem Betrunkenen gelenkten Wagens, der die Mittellinie überquert und frontal gegen ihr Auto gekracht war; das grelle Auflodern der Schmerzen, als Mike durch den Aufprall vorwärts gegen die Rückenlehne des Sitzes seiner Mutter geschleudert wurde; die Taschenlampen der Polizisten und Feuerwehrmänner, die sich durch das verbogene Metall vorkämpften, um die Unfallopfer zu befreien. Lichter hatten in jener Nacht alles in ein grelles Weiß getüncht und die Welt beinah jeder Farbe beraubt, allerdings nicht aller: Die Farbe Rot war doppelt so deutlich hervorgetreten, wie er sie je zuvor erlebt hatte, und sie war überall gewesen – auf seinem Lieblings-T-Shirt mit BatmanAufdruck, in Form von großen, klebrigen Tropfen über die Windschutzscheibe verspritzt und auf dem eingedrückten Armaturenbrett des Chevrolet seines Vaters. Auch an der Frauenhand, die unter dem weißen Laken mitten auf der Straße hervorragte. Das war alles, was er gesehen hatte: eine Hand, die schlaffen Finger nach oben weisend, verbunden
mit einem zerquetschten Körper, der unter dem blutigen Leichentuch verborgen lag. Wenige Schritte daneben hatte ein zweites Tuch einen etwas größeren Körper verhüllt. Dieser Anblick hatte sich Mike offenbart, als er aus dem Wrack gezogen wurde, und irgendwie hatte er gewusst, dass sich darunter die Leichen seiner Eltern befanden. Er hatte weder geweint, noch gekreischt, weil ihm die Stimme völlig den Dienst versagt hatte. Stattdessen hatte er auf die einst makellose Hand seiner Mutter gestarrt, die unter den grellen Lichtern weiß wie feines Porzellan gewirkt hatte. Sein Blick hatte sich auf das Rot ihres Nagellacks geheftet, auf das Rot, das ihr die Finger hinablief und sich um das Handgelenk rankte wie ein Armband des Todes. Rot… rot… rot. Die Farbe war überall gewesen. Die Farbe Rot und grelle Lichter. Die Lichter waren im Haus seiner Großmutter erneut aufgetaucht, zusammen mit dem Gebrüll eines Automotors. Sie waren gekommen, um ihm seine Großmutter genauso zu entreißen wie damals seine Eltern. Mike ging weiter den Flur hinab, bis er die Vordertür erreichte, wo er innehielt und hinausstarrte. Das Licht stammte von den Scheinwerfern eines Sportwagens, der gefährlich nah an das Haus herangefahren war – die vordere Stoßstange befand sich nur wenige Zentimeter von der Veranda entfernt. Jenseits der Scheinwerfer blickten ihm höhnische Gesichter entgegen; die verzerrten, grinsenden Fratzen von Dämonen, gefangen hinter Glas. Es waren die Gesichter betrunkener Halbwüchsiger, die unterwegs waren, um Unruhe zu stiften. Mike erkannte sie, hatte sie schon zuvor gesehen. Das Gesicht hinter dem Lenkrad gehörte Jody Douglas. Als er angesichts des grellen Gleißens blinzeln musste, hörte er, wie seine Großmutter die Jungen in dem Auto anbrüllte. Sie stand auf der Veranda hinter einer der Holzstützen. Eine kleinwüchsige, entsetzliche dürre Frau, bewaffnet nur mit
jenem abgebrochenen Rechenstiel. Sie brüllte den Jungen zu, sie sollten verschwinden und sie und ihren Enkel in Ruhe lassen. Ihr Gezeter zeigte keinerlei Wirkung. Die Rowdys lachten sie nur aus. Der Fahrer ließ den Motor aufheulen, rückte den Wagen noch näher an die Veranda und ließ den Eindruck entstehen, er wollte mitten hinein ins Haus rasen. Das vorschnellende Auto ließ Mike aufschreien; er war fest davon überzeugt, dass der Wagen gekommen war, um ihn zu töten, wie einst ein anderes Fahrzeug seine Eltern getötet hatte. Vor seinem geistigen Auge überlagerten sich die Lichter des Wagens jenes Betrunkenen von damals und die Scheinwerfer des Autos der Teenager. Sein Aufschrei erschreckte seine Großmutter und ließ sie zu ihm herumwirbeln. Sie stand vergleichsweise sicher hinter einer Holzstütze, doch zwischen Mike und dem bedrohlichen Fahrzeug befand sich nichts. Entsetzt rannte sie über die Veranda, packte ihn grob am Handgelenk und zerrte ihn zurück ins Haus. Sie warf die Tür zu, sperrte ab und scheuchte Mike weiter ins Wohnzimmer. Dort knieten sie, hielten einander fest und warteten, bis die Teenager des Spiels überdrüssig wurden und von dannen fuhren. In jener Nacht hatten vier Teenager in dem Auto gesessen. Einer davon war Jody Douglas gewesen. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass er Mikes Großmuter gequält hatte, und es war nicht das letzte Mal geblieben. Die Erinnerung an jenes Ereignis verblasste und ließ Mike zitternd, atemlos zurück. So vieles aus seiner Kindheit entzog sich seinem Gedächtnis, lag tief in ihm vergraben, am selben Ort, an den er die Erinnerung an die Nacht verbarg, in der seine Eltern gestorben waren. Wenn einer dieser Erinnerungsfetzen sich löste und an die Oberfläche aufstieg, blieb er stets körperlich erschüttert zurück.
Diesmal erfüllte ihn zudem Wut – Wut über den Tod einer Hauskatze, und Wut über den Sheriff des Countys.
Tommy und Megan trafen um 15:30 Uhr zu Hause ein. Sofort wollten beide wissen, ob Pinky inzwischen wieder da sei und ob sie zusammen losfahren könnten, um nach ihm zu suchen. Mike versicherte ihnen, dass Pinky wahrscheinlich bloß unterwegs sei, um die Gegend zu erkunden, und bestimmt bald zurückkehren würde. Er hasste es, die Kinder zu belügen, und war nicht sicher, wie lange es gut gehen würde, aber vorerst schienen sie mit seiner Erklärung zufrieden. Um das Thema zu wechseln, erkundigte Holly sich, wie es in der Schule gewesen wäre. Anscheinend wurde es allmählich besser, zumindest waren Megan und Tommy seit jenem ersten Schultag nicht mehr zu Zielscheiben von Spuckebällchen geworden. Und wenngleich sie nicht zu den beliebtesten Schülern zählten, hatten sie beide unter ihren jeweiligen Klassenkameraden ein paar Freundschaften geschlossen. Einige der Schülerinnen in Megans Turnunterricht hatten vorgeschlagen, sie sollte sich für das Volleyballteam bewerben. Sie zeigten sich ziemlich beeindruckt von den athletischen Fertigkeiten der Fünfzehnjährigen und fanden, sie wäre eine absolute Bereicherung für das Team. Megan war nie Mitglied eines Volleyballvereins gewesen, hatte nur gelegentlich mal in der Schule in New York gespielt, aber sie konnte so gut wie alles, wenn sie sich für etwas interessierte und sich entsprechend bemühte. »Warum bewirbst du dich nicht einfach?«, fragte Holly, um ihre Tochter zu ermutigen. »Keine Ahnung. Vielleicht mache ich das ja«, gab Megan zurück und dachte darüber nach. »Aber die Trikots sind
ätzend, und ich weiß nicht, wie ich zum Training und zu den Spielen hinkommen soll.« »Ich bin sicher, dass du selbst in einem kitschigen Dress gut aussiehst.« Mike lächelte. »Und ich sage dir noch etwas: Wenn du es ins Team schaffst, sorge ich dafür, dass du rechtzeitig bei jedem Training und allen Spielen bist.« Megan meinte, sie würde es sich überlegen, dann ging sie, um ein wenig fernzusehen, bevor sie sich ihren Hausaufgaben zuwandte. Tommy raste in dem Versuch hinter ihr her, als Erster zum Fernseher zu gelangen. Nach dem Abendessen ergriff Mike seine Brille und einen Roman von Clive Cussler und begab sich hinaus auf die Veranda, um ein Weilchen zu lesen. Obwohl er selbst Horrorromane schrieb, las er selten welche. Stattdessen zog er Literatur außerhalb des Genres vor, in dem er arbeitete. Er liebte Thriller und Krimis, und manchmal genoss er sogar einen Western. Nach nur wenigen Seiten rief ihn Holly aus der Bibliothek. »Was ist denn nun schon wieder?«, raunte er bei sich, legte das Buch beiseite und stand auf. Angeblich ging es auf dem Land beschaulicher zu, tatsächlich jedoch schien selbst in New York City mehr Ruhe und Frieden zu herrschen. Zum Ausdruck seines Missfallens darüber, gestört worden zu sein, ließ er die Insektenschutztür geräuschvoll hinter sich zufallen, dann ging er den Flur entlang und betrat die Bibliothek. Holly stand am gegenüberliegenden Ende des Raumes und starrte an die Wand. »Du hast gekreischt?«, scherzte er, doch das Lächeln verpuffte schlagartig aus seinem Gesicht. Seine Frau schaute auf die Stelle, an der die Handwerker erst an diesem Tag den Riss in der Wand ausgebessert hatten. Sie hatten die beschädigte Täfelung entfernt, die Wand mit Gips verfugt und die gesprungene Täfelung durch ein neues Teil ersetzt.
Offensichtlich hatte die Reparatur wenig geholfen, denn der Riss war wieder da. Und nicht nur das, sondern schlimmer als zuvor. Nun erstreckten sich zwei gezackte Risse vom Boden bis zur Decke über die gesamte Länge der Wand und bildeten ein riesiges V. »Schön langsam wird es lächerlich«, stieß Mike hervor und ging zu Holly. Er fuhr mit den Fingerspitzen den Risse entlang und spürte überrascht, dass eine eisige Kälte aus der Wand drang – eine Kälte, die er sich nicht erklären konnte, zumal es weder im Haus noch draußen kalt war. Tatsächlich lag die Temperatur bei rund zwanzig Grad. »Fühlt sich kalt an«, sagte er mehr zu sich selbst als zu Holly. »Aber warum?« Holly trat vor und berührte den zweiten Strang des Risses. Mike schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Dürfte sich eigentlich nicht kalt anfühlten, ich wüsste keinen Grund dafür, außer, es würde Feuchtigkeit aus dem Keller herauf dringen.« »Im Keller ist es nicht feucht«, gab sie zu bedenken. »Ich weiß«, pflichtete er ihr bei, »trotzdem muss es eine logische Erklärung dafür geben. Irgendwie muss Feuchtigkeit in die Wand gelangt sein. Vielleicht ist hier oben irgendwo eine Wasserleitung undicht. Das würde auch – « Eine plötzliche Bewegung erregte seine Aufmerksamkeit. Mike drehte sich gerade noch rechtzeitig nach, um zu sehen, wie ein Schatten durch den Gang vor der Tür huschte. Zunächst dachte er, eines der Kinder wäre in die Küche gegangen, aber der Schatten hatte die falsche Größe und Form. Er war kleiner als ein Kind, etwa so groß wie ein Hund. »Was war das?« »Was war was?«, fragte Holly. »Ich habe etwas gesehen«, erwiderte er. »Wo?« »Etwas ist durch den Flur gelaufen.«
Damit eilte er aus der Bibliothek und erhaschte einen Blick auf etwas, das in die Küche wuselte. Was es war, konnte er nicht erkennen; er erspähte nur einen Schatten an der gegenüberliegenden Wand. »Da!«, rief er aus und folgte dem Schatten. »Es ist in die Küche.« »Was?«, wollte Holly wissen und kam hinter ihm her aus der Bibliothek. »Ich weiß es nicht.« Mike rannte in die Küche, doch als er sie erreichte, fand er sie leer vor. Was immer er gesehen hatte, war ihm entkommen. Rasch durchquerte er den Raum und überprüfte die Hintertür, aber sie erwies sich als verriegelt. Er öffnete die unteren Schranktüren und schaute hinter den Mülleimer. Nichts. Auch die Tür zum Keller war abgeschlossen. »Was ist nun?«, fragte Holly, die an der Tür auftauchte. Mike gab seine Suche auf und drehte sich ihr zu. »Ich dachte, ich hätte etwas gesehen, aber es muss wohl ein Trick des Lichts gewesen sein.« Holly musterte ihn skeptisch. »Was dachtest du denn, gesehen zu haben?« Er zuckte mit den Schultern. »Einen Schatten, der an der Tür vorbeilief. Von etwas Kleinem. Einem Tier vielleicht.« Ein letztes Mal ließ er den Blick durch die Küche wandern. »Wahrscheinlich ist bloß meine Fantasie mit mir durchgegangen.« Mike wollte den Raum gerade verlassen, als sich die Miene seiner Frau veränderte. Sie schaute an ihm vorbei auf den Boden. Er drehte sich um, fürchtete sich vor dem, was er dort vielleicht vorfinden würde, wusste es jedoch irgendwie bereits im Voraus. Der Riss unter dem Küchentisch war ebenfalls wieder da, größer als zuvor.
»Verfluchte Scheiße«, stieß er hervor und wirbelte herum. »Das wurde doch gerade erst gerichtet. Der Boden kann nicht schon wieder gesprungen sein.« Mike durchquerte den Raum, kniete sich neben den Tisch, beugte sich vor und fuhr mit den Fingerspitzen über den Riss. Wie bei jenem in der Bibliothek spürte er Kälte aus dem Boden pulsieren, als bliese ein frostiger Wind aus dem Keller herauf. Aber auch im Keller herrschte keine Kälte, was ihn wieder zu der Frage führte, woher sie kommen mochte. Während er dort mit den Fingern an dem Riss kauerte, überkam Mike plötzlich der Eindruck, dass das, was er spürte, aus viel tieferen Gefilden als dem Keller stammte. Die Kälte fühlte sich wie der Hauch eines Windes an, der aus einer Spalte tief unter der Erde drang, aus einer unterirdischen, von uralten Eiszungen gebildeten Höhle; einem Ort dunkler Geheimnisse, an dem blinde Kreaturen in der Finsternis flüsterten. Obwohl ihm klar war, dass dies nur der lebhaften Fantasie eines Schriftstellers zuzuschreiben war, konnte er den Schauder der Beklommenheit nicht unterdrücken, der ihm wie eine Spinne über den Rücken kroch. Ebenso wenig konnte er sich davon abhalten, die Finger wie von einer Tarantel gestochen von dem Riss zurückzuziehen.
KAPITEL 16
Es war kurz nach 22:00 Uhr, als Sam Tochi Jim’s Bar & Grill betrat, eine stille, kleine Kneipe, in der die Arbeiterklasse von Braddock verkehrte. Da es ein Wochentag war, hielt sich nur eine Hand voll Gäste in dem Laden auf. Sam entschied sich für einen freien Hocker an der Bar, nahm Platz und bestellte sich eine Flasche Budweiser. Er war kein besonderer Trinker, aber gelegentlich, wenn ihm etwas auf der Seele lag, genoss er ein gutes Bier. Und im Augenblick lag ihm eine Menge auf der Seele. Trotz der Gebetszeremonie, die er in seinem Hinterhof abgehalten hatte, konnte er sich noch immer nicht daran erinnern, was ihm letzten Dienstag widerfahren war. Die Ereignisse jenes Tages blieben in einem dichten Nebel verborgen, eine Folge eines Anfalls, herbeigeführt von seinem stetig wachsenden Gehirntumor. Ebenso wenig konnte er das Gefühl abschütteln, dass demnächst etwas Schlimmes geschehen würde, und das machte ihm noch mehr zu schaffen. Da er nach alter Tradition der Hopi aufgewachsen war, tat er ein solches Gefühl nicht als lediglich überzogene Einbildung ab. Niemals. Er glaubte an Visionen und Vorwarnungen und wusste, dass ein schlimmes Gefühl eine Botschaft sein konnte, die ihm aus der Welt der Geister geschickt worden war. Vielleicht versuchte einer seiner Schutzgeister, ihn davor zu warnen, dass Gefahr in Verzug war, wenngleich es in Sams Leben – abgesehen von dem Tumor – wenig gab, was wirklich gefährlich sein könnte. Er hatte keine Feinde, kannte niemandem, der gewollt hätte, dass ihm etwas passiert. Ein paar Einwohner der Stadt hätten ihn vielleicht gerne in einer
Irrenanstalt gesehen, aber er bezweifelte, dass sie ihm den Tod wünschten. Zumindest hoffte er das. Er bezahlte das Bier mit zwei zerknitterten Ein-Dollar-Noten, setzte die Flasche an die Lippen an und neigte den Kopf zurück. Das Bier war kalt genug, um ihn wohlig schaudern zu lassen, und er hörte erst zu trinken auf, als die halbe Flasche geleert war. Er stellte sie zurück auf die Bar und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Vielleicht würde ihm eine ordentliche Schwitzsitzung helfen, die Dinge klarer zu sehen. Seit mehreren Jahren war er nicht mehr in einer Schwitzhütte gewesen – vielleicht war es das, was er brauchte. Es half immer, die Poren zu öffnen und den Körper zu reinigen. Zudem trug es dazu bei, geistige Ausgewogenheit zu finden, was es einfacher gestaltete, die wahre Natur der Dinge zu erkennen. Vor Jahren hatte er in seinem Hinterhof eine Schwitzhütte gebaut, aber ein Auguststurm hatte sie einst umgeweht. Womöglich war es an der Zeit, eine neue zu errichten. Zu viel Arbeit. Sam lächelte bei sich. Das war das Problem daran, alt zu werden: Man empfand alles als zu viel Arbeit. Es war wesentlich einfacher, darüber nachzudenken, eine Schwitzhütte zu bauen, als es tatsächlich zu tun. Die Schmerzmittel, die er einnahm, waren dem wenig zuträglich, zumal sie ihn schläfrig machten. Müde alte Indianer bauten keine Schwitzhütten auf ihren Hinterhöfen; sie bauten Luftschlösser. Er wollte gerade einen weiteren Schluck trinken, als drei Junge Männer die Kneipe betraten. Sam wusste, dass sie Handwerker aus der Ortschaft waren, kannte sie jedoch nicht namentlich. Die drei setzten sich ein paar Hocker von ihm
entfernt an die Bar. Kaum hatten sie Platz genommen, erblickte einer von ihnen Sam. »Hey, alter Mann. Was willst du denn hier? Ich dachte, du würdest irgendwo am Straßenrand hocken und deine Geschichten erzählen.« Sam trank einen Schluck Bier und schüttelte den Kopf. »Die alten Geschichten will niemand mehr hören. Heutzutage spielen alle lieber Nintendo.« Die drei Männer lachten. Nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatten, wandte einer von ihnen sich erneut an Sam. »Vielleicht könntest du ein paar deiner Geschichten diesem Schriftsteller erzählen, der in die Stadt gezogen ist. Ich wette, der würde dir zuhören. Teufel auch, vielleicht würde er dich sogar bezahlen. Oder dir zumindest ein Bier spendieren.« Sam stellte die Flasche ab. »Warum sollte er einem alten Mann wie mir zuhören wollen?« Der Handwerker grinste. »Weil der Typ genauso verrückt ist wie seine verfluchte Großmutter. Deshalb. Wir mussten gerade einen makellosen Küchenboden rausreißen, weil er beschlossen hatte, ein paar Gesichter darauf zu malen.« »Gesichter?«, hakte Sam nach. Der Handwerker nickte. »Genau. Gesichter. Richtig schaurige. Der Boss sagt, es waren dieselben, die seine Großmutter immer gezeichnet hat. Vielleicht will der Enkel die Familientradition fortführen. Mir soll’s recht sein, schließlich werde ich nach Stunden bezahlt. Meinetwegen ‘ kann er das ganze Haus mit Fratzen anpinseln.« »Wie viele Gesichter waren auf dem Boden?«, fragte Sam. Der Handwerker trank einen Schluck von seinem Bier und kratzte sich am Kopf. »Sechs, glaube ich. Vielleicht sieben.« Sam spürte, wie sich nackte Angst in seiner Magengrube einnistete. Es begann von neuem. Was das üble Gefühl erklärte, das ihn quälte. Das Gefühl war tatsächlich eine
Warnung. »Was ist mit den Indianerpuppen? Sind sie noch im Haus?« Der Mann nickte. »Alles andere haben sie weggeworfen, aber die Puppen sind noch da. Ich habe gehört, dass sie dem Schriftsteller gefallen. Keine Ahnung, warum; mir verursachen die verfluchten Dinger Gänsehaut.« Etwas erleichtert, rang Sam sich ein Lächeln ab. Wenn die Puppen sich noch in Vivans Haus befanden, standen die Dinge vielleicht doch nicht so schlimm. Vermutlich war er bloß ein Greis, der sich umsonst Sorgen machte. Die Kachinas verkörperten Wächter. Sie würden ihre Besitzer warnen, wenn sich Gefahr anbahnte. Dann verblasste das Lächeln des alten Indianers. Die Kachinas mochten Wächter sein, aber was, wenn ihre neuen Besitzer das nicht wussten? Womöglich hatte Vivian ihrem Enkel nie von der Magie der Puppen erzählt. Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass er und seine Familie nichts über das Haus wussten, in dem sie nun lebten – oder über das Gelände, auf dem es stand. Das wäre in der Tat schlimm. Sehr schlimm.
Megan war gegen elf Uhr zu Bett gegangen, konnte jedoch nicht einschlafen. Sie musste fortwähren an ihre Freundinnen und all die wundervollen Dinge denken, die sie in New York City zurückgelassen hatte. Sie vermisste die Stadt entsetzlich. Warum um alles in der Welt mussten ihre Eltern ausgerechnet nach Missouri in ein Haus auf dem Land ziehen? Ihr Vater besaß Geld, reichlich Geld. Sie waren keineswegs zu dem Umzug gezwungen gewesen. Sie hätten in ihrer alten Wohnung bleiben könne. Stattdessen musste Megan in ein Haus ziehen, in dem sie nicht wohnen wollte, und eine Schule besuchen, die ihr nicht gefiel.
»Das ist einfach nicht fair«, flüsterte sie, als ein Gefühl der Verzweiflung sie erfasste. Ihre Eltern hätten ihr wenigstens erlauben können, alleine in New York zu bleiben. Sie hätte in ein Internat gehen oder vielleicht sogar bei einer ihrer Freundinnen einziehen können. Aber davon wollten sie nichts hören, weigerten sich, auch nur über solche Möglichkeiten zu reden. Sie sagten, sie wäre viel zu jung, um alleine zu leben, und die Familie müsste zusammenbleiben. Nur, damit ihr Vater glücklich war, selbst wenn es für Megan bedeutete, so vieles aufzugeben, was sie liebte. Ich wünschte, Vivian Martin wäre nicht die Großmutter meines Vaters gewesen. Ich wünschte, sie wäre nie gestorben, um ihm dieses dämliche Haus zu hinterlassen. Ohne sie würden wir immer noch in New York leben. Ich hasse sie; ich hasse dieses Haus. Frustriert, weil sie nicht einschlafen konnte, und wütend darüber, dass man ihr all das entrissen hatte, was sie liebte, strampelte Megan die Decke von sich und stieg aus dem Bett. Der Boden knarrte leise unter ihren nackten Füßen, als sie das Zimmer durchquerte. Sie schaltete das Licht ein, zog sich ihren Morgenrock über und öffnete die Tür. Im Haus herrschte Stille; ihre Eltern waren vor Stunden zu Bett gegangen. Sie stand vor ihrem Zimmer und lauschte dem leisen Schnarchen ihres Vaters, das aus dem Raum nebenan drang. Für gewöhnlich störte es sie nicht, doch diesmal irritierte sie selbst sein nächtliches Atmen. Wie konnte er so friedlich schlafen? Wusste er etwa gar nicht, dass er ihr Leben ruiniert hatte? War ihm nicht klar, welches Verbrechen er an ihr begangen hatte? Als sie sich umdrehte, sah sie einen sanften, gelblichen Schimmer, der unter der Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs hervordrang. Das Licht stammte von Tommys DaffyDuck-Nachtlampe. Trotz ihrer Wut musste Megan
unwillkürlich lächeln. Tommy war noch zu jung, um der Dunkelheit gänzlich zu vertrauen. Zwar fürchtete er sich nicht davor wie viele Kinder seines Alters, die sich die Seele aus dem Leib brüllten, wenn man alle Lichter ausschaltete. Den Großteil des letzten Jahres in New York hatte Tommy das Nachtlicht gar nicht verwendet. Aber nun hatte er es wieder hervorgekramt, weil dieses Haus anders, fremdartig war, was einem Achtjährigen spätnachts in der Finsternis verständlicherweise Angst einflößen konnte. Wahrscheinlich würde er die Lampe in einem Monat nicht mehr brauchen, aber vorerst tröstete ihn ihr fahler Schein. Megan ging den Flur hinab zur Treppe und stieg langsam hinab ins Erdgeschoss. Dabei mied sie die knarrende fünfte Stufe, um ihre Eltern nicht zu wecken. Wahrscheinlich würden sie das Geräusch gar nicht hören, doch sie wollte kein Risiko eingehen, weil sie keine Lust hatte, ihnen erklären zu müssen, weshalb sie noch wach war. Während sie den unteren Flur entlang auf die Küche zusteuerte, wurde ihr bewusst, wie unheimlich das alte Haus nachts wirkte. Die Dunkelheit schien sie regelrecht zu umfangen und Schattenklauen nach ihr auszustrecken. Dann bewegte sich in jener Dunkelheit etwas. »Pinky?« Megan blieb stehen; ihr Puls beschleunigte sich. »Bist du das, Junge?« War der große Kater endlich von seiner Erkundungstour durch die Umgebung zurückgekehrt? Wenn ja, wie war er ins Haus gelangt? Ihr Vater verriegelte abends immer alle Türen und vergewisserte sich, dass sämtliche Fenster geschlossen waren. Danach gab es für eine Katze keinen Weg mehr herein – zumindest fiel Megan keiner ein. »Pinky?«, sagte sie erneut, die Stimme kaum lauter als ein Flüstern. Ohne zu wissen, weshalb, fürchtete sie sich plötzlich davor, durch ein Geräusch auf sich aufmerksam zu machen.
Die Dunkelheit rings um sie wirkte bedrohlich, als verberge sie ein schreckliches Geheimnis. Aus der Finsternis drang keine Antwort. Wäre es der Kater gewesen, hätte er sich mit einem Miauen gemeldet, erst recht auf einen Ruf von einem der Kinder hin. Aber wenn es nicht Pinky war, was hatte sich dann bewegt? Megan war gerade einen ersten Schritt zurückgewichen, als sie es erneut sah. Ein dunkler Schemen, dunkler als die ihn umgebende Finsternis, bewegte sich rasch die Fußleiste der Wand entlang. Eindeutig nicht Pinky. Erschrocken darüber, dass sich anscheinend ein Tier im Haus befand, drehte Megan sich um und hastete den Flur entlang. Sie betrat die Bibliothek und wollte das Licht einschalten, musste jedoch feststellen, dass es nicht funktionierte. Verwirrt trat sie einen Schritt vor und spürte, wie etwas unter ihrer rechten Sohle knirschte. Schmerz zuckte ihr durch den Fuß das Bein hinauf und löste ihr einen Schrei von den Lippen. Sie stolperte rücklings und verharrte. Die Schmerzen pulsierten wie feurige Bänder durch ihr Bein. Als sie hinabgriff, fühlte sie, dass etwas Hartes und Scharfes in ihrer Fußsohle steckte. Sie versuchte, es herauszuziehen, doch die Glasscherbe war glitschig vor Blut. Ihrem Blut. »Au«, wimmerte sie und bemühte sich, auf einem Bein das Gleichgewicht zu halten. »Au, au, au.« Sie humpelte vorwärts, um sich am Tisch abzustützen. Sobald sie festeren Halt hatte, ergriff sie die Glasscherbe mit Daumen und Zeigefinger und löste sie behutsam aus ihrem Fuß. Sie ging langsam dabei vor, weil sie fürchtete, die Schreibe könnte sonst abbrechen. Nach einigem vorsichtigen Zupfen war der Splitter entfernt. Kaum war sie fertig damit, betrat etwas die Bibliothek. Megan verharrte und hielt den Atem an.
Obwohl Dunkelheit den Raum erfüllte, sah sie, wie sich ein noch schwärzerer Schemen aus dem Gang in die Bibliothek bewegte. Er war klein, nicht größer als ein mittlerer Hund, dennoch flößte ihr etwas daran Furcht ein. Der dunkle Schemen schien sich zu verändern, als er ins Zimmer glitt. In einem Augenblick wirkte er lang und dünn, im nächsten kurz und gedrungen. Er bewegte sich wie flüssiges Quecksilber, strömte geradezu in den Raum, floss von einem finsteren Winkel zum nächsten. Wenn es sich um ein Tier handelte, dann um keines, das Megan je zuvor gesehen hatte. Was die geheimnisvolle Kreatur auch sein mochte, sie war ihr den Flur entlang gefolgt, allein das war Grund genug für Megan, sich davor zu fürchten. Ein Stück innerhalb der Tür hielt der Schemen inne. Es sucht nach mir. Es weiß, dass ich hier bin. Vielleicht kann es mich in der Dunkelheit nicht sehen. Wenn ich ganz stillstehe, findet es mich vielleicht nicht. Doch sie wusste, dass die meisten Tiere über eine bessere Nachtsicht verfügten als Menschen. Und selbst wenn das Geschöpf sie nicht sehen könnte, würde es sie wahrscheinlich wittern. In beiden Fällen würde es ihr wenig nützen, stillzustehen. Ohne die unbekannte Kreatur aus den Augen zu lassen, wich sie langsam durch den Raum zurück. Sie hatte beinah die hintere Wand erreicht, als sie gegen den Schachtisch ihres Vaters stieß und klappernd die Figuren umwarf. Von dem Geräusch aufgeschreckt, setzte der Schatten sich in ihre Richtung in Bewegung. Megan wich weiter zurück, bis sie mit dem Rücken an der Wand angelangte. Als sie; dagegen prallte, schien eine seltsame Kälte sie zu umfangen. Erschrocken wirbelte sie herum und wollte nachsehen, woher der Frost stammte; was sie sah, verschlug ihr den Atem.
Sie stand vor dem Riss, der sich vom Boden bis zur Decke über die Wand zog. Obwohl tiefe Finsternis in der Bibliothek herrschte, konnte sie den Riss deutlich erkennen, da er noch schwärzer als alles andere wirkte. Eine gespenstische Kälte quoll daraus hervor, begleitet von Flüsterlauten, als ob jemand – oder etwas – tief in der Wand tuschelte. Sie wirbelte herum, hielt nach der unbekannten Kreatur Ausschau, die sie kurzfristig vergessen hatte. Obwohl sie den Schemen nicht sah, wusste sie, dass sich das Ding in ihrer Nähe befinden musste. Sehr nah. Etwas lauerte in der Wand, etwas anderes irgendwo im Zimmer. Sie war dazwischen gefangen. Gefangen. Der Gedanke erfüllte sie mit Panik. Wenn sie nur das Licht hätte einschalten können, um wenigstens zu sehen, was sich bei ihr im Zimmer befand. Doch das konnte sie nicht, weil das Licht nicht funktionierte. Warum eigentlich nicht? Zuvor an jenem Abend war noch alles in Ordnung damit gewesen, warum jetzt nicht mehr? Als ihr neuerlich ein spitzer Schmerz durch den Fuß zuckte, dämmerte ihr die Antwort. Das Licht funktionierte nicht mehr, weil die Glühbirne zerbrochen war. Darauf war sie getreten: auf die Scherben der Glühbirne. Jemand hatte sie aus der Lampe geschraubt und auf dem Boden zerbrochen. Aber warum? Um mich davon abzuhalten, das Licht einzuschalten. Jemand – oder etwas – hatte die Glühbirne entfernt, um sie in der Dunkelheit zu lassen. Und nun befand sich jenes schattige Etwas zwischen ihr und dem einzigen Ausgang aus dem Raum und versteckte sich irgendwo in der Finsternis. Sie hatte entsetzliche Angst davor, sich zu bewegen, doch statt weiter mit dem Rücken zur Wand in der Dunkelheit auszuharren, fasste sie sich ein Herz, stieß sich ab und rannte
auf die Tür zu. Von unterhalb des Kaffeetischs hechtete etwas nach ihr und versuchte, sie aufzuhalten, verfehlte sie jedoch. Als sie die Tür erreichte, bog sie nach rechts und raste den Gang hinab. Zwei Stufen auf einmal nehmend, erklomm sie die Treppe, zu verängstigt, um zurückzuschauen. Als sie oben ankam, löste sich ein Schrei von ihren Lippen. »DADDY!« Abermals kreischte Megan, diesmal noch lauter. Die Schlafzimmertür ihrer Eltern flog auf. Das Ganglicht wurde eingeschaltet. Im selben Augenblick, als die Dunkelheit verpuffte, schaute sie hinab und erspähte etwas unmittelbar hinter ihrem linken Knöchel: einen Schatten, schwarz wie altes Motoröl, der hinter ihr herraste. Nur gab es keine Kreatur, die den Schatten warf. Der Schatten war die Kreatur, sichtbar und durchscheinend zugleich, dunkler als die Nacht, mit Augen der Farbe von Rauch. Megan sah die Schattenkreatur nur einen Lidschlag lang, denn das Licht ließ sie verschwinden, als hätte es sie nie gegeben. Doch was sie gesehen hatte, war real, davon war Megan felsenfest überzeugt. Sie flüchtete weiter, stürmte in die Sicherheit der Arme ihres Vaters.
KAPITEL 17
Die Schreie zerschmetterten die Stille der Nacht und weckten Mike aus tiefem. Schlaf. Orientierungslos setzte er sich im Bett auf und dachte zunächst, die nächtlichen Rufe eines Tiers gehört zu haben. Vielleicht einer Eule. Die Schlafzimmerfenster standen offen, demnach konnte das Geräusch aus dem Wald gedrungen sein. Dann jedoch hörte er es erneut: Es war das schrille, durchdringende Kreischen eines Mädchens. Eindeutig menschlich, eindeutig das seiner Tochter. Er schleuderte die Decke von sich, sprang auf und rannte durch das Zimmer. Ein paar panische Augenblicke tastete er in der Dunkelheit an der Wand entlang, bis er den Lichtschalter fand. Er knipste ihn ein und hatte die Tür kaum richtig geöffnet, als Megan schon in seine Arme stürzte. »Daddy…« Das Mädchen prallte so heftig gegen ihn, dass er beinah gestürzt wäre. Er taumelte rücklings und spürte, wie ihm ein scharfer Schmerz durch den Rücken schoss. »Megan, was hast du? Was ist denn?« Holly tauchte neben ihm auf und streifte sich einen Morgenrock über das Nachtkleid. Sie schaute hinab und erblickte den verletzten Fuß ihrer Tochter. »Oh, mein Gott! Was ist passiert? Du blutest ja!« Mike schaute zu Boden und sah, dass blutige Fußabdrücke in den Flur hinaus führten. »Oh, verdammt.« Er wandte sich Holly zu. »Schnell, hol den Erste-Hilfe-Kasten aus dem Badezimmer.« »Es geht mir gut, Daddy«, meldete Megan sich zu Wort und versuchte, sich ruhig anzuhören. »Ist nur ein kleiner Schnitt.«
»Wie ist das passiert?«, wollte Mike wissen und gab sich Mühe, den Zorn aus seiner Stimme zu verbannen. Er war noch halb verschlafen, weshalb ihn umso mehr beunruhigte, was er sah. Seine Tochter sollte nicht bluten, es gab keinen Grund dafür, schon gar nicht, wenn sie eigentlich wohlbehalten im Bett liegen und schlafen sollte. Was hatte sie getan, um sich eine solche Verletzung einzuhandeln? Er kauerte sich nieder, um die Wunde zu begutachten, und hoffte, es würde nichts Ernstes sein. Ebenso hoffte er, dass sie das Blut aus den frisch verlegten Teppichen bekommen würden. Mike verkniff die Mundwinkel. Er sollte sich keine Gedanken über die Böden machen, das war nebensächlich. Was zählte, war, ob seine Tochter eine ernsthafte Verletzung erlitten hatte oder nicht. »Ich bin in der Bibliothek auf eine zerbrochene Glühbirne getreten«, erklärte Megan, als Mike sie umdrehte, um den verletzten Fuß besser betrachten zu können. »Jemand muss die Lampe kaputt gemacht haben.« Es dauerte einen Augenblick, bis die Bedeutung von Megans Worten einsickerte. »Die Lampe in der Bibliothek ist kaputt? Wie ist das passiert?« Megan schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich wollte das Licht einschalten, aber es ging nicht. Dann habe ich mir den Fuß aufgeschnitten. Jemand muss die Glühbirne herausgeschraubt und auf dem Boden zerbrochen haben.« Alarmglocken schrillten in Mikes Hinterkopf. »Jemand hat die Glühbirne aus der Lampe geschraubt?«, wiederholte er, was seine Tochter ihm mitgeteilt hatte. Sie nickte. »Jemand muss sie zerbrochen haben. Ich bin in die Bibliothek, um vor dem Ding im Flur zu flüchten, aber das Licht hat nicht funktioniert.« Wieder schrillten die Alarmglocken. »Megan, Schätzchen, was für ein Ding? Wovon redest du?«
Holly kehrte mit dem Verbandskasten zurück. Mike half seiner Tochter, durch das Zimmer zu humpeln und sich aufs Bett zu setzen, damit Holly den verletzten Fuß verarzten konnte. Indes eilte Mike ins Badezimmer und holte einen sauberen Waschlappen, um das Blut um den Schnitt herum abzuwischen. In der Wunde schienen keine Glassplitter mehr zu stecken, doch es war schwierig festzustellen, weil die Verletzung immer noch blutete. Er faltete den Waschlappen und drückte ihn eine gute Minute auf den Schnitt, um die Blutung einzudämmen. Danach untersuchte er die Wunde erneut. Zum Glück erwies sie sich als nur etwa zwei Zentimeter lang und nicht tief genug, um genäht werden zu müssen. »Ist nicht so schlimm«, verkündete er und setzte seine beste Zuversichtsmiene auf. Die Verletzung sah schlimmer aus, als sie tatsächlich war, und Mike war sicher, dass der Anblick von so viel Blut seiner Tochter einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte. »Dafür brauchen wir nicht einmal einen Arzt. Wir verbinden das ordentlich, und morgen Früh bist du wieder wie neu.« Erleichtert darüber, dass seine Tochter nicht schwerer verletzt war, überließ Mike den Rest der Behandlung Holly. Sie öffnete den Verbandskasten und holte einige Gazestreifen, eine Verbandsrolle und eine Flasche Antibiotikaspray daraus hervor. »Das brennt jetzt vielleicht ein bisschen«, warnte Holly und drehte Megans Fuß herum, damit sie besser an die Verletzung herankonnte. »Aua«, wimmerte Megan, als ihre Mutter den Schnitt mehrmals mit dem Spray einsprühte. Das Mädchen versuchte stillzuhalten, zuckte jedoch jedes Mal unwillkürlich zusammen.
Während Holly die Wunde verband, zog Mike sich über die Pyjamahose seine Jeans an. Dann schlüpfte er in seine Schuhe und drehte sich zu seiner Tochter um. »Megan, was genau hast du unten gesehen?« Sie schaute auf und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich bin runtergegangen, weil ich nicht einschlafen konnte und mir etwas zu trinken holen wollte. Dabei ist mir etwas durch den Flur gefolgt. Erst dachte ich, es wäre Pinky, aber er war es nicht.« »Was dann?«, fragte Holly. »Ein Schatten«, antwortete Megan. Bei der Erinnerung an das, was sie unten gesehen hatte, traten ihr Tränen in die Augen. »Du hast einen Schatten gesehen?«, hakte Mike nach, der sich unvermittelt fragte, ob seine Tochter ein Opfer ihrer Vorstellungskraft geworden war. »Einen Schatten wovon?« »Keine Ahnung. Ich konnte es nicht erkennen, dafür war es zu dunkel. Ich habe nur einen Schatten gesehen.« »Aber Liebling, wie konntest du im Dunklen einen Schatten sehen?«, warf Holly ein, die gerade die Arbeit am Verband abschloss. »Weil er dunkler als die Dunkelheit war. Richtig schwarz. Wie eine Nacht ohne Sterne. Das ist alles. Was ich gesehen habe, war dunkler als die Nacht. Aber es war nur ein Schatten.« Megan blickte von ihrem Vater zu ihrer Mutter, suchte nach Anzeichen darauf, dass ihr jemand glaubte. »Ich schwöre euch, ich denke mir das nicht aus. Das ist es, was ich gesehen habe.« »War es ein großer Schatten oder ein kleiner?«, wollte Mike wissen. »Ein kleiner, wie ein Hund.« Mike stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Er hatte sich Sorgen gemacht, dass jemand ins Haus eingebrochen sein
könnte, während sie geschlafen hatten. Vor dem Zubettgehen hatte er sich vergewissert, dass unten alle Fenster geschlossen und sowohl die Vorder- als auch die Hintertür verriegelt waren. Trotzdem beschlich ihn angesichts der jüngsten Ereignisse allmählich das Gefühl, in einem unsicheren Haus zu wohnen. Doch nach dem zu urteilen, was Megan ihnen gerade erzählt hatte, war vermutlich bloß ein Waschbär oder vielleicht ein Opossum hereingelangt. Er ließ Megan und Holly zurück, ging aus dem Zimmer und durch den Flur. Als er das Licht am Kopfende der Treppe einschaltete, erblickte er eine Spur von Blutstropfen, die hinab ins Erdgeschoss führte. O Mann, sieht ganz so aus, als müsste ich morgen Früh eine Teppichreinigungsmaschine anmieten. Ich bezweifle, dass es in der Ortschaft jemanden gibt, der Teppiche reinigt. Da Mike wusste, dass sich wahrscheinlich noch Glasscherben auf dem Boden befanden, betrat er die Bibliothek langsam und achtete darauf, wohin er trat. Obwohl er bereits wusste, dass die Lampe nicht funktionieren würde, versuchte er, sie einzuschalten. Es blieb dunkel. Mike betätigte den Schalter noch zwei Mal, dann fuhr er mit den Fingerspitzen die Lampe entlang unter deren Schirm zu der Stelle, an der sich die Glühbirne befinden sollte. Er achtete sorgsam darauf, nicht mit den Fingern in die leere Fassung zu geraten, um sich einen Stromschlag zu ersparen, und stellte fest, dass die Glühbirne tatsächlich fehlte. Megan hatte also Recht, was die Lampe angeht, jemand hat die Glühbirne entfernt. Aber warum? Und wer? Er überlegte, ob Tommy dahinterstecken könnte, aber ein solcher Streich hätte dem Achtjährigen nicht ähnlich gesehen. Und ganz bestimmt hätte er die Glühbirne nicht herausgeschraubt, um sie anschließend auf dem Boden zu
zerbrechen, zumal er wusste, dass ihm etwas Derartiges erheblichen Ärger eingehandelt hätte. Mike bezweifelte, dass Waschbären zu solchen Taten fähig wären, ganz abgesehen davon, dass es für Waschbären keinen Grund gäbe, so etwas zu tun. Dass sie Schubladen öffneten, um nach Lebensmitteln zu stöbern – ja, das ließe er sich einreden. Dass sie Mülleimer umkippten, um an die Köstlichkeiten darin heranzugelangen, schien ebenso plausibel. Aber nicht, dass sie einen dunklen Raum betraten und eine Glühbirne aus einer Lampe entfernten. Andererseits – vielleicht war es doch ein Waschbär gewesen. Er wusste über diese maskierten Räuber nur das, was er in Büchern und Magazinen gelesen und in Disney-Filmen gesehen hatte. Er verließ die Bibliothek und holte sich eine Taschenlampe aus dem Schrank in der Diele. Danach kehrte er in die Bibliothek zurück und ließ den Strahl der Lampe über den Boden wandern. Scherben der zerbrochenen Glühbirne schimmerten wie milchige Juwelen im Lichtschein. Kurz betrachtete Mike die Glassplitter, dann nahm er den Rest des Raumes in Augenschein. Er fand keinerlei Anzeichen, dass ein Waschbär in der Bibliothek gewesen sein könnte. Kein einziges Buch war aus einem der Regale gefallen. Einige Schachfiguren Waren umgefallen, doch dafür konnte auch seine Tochter verantwortlich zeichnen. Er durchquerte das Zimmer und überprüfte die Fenster, doch sie erwiesen sich alle als nach wie vor geschlossen. Mike wollte sich gerade von den Fenstern abwenden, als etwas seine Aufmerksamkeit erregte, das er aus dem Augenwinkel erspähte. Er drehte sich zurück und zielte mit dem Strahl der Taschenlampe auf das Regalfach über dem
Fenster. Das Licht erfasste die Kachina-Sammlung seiner Großmutter. Am Sonntagabend nach der Suche nach Pinky waren er und Holly auf Stühle gestiegen und hatten sämtliche Puppen so umgedreht, dass sie zur Mitte des Raumes schauten. Allerdings war ihre Arbeit vergebliche Liebesmüh gewesen, denn die Kachinas blickten nicht mehr in seine Richtung. Jede einzelne davon war zurück zur Wand gedreht worden. »Was um alles in der Welt soll das? Ist das eine Art Scherz? Jemandes Versuch, witzig zu sein?« Er drehte sich weiter und ließ den Lichtstrahl über die Regalfächer an den anderen Wänden wandern. Auch dort waren die Kachinas zurückgedreht worden. Mike verließ die Bibliothek und eilte den Flur hinab ins Wohnzimmer. Ein kurzer Blick verriet ihm, dass auch dort sämtliche Kachinas umgedreht worden waren. »Ich finde das überhaupt nicht witzig!«, stieß Mike hervor und spürte, wie ihm Wut in die Brust stieg. Für das, was er sah, konnte es nur eine Erklärung geben: Während er und Holly geschlafen hatten, musste Megan sich nach unten geschlichen und die Puppen umgedreht haben. Vielleicht wollte sie auf diese Weise gegen ihren Umzug von New York nach Missouri protestieren. Er wusste, dass sie nicht glücklich darüber war, auf dem Land zu leben und von all ihren Freunden in der Stadt weggerissen worden zu sein. Wahrscheinlich wollte sie sich so an ihm dafür rächen, dass er ihr Leben aus den Fugen gebracht hatte. »Sie zahlt es mir heim, indem sie versucht, mich um den Verstand zu bringen«, murmelte er bei sich und kehrte in die Bibliothek zurück. Vermutlich war seine Tochter auch für das Umdrehen der Kachinas in jener Nacht verantwortlich, in der Mike mit Holly bei der Tanzveranstaltung gewesen war, wenngleich er sich
nicht vorstellen konnte, wie es ihr gelungen sein mochte, ohne von der Babysitterin ertappt zu werden. Es sei denn, die Babysitterin steckte mit ihr unter einer Decke. Was durchaus möglich schien. Auch die Babysitterin war noch ein Teenager; vielleicht hatte sie die Gelegenheit genutzt, um der älteren Generation zusammen mit Megan einen Streich zu spielen. War Tommy ebenfalls daran beteiligt? Mike bezweifelte es, weil der Junge nicht besonders gut darin war, Geheimnisse für sich zu behalten. Er hätte sich längst verraten. Wenn nicht durch eine unbedachte Äußerung, dann durch ständiges Kichern, so oft Mike oder Holly in die Nähe der Kachinas gingen. Nein, Tommy gehörte zweifellos nicht zum Team der Verschwörer. Mike fragte sich immer noch, weshalb die Glühbirne aus der Lampe geschraubt worden war. Vielleicht war sie durchgebrannt gewesen. Megan könnte versucht haben, die Glühbirne auszuwechseln, sie dabei fallen gelassen haben und darauf getreten sein. Wahrscheinlich hatte sie sich so den Fuß aufgeschnitten. Und da sie gewusst hatte, dass ihr wegen des Streichs mit den Kachinas Ärger drohte, hatte sie sich die Geschichte ausgedacht, dass sie nach unten gegangen sei, um sich ein Glas Wasser zu holen, und dabei den geheimnisvollen Schatten gesehen hätte, der sie verfolgte. Raffiniert. Verdammt raffiniert. Meine Tochter besitzt den Einfallsreichtum einer zukünftigen Schriftstellerin. Allerdings befreit sie das nicht aus der Verantwortung dessen, was sie getan hat. Da Mike ohnehin schon geweckt worden war und sich unten befand, beschloss er, die Fenstern und Türen zu überprüfen, um sich davon zu überzeugen, dass sie nach wie vor geschlossen waren. Er begab sich von der Bibliothek aus in sein Arbeitszimmer, danach in Hollys Atelier. In keinem der beiden Räume schien
etwas angerührt worden zu sein, und die Fenster erwiesen sich als fest verschlossen. Der Riegel daran konnte nur von innen geöffnet werden. Selbst wenn es von außen möglich gewesen wäre – die Türkette war immer noch geschlossen, was bedeutete, dass niemand die Vordertür geöffnet hatte, seit er zu Bett gegangen war. Mike begab sich durch den Flur in die Küche. Auch die Hintertür erwies sich als geschlossen und abgesperrt, ebenso die Tür, die in den Keller führte, und das Fenster über dem Spülbecken. Damit zufrieden, dass alles in Ordnung war, wandte Mike sich zum Gehen. Als er sich umdrehte, wanderte der Strahl der Taschenlampe über den frisch verlegten Boden. Was er im gelblichen Schein erblickte, ließ ihn jäh verharren. »Was, zum Teufel…?« Die ovalen Flecken auf dem Boden waren wieder da und prangten auf den neuen Fliesen. Sechs an der Zahl, größer und dunkler als je zuvor. »Das ist unmöglich. Der Boden ist brandneu. Das kann nicht sein. Zuerst kehren die Risse zurück, und jetzt das.« Mikes Magen verkrampfte sich, als er näher an die Flecken trat. Diesmal bestanden keinerlei Zweifel: Sechs Gesichter waren in Grau- und Schwarztönen auf die Fliesen des Küchenbodens gemalt worden. Sechs schauerliche, grässliche Fratzen, die zu ihm emporstarrten wie die Seelen gefolterter Geister. Die Augen der Gesichter fühlten sich beunruhigend an, zumal sie alle offen standen und Mike mit Pupillen so dunkel wie verbranntes Holz zu beobachten schienen. Beinah erwartete er, sie würden blinzeln oder ihm zuzwinkern, doch das taten sie nicht. Sie starrten ihn nur an und stellten stumm seine Gegenwart in einer Küche in Frage, die zunehmend zu ihrem Hoheitsgebiet wurde.
Bei vier davon handelte es sich offenbar um die Gesichter von Menschen. Zumindest wiesen sie Merkmale auf, die männlich wirkten, denn wirklich menschlich sah keine der Fratzen aus. Etwas an ihrer Form – und der Art, wie sie gezeichnet waren – verlieh ihnen einen dämonischen Anschein. Sie erinnerten Mike an Wasserspeier und andere Schreckensgestalten, die man bisweilen in den Stein mittelalterlicher Kirchen gemeißelt sah. Die beiden anderen Flecken besaßen weibliche Züge, waren jedoch keine Frauengesichter. Es waren keine Atem beraubenden Schönheiten, die Mike von seinem Küchenboden entgegenblickten. Keine Bilder von Supermodels oder Filmstars. Wie den anderen vier haftete auch diesen beiden etwas Groteskes an. Wäre Dante darstellender Künstler statt Schriftsteller gewesen, hätte er vermutlich solche Bilder gemalt, um auszudrücken, was er bei seiner sagenumwobenen Reise in das Land der ewigen Verdammnis bezeugt hatte. »Das kann nur ein Witz sein«, sagte Mike und trat noch näher an die Flecken. »Das ist es – ein beschissener Witz. Jemand muss diese Dinger gemalt haben.« Er rieb mit der rechten Schuhspitze über das ihm nächste Gesicht, doch das verfluchte Ding ließ sich nicht verschmieren. Falls es tatsächlich gezeichnet oder gemalt worden war, hatte der Künstler ganze Arbeit geleistet. Zudem musste er ziemlich schnell gewesen sein, denn als Mike und Holly zu Bett gegangen waren, hatte noch keines der Gesichter auf dem Boden geprangt. Hatte Megan die Fratzen gemalt? Niemals. Zum einen zeichnete seine Tochter nicht so gut, zum anderen wäre es nahezu unmöglich gewesen, in der Zeit, seit er und Holly sich zurückgezogen hatten, die Gesichter zu malen und die Kachinapuppen umzudrehen.
Vielleicht war eine Schablone verwendet worden. Ein ausgeschnittener Karton, mit dessen Hilfe graue und schwarze Farbe auf den Fliesenboden aufgetragen worden waren. Mike kannte Farben, die ziemlich schnell trockneten. Mit einer Schablone und Sprühfarbe wäre es möglich gewesen, die sechs Fratzen in der kurzen Zeit zu erschaffen. Wenn er mit seiner Vermutung richtig lag, kam Megan als Übeltäterin nicht in Frage. Es gab im ganzen Haus keine Sprühfarben, und Megan hatte keine Gelegenheit gehabt, in einen Laden zu gehen und sich welche zu kaufen. Nein – seine halbwüchsige Tochter schied als Künstlerin hinter den schauerlichen Gesichtern aus. Wer also hatte sie gemalt – und warum? Und eine noch bessere Frage war: Wie war derjenige ins Haus gelangt? Sämtliche Fenster und Türen waren fest verschlossen. Was, wenn sie von niemandem gemalt wurden? Mike spann den Gedanken weiter. Wären die Gesichter nicht als Bestandteil eines aufwändigen Streichs gemalt worden, gäbe es keine logische Erklärung für sie. Somit bliebe nur eine übernatürliche Ursache. »Quatsch.« Obwohl Mike seinen Lebensunterhalt damit bestritt, Schauerromane zu schreiben, glaubte er nicht an das Übernatürliche. Nicht wirklich. Gespenster, Geister, Hexen, Kobolde, Werwölfe, Vampire und andere unheimliche Kreaturen der Nacht waren etwas, woran Hinterwäldler und solche Menschen glaubten, die an den Kassen der Supermärkte Boulevardzeitschriften lasen. Er verdiente lediglich sein Geld damit, dass er über solche Dinge schrieb. Dennoch war er nun mit etwas konfrontiert, dass sich nicht logisch erklären ließ, zumindest nicht für ihn. Es musste eine rationale Antwort geben, doch er wollte verflucht sein, wenn sie ihm eingefallen wäre.
Mike wandte sich von den Gesichtern ab, verließ die Küche und ging zurück nach oben. Megan war noch im Schlafzimmer und kauerte auf der Bettkante. Holly saß neben ihr und redete leise mit dem Mädchen. Als Mike das Zimmer betrat, unterbrachen sie ihre Unterhaltung und schauten zu ihm auf. »Hast du etwas gefunden?«, wollte Holly wissen. Mike schloss die Tür hinter sich und näherte sich dem Bett. »Jede Menge, aber weder einen Waschbären noch ein sonstiges pelziges Vieh.« Megans Augen weiteten sich ein wenig, und Mike fragte sich, ob sie fürchtete, was er vielleicht als Nächstes sagen könnte. »Den Schatten hast du nicht gesehen?« »Nein. Keine Schatten außer denen, die ich selbst geworfen habe.« Eine Weile musterte er seine Tochter, dann fügte er hinzu: »Megan, ich will die Wahrheit hören: Was hast du mitten in der Nacht unten gewollt?« »Das habe ich doch schon gesagt. Ich konnte nicht einschlafen, deshalb bin ich runtergegangen, um mir etwas zu trinken zu holen. Ich habe etwas gesehen, das mich durch den Flur verfolgt hat, und ich bekam es mit der Angst zu tun. Ich bin in die Bibliothek gerannt und habe mir den Fuß an einer Glasscherbe aufgeschnitten.« Mike hörte sich die Erklärung seiner Tochter zu Ende an, ehe er nachhakte: »Bist du sicher, dass du nicht deshalb in die Bibliothek gegangen bist, weil du uns einen Streich spielen wolltest? Vielleicht, weil du wegen des Wegzugs aus New York wütend bist? Weil dir dieses Haus und diese Stadt nicht gefallen und du uns dazu bringen möchtest, wieder zurückzugehen?« Megan schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist es nicht. Ich meine, es stört mich schon, dass wir von meinen Freundinnen wieggezogen sind, aber ich bin nicht nach unten gegangen, um
euch einen Streich zu spielen. Ich hatte Durst und wollte mir etwas zu trinken holen.« »Mike, was soll das alles?«, fragte Holly unverkennbar aufgebracht. Er wandte sich von Megan ab und seiner Frau zu. »Jemand hat die Glühbirne aus der Lampe in der Bibliothek geschraubt und zerbrochen, genau, wie Megan gesagt hat. Aber außerdem wurden die Kachinapuppen wieder umgedreht, jede einzelne davon.« »Das war ich nicht!«, protestierte Megan. Mike bedachte seine Tochter mit einem frostigen Blick. »Bist du da ganz sicher? Du bist also nicht nach unten geschlichen, um die Puppen umzudrehen, und hast dir dabei versehentlich den Fuß aufgeschnitten und dir anschließend diese Geschichte mit dem Schatten ausgedacht, um dir Ärger zu ersparen?« »Nein!« Holly ging dazwischen. »Megan, das ist nicht lustig. Wenn du das getan hast, dann solltest du es gestehen. Wenn du etwas Falsches getan hast und dann wenigstens die Wahrheit sagst, bekommst du weniger Ärger, als wenn du auch noch lügst.« »Ich lüge nicht«, gab Megan zurück. Mittlerweile bildeten sich in ihren Augenwinkeln Tränen. »Du hast die Puppen also nicht heute Nacht umgedreht?«, wiederholte Mike. »Nein.« »Und auch nicht in der Nacht, als die Babysitterin hier war?« Megan blickte verletzt drein. »In der Nacht bin ich nicht mal nach unten gegangen. Frag Tommy.« »Und die Gesichter hast du auch nicht gemalt?« »Welche Gesichter?«, fragte Holly. »Die Gesichter auf dem Küchenboden. Sie sind wieder da, alle sechs.« »Die Gesichter sind wieder da?«, wiederholte Holly bestürzt.
Mike nickte. »Jedes einzelne, dunkler als zuvor.« »Ich habe sie nicht gemalt«, meldete Megan sich zu Wort, die sich immer noch auf der Anklagebank wähnte. »Du weißt doch, wie mies ich zeichne.« Holly drehte sich ihrer Tochter zu und schlang ihr tröstend einen Arm um die Schultern. »Megan, Liebes, wenn du sagst, dass du die Puppen nicht umgedreht und die Gesichter nicht gemalt hast, dann glaube ich dir. Niemand ist wütend auf dich. Dein Vater und ich versuchen nur herauszufinden, wer das gemacht hat. Das ist alles.« Sie sah Mike an. »Nicht wahr, Schatz?« Mike wurde klar, dass er unwirsch zu seiner Tochter gewesen war, sie beinahe angebrüllt hatte. Er holte tief Luft und blies sie wieder aus. »Stimmt, Liebes. Tut mir Leid, wenn es sich so angehört hat, als wäre ich wütend auf dich. Das bin ich nicht. Ich wollte nur wissen, ob du etwas mit dem zu tun hast, was passiert ist. Mehr nicht. Wenn du sagst, dass du nach unten gegangen bist, um etwas zu trinken zu holen, dann ist das so.« »Ich war nur ein paar Minuten unten«, sagte Megan und schaute zu ihrem Vater auf. »Schon gut. Ich glaube dir.« Mike nickte. »Geh jetzt besser ins Bett und gönn deinem Fuß etwas Erholung. Vielleicht solltest du ihn mit einem Kissen hochlagern, während du schläfst. Damit er nicht wieder zu bluten anfängt und die Bettwäsche ruiniert.« Megan stand auf und verließ zögerlich das Zimmer. Mike wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, ehe er sich Holly zuwandte. »Zeig es mir«, forderte sie ihn auf und erhob sich. Mike führte Holly nach unten und steuert zuerst auf die Bibliothek zu. Er ließ den Strahl der Taschenlampe über die Ablagen mit der Kachinasammlung wandern. »Da. Siehst du?
Jede einzelne ist zur Wand gedreht. Im Wohnzimmer ist es dasselbe.« Als Nächstes gingen sie in die Küche. Das Licht war noch eingeschaltet, daher brauchten sie die Taschenlampe nicht. Mike sah das Entsetzen in den Augen seiner Frau, als sie die Gesichter auf dem Boden erblickte. »Oh, mein Gott«, stieß sie hervor und blieb an der Tür stehen. Langsam trat sie ein, ging um den Küchentisch herum und betrachtete die Fratzen zu ihren Füßen. Sie musste Mike Recht geben: Diesmal ließen sie sich nicht als bloße Flecken abtun. Sie waren nicht durch Schimmel, Fehler in den Fliesen, Chemikalien oder eine undichte Wasserleitung entstanden. Sie konnten nur von jemandem gemalt worden sein. Holly kniete sich neben eines der Bilder auf den Boden, fuhr mit den Fingern darüber und versuchte, es zu verwischen. »Hab ich auch schon probiert«, sagte Mike. »Sie verschmieren nicht.« »Fühlt sich nicht wie Farbe an«, stellte Holly fest. Sie beugte sich vor, brachte die Nase bis etwa zwei Zentimeter über den Boden und schnupperte. »Riecht auch nicht danach. Wenn es Farbe wäre, müsste man es riechen, wenn auch nur schwach.« »Vielleicht ist es Tinte«, schlug er vor. Holly befeuchtete die Fingerspitzen und rieb über das Gesicht. »Glaube ich nicht. Die Bilder sind noch nicht lange her, also müssten sie verschmieren, wenn es Tinte wäre. Außerdem sieht mir das nicht nach einer Tintenzeichnung aus. An sich würde ich auf Holzkohle tippen, nur würde die noch leichter verschmieren, was das hier aber nicht tut.« Sie schaute zu Mike auf. »Eins steht jedenfalls fest: Megan hat diese Dinger nicht gemalt. Dafür sind sie zu lebensecht und technisch zu ausgefeilt.« »Wenn nicht Megan, wer dann?«, fragte Mike.
Holly stand auf und sah sich nervös um. »Jemand anders. Jemand, der im Haus, hier in der Küche war, während wir oben geschlafen haben.« »Aber ich habe alle Türen und Fenstern überprüft. Sind immer noch alle verschlossen. Es ist unmöglich, dass heute Nacht jemand ins Haus gelangt ist.« »Trotzdem muss es jemandem gelungen sein«, entgegnete sie. »Vielleicht hast du ein Fenster übersehen.« Er schüttelte den Kopf. »Alle überprüft. Alle fest verschlossen.« Sie drehte sich um. »Was ist mit dem Keller? Vielleicht ist jemand durch eines der Fenster unten eingestiegen.« »Ich wüsste nicht wie«, gab Mike zurück. »Die einzige Tür zum Keller ist hier in der Küche, und auch die war abgesperrt, als ich sie überprüft habe.« »Vielleicht war sie das vorher nicht«, schlug Holly vor. »Vielleicht ist jemand hereingekommen, hat die Gesichter gemalt und die Kellertür erst auf dem Weg nach draußen abgesperrt.« »Das ist kein solches Schloss. Man kann es nicht erst absperren und dann die Tür schließen. Man muss vorher die Tür zumachen und danach absperren. Von der anderen Seite aus geht das nicht.« Mit vor Angst plötzlich geweiteten Augen drehte Holly sich ihm zu. »Vielleicht ist derjenige gar nicht weg. Er könnte noch hier im Haus sein. Womöglich hat Megan ihn gestört, und jetzt versteckt er sich irgendwo.« »Ich habe niemanden gesehen…«, setzte Mike an. »Aber du hast das Haus auch nicht richtig durchsucht, oder?«, hielt Holly dem entgegen. »Du hast nach etwas Kleinem Ausschau gehalten, einem Waschbären oder einem Opossum, nicht nach einem Menschen. Hast du in allen Schränken oder in den Badezimmern nachgesehen? Oder oben
in den Zimmern unter den Betten? Vielleicht gibt es in diesem Haus sogar ein Versteck, von dem wir gar nichts wissen.« »Du hast Recht«, räumet er ein, wobei ihn dieselbe Furcht wie Holly beschlich. »Ich gehe nach oben und durchsuche alles noch einmal. Du bleibst hier. Ruf beim Büro des Sheriffs an und sag, dass heute Nacht jemand in unser Haus eingedrungen ist. Und dass derjenige noch hier sein könnte, entweder im Haus oder irgendwo auf dem Grundstück.« Holly durchquerte die Küche und ergriff das Telefon, um die Nummer des Büros des Sheriffs zu wählen. Mike drehte sich um und nahm ein Steakmesser aus der Bestecklade, dann eilte er die Treppe hinauf, um die Zimmer der Kinder zu durchsuchen. Zwar glaubte er nicht wirklich, dass sich jemand im Haus versteckt hielt, aber es konnte nicht schaden, sich zu vergewissern. »Wir werden schon rausfinden, was hier vorgeht«, murmelte er bei sich, während er die Stufen erklomm. »Und ob wir es rausfinden werden.«
KAPITEL 18
Es war fast vier Uhr morgens, als die Scheinwerfer eines Fahrzeugs die großen Bäume am Ende der Auffahrt erhellten. Mike und Holly saßen im Wohnzimmer und schauten aus den Fenstern. Als sie die Lichter erblickten, stand Mike auf und ging zur Vordertür. Er hatte sie gerade geöffnet, als ein Streifenwagen vor das Haus fuhr und parkte. Da er einen der Hilfssheriffs des Countys erwartet hatte, war Mike ziemlich überrascht, als erneut Sheriff Douglas aus dem Wagen stieg. »Guten Morgen, Sheriff«, begrüßte Mike ihn und trat auf die Veranda. »Ich wusste gar nicht, dass sie die Nachtschicht haben.« Sheriff Douglas ergriff seinen Hut und ein Klemmbrett vom Beifahrersitz und schloss die Tür. »Für gewöhnlich mache ich das auch nicht«, erwiderte er, während er um den Wagen herumging, »aber die Frau eines meiner Hilfssheriffs bekommt gerade ein Kind, deshalb sind wir unterbesetzt. Ich habe mich bereit erklärt, ein paar Stunden früher anzufangen, damit er bei ihr im Krankenhaus sein kann.« Der Sheriff sah Holly an der Tür stehen und nickte ihr zu. »Morgen, Mrs. Anthony.« »Möchten Sie Kaffee, Sheriff? Ich setze gern eine frische Kanne auf.« Sie wich beiseite, damit Mike und der Sheriff das Haus betreten konnten. »Danke, aber ich hatte gerade eine Tasse in der Stadt. Wenn ich mehr trinke, werde ich zittrig.« Er wandte sich Mike zu. »Die Zentrale sagte, Sie hätten einen möglichen Einbrecher gemeldet.«
»Ja«, bestätigte Mike und nickte. »Zumindest denke ich, dass wir einen Eindringling hatten. Ich habe zwar niemanden gesehen, aber Grund zu der Annahme, dass heute Nacht ein Fremder im Haus war.« Mike und Holly führten den Sheriff durch die unteren Räume und erklärten ihm dabei, was sich am Abend zuvor ereignet hatte. Sie begannen in der Bibliothek, wo sie ihm die zerbrochene Glühbirne und die umgedrehten Kachinas zeigten. Dabei wiesen sie darauf hin, dass auch die Puppen im Wohnzimmer in die falsche Richtung wiesen. Während sie von Zimmer zu Zimmer gingen, überprüfte der Sheriff die Fenster und Türen und hielt nach Beweisen dafür Ausschau, dass jemand eingebrochen war. Mike erklärte, dass er bereits sämtliche Fenster und Türen überprüft hatte, doch der Sheriff untersuchte sie trotzdem selbst. Bei einigen Fenstern hielt er zudem inne und leuchtete mit seiner Taschenlampe nach draußen, um nach Fußspuren oder sonstigen Anzeichen auf die Anwesenheit eines Eindringlings zu suchen. Der Rundgang endete in der Küche, wo Holly und Mike ihm die Zeichnungen der Gesichter auf dem Fliesenboden zeigten. Douglas schob einen Küchenstuhl beiseite und kauerte sich hin, um eines der Gesichter näher zu begutachten. Wie zuvor Holly fuhr er mit den Fingerspitzen über die Zeichnung und roch daran, um zu prüfen, ob es sich um Farbe handelte. Anschließend stand er wieder auf und ging zur Tür hinüber, die in den Keller führte. »War diese Tür abgesperrt, als sie heruntergekommen sind?«, fragte er Mike. »Ja«, antwortete Mike. »Und Sie sind sicher, dass sie auch abgesperrt war, bevor Sie zu Bett gegangen sind?«
»Ich habe sie überprüft, bevor ich das Licht ausgeschaltet habe«, erwiderte Mike. Der Sheriff öffnete die Tür und ver- und entriegelte das Schloss ein paar Mal, dann versuchte er, den Knauf zu drehen. Er schloss die Tür und versuchte es erneut. »Auf der anderen Seite ist zwar keine Entriegelung, aber diese Tür könnte man mit einer Kreditkarte öffnen. War die Kette vorgelegt?« »Ich verwende immer das Schloss und die Kette«, antwortete Mike. Douglas legte die Kette vor, entriegelte das Schloss und öffnete die Tür, bis die Kette ansprach. »Es wäre zwar knapp, aber möglich, die Hand von der anderen Seite her durchzuzwängen und die Kette zu öffnen.« Er schloss die Tür wieder und entfernte die Kette. »Haben Sie unten nachgesehen, ob die Kellerfenster geschlossen sind?« Mike musste zugeben, dass er es nicht getan hatte. »Die Tür war abgesperrt und die Kette vorgelegt, deshalb habe ich keinen Grund dafür gesehen, den Keller zu überprüfen.« Douglas öffnete die Tür, ergriff seine Taschenlampe vom Gürtel und schaltete sie ein. »Ich sehe besser mal nach.« »Da ist der Schalter für das Kellerlicht«, sagte Holly und deutete darauf. Der Sheriff dankte ihr, dann setzte er sich die Treppe hinab in Bewegung. Kaum zwei Minuten später kehrte er in die Küche zurück. »Alle Fenster da unten sind immer noch von innen verriegelt, demnach kann niemand durch den Keller ins Haus gekommen sein – es sei denn, Sie haben dort unten eine Art Geheimtunnel.« Er schloss die Tür zum Keller und sperrte sie ab. »Es gibt keine Tunnel, von denen wir wüssten«, gab Mike zurück. Der Sheriff drehte sich ihm zu. »Diese Indianerpuppen da unten: In welche Richtung haben sie zuletzt gezeigt?«
»Nach außen. Sie hatten die Rücken an der Wand«, antwortete Mike. »Ich habe sie selbst so herumgedreht, als ich unlängst unten geputzt habe.« Jody Douglas lächelte. »Tja, so stehen sie jetzt nicht; sie weisen alle zur Wand.« Mike spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufrichteten. »Sie scherzen.« »Es ist mir so ernst wie ein Herzanfall«, entgegnete Douglas. »Wer immer die anderen Puppen umgedreht hat, muss dasselbe bei denen im Keller gemacht haben.« Der Sheriff legte die Türkette wieder vor und fragte: »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich noch einmal in der Bibliothek umsehe?« »Aber nein, nur zu«, erwiderte Holly. Der Sheriff betrat die Bibliothek und lief eine Weile im Raum umher. Offenbar dachte er über etwas nach. Dann ging er zu der Lampe mit der fehlenden Glühbirne. »Haben Sie die Fenster oben überprüft?« Mike nickte. »Die Fenster in den Kinderzimmern und im Bad sind verriegelt. Das in unserem Schlafzimmer steht offen, aber das Fliegenschutzgitter hat einen Riegel.« »Und Sie sagen, es wurde nichts gestohlen?«, fragte Douglas. Er bückte sich und hob eine Scherbe der zerbrochenen Glühbirne auf, um sie zu begutachten. »Es fehlt nichts, das uns aufgefallen wäre. Aber Sie wissen ja, wie das mit solchen Dingen ist: Man merkt nie, dass etwas fehlt, bis man danach sucht.« Mike runzelte die Stirn. »Äh… Sollten Sie nicht Handschuhe tragen? Ich meine, vielleicht könnte man davon Fingerabdrücke abnehmen.« Der Sheriff ließ die Glasscherbe fallen und richtete sich wieder auf. »Sie sehen zu viel fern, Mr. Anthony. Es wäre ziemlich schwierig, von einem so kleinen Teil Fingerabdrücke abzunehmen. Außerdem gibt es ohnehin keinen Grund dafür.«
»Was soll das heißen?«, fragte Holly. »Das soll heißen, dass hier, soweit ich das feststellen kann, kein Verbrechen verübt wurde.« »Sie nennen Einbruch kein Verbrechen?« Er rieb sich das Kinn und nickte. »Natürlich ist Einbruch ein Verbrechen. Aber bislang habe ich keine Beweise dafür gesehen, dass hier jemand eingebrochen ist. Sie haben selbst gesagt, dass die Türen und Fenster alle verriegelt waren, bevor Sie zu Bett gegangen sind, ebenso danach, als sie heruntergekommen sind.« »Ja, aber trotzdem muss jemand eingebrochen sein«, entgegnete Mike. »Wie sonst ließe sich die zerbrochene Glühbirne erklären? Außerdem hat meine Tochter im Flur etwas gesehen, das sich bewegt hat.« »Etwas? Sie sagten, Ihre Tochter hätte einen Schatten gesehen.« Douglas blickte um sich. »In einem großen, alten Haus wie diesem gibt es spätnachts wahrscheinlich jede Menge Schatten. Ich wette, wenn der Wind weht, ächzt und knarrt es ganz gewaltig. Ich kann mir gut vorstellen, das es ziemlich gespenstisch für ein Kind sein muss, erst recht für ein Kind, das mit seiner Umgebung noch nicht vertraut ist. Ich schlage vor, Sie lassen nachts das Licht im Gang brennen; damit sollten Sie Furcht erregende Schatten vertreiben.« Mike wollte sich nicht mit der Erklärung des Sheriffs abfinden. »Was ist mit den Kachinapuppen? Es war mit Sicherheit kein Schatten, der sie umgedreht hat.« Der Sheriff betrachtete einen Augenblick das Ablagefach, dann wandte er die Aufmerksamkeit wieder Mike zu. »Sind Sie sicher, dass die Puppen in die andere Richtung geschaut haben, als Sie zu Bett gegangen sind?« Mike nickte. »Ganz sicher. Ich weiß noch, dass ich sie mir angesehen habe, bevor ich nach oben gegangen bin.«
»Hmm… Aber als Ihre Tochter Sie geweckt hat, da waren sie in die andere Richtung gedreht?« Holly gefiel Douglas’ Tonfall Sheriffs ganz und gar nicht. »Worauf wollen Sie hinaus, Sheriff?« »Ach, auf gar nichts, Ma’am. Mir scheint nur komisch, dass die Puppen umgedreht waren, nachdem Ihre Tochter in der Bibliothek war.« »Sie wollen doch nicht etwa andeuten, dass Megan etwas damit zu tun hat, oder?« »Der Gedanke ist mir schon gekommen. Vielleicht wollte sie Ihnen einen Streich spielen. Sie wissen ja, wie die Jugend von heute ist. Vermutlich wollte sie mal auf Ihre Kosten lachen, aber dann hat sie sich den Fuß aufgeschnitten und bekam Angst. Die Geschichte, dass ihr etwas durch den Flur gefolgt ist, dürfte sie sich ausgedacht haben, um sich Ärger zu ersparen.« »So etwas würde Megan nicht tun«, nahm Holly ihre Tochter in Schutz. Der Sheriff zuckte mit den Schultern. »Möglich. Aber sicher kann man bei Teenagern nie sein.« »Was ist mit den Gesichtern auf dem Küchenboden?«, gab Holly zu bedenken. »Hat sie die Ihrer Meinung nach auch gemacht?« »Nein, Ma’am. Es sei denn, der Künstlerbedarf, den ich im Zimmer auf der anderen Seite des Gangs gesehen habe, gehört ihr.« »Der Künstlerbedarf gehört mir, aber…« Plötzlich lief Holly vor Wut rot an. »Wollen Sie andeuten, ich hätte die Gesichter gemalt?« »Das ist das Lächerlichste, was ich je gehört habe«, fügte Mike hinzu, der ebenfalls immer wütender wurde.
»Meinen Sie?«, entgegnete der Sheriff unschuldig. »Vielleicht ist das so, aber Sie müssen die Dinge mal aus meiner Sicht betrachten.« »Und die wäre?«, wollte Mike wissen und verschränkte die Arme vor der Brust. Douglas lächelte. Offenbar belustigte ihn Mikes augenscheinliche Verärgerung. »Tja, eigentlich wollte ich das ja nicht aussprechen, aber da Sie ein berühmter Schriftsteller sind, woher soll ich wissen, dass Sie sich das alles nicht ausdenken?« »Ausdenken?« Mike war fassungslos. Der Sheriff nickte. »Ihre Großmutter hat ständig behauptet, in diesem Haus Dinge zu sehen, die es nicht gab. Sie hat regelmäßig im Büro des Sheriffs angerufen, mindestens drei bis vier Mal die Woche. Woher soll ich wissen, dass es bei Ihnen nicht dasselbe ist? Vielleicht liegt es ja in der Familie.« »Ich denke mir das nicht aus.« »Das behaupten Sie.« Douglas nickte nachdenklich. »Ich habe gehört, Ihr letztes Buch hat sich nicht so gut verkauft wie erwartet.« Mike fühlte sich vollends verwirrt. »Worauf wollen Sie damit hinaus?« »Vielleicht wollen Sie mit dieser Geschichte nur kostenlos die Werbetrommel für Ihren nächsten Roman rühren. Ein, zwei Artikel über einen Horrorschriftsteller, der von einem unbekannten Verfolger heimgesucht wird, wäre hervorragende Publicity.« Mike konnte kaum glauben, was er da hörte. »Ist das Ihr Ernst?« Jody Douglas zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Ich gebe nur wieder, was einige Ihrer Handwerker sagen.« »Handwerker?«, mischte Holly sich zurück ins Gespräch. »Welche Handwerker?«
Der Sheriff wandte sich ihr zu. »Die Handwerker, die Sie damit beauftragt haben, einen tadellosen Boden herauszureißen, weil jemand ein paar schaurige Gesichter darauf gemalt hat.« »Wir haben diese Gesichter nicht darauf gemalt!«, explodierte Holly, der endgültig die Geduld riss. »Wie können Sie es wagen, so etwas zu behaupten!« Douglas zuckte nur wieder mit den Schultern. »Die Handwerker sind überzeugt davon, vor allem, weil es dieselben Gesichter sind, die früher die alte Frau gemalt hat.« Mikes Herz setzte einen Schlag aus. »Halt mal. Soll das heißen, meine Großmutter hat Gesichter auf den Boden gemalt?« »Auf den Boden, auf die Wände, sogar an die Decke. Überallhin, und danach hat sie behauptet, es wären die Fratzen von dämonischen Geistern, die von der anderen Seite her durchzubrechen versuchen. Sie hat meinen Vorgänger regelrecht in den Wahnsinn getrieben, deshalb hat er aus eigener Tasche einen Maler bezahlt, um das Untergeschoss dunkelgrün anstreichen zu lassen. Wenn die alte Frau diese Gesichter nicht sehen konnte, dann konnte sie ihn deswegen auch nicht belästigen.« Er starrte Mike eindringlich an. »Nach dem Ausmalen der Wände und der Böden war Schluss mit dem Unfug. Zumindest bis jetzt.« Holly wollte etwas erwidern, doch Mike kam ihr zuvor. »Sheriff, ich versichere Ihnen, wir haben diese Gesichter nicht gemalt – wenn sie überhaupt gemalt wurden. Ich kann Ihnen außerdem versichern, dass wir Sie nicht mehr rufen werden. Holly und ich werden der Sache selbst auf den Grund gehen. Und das werden wir.«
»Machen Sie das mal. Ich habe keine Lust, ständig umsonst hier rauszufahren.« Damit wünschte Jody Douglas ihnen noch einen schönen Tag und ging. Holly und Mike blieben allein im Flur zurück.
KAPITEL 19
Obwohl Mike sich nach dem Besuch des Sheriffs noch einmal ins Bett legte, konnte er nicht mehr einschlafen. Die Äußerungen des Sheriffs hatten ihn aufgeregt. Und zum Nachdenken gebracht. Er lag im Bett, starrte an die Decke und fragte sich, wer jene Fratzen gemalt haben mochte, die seine Großmutter so verängstigt hatten. Und weshalb. Während er dalag, gingen ihm alle möglichen Antworten durch den Kopf, manche so abstrus wie einige der Jugendkrimis, die er als Teenager gelesen hatte. Steckten Verbrecher hinter den Gesichtern? Versuchte ein internationaler Ring von Diamentendieben, vormals seine Großmutter und nun seine Familie einzuschüchtern, um sie aus dem Haus zu treiben, damit sie wertvolle, unter den Fliesen im Keller versteckte Juwelen bergen konnten? Oder war auf dem Grundstück Gold gefunden worden? Stand das Haus auf einer vergessenen Mine? Vielleicht waren die Männer, die den Brunnen ausgehoben hatten, auf Öl gestoßen und hatten es für sich behalten. Mike lächelte. Diamanten. Gold. Öl. Nun bräuchte er nur noch eine bunt zusammengewürfelte Piratenbande, und er hätte das perfekte Rohmaterial für einen Jugendabenteuerroman. Während ihm diese Gedanken durch den Verstand geisterten, glitt er letztlich doch in den Schlaf und erwachte eine Stunde später, als der Wecker klingelte. Megans Fuß war an jenem Morgen noch wund, weshalb Mike und Holly beschlossen, sie von der Schule zu Hause zu lassen. Bei Tommy hingegen gab es dafür keinen Grund. Ungeachtet seiner Proteste, dass er ungerecht behandelt würde,
sorgten Mike und Holly dafür, dass er sich anzog, frühstückte und rechtzeitig am Ende der Auffahrt stand, bevor der gelbe Schulbus auftauchte. Nachdem Tommy auf den Weg zur Schule geschickt war, setzten Mike und Holly sich zum Frühstück. Allerdings fiel es wegen der Fratzen auf dem Boden beiden schwer, das Frühstück zu genießen. Obwohl es albern war, konnte Mike das Gefühl nicht abschütteln, beobachtet und belauscht zu werden. Er hatte Mühe, den Drang zu unterdrücken, auf das ihm am nächsten befindliche Gesicht zu stampfen. Kurz stellte er sich vor, es tatsächlich zu tun und statt der Fliesen Fleisch und Knorpel unter dem Absatz zu spüren, brechende Knochen und Blut, das schillernd rot über den Boden quoll. Das gedankliche Bild trug wenig dazu bei, den Geschmack des Essens zu verbessern. Vielmehr brachte er den mit Sirup beschmierten Toast kaum noch hinunter. Allerdings hätten sie sich auch im Wohnzimmer nicht behaglicher gefühlt, denn dort lauerten auf den Ablagen die den Wänden zugedrehten Kachinas. Sie standen für ein weiteres Rätsel, über das es zu grübeln galt, waren ein weiteres Anzeichen dafür, dass in der vergangenen Nacht jemand im Haus gewesen war, während sie geschlafen hatten. Wer immer es gewesen sein mochte, er hatte sorgfältig gearbeitet. Jede einzelne Puppe war perfekt um 180 Grad herumgedreht worden, keine nur halb. Ebenso wenig war eine Puppe umgestoßen oder verschoben worden. Sie standen exakt wie am Tag zuvor, nur wiesen sie in die entgegengesetzte Richtung. Mike und Holly versuchten krampfhaft, nicht auf den Küchenboden zu schauen, beendeten das Frühstück und wuschen das Geschirr ab. Mike wollte unbedingt etwas recherchieren, das Sheriff Douglas über Vivian Martin gesagt
hatte, und beschloss, zur öffentlichen Bibliothek in Braddock zu fahren. Er lud Holly ein, ihn zu begleiten, doch sie zog es vor, zu Hause zu bleiben, falls Megan etwas brauchte. Die Fahrt in die Stadt empfand Mike als angenehm. Es war ein wunderschöner Tag – der Himmel präsentierte sich so blau, dass es beinah in den Augen schmerzte. Während Mike die Landstraße 315 entlangfuhr, versuchte er, sich vorzustellen, wie die Gegend ausgesehen haben könnte, bevor sie von Weißen besiedelt wurde. Einst hatten die Osage-Indianer diesen Ort ihre Heimat genannt. Sie hatten in Einklang mit dem Land gelebt und sich nur das genommen, was sie brauchten. Nach allem, was Mike gelesen hatte, waren die Osage ein recht stattliches Volk gewesen, dessen Männer im Schnitt fast einen Meter neunzig groß wurden. Lange vor dem Weißen Mann hatten sie in diesem Land gejagt und Mokassinpfade hinterlassen, wo heute Fernstraßen den Staat Missouri überzogen. Wo sich ihre Dörfer befunden hatten, lagen nun Städte und Ortschaften, Gemeinden voller Menschen. Die Osage waren längst verschwunden, von den besitzergreifenden weißen Siedlern aus ihrer Heimat vertrieben. Nur die Namen, die sie dem Land gegeben hatten, erinnerten noch an sie; nur vereinzelte Pfeil- oder Speerspitzen, die man am Ufer von Bächen oder Flüssen fand, zeugten noch von ihrer einst stolzen Nation. Man schnitt Bäume um und benannte anschließend eine Straße nach ihnen. Man metzelte Indianer nieder und verwendete ihre Namen anschließend für Orte, Städte, Staaten. Man brachte ihre Bilder auf Geld, Tabak und Automobilen an, um Profit aus für immer verlorenen Dingen zu schlagen. So liefen die Dinge in Amerika. Während Mike die 315 entlangfuhr, dachte er über seine unmittelbaren Nachbarn nach. Konnte einer von ihnen für das
verantwortlich sein, was in seinem Haus geschehen war? Oder erging es einem von ihnen genauso wie ihm? Als er an einer Farm zu seiner Rechten vorbeikam, erblickte er einen alten Mann, der mit einem Traktor ein Feld in Straßennähe pflügte. Aus einer Eingebung heraus verlangsamte Mike den Wagen und bog auf die Schotterfahrbahn, die parallel zum Feld verlief. Er stellte den Van ab, stieg aus und beobachtete, wie der Traktor sich ihm langsam näherte. Zuerst dachte er, der alte Mann würde an ihm vorbeifahren, doch dann blieb der Traktor keine drei Meter von ihm entfernt stehen. Der Bauer stellte den Motor ab und drehte sich auf dem Sitz nach, um Mike anzusehen. »Guten Morgen«, begrüßte ihn Mike. »Ich bin Mike Anthony, ihr neuer Nachbar. Ich wohne im alten Martin-Haus an der Sawmill Road.« Der Bauer nickte. »Sie sind dieser Schreiber, über den was in der Zeitung stand, oder?« Mike lächelte. »Ja, aber glauben Sie bloß nicht alles, was über mich verbreitet wird. Die Zeitungen neigen zu Übertreibungen.« Der Bauer stieg vom Traktor ab und ging zum Stacheldrahtzaun, der das Feld umgab. »Ich hab’s mir zur Gewohnheit gemacht, nicht allzu wörtlich zu nehmen, was sie in den Zeitungen drucken, vor allem, wenn es um Politiker, Prominente oder Steuersenkungen geht.« Er streckte über den Zaun hinweg die Hand aus. »Ich bin Otto Strumberg.« Mike schüttelte die Hand des Mannes. »Strumberg? Hört sich nach einem deutschen Namen an.« »Ist es auch«, bestätigte Otto. »Mein Urgroßvater stammte aus Deutschland. Er war einer der ersten Bauern, die sich in dieser Gegend niedergelassen haben. Einer von vielen anscheinend. Ursprünglich war das gesamte Gebiet von
Deutschen besiedelt. Einige der alten Leute beherrschen sogar noch die Sprache. Ich selbst kann kein Wort, aber mein Vater konnte reden wie ein Muttersprachler. Mit gutem deutschen Bier konnte er auch die meisten anderen Männer unter den Tisch trinken. Früher gab es nicht allzu weit von hier eine Brauerei, aber sie hat vor langer Zeit dichtgemacht. Mein Vater hat dort mal gearbeitet, nachdem er seinen Job im Sägewerk verloren hatte.« »Das Sägewerk war hier ganz in der Nähe, oder?«, fragte Mike. Otto nickte. »Es stand früher auf dem Grundstück, das jetzt Ihnen gehört, unweit von der Stelle, wo Ihr Haus ist.« »Was ist daraus geworden? Warum wurde es geschlossen?« »Wurde es nicht«, berichtigte ihn Otto. »Es ist niedergebrannt.« »Tatsächlich?«, sagte Mike. »Und was war die Ursache für den Brand?« Otto kratzte sich am Kinn. »Ich schätze, das kommt drauf an, mit wem Sie reden. Manche meinen, das Feuer wäre durch einen Funken ausgelöst worden, der in einem Haufen Sägespäne gelandet ist. Andere behaupten, es war Brandstiftung.« »Was hat Ihr Vater dazu gemeint?« Otto zuckte mit den Schultern. »Er wollte nicht über den Brand reden und hat sich standhaft geweigert, danach je wieder einen Fuß auf das Gelände zu setzen. Ich denke, dass er so nah dran vorbeigeschrammt ist, zu verbrennen, hat ihm einen Schreck fürs Leben verpasst. Den anderen Arbeitern wohl auch, weil keiner, den ich kannte, je über das Sägewerk oder darüber reden wollte, was in der Nacht des Feuers passiert ist. Und selbst für Geld wären sie nicht zurück auf dieses Grundstück gegangen. Selbst heute nicht.«
»Aber das Sägewerk gibt es doch schon lange nicht mehr«, meinte Mike. Otto nickte. »Mir ist das schon klar. Aber die Menschen auf dem Land neigen dazu, schlimme Dinge oder die Orte, an denen sie geschehen sind, nicht so schnell zu vergessen.« Der alte Bauer griff in die Brusttasche seines Overalls und holte ein Päckchen filterloser Chesterfield-Zigaretten hervor. Er bot eine davon Mike an, der sie nur der Höflichkeit halber annahm. »Also, was kann ich an diesem wunderschönen Morgen für Sie tun?«, fragte Otto, als er sich die Zigarette anzündete. »Ist das ein reiner Freundschaftsbesuch oder haben Sie auch ein Anliegen?« »Ein bisschen von beidem«, erwiderte Mike und zündete sich die ihm geschenkte Chesterfield an. Er war filterlose Zigaretten nicht gewohnt und musste sich zusammenreißen, um nicht zu husten. »Ach ja?«, sagte Otto. »Ich habe Sie pflügen gesehen, da dachte ich mir, ich halte mal an und sage hallo«, erwiderte Mike. »Aber ich bin außerdem auf der Suche nach Auskünften.« »Davon habe ich reichlich, und obendrein kostenlos«, gab Otto zurück. »Obwohl meine Frau findet, dass ich den Leuten etwas dafür berechnen sollte. Sie sagt, ich rede zu viel, und wenn ich etwas dafür verlange, würde mich niemand bezahlen, sodass ich zur Abwechslung mal die Klappe halten würde.« Mike lachte. »Meine Frau denkt manchmal ähnlich über mich.« »Also, nach was für Auskünften suchen Sie denn?« »Im Grunde genommen möchte ich etwas über die Nachbarschaft erfahren. Ich hatte unlängst etwas Ärger. Ich glaube, dass jemand mehrmals in mein Haus eingedrungen ist,
vermutlich, um mir einen Streich zu spielen. Kommen Einbrüche hier in der Gegend öfter vor?« »Einbrüche?« Otto rieb sich über den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste, zumindest nicht in den letzten paar Jahren. Solche Dinge wären in der Zeitung gestanden, wenn sie gemeldet worden wären. Hier in der Gegend passiert nicht viel, deshalb landet so gut wie alles in der Zeitung.« »Sie selbst hatten nie irgendwelchen Ärger?«, fragte Mike. »Eigentlich nicht. Hin und wieder klaut jemand ein, zwei Wassermelonen oder ein paar Maiskolben von den Feldern, aber das sind zumeist Teenager, die Flausen im Kopf haben. Im Grunde genommen, sind sie harmlos. Die machen das bloß, um ihre Mädchen oder andere Jungs zu beeindrucken. Wirklichen Schaden richten sie nicht an, deshalb mache ich mir auch nichts draus, Teufel auch, als ich ein Jungspund war, habe ich selbst den einen oder anderen Maiskolben stibitzt. Allerdings habe ich mir immer nur Futtermais genommen, das Zeug, das normalerweise an das Vieh verfüttert wurde, nie Zuckermais. Es schien mir immer falsch, jemandem seinen Zuckermais zu stehlen, selbst wenn es nur ein, zwei Kolben gewesen wären.« »Aber es hat nie jemand versucht, in Ihr Haus einzubrechen?«, fragte Mike. Otto schüttelte den Kopf. »Nein. Nie. Bis vor ein paar Jahren habe ich mir nicht mal die Mühe gemacht, die Tür abzuschließen. Aber bei all dem, was ich in den Nachrichten gesehen habe, dachte ich mir irgendwann, es wäre an der Zeit, damit anzufangen, das Haus zu verriegeln, wenn ich schlafen ging oder nicht da war. Trotzdem sind die meisten immer noch schlau genug, nicht zu versuchen, in das Haus eines Bauern einzubrechen.« »Wieso das?«
Otto lächelte. »Weil in dieser Gegend alle Bauern Schießprügel haben. Deshalb. Und sie würden nicht zögern, jemanden abzuknallen, der in ihr Haus einbricht. Die Verbrecher wissen das und halten sich darum überwiegend an die Städte. Ich selbst bin keine Ausnahme. Ich habe ein .30-.30 Repetiergewehr und ein paar Schrotflinten, die ich im Wohnzimmer gleich neben meinem Sessel aufbewahre. Falls bei Ihnen jemand eingebrochen ist, sollten Sie vielleicht darüber nachdenken, sich auch eine Kanone anzuschaffen. Und wenn Sie es tun, dann legen Sie das Ding nicht bloß in eine Schublade oder in einen Schrank und vergessen es. Holen Sie es heraus und schießen Sie damit. Stellen Sie ein paar Blechbüchsen auf und machen Sie Zielübungen. Schussgeräusche hört man meilenweit. Jeder in der Gegend wird wissen, dass Sie eine Feuerwaffe haben. Das könnte unerwünschte Besucher entmutigen, es bei Ihnen zu probieren.« Mike dachte kurz darüber nach, dann nickte er. »Ist vielleicht keine schlechte Idee.« Otto grinste. »Womöglich hat meine Frau Recht. Vielleicht sollte ich für meine Ratschläge tatsächlich was verlangen. Natürlich sind die ersten kostenlos, schließlich sind wir ja Nachbarn.« »Ich bin Ihnen wirklich dankbar für den Tipp«, erwiderte Mike. »Ich mache mir allmählich wirklich Sorgen, vor allem nach dem, was unserer Katze zugestoßen ist.« »Ihrer Katze ist was zugestoßen?«, hakte Otto nach. Mike nickte. »Ich habe den Kater unlängst tot im Keller gefunden. Seine Kehle war aufgerissen, und die Augen waren ausgestochen. Der Sheriff sagt, dass er wahrscheinlich an Altersschwäche gestorben sei und sich nach seinem Tod etwas an ihm zu schaffen gemacht hätte, aber das kann ich einfach nicht glauben. Meine Katze war vollkommen gesund. Ich weiß
immer noch nicht, wie ich es den Kindern beibringen soll. Es wird ihnen das Herz brechen.« Während Mike erzählte, was Pinky widerfahren war, verblasste das Grinsen des Bauern. Er sah sich um, als könnte er es plötzlich kaum erwarten, sich zurück an die Arbeit zu begeben. Dann drückte er die Zigarette aus, schüttelte Mike erneut die Hand und gab ihm einen letzten Ratschlag mit auf den Weg, bevor er wieder auf den Traktor kletterte: »Sich eine Kanone anzuschaffen, könnte immer noch eine gute Idee sein, aber Sie sollten auch darüber nachdenken, von nun an die Lichter brennen zu lassen, wenn Sie schlafen gehen. Und an Ihrer Stelle würde ich ernsthaft in Erwägung ziehen, das alte Haus zu verkaufen und woandershin zu ziehen.« Damit erklomm Otto den Traktor und setzte das Pflügen des Feldes fort. Mike sah ihm noch kurz nach, dann stieg er in den Wagen und fuhr weiter Richtung Stadt.
Die Bibliothek hatte gerade erst geöffnet, als Mike auf den Parkplatz rollte. Er stellte den Motor ab und griff hinter den Fahrersitz, um die Aktentasche hervorzuholen, die er immer dabeihatte. Schon früh in seiner Laufbahn als Schriftsteller hatte er gelernt, immer Papier und Stift bei sich zu haben, um Gedanken festzuhalten, wenn sie ihm kamen. Auch auf dem Nachttisch neben dem Bett lag stets ein Notizblock, denn einige der besten Szenen seiner Romane entstammten Träumen und Albträumen. Neben Papier und Stiften enthielt die Aktentasche immer ein Exemplar seines neuesten Buchs. Sollte er je von der Polizei angehalten und irrtümlicherweise für einen gefährlichen Kriminellen gehalten werden, dachte er, sie mit dem Roman davon überzeugen zu können, dass er keine Bedrohung für die
Gesellschaft verkörperte. Bisher hatte er noch keinen Anlass gehabt, seine Theorie auf die Probe zu stellen. Mike stieg mit der Aktentasche aus, schloss den Wagen ab und betrat die Bibliothek. Um diese frühe Stunde war er der einzige Besucher, was ihm nur recht war. Connie Widman stand hinter dem Verleihschalter und schlichtete Bücher auf einen Bibliothekshandwagen. Sie hielt inne und schaute in seine Richtung, als er eintrat. »Schon wieder hier?« Sie lächelte. »Ich hatte Sie frühestens nächste Woche erwartet.« Mike erwiderte das Lächeln. »Ich muss etwas für den Roman recherchieren, an dem ich gerade schreibe. Ein wenig in der Geschichte der Stadt herumwühlen, ein paar örtliche Legenden und Skandale ausgraben, Leichen im Keller, all so was.« Da er keine Lust hatte zu erklären, was in seinem Haus vor sich ging, wollte er Connie nicht genauer sagen, wonach er suchte. »Archivieren Sie hier alte Ausgaben der hiesigen Zeitung?« Connie nickte. »Die des letzten Jahres haben wir in gedruckter Form, der Rest ist auf Mikrofilm einsehbar.« »Was denn? Gar nichts im Computer?«, hänselte er sie. »Eine so kleine Bibliothek kann von Glück reden, überhaupt ein Mikrofilmsystem zu haben, von einem Computer gar nicht zu reden«, gab Connie mit einem gespielten Stirnrunzeln zurück. »War bloß Spaß«, lachte Mike. »Mikrofilm ist wunderbar. Wie weit gehen die Ausgaben zurück?« »Die Stadtzeitung wurde vor etwa hundertvierzig Jahren gegründet. Natürlich hat sie seither ein paar Mal den Besitzer und den Namen gewechselt. Wir haben fast alle Ausgaben auf Mikrofilm, außer jenen der ersten beiden Jahre. Vor rund zwanzig Jahren gab es ein Feuer, bei dem diese Ausgaben verbrannt sind, bevor sie auf Film archiviert werden konnten.«
»Schade«, meinte Mike kopfschüttelnd. »Aber das liegt wohl ohnehin viel weiter zurück, als ich recherchieren will.« »Also, der Mikrofilmbetrachter steht im Nachschlagebereich. Daneben ist ein Tisch. Nehmen Sie schon mal Platz, und ich bringen Ihnen die Filme, die Sie brauchen. Mit welchem Jahr wollen Sie anfangen?« »Irgendwann in den Sechzigern, würde ich sagen. Neunzehnachtundsechzig oder -neunundsechzig. Vielen Dank.« Mike ging in den Nachschlagebereich und legte die Aktentasche auf den Tisch neben dem Mikrofilmbetrachter. Wenige Minuten später kam Connie mit einem Holztablett zurück. Darauf befanden sich winzige blaue Kassetten, die einen Bruchteil der Geschichte der Stadtzeitung auf Mikrofilmspulen enthielten. »Ich gehe davon aus, dass Sie wissen, wie man mit diesem Ding umgeht, oder?«, fragte sie. Mike nickte. »Ich denke, ich komme schon zurecht.« »Na gut, dann lasse ich Sie mal allein«, erwiderte sie. »Falls Sie etwas brauchen, ich bin vorne.« Damit stellte sie das Tablett ab und verließ Mike. Er schaltete den Betrachter ein, begann mit der Suche etwa dreißig Jahre in der Vergangenheit und arbeitete sich nach vorne. Er brauchte nicht lange, um auf etwas zu stoßen. Im Jahr 1968 enthielt die Zeitung drei verschiedene Berichte darüber, dass jemand aus dem Büro des Sheriffs aufgrund der Meldung einer möglichen verdächtigen Person zum Haus von Vivian Martin gerufen worden war. Doch trotz gründlicher Durchsuchungen des Geländers seitens der Hilfssheriffs war nie eine verdächtige Person gefunden worden. In den Jahren 1969 und 1970 gab es keine Artikel bezüglich der Martin-Farm, aber 1971 entdeckte Mike im Abschnitt mit den Polizeiberichten des Blattes gleich elf Anlässe, bei denen jemand aus dem Büro des Sheriffs zur Martin-Farm gerufen
worden war. Jedes Mal ging es dabei um die Meldung einer möglichen verdächtigen Person. Mike machte sich ein paar Notizen, dann lehnte er sich zurück, um über das nachzudenken, was er soeben gelesen hatte. Er wusste nicht mehr viel über seine Großmutter, sehr wohl aber noch, dass sie paranoid gewesen war. In dem Jahr, das er bei ihr gelebt hatte, hatte sie Angst davor gehabt, die Vorhänge offen zu lassen, weil sie stets gefürchtet hatte, es könne jemand ins Haus schauen. Die Fenster und Türen waren selbst an den heißesten Sommertagen fest verschlossen geblieben, und statt wie normale Menschen zu schlafen, hatte sie die meisten Nächte damit verbracht, von einem Zimmer zum anderen zu wandern. Sie hatte immer nur tagsüber geschlafen, und selbst dann jeweils nur kurz. Mike war erst fünf Jahre alt gewesen, als er zu seiner Großmutter kam, viel zu jung, um zu verstehen, was im Verstand von Vivian Martin vor sich ging. Trotzdem hatte er gespürt, dass die alte Frau vor irgendetwas schreckliche Angst hatte. In der kurzen Zeit, die er bei ihr gewohnt hatte, war er von ihr angesteckt worden: Auch er hatte angefangen, sich vor der Dunkelheit zu fürchten. Es war eine Phobie, die zu überwinden Mike Jahre gebraucht hatte. Während er weiter die alten Ausgaben der Stadtzeitung durchging, stieß er auf weitere Polizeiberichte im Zusammenhang mit seiner Großmutter. Auf siebenundzwanzig insgesamt. Immer drehte es sich um Meldungen einer verdächtigen Person, und nie war jemand auf dem Grundstück gefasst oder gesehen worden. Ebenso wenig wurde je etwas gestohlen, und es gab in keinem Fall Hinweise auf einen Einbruch. Obwohl es nie deutlich geschrieben wurde, enthielten einige der letzten Berichte, die etwa zehn Jahre zurückdatieren, Andeutungen darauf, dass Vivian Martin an Geisteskrankheit
leiden könnte. Danach gab es keine Polizeiberichte mehr. Entweder hatte sich das Büro des Sheriffs geweigert, auf ihre Anrufe zu reagieren, oder die Zeitung hatte keine Lust mehr gehabt, etwas darüber zu drucken. Wonach Mike ebenfalls suchte, was er jedoch nicht fand, war eine Meldung über geheimnisvolle, auf die Böden, Wände oder Decken von Vivian Martins Haus gemalte Gesichter. Jody Douglas zufolge hatte sein Vorgänger genug von den ständigen Anrufen der alten Frau wegen der Gesichter gehabt und sie auf eigene Kosten übermalen lassen, dennoch stand nichts davon in der Zeitung. Gewiss hätte man etwas so Seltsames als einer Veröffentlichung wert empfunden, vor allem in einer so kleinen Stadt wie Braddock. Merkwürdig. Höchst merkwürdig. Vielleicht waren die Gesichter erst aufgetaucht, nachdem seine Großmutter bei der Zeitung und beim Büro des Sheriffs in Ungnade gefallen war. Möglicherweise hatte sie zu dem Zeitpunkt bereits offiziell als verrückt gegolten, weshalb man im Zusammenhang mit ihr nichts mehr drucken wollte. Vielleicht würde es in den Akten im Büro des Sheriffs die eine oder andere Aufzeichnung über die Gesichter geben, aber Mike bezweifelte schwer, dass Jody Douglas ihn einen Blick darauf werfen lassen würde. Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück, drückte sich den Nasenrücken und kämpfte gegen Kopfschmerzen an, die sich hinter seinen Augen zu bilden begannen. Bestand eine Verbindung zwischen den gemalten Gesichtern und den Meldungen über eine verdächtige Person? Wahrscheinlich. Nach allem, was er gelesen hatte, war jemandem eine todsichere Möglichkeit eingefallen, eine paranoide alte Frau zu terrorisieren.
Bei einem Blick auf seine Notizen stellte Mike erstaunt fest, dass die Zeitungsberichte über seine Großmutter einen Zeitraum von dreißig Jahren umspannten. Dreißig Jahre? Das schien unglaublich. Was, wenn die verdächtige Person nicht nur in Vivian Martins Kopf existiert hatte? Was, wenn tatsächlich jemand um ihr Haus geschlichen und vorsätzlich versucht hatte, ihr Angst einzujagen? Dreißig Jahre waren eine lange Zeit – zu lange, als dass es sich nur um einen Übeltäter gehandelt haben konnte. Es mussten im Verlauf der Jahre mehrere Personen involviert gewesen sein. Eine Weile ließ Mike sich das Gesamtbild durch den Kopf gehen. Er wusste, dass Jody Douglas und seine Spießgesellen sich im Teenageralter alle Mühe gegeben hatten, Vivian Martin das Leben zur Hölle zu machen. Hatte es andere vor ihm und nach ihm gegeben, die dasselbe taten? Vielleicht. Galt es als örtliches Freizeitvergnügen, Vivian Martin zu quälen, als Tradition, die vom Vater an den Sohn weitergereicht wurde? Er starrte auf seine Notizen, frustriert über den Mangel an Informationen darin. Besonders ärgerte ihn, dass er auf keine Erwähnung der geheimnisvollen Gesichter im Haus seiner Großmutter gestoßen war – derselben Gesichter, die nun auf seinem Boden aufgetaucht waren. Vielleicht suche ich am falschen Ort. Mike legte die letzten Kassetten wieder auf das Tablett und schaltete den Mikrofilmbetrachter aus. Er verstaute sein Notizbuch und schloss die Aktentasche, dann wandte er sich dem vorderen Bereich der Bibliothek zu. Connie Widman war mit dem Sortieren der Bücher fertig und las gerade einen Taschenbuchroman. Vielleicht gab es doch noch eine Informationsquelle, die er anzapfen konnte. Connie schaute zu ihm auf und lächelte, als er mit dem Tablett voll Filmkassetten an den Schalter trat. »Haben Sie gefunden, wonach Sie gesucht haben?«
»Ich habe einen Teil der Auskünfte gefunden, die ich brauche, aber nicht alles. Ich denke, ich werde wohl einige der Aufzeichnungen durchsehen müssen, die ich bei mir zu Hause habe.« Er setzte dazu an, sich der Tür zuzuwenden, dann drehte er sich zurück zu der Bibliothekarin. »Sie haben doch gesagt, Sie kannten meine Großmutter recht gut, oder?« Connie schloss das Buch, in dem sie las, und legte es auf den Schalter vor ihr. »Ich kannte sie besser als die meisten. Sie kam ein bis zwei Mal die Woche her, regelmäßig wie ein Uhrwerk.« »Erinnern Sie sich zufällig daran, was für Bücher sie gerne gelesen hat?«, erkundigte sich Mike und beugte sich auf den Schalter vor. Connie überlegte einen Augenblick, dann antwortete sie: »Anfangs zog sie Krimis vor, aber später hat sich ihr Geschmack in Richtung ziemlich seltsamer Bücher verlagert.« »Seltsam?«, hakte er nach. »Inwiefern?« Die Bibliothekarin sah sich um, als fürchtete sie belauscht zu werden, obwohl sie die einzigen Anwesenden in der Bibliothek waren. »Sie fing an, eine Unmenge Bücher über Okkultismus zu lesen. Satanismus. Schamanistische Studien. Mythen und Legenden. All so was.« »Führen Sie solche Bücher normalerweise überhaupt?« »Oh, nein. Wir mussten sie eigens über das Bibliothekenverleihsystem bestellen. Bei den regelmäßigen Besuchern der Bibliothek hat sie damit ganz schön Aufsehen erregt. Man hielt sie für eine Art Hexe. Die Gerüchte wurden so schlimm, dass ich die Bücher verstecken musste.« »Glauben Sie, dass meine Großmutter eine Hexe war?«, fragte Mike.
Connie schüttelte den Kopf. »Ganz und gar nicht. Dafür war sie eine viel zu nette Person. Ich glaube, sie war lediglich eine einsame, verängstigte alte Frau.« »Verängstigt? Wovor hatte sie Angst?« Wieder sah Connie sich um. »Einmal hat sie es mir erzählt. Sie meinte, dass die Schreckgespenster hinter ihr her seien.« »Schreckgespenster?«, fragte Mike. »Meine Großmutter hatte Angst vor Geistern?« Die Bibliothekarin schüttelte den Kopf. »Nicht ganz. Laut Definition sind Schreckgespenster so etwas wie der Schwarze Mann, Wesen oder Kreaturen, für die es keine wirkliche Bezeichnung gibt.« Sie lächelte. »Die alten Menschen in der Gegend verwenden dafür auch den Ausdruck Kobolde.« »Kobolde?« Mike grinste. »Meine Großmutter hatte Angst vor Kobolden?« »Höllische Angst«, nickte Connie. »Sie sagte, dass sie versuchen, in ihr Haus einzudringen. Die arme alte Frau hat ganz alleine gelebt und muss sich entsetzlich gefürchtet haben.« Das Grinsen in Mikes Gesicht verpuffte. Seine Großmutter hatte sich also vor Kobolden gefürchtet, die versucht hatten, in das Haus zu gelangen. Und nun, all die Jahre später, schien erneut etwas in das Haus eindringen zu wollen. Die Tür öffnete sich, und ein Junge betrat die Bibliothek. Mike wartete, bis der Bursche in den Kinderbuchbereich verschwunden war, ehe er sich erneut der Bibliothekarin zuwandte. »Connie, aus reiner Neugier: Hat meine Großmutter je Gesichter erwähnt, die auf ihrem Fußboden aufgetaucht sind?« Die Züge der Bibliothekarin hellten sich auf. »Oh, du meine Güte, ja. Gesichter auf dem Küchenboden. An den Wänden. Sogar an der Decke. Sie hat immerzu davon geredet, dass die Gesichter sie beobachteten.«
»Und hat sie je geäußert, was diese Gesichter ihrer Meinung nach waren?« Connie sah ihn merkwürdig an. »Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Sie hielt sie für Schreckgespenster.«
KAPITEL 20
Als Tommy an jenem Nachmittag von der Schule nach Hause kam, hoffte er, Pinky würde ihn an der Eingangstür begrüßen, doch der große Kater war weit und breit nirgends zu sehen. Er hatte seine Mutter schon zuvor gefragt, ob sie nach ihm suchen könnten, doch sie hatte nur gemeint, er würde schon wieder zurückkommen. Dasselbe hatte sein Vater zu ihm gesagt. Was aber, wenn Pinky nicht von selbst zurückkehren würde? Wenn er sich verirrt hätte und den Weg nicht fand? Oder wenn er verletzt wäre? Vielleicht war er in ein Loch gefallen und hatte sich ein Bein gebrochen. Katzen konnten sich die Beine ebenso brechen wie Menschen. Beim Tierarzt in New York City hatte Tommy sogar einmal eine Katze mit einem gebrochenen Bein gesehen. Das Tier war von einem Auto angefahren worden, und der Knochen eines Hinterlaufs hatte blutig und spitz aus dem Fell hervorgeragt. Die Besitzer der Katze hatten sie in einem Karton zum Tierarzt gebracht und direkt an Tommy vorbeigetragen. Das Tier hatte vor Schmerzen gekreischt, und in der Luft hatte der durchdringende Geruch von Ammoniak gehangen, weil es in den Karton gepinkelt hatte. Die Besitzer hatten die Katze in die Praxis des Tierarztes getragen, hatten sie jedoch alleine wieder verlassen. Tommy wusste, was das bedeutete: Sie hatten die Katze einschläfern lassen, weil das Bein nicht geheilt worden konnte. Manchmal tat man das mit Tieren: Man ließ sie einschläfern, um ihnen weiteres Leid zu ersparen. Man tat es mit Tieren, die Schmerzen litten, für die es keine Heilung gab, niemals aber mit Menschen. Was Tommy nicht nachvollziehen konnte.
Vielleicht war Pinky in die Falle eines Jägers geraten. Tommy hoffte es nicht, denn das wäre schrecklich. Auf dem Bildungskanal im Fernsehen hatte er einmal eine Sendung über Jäger und Fallensteller gesehen. Darin wurden Wölfe, Füchse und sogar Kaninchen gezeigt, die in Fallen getappt waren. Die Fallen erinnerten an große Mausefallen, waren jedoch viel, viel schlimmer. Sie besaßen Stahlzähne, die zuschnappten, wenn ein Tier in die Falle trat. Dabei schlossen sie sich so heftig um Beine oder Füße, dass die Knochen brachen. Er hatte die grauenhaften Bilder von Tieren gesehen, die in den grausamen Fallen gefangen gewesen waren, die Beine verstümmelt und zerschmettert. Manchmal nagten die Füchse und Wölfe die eigenen Füße ab, um sich daraus zu befreien. Andere Male starben sie darin, indem sie erfroren oder langsam verhungerten. Die Sendung hatte Tommy eine Woche lang Albträume beschert, weit schlimmere, als er sie je gehabt hatte, nachdem er sich mit seiner Schwester einen Gruselfilm angesehen hatte. Pinky konnte durchaus in eine Falle geraten sein. Vielleicht befand er sich irgendwo in den Wäldern und verhungerte qualvoll. Wenn er tatsächlich in einer Falle festsaß und sich nicht befreien konnte, wäre er schutzlos etwaigen Hunden ausgeliefert. Sein Vater oder seine Mutter sollten wirklich nach ihm suchen, aber sie weigerten sich. Offenbar lag ihnen nichts an Pinky, jedenfalls nicht wirklich – nicht so wie Tommy. Alles, woran sie interessiert schienen, war, das Haus in Ordnung zu bringen. Tommy war das Haus völlig egal. Er sorgte sich um Pinky, so sehr, dass es regelrecht schmerzte. Und wenn seine Eltern nicht nach dem Kater suchen wollten, dann würde er es eben selbst tun. Er betrat das Haus durch die Vordertür und rief seiner Mutter einen Gruß zu. Dann ging er in die Küche, um sich ein paar Kekse aus dem Glas auf der Anrichte zu holen, wobei er darauf
achtete, nicht auf die schauerlichen Fratzen zu treten, die ihn vom Boden aus anglotzten. Es störte seine Mutter nie, wenn er sich Kekse nahm, nachdem er von der Schule nach Hause gekommen war, solange es bei ein paar wenigen blieb. Im Augenblick verspürte er keinen besonderen Hunger, doch das konnte sich vor dem Abendessen ändern, vor allem, wenn er unterwegs wäre, um nach seinem Kater zu suchen. Er hatte gerade den Deckel wieder angebracht, als seine Mutter in die Küche kam. »Hallo, Schatz. Wie war es in der Schule?« Tommy drehte sich um. »Ganz gut, Mom. Wir haben uns im Naturkundeunterricht einen Film angesehen.« »Worüber?« »Über Spinnen und wie sie ihre Netze weben.« »Spinnen. Igitt.« Tommy grinste. »War ziemlich cool, besonders der Teil, als man gesehen hat, wie sie Fliegen und Motten fressen.« »Igittigitt«, kommentierte Holly und verzog das Gesicht. »Mom, darf ich auf dem Hinterhof nach Spinnen suchen?« »Solange du nicht versuchst, sie anzufassen. Einige Spinnen hier in der Gegend sind nämlich giftig.« »So dumm bin ich nicht«, gab Tommy zurück. »Ich will sie nur beobachten. Vielleicht bekomme ich zu sehen, wie eine davon eine Fliege verspeist.« »Na ja, wie du willst. Aber bring bloß keine Spinnen zum Abendessen mit.« »Werd ich nicht, Mom. Versprochen.« »Zieh dich vorher um. Ich will nicht, dass du dir beim Spinnenbeobachten die guten Schulkleider ruinierst.« »Ist gut, Mom. Mach ich.« Er durchquerte die Küche, wobei er abermals sorgsam über die Gesichter hinwegstieg, drückte seine Mutter, ging den Flur entlang und erklomm die Treppe. In seinem Zimmer warf er
die Schultasche aufs Bett und ergriff sein Spielgewand, das er in der Zedernholztruhe vor dem Fenster verwahrte. Er zog es an und schlüpfte in seine ältesten Tennisschuhe. Die Schokokekse wanderten in die vordere Hosentasche, danach verließ er das Zimmer. Natürlich hatte Tommy nicht wirklich vor, nach Spinnen zu suchen. Von Spinnen hatte er nach dem Film, den sie in der Schule gesehen hatten, vorerst genug. Tatsächlich wollte er sich auf die Suche nach Pinky begeben. Seine Mutter befand sich im Wohnzimmer, als er wieder ins Erdgeschoss kam. Er hielt nicht an, um noch einmal mit ihr zu reden, weil er fürchtete, sie könnte Verdacht schöpfen und ihn nicht aus dem Haus lassen. Stattdessen schlich er am Wohnzimmer vorbei, ging in die Küche und eilte zur Hintertür hinaus. Er verspürte leichte Schuldgefühle, weil er seine Mutter belogen hatte, aber sie waren nicht schlimm genug, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Sobald er draußen war, verflogen sie völlig. Sowohl auf dem hinteren als auch auf dem vorderen Hof gab es kaum Verstecke, somit stand fest, dass Pinky sich nicht in unmittelbarer Nähe des Hauses aufhalten konnte. Übrig blieben die Scheune, der Obstgarten und der Wald. Die die Scheune am nächsten lag, beschloss er, dort mit der Suche zu beginnen. Das alte Gebäude war einst rot gestrichen worden, doch die ursprüngliche Farbe war kaum noch zu erkennen. Sie war im Lauf der Jahre ausgebleicht und abgeblättert, sodass die Scheue sich mittlerweile größtenteils braun präsentierte. Tommy konnte immer noch Teile der großen Buchstaben erkennen, die einst darauf gemalt worden waren. Sein Vater hatte ihm erzählt, dass sie früher den Spruch »KOMMT NACH ROCK CITY« gebildet hatten, inzwischen war jedoch nur noch
»K M T ACH OCK C TY« davon übrig. Tommy wusste nicht, wo sich Rock City befand oder ob der Ort einen Besuch wert war, aber er hatte ähnliche Schriftzüge auf Scheunen in der Umgebung gesehen, also mussten einige Leute der Ansicht sein, man sollte mal dorthin fahren. Er ging seitlich um die Scheune herum und bahnte sich langsam einen Weg durch das hohe Unkraut zur Doppeltür. Dabei hielt er sorgsam nach Schlangen Ausschau – sein Vater hatte ihn gewarnt, sich von der Scheune fern zu halten, weil es dort Schlangen geben könnte, doch bisher hatte Tommy noch keine gesehen. Eine der seitlichen Türen war zu Boden gefallen und war vor Jahren verrottet. Tommy näherte sich der Öffnung und verharrte jäh, als ein überaus großer Grashüpfer plötzlich vor ihm aufsprang. Was ihn erschreckt hatte, war weniger der Grashüpfer selbst als vielmehr das Geräusch gewesen, das er verursacht hatte. Es war ein rasselnder, zischender Laut, der ein wenig an den von Klapperschlangen erinnerte. Wie sich eine Klapperschlange anhörte, wusste Tommy aus einer Fernsehsendung über Schlangen. Mehrere weitere Grashüpfer sprangen aus dem Weg, bevor er die Scheunentür erreichte. Sein Vater hatte ihm gesagt, dass sich Grashüpfer gut als Köder zum Angeln eigneten. Das mochte stimmen, aber Tommy konnte sich nicht vorstellen, einen Grashüpfer – erst recht keinen solchen großen – an einem Angelhaken zu befestigen. Abgesehen davon, dass sie schwierig zu fangen und vermutlich noch schwieriger an einem Angelhaken anzubringen waren, hatten sie die hässliche Angewohnheit, einen braunen Saft auszuspucken, der Kautabak ähnelte. Er wusste nicht, ob Grashüpfer beißen konnten, aber sie sahen groß genug aus, um aus jedem Finger einen ordentlichen Brocken zu reißen. Nein, wenn er angeln ginge, würde er sich
mit Würmern begnügen und die Grashüpfer jemand anderem überlassen. Er blieb am Scheuneneingang stehen und steckte den Kopf hinein. Im Inneren der Scheune herrschten Schatten vor, dennoch konnte er alles erkennen. Unmittelbar neben dem Eingang befanden sich alte landwirtschaftliche Geräte. Dahinter war das Gebäude in mehrere kleine Räume unterteilt. Vermutlich hatte man früher darin Pferde oder Kühe gehalten. »Pinky?«, rief er und trat durch den Eingang. In der Scheune roch es nach altem Stroh und Staub. Wahrscheinlich hausten darin unzählige Spinnen, vielleicht sogar Schlangen und Eidechsen, doch sie alle interessierten ihn nicht. »Pinky? Bist du hier drin?« Tommy wollte schon umkehren und wieder gehen, weil er die Scheune selbst bei Tageslicht als gespenstisch empfand, doch dann wurde ihm klar, dass es so höchstens eine halbherzige Suche werden würde. Also holte er tief Luft und wagte sich weiter in die düstere Scheune vor. Pinky befand sich weder unter den landwirtschaftlichen Geräten noch in einem der kleineren Räume. Somit blieb nur der Heuboden. Nachdem Tommy sich vergewissert hatte, dass die Holzleiter sein Gewicht tragen würde, kletterte er langsam hinauf. Auf dem Heuboden war es heiß und dunkel, weil das durch den offenen Eingang einfallende Licht nicht bis in die hintersten Winkel der Scheune drang. Oben achtete er sorgsam darauf, nicht in ein Loch oder auf etwas Spitzes zu treten, das seine Schuhsohle durchbohren konnte. Schweiß rann ihm übers Gesicht, während er den Heuboden absuchte. Der Geruch alten Heus löste einen Niesreiz aus. »Pinky? Bist du hier oben, Junge?« Er rief noch zwei Mal nach dem Kater, doch es blieb still. Es war eine Stille, die von uralten Dingen und vergessenen Zeiten
zeugte, als hausten auf dem Heuboden und in der Scheune die Geister der Vergangenheit. Irgendwie fühlte es sich gespenstisch an. Einst war dies ein farbenfrohes, neues Gebäude gewesen, gefüllt mit Heuballen als Futter für Pferde und Kühe. Die Pferde und Kühe gab es längst nicht mehr, ebenso wenig die Heuballen. Nur die Erinnerungen daran waren geblieben. Tommy überquerte den Heuboden von einem Ende zum anderen und wieder zurück. Mehrmals rief er Pinkys Namen, doch der Kater ließ keine Antwort vernehmen. Er wollte gerade die Leiter zurück hinabklettern, als er vermeinte, in der Dunkelheit nahe der hinteren Wand des Heubodens eine Bewegung erspäht zu haben. Mit einem Fuß auf der Leiter hielt er inne und starrte hin. Schier unerträglich langsam verstrich einem Minute. Dann eine weitere. »Pinky?« Hatte der Kater sich etwa versteckt, um nun hervorzukommen? Abermals rief Tommy ihn und konzentrierte alle Aufmerksamkeit auf die Finsternis im hinteren Bereich des Heubodens. Nichts rührte sich. Kein Kater löste sich aus der Schwärze, um ihn miauend und mit wedelndem Schwanz zu begrüßen. In jenem Winkel herrschten nur Dunkelheit und Stille. Dennoch hätte Tommy schwören können, etwas gesehen zu haben, dass sich bewegt hatte und etwa die Größe seiner geliebten Hauskatze aufwies. Da er nicht wusste, was er gesehen hatte, entschied Tommy, dass es am besten wäre, die Scheune so schnell wie möglich zu verlassen. Er wollte sich eine Begegnung mit einem wilden Tier ersparen, vor allem, wenn es wütend sein könnte, weil er dessen Nachmittagsnickerchen gestört hatte. Hastig kletterte er die Leiter hinab, verließ die Scheune und ihre gespenstischen Schatten auf demselben Weg, auf dem er eingetreten war, und rannte in den Obstgarten. Dort wuchsen zahlreiche
Apfelbäume. Hinter oder auf jedem konnte Pinky sich verstecken. Tommy ging die Reihen entlang und spähte ins Geäst jedes einzelnen Baumes hinauf, um nach dem vermissten Kater Ausschau zu halten. Pinky war in der Stadt aufgewachsen und daher keine Bäume gewohnt. Tommy war nicht sicher, ob der Kater wusste, wie man auf einen Baum kletterte und wieder heruntergelangte. Er hatte von Katzen gehört, die in Baumwipfeln festsaßen, hatte sogar einmal eine in einer der Nachrichtensendungen gesehen, die sein Vater sich so gerne ansah. Er suchte weiter die Bäume nach Pinky ab, rief dessen Namen und gelangte bald zum Ende des Obstgartens, wo der Wald begann, ein Ort dichten Unterholzes, weiterer gespenstischer Schatten und wilder Tiere. Der Junge drehte sich um und schaute zurück. Das Haus konnte er nicht mehr sehen, weil es hinter den Apfelbäumen versteckt lag. Dass er sich außer Sichtweite des Hauses befand, bereitete ihm leichtes Unbehagen. In der Stadt war er ohne seine Eltern oder seine Schwester nie irgendwohin gegangen außer zur Schule. Und selbst auf dem Schulweg war er immer von Leuten begleitet worden, die für seine Sicherheit verantwortlich gewesen waren. Es war ein seltsames und völlig unvertrautes Gefühl, plötzlich alleine zu sein. Seltsam und zugleich aufregend. Tommy leckte sich über die Lippen. Er sollte umkehren. Seine Mutter würde wütend werden, wenn sie wüsste, dass er alleine die Gegend erkundete. Ebenso sein Vater, zumal er Tommy strikt befohlen hatte, nicht alleine umherzustreunen. Andererseits streunte er eigentlich gar nicht. Er suchte nach seinem Kater, und das war wichtig. Außerdem: Wie sollten die beiden wütend auf ihn werden, wenn sie nie erführen, dass er den Hinterhof verlassen hatte? Sein Vater
hatte ihm erzählt, dass der Obstgarten und ein Teil des Waldes nun ihnen gehörten, somit bildete er technisch gesehen einen Bestandteil des Hinterhofs. Zugegeben, ein ziemlich großer Hinterhof, aber dafür konnte Tommy nichts. Er wandte die Aufmerksamkeit dem Wald vor ihm zu, der sich dicht, geheimnisvoll und voller Schatten präsentierte. Er wirkte aufregend und Furcht einflößend zugleich, ein Ort, an dem es für einen Achtjährigen vermutlich alles andere als sicher war. Allerdings war es zweifellos auch kein sicherer Ort für eine in der Stadt auf gewachsene Hauskatze. Falls Pinky in den Wald gegangen war, hatte er sich wahrscheinlich verirrt. »Ich werde nur ein Stückchen reingehen«, sagte sich Tommy, dessen Stimme sich eigenartig angespannt anhörte. »Nur ein kleines Stück, gerade genug, um nach Pinky zu suchen.« Mit diesem Vorsatz betrat Tommy den Wald und tauchte ein in eine Welt, die sich gänzlich von allem unterschied, was er bisher gekannt hatte. Gewiss, er war schon in Wäldern gewesen. Im Central Park gab es Bäume, und einmal hatte sein Vater ihn in einen staatlichen Park nördlich von New York mitgenommen, aber dort gab es Betonwege, Springbrunnen und sogar öffentliche Toiletten. Außerdem wanderten dort jede Menge Menschen umher. Hier war er völlig auf sich allein gestellt, ohne Gehwege, Fahrradständer oder öffentliche Einrichtungen. Hier wuchs der Wald wild und ungezähmt, rundum naturbelassen. Er sah sich um und entdeckte eine Art Pfad, doch er war schmal und gewunden, ganz und gar anders als die Wege, die er aus dem Central Park kannte. Dieser Pfad war von Tieren geschaffen worden, vermutlich von Hasen, nicht von Arbeitern der Stadtwerke in blauen Overalls. Trotzdem war es ein Pfad, der ihm helfen konnte, sich bei der Suche nach Pinky im dichten Unterholz des Waldes zurechtzufinden.
Tommy war dem Weg einige Minuten gefolgt, als er Geräusche einer Bewegung aus dem Dickicht zu seiner Linken vernahm. Er blieb stehen, um darauf zu lauschen, doch als er anhielt, verstummten sie. Ein leichtes Zittern der Angst durchlief ihn. Er überlegte, was das Geräusch verursacht haben mochte und malte sich Bilder großer, pelziger Kreaturen aus: Bären, Wölfe, sogar Löwen, wenngleich er nicht wirklich glaubte, dass es in Missouri Löwen gab. Soweit er wusste, lebten alle Löwen in Afrika, außer vielleicht jenen in Zoos. Zudem war er überzeugt davon, dass ihn sein Vater vor Löwen in der Gegend gewarnt hätte, wenn es welche gäbe, dennoch ließ seine Fantasie sich nicht davon abbringen, sie ihm vorzugaukeln. Wahrscheinlich hatte er lediglich ein Kaninchen oder eine Maus gehört. Sogar eine winzige Feldmaus konnte sich ziemlich groß anhören, wenn sie sich durchs Unterholz bewegte, wenngleich das Geräusch, das er vernommen hatte, nicht nach dem Rascheln von Blättern geklungen hatte. Es hatte sich eher wie ein Flüstern angehört, als tuschelte jemand hinter seinem Rücken Geheimnisse. Angespannt lauschte Tommy, doch alles blieb ruhig. Zu ruhig. Allmählich wurde ihm bewusst, dass rings um ihn eine unheimliche Stille herrschte, als hätte sich plötzlich ein großes Schweigen über den Wald gesenkt. Warum ist es so still? Obwohl er ein Stadtjunge war, wusste er, dass in einem Wald Geräusche vorherrschen sollten. Jede Menge Geräusche. Das Gezwitscher von Vögeln, das Gurren von Eichhörnchen, das Summen von Bienen und Fliegen hätten die Luft erfüllen müssen. Und dennoch hörte er nichts von alledem. Absolute Stille hatte sich ausgebreitet. Tommy schaute zu den Ästen über ihm auf und suchte nach Anzeichen von Tieren. Er entdeckte keine. Die Bäume
erwiesen sich als verwaist. In jenem Teil des Waldes, den er zu überblicken vermochte, schien es keinerlei Vögel oder sonstige Tiere zu geben. Wohin mochten sie verschwunden sein? Waren sie von Jägern verscheucht worden? Vielleicht hatte es wie in jenem Disney-Film, Bambi, ein Feuer gegeben, und die Kreaturen des Waldes waren panisch geflohen. Abermals sah er sich um, entdeckte jedoch keinerlei Anzeichen darauf, dass es in dem Wald je gebrannt haben könnte. So weit das Auge reichte, präsentierte sich das Unterholz üppig grün, nicht schwarz und verkohlt wie ein von Flammen verheertes Gebiet. Vielleicht hatte er selbst die Waldtiere verscheucht. Womöglich hatten sie ihn kommen gesehen und sich versteckt und warteten nun darauf, dass er wieder ging. Es schien durchaus möglich, dass sie sich vor ihm fürchteten, obwohl er kein Gewehr hatte und selbst auf nichts geschossen hätte, wenn er bewaffnet gewesen wäre. Die Tauben und Eichhörnchen im Central Park hatten keine Angst vor Menschen, doch bei Tieren auf dem Land mochte dies ohne weiteres anders sein. Vielleicht musste man ihnen Futter zurücklassen, bevor sie sich sehen ließen. Tommy merkte sich geistig vor, nächstes Mal Krümel mitzunehmen, wenn er in den Wald ginge. Er fragte sich, ob die Vögel Weiß- oder Vollkornbrot bevorzugten. Während er dastand und nach oben schaute, hörte er abermals ein seltsames Tuscheln. Es war dasselbe Geräusch, das er vor wenigen Minuten vernommen hatte. Und wieder beschwor es vor seinem geistigen Auge Bilder von Dingen herauf, die man in einem einsamen Wald nicht sehen wollte und die ihm einen nervösen Schauder über den Rücken jagten. Gleich darauf packte ihn nackte Angst, als ihm klar wurde, dass sich das Geräusch rasch näherte.
Tommy drehte sich um und versuchte zu sehen, was es verursachte. Allerdings konnte er nichts erkennen – zu viele Büsche und Bäume versperrten ihm die Sicht. War es ein Kaninchen gewesen? Ein scheues Kaninchen auf der Suche nach Klee? Gaben Kaninchen solche Laute von sich? Flüsterten sie? Er legte den Kopf schief und lauschte. War es überhaupt ein Flüstern gewesen, das er gehört hatte? Jedenfalls hatte es ganz so geklungen, als hätte jemand sehr leise und schnell gesprochen. Doch falls dabei Worte gefallen waren, dann in einer Sprache, die er nicht verstand. Und sie mussten von jemand oder etwas sehr Kleinem gestammt haben, denn sie waren von dicht über dem Boden gedrungen. Ein weiteres Bild flammte im Verstand des Jungen auf, das eines absonderlichen Mannes, der auf dem Bauch durch das Unterholz kroch und fremdartige Worte tuschelte. Ein Echsenmann, grün und schuppig, mit einer langen, klebrigen Zunge, mit der er Ameisen zwischen den Wurzeln der Bäume hervorfischte und fraß. Unter anderen Umständen hätte er die Vorstellung als komisch empfunden, doch nun, alleine im Wald, jagte es ihm eine Höllenangst ein. Was immer das tuschelnde Geräusch verursachte, es näherte sich schnell. Tommys Herz hämmerte wie wild in der Brust, als er erkannte, dass jener merkwürdige Laut regelrecht auf ihn zuraste. Etwas hielt auf ihn zu, etwas, das er nicht sehen konnte. Ein Mensch oder ein Tier – irgendein Wesen, das keine Schritte vernehmen ließ und keine Blätter zum Rascheln, keine Zweige zum Knicken brachte. Das Einzige, was er hörte, was jenes Tuscheln, sonst nichts. Tommy beschloss, dass der Zeitpunkt gekommen war, seine Suche nach Pinky abzubrechen. Er machte kehrt und flüchtete vor dem merkwürdigen Laut. Ein erschrockener Schrei entrang
sich seiner Kehle, während er den schmalen Pfad entlanglief und nur noch aus dem Wald entkommen wollte. Der Wald jedoch schien sich in einen endlosen Tunnel grünen Blätterwerks und dunkler Schatten verwandelt zu haben. Die Bäume über ihm verschränkten die Äste ineinander, wodurch es noch dunkler wurde als zuvor. Irgendwo hoch über dem Blätterbaldachin schien immer noch die Sonne an einem strahlend blauen Himmel, aber ihre Strahlen drangen nicht mehr zu Tommy durch. Er konnte nicht sehen, was ihn verfolgte, aber er hörte es. Plötzlich zog das Tuscheln erst links an ihm vorbei, dann rechts. Es gab also mindestens zwei der Kreaturen, vielleicht mehr, die sich durch das Unterholz bewegten und ihn überholten, um… Um was zu tun? Mit wild hämmerndem Herzen blieb er stehen. Es war kein Tuscheln mehr zu vernehmen. Das Geräusch war verstummt, als er angehalten hatte. Doch die Verursacher des Lautes waren nicht verschwunden, davon war Tommy überzeugt. Was immer ihn verfolgt hatte, befand sich mittlerweile vor ihm und lauerte ihm auf. Zwar konnte er nichts sehen, aber er spürte, dass ihn Augen beobachteten. Wütende Augen. Hungrige Augen. »Oh, nein, nicht mit mir.« So einfach wollte Tommy sich nicht übertölpeln lassen. Langsam ging er ein paar Meter weiter, dann drehte er sich um und preschte im rechten Winkel los. Das explosionsartige Einsetzten von Geräuschen verriet ihm, dass er Recht gehabt hatte: Es hatte tatsächlich etwas auf ihn gelauert. Nur war er nicht in die Falle getappt, und nun ging die Jagd weiter. Er erreichte das Ende des Waldes und stürzte hinaus in den Obstgarten. Jäh wirbelte er herum, überzeugt davon, er würde nun sehen können, was ihn hetzte. Doch da war nichts.
Von heftigem Seitenstechen geplagt beobachtete er den Waldrand. Nichts rührte sich. Ein paar bange Sekunden verstrichen… dann sah er, wie zwei deutliche Schatten sich aus dem Wald lösten und über den Boden glitten. Keine Tiere. Keine Waschbären, Opossums, Kaninchen oder Hunde. Nur zwei Schatten, fast unsichtbar für das Auge. Sie schnellten aus dem Wald hervor auf die erste Apfelbaumreihe zu und verschwanden dahinter. Bloß Schatten, aber Tommy wusste instinktiv, dass sie weit mehr waren, als sie zu sein schienen: etwas Böses und sehr Gefährliches. Wieder wirbelte er herum und rannte Hals über Kopf auf das Haus zu. Er schaute nicht zurück, wagte nicht, sich umzudrehen. Stattdessen rannte er, so schnell er konnte, mit fliegenden Armen und Beinen, während seine Tennisschuhe Dreck aufstieben. Er hatte keine Ahnung, ob die Schatten ihm noch folgten, aber er fürchtete sich zu sehr, um anzuhalten und nachzusehen. Er flüchtete an den Apfelbäumen und der Scheune vorbei geradewegs auf die Hintertür des Hauses zu.
KAPITEL 21
Holly fuhr mit den Fingern behutsam über den Küchenboden und tastete die Beschaffenheit der Fliesen mit den geheimnisvollen Gesichtern ab. Aufgemalt? Wenn die Gesichter aufgemalt waren, wollte sie wissen, welches Material dafür verwendet worden war. Im College war Kunst ihr Hauptfach gewesen, sie hatte jahrelang als Illustratorin gearbeitet und wusste so gut wie alles, was es über Pigmente, Öl- und Acrylfarben zu wissen gab. Wären die Gesichter aufgemalt gewesen, hätte sie in der Lage sein müssen, etwas zu ertasten, doch sie spürte nichts. Die Fliesen mit den Gesichtern fühlten sich genauso glatt wie der Rest des Bodens an. Ebenso wenig war eine Farbsprühpistole zum Einsatz gekommen. Während ihres Studiums in New York hatte sie sich damit durchgeschlagen, dass sie mit Sprühpistolen Bilder auf Reifenzierkappen, Postkästen und die Benzintanks von Motorrädern gezaubert hatte. Sie hatte an Abenden und Wochenenden gearbeitet und war ziemlich gut darin geworden. Wäre eine Sprühpistole für die Fratzen auf dem Küchenboden verwendet worden, hätte sie es erkannt. Sie waren weder durch eine Sprühpistole noch durch einen Pinsel, Holzkohle, Stifte, Tinte oder Wachsfarben entstanden. Wie dann? Holly stand vor einem völligen Rätsel. Fest entschlossen, das Geheimnis zu lüften, stand sie auf und durchquerte den Raum. Sie öffnete eine der Schubladen und holte ein Buttermesser daraus hervor. Damit kehrte sie zurück, kniete sich wieder hin und schabte langsam mit der Klinge über eines der Gesichter, versuchte, es zu entfernen. Die
Wachsbeschichtung löste sich mühelos, die dunkle Fratze hingegen blieb. Das Gesicht ist unter dem Wachs. Sie lehnte sich zurück und starrte verdutzt auf das Bild. Die Gesichter konnten nicht von jemandem geschaffen worden sein, der sich vergangene Nacht ins Haus geschlichen hatte, denn sie befanden sich unter der Wachsschicht. Höchstens, wenn jemand die Gesichter gemalt und anschließend eine frische Wachsschicht darüber aufgetragen hätte. Aber selbst das war unmöglich, zumal das Wachs nicht rechtzeitig gehärtet wäre, bevor die Gesichter entdeckt worden waren. Um ganz sicher zu gehen, legte sie das Messer beiseite und beugte sich vor, bis sie mit dem Gesicht fast den Boden berührte, dann spähte sie seitwärts die Fliesen entlang. Aus diesem Winkel hätte sie durch das von oben herabscheinende Licht eine zusätzliche Wachsschicht auf dem Bereich der Gesichter erkannt. Frisches Wachs hätte stärker geglänzt und hätte vermutlich auch eine deutlich dickere Schicht als auf den übrigen Fliesen ergeben. Aber sie konnte keinen Unterschied feststellen, nicht den geringsten. Die Wachsschicht, die den Boden überzog, sah überall gleich aus. »Ich verstehe das einfach nicht«, murmelte sie bei sich und richtete sich in sitzende Position auf. Ungeachtet der Vermutungen des Sheriffs konnten die Gesichter nicht von jemandem gemalt worden sein, der sich ins Haus geschlichen hatte. Ebenso wenig gingen sie auf einen Wasserrohrbruch, Schimmel, mangelhafte Fliesen oder einen Fehler beim Verlegen zurück. Was blieb noch? Was konnte sie verursacht haben? Etwas Übernatürliches. Beinah hätte sie laut aufgelacht. Wie Mike war sie äußerst skeptisch, wenn es um vermeintlich unerklärliche Dinge ging. Sie glaubte nicht an UFOs, Voodoo, Hexerei und ähnlichen
Unfug. Auch war sie nie ein Fan von Sendungen wie Akte X oder Millenium gewesen. Sie hatte noch nie den Drang verspürt, sich ein Schundmagazin zu kaufen, um etwas über Entführungen durch Außerirdische, Prophezeiungen oder den Geist von Elvis zu lesen. Ihre Eltern hingegen glaubten sehr wohl an Übernatürliches, besonders ihre Mutter. Obwohl Hollys Mutter eine fromme Baptistin war, hielt sie Geister für durchaus real und behauptete sogar, im Verlauf ihres Lebens schon ein paar gesehen zu haben. Ebenso vertrat sie die Ansicht, dass der Teufel Besitz vom Körper eines Menschen ergreifen konnte und dass der Film Der Exorzist auf einer wahren Begebenheit beruhte. Ein paar Tage, nachdem sie sich den Streifen gemeinsam angesehen hatten, war Holly auf die Idee gekommen, ihrer Mutter einen Streich zu spielen. Sie hatte sich ein paar AlkaSeltzer-Tabletten unter die Zunge gesteckt, gerade genug, dass sie Schaum vor dem Mund bekam wie ein tollwütiger Hund. Dann hatte sie sich wild auf dem Bett hin und her geworfen und dabei die Namen der im Film erwähnten Dämonen gebrüllt. Ihre Mutter hatte es nicht lustig gefunden. Holly lächelte bei der Erinnerung daran. Jedenfalls glaubte ihre Mutter an Übernatürliches, auch ohne wissenschaftliche Beweise, um es zu untermauern. Als Holly zurück hinab auf den Boden blickte, verschwand ihr Lächeln. Hier in ihrem eigenen Haus war sie mit etwas konfrontiert, das sich rational nicht erklären ließ und kein normales Ereignis darstellte. Die Gesichter, die auf mysteriöse Weise wiederholt auf den gelben Fliesen ihres Küchenfußbodens aufgetaucht waren, konnte man keinesfalls als normal bezeichnen. Ganz und gar nicht. Sie legte das Buttermesser zurück in die Schublade, verließ die Küche und betrat die Bibliothek. Auf dem Teppich lagen
immer noch Scherben der zerbrochenen Glühbirne, doch sie unternahm keine Regung, um sie aufzuheben. Die Splitter dienten als Mahnmal daran, dass vergangene Nacht irgendetwas Megan eine Heidenangst eingejagt, sie sogar soweit gebracht hatte, sich zu verletzen, und Holly würde den Vorfall nicht einfach abhaken, indem sie die Unordnung aufräumte. Während sie auf die Scherben starrte, überlegte sie, ob Mike mit einer seiner Vermutungen Recht haben konnte. War es möglich, dass ein Waschbär ins Haus gelangt und die Glühbirne aus der Lampe entfernt haben konnte? Es dauerte nur einen Moment logischen Denkens, um die Theorie ihres Mannes als lächerlich zu verwerfen. Die Lampe war hoch und zierlich. Die Glühbirne wurde von einem großen Schirm verdeckt – zum einen war sie schwierig zu erreichen, zum anderen wäre die Lampe umgekippt, hätte ein Waschbär versucht, daran hochzuklettern. Außerdem hatten in der vergangenen Nacht im Erdgeschoss keinerlei Fenster und Türen offen gestanden, somit konnte kein Tier ins Haus gelangt sein, nicht einmal ein so kluges wie ein Waschbär. Wenn es kein Tier gewesen war, musste es ein Mensch gewesen sein. Jemand war in die Bibliothek gekommen, vermutlich, während sie geschlafen hatten, dann hatte dieser Jemand die Glühbirne herausgeschraubt und zerbrochen. Aber warum? Viel einfacher wäre es doch gewesen, den Stecker der Lampe zu ziehen. Sie wandte sich davon ab und ließ den Blick über das Ablagefach hoch oben an der Wand gleiten. Der Eindringling hatte nicht nur die Glühbirne zerbrochen, sondern jede einzelne Kachina der Wand zugedreht. Wieder stellte sich die Frage: Warum? Wieso hatte er sich die Zeit dafür genommen? War das ein Teil eines aufwendigen Witzes? Wenn ja, worin lag die Pointe? Und wer war dafür verantwortlich?
Megan. Holly schüttelte den Kopf. Ihre Tochter hätte für die Glühbirne und die Kachinas verantwortlich sein können, aber sie hätte niemals die Gesichter auf dem Küchenboden zu malen vermocht. In tausend Jahren nicht. Jemand anders musste der Schuldige sein, aber Holly hatte keine Ahnung, wer oder wie derjenige es bewerkstelligt hatte. Sie spielte mit dem Gedanken, die Kachinas zurückzudrehen, entschied sich jedoch dagegen. In Wahrheit gefielen ihr die kleinen Holzfiguren besser, wenn sie ihr den Rücken zuwiesen. Anders herum vermittelten sie ihr das Gefühl, sie anzustarren. Hunderte winziger Augen, aufgemalt, aus Muscheln oder kleinen Steinen. Sie fand das unheimlich. »Tja, ich weiß eine sichere Möglichkeiten, solchen Unfug künftig zu unterbinden.« Statt die Puppen zurückzudrehen, holte sie die Stehleiter aus dem Atelier sowie ein paar leere Kartons und begann, die Kachinas wegzuräumen. Jede einzelne. Nun sollte noch einmal jemand versuchen, ihr und ihrer Familie diesen Streich zu spielen. Zuletzt würde sie es sein, die lachte. Die Kachinas in der Bibliothek füllten drei Kartons, zwei weitere brauchte sie für jene im Wohnzimmer. Holly verschloss die Kartons mit Klebeband und trug sie einen nach dem anderen in den Keller, wo sie damit einen Stapel an der Wand unter der Fensterreihe bildete. Nachdem alle Kachinas aus der Bibliothek und dem Wohnzimmer entfernt waren, ging sie mit einem leeren Karton in den Keller und verstaute auch die Kachinas auf der Ablage dort. Sie hatte gerade die letzte Puppe weggepackt, als Tommy ins Haus gestürzt kam. »Mom! Mom!«, gellte er und raste den Flur hinab. Erschrocken eilte Holly die Kellertreppe hinauf in die Küche und fing ihren Sohn auf halbem Weg durch den Flur ab. »Tommy, was hast du? Was ist denn los?«
Der Junge blieb stehen und drehte sich um. Seine Brust hob und senkte sich heftig, seine Augen hatten sich vor Angst geweitet. »Ich war im Wald, dort hat mich etwas gejagt! Ich weiß nicht, was es war, Mom, aber es ist hinter mir hergehetzt. Ich musste den ganzen Weg laufen…« »Holla. Jetzt mal langsam, junger Mann.« Sie bückte sich, legte ihm die Hände auf die Schultern und hielt ihn auf Armeslänge. »Was soll das heißen, du warst im Wald?« Tommy verstummte und schluckte schwer, als ihm plötzlich klar wurde, dass er in Schwierigkeiten steckte. »Ich habe nach Pinky gesucht. Ich weiß, dass ich nicht allein in den Wald gehen sollte, aber ich mache mir solche Sorgen um ihn, Mom. Er könnte verletzt oder krank sein und sogar sterben.« Dem Jungen traten Tränen in die Augen, und Holly erkannte, dass es kein günstiger Augenblick war, um ihn zu rügen. »Na schön, darüber unterhalten wir uns später. Im Augenblick will ich wissen, was dir solche Angst eingejagt hat. Du hast gesagt, etwas hätte dich verfolgt: was?« »Ich weiß es nicht«, antwortete er und warf einen Blick hinter sich. »Ich konnte sie nicht sehen.« Holly stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus. »Wahrscheinlich bloß ein Kaninchen, das durchs Unterholz gehopst ist und sich dadurch schrecklich laut angehört hat.« Er schüttelte den Kopf. »Es war kein Kaninchen, Mom. Ich weiß, wie ein Kaninchen sich anhört, und so klangen sie überhaupt nicht. Sie haben seltsame Geräusche gemacht, wie eine Gruppe Leute, wenn alle gleichzeitig flüstern. Und sie haben auch nicht wie Kaninchen ausgesehen.« Holly war verwirrt. »Tommy, du hast doch gerade gesagt, du hättest nicht gesehen, was dich verfolgt hat.« »Hab ich auch nicht. Jedenfalls nicht richtig. Ich bin im Obstgarten stehen geblieben, um zurückzuschauen. Aber da war nichts. Nur Schatten.«
»Schatten?« Er nickte. »Zwei Schatten. Ich habe gesehen, wie sie aus dem Wald gekommen und hinter die Apfelbäume gehuscht sind. Es waren bloß Schatten. Ehrlich. Zuerst dachte ich auch, es wäre ein Kaninchen, aber das war es nicht. Ich habe gewartet und sie gesehen. Es waren Schatten, aber da waren keine Tiere.« »Schatten müssen zu etwas gehören, das weißt du genau. Irgendetwas muss das Licht abhalten, damit ein Schatten entsteht.« »Ich weiß, Mom. Das habe ich in der Schule gelernt. Aber diese Schatten haben nirgendwo dazugehört. Es waren bloß Schatten, und sie sind hinter mir her gewesen.« Holly wollte gerade dazu ansetzen, ihrem Sohn zu erklären, dass es so etwas nicht geben könne, als ihr einfiel, was Megan in der vergangenen Nacht widerfahren war. Auch ihre Tochter hatte behauptet, ein Schatten hätte sie durch den Flur verfolgt. Kein Tier, kein Mensch. Bloß ein Schatten, sonst nichts. »Wie groß waren diese Schatten?«, fragte sie ihn. Tommy zuckte mit den Schultern. »Nicht besonders groß.« Er hob die Hände und deutete damit einen Abstand von etwa fünfundzwanzig Zentimetern an. »Etwa so. Vielleicht ein wenig größer. Ich würde sagen, sie waren ein bisschen kleiner als Pinky. So gut konnte ich sie nicht erkennen.« »Haben sie wie Pinky ausgesehen?« Er schüttelte den Kopf. »Nicht wie eine Katze oder ein Hund. Eher wie…« Krampfhaft suchte er nach den richtigen Worten. »Fast wie Schatten von Menschen, nur irgendwie falsch, ganz zusammengedrückt. Und sie waren schnell. Wirklich schnell.« »Tommy, wo hast du diese Schatten zuletzt gesehen?« »Im Obstgarten hinter den Apfelbäumen.«
»Gut, du wartest hier. Nimm dir etwas zu trinken. Und wasch dir das Gesicht. Ich sehe mich draußen mal um. Du bleibst hier, verstanden?« Tommy nickte und wischte sich Schweiß aus den Augen. Holly ließ ihren Sohn im Flur zurück und ging in die Küche. Sie durchquerte den Raum, öffnete die Hintertür und trat hinaus. Es herrschte strahlender Sonnenschein. Nur ein paar löchrige Wolken sprenkelten den Himmel. Sie überlegte, ob eine der Wolken vor die Sonne getrieben sein und die Schatten verursacht haben könnte, die Tommy so erschreckt hatten. Aber Tommy hatte gesagt, die Schatten hätten ihn verfolgt und Geräusche von sich gegeben. Ein Flüstern. Was auf von Wolken geworfene Schatten unmöglich zutreffen konnte. Sie schloss die Tür hinter sich, überquerte den Hinterhof und betrat den Obstgarten. Während sie durch die Reihen der Bäume schritt, konzentrierte sie die Aufmerksamkeit auf die schattigen Fleckchen um die Baumstämme, wo sich untertags kleine Tiere verstecken mochten. Was ihr Sohn für gestauchte Menschenschatten gehalten hatte, war tatsächlich bloß irgendein Waldbewohnter gewesen, davon war Holly überzeugt. Für einen in der Stadt aufgewachsenen Jungen konnte eine Begegnung aus nächster Nähe mit einem Otter, einem Murmeltier oder einer Bisamratte eine ziemlich Furcht erregende Erfahrung sein. Soweit sie wusste, lebten in den umliegenden Wäldern keine wirklich gefährlichen Tiere mehr. Sämtliche Bären und Wölfe waren bereits vertrieben gewesen, lange bevor das Haus gebaut wurde, in dem sie nun lebten. Sie bezweifelte sogar, dass es noch Füchse gab, wenngleich sie nicht sicher war, ob Füchse gefährlich sein konnten. Abgesehen von einem streunenden Hund fiel ihr kein Tier ein, das ihren Sohn unter normalen Umständen verfolgt haben könnte.
Holly blieb jäh stehen. Waschbären, Otter und andere kleine Tiere galten unter normalen Umständen als scheu. Sie hätten kehrtgemacht und wären vor Tommy geflohen… es sei denn, sie waren mit Tollwut infiziert. Tollwütige Tiere verhielten sich nicht, wie man es von ihnen erwartete. Selbst bei Tageslicht näherten sie sich oft verwegen Menschen. Und sie waren gefährlich. Durch den Biss eines tollwütigen Tieres konnte ein Mensch mit Tollwut angesteckt werden, einer tödlichen Krankheit. Wäre Tommy von seinem solchen Tier gebissen worden, hätte er eine Reihe extrem schmerzhafter Spritzen über sich ergehen lassen müssen, die in den Bauch verabreicht wurden, und er hätte dennoch sterben können. Nervös sah sie sich um. Plötzlich wirkte der Obstgarten nicht mehr sicher. Die Bäume und die Schatten, die sie warfen, boten ein Dutzend Plätze, an denen sich ein tollwütiges Tier verstecken konnte. Selbst ein mittelgroßer Waschbär konnte zu einem gefährlichen Gegner mutieren, wenn er die Tollwut hatte – besonders für eine unbewaffnete Frau. Sie blickte an sich hinab und stellte fest, dass die Kleider, die sie trug, herzlich wenig Schutz boten. Eine dünne, kurze Baumwollhose, ein T-Shirt und Slipper wären bei einer Begegnung mit einem tollwütigen Tier wenig hilfreich. Ebenso wenig hatte sie eine Waffe dabei, nicht einmal eine Nagelfeile. Während Holly ihre ungeeignete Aufmachung betrachtete, nahm sie aus dem Augenwinkel eine flüchtige Bewegung wahr. Zwei Reihen von ihrem Standort aus war etwas von einem Apfelbaum zum nächsten gehuscht. Die Bewegung war schnell und flüssig wie Wasser gewesen. Erschrocken drehte sie sich in die Richtung um und versuchte auszumachen, was in die Schatten unter dem Apfelbaum geschlüpft war. Obwohl sie nur einen kurzen Blick erhascht hatte, beschlich sie der Eindruck, dass was immer es gewesen
sein mochte, sich hinter dem Baumstamm versteckt hatte… und sie beobachtet hatte! Ein Schauder durchlief sie und zauberte ihr Gänsehaut auf die Arme. Etwas beobachtete sie und wartete darauf, dass sie wieder wegschaute, um… Um was zu tun? Um sich näher an mich heranzuschleichen. Holly wich zurück und hielt nach einer Waffe Ausschau – einem Stein, einem Stock, irgendetwas, womit sie den Angriff eines tollwütigen Tieres abwehren könnte. Obwohl sie nur verschwommen eine kurze Bewegung erspäht hatte, war sie mittlerweile überzeugt day on, dass in den Schatten unter dem Apfelbaum ein Tier lauerte. Jener spezielle Apfelbaum befand sich nur etwa fünfzig Meter entfernt – keine große Entfernung, wenn das Tier sich schnell bewegte. Leider gab es im Obstgarten keinerlei Waffen, nichts, was sich schwingen oder werfen ließ. Außer Äpfeln. Den Blick auf den zwei Reihen entfernten Baum geheftet, stolperte sie ein paar Schritte rückwärts und kauerte sich hin, um zu Boden gefallene Äpfel aufzuheben. Gewiss, keine besonders wirkungsvolle Waffe, aber ein paar gut gezielte Äpfel mochten reichen, um den Angriff eines tollwütigen Waschbären oder Murmeltiers abzuwehren. Mit zwei Äpfeln in der linken Hand und einem in der rechten ging sie langsam vorwärts. Sie wollte zur anderen Seite des Baumes gelangen, um zu sehen, ob sich tatsächlich etwas in dessen Schatten versteckte. Holly passierte die erste Baumreihe und näherte sich der zweiten. Der Baum, hinter dem das geheimnisvolle Tier verschwunden war, befand sich nur noch vier andere Bäume entfernt. Immer noch konnte sie nichts erkennen. Was immer sie flüchtig gesehen haben mochte, es musste sich flach auf den Boden pressen, wie Pinky es oft getan hatte, wenn er etwas auflauerte.
Wurde nun ihr aufgelauert? Wenn dem so war, konnten sich drei mickrige Äpfel als spärliche Verteidigung entpuppen. Sie fragte sich, ob es in Missouri Luchse gab. Wahrscheinlich schon, aber sie glaubte nicht; etwas so Großes wie einen Luchs erspäht zu haben. Andererseits hatte sie natürlich noch nie einen Luchs in natura gesehen. Mittlerweile hatte sie sich dem Apfelbaum auf kaum zehn Meter genähert – zehn Meter, die sie von etwas trennten, das sich als tollwütiges Tier herausstellen konnte. Holly blieb stehen und wog die Situation ab. Wenn sie tatsächlich etwas Tollwütiges gesehen hatte, warum versteckte es sich dann in den Schatten? Tollwütige Tiere fürchteten Menschen normalerweise nicht. Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Welches Tier dort unter dem Baum auch kauern mochte, wahrscheinlich war es gesund und fürchtete sich mehr vor ihr als sie sich vor ihm. Holly öffnete die linke Hand, ließ zwei der Äpfel zu Boden fallen und behielt nur jenen in der Rechten. Sie fühlte sich töricht, weil sie sich ihrer Furcht ergeben hatte. Mike würde zweifellos hemmungslos lachen, wenn sie ihm erzählte, was geschehen war. Wie sollte sie je eine gestandene Frau vom Land werden, wenn selbst die geringste Bewegung ihr Angst einjagte? Sie war gerade einen weiteren Schritt auf den Baum zugegangen, als sie hinter sich einen seltsamen, zischenden Laut vernahm. Er erinnerte sie an die Geräusche, die bestimmte Reptilien von sich gaben. Zugleich klang es so, als spräche jemand mit leiser Flüsterstimme. Sie wirbelte herum und sah, wie ein zweiter Schatten unter den Baum unmittelbar hinter ihr huschte. Kein tollwütiger Waschbär oder Hund, auch kein Murmeltier. Nur ein Schatten, kaum mit dem Auge zu erfassen. Ein kleiner Fleck rauchigen Graus, sonst nichts.
Die Bewegung erfolgte so schnell, dass sie nur einen flüchtigen Blick darauf erhaschte, dennoch bestand kein Zweifel daran, was sie gesehen hatte. Der Schatten floss wie Wasser über das Gelände, eine Bewegung, die sich gänzlich von allem unterschied, was sie je beobachtet hatte. Ein wenig wie der Schatten eines fahrenden Autos, wenn man ihn aus dem Auto betrachtete, während er verzerrt und wabernd über den Boden raste. Plötzlich ertönte hinter ihr ein zweiter zischender Flüsterlaut. Holly wirbelte jäh herum, als ihr klar wurde, dass sie dem ersten Schatten den Rücken zugewandt hatte. Jener Schatten hatte sich aus seinem Versteck unter dem Apfelbaum gelöst und befand sich auf halbem Wege zu Holly, als sie sich umdrehte. Wiederum handelte es sich nur um einen dunklen Fleck auf dem Boden, eine Schwärze, die sich aus eigenem Antrieb fortbewegte. »Nein!«, kreischte Holly und schleuderte den Apfel, den sie in der rechten Hand hielt. Das Geschoss schlug unmittelbar vor dem Schatten auf und ließ ihn nach links ausscheren. Binnen eines Lidschlags befand er sich zwei Reihen weiter und entfernte sich von ihr. Sie beobachtete, wie er unter einem der Bäume jener Reihe verschwand. Während sie noch zu verstehen versuchte, was sie gesehen hatte, ergriff sie die beiden anderen Äpfel, die sie zuvor fallen gelassen hatte, und warf sie auf den ihr am nächsten stehenden Baum. Der erste Apfel verfehlte sein Ziel völlig. Der zweite traf mit dumpfem Pochen den Stamm. Als das zweite Geschoss gegen den Baum prallte, raste ein weiterer Schatten aus der Dunkelheit hervor und von ihr weg. Es sind zwei. Aber zwei wovon? Was um alles in der Welt ist das? Keiner der beiden Schatten flüchtete weit. Stattdessen huschten beide in die Dunkelheit unter einem der Apfelbäume
und gerieten außer Sicht. Holly konnte keinen der beiden erkennen, dennoch wusste sie, dass sie da waren. Und sie beobachteten. Warteten. Während sie immer noch bezweifelte, dass was sie gesehen hatte real sein konnte, und versuchte, eine logische Erklärung dafür zu finden, hob sie mehrere weitere Äpfel vom Boden auf. Halb erwartete sie, dass die Schatten wieder auftauchen würden, als sie sich umdrehte, um die Äpfel einzusammeln, aber sie blieben verborgen. Ebenso wenig zeigten sie sich, als Holly zurück zum Haus aufbrach. An der Hintertür hielt sie inne und fragte sich, was sie soeben bezeugt hatte. War sie tatsächlich mit etwas in Berührung gekommen, das sich rational nicht erklären ließ? Waren die Schatten übernatürlichen Ursprungs, oder hatte sie sich alles nur eingebildet? Wenn es sich um etwas Übernatürliches gehandelt hatte, musste sie jemanden anrufen – jemanden, der sich ihre Geschichte anhören würde, ohne zu lachen. Holly beobachtete den Obstgarten noch ein paar Minuten. Alles wirkte völlig normal. Wieder überlegte sie, ob sie ein Opfer ihrer Einbildung geworden sein könnte. Dann ließ sie die eingesammelten Apfel fallen, öffnete die Hintertür und ging ins Haus. Sie schloss die Tür ab und steuerte auf das Wohnzimmer zu, um nach Tommy zu sehen. Er saß auf dem Sofa und schaute fern. Anscheinend hatte der Junge sich von seinem Furcht erregenden Abenteuer im Wald erholt. Holly streichelte ihm kurz über den Kopf, dann kehrte sie in die Küche zurück. Sie spähte zur Hintertür hinaus, konnte jedoch nichts Außergewöhnliches erkennen. Holly griff zum Telefon in der Küche. Sie wählte aus dem Gedächtnis eine Nummer und wartete.
Nach dreimaligem Klingeln meldete sich am anderen Ende der Leitung eine Stimme. »Hallo, Mom«, sagte Holly. »Ich bin’s. Wir müssen uns unterhalten.«
KAPITEL 22
Mike traf gerade rechtzeitig zum Abendessen zu Hause ein. Zum einen war er länger als geplant in der Bibliothek geblieben, zum anderen hatte er auf dem Heimweg noch beim Eisenwarenladen angehalten, um ein paar zusätzliche Kettenschlösser für die Vorder- und Hintertür zu kaufen. Außerdem hatte er ein Dutzend Dübelstäbe mitgenommen; indem er jede Fensterschiene mit einem Dübelstab verkeilte, würde er verhindern, dass jemand ein Fenster von außen öffnen könnte. Er trug die Dübelstäbe und Schlösser ins Wohnzimmer, wo er sie auf den Kaffeetisch legte. Gleich nach dem Abendessen wollte er sich bei den Fenstern und Türen an die Arbeit machen. Als er das Zimmer wieder verlassen wollte, fiel ihm auf, dass etwas daran anders wirkte. Es dauerte kurz, bis ihm klar wurde, dass sämtliche Kachinapuppen fehlten. Die Ablage, auf der sie gestanden hatten, präsentierte sich völlig leer. »Was um alles in der Welt…?« Rasch ging er in die Bibliothek – auch dort fand er keine Kachinas mehr vor. Stattdessen waren mehrere angezündete Kerzen strategisch über den Raum verteilt worden. Kerzen bei Tageslicht? Mike verließ die Bibliothek und begab sich in die Küche. Holly deckte gerade den Tisch mit Tellern und Besteck. Auf dem Herd stand ein Topf mit Spagetti, und das Aroma in der Luft verriet, dass es auch frisches Knoblauchbrot geben würde.
»Du kommst gerade rechtzeitig zum Essen«, sagte Holly und schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln. »Wie war’s in der Bibliothek? Haben deine Recherchen etwas ergeben?« »Ein paar Dinge schon«, antwortete Mike und durchquerte den Raum, um sich am Spülbecken die Hände zu waschen. »Ja? Was zum Beispiel?« »Das ist etwas kompliziert. Ich erzähle es dir nach dem Essen.« Er drehte den Wasserhahn ab und griff sich ein Papierhandtuch, um sich die Hände abzutrocknen. »Übrigens, was ist mit den Kachinas passiert?« Holly legte in die Mitte des Tischs ein Schneidbrett, auf das sie den Topf mit Spagetti stellte. »Ich habe sie in Kartons gepackt. Sie sind im Keller.« »Alle? Warum?« Sie drehte sich zu ihrem Mann um. »Weil sie mir unheimlich waren. Deshalb. Ich hatte es satt, in ein Zimmer zu gehen und von hundert hässlichen Puppen angestarrt zu werden. Außerdem war ich es leid, sie ständig umdrehen zu müssen. Offensichtlich findet es jemand lustig, sie verkehrt herum aufzustellen. Ich nicht. Deshalb habe ich dem Spaß ein Ende bereitet, indem ich sie weggeschafft Habe. Wollen mal sehen, wer zuletzt lacht.« Mike dachte darüber nach, dann nickte er. »Ich kann dir keinen Vorwurf daraus machen. Dieser Scherz war schon beim ersten Mal nicht komisch. Trotzdem schade, dass die Puppen weggepackt sind – ich mochte sie wirklich. Meine Großmutter hat eine richtig schöne Sammlung zusammengebracht, schöner als jede, die ich bisher gesehen habe.« Holly lächelte. »Wenn du damit spielen willst, kannst du ja jederzeit in den Keller gehen.« »Schon gut. So sehr gefallen sie mir auch wieder nicht.« Er grinste sie an. »Also, was machen wir mit all dem Platz auf den Ablagen?«
»Mir fällt schon etwas ein. Und falls nicht, können wir Bücher draufstellen.« Holly rief die Kinder zum Abendessen. Tommy trudelte als Erster ein, wurde aber zurück nach oben zum Händewaschen geschickt. Megan tauchte etwa eine Minute später auf. Obwohl sie den linken Fuß immer noch ein wenig schonte, war die Verletzung ausreichend verheilt, um sie am nächsten Tag wieder in die Schule zu schicken. Nach dem Abendessen half Mike dabei, den Tisch abzuräumen und das Geschirr zu spülen. Danach ging er hinaus auf die Veranda, um eine Zigarette zu rauchen und das Wetter zu genießen. Holly und Tommy gesellten sich ein paar Minuten später zu ihm. Der besorgte Ausdruck im Gesicht seines Sohnes verriet ihm, dass den Jungen etwas bedrückte. Mike forderte ihn auf, sich zu setzen, danach ließ er sich schildern, was Tommy an jenem Tag widerfahren war. Mike war alles andere als erfreut zu erfahren, dass sein Sohn ihm nicht gehorcht hatte und in den Wald gegangen war, aber es hatte keinen Sinn, wütend zu werden, ehe er alles gehört hatte. Im Verlauf der Geschichte wurde sein Ärger nach und nach von Sorge um Tommys Sicherheit verdrängt. Als sein Sohn ihm berichtete, wie er von Schatten verfolgt worden war, nistete sich ein Gefühl des Unbehagens in Mikes Magengrube ein. Zum zweiten Mal in zwei Tagen hörte er von seinen Kindern, dass sie von Schattenkreaturen gehetzt worden seien. Er glaubte nicht, dass Tommy oder Megan es sich ausdachten; zumindest fiel ihm kein Grund ein, weshalb sie es tun sollten. Aber vermutlich hatten sie sich die Schatten nur eingebildet, waren sie nur für sie real gewesen und von etwas ausgelöst worden, das sie beide im Fernsehen gesehen hatten.
Als Tommy mit seiner Schilderung fertig war, sagte Mike: »Verstehst du jetzt, weshalb ich nicht wollte, dass du allein in den Wald gehst?« Der Junge nickte. »Es kann gefährlich sein, besonders für Kinder. Dort gibt es giftige Schlangen, Spinnen und weiß Gott was noch alles. Außerdem kann man sich leicht verirren. Geschieht andauernd. Was, wenn du den Weg nach Hause nicht gefunden hättest? Und die Nacht dort draußen hättest verbringen müssen, ganz allein in der Dunkelheit, ohne Essen und Trinken, dafür mit jeder Menge wilder Tiere rings um dich. Hätte dir das gefallen?« Tommy schüttelte den Kopf. Tränen traten ihm in die Augen. »Verdammt richtig, es hätte dir kein bisschen gefallen. Und weißt du auch, warum? Ich verrate es dir: Weil es im Wald schauerliche Kreaturen gibt, die einen Achtjährigen nur allzu gern auffressen würden. Sie würden ihn fressen und die Knochen wieder ausspucken. Sauber abgenagt und weiß wie Zähne würden sie rumliegen. Und was wäre dann? Dann gäbe es für dich keine Mommy, keinen Daddy und keine große Schwester zum Spielen mehr. Du wärst nur noch ein Haufen Knochen auf dem Waldboden. So würdest du enden.« Mittlerweile weinte Tommy hemmungslos. Mike blickte von seinem Sohn zu Holly und sah die Wut in ihrem Gesicht. Er hatte es übertrieben und dem Jungen absichtlich eine Heidenangst eingejagt, aber er wollte sicherstellen, dass Tommy sich nie wieder alleine in den Wald trauen würde. Er streckte die Hand aus, streichelte Tommy über den Kopf und fügte in sanfterem Tonfall hinzu: »Aber solange du auf dem Hof bleibst, wo es sicher ist, brauchst du keine Angst zu haben. Und wenn du mit mir in den Wald gehst, auch nicht, weil sich die schauerlichen Kreaturen vor mir fürchten. Ich
kann nämlich selbst ziemlich schauerlich sein, findest du nicht?« Mike schnitt eine Grimasse, indem er die Nase hochdrückte und gleichzeitig die unteren Lider abwärts zog. Tommy lachte und blies dabei versehentlich Rotz aus der Nase, wodurch er nur noch mehr lachen musste. »Und jetzt geh zurück ins Haus. Schau fern, wenn du willst. Wenn du mir versprichst, nicht wieder allein in den Wald zu gehen, gibt es auch keine Strafe.« »Ich versprech’s«, gelobte Tommy und wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab. »Tommy, nimm gefälligst ein Taschentuch!«, forderte Holly ihn auf, wenngleich zu spät. Mike gab dem Jungen einen Klaps auf den Hintern und schickte ihn seiner Wege. Holly wartete, bis die Insektenschutztür sich geschlossen hatte, ehe sie sich ihrem Ehemann zuwandte. »Was hast du vor, willst du ihn zu Tode erschrecken?« Sie versuchte erst gar nicht, die Wut aus ihrer Stimme zu verbannen. »Besser ein verängstigtes Kind als ein totes«, entgegnete Mike. »Im Wald ist es für einen Jungen seines Alters gefährlich. Er hätte sich verirren können oder auf eine Giftschlange treten oder sonst was. Ich wollte ihm Angst einjagen, damit er es sich zwei Mal überlegt, bevor er noch einmal alleine loszieht.« »Er war heute Nachmittag schon verängstigt genug. Ich bezweifle, dass er auch nur daran denken würde, noch einmal alleine in den Wald zu gehen. Was du zu ihm gesagt hast, wird ihm wahrscheinlich bloß Albträume bescheren.« »Ein ordentlicher Albtraum könnte genau das sein, was notwendig ist, um seine Abenteuerlust zu dämpfen.«
»Für dich ist das leicht gesagt«, knurrte Holly. »Du stehst ja nicht auf, wenn er schreiend aufwacht. Außerdem wäre er gar nicht losgezogen, wenn du ihm gesagt hättest, dass seine Katze tot ist.« Mike schaute zur Insektenschutztür. »Psst… sonst hört er dich noch.« »Und wenn schon. Früher oder später muss er es ohnehin erfahren. Wir können es nicht ewig vor ihm verbergen.« Mike nickte. »Du hast Recht. Aber er muss es nicht ausgerechnet heute Abend herausfinden, oder? Ich wollte es ihm in den nächsten Tagen sagen, wenn sich eine Gelegenheit ergibt, es ihm schonend beizubringen. Jetzt wäre wohl nicht der beste Zeitpunkt dafür.« Holly setzte sich auf die Stufen und sah ihn an. »Was, wenn es keine Einbildung gewesen ist, was Tommy gesehen hat? Was, wenn diese Schatten, die er sagt, gesehen zu haben, real sind?« Mike hätte beinah laut aufgelacht. »Was? Ich soll glauben, dass ein paar Schatten meinen Sohn durch einen Obstgarten gejagt haben? Das hört sich nach einer richtig schlechten Science-Fiction-Geschichte an.« »Und was, wenn ich dir sage, dass ich sie auch gesehen habe?« »Das ist nicht den Ernst, oder?« »Ich meine es todernst«, entgegnete Holly und sah ihn unverwandt an. »Als Tommy heute Nachmittag ins Haus gelaufen kam, bin ich hinaus in den Obstgarten gegangen, um nachzusehen, was ihn so verängstigt hatte. Zuerst konnte ich nichts entdecken, aber dann habe ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrgenommen. Nur ganz flüchtig, von etwas, das sehr schnell über den Boden gehuscht ist.
Einen richtigen Blick konnte ich nicht darauf werfen, weil es in den Schatten unter einem der Apfelbäume verschwand. Aber ich wusste, dass es da war und mich beobachtet hat.« »Woher wusstest du das? Konntest du irgendwelche Augen erkennen?«, fragte Mike. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, konnte ich nicht. Trotzdem wusste ich, dass es da war. Es mag sich komisch anhören, aber ich habe gespürt, dass es mich beobachtet. Es hat mich beobachtet und gewartet. Ich stand da und habe mehrere Minuten lang hingestarrt. Dann ist das zweite Ding aufgetaucht.« »Es waren zwei?« Holly nickte. »Das zweite schlich sich von hinten an mich an, während ich in die Richtung des ersten geschaut habe. Ich hätte es gar nicht bemerkt, wenn ich es nicht gehört hätte. Es gab ein merkwürdiges Geräusch von sich, einen seltsam zischenden Flüsterlaut. Ich habe mich danach umgedreht und gesehen, wie etwas auf den mir am nächsten wachsenden Apfelbaum zugerast ist. Diesmal hatte ich einen klaren Blick darauf, nur gab es nicht viel zu sehen. Es war bloß ein dunkler Schatten, der über den Boden glitt, ein Schatten kaum größer als ein kleiner Hund.« »Vielleicht war es der Schatten einer vor die Sonne treibenden Wolke.« »Daran habe ich auch gedacht«, sagte sie, »aber dafür war er zu dunkel. Außerdem flüstern Schatten nicht. Und sie laufen nicht weg, wenn man Äpfel nach ihnen wirft.« »Du hast sie mit Äpfeln beworfen?« »Während ich mich dem zweiten Schatten zugewandt hatte, kam der erste auf mich zugerast. Ich habe ihn gehört – es war derselbe Flüsterlaut, als hätte er etwas vor sich hingetuschelt. Ich habe mich umgedreht und einen Apfel danach geworfen. Der Schatten hat die Richtung geändert und ist vor mir
geflüchtet. Er verschwand unter einem der Bäume zwei Reihen von mir entfernt. Dann warf ich weitere Äpfel nach dem anderen Schatten, und er nahm auch Reißaus.« »Du bist meine Frau, und ich liebe dich aus ganzem Herzen, aber ich muss gestehen, es fällt mir äußerst schwer, das zu glauben.« »Meinst du vielleicht, ich denke mir das aus?« Ihre Augen sprühten Funken. Mike hob schützend die Hände. »Nein. Nein, ganz und gar nicht. Ich glaube schon, dass du etwas gesehen hast. Wahrscheinlich haben auch Megan und Tommy etwas gesehen. Es fällt mir nur schwer zu verdauen, dass es bloß ein Schatten gewesen sein soll, nichts weiter. Es muss eine logische Erklärung dafür geben: eine Tücke des Lichts, eine Wolke, ein am Himmel kreisender Bussard. Irgendetwas.« »Der Schatten, der Megan verfolgt hat, war im Haus«, konterte Holly. »Dort gibt es weder Wolken noch Bussarde.« »Ich weiß, ich weiß.« Mike nickte. »Trotzdem muss es eine vernünftige Erklärung dafür geben.« »Vielleicht. Vielleicht auch nicht«, erwiderte Holly. »Was soll das heißen?« »Ich habe heute Nachmittag mit meiner Mutter telefoniert. Ihr zufolge könnten die Schatten eine Art Geister sein. Sie denkt, ihnen ist etwas Schlimmes widerfahren, das sie hier festhält. Außerdem glaubt sie, dass sie böse sein könnten.« Mike lachte. »Ich sehe schon die Schlagzeilen: ›Böse Geister greifen Familie eines Horrorschriftstellers an‹.« »Die Schatten sind real – ich habe sie mit eigenen Augen gesehen«, beharrte Holly. »Und was meine Mutter sagt, ergibt mehr Sinn als alles, was mir dazu einfällt. Du weißt, dass ich nicht an Geister glaube. Nicht wirklich. Aber seit wir hier eingezogen sind, geht etwas Seltsames vor sich. Und du hast
selbst gesagt, dass auf dem Grundstück im Bürgerkrieg eine Schlacht ausgetragen wurde.« »Ein kleines Geplänkel. Keine Schlacht.« »Was auch immer. Jedenfalls sind dabei Menschen gestorben.« »Und was sollen wir der Meinung deiner Mutter nach tun, um diese lästigen Geister loszuwerden?« »Sie schlägt vor, ein paar Kerzen anzuzünden und ein Gebet zu sprechen.« »Also waren all die Kerzen ihre Idee? Ich hätte es wissen müssen. Weiß sie auch, dass es nicht besonders umsichtig ist, in einem Holzhaus Kerzen anzuzünden, erst recht nicht in einem so alten wie diesem?« »Es sind nur ein paar, und sie stehen alle in der Bibliothek. Ich habe darauf geachtet, dass sie mitten im Raum sind, weit weg von den Vorhängen oder sonstigen Dingen, die Feuer fangen könnten. Außerdem werde ich sie nicht die ganze Nacht brennen lassen oder wenn wir nicht zu Hause sind, nur, während wir hier sind und sie im Auge behalten können.« »Und haben die Kerzen geholfen?« Holly zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ist wohl noch zu früh, um das zu sagen.« »Hast du deiner Mutter auch von den Gesichtern erzählt?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich finde, die Schatten waren für einen Tag genug.« Holly stand auf und wischte sich hinten über die Hose. »Kommst du mit rein?« »In ein paar Minuten. Ich möchte noch ein Weilchen hier sitzen.« Holly nickte und ließ ihn auf der Veranda zurück. Ursprünglich hatte Mike vorgehabt, seiner Frau zu erzählen, was er in der Stadtbibliothek herausgefunden hatte, aber nach ihrer Geschichte über diese Schatten fürchtete er sich fast
davor, ihr gegenüber zu erwähnen, was Connie Widman über seine Großmutter gesagt hatte. Es schien kein günstiger Zeitpunkt, Gerede über Schreckgespenster und Kobolde aufzubringen, wenn die halbe Familie bereits Angst vor Schatten hatte. Dadurch hätte er die Lage nur noch verschlimmert. Mike widerstrebte es zu glauben, die Schatten könnten Geister sein. Er hoffte nach wie vor, es würde sich bald eine logische Erklärung finden. Und bevor er zu Bett ging, würde er trotzdem die neuen Schlösser an den Türen montieren und die Dübelstäbe an den Fenstern anbringen, um zu verhindern, dass sie von außen geöffnet werden konnten. Er schnipste den Stummel seiner Zigarette ins Gras und stand auf. Vor dem Schlafengehen erwartete ihn noch jede Menge Arbeit.
In jener Nacht wurde er zwei Mal von seltsamen Geräuschen aus tiefem Schlaf gerissen. Die Laute stammten von unten. Aber als er ihnen nachging, fand er alles in bester Ordnung vor. Im Haus herrschte Stille, allerdings war es eine merkwürdige Stille, die ihn empfing, als er die Treppe hinunterstieg. Es fühlte sich an, als hätte er jemanden bei etwas gestört, der ihn nun aus der Dunkelheit beobachtete. Natürlich war dort niemand, dennoch konnte er das Gefühl nicht abschütteln, dass hinter seinem Rücken etwas vor sich ging. Obwohl Mike in keinem der Räume, die er durchsuchte, jemanden antraf, vermeinte er, nicht alleine zu sein. Er befand sich auf halbem Wege die Treppe zurück hinauf, als ihm eine Idee kam. Er kehrte um, ging zurück hinab und in Hollys Atelier, wo er das Licht einschaltete und in den Regalen kramte, bis er fand, wonach er suchte. Mike griff sich eine Rolle transparentes Klebeband, eine Spule schwarzen Faden
und eine Schere. Danach schaltete er das Licht wieder aus und verließ den Raum. Langsam, um keine Geräusche zu verursachen, begab er sich nach oben und schlich den Flur hinab, bis er zu Megans Zimmer gelangte. Seine Tochter war bereits vor Stunden zu Bett gegangen und sollte längst tief und fest schlafen. Um ganz sicher zu gehen, hielt er dennoch vor der Tür inne und lauschte angestrengt. Während er so im Flur stand, fühlte er sich wie ein Spanner. Außerdem beschlich ihn ein schlechtes Gewissen, denn was er vorhatte, stellte die Aufrichtigkeit seiner Tochter in Frage. Sollte sie es herausfinden, würde dies mit Sicherheit einen Keil in ihre Beziehung treiben – eine Beziehung, die daraus geschmiedet worden war, dass er Megan vertraut und ihre Privatsphäre respektiert hatte. Als er keine Geräusche aus ihrem Zimmer vernahm, war er überzeugt davon, dass sie schlief. An Schultagen blieb sie selten lange auf, obwohl sie die Erlaubnis dazu hatte. Mike trat seitlich neben die Tür und legte die Gegenstände, die er aus Hollys Atelier geholt hatte, auf den Teppich. Er hielt die Spule mit schwarzem Faden in der linken Hand und schnitt ein Stück ab, das lang genug war, um sich über die Breite der Tür zu erstrecken. Danach befestigte er den Faden an beiden Seiten des Rahmens mit ein paar Streifen Klebeband, wobei er darauf achtete, dass der Faden sich etwa fünfzehn Zentimeter über dem Boden befand. Er stand auf und trat zurück, um sein Werk zu bewundern. Der Faden war sehr dünn und würde mühelos reißen, falls jemand ihn beim Betreten oder Verlassen des Zimmers übersähe. Etwas Dickeres zu verwenden, wäre ihm ohnehin nie in den Sinn gekommen, schließlich wollte er nicht, dass Megan stolperte – er wollte nur wissen, ob sie ihr Zimmer während der Nacht verließ. Wenn dem so wäre, würde sie die Falle
nicht bemerken, denn in der Dunkelheit war der Faden so gut wie unsichtbar. Am nächsten Morgen, bevor sie aufstand, würde er ihn wieder entfernen. Du bist wirklich ein verkommener Mistkerl! Vermutlich stimmte das, aber Mike war fest entschlossen, herauszufinden, wer für die seltsamen Vorkommnisse der vergangenen Tage verantwortlich zeichnete. Falls es tatsächlich Megan war, die sich nachts aus dem Zimmer schlich, um die Puppen umzudrehen und seltsame Gesichter auf den Küchenboden zu malen, dann wollte er es wissen. Eine versteckte Videokamera aufzubauen, wäre noch besser gewesen, aber er besaß keine geeignete Kamera, also würde ein wenig guter, alter amerikanischer Erfindungsreichtum genügen müssen. Er hob Klebeband, Schere und Faden auf, schlich den Flur hinab und wiederholte den Vorgang an Tommys Tür. Zwar glaubte er nicht, dass sein Sohn etwas mit den rätselhaften Vorfällen zu tun haben könnte, dennoch wollte er sichergehen. Die Falle mit dem schwarzen Faden würde jegliche Zweifel über die Unschuld seines Sohnes ausräumen. Nachdem er mit Tommys Tür fertig war, sammelte er die Utensilien ein und begab sich zurück ins Bett. Als Mike erneut aufwachte, war es kurz vor Sonnenaufgang. Zunächst war er rundum zufrieden damit, einfach liegen zu bleiben und an die Decke zu starren, zumal er erst in einer Stunde aufstehen musste, dann jedoch fielen ihm die Fallen ein. Er musste die Fäden und Klebestreifen entfernen, bevor Holly oder die Kinder sie sahen. Auf eine Diskussion darüber, warum er den Kindern nicht mehr vertraute, konnte er getrost verzichten. Mike stieg aus dem Bett, schlüpfte leise aus dem Pyjama und stattdessen in eine Freizeithose, Slipper und ein Polohemd. Holly regte sich einmal, während er sich anzog, wurde aber
nicht wach. Mike schlich durch das Zimmer, öffnete die Tür und trat hinaus auf den Flur. Aus den Zimmern der Kinder drangen keinerlei Geräusche, deshalb war er überzeugt davon, dass sie noch schliefen. Tommy spielte immer seine Disney-Kassetten ab, während er sich für die Schule anzog. Megan zog es vor, sich dabei die Top 40 eines Rocksenders anzuhören. Er überprüfte zuerst Tommys Zimmer, wo der Faden sich noch unversehrt an Ort und Stelle befand. Demnach hatte sein Sohn das Zimmer während der Nacht nicht verlassen. Dasselbe Bild bot sich bei Megans Zimmer. Zufrieden darüber, dass seine Kinder nicht nachts durch das Haus geschlichen waren, entfernte Mike auch die Fallen, bevor er nach unten ging. Er hatte noch fast eine Stunde totzuschlagen, ehe er die Kinder wecken musste, also beschloss er, eine Kanne Kaffee aufzusetzen und ein wenig zu lesen. Während er sich den Schlaf aus den Augen rieb, betrat er die Küche und schaltete das Licht ein. »Verdammt noch mal…« Er blieb an der Tür stehen, wie erstarrt von dem Anblick, der sich ihm bot. Die Gesichter prangten nach wie vor auf dem Fliesenboden und starrten zu ihm empor, doch seit er zuletzt hier gewesen war, hatte sich etwas Neues verändert. Sämtliche Schranktüren standen offen, und auf dem Boden umringten Töpfe und Pfannen den Küchentisch wie Indianer einen Planwagen. Wut stieg in Mike hoch. Während er geschlafen hatte, hatte jemand das Haus betreten, die Schränke geöffnet und die Töpfe und Pfannen sorgfältig um den Tisch angeordnet. Aber wie um alles in der Welt war derjenige ins Haus gelangt? Hastig überprüfte er die Tür, die in den Keller führte. Sie erwies sich als mit einem Riegel und zwei verschiedenen Ketten versperrt, darunter das neue Kettenschloss, das er am
Vorabend montiert hatte. Durch die Kellertür konnte sich unmöglich jemand Zugang verschafft haben. Dasselbe galt für die Hintertür. Auch sie war nach wie vor abgeschlossen und konnte nicht von außen geöffnet worden sein. Er überprüfte das Fenster über dem Spülbecken, fand es jedoch fest verschlossen vor. Der Dübelstab, den er in der Laufschiene verkeilt hatte, befand sich nach wie vor an Ort und Stelle. Ohne die Scheibe zu zerbrechen, konnte niemand von außen das Fenster geöffnet haben. Er verließ die Küche, um nach der Vordertür und all den anderen Fenstern zu sehen. Überall erwartete ihn dasselbe Bild – alles fest verschlossen, sämtliche Dübelstäbe vorhanden. Mike blieb stehen und sah sich um. Ihm fiel keine Möglichkeit ein, wie jemand ins Haus gelangt sein sollte, es sei denn, jemand besäße die Fähigkeit, durch solide Wände zu gehen. Er kehrte in die Küche zurück, wo er die Töpfe und Pfannen auf dem Boden eine Weile anstarrte, ehe er begann, sie aufzuheben und dort zu verstauen, wo sie hingehörten. Mike wollte Holly und den Kindern den Anblick ersparen, da er ihnen bestimmt Angst einjagen würde. Verflucht, allmählich fängt das alles an, selbst mir Angst einzujagen. Mit einer Pfanne in jeder Hand hielt er inne. Jemand war wiederholt in ihr Haus eingedrungen, dennoch war nie etwas mitgenommen worden. Raub war demnach offenkundig nicht das Motiv. Und abgesehen von Pinkys Tod und der zerbrochenen Bärenkachina war auch sonst nie ein Schaden angerichtet worden. Stattdessen waren Fratzen auf den Boden gemalt, Puppen umgedreht und Töpfe und Pfannen in einem Kreis angeordnet worden. Warum? Sollte das alles tatsächlich nur ein aufwändiger Streich sein? Oder gab sich jemand all diese Mühe, um zu versuchen, sie einzuschüchtern?
Der Gedanke ließ ihn frösteln. Anfangs hatte er die seltsamen Ereignisse der vergangenen Tage für eine Art Witz gehalten, allmählich jedoch zeichnete sich ab, dass jemand vorsätzlich versuchte, ihnen Angst einzujagen. Warum? Dann breitete sich plötzlich ein Lächeln in seinem Gesicht aus, als ihn eine Erkenntnis ereilte, durch die alles einen Sinn ergab. Er und seine Familie waren in Braddock nicht besonders freudig aufgenommen worden. Einige schienen neidisch darauf zu sein, dass er ein erfolgreicher Schriftsteller war. Anderen – wie dem feinen Herrn Pfarrer und seiner Kirchgemeinde – war die Art der Bücher, die er schrieb, ein Dorn im Auge. Wieder andere verbanden mit ihm vermutlich seine Großmutter und hatten ihn als ebenso verrückt abgestempelt. Was die Gründe auch sein mochten, jemand wollte ihn nicht in der Gegend haben und schien bereit, alles Erdenkliche zu tun, um ihn und seine Familie dazu zu bringen, wieder wegzuziehen. »Tja, das wird nicht funktionieren«, sprach Mike laut aus. »Ich lasse mich nicht von einem Rudel zurückgebliebener Hinterwäldler vertreiben.« Er stellte die Pfannen auf der Anrichte ab. »Das reicht jetzt langsam. Wenn der Sheriff nichts unternehmen will, werde ich es selbst tun. Diesmal gibt es Krieg.«
KAPITEL 23
Eigentlich hatte Mike nicht vorgehabt, Holly davon zu erzählen, was er an jenem Morgen in der Küche vorgefunden hatte, aber sie spürte, dass ihn etwas bedrückte. Nachdem die Kinder zur Schule geschickt waren, stellte sie ihn zur Rede, während sie am Küchentisch saßen. Statt sich eine Geschichte auszudenken, beschloss Mike, ihr die Wahrheit zu sagen. Holly zeigte sich ziemlich erschüttert, als er ihr berichtete, dass er die Töpfe und Pfannen in einem Kreis um den Tisch angeordnet vorgefunden hatte. Dennoch überraschte ihn ihre Reaktion darauf. »Mike, ich finde, wir sollten wegziehen«, sagte Holly und stand auf, um sich eine weitere Tasse Kaffee einzuschenken. Sie fügte Milch und Zucker hinzu, dann setzte sie sich wieder an den Tisch. »Wegziehen?«, fragte Mike, der kaum glauben konnte, was er gehört hatte. Sie nickte. »Irgendetwas geht hier vor sich. Etwas Seltsames. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich habe Angst. Sofern dieser Ort nicht verwunschen ist, verschafft sich jemand Zutritt zu unserem Haus. Es ist unmöglich zu sagen, was derjenige noch alles anstellen könnte. Ich mache mir Sorgen wegen der Kinder. Was, wenn der Unbekannte seiner Spielchen überdrüssig wird und stattdessen beschließt, den Kindern etwas anzutun? Ich denke, wir sollten die Polizei einschalten…« Mike schüttelte den Kopf. »Das wird nichts bringen. Der Sheriff glaubt uns ja nicht – er denkt doch, ich täte das alles selbst, um Publicity zu kriegen.«
»Dann lass uns von hier verschwinden. Sofort. Noch heute. Die ersten ein, zwei Tage übernachten wir in einem Hotel. Dort sind wir sicher.« »Du willst weglaufen?« Er runzelte die Stirn. »Einfach aufgeben? Zeigen, dass wir Angst haben?« »Ich habe Angst«, erwiderte Holly. »Und die Kinder auch. Hier geschehen Dinge, die sich nicht erklären lassen.« »Tja, ich für meinen Teil habe keine Angst«, verkündete Mike und stand auf, um sich seine dritte Tasse Kaffee des Tages zu holen. Eigentlich wollte er gar keinen mehr trinken, aber er verspürte das Bedürfnis, sich irgendwie zu beschäftigen. Hollys Worte machten ihn wütend, und es schien ihm besser, sich abzulenken, als sich verbal an ihr abzureagieren. »Nein, ich habe kein Angst. Nicht mehr. Vielmehr bin ich wütend, und ich lasse mich nicht aus meinem Haus vertreiben. Das hätten wir uns in New York nicht gefallen lassen, und ich lasse es mir auch hier nicht gefallen.« »New York war anders«, gab sie zu bedenken. »Dort hatten wir Freunde, außerdem hätte uns die Polizei ernst genommen. Hier haben wir niemanden, der uns hilft.« »Wir haben einander, und mehr haben wir früher auch nie gebraucht.« »Diesmal ist das anders, Mike.« Er schüttelte den Kopf. »Ich ziehe nicht weg. Jedenfalls noch nicht. Bestimmt nicht kampflos. Wenn du mit den Kindern weg willst, dann nur zu. Ich bleibe.« Einen Augenblick musterte Holly ihn schweigend, dann sagte sie: »Ohne dich gehe ich nicht.« Mike kehrte an den Tisch zurück und nahm Platz. »Sieh mal, bisher hat der Eindringling noch nichts getan, das darauf hinweist, er könnte gefährlich sein – «
»Und was ist mit Pinky? Findest du nicht, dass jemand, der wehrlose Katzen umbringt und ihnen anschließend die Augen aussticht, durchaus gefährlich ist?« »Falls Pinky umgebracht wurde«, entgegnete Mike. »Ich bin mir nicht mehr sicher. Vielleicht hatte der Sheriff Recht, und Pinky ist wirklich eines natürlichen Todes gestorben, bevor sich etwas an ihm zu schaffen gemacht hat.« »Das glaubst du doch selbst nicht.« »Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Alles, was ich weiß, ist, dass es abgesehen von Pinky den Anschein hat, als wollte uns jemand einen üblen Streich spielen. Früher haben das die Halbwüchsigen aus der Gegend andauernd gemacht, um meiner Großmutter Angst einzujagen. Was sie ihr angetan haben, war zwar gemein, aber sie wollten sie damit lediglich erschrecken. Sie haben nie etwas gemacht, wodurch sie zu Schaden hätte kommen können. Nicht einmal ein Fenster haben sie zerbrochen. Und um ganz ehrlich zu sein, ich glaube, meine Großmutter hat es selbst herausgefordert.« »Wie kannst du so etwas sagen?«, fragte Holly. »Niemand legt es darauf an, schikaniert oder eingeschüchtert zu werden.« »Ich bin ziemlich sicher, dass es keine Probleme gab, bis sie anfing, beim Büro des Sheriffs anzurufen und regelmäßig verdächtige Personen, kleine grüne Männchen und Hirngespinste zu melden. Braddock ist eine Kleinstadt, es ist so gut wie unmöglich, hier etwas geheim zu halten. Wahrscheinlich hat es nicht lange gedauert, bis jeder wusste, dass Vivian Martin nicht ganz richtig im Kopf war.« »Und?« »Und? Du weißt doch, wie Jungs im Teenageralter sind. Sie strotzen vor Hormonen und sind immer auf der Suche nach einem Abenteuer. Vermutlich gab es früher in der Gegend nicht viel zu tun – gibt es ja eigentlich immer noch nicht. Eine
alte Frau zu schikanieren, erst recht eine, die als geistig verwirrt galt, muss für sie ein gefundenes Fressen gewesen sein, um sich die Langeweile zu vertreiben. Zu dem Zeitpunkt hatte meine Großmutter bereits so oft im Büro des Sheriffs angerufen, dass man ihr nichts mehr glaubte, also bestand für die Teenager nicht einmal die Gefahr, dass sie Ärger bekommen könnten.« »Aber warum wir? Wieso werden wir belästigt?« »Vivian Martin zu terrorisieren, galt hier in der Gegend als Tradition, die von einer Generation zur nächsten weitergereicht wurde. Sich auf dieses Grundstück zu schleichen, um Unfug anzustellen, hat hier wahrscheinlich den gleichen Stellenwert wie das Betreten von Spukhäusern in anderen Städten. Es gilt wohl als Mutprobe. Und dann ist da noch die Kehrseite.« »Die da wäre?«, fragte Holly. »Ich könnte mir vorstellen, dem früheren Sheriff hat es sogar Vergnügen bereitet, dass jemand meine Großmutter schikanierte. Ihre ständige Anrufe wegen Gesichtern auf dem Boden dürften ihn ziemlich genervt haben.« »Deine Großmutter ist seit über sechs Monaten tot. Warum sollte immer noch jemand diese verfluchten Fratzen auf den Boden malen?« Er zuckte mit den Schultern. »Wer weiß? Vielleicht fällt es demjenigen schwer, mit der Gewohnheit zu brechen. Oder vielleicht ist das seine Art, sich auszudrücken.« »Sich auszudrücken?« Holly lachte höhnisch. »Kann derjenige seinen Spitznamen dann nicht an eine Gebäudemauer schmieren wie all die anderen Rowdys?« »Das wäre zweifellos einfacher und ungefährlicher, als nachts hier einzusteigen. Aber vielleicht macht gerade das Eindringen ins Haus den Reiz aus. Vielleicht ist es die
Herausforderung, es zu tun, ohne erwischt zu werden, genau das, was ihn anturnt.« Er zog eine Zigarette aus dem Päckchen auf dem Tisch und zündete sie an. »Oder vielleicht hat es etwas mit mir persönlich zu tun.« »Mit dir?« Er nickte. »Jeder in der Gegend weiß, dass Vivian Martin meine Großmutter war. Unter Umständen hält man mich für genauso verrückt, wie sie es war. Wer sie nicht mochte, mag mich wahrscheinlich genauso wenig. Die Abstammung spielt in diesen Breiten eine große Rolle. Alte Fehden werden von einer Generation zur nächsten weitergeführt. Und dann ist der Neidfaktor nicht außer acht zu lassen. Ich bin ein erfolgreicher Schriftsteller. Das könnte einem der Einheimischen ein Dorn im Auge sein. Dann wäre da noch dein Freund, der Pfarrer…« »Nenn ihn bloß nicht meinen Freund«, warnte sie ihn. Mike lächelte. »Ich könnte mir vorstellen, dem guten Herrn Pfarrer würde es nur allzu gut in den Kram passen, wenn wir aus der Nachbarschaft wegzögen. Vielleicht steckt ein Mitglied seiner Kirchgemeinde hinter den Fratzen auf dem Boden und dem ständigen Umdrehen der Kachinas.« »Würde mich nicht überraschen«, gab Holly zurück. »Und deshalb weigere ich mich, den Schwanz einzuziehen und wegzulaufen«, sagte Mike. »Bei meiner Großmutter mögen diese Leute mit solchem Unfug durchgekommen sein, aber bei mir werden sie das nicht. Ich werde herausfinden, wer hinter all dem steckt und weshalb es derjenige tut.« »Und die Schatten?« »Ich weiß nicht, was ihr gesehen habt oder was die Schatten verursacht hat. Aber ein Schatten kann niemanden verletzten, oder? Falls sich herausstellt, dass es sich tatsächlich um in unserer Welt festsitzende Geister handelt, wie deine Mutter
glaubt dann rufen wir einen Exorzisten und scheuchen sie ins Geisterreich.« »Und wo willst du hier in der Gegend einen Exorzisten auftreiben?«, zog sie ihn auf. »Das ist leicht.« Mike grinste. »Ich schaue in den gelben Seiten nach.« Er schob den Stuhl vom Tisch zurück. »Ich will in die Stadt, um zu sehen, ob ich eine Alarmanlage finde, die ich selbst installieren kann. Mit einer Alarmanlage würde es sich unser unbekannter Künstler zwei Mal überlegen, weitere Fratzen zu kritzeln. Willst du mitkommen?« Holly schüttelte den Kopf. »Ich habe reichlich zu tun.« Mike runzelte die Stirn. »Bist du sicher, dass du alleine klarkommst?« »Aber ja. Ich glaube kaum, dass jemand so dumm wäre, tagsüber hier aufzukreuzen.« Sie grinste. »Und falls doch, ist im Dielenschrank Tommys Baseballschläger.« Mike erwiderte das Grinsen. »Ein Baseballschläger ins Gemächt würde in der Tat selbst dem leidenschaftlichsten Künstler die Kreativität austreiben.« Er küsste Holly auf die Wange, griff sich die Wagenschlüssel und steuerte zur Vordertür hinaus. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Holly hinter ihm abschloss, stieg er ins Auto und fuhr los. Unterwegs überlegte er, wo er eine Alarmanlage für das Haus bekommen könnte. In Braddock gab es weder einen Radio Shack noch einen Sears. Auch keine Elektronikfachgeschäfte. Dafür eine Filiale von Western Auto – angeblich fand man dort; von Autozubehör bis hin zu Angelausrüstungen so ziemlich alles. Wenn es irgendwo in der Ortschaft das geben würde, wonach er suchte, dann vermutlich dort. Die Filiale befand sich an der Hauptstraße, direkt gegenüber Frans Andenkenladen. Mike parkte den Van am Randstein,
kramte sein Scheckheft aus dem Handschuhfach hervor und betrat das Geschäft. Mike hatte zuvor noch nie bei Western Auto eingekauft und stellte überrascht fest, dass es tatsächlich ein äußerst breites Angebot gab: Elektrowerkzeug, Rasenmäher, Radios, Fernseher, verschiedenes Camping- und Jagdzubehör. Außerdem Generatoren, die sich bestimmt als praktisch erwiesen, wenn in der Gegend schlimme Unwetter wüteten. Mike hatte gehört, dass schwere Gewitter und sogar Tornados im Frühling in Missouri keineswegs als ungewöhnlich galten. Als er sich von den Generatoren abwandte, fielen ihm neben den Fernsehgeräten mehrere kleine Satellitenschüsseln auf. Da an ihrer Adresse kein Kabelanschluss verfügbar war, hatte er versprochen, sich nach einer Satellitenanlage umzusehen. Eigentlich hätte er eine große, auf dem Hinterhof aufgestellte Schüssel vorgezogen, aber vermutlich würfle er mit einem kleineren System genauso viele Programme empfangen können. Wenn es um moderne Technik und Elektronik ging, war größer nicht immer gleichbedeutend mit besser. Er steckte ein paar Prospekte davon ein und begann, sich nach Alarmanlagen umzusehen. Leider schien es bei Western Auto alles zu geben außer dem, wonach er suchte. Enttäuscht wandte Mike sich zum Gehen, hielt jedoch inne, als er im Bereich mit Jagdzubehör eine Reihe Glasschaukästen entdeckte. Sie enthielten Schusswaffen und Munition. Plötzlich fiel ihm ein, was Otto Strumberg ihm am Vortag erzählt hatte – dass in Häuser auf dem Land deshalb nicht eingebrochen wurde, weil bekannt war, dass alle Bauern Schusswaffen hatten. Vielleicht brauchte er doch keine Alarmanlage, sondern etwas Lauteres, Aggressiveres. In New York City hatte er nie eine Schusswaffe besessen. Zum einen war der Besitz von Handfeuerwaffen illegal, zum anderen hatte er nie die Notwendigkeit verspürt. Dennoch war
ihm das Thema an sich keineswegs fremd. Schon mehrmals hatte er Recherchen über verschiedene Handfeuerwaffen angestellt, um seine Romane realistischer zu gestalten. Leser konnten sich als die schlimmsten Kritiker überhaupt erweisen und einen Autor förmlich in der Luft zerreißen, wenn ihm Fehler bei solchen Details unterliefen. Da er vermeiden wollte, auf dem literarischen Scheiterhaufen zu enden, achtete er darauf, dass solche Kleinigkeiten in seinen Büchern immer Hand und Fuß hatten. Er näherte sich den Schaukästen und wartete, bis einer der Angestellten anbot, ihn zu beraten. Es dauerte nicht lange. »Kann ich Ihnen helfen, Sir?« Der Verkäufer war groß und schlank, etwa in Mikes Alter, hatte braunes, gewelltes Haar und einen dichten Schnurrbart. Außerdem besaß er ein äußerst freundliches Lächeln und schien aufrichtig darauf bedacht, seinen Kunden zu helfen. »Ja… Rob«, antwortete Mike mit einem Blick auf das Namensschild des Mannes. »Ich bin interessiert daran, eine Handfeuerwaffe zu kaufen.« »Haben Sie etwas Bestimmtes im Sinn?« »Ich bin ziemlich offen für Vorschläge«, erwiderte Mike, »aber ich würde eine automatische Waffe vorziehen.« Rob grinste. »Dann lassen Sie mich Ihnen unsere beliebtesten Modelle zeigen.« Rob schloss einen der Schaukästen auf und führte Mike verschiedene Marken und Modelle vor, wobei er die Eigenschaften jeder Waffe erklärte. Im Zuge des Gesprächs stellte sich heraus, dass Rob ein Waffenenthusiast war, bereits bundesweit an mehreren Schießwettbewerben teilgenommen hatte und somit durchaus wusste, wovon er redete. Eine gute Viertelstunde später entschied sich Mike für eine Glock, Modell 23 – eine Pistole Kaliber .40 mit einem zehn Patronen fassenden Magazin. Er zückte die Kreditkarte, war
jedoch ein wenig enttäuscht, als Rob ihm über die Ladentheke einen Stapel Formulare zuschob, die er auszufüllen hatte. »Du meine Güte, das sieht ja aus, als müsste ich mein Leben verpfänden.« Rob grinste. »Ihr Leben, Ihr Haus, Ihre Frau, Ihre Kinder. Es war nicht immer so schlimm, aber die Bürokraten in Washington haben den Forderungen dieser liberalen Waffengegner nachgegeben. Diesen Trotteln ist nicht klar, dass sie damit nur den Zugang rechtschaffener Bürger zu Schusswaffen erschweren. Kriminelle kommen immer an Kanonen ran, ganz gleich, was die Regierung sagt oder tut, um sie davon abzuhalten.« Mike ergriff den Stapel und blätterte ihn durch. »Tja, ich schätze, das ist ein notwendiges Übel. Sich zu beklagen, hilft auch nichts.« »Sofern Sie noch nicht gesessen haben oder wegen eines Kapitelverbrechens verhaftet wurden, haben Sie nichts zu befürchten.« »Trifft beides nicht zu.« Mike grinste. »Ich hab mich nie erwischen lassen.« Rob lachte und reichte Mike einen Stift. »Außerdem ist eine siebentätige Wartefrist einzuhalten.« »Eine was?«, fragte Mike schockiert. »Eine siebentätige Wartefrist«, wiederholte der Verkäufer. »Tut mir Leid, ich dachte, das wüssten Sie. Das Gesetz ist vor einigen Jahren in Kraft getreten; weiterer bürokratischer Unfug.« »Nein, das wusste ich nicht. Ich wohne hier erst seit kurzem.« Mike blickte auf die Formulare in seiner Hand hinab. »Soll das heißen, ich kann die Waffe heute nicht mitnehmen?« »Nein, Sir«, bestätigte Rob entschuldigend. »Laut staatlichem Gesetz müssen Sie sieben Tage warten. Das ist so eine Art
Bedenkzeit, für den Fall, dass Sie entscheiden, doch keine Schusswaffe zu wollen.« »Ich werde es mir nicht anders überlegen«, erwiderte Mike. »Ich will diese Waffe haben.« Rob nickte. »Ich würde Sie ihnen nur allzu gerne heute mitgeben, aber es liegt nicht bei mir. Die Regierung hat das Gesetz erlassen, um zu verhindern, dass die Leute sich eine Waffe kaufen, wenn sie wütend sind, und eine Affekthandlung begehen.« »Ich bin nicht wütend.« Noch nicht, dachte Mike. »Was ist, wenn ich bar bezahle?« »Das ändert nichts daran.« »Und was ist, wenn ich zwanzig Dollar Trinkgeld dazulege?« Rob lachte. »Darüber würde ich mich sehr freuen, aber Sie müssten trotzdem sieben Tage warten. Danach können Sie vorbeikommen und die Waffe abholen, sofern die Überprüfung Ihres Leumunds nichts ergibt, das dagegen spricht.« Mike war frustriert. »Hören Sie, es ist so: Ich will eine Handfeuerwaffe kaufen, um mich zu schützen. Jemand ist nachts in mein Haus eingebrochen, und ich mache mir Sorgen um die Sicherheit meiner Familie. Ich habe eine Frau und Kinder.« »Ich würde Ihnen ja gerne helfen, aber mir sind die Hände gebunden… es sei denn, Sie möchten ein Gewehr oder eine Schrotflinte kaufen.« »Dann müsste ich doch auch sieben Tage warten, oder?« Rob schüttelte den Kopf. »Die Wartefrist gilt nur für Handfeuerwaffen. Fragen Sie mich nicht, warum, aber es ist so. Ich vermute, den hohen Tieren in Washington ist nicht klar, dass man mit einem Gewehr genauso leicht jemanden töten kann wie mit einer Pistole.«
Erleichterung breitete sich in Mike aus. »Sie meinen, ich kann eine Schrotflinte oder ein Gewehr kaufen und sofort mit nach Hause nehmen?« Der Verkäufer lächelte. »In Geschenkverpackung, wenn Sie möchten.« Die nächsten zwanzig Minuten verbrachte Mike damit, sich mehrere Gewehre und Schrotflinten anzusehen, bis er sich letztlich für eine Winchester 1200 Repetierflinte Kaliber 12. Die Waffe enthielt fünf Patronen im Magazin und eine weitere im Lauf, wobei sie mit einer Lauflänge von unter einem halben Meter äußerst kompakt war. Zusätzlich kaufte Mike ein paar Päckchen Munition des Typs Magnum 12/76, ein weiteres mit 12/70-Patronen und eine gepolsterte Tragtasche. Nachdem er bezahlt hatte, trug er die Waffe in den Van und legte sie auf den Rücksitz. Aus unerfindlichem Grund fühlte er sich als Waffenbesitzer anders. Selbstsicherer. Während er nach Hause fuhr, hoffte er fast, es würde erneut jemand in das Haus einbrechen. Er warf einen Blick zurück auf die Tasche, die auf dem Sitz hinter ihm lag, und lächelte. »Ich habe eine Überraschung für dich, wer immer du sein magst.«
KAPITEL 24
Holly beobachtete, wie Mike die Auffahrt hinunter und die Sawmill Road entlang davonfuhr, bevor sie sich vom vorderen Fenster abwandte. Sie war allein in einem Haus, dass mittlerweile selbst bei Tageslicht entsetzlich düster wirkte. Da sie wusste, dass ihr Mann erst in einigen Stunden zurückkommen würde, sah sie sich nach etwas um, dass sie beschäftigen und ihren Verstand von beunruhigenden Gedanken ablenken würde. Putzen kam ihr in den Sinn, allerdings hatte sie in der vergangenen Woche so viel geputzt, dass sie eine Zeit lang genug davon hatte. So wandte sie die Aufmerksamkeit stattdessen der riesigen Büchersammlung in den Regalen der Bibliothek zu. Sie wollte etwas lesen, dass sie in bessere Stimmung bringen würde; etwas Unbeschwertes, eine Liebesgeschichte vielleicht. Aber in etlichen Regalen reihten sich die von ihrem Mann verfassten Romane aneinander, die sie bereits gelesen hatte und die alles andere als heiter und leicht verdaulich waren. Daneben gab es die unzähligen Nachschlagewerke, die Mike für Recherchen bei seinen Romanen heranzog und von denen viele genauso Furchterregend waren wie die Geschichten, die er schrieb. Selbst die Bücher, die seine Großmutter gesammelt hatte, zählten nicht zu der Art Literatur, die man alleine in einem Haus lesen sollte, in dem Schatten umherhuschten und in dem Gesichter auf dem Küchenboden auftauchten. Die meisten davon befassten sich mit Hexerei, Mythen, Legenden und Folklore. Als Holly ihre Suche nach etwas Lesenswertem schon aufgeben wollte, entdeckte sie ein altes Sammelalbum, das
Mikes Großmutter gehört hatte. In mehrere Seiten waren Zeitungsartikel über ein örtliches Sägewerk eingeklebt, das abgebrannt war. Die Berichte erregten ihr Interesse, weil sie wusste, dass sich früher ein Sägewerk auf dem Gelände befunden hatte, dass nun zu ihrem Grundstück gehörte. Sie trug das Album in die Küche, machte sich eine Tasse Instantkaffee und setzte sich an den Tisch, um die Artikel zu lesen. Die vor Alter vergilbten Ausschnitte entstammten den Ausgaben vom 14. Juli 1938 und 21. Juli 1938 der Braddock Tribune. Laut den Berichten war in der Nacht vom 12. Juli kurz nach Sonnenuntergang ein Feuer im Sägewerk ausgebrochen. Die Flammen hatten sich rasch ausgebreitet und mehrere Haufen Sägemehl und Holzspäne entzündet. Die Flammen jener Feuer wiederum waren so intensiv gewesen, dass sie vier Lagergebäude, drei Schuppen, das Büro des Vorarbeiters und sämtliches Schnittholz im Werk verschlungen hatten. Die Feuersbrunst hatte hoch in den nächtlichen Himmel gezüngelt und war in einem Umkreis von zehn Meilen zu sehen gewesen. Auch in Braddock hatte man den Schimmer des Infernos gesehen und mehrere Feuerwehrwagen zur Bekämpfung des Brands losgeschickt. Leider war es beim Eintreffen der Feuerwehr bereits zu spät gewesen. Alles war den Flammen zum Opfer gefallen, aber zum Glück war niemand umgekommen. Holly nippte an ihrem Kaffee, las den zweiten Artikel und versuchte, sich vorzustellen, wie ein Feuer solcher Ausmaße über das Grundstück tobte, das nun ihnen gehörte. Soweit sie wusste, war kein Hinweis darauf zurückgeblieben, dass es das Sägewerk je gegeben hatte. Vermutlich verbargen sich unter dem Unkraut und hohen Gras noch irgendwo die Fundamente einiger Gebäude, aber falls dem so war, hatte Holly sie noch nicht entdeckt.
Den zweiten Artikel begleiteten körnige Fotos von Männern, die vor dem Brand im Sägewerk gearbeitet hatten. Fast alle posierten auf den Bildern mit Gewehren. Beim Betrachten der Fotos fragte Holly sich, weshalb um alles in der Welt die Männer entschieden hatten, sich mit Waffen ablichten zu lassen. Oder weshalb sie die Gewehre überhaupt zur Arbeit mitgenommen hatten. Selbst ohne die Arbeitsplatzanforderungen eines Sägewerkarbeiters zu kennen, war sie ziemlich sicher, dass es nicht notwendig war, Schusswaffen zu tragen. Warum also die Gewehre? Hatten die Arbeiter ihre Mittagsund sonstigen Pausen damit verbracht, Schießübungen mit alten Blechbüchsen zu veranstalten? War das Sägewerk so von Nagetieren verseucht gewesen, dass es nötig gewesen war, so viele wie möglich zu erschießen, um sie unter Kontrolle zu halten? Oder hatte es früher in der Umgebung vor gefährlichen Tieren gewimmelt? Wölfe, Bären oder Rudel streunender Promenadenmischungen? Damals waren noch viele Leute zu Fuß zur Arbeit gegangen. Das Sägewerk hatte sich draußen auf dem Land befunden, demnach hatte man die Gewehre vielleicht zum Schutz gebraucht. Ein weiterer Gedanke kam ihr. Vielleicht war die Bedrohung nicht von Tieren, sondern von Menschen ausgegangen. Unter Umständen hatten entlang der einsamen Straßen Räuber gelauert, um arglose Opfer zu überfallen, die vorbeikamen. Holly wusste nicht viel über die Geschichte der Gegend, aber sie konnte sich durchaus vorstellen, dass die Sägewerkarbeiter in gefährlichen Zeiten gelebt hatten. Sie überlegte, ob ein Streit zwischen gewerkschaftstreuen und gewerkschaftsunabhängigen Arbeitern etwas damit zu tun gehabt haben konnte, dass Waffen gebraucht wurden, verwarf den Gedanken jedoch bald wieder. Es schien zweifelhaft, dass eine Gewerkschaft solchen Einfluss auf Arbeiter im ländlichen
Missouri gehabt haben könnte. Falls es damals überhaupt schon Gewerkschaften gegeben hatte. Holly beugte sich dichter über das Album und betrachtete die Bilder eingehend. Obwohl die Fotos sehr alt waren, fiel ihr unwillkürlich der gehetzte Blick in den Augen der Männer auf. Er mochte daher rühren, dass sie gerade gegen ein gewaltiges Feuer gekämpft und dabei ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten. Vielleicht auch daher, dass sie ohne das Sägewerk keine Arbeit mehr hatten und mit einer ungewissen Zukunft für sich und ihre Familien konfrontiert waren. Andererseits war der Brand zu dem Zeitpunkt, als die Aufnahmen entstanden, bereits vollständig gelöscht, und die Männer hatten überlebt, wofür sie eigentlich hätten dankbar sein müssen. In einer solchen Lage hätten die meisten Menschen keine großen Gedanken an ihre plötzliche Arbeitslosigkeit vergeudet, sondern sich vielmehr darüber gefreut, noch am Leben zu sein. Wenngleich es nicht unbedingt eine Gelegenheit war, mit Champagner anzustoßen, so hätte sie doch zumindest ein, zwei lächelnde Gesichter auf den Fotos erwartet. Doch da war kein Lächeln. Nicht ein einziges. Alle Männer blickten todernst drein und starrten direkt in die Kamera. Und alle wirkten verängstigt. Jeder von ihnen. Wovor hatten sie Angst? Die Gefahr war doch vorüber. Ungefähr das nächste Dutzend Seiten im Album war leer, doch auf der Seite danach befanden sich einige weitere Artikel über den Brand im Sägewerk. Holly begann mit dem ersten davon, der zunächst im Wesentlichen eine Wiederholung der Berichte darstellte, die sie bereits gelesen hatte. Doch was etwa nach der Hälfte des Textes stand, ließ sie jäh innehalten und den Artikel erneut von vorne lesen. In jenem Zeitungsausschnitt wurde eine ungenannte Quelle zitiert, der zufolge das Feuer vorsätzlich von Mitarbeitern des
Sägewerks gelegt worden sei, um sich gegen eine Horde mysteriöser Kreaturen zur Wehr zu setzen, von denen sie kurz nach Sonnenuntergang angegriffen worden waren. Die Kreaturen selbst wurden nicht näher beschrieben, nur als ›dunkler als die Nacht um sie herum und etwa so groß wie eine größere Hauskatze.‹ Vorsätzlich gelegt? Kreaturen, die dunkler waren als die Nacht. Die Besitzer des Sägewerks widersprachen der ungenannten Quelle und leugneten, dass der Brand gelegt worden sei. Ihnen zufolge war er ausgebrochen, weil ein Funke in einem Sägemehlhaufen gelandet sei. Ebenso leugneten sie die Existenz mysteriöser Kreaturen und behaupteten, solche Berichte entsprängen lediglich Legenden und Folklore der Gegend. Holly blätterte zurück zu den Bildern und starrte die Männer auf den Fotos an. Vor sechs Jahren war sie damit beauftragt worden, ein Gemälde für ein Veteranenkrankenhaus in New Jersey anzufertigen. Im Rahmen der Recherchen für das Bild hatte sie hunderte Fotos von Soldaten vor, während und nach Kampfeinsätzen studiert. Sie wollte die Essenz dessen festhalten, was es bedeutete, in Kriegszeiten Soldat zu sein. Im Zuge dessen hatte sie erfahren, wie Schmerz und Kummer aussahen; und sie hatte das Antlitz der Angst kennen gelernt. Die Soldaten der von ihr studierten Bilder hatten mit verkniffenen Mienen und glasigen Augen in die Kamera gestarrt. Jener selbe Ausdruck der Furcht zierte die Gesichter der Männer auf den Bildern, die sie nun betrachtete. Egal, was die Besitzer des Sägewerks gesagt hatten, die Männer auf den Fotos waren etwas begegnet, dass ihnen im wahrsten Sinn des Wortes eine Heidenangst eingejagt hatte. Holly bezweifelte, dass es das Feuer gewesen war, denn anscheinend hatten die
Arbeiter ihre Waffen nicht abgelegt, um den Brand zu bekämpfen. Gegen Flammen vermochten geladene Gewehre nichts auszurichten, aber gegen etwas anderes sehr wohl, hatten sie vermutlich gedacht. Sie kehrte zum letzten Artikel zurück und las ihn erneut. Der Reporter, von dem er verfasst worden war, beendete den Bericht mit einem Verweis auf örtliche Legenden, die Hunderte Jahre zurückdatieren, bis in die Zeit der ersten weißen Siedler des Gebiets – Geschichten über Kobolde und Schreckgespenster. Schreckgespenster. Holly klappte vor Überraschung der Mund auf. Der Text des Liedes fiel ihr ein, das die Kinder im Bus über Vivian Martin gesungen hatten – des Gedichts, mit dem sie Megan und Tommy gehänselt hatten.
Die alte Vivian Martin, die hat graue Haar’ und sieht Schreckgespenster das ganze Jahr. Gespenster unterm Dach und unter ihren Händen, Gespenster unterm Bett und auch in den Wänden.
Anscheinend hatte Mikes Großmutter entsetzliche Angst vor Schreckgespenstern. Und ihr Haus stand auf demselben Grundstück, auf dem sich einst das Sägewerk befunden hatte. Vivian Martin hatte sich vor Schreckgespenstern gefürchtet – genau wie die Arbeiter des Sägewerks. Kreaturen, dunkler als die Nacht… etwa der Größe einer Hauskatze. Dunkler als die Nacht. Kreaturen. Schatten. Plötzlich breitete sich Grabeskälte in Hollys Körper aus. Megan hatte das, was sie im Flur gesehen hatte, als dunkler als den Rest der Dunkelheit beschrieben. Tommy war etwas
Ähnlichem gleich zweifach im Wald begegnet. Sie hatten ihn in den Obstgarten gejagt: zwei Kreaturen der Größe eines kleinen Hundes. Der Junge hatte sie als Schatten beschrieben, nur als Schatten, sonst nichts. Und Holly hatte sie mit eigenen Augen gesehen. Sie hatten versucht, sich an sie anzuschleichen, schwarze Flecken, die wie Wasser aus Ebenholz über den Boden glitten, von einem Apfelbaum zum anderen, um sich in den Schatten unter den Bäumen zu verstecken, mit der Dunkelheit dort zu verschmelzen. Sie hatte sie gesehen, obwohl es eigentlich gar nichts zu sehen gab, zumindest nicht wirklich, nur Schatten: zwei wieselflinke, dunkle Schemen etwa so groß wie ein Murmeltier… oder eine Hauskatze. »Schreckgespenster.« Sie sprach das Wort laut aus, als könnte der Klang ihr helfen zu begreifen, was sie und die Kinder gesehen hatten. Obwohl Mike Romane schrieb, in die er regelmäßig übernatürliche und okkulte Elemente einbaute, blieb er privat sehr skeptisch, wenn es um Dinge ging, die sich nicht logisch erklären ließen. Was sie und die Kinder gesehen hatten, war von ihm als irrtümliche Wahrnehmung eines gewöhnlichen Waldbewohners oder als Auswüchse einer überzogenen Fantasie abgetan worden. Er wollte nicht einmal einen Augenblick lang in Erwägung ziehen, dass sie tatsächlich etwas Übernatürlichem begegnet sein könnten. Die Haut an Hollys Schläfen spannte sich straff. Laut der ungenannten Quelle aus dem Zeitungsartikel waren die Arbeiter in dem Sägewerk von geheimnisvollen Kreaturen angegriffen worden. Da sie außer Stande gewesen waren, sich des Angriffs zu erwehren, hatten sie den Ort schließlich in Brand gesteckt. Sie hatten gegen die Kreaturen nichts auszurichten vermocht, und dabei hatten sie Gewehre besessen!
Das war ein weiterer Punkt: Die Arbeiter mussten seit einiger Zeit bedroht worden sein, andernfalls wären sie nicht bewaffnet gewesen. Hätte nur einer von ihnen ein Schreckgespenst gesehen, wäre kein Wort darüber verloren worden. Man hätte es als optische Täuschung oder als Hirngespinst belächelt. Ein paar Sichtungen mehr hätten zu ein paar geflüsterten Worten, vielleicht ein wenig Gekicher geführt. Noch mehr hätten Gerüchte, vermutlich auch spätnächtliche Diskussionen bei einigen Bieren heraufbeschworen. Trotzdem hätte das noch nicht gereicht, um Waffen zu tragen, es sei denn, jemand wäre verletzt worden. Und selbst dann hätten es die Vorarbeiter und Besitzer verboten, wenn sie die Schatten nicht selbst gesehen und auch das Gefühl gehabt hätten, sich bewaffnen zu müssen. Sie mussten es gewusst haben. Sie alle mussten es gewusst haben. Die Lage musste so schlimm geworden sein, dass jeder Einzelne, der im Sägewerk gearbeitet hatte, über die Schreckgespenster Bescheid gewusst und die Notwendigkeit verspürt hatte, bewaffnet zur Arbeit zu gehen. Das Feuer war das Endergebnis gewesen. Sie hatten das Sägewerk in dem Versuch in Brand gesteckt, sich zu verteidigen. Offenbar hatte es funktioniert, denn in jener Nacht war niemand ums Leben gekommen oder verletzt worden. Ebenso wenig hatte es anscheinend weitere Berichte über Schreckgespenster gegeben. Erst wieder, nachdem Vivian Martin ihr Haus auf dem ursprünglichen Gelände des Sägewerks errichtet hatte. Sie musste von den Schreckgespenstern gewusst und jahrelang gegen sie angekämpft haben. Die arme, alte Frau hatte versucht, Hilfe vom Büro des Sheriffs zu bekommen, aber niemand wollte ihr glauben. Man hielt sie für geistig unausgeglichen. Eine Verrückte. Für die Behörden bestand die Lösung des Problems darin, zu ihrem Haus zu fahren und alles
in einem hässlichen Dunkelgrün anzumalen. Um die Gesichter zu überdecken. Wieder kroch Holly ein Schauder über den Rücken. Sie schob den Stuhl vom Tisch zurück und blickte auf den Boden unter ihren Füßen hinab. Die mysteriösen Fratzen starrten sie von den gelben Fliesen aus an. Wie die Kreaturen, die damals die Arbeiter des Sägewerks angegriffen hatten, ließen sich auch die Gesichter nicht erklären. Aber Holly wusste nun, worum es sich dabei handelte, zumindest glaubte sie, es zu wissen. Die Gesichter waren etwa zur selben Zeit aufgetaucht wie die Schatten, demnach musste zwischen ihnen eine Verbindung bestehen. Voll Abscheu blickte Holly auf die Fratzen auf dem Küchenboden und begriff, das sie die Gesichter der Kobolde ansah, der Schreckgespenster. Sie kommen durch den Boden herauf. Durch den Küchenboden, durch die Wände und aus dem Wald. Vielleicht sogar durch die Decke. Dieselben Dämonen, von denen erst die Männer im Sägewerk vor so vielen Jahren und danach Mikes Großmutter heimgesucht worden waren, quälten nun Holly und ihre Familie. »Wir müssen hier weg.« Holly sprang auf und wollte die Küche verlassen, dann hielt sie inne und setzte sich wieder. Sie und Tommy waren den Kreaturen bei Tageslicht begegnet, aber sie hatten das direkte Licht gemieden, indem sie sich von Schatten zu Schatten bewegt hatten. Das bedeutete, dass diese Wesen vermutlich nachtaktiv waren, und somit bestand bis zum Einbruch der Dunkelheit kein Grund, sich Sorgen zu machen. Sie fragte sich, wie Vivian Martin so viele Jahre etwas so Gefährlichem getrotzt hatte. Was hatte die alte Frau über die Schreckgespenster gewusst, das niemandem sonst bekannt gewesen war? Holly dachte an die enorme Büchersammlung
über Okkultes, die Mikes Großmutter angehäuft hatte. War sie auf einen Zauber, einen Bann gestoßen, auf irgendetwas, das gegen die Kreaturen wirkte? Anscheinend schon, sonst wäre sie wahrscheinlich bereits vor vielen Jahren von ihnen aus ihrem Heim vertrieben worden. Holly trug sich gerade mit dem Gedanken, in die Bibliothek zu gehen, um Vivian Martins Büchersammlung durchzusehen, als ihr Blick über die Namen der Männer auf den Fotos strich. Der eines jungen Mannes, der rechts außen auf einem Bild stand, kam ihr vage vertraut vor. Holly war überzeugt davon, ihn schon einmal gehört zu haben, konnte sich aber nicht erinnern, wo. Sie überlegte eine Weile, dann fiel es ihr plötzlich ein. Der Name des Mannes auf dem Foto lautete Sam Tochi – derselbe Name wie der des verrückten, alten Indianers, der sich ihr auf dem Parkplatz vor dem Lebensmittelladen genähert hatte. Handelte es sich um denselben Mann? Wenn ja, wieso war er so verschroben geworden? Hatte etwas, das er im Sägewerk gesehen hatte, ihn so verrückt werden lassen? Hatte seine Begegnung mit jenen geheimnisvollen, schattigen Kreaturen ihn in den Wahnsinn getrieben? Während Holly auf das Foto starrte, erinnerte sie sich an die kurze, aber bizarre Unterhaltung, die sie mit dem alten Mann geführt hatte. »Was ich will? Was ich will?«, hatte der alte Mann wiederholt, wobei er sie zu verhöhnen schien. »Die Frage ist: Was wollen sie?« »Wer?«, hatte Holly nachgehakt. »Die Schreckgespenster«, hatte er geantwortet. »Was wollen sie? Was wollen sie immer? Das ist die Frage. Ja, das ist sie. Sie werden es erleben. Sie werden es erleben«, hatte er eindringlich gesagt. »Sie werden die Frage herausfinden, aber
nicht die Antwort. Fragen Sie einfach Sam Tochi. Sam weiß alles über die Schreckgespenster, aber niemand glaubt mir. Nein, nein. Aber Sie werden es erleben. Und ob Sie das werden. Sie haben ihr Haus.« »Ich habe ihr Haus«, murmelte Holly. Ihr wurde speiübel. Der alte Indianer hatte versucht, sie zu warnen, aber sie hatte seine Worte als das wirre Geschwafel eines Verrückten abgetan. Er wusste von den Schreckgespenstern, und er wusste, dass sie und ihre Familie erst unlängst in das Haus auf dem Gelände des ehemaligen Sägewerks eingezogen waren. Sie hatte seine Botschaft nicht verstanden, aber vielleicht war es noch nicht zu spät. Sie durchquerte den Raum, ergriff das Telefonbuch und blätterte die Privateinträge durch. Eigentlich erwartete sie nicht zu finden, wonach sie suchte, doch sie tat es. Sam Tochis Name war samt Adresse und Telefonnummer gelistet. Holly griff zum Telefon und begann zu wählen, dann jedoch besann sie sich eines Besseren und legte wieder auf. Bei ihrer Begegnung war sie nicht besonders freundlich zu Mr. Tochi gewesen und hatte ihn mit einer Gurke bedroht. Deshalb hielt sie es für besser, ihn persönlich aufzusuchen. Sie glaubte kaum, dass der alte Mann gefährlich war, nur ein wenig verschroben. Außerdem schien es ihr am besten, das, was sie ihn fragen wollte, von Angesicht zu Angesicht statt übers Telefon zu besprechen. Aber was war mit Mike? Er würde einen Anfall bekommen, wenn er erführe, dass sie losfahren wollte, um mit einem verrückten alten Kerl über Kobolde und Schreckgespenster zu reden. Mike würde es ihr rigoros Verbieten. Holly wollte ihm nicht einmal davon erzählen, was sie in den Zeitungsartikeln gelesen hatte. Jedenfalls noch nicht. Ich sage ihm einfach, ich war einkaufen.
Nachdem sie ihre Entscheidung getroffen hatte, entfernte Holly behutsam einen der Zeitungsausschnitte über das Feuer aus dem Album und verstaute ihn in ihrer Handtasche. Dann schlug sie im Telefonbuch nach, ob es in Braddock ein Taxiunternehmen gab, was der Fall war. Sie wählte die Nummer und bestellte sich ein Taxi für eine Fahrt nach Braddock und zurück. Die Vermittlung nahm ihren Namen und ihre Adresse auf und versprach, dass sie in zwanzig Minuten abgeholt würde. Holly bedankte sich und legte auf. Sie ergriff ihre Handtasche und die Hausschlüssel und ging hinaus auf die Veranda, um auf das Taxi zu warten. Ihr Ziel war das Haus eines verrückten alten Mannes.
KAPITEL 25
Sam Tochi lebte in einem verwitterten, ausgebleicht grünen Haus ein paar Blocks südlich des Lebensmittelladens am Ende der Clara Avenue. An der Vorderseite befand sich ein von Unkraut überwucherter Hof, auf dem sich die rostigen Überreste mehrerer Rasenmäher und eines alten Pritschenwagens drängten. Das Taxi hielt vor dem Haus, und der Fahrer drehte sich mit einem fragenden Blick zu Holly um. »Lady, sind Sie sicher, dass Sie die richtige Adresse haben?« Holly nickte. »702 Clara Avenue. So steht’s im Telefonbuch. Hier ist es.« »Aber hier wohnt Sam Tochi.« Wieder nickte Holly. »Genau zu ihm will ich.« Die Miene des Fahrers wechselte von fragend zu überrascht. »Sie wollen zu Sam? Das ist doch ein Scherz, oder? Der alte Indianer ist verrückt.« Holly bedachte den Fahrer mit einem Lächeln, dann öffnete sie die Tür. »Vielleicht nicht so verrückt, wie alle denken. Bitte warten Sie hier auf mich, es sollte nicht lange dauern.« Der Fahrer nickte. »Wie Sie wollen. Ist ja Ihr Geld.« Holly folgte einem kopfsteingepflasterten Weg zur Vordertür. Sie drückte die Türklingel, hörte jedoch von drinnen keinen Laut und nahm an, die Klingel müsste kaputt sein. Zur Sicherheit klopfte sie mehrmals an die Holztür, ehe sie zurücktrat, um abzuwarten, ob jemand zu Hause war. Wenig später öffnete die Tür sich einen Spaltbreit, und Sam Tochi musterte sie argwöhnisch.
»Geh weg, Bahanna. Lass mich in Ruhe!«, schrie er und schlug ihr die Tür vor der Nase zu. Holly sprang beim Knall der Tür zurück. Die Ruppigkeit des alten Indianers erschreckte sie und ließ sie überlegen, ob es wirklich ein so kluger Entschluss gewesen war, ihn alleine aufzusuchen. Sie spielte mit dem Gedanken, zum Taxi zurückzukehren und wieder zu fahren, entschied sich jedoch dagegen. In ihrem Haus ging etwas Seltsames vor sich – etwas, das Gefahr für ihre Familie bedeuten konnte. Sam Tochi kannte unter Umständen die Antworten auf ein paar Fragen; vielleicht könnte er ihr sogar helfen. Sie würde nicht gehen, bevor sie mit ihm gesprochen hatte. Sam musste an der Tür stehen geblieben sein und darauf gewartet haben, dass sie ging, denn schon beim ersten neuerlichen Klopfen schrie er: »Geh weg, hab ich gesagt. Ich kaufe nichts!« »Und ich verkaufe nichts!«, rief Holly zurück. »Ich fülle auch keine Formulare aus!« »Ich bin weder Verkäuferin, noch habe ich irgendwelche Formulare dabei«, entgegnete Holly mit anschwellender Stimme, um sich durch die Tür Gehör zu verschaffen. »Ich will nur mit Ihnen reden.« Es folgte ein Augenblick des Schweigens, dann fragte Sam: »Bist du aus der Stadt? Wenn du aus der Stadt bist, will ich nicht mit dir reden.« Beinah hätte Holly gelächelt. »Nein, ich bin auch nicht aus der Stadt.« »Ich will trotzdem nicht mit dir reden. Geh weg!« Holly klopfte erneut an die Tür, doch diesmal bekam sie keine Antwort. Offenbar ignorierte der alte Indianer sie. Wahrscheinlich würde er die Tür nicht noch einmal öffnen. Frustriert drehte sie sich um und ging den Weg hinab zurück zum wartenden Taxi.
»Das ist ja nicht so toll gelaufen«, stellte der Fahrer fest, als sie einstieg. »Nein, überhaupt nicht«, bestätigte Holly und schloss die Tür. »Wohin jetzt?« »Zurück nach Hause. Anscheinend habe ich hier nur Zeit verschwendet.« »Ich hab Ihnen doch gesagt, dass der Alte verrückt ist. Als sein Laster nicht ging, habe ich ihn ein paar Mal gefahren. Gott sei Dank nicht allzu oft.« Sie hatten gerade das Ende der Straße erreicht, als Holly der Zeitungsartikel in ihrer Handtasche einfiel. Wenn Sam Tochi ihr die Tür nicht öffnen wollte, brauchte sie vielleicht eine Art Empfehlungsschreiben. »Warten Sie. Ich habe es mir anders überlegt«, sagte sie und beugte sich auf dem Sitz vor. »Fahren Sie noch einmal hin.« Der Fahrer sah sie im Innenspiegel an. »Was? Ist das Ihr Ernst?« »Ja«, versicherte Holly ihm. »Drehen Sie um. Ich will zurück und es noch mal versuchen.« Der Fahrer murmelte etwas bei sich, dann wendete er. »Sie können von Glück reden, dass heute einer meiner kundschaftsschwächeren Tage ist, sonst könnten Sie jetzt zu Fuß gehen.« Holly setzte eines ihrer süßesten Lächeln auf, um ihn zu beschwichtigen. »Ich bin Ihnen wirklich dankbar. Und ich verspreche Ihnen, dass es nicht lange dauern wird.« Der Fahrer hielt vor Sam Tochis Haus an und stellte den Motor ab. »Lassen Sie sich ruhig Zeit.« Holly stieg aus, ging erneut zum Haus und klopfte an. Als keine Antwort erfolgte, holte sie den Zeitungsausschnitt aus der Handtasche hervor und schob ihn unter der Tür durch. Wieder klopfte sie und rief: »Bitte, Mr. Tochi, ich muss mit
Ihnen reden. Es ist sehr wichtig. Mein Name ist Holly Anthony. Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht an mich, aber Sie haben mich letzte Woche beim Supermarkt angesprochen – auf dem Parkplatz. Mein Mann und ich leben in Vivian Martins altem Haus. Ich habe Ihren Namen in diesem Zeitungsartikel über den Brand im Sägewerk gesehen, und ich möchte mit Ihnen reden, weil – « Die Tür öffnete sich einen Spalt. Einen Augenblick starrte Sam sie an. Anscheinen versuchte er, sich an sie zu erinnern. »Ich habe mit Ihnen gesprochen? Wann war das? Ich erinnere mich nicht an Sie.« »Letzte Woche. Auf dem Kroger-Parkplatz.« »An welchem Tag?« »Äh, Dienstag, glaube ich.« Einen Moment musterte er sie, dann zuckte er mit den Schultern. »Kann sein. Vielleicht auch nicht. Ich erinnere mich nicht an den Dienstag. Da ist mir meine Medizin ausgegangen. Wenn das passiert, habe ich immer gröbere Gedächtnislücken. Manchmal weiß ich dann nicht einmal mehr meinen Namen. Sie sagen, Sie leben in Vivian Martins altem Haus?« Holly nickte. »Mein Mann ist ihr Enkel.« Der alte Indianer kniff die Augen zusammen und legte den Kopf leicht schief. »Jetzt erinnere ich mich an Sie«, sagte er und nickte ebenfalls. »Ich wusste, dass Sie kommen würden.« Er öffnete die Tür weiter und lud sie ein. Holly schaute zum wartenden Taxi zurück, dann trat sie über die Schwelle, wobei sie sich fragte, ob sie unter Umständen gerade etwas sehr Dummes tat. Sam schloss und verriegelte die Tür, dann führte er sie ins Wohnzimmer. Der Raum war klein und mit zwei großen Ledersofas, einem Lehnstuhl, einem zerschundenen Kaffeetisch und einigen Bücherregalen gerammelt voll. Holly erfasste das Zimmer und die Einrichtung mit einem Blick, dann blieben ihre Augen auf der Kachina-Sammlung
haften, die die Bücherregale füllte. Es mussten Hunderte, wenn nicht Tausende der Holzpuppen sein, in allen Größen, Formen und Farben. Manche waren winzig, nur etwa drei Zentimeter hoch, andere mindestens einen Meter groß. Die Größeren standen in einer Reihe entlang der Wand neben den Regalen. Weitere der größeren Puppen befanden sich auf dem Fernseher und auf dem Kaffeetisch. Sam bedeutete ihr, auf einem der Sofas Platz zu nehmen, während er sich auf den Lehnstuhl setzte. Holly entschied sich für das kleinere der beiden Sofas, doch ihr Blick verharrte weiter auf der Puppensammlung. »Die halten sie fern«, flüsterte Sam und legte sich den Zeitungsausschnitt auf den Schoß. Er ergriff aus dem Aschenbecher neben seinem Stuhl eine Pfeife und zündete sie mit einem Butanfeuerzeug an. Sam legte das Feuerzeug beiseite und sog an der Pfeife. »Ich sagte, die halten sie fern.« »Sie halten was fern?«, fragte Holly, ohne die Augen von den Puppen zu lösen. Sam senkte die Stimme und sah sich um, als fürchtete er, belauscht zu werden. »Schreckgespenster. Die Puppen halten die Schreckgespenster fern. Aber das wissen Sie ja. Sie leben in Vivian Martins Haus. Sie hatte auch Kachinas. Ich weiß das, denn sie hat sie von mir bekommen.« »Die Kachina-Puppen in unserem Haus stammen von Ihnen?« Seine Kopf wippte auf und ab. »Ich habe sie Vivian gegeben. Und ihr gesagt, dass sie für ihre Sicherheit sorgen würden.« »Das verstehe ich nicht«, gestand Holly. Sam lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Die meisten Menschen verstehen es nicht, selbst wenn sie die Wahrheit sehen. Ebenso wenig glauben sie es. Aber ich glaube und verstehe. Ich habe die Wahrheit vor langer Zeit erkannt. Ich
habe sie gesehen, als ich noch ein kleiner Junge im HopiReservat war. Im Dorf Hoteville in Third Mesa. Die Wahrheit war in unseren Liedern, unseren Geschichten und in unseren Tänzen. Aber die Bahannas, die Weißen, konnten die Wahrheit nicht erkennen. Sie waren blind für den Weg der Geister. Sie kamen in unser Land, errichteten ihre Missionen und behaupteten, unsere Zeremonien und Tänze wären böse. Vulgär. Sie haben mich meinen Eltern weggenommen, als ich noch sehr klein war und gezwungen, in eine Schule der Weißen in Phoenix zu gehen. Dort haben sie mir die Haare geschnitten und mir eingebläut, es wäre falsch, meine Muttersprache zu verwenden, und überhaupt wäre es falsch, ein Hopi zu sein. Sie haben mir die Wahrheit entrissen, und ich wurde wie sie. Ich habe den Traditionen meines Volkes den Rücken zugekehrt und gelebt wie ein Weißer. Ich habe das Reservat verlassen, bin in der Gegend herumgereist und habe nach Arbeit gesucht. Schließlich bin ich hier gelandet und geblieben und habe die Wahrheit wieder erkannt.« »Im Sägewerk«, meldete Holly sich zu Wort. Sam beugte sich vor und starrte sie einen Augenblick an, dann nickte er. »Im Sägewerk. Das war vor langer Zeit. Vor zu langer Zeit. Die meisten Menschen hier wissen nicht einmal mehr etwas von dem alten Werk.« »Vivian Martin hatte mehrere Zeitungsartikel über den Brand in einem Album.« Sam ergriff den Ausschnitt, den Holly unter der Tür hindurchgeschoben hatte. Er betrachtete das Bild und lächelte. »Ich hatte das Foto ganz vergessen. Es war sehr nett von Vivian, es so lange aufzubewahren. Damals war ich noch ein Teenager und stark. Nicht alt und krank wie jetzt. Und ich hatte viele Freundinnen. Sie haben für mich gekocht und meine Kleider gewaschen…«
Holly fürchtete, der alte Mann könnte im Begriff sein, vom Thema abzukommen, deshalb lenkte sie ihn behutsam darauf zurück. »Sie haben doch im Sägewerk gearbeitet, als Sie jung waren. Erzählen Sie mir, was passiert ist. Wie ist das Feuer ausgebrochen? Und warum sind Sie mit Waffen zur Arbeit gegangen?« »Sie haben gesagt, Sie hätten die Artikel gelesen. Stand denn da nicht drin, wie das Feuer ausgebrochen ist?« Holly erkannte, dass er sie offenbar auf die Probe stellen wollte. »Ich habe gelesen, was in den Zeitungen stand, aber jetzt will ich hören, was wirklich passiert ist.« Sam lachte. »Ich bin bloß ein alter Mann. Ein Indianer. Die meisten Leute in der Stadt halten mich für verrückt. Sie glauben, mein Kopf sei voll mit alten Ammenmärchen. Mit Legenden meines Volkes. Warum denken Sie, ich könnte die Wahrheit kennen?« »Ich gehe das Risiko gerne ein.« Wieder lachte er. »Na schön, dann will ich Ihnen erzählen, was passiert ist. Was ich gesehen habe. Ein paar Dinge mag ich im Verlauf meines Lebens vergessen haben – einige sogar –, aber ich werde nie vergessen, was in der Nacht des Feuers im Sägewerk geschehen ist. Allerdings ist es eine lange Geschichte, besonders so, wie ich sie erzähle. Ich mache uns vorher etwas zu trinken. Ich habe Kaffee und Eistee – oder Whiskey, falls Sie etwas Stärkeres möchten.« »Kaffee wäre prima«, gab Holly zurück. Eigentlich hatte sie keinen Durst, aber sie fürchtete, den alten Mann durch eine Ablehnung zu beleidigen. Sam nickte und begann, sich zu erheben, doch plötzlich sog er scharf die Luft ein und sank zurück. Er legte beide Hände seitlich an den Kopf und fing zu zittern an, als hätte er einen Anfall.
»Was ist denn los?«, fragte Holly panisch. Sie sprang auf und eilte zu dem alten Indianer, hielt jedoch inne, bevor sie ihn berührte. Schließlich wusste sie weder, was ihm fehlte, noch was sie für ihn tun konnte. Sie hielt gerade Ausschau nach einem Telefon, um einen Krankenwagen zu rufen, als Sam zu zittern aufhörte. »Ist wieder alles in Ordnung?«, fragte sie ihn. Langsam senkte Sam die Hände. Tränen standen ihm in den Augen. »Ja, im Moment.« Er nickte, dann schaute er zu ihr auf. »Tut mir Leid. Ich wollte Ihnen keinen Schreck einjagen.« Holly stieß den Atem aus. »Ich habe mir Sorgen gemacht. Um ein Haar hätte ich einen Krankenwagen gerufen.« »Es hätte ohnehin niemand etwas tun können.« »Wieso nicht? Was fehlt Ihnen denn?« »Ich habe einen Gehirntumor«, antwortete er, wobei ein Teil des Lebens aus seiner Stimme wich. »Noch ist er nur so groß wie eine Erdnuss, aber er wächst stetig.« »Großer Gott. Kann man ihn nicht operieren?« Sam schüttelte den Kopf. »Nein, das geht wegen seiner Lage nicht. Und eine Chemotherapie lehne ich ab. In meinem Alter würde mich die Strahlung schneller töten als der Tumor. Nein. Niemand kann etwas tun, außer mir Medikamente gegen die Schmerzen verschreiben. Solange ich meine Medizin nehme, ist es nicht so schlimm, ich bekomme nur hin und wieder Anfälle wie gerade eben. Aber ohne das Medikament sind die Schmerzen ziemlich stark. Das ist letzten Dienstag passiert. Mir ist die Medizin ausgegangen, und ich hatte solche Schmerzen, dass ich nicht mehr wusste, wer ich war oder wohin ich ging. Deshalb konnte ich mich zuerst nicht an Sie erinnern. Ich wusste nicht, ob ich tatsächlich mit Ihnen geredet oder es mir nur eingebildet hatte.«
»Was ist mit Ihren Leuten?«, fragte Holly. »Indianer sind doch für ihre traditionellen Heilmethoden bekannt. Gibt es nicht irgendein Kraut oder eine Zeremonie?« »Für solche Dinge ist es zu spät.« Sam lächelte. »Also, ich hole dann jetzt mal den Kaffee.« Er wollte aufstehen, doch Holly legte ihm die Hand auf die Schulter und hielt ihn davon ab. »Ruhen Sie sich aus. Ich mache das«, meinte sie. »Sagen Sie mir einfach, wo alles ist.« Sam erhob keine Einwände. Offensichtlich war er durch den Anfall zu geschwächt dafür. Holly ließ sich erklären, wo sie was finden würde, und kehrte ein paar Minuten später mit zwei Tassen Instantkaffee zurück. Eine davon stellte sie auf den Tisch neben Sams Stuhl, die andere nahm sie mit zum Sofa. Sie stellte die Tasche auf dem Tisch neben ihr ab. »Erzählen Sie mir, was im Sägewerk passiert ist.« Sam trank einen Schluck, dann begann er ihr, die Dinge zu schildern, die sich vor über sechzig Jahren in Hudson County zugetragen hatten. Er ließ sich Zeit dabei, setzte fallweise ab und nippte an seinem Kaffee. Im Verlauf der Geschichte spürte Holly, wie sich Kälte in ihrer Magengrube einnistete. Sam war erst vierzehn Jahre alt gewesen, als er im Sägewerk anfing. Er hatte zwei Jahre dort gearbeitet, als die Schreckgespenster zum ersten Mal auftauchten. Niemand war damals sicher gewesen, was genau sie waren oder woher sie kamen. In der Gegend hatten schon immer reichlich Sagen über seltsame Kreaturen kursiert, die angeblich tief in den Wäldern hausten, auch über Kobolde, aber niemand hatte ihnen je sonderlich Beachtung geschenkt. Es waren Geschichten, die alte Männer an Lagerfeuern erzählten, um Kinder zu erschrecken, aber sie reichten alle in eine Zeit zurück, als die Osage-Indianer noch in dem Gebiet lebten.
Sam vermutete, dass die Schreckgespenster deshalb im Sägewerk aufgetaucht waren, weil der Wald abgeholzt wurde. Vielleicht hatte sie auch etwas anderes angelockt. Jedenfalls beschränkte es sich anfangs auf einige Sichtungen: Meldungen darüber, dass jemand etwas hinter einem Holzstapel oder einem Haufen Sägespäne hervorhuschen gesehen hatte. Jene ersten Vorkommnisse waren als Einbildung oder Sinnestäuschungen abgetan worden. Als die Sichtungen beharrlich weiter auftraten, schrieb man sie Waschbären oder Wieseln zu, wenngleich in der Nähe des Sägewerks nie irgendwelche Tiere gefangen wurden. Aber dann erschienen auf dem Boden der Vorarbeiterhütte die Gesichter. Die erste Fratze hielten noch alle für einen Scherz von einem der Arbeiter. Jeder lachte herzlich darüber, bis weitere Gesichter auftauchten. Je mehr Fratzen es wurden, desto häufiger wurden Schatten gesichtet. Allmählich bekamen die Arbeiter es mit der Angst zu tun, und schon bald redeten alle von Geistern und Gespenstern, kramten Märchen und alte Legenden hervor. Ein paar der Männer fürchteten sich so sehr, dass sie kündigten, was bei den anderen für Gelächter sorgte. Allerdings verstummte das Gelächter, als die Schreckgespenster sie anzugreifen begannen. Das erste Opfer war Carl Weinmeyer. Der alte Carl hatte die Angewohnheit gehabt, sich öfter mal davonzuschleichen, um sich unbeobachtet einen Drink zu genehmigen. An sich war Alkohol am Arbeitsplatz verboten, aber Carl konnte nicht aus seiner Haut. Er hatte schon so lange getrunken, dass er als Arbeiter nichts taugte, wenn er nicht halb besoffen war. Eines Abends hatte Carl sich wieder mal davongestohlen, um einen Schluck aus dem Flachmann zu nehmen, den er immer dabeihatte. Dabei versteckte er sich hinter einem der Holzstöße, wo es zu dunkel war, um von jemandem gesehen zu
werden. Darauf achtete er peinlich genau, weil er gefeuert worden wäre, hätte der Vorarbeiter ihn dabei erwischt. Er hatte sich eben einen kleinen Schluck Whiskey genehmigt, als er etwas erblickte, das sich in der Dunkelheit bewegte. Erst hielt er es für ein Opossum, dann jedoch schaute er genauer hin und stellte fest, dass dort gar nichts war. Nur ein Schatten. Laut Carl huschte der Schatten hinter ihn und packte ihn am Bein. Gleich darauf hielten zwei weitere Schatten auf ihn zu. Carl versuchte, sich von dem Ding loszureißen, das sein Bein festhielt, doch es erwies sich als ziemlich kräftig. Das Nächste, was er mitbekam, war, dass er auf dem Boden lag und über ihn diese Kreaturen schwärmten. Er konnte spüren, dass er gehalten wurde, aber wenn er versuchte, einen der Schatten von sich zu zerren, war da nichts. Carl hatte in jener Nacht zwar getrunken, jedoch nicht allzu viel, und er schwor, er konnte etwas sehen, es aber nicht zu fassen bekommen. Seine Hände strichen geradewegs durch das Ding hindurch. Und die Schatten besaßen Zähne und Klauen. Sie rissen ihn beinah in Stücke, bevor es ihm gelang, sich zu befreien und wegzurennen, um Hilfe zu suchen. Ein paar der anderen Arbeiter, darunter Sam, schnappten sich Laternen und suchten nach den Kreaturen, die Carl angegriffen hatten, fanden jedoch nichts. Carls Geschichte hätte man vielleicht noch nicht geglaubt, allerdings widerfuhr dasselbe zwei Nächte später einem anderen Mann. Und in der folgenden Woche zwei weiteren. Spätestens zu jenem Zeitpunkt wussten alle, dass im Sägewerk etwas Seltsames vor sich ging, weshalb die Arbeiter anfingen, Waffen zu tragen. Es wurde darauf geachtet, dass nie jemand alleine irgendwohin ging, nicht einmal zur Toilette. Im Verlauf der Wochen wurden immer mehr Schreckgespenster gesichtet. Es war, als kämen sie aus dem Boden. Und genau das geschah.
In der Nacht des Feuers hatte sich in der Hütte des Vorarbeiters ein Riss im Boden gebildet. Der Vorarbeiter selbst befand sich in der Hütte, als eine schwarze Masse aus dem Riss hervorquoll. Es waren Hunderte Schatten, die wie Öl aus dem Boden sprudelten. Die Arbeiter bekamen entsetzliche Angst, weil sie mittlerweile wussten, dass sie nicht gegen die Kreaturen kämpfen konnten. Gewehre waren ebenso nutzlos wie Fäuste, Füße und Messer. Das Einzige, wovor die Schreckgespenster sich zu fürchten schienen, war grelles Licht und Feuer. Sam vermutete, es lag daran, dass sie Kreaturen der Finsternis waren. Die Schreckgespenster waren eins mit der Dunkelheit und der Nacht; im Licht hörten sie zu existieren auf. Ungeachtet dessen, was in den Zeitungen stand, war es der Vorarbeiter gewesen, der das Sägewerk niederbrennen ließ. Tatsächlich entzündete er das erste Feuer sogar selbst. Der Brand bewirkte, was er sollte – er trieb die Schreckgespenster dorthin zurück, wo sie hergekommen waren. Da Sam somit ohne Arbeit dastand, schnürte er sein Bündel und kehrte nach Hause ins Hopi-Reservat nach Hoteville zurück, zu den schmalen Straßen des Ortes und den Lehmziegelhäusern derselben Farbe wie die kahle Landschaft ringsum. Er zog bei seinen Eltern ein und half ihnen, Mais, Bohnen und andere Gemüsesorten auf ihrem winzigen Landstrich am Fuße der Third Mesa anzubauen. Er schüttelte alles ab, was die weißen Missionare ihm im Internat in Phoenix eingetrichtert hatten und wandte sich wieder den spirituellen Überzeugungen der Hopi zu – einer Welt der Zeremonien und Tänze, in der Kachinas Segen aus fernen Bergen brachten und Masauwu, der Gott des Feuers und Hüter des Todes, durch die Nacht wandelte. In den Puwa-Kiki, den geheimen Höhlenorten, ließ Sam Gebetsstöcke aus geschnitztem und bemaltem Pappelholz
zurück, verziert mit Streifen farbigen Leders und Adlerfedern. Wenn er mit dem Geist der Klapperschlange sprach, bot er Gaben aus Tabak und geheiligtem Hafermehl dar, während er um Regen für die Ernten seines Volkes betete. In den unterirdischen Kivas lernte er die Lieder, Tänze und Geschichten der Hopi wieder kennen, darunter die Schöpfungsgeschichte, die davon berichtete, wie die ersten Menschen über ein Bambusrohr aus der Unterwelt durch eine als Sipapuni bekannte Öffnung auf die Erde geklettert waren. Von jener Öffnung glaubte man, dass sie sich am Grund des Grand Canyon befand, doch ihr Durchgang war mittlerweile für jeden versiegelt, außer für die Kachinas und die Geister der Toten, die in die Unterwelt zurückkehrten. In jede Kiva wird in die Mitte des Bodens ein kleines Loch gegraben, das für Sipapuni steht. Es dient dazu, die Hopi an die unterirdische Welt zu erinnern, aus der sie einst kamen, und an die Geister und Kreaturen, die sie dort zurückließen. Laut uralten Legenden der Hopi kletterten die ersten Menschen aus der Dunkelheit der unteren Ebenen in das Licht der vierten Ebene, jener, auf der die Menschen bis in die Gegenwart lebten. Sam hob die Hand und zeigte drei Finger. »Zählen Sie… eins, zwei, drei Ebenen unter uns. Dort in der Dunkelheit leben viele Arten von Kreaturen. Ich habe den Ältesten meines Dorfes davon erzählt, was ich im Sägewerk gesehen hatte. Sie meinten, es könnten Schreckgespenster aus einer der unteren Ebenen gewesen sein, die in unsere Welt gelangen wollten. Vielleicht hatten sie es satt, in der Dunkelheit zu leben, und wollten uns unsere Welt entreißen. Und vielleicht haben sie einen zweiten Sipapuni gefunden. Sie sind böse Kreaturen, Dinge, die wir nicht als Nachbarn haben möchten.« »Sind es Geister?«, fragte Holly.
»Ja und nein«, antwortete Sam. »Sie sind wie Geister, weil sie nicht wie wir aus Fleisch und Blut bestehen. Die Welt, in der die Schreckgespenster leben, die Welt, aus der wir dem Glauben der Hopi nach alle stammen, ist wie ein Reich der Geister. Es ist der Ort, von dem unsere Vorfahren kamen und an den wir zurückkehren, wenn wir sterben. Aber es gibt dort auch andere Wesen als Geister.« Holly schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht.« Sam zuckte mit den Schultern. »Es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden, um einer Außenstehenden die Überzeugungen meines Volkes zu erklären. Sagen wir einfach, die Schreckgespenster sind etwas, das meine Ahnen in der alten Welt zurückgelassen hatten, etwas, das unbedingt hier bei uns sein will.« »Aber warum nur in meinem Haus?«, hakte Holly nach. »Warum sind sie nicht überall?« Der alte Mann klopfte die Asche aus der Pfeife in den Aschenbecher, dann legte er die Pfeife beiseite. »Ich denke, das Sägewerk wurde über einer zweiten Sipapuni errichtet. Wahrscheinlich war sie einst verschlossen, aber im Lauf der Jahre dürften die Schreckgespenster daran gezerrt und versucht haben, sie zu öffnen, um in unsere Welt zu gelangen. Ich glaube, sie haben sie ein wenig aufbekommen, aber das Feuer im Sägewerk dürfte sie gezwungen haben, die Öffnung wieder zu schließen. Als ich aus dem Reservat hierher zurückgekehrt bin, wollte ich nach der Öffnung suchen, aber jemand hatte auf dem Gelände des Sägewerks ein Haus gebaut.« »Vivian Martin«, sagte Holly. Sam nickte. »Sie war die Erste, die tapfer genug war, in der Gegend ein Haus zu bauen. Alle anderen haben davon Abstand genommen, weil sie die Geschichten gehört hatten. Inzwischen kennt sie kaum noch jemand.«
»Was ist mit den Gesichtern auf unserem Küchenboden?«, fragte Holly. »Was sind sie?« Sam lächelte. »Das sind Schreckgespenster, die sie von der Welt unter der unseren aus anstarren. Aber es gibt keinen Grund, sich zu fürchten. Selbst wenn es ihnen gelungen ist, den Durchgang zu öffnen, halten die Kachinas sie davon ab, ihn zu durchschreiten. Ein paar mag es gelingen, aber gefährlich sind sie erst in großer Zahl. Solange Sie die Kachinas haben, gibt es nichts zu befürchten. Die kleinen Puppen sind Wächter. Beschützer. Sie bewegen sich, wenn Gefahr droht.« »Die Kachinas bewegen sich?«, fragte Holly verblüfft. Abermals nickte der alte Indianer. »So merkt man, ob sich Schreckgespenster nähern. Die Kachinas drehen sich ihnen zu wie einem Feind. Die Kachinas sind, starke Medizin, sehr mächtig, sehr heilig.« Holly spürte, wie sich Übelkeit in ihrem Magen regte. »Aber ich habe die Puppen weggeräumt.« »Sie haben was?!«, stieß Sam hervor und sprang beinah aus dem Stuhl auf. »Ich habe sie von den Ablagen entfernt und in Kartons verstaut. Alle. Sogar die Holzmasken. Es gefiel mir nicht, wie sie mich die ganze Zeit angestarrt haben. Außerdem dachte ich, jemand wollte uns einen Streich spielen, uns Angst einjagen, indem er die Puppen ständig umdreht.« »Ihre Kachinas haben sich bewegt?« Holly nickte. »Aber wir dachten, jemand hätte sich ins Haus geschlichen und es getan.« »Wie haben die Puppen sich gedreht.« »Immer den Wänden zu.« »Und wie viele? Eine? Zwei?« »Alle«, antwortete Holly.
Sam sah sich nervös im Raum um. »Das ist nicht gut. Überhaupt nicht gut. Die Kachinas sind starke Medizin. Die Schreckgespenster mögen die kleinen Puppen nicht. Sie kommen nicht, wenn die Kachinas Wache halten.« »Woher sollte ich das wissen?« Sam schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Hat Vivian es Ihnen nicht erzählt? Vielleicht hat sie es ja Ihrem Mann gesagt. Oder einen Brief geschickt.« »Nein. Oder doch. Ich bin nicht sicher. Vielleicht in einem Brief vor langer Zeit. Aber wir dachten, sie sei verrückt.« »Verrückt? Verrückt? Jeder in dieser Stadt ist verrückt. Aber nicht Vivian. Sie nicht. Sie hat die Wahrheit gesehen. Sie hat daran geglaubt.« »Das wusste ich nicht. Und niemand hat sich die Mühe gemacht, mir davon zu erzählen.« »Nicht gut«, wiederholte Sam. »Gar nicht gut. Wenn sich alle Kachinas bewegen, bedeutet das, viele Schreckgespenster nahen. Vielleicht sogar eine ganze Armee. Die Richtung, in die sich die Kachinas drehen, zeigt an, woher die Schreckgespenster kommen. In Ihrem Fall haben sie sich umgedreht, das heißt, die bösen Kreaturen kommen durch die Wände.« Sam ergriff seine Pfeife, stopfte sie aber nicht. »Die Masken haben Sie auch entfernt? Auch sie waren Medizingegenstände zur Abwehr des Bösen. Sie wurden vor Hunderten Jahren von Cherokees angefertigt und von einem Medizinmann zum nächsten weitergereicht.« »Es tut mir Leid. Ich habe einen Fehler begangen. Aber ich wusste es nicht.« »Einen großen Fehler.« Holly stand auf. Sie war sich noch nicht schlüssig darüber, wie viel von Sam Tochis Geschichte sie glaubte, aber der alte Indianer beunruhigte sie zutiefst. Sie dachte an ihre Kinder und
wollte zurück nach Hause. »Ich muss gehen. Ich werde die Puppen und Masken wieder anbringen, wo sie hingehören. Alle. Ich verspreche es.« Sam sah sie an. Aus seinem zerfurchten Antlitz sprach Angst. »Dafür könnte es zu spät sein.«
KAPITEL 26
»Du hast was gekauft?« Holly stand mit vor der Brust verschränkten Armen im Wohnzimmer. Sie hatte den festen Vorsatz gehabt, die Kachinas auszupacken und wieder auf die Ablagen zu stellen, doch der Anblick, der sie erwartete, als sie nach Hause zurückkehrte, ließ sie die kleinen Holzpuppen völlig vergessen. »Eine Flinte. Ich habe eine Flinte gekauft«, antwortete Mike und legte die Tasche mit der Waffe auf das Sofa. »Hast du den Verstand verloren?«, fragte sie. »Wozu um alles in der Welt hast du das Ding gekauft?« »Zum Schutz.« Er öffnete die Tasche und holte die Flinte heraus, um sie ihr zu zeigen. »Es ist eine Winchester 1200 Repetierflinte. Fünf Kugeln im Magazin, eine weitere in der Kammer.« Sie sah ihn an, als sei er vollkommen übergeschnappt. »Zum Schutz wovor? Bären? Elefanten?« »Zum Schutz vor demjenigen, der sich hier nachts einschleicht.« »Warum hast du nicht gleich ein Maschinengewehr gekauft? Oder ein paar Landminen?« Unverkennbar wütend schüttelte sie den Kopf. »Du hast gesagt, du wolltest in die Stadt, um dich nach einer Alarmanlage umzusehen.« »Hab ich auch, aber es gab keine.« »Also hast du beschlossen, stattdessen eine Schusswaffe zu kaufen?« »Es schien mir eine logische Alternative«, erwiderte Mike. »Logisch nach wessen Standard?«
»Sieh mal, viele Leute, die auf dem Land wohnen, haben Waffen; das gehört zu ihrem Lebensstil. Deshalb gibt es hier so wenig Raubüberfälle und Einbrüche. Ein Dieb würde es nicht wagen, bei einem der Bauern einzusteigen, weil ihm der Hintern weggeschossen würde.« »Und wer genau hat dir diese Landweisheit erzählt?« »Otto Strumberg.« »Wer?« »Otto Strumberg. Ihm gehört ein Hof ein Stück die Straße runter. Gestern habe ich angehalten und ein paar Minuten mit ihm geplaudert, als ich unterwegs zur Bibliothek war. Er sagt, in dieser Gegend gibt es deshalb kein Verbrechen, weil jeder weiß, dass Bauern Schusswaffen besitzen. Ich habe ihm von den Schwierigkeiten erzählt, die wir haben, und er hat vorgeschlagen, ich sollte mir eine Waffe besorgen.« »Ach, hat er das?« Mike nickte. »Otto hat mir geraten, die Waffe auszupacken und zu verwenden, ein paar Schießübungen zu machen. Er meinte, es würde sich herumsprechen, dass ich Waffenbesitzer bin, und dann würde sich niemand mehr trauen, nachts herzukommen und uns das Leben schwer zu machen.« »Erinnere mich daran, dem lieben Otto ein herzliches Dankeschön für seinen Rat zu schicken«, gab Holly sarkastisch zurück. »Wenn du mal darüber nachdenkst, ist Ottos Vorschlag durchaus sinnvoll.« »Deine Großmutter hatte auch eine Waffe, und es hat ihr nicht geholfen«, fauchte Holly. »Was hast du vor? Willst du noch ein paar Löcher in die Wände ballern?« »Nein. Ich ziehe die Decke vor«, witzelte Mike. Seine Frau zeigte sich nicht belustigt. »Was ist mit den Kindern? Es ist alles andere als sicher, eine geladene Waffe in einem Haus mit Kindern zu haben.«
»Ich werde sie nur dann laden, wenn ich vorhabe, sie zu benutzen.« »Das ist trotzdem nicht sicher. Du weißt, wie gerne Tommy an deine Sachen rangeht.« Wie auf ein Stichwort hin hörten sie, dass die Vordertür sich öffnete. Holly schaute auf die Uhr; die Kinder kamen von der Schule nach Hause. »Pack das Ding weg«, forderte sie Mike auf. Statt zu widersprechen, verstaute Mike die Flinte wieder in der Tasche und schloss sie. Sie hörten Schritte und Stimmen, dann tauchte ihre Tochter an der Tür auf. »Hi«, begrüßte Megan sie. »Was macht ihr?« »Nur reden.« Holly schenkte ihr ein Lächeln. »Wie war’s in der Schule?« »Langweilig wie immer.« Megan erblickte die Tasche auf dem Sofa. »Was ist das?« Holly schleuderte Mike einen vernichtenden Blick zu. »Ach, euer Vater ist losgezogen und hat eine Waffe gekauft.« »Oh«, meinte Megan nur und ließ nicht das geringste Interesse am Inhalt der Tasche erkennen. »Ich geh rauf und höre ein bisschen Musik.« »Hast du keine Hausaufgaben?«, fragte Holly. »Nein. Die habe ich schon in der Schule gemacht.« Megan trat von der Tür zurück und verschwand. Kaum war sie weg, betrat Tommy das Zimmer. Der Junge hielt ein Glas Limonade in der einen und einen Haferflockenkeks in der anderen Hand. »Hi, Mom, hi, Dad. Ich bin da. Mann, heute hättet ihr in der Schule sein müssen. Auf dem Spielplatz gab es eine Rauferei zwischen zwei Jungen. Ich kenne sie nicht, sie sind viel größer, aber es war ziemlich heftig. Der eine hat den anderen zu Boden gestoßen und – «Als er die Tasche auf dem Sofa erblickte, verstummte er. »Was ist das?«
Wieder empfing Mike einen garstigen Blick von seiner Frau. Er ignorierte ihn und beantwortete die Frage seines Sohns. »Eine Flinte.« »Echt? Wow! Darf ich sie mal sehen?« Mike holte die Waffe aus der Tasche hervor und zeigte sie Tommy. »Du rührst sie nicht an, Tommy. Waffen sind nichts für Kinder. Verstanden?« Der Junge nickte. Sein Blick haftete an der Flinte in den Händen seines Vaters. »Wow. Wenn ich das Jeff Parker erzähle. Jeff sagt, er hat eine .22, aber die hier ist noch besser. Wenn ich dem sage, dass wir eine Flinte haben…« »Halt mal, immer langsam«, bremste Mike den Jungen. »Wir haben keine Flinte. Ich habe eine. Alles klar?« Tommy wirkte enttäuscht. »Darf ich mal damit schießen, wenn du dabei bist?« Mike schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, nein. Eine Schrotflinte ist dafür etwas zu heftig. Vielleicht wenn du größer bist.« »Wie viel größer?«, wollte Tommy wissen. »Ich wachse ziemlich schnell.« Mike lächelte. »So schnell auch wieder nicht.« »Nächste Woche? Bin ich nächste Woche groß genug dafür?« »Nicht mal nächstes Jahr. Ich sage dir schon, wenn es soweit ist, aber das wird noch eine ganze Weile dauern. Bis dahin rührst du diese Waffe nicht an, hast du verstanden?« Widerwillig nickte Tommy. »Aber darf ich sie jetzt anfassen, nur dieses eine Mal und dann nie wieder? Wenn ich sie gar nicht berührt habe, kann ich Jeff morgen keine große Geschichte darüber auftischen. Darf ich? Nur ein Mal?« Mike war klar, dass er sich noch größeren Ärger mit Holly einhandelte, aber er erinnerte sich auch daran, wie es war, ein
aufgeregter, kleiner Junge zu sein. »Na schön, du darfst sie anfassen. Aber wirklich nur dieses eine Mal. Abgemacht?« »Abgemacht.« Tommy legte den Keks auf den Kaffeetisch und stellte das Glas mit Limonade daneben. »Danke, Dad.« Mike hielt Tommy die Waffe hin. Der Junge fuhr mit den Fingern den Holzschaft entlang und berührte den metallenen Lauf. Dabei kamen ihm Dutzende Fragen und Anmerkungen in den Sinn. »Wow, aus der Nähe ist das Ding Wirklich groß. Ist das echtes Holz? Sieht schwer aus. Ist es schwer? Kommen da die Patronen rein? Darf ich die Patronen sehen, Dad? Was für eine Art von Gewehr ist das noch mal?« Mike beantwortete die Fragen, dann verstaute er die Flinte wieder in der Tasche. »In Ordnung, das war’s. Anfasszeit ist vorüber. Nimm jetzt deinen Keks und deine Limo und geh zurück in die Küche. Deine Mutter mag es nicht, wenn du überall Krümel verstreust.« »Na gut, mach ich. Danke, Dad, dass ich die Flinte anfassen durfte.« Mike wartete, bis Tommy das Zimmer verlassen hatte, dann wandte er sich Holly zu. »Siehst du? Er wollte sie nur mal berühren. Jetzt ist er glücklich. Und ohne meine Erlaubnis wird er sie nicht noch einmal anfassen.« »Wie kannst du so sicher sein? Du weißt doch, wie Jungs sind.« »Tommy ist ein braves Kind. Er wird die Waffe in Ruhe lassen. Außerdem spielt es keine Rolle, weil ich sie nicht geladen rumliegen lassen werden.« Frustriert riss Holly die Hände hoch. »Ich verstehe einfach nicht was in dich gefahren ist. Wie konntest du nur ein solches Ding kaufen?« »Ich habe es gekauft, um dich und die Kinder zu schützen. Und dieses Haus und unseren Besitz. Meine Großmutter
mögen die eingeschüchtert haben, aber mich nicht. Nicht, solange ich die Flinte zum Schutz habe. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigst, ich gehe raus und mache ein wenig Krach.« »Was hast du vor?«, verlangte Holly zu erfahren. »Na, ich will die Flinte ausprobieren, ein paar Kugeln abfeuern, ein Gefühl für die Waffe kriegen. So ein Ding zu besitzen, bringt nicht viel, wenn man nicht weiß, wie man damit umgeht.« »Worauf willst du schießen?« »Oh, keine Ahnung. Blechbüchsen. Alte Schallplatten.« Er grinste. »Vielleicht sogar auf Schatten.« »Das ist nicht witzig.« Sein Grinsen verpuffte. »Tut mir Leid, ich konnte nicht widerstehen. Ich werde mir im Obstgarten irgendein Ziel aufbauen. Ich will bloß ein bisschen Lärm veranstalten, damit jeder, der die Schüsse hört, endgültig weiß, dass die Familie Anthony sich von niemandem mehr etwas gefallen lässt.« Holly schaute auf die Flinte und runzelte die Stirn. »Sieh bloß zu, dass du weit nach hinten in den Obstgarten gehst und vom Haus wegzielst. Ich will nicht, dass versehentlich jemand verletzt wir.« »Ich bin doch nicht blöd. Auf das Haus hätte ich ohnehin nicht gezielt. Und selbst wenn, eine Schrotflinte hat keine so große Reichweite. Deshalb habe ich mich auch für dieses Ding statt für ein Gewehr entschieden.« »Wie auch immer«, sagte sie, immer noch wütend darüber, dass er überhaupt eine Schusswaffe gekauft hatte. »Sorg dafür, dass Tommy dir nicht folgt.« »Er ist nach oben gegangen. Ich werde still und leise vorne rausgehen.« Mike ergriff die Tragetasche und die Schachtel mit der 12/70er Munition. Auf dem Weg zur Tür drehte er sich noch einmal zu seiner Frau um. »Übrigens, wo warst du heute?«
»Was meinst du?«, fragte Holly, immer noch wütend wegen der Schrotflinte. »Woher weißt du, dass ich irgendwo war?« »Auf dem Heimweg ist mir auf der Sawmill Road ein Taxi entgegengekommen. Da wir entlang dieser Straße keine Nachbarn haben, dachte ich mir, du müsstest irgendwohin gefahren sein.« Holly nickte. »In die Stadt. Ich bin kurz vor dir zurückgekommen.« »Einkaufen?«, erkundigte sich Mike. »Nein. Ich war bei Sam Tochi.« Mike bedachte sie mit einem merkwürdigen Blick. »Dem alten Indianer? Was um alles in der Welt wolltest du von dem? Und woher wusstest du überhaupt, wo er wohnt?« Holly durchquerte das Zimmer und ergriff ihre Handtasche vom Kaffeetisch. Sie holte ihre Zigaretten daraus hervor und drehte sich wieder Mike zu. »Seine Adresse steht im Telefonbuch. Ich bin zu ihm gefahren, weil jeder sagt, er sei ein Experte für die Geschichte der Gegend. Ich dachte, er könnte vielleicht etwas über die seltsamen Dinge wissen, die hier vor sich gehen.« Mike kicherte. »Es sagt aber auch jeder, dass der Alte nicht ganz richtig im Kopf ist.« »Er ist vielleicht gar nicht so verrückt, wie die Leute denken.« »Warum? Was hat er dir erzählt?« Sie zündete sich eine Zigarette an und schilderte Mike ihren Besuch bei Sam Tochi. Er hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen, und schüttelte den Kopf, als sie ihre Geschichte beendete. »Der Alte hat sie tatsächlich nicht mehr alle.« Mike lachte. »Du glaubst doch hoffentlich nichts von dem, was er dir gesagt hat, oder?«
Hollys Kiefermuskeln spannten sich. »Eine Menge von dem, was er mir erzählt hat, ergibt durchaus Sinn. Warum sollte ich ihm nicht glauben?« Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ sie das Zimmer, ging in die Bibliothek und holte Vivian Martins Album aus dem Regal. Sie kehrte damit ins Wohnzimmer zurück und schlug es an der Stelle mit den Zeitungsausschnitten über das Sägewerk auf. »Da. Lies das, und dann sag mir noch mal, dass hier in der Gegend nichts Merkwürdiges vor sich geht.« Mike legte die Flinte und die Munitionsschachtel auf den Kaffeetisch, dann nahm er das Album von Holly entgegen. Sie setzte sich auf das Sofa und wartete, während er die Artikel las. Nach den ersten beiden wollte er ihr das Album zurückgeben, aber sie wies ihn auf zusätzliche Berichte weiter hinten hin. »Und?«, meinte Mike schließlich und schaute von dem Album auf. »Klingt, als wäre der Reporter des letzten Berichts anfällig für Gerüchte und Folklore. Der gäbe einen hervorragenden Boulevardjournalisten ab.« Holly öffnete die Handtasche und holte den Zeitungsausschnitt daraus hervor, den sie Sam Tochi gezeigt hatte. »Sieh dir das Bild an, das am unteren Rand. Achte auf die Namen der Männer im Bild. Sam Tochi war einer von ihnen. Er hat früher im Sägewerk gearbeitet. Und er war in der Nacht dort, als das Feuer gelegt wurde. Er sagt, dass alles in dem letzten Artikel stimmt: Die Arbeiter wurden von Schattenkreaturen angegriffen. Ein paar der Männer wurden ziemlich schlimm verletzt.« »Die Arbeit in einem Sägewerk ist nun mal gefährlich«, entgegnete Mike. »Jemand hat einen Unfall, verletzt sich und schiebt die Schuld auf Schatten. Wahrscheinlich als Ausrede, um nicht wegen Tollpatschigkeit gefeuert zu werden. Oder
weil derjenige zum Zeitpunkt des Unfalls gerade ein wenig betrunken war.« »Und wie erklärst du dir dann, dass die Männer Waffen trugen? Sam zufolge hatten die Arbeiter sie zum Schutz gegen die Schreckgespenster dabei.« Mike lachte. »Wenn sie so sicher waren, dass sie von bösen Schatten angegriffen wurden, dann hätten sie gewusst, dass ihnen Schusswaffen wenig nützen würden. Wahrscheinlich hatte sie die Kanonen dabei, um am Arbeitsplatz Ratten abzuknallen.« Er ergriff die Schrotflinte und die Patronen. »Wahrscheinlich war dieser verrückte Indianer die Quelle für alle die Geschichten über unheimliche Schatten. Ich wette, er denkt sie sich aus und verdient sich eine goldene Nase damit, seine magischen Kachina^ an jeden zu verkaufen, der einfältig genug ist, ihm zu glauben. Meiner Großmutter muss er ein Vermögen abgeknöpft haben.« »Und wie erklärst du dir, dass die Kachinas sich von selbst umgedreht haben?« »Von selbst? Wir haben doch nicht gesehen, wie sie sich gedreht haben. Oder? Vermutlich bezahlt Sam ein paar Teenager aus dem Ort dafür, dass sie sich nachts hier einschleichen und die Puppen umdrehen. Er denkt wohl, wenn er uns verängstigt, kann er uns noch mehr Kachinas verkaufen.« »Du hast wohl auf alles eine Antwort, was?«, warf Holly ihm vor. »So ziemlich, ja«, nickte Mike. Holly zeigte sich keineswegs belustigt. »Was ist mit den Kindern? Oder mit mir? Wir alle haben diese Schatten gesehen.«
Mike lächelte. »Ich bin sicher, ihr habt irgendetwas gesehen oder glaubt es zumindest. Trotzdem behaupte ich, dass es eine logische Erklärung für alles gibt, was hier vorgefallen ist.« »Dann hoff mal besser, dass du Recht hast«, sagte Holly und stand auf. »Denn wenn den Kindern etwas passiert, ramme ich dir diese Flinte in den Hintern.« Mike spielte mit dem Gedanken, darauf etwas zu erwidern, entschied jedoch, die Unterhaltung damit zu beenden, dass seine Frau das letzte Wort hatte. Er verließ stattdessen das Wohnzimmer und ging in die Küche, um einen leeren Milchkarton aus dem Abfalleimer hervorzukramen. Mit der Tragetasche mit der Winchester in der rechten Hand und dem Milchkarton sowie der Patronenschachtel in der linken trat er durch die Vordertür aus dem Haus und umkreiste es zum Obstgarten. Er war fast am Wald angelangt, als er befand, dass er sich weit genug vom Haus entfernt hatte, um gefahrlos mit der Flinte schießen zu können. Mike stellte den Milchkarton in die Nähe des Stamms eines Apfelbaums, ging etwa fünfzehn Meter weit weg und legte die Tragetasche ab. Er öffnete sie und holte behutsam die Schrotflinte daraus hervor. Nervöse Erregung durchzuckte ihn, als er die Waffe herausnahm. Obwohl er im Verlauf seines Lebens bereits mehrere Schusswaffen in den Händen gehalten hatte, hatte er noch nie eine abgefeuert, wovon Holly keine Ahnung hatte. Seine Frau würde einen Anfall bekommen, wenn sie wüsste, dass er sich eine Flinte gekauft hatte, ohne je mit einer Waffe geschossen zu haben. »Aber wir haben schließlich alle unsere kleinen Geheimnisse, nicht wahr?«, murmelte er bei sich. Er öffnete die Munitionsschachtel und legte fünf grellrote Patronen in den Bauch der Flinte ein. Als er den Schlitten betätigte und eine der Patronen in die Kammer schob, ertönte ein hörbares Klicken.
Was er in den Händen hielt, war plötzlich nicht mehr bloß eine Schrotflinte: Es war eine geladene Schusswaffe. Und was für eine: eine Repetierflinte mit 46 Zentimeter langem Lauf, wie sie auch bei der Polizei zum Einsatz kam. Eine Schusswaffe, die in der Lage war, selbst dem zähesten Gegner ein melonengroßes Loch in die Brust zu sprengen. Während Mike die Winchester lud, wurde ihm klar, dass der amerikanischen Bevölkerung durch den Versuch der Gesellschaft, zivilisiert zu werden, etwas sehr Kostbares genommen worden war. Mit der Schrotflinte in der Hand fühlte er sich anders, stärker, ausgeglichene^ als seit langer Zeit. Die Waffe fühlte sich wie ein natürlicher Teil seiner selbst an, wie ein abgetrenntes Glied, das auf wundersame Weise wieder angefügt worden war. Er stellte sich vor, wie es vor zweihundert Jahren gewesen sein musste: Ein Mann und seine Feuerwaffe sorgten für seine Familie, indem sie frisches Fleisch auf den Tisch brachten, Gesetzlose und Indianer abwehrten und Heim und Herd und alles schützten, was ihnen lieb und teuer war. Es fühlte sich so gut an, so richtig. Wie konnte irgendjemand behaupten, dass es falsch sei, eine Schusswaffe zu besitzen? Mike fragte sich, wann die Dinge so entsetzlich aus dem Lot geraten waren. Wann hatten die Politiker und Feministinnen des Landes die Männer überzeugt, dass es verwerflich sei, eine Waffe zu haben? Wann waren die Waffen aus den Händen unschuldiger, gesetzestreuer Bürger in jene Krimineller gelegt worden? Wann hatte das Mittelalter dieses Landes wirklich begonnen? An vielen Orten glich das Recht, Waffen zu besitzen und zu tragen, kaum noch mehr als einer trüben Erinnerung – bedeutungslosen Worten, die in Handschrift auf zerfallenden Seiten uralten Pergaments standen. Das Recht, Waffen zu tragen, wie es die Verfassung der Vereinigten Staaten vorsah,
war mittlerweile in vielen Gegenden illegal, genau wie das Recht auf Leben, auf Freiheit und auf allgemeines Wohl. Mike steckte die letzte Patrone ins Magazin, holte tief Luft, setzte die Flinte an die Schulter an und entsicherte die Waffe. Er zielte auf den Milchkarton und drückte langsam den Abzug. Die Flinte brüllte auf und schlug so heftig aus, dass Mike um ein Haar auf dem Hintern gelandet wäre. Er hatte die Explosionskraft des Kalibers 12 unterschätzt – ebenso die Lautstärke des Knalls; deshalb hatte er keinen Gehörschutz getragen und könnte von Glück reden, wenn seine Trommelfelle unversehrt geblieben waren. Er senkte die Flinte, rieb sich die rechte Schulter und schüttelte den Kopf in dem Versuch, das Summen aus den Ohren zu bekommen. Dabei wurde ihm schmerzlich bewusst, dass der leere Milchkarton noch an derselben Stelle stand wie zuvor – und keinerlei Einschusslöcher aufwies. »Daneben?« Mike ging näher an den Milchkarton, um ihn eingehender zu betrachten; er konnte nicht glauben, was er sah. »Wie, zum Teufel, kann ich mit einem Kaliber 12 daneben geschossen haben? Das ist unmöglich.« Auch wenn dem so sein mochte, er hatte den Milchkarton tatsächlich völlig verfehlt. Schlagartig zersplitterten die Bilder des Pioniers Mike Anthony, wie er sich mit seiner treuen Waffe in der Hand Grizzlybären, wild gewordenen Büffeln und Angriffen wilder Indianer stellte. »Verfluchte Scheiße. Ich habe wirklich danebengeschossen.« Etwa drei Meter von dem leeren Milchkarton entfernt blieb er stehen, betätigte den Schlitten der Flinte, warf die leere Hülse aus und schob eine neue in die Kammer. Die Luft um ihn roch beißend nach Schießpulver. Da er seiner Schulter weitere Schmerzen ersparen wollte, hielt er die Waffe auf Hüfthöhe, zielte mit dem Lauf auf den Karton und betätigte den Abzug.
Auch mit dem zweiten Schuss verfehlte er den Karton und riss stattdessen etwa einen halben Meter links davon ein Loch in den Boden. Sofort lud er abermals durch, feuert erneut und traf endlich sein Ziel. Der Milchkarton wurde in die Luft geschleudert, als ein Schrothagel die Vorderseite durchsiebte und die Rückseite völlig zerfetzte. Er schoss ein viertes und ein fünftes Mal, traf den Karton mit den verbliebenen Patronen zwei weitere Male. »So geht das!«, lachte er. »Wer sagt’s denn!« Er drehte sich zum Haus um und fragte sich, ob Holly seine eindrucksvolle Demonstration der Schießkunst beobachtet hatte. Zumindest musste sie ihn gehört haben. Verdammt, die gesamte Nachbarschaft musste ihn gehört haben. Und er hoffte, auch derjenige, der sich nachts in ihr Haus zu schleichen pflegte. »Vielleicht wird ihn das davon überzeugen, sich hier nicht mehr herzu wagen.« Er spielte mit dem Gedanken an weitere Schießübungen, entschied sich jedoch dagegen. Es wäre nicht gut, die gesamte Munition aufzubrauchen, zumal er nicht vorhatte, an jenem Tag noch einmal in die Stadt zu fahren. Eine ungeladene Waffe stellte für niemanden eine Bedrohung dar. Mike verstaute die Schrotflinte wieder in der Tragetasche, sammelte die Teile des Milchkartons ein und brach zurück zum Haus auf. Obwohl er das Ziel zwei Mal verfehlt hatte, war er mit seiner Schießfertigkeit zufrieden. Er fühlte sich besser darauf vorbereitet, seine Familie und seinen Besitz zu beschützen. Sollte es bloß jemand wägen, noch einmal in ihr Haus einzusteigen.
Teil III
»Nur das Unbekannte ängstigt den Menschen. Sobald man ihm die Stirn bietet, ist es schon kein Unbekanntes mehr.« Antoine de Saint-Exupery
KAPITEL 27
Mikes Mund fühlte sich trocken an, seine Hände waren feucht vor Schweiß. Er saß mit dem Rücken zur Wand in Richtung der offenen Tür auf einem der extragroßen Stühle in der Bibliothek. Auf seinem Schoß ruhte die Winchester, die er an jenem Tag gekauft hatte. Die Flinte war mit fünf Patronen der 12/76er Munition geladen. Aus Sicherheitsgründen hatte er keine Patrone in die Kammer geschoben. Noch nicht. Das Haus präsentierte sich dunkel, gespenstisch und still, abgesehen von einem gelegentlichen Knarren, wo sich etwas setzte. Holly und die Kinder waren vor Stunden zu Bett gegangen. Sie hatte versucht, auch ihn dazu zu bewegen, mit nach oben zu gehen, aber er hatte sich standhaft geweigert. Jemand drang in ihr Haus ein und versuchte, sie zu terrorisieren, und Mike würde dem ein Ende bereiten. Wenn der Sheriff nichts dagegen unternehmen wollte, würde er die Sache eben selbst in die Hand nehmen. Er nahm die Hände von der Waffe auf seinem Schoß und wischte sich über die Stirn. Es war eine schwüle Nacht, und ein Schweißfilm überzog seine Haut. Die Hitze hatte eine einlullende Wirkung und gestaltete es schwierig, wach zu bleiben; Mike musste kämpfen, um nicht einzuschlafen. Gern hätte er ein Fenster geöffnet, um etwas Nachtluft hereinzulassen, aber er wollte wissen, wie der Unbekannte ins Haus gelangte. Durch das Öffnen eines Fensters würde er es ihm nur leichter machen. Ebenso wenig konnte er im Wohnzimmer fernsehen, um die Langeweile zu vertreiben. Selbst bei abgeschaltetem Ton würde das Flimmern des Bildschirms draußen jeden davor
warnen, dass noch jemand wach war. Radio zu hören, kam nicht einmal mit Kopfhörern in Frage, weil er jedes Geräusch wahrnehmen musste, dass ihn auf die Gegenwart eines Eindringlings aufmerksam machen könnte. Kein Fernsehen, kein Radio. Mike wollte, dass sich nichts von jeder anderen Nacht unterschied, damit der Unbekannte keine Falle witterte. Denn genau das war es, eine Falle. Mike hatte Holly und den Kindern die strikte Anweisung erteilt, in dieser Nacht oben zu bleiben. Um zusätzlich zu gewährleisten, dass sich alle daran halten würden, schlief Tommy bei seiner Mutter. Nun hieß es nur noch abwarten, wer aufkreuzen würde. Mike unterdrückte ein Gähnen und gestattete sich, kurz die Augen zu schließen. Im Haus herrschte ohnehin Finsternis; es hatte keinen Sinn, angestrengt zu versuchen, im Dunklen etwas zu erkennen. Er würde es hören, wenn jemand ins Haus einstiege: das Rütteln eines Türriegels, das Quietschen eines Fensters, das aufgeschoben wurde, Schritte im Flur. Er brauchte sich nur zu entspannen und zu warten.
Die Hitze musste ihren Tribut gefordert haben; Mike war eingedöst. Er war nicht sicher, wie lange er geschlafen hatte, aber als er die Augen aufschlug, hatten die Schatten im Zimmer sich verlagert. Außerdem wirkten sie dunkler und tiefer als zuvor. Er schaute auf die Uhr. Seit dem letzten Blick darauf war wenig mehr als eine Stunde verstrichen, demnach hatte er nicht lange gedöst. Dennoch ließen die Unterschiede im Zimmer ihn vermuten, dass der Mond bereits halb über den Himmel gewandert war und sich mittlerweile auf der anderen Seite des Hauses befand. In der Bibliothek war es wesentlich dunkler als zuvor.
Und während es zuvor schwül und heiß gewesen war, herrschte nun eher Kälte vor. Er hob die rechte Hand und stellte fest, dass von hinter ihm eine leichte Brise wehte. Darin schwang ein fauliger, widerwärtiger Geruch mit wie von etwas Totem. Mike setzte sich aufrechter hin. Die letzten Nebel der Schläfrigkeit fielen von ihm ab. Wie konnte eine Brise wehen, wenn alle Fenster geschlossen waren? Er drehte leicht den Kopf und versuchte, die Quelle des Luftzugs zu spüren. Er stammte eindeutig von hinter ihm, doch dort befand sich nur die Wand. »Das kann nicht sein«, murmelte er und stand auf. Mit der Flinte in der Hand ging er langsam auf die Wand zu. Es war jene, an der früher die Holzmasken gehangen hatten und die nun große Risse vom Boden bis zur Decke verunstalteten. Als er näher trat, wurde ihm klar, dass der Luftzug aus den Rissen kam. Zunächst dachte er, sie müssten sich bis hinaus ins Freie erstrecken, sodass er lediglich die Nachtluft von draußen spürte, aber der Luftzug war eiskalt und ließ ihn frösteln, wenn er seine nackte Haut berührte. Natürlich würde es draußen vermutlich kühler sein als im Haus, aber unmöglich so kalt. Den Luftzug begleitete ein leises Säuseln, als flüsterte etwas tief in der Wand. Das Geräusch erinnerte ihn an das Summen von Insekten. Einen Augenblick malte er sich Tausende Küchenschaben aus, die in den Wänden krabbelten und sich miteinander verständigten. Es war keine besonders erfreuliche Vorstellung. Das Flüstergeräusch wurde lauter und ließ ihn einen Schritt von der Wand zurückweichen. Dabei nahm er aus dem Augenwinkel flüchtig eine Bewegung wahr. Jemand oder etwas befand sich mit ihm in der Bibliothek. Er wirbelte herum, als ein schattiger Schemen unter einen Kaffeetisch huschte. Ein weiterer Schatten flitzte an der Wand
auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers entlang. Im Raum war es dunkel, aber die Schatten waren noch dunkler. Was, zur Hölle, ist das? Zuerst dachte er an Waschbären, doch die bewegten sich anders. Tatsächlich assoziierte er die Bewegung mit keinem ihm bekannten Tier. Sie glich eher einem Gleiten als einem Laufen. Und die Schemen schienen gestaltlos, bloße schwarze Flecken vor einem dunklen Hintergrund. Mike hörte ein Geräusch hinter sich und drehte sich um; was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gerinnen. Aus dem Riss in der Wand zwängten sich Schatten hervor und fluteten in den Raum wie flüssiges Quecksilber. Vier, fünf, sechs flossen über die Wand hinab und rasten die Sockelleiste entlang. Schatten. Nur Schatten. Dunkle Pfützen, die zu nichts gehörten, was Mike sehen konnte, keinem Tier, keinem Menschen, keinem sonstigen Lebewesen. Dennoch schienen sie lebendig und seiner Gegenwart gewahr. Weiteres Geflüster ertönte hinter ihm. Er drehte sich um und sah, dass der Schatten, der sich unter dem Kaffeetisch versteckt hatte, auf ihn zuraste. Obwohl es nur ein Schatten war, spürte Mike, wie etwas Festes gegen seine Knöchel prallte und ihm die Füße wegriss. Er stürzte und schlug hart auf dem Boden auf. Die Flinte flog ihm aus der Hand. Noch im Fallen nahm er war, dass sich weitere Schemen auf ihn zubewegten. Mike spürte instinktiv eine unbekannte Gefahr, die von diesen Schemen ausging. Er rollte sich herum, rappelte sich auf die Knie und wollte gerade zurückweichen, als plötzlich ein Gewicht auf seiner linken Wade landete. Lodernde Schmerzen zuckten durch sein Bein und ließen ihn aufschreien. Er war von etwas gebissen worden, das er zwar spüren, aber nicht sehen konnte.
Er rollte sich nach rechts und trat den unsichtbaren Angreifer von sich. Zittrig mühte er sich auf die Beine und wollte die Flinte aufheben, doch dann wurde ihm klar, dass die Waffe nutzlos gegen Dinge seine würde, die er in der Dunkelheit nicht ausmachen konnte. Trotz ihrer tödlichen Feuerkraft hatte auch die Schrotflinte ihre Grenzen. Statt die Winchester zu ergreifen, eilte er durch das Zimmer und schaltete das Licht ein. Dabei erhaschte er einen flüchtigen Blick auf rund ein Dutzend schattiger Schemen, die hinter ihm her durch den Raum rasten. Allerdings sah er sie nur einen Lidschlag lang, denn sie wechselten jäh die Richtung und entfernten sich von ihm, flüchteten offenbar vor dem Licht. »Grundgütiger«, stieß er hervor und erstarrte angesichts des Anblicks. Trotz ihrer flüssig anmutenden Bewegungen besaßen die Schatten bei Licht betrachtet erkennbare Züge. Es handelte sich um winzige, zwergenhafte Kreaturen, nicht größer als Wiesel, mit schauderhaft grotesken Fratzen, die beinah menschlich wirkten. Er erkannte sie, denn sie ähnelten jenen Gesichtern auf dem Küchenboden. Auch seine Großmutter hatte diese Fratzen gesehen, vielleicht sogar die Kreaturen selbst, aber niemand hatte ihr geglaubt. Mike stand da und beobachtete voll Grauen, wie die Schatten die Ränder des Raums entlangrasten. Was er sah, konnte unmöglich real sein, und doch schien dem so zu sein. Obwohl es sich bloß um Schatten zu handeln schien, besaßen sie nur allzu echte Zähne und Klauen. Er spähte hinab und stellte fest, dass seine Jeans durch den Angriff aufgerissen waren. In jenem Augenblick zerstoben all seine Zweifel und sein Unglaube an das Übernatürliche wie ein Laubhaufen an einem stürmischen Tag. Er hatte sich geweigert, seiner Frau und seinen Kindern zu glauben, hatte ihre Erfahrungen als überreizte Vorstellungskraft abgetan. Doch die Kreaturen, die
er nun vor sich sah, waren eindeutig niemandes Fantasie entsprungen. Plötzlich tauchte Holly hinter ihm in der Tür auf. »Mike, was ist hier los? Ich habe dich schreien gehört.« »Bleib zurück!«, brüllte er. »Komm nicht rein!« Holly hörte nicht auf ihn. Sie betrat die Bibliothek und blieb unmittelbar hinter ihrem Mann stehen. Ohne die Augen von der gegenüberliegenden Wand abzuwenden, durchquerte Mike das Zimmer und hob die Schrotflinte vom Boden auf. Dabei geriet er vor die Lampe und warf einen Schatten quer durch den Raum. In jenem Flecken Dunkelheit zeichneten sich mehrere der Kreaturen ab. Holly schrie vor Grauen auf. »Großer Gott, Mike, was sind das für Dinger?« »Schreckgespenster«, antwortete er und schob eine Patrone in die Kammer der Flinte. Dann zielte er rasche, drückte den Abzug und feuerte. Ein Blitz zuckte aus der Mündung des Laufs, als das Kaliber 12 aufbrüllte. Die Schrotladung durchschlug eines der Schreckgespenster und riss ein Loch in die gegenüberliegende Wand. Die Kreatur blieb unversehrt – schließlich handelte es sich bloß um einen Schatten, und Schatten konnte man nichts anhaben… oder doch? »Licht. Wir brauchen mehr Licht!«, brüllte Mike. Er ergriff die Lampe und machte sich daran, den Schirm zu entfernen. Ursprünglich war die Lampe mit einer 100-Watt-Birne versehen gewesen, doch nachdem diese zerbrochen gewesen war, hatte er sie durch eine 40-Watt-Birne ersetzt, die offensichtlich nicht hell genug war, um die Schreckgespenster zu vertreiben. »Schnell, hol die Lampe von meinem Schreibtisch, die ist heller.« Holly rührte sich nicht; sie schien vor Angst wie erstarrt. »Mach schon!«
Stolpernd setzte sie sich in Bewegung und löste den Blick von den Kreaturen. Sie raste in Mikes Arbeitszimmer, zog den Stecker der Lampe aus der Wandsteckdose und rannte mit der Lampe zurück in die Bibliothek. »Da«, rief sie, als sie den Raum betrat. Zögerlich wandte Mike den Schatten den Rücken zu. Er reichte Holly die Schrotflinte, ergriff die Lampe und schloss den Stecker an. Dann schaltete er die Lampe ein und richtete den hellen Strahl auf die Schreckgespenster. Als er mit dem Licht über die Schattenkreaturen schwenkte, flüchteten sie kreuz und quer durch den Raum. Wie ein aufwärts strömender, ebenholzschwarzer Wasserfall flossen sie die Wände empor und verschwanden in den Rissen. »Sie können das Licht nicht ertragen«, rief Mike triumphierend aus. »Das verscheucht sie.« Ein weiterer Schatten huschte unter dem Kaffeetisch hervor. Er raste die Scheuerleiste entlang und flüchtete hinaus in den Flur. »Mike, einer von ihnen haut ab!« Er drückte Holly die Schreibtischlampe in die Hand. »Halt das Licht auf sie gerichtet dann passiert dir nichts. Ich verfolge den da.« Damit rannte er hinaus auf den Flur, unsicher, ob er nach rechts oder links abbiegen sollte. Im Flur herrschte völlige Dunkelheit. Er lief nach links und ins Wohnzimmer, wo er das Licht einschaltete. Mike vermeinte, etwas unter das Sofa huschen zu sehen, war jedoch nicht sicher. Er konnte es sich auch eingebildet haben, dennoch wollte er nachschauen. Während er das Zimmer durchquerte, wurde ihm plötzlich bewusst, dass er die Schrotflinte bei Holly gelassen hatte. Genutzt hätte ihm die Waffe ohnehin nichts; das Letzte, was er brauchen konnte, war, Löcher in die Möbel zu schießen. Aber zumindest hätte er den Lauf verwenden können, um damit
unter das Sofa zu stochern und die Schattenkreatur herauszuscheuchen, falls sie sich tatsächlich darunter versteckte. Er sah sich nach etwas anderem um, das er dafür verwenden konnte – einem Besen oder Mopp – fand jedoch nichts. Auf die Knie sinken und unter das Sofa blicken, wollte er nicht, weil er fürchtete, die Kreatur könnte ihn mit ihren scharfen Zähnen und Klauen anspringen. Am besten erschien ihm, stattdessen das Sofa zu verschieben. Er packte ein Ende und rückte es ein Stück nach rechts. Darunter kam weder etwas zum Vorschein, noch schnellte etwas darunter hervor. Um ganz sicher zu gehen, ergriff er das andere Ende des Sofas und versetzte es. Diesmal erzielte er ein Ergebnis. Ein schwarzer Schemen schoss an seinen Füßen vorbei und ließ ihn mit einem spitzen Schrei zurückspringen. Er drehte sich um und wollte der Kreatur folgen, doch sie raste bereits aus dem Raum. Wieder wünschte Mike, er hätte die Schrotflinte bei sich behalten, und eilte hinter dem flüchtenden Schreckgespenst her. Als er auf den Flur gelangte, sah er gerade noch, wie die geheimnisvolle Kreatur in der Küche verschwand. Gleich darauf betrat auch er sie und schaltete das Licht ein. Als die Neonröhren an der Decke zum Leben erwachten, erspähte er eine Bewegung unter dem Tisch. Der Bereich darunter schien mit einer wirbelnden, schwarzen Masse überzogen zu sein, doch als die Lichter angingen, verpuffte die Schwärze, als wäre sie durch den Riss in den Boden gesogen worden. Mit der Hand am Lichtschalter verharrte Mike und starrte ungläubig unter den Tisch. Dort war nichts, überhaupt nichts. Langsam näherte er sich dem Tisch und schob die Stühle aus dem Weg. Die Gesichter auf dem Boden starrten ihn an, verhöhnten ihn stumm. Er ignorierte sie. Auch ohne darüber
nachzudenken, was auf den Boden gemalt war, gestaltete die Nacht sich seltsam genug. Er kniete sich hin und begutachtete den Riss unter dem Tisch. Während er mit den Fingern dessen Ränder entlangfuhr, spürte er eine Kälte, die aus dem Boden drang. Sie ähnelte jener, die er in der Bibliothek gefühlt hatte und ließ ihn unwillkürlich an unterirdische Höhlen und Stollen denken. Namenlose Orte, an denen blinde Geschöpfe kreuchten und fleuchten. Mike rann ein so heftiger Schauder der Angst über den Rücken, dass er mit den Zähnen klapperte. Während er den Riss berührte und die Kälte seine Fingerspitzen ertauben ließ, konnte er sich fast vorstellen, dass sich dort unten in der Finsternis tief unter dem Keller etwas befand und ihn anstarrte. Dutzende winzige Kreaturen, die aus ihrer Welt der Schwärze emporblickten und das Licht sahen, das sich in den schmalen Riss im Küchenboden ergoss. Und Mike beobachteten. Er riss die Hand von der Öffnung zurück, stand auf und sah sich um. In der Küche befand sich nichts und niemand, er war völlig allein. Die Schreckgespenster waren verschwunden, vertrieben vom grellen Licht. »Aber was, wenn die Lichter ausfallen?«, flüsterte Mike bei sich und spürte einen weiteren Schauder, der ihm die Wirbelsäule hinabglitt. Es war eine Frage, auf die er lieber keine Antwort wissen wollte.
KAPITEL 28
Mike hatte den Rest der Nacht Wache gehalten, doch die Schreckgespenster waren nicht zurückgekehrt. Es spielte auch keine Rolle – er würde mit seiner Familie verschwinden, so schnell sie packen konnten. Genug war genug. Er war Horrorschriftsteller und verdiente sich seinen Lebensunterhalt damit, Albträume für andere zu schreiben; er hatte nicht vor, selbst in einem zu leben. Mike seufzte vor Erleichterung, als strahlend und klar der neue Tag anbrach. Er zog die Vorhänge in der Bibliothek und im Wohnzimmer auf, um das Sonnenlicht hereinzulassen. Offensichtlich hassten die Schreckgespenster grelles Licht und zogen stattdessen Dunkelheit und Schatten vor; demnach stellten sie vermutlich tagsüber keine Bedrohung dar. Vorerst waren er und seine Familie sicher, zumindest solange die Sonne schien und sie dunkle Orte mieden. Kurz nach dem Angriff der Schreckgespenster hatte Holly die Kinder ins Schlafzimmer geholt. Mittlerweile waren beide wach, und um zu vermeiden, dass sie in Panik gerieten, half Holly ihnen ruhig und ordentlich dabei, ihre Sachen zu packen. Sie würden nur ein paar Koffer mit Kleidung und den wichtigsten Dingen mitnehmen. Den Rest würden sie später abholen. Mike ging in den Hof hinaus und betrachtete das Haus. Es erschien ihm nicht mehr wie ein beschauliches altes Landhaus, ein Ort müßiger Tage und träger Sommernächte. Nun verkörperte es einen Ort tödlicher Geheimnisse, an dem die Dunkelheit regierte. Weder er noch Holly wollten eine weitere Nacht darin verbringen.
Da sie sich tunlichst bemühten, die Kinder nicht zu beunruhigen, war es bereits später Nachmittag, als der Van endlich beladen und sie fertig zum Aufbruch waren. Als alle auf ihren Plätzen saßen, wollte Mike den Motor anlassen – doch der reagierte nicht. Er versuchte es mehrere Male, trat dabei das Gaspedal durch, aber nichts rührte sich. »Verfluchter Mist«, flüsterte er bei sich und stellte die Zündung ab. »Was ist denn los, Daddy?«, fragte Tommy und beugte sich auf dem Sitz vor. »Alles in Ordnung. Dauert nur noch einen Moment.« Mike spähte auf das Armaturenbrett, um zu überprüfen, ob er versehentlich die Scheinwerfer eingeschaltet gelassen und so die Batterie entleert hatte, aber sie waren aus. Ebenso das Radio. Mike verstand nicht viel von Technik, deshalb hasste er es, wenn er Schwierigkeiten mit dem Auto hatte. Selbst die einfachsten Probleme verursachten ihm Kopfschmerzen und jagten seinen Blutdruck in die Höhe. Er drückte den Knopf zum Öffnen der Motorhaube und stieg aus. Insgeheim vermutete er, dass es trotz allem an der Batterie oder vielleicht einem losen Kabel liegen könnte, doch als er die Motorhaube anhob, musste er feststellten, dass es wesentlich schlimmer war als das. Zu seinem Entsetzen sah er, dass ein Großteil der Elektroverkabelung herausgerissen worden waren. »Was zum…?« Er fixierte die offene Motorhaube und steckte den Kopf darunter, als hätte er das Problem noch nicht erkannt. »Das ist einfach nicht zu glauben.« Er hörte, wie Holly den Kindern auftrug, sitzen zu bleiben. Wenige Augenblicke später kam sie zu ihm. »Was ist denn los? Hast du das Problem gefunden?«
Er trat zurück, damit sie es sich selbst ansehen konnte. »Und ob, das war einfach. Es zu beheben, dürfte allerdings etwas schwieriger werden.« Holly betrachtete den Motor und erfasste mit einem Blick die abgerissen heraushängenden Kabel. Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung. »Wer hat das getan?« »Gute Frage. Es muss letzte Nacht passiert sein. Anscheinend mag jemand unseren Van nicht.« Mit vor Furcht beklommenem Blick wandte sie sich ihm zu. »Mike, es müssen diese Dinger gewesen sein, die wir letzte Nacht gesehen haben. Sie wollen uns nicht weglassen.« Kurz sah er Holly an, dann drehte er sich dem Motor zu. Dabei nistete sich ein Gefühl kalter Angst in seiner Magengrube ein. Wenn die Schreckgespenster tatsächlich in der Lage waren, die Verkabelung des Wagens herauszureißen, warf das ein gänzlich unerwartetes, zusätzliches Problem auf: Die Schattenkreaturen mussten intelligent sein. »Großer Gott, sie sind intelligent«, sprach er seinen Gedanken aus, wobei er darauf achtete, dass die Kinder ihn nicht hörten. »Was?«, fragte Holly. »Die verdammten Dinger sind intelligent.« Er wandte sich seiner Frau zu. »Denk doch mal nach. Wenn stimmt, was du sagst – wenn wirklich die Schreckgespenster die Kabel rausgerissen haben, um uns hier festzuhalten –, dann sind sie klug. Sie müssen klug sein, um zu wissen, dass wir den Van brauchen, um hier wegzukommen – und noch klüger, um zu wissen, wie man ihn außer Betrieb setzt.« »Aber warum wollen sie uns überhaupt hier behalten?« Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht wollten sie uns dasselbe antun wie Pinky.« Alle Farbe wich aus Hollys Gesicht. »Mike wir können nicht hier bleiben. Die Kinder…«
»Was ist denn, Daddy?«, rief Tommy. Mike schloss die Motorhaube, da er nicht wollte, dass die Kinder die herausgerissenen Kabel sähen. Er lächelte in Tommys Richtung und antwortete: »Die Batterie ist leer, das ist alles. Keine große Sache.« »Was tun wir jetzt?«, wollte Holly mit gedämpfter Stimme wissen. »Ich gehe einfach rein und rufe uns ein Taxi«, antwortete Mike laut genug, um von allen gehört zu werden. »Sollte nicht lange dauern, bis eines hier ist. Kinder, helft doch in der Zwischenzeit eurer Mutter dabei, das Gepäck auszuladen.« Mike ging ins Haus, suchte die Nummer des örtlichen Taxiunternehmens aus dem Telefonbuch und ergriff den Hörer. Allerdings erwies sich das Telefon in der Küche als tot. Ebenso das im Wohnzimmer und in seinem Arbeitszimmer. Im Schlafzimmer hatten sie ein weiteres, aber er wollte nicht hinaufgehen. Etwas an dem Haus machte ihn nervös, es schien ihn zu bedrängen, und da die Sonne mittlerweile hinter dem Haus tief am Himmel hing, war es im Inneren viel zu dunkel und schattig für seinen Geschmack. Fortwährend vermeinte er, aus dem Augenwinkel Bewegungen wahrzunehmen, wobei er nicht sicher sein konnte, ob sie echt waren oder ob er sie sich einbildete. Er versuchte, für die Kinder eine unbeschwerte Miene aufzusetzen und ging wieder hinaus. »Was für ein Tag. Das Telefon scheint auch nicht zu funktionieren.« »Was machen wir jetzt, Daddy?«, fragte Tommy, der sich zu sorgen begann, wie es nur ein Achtjähriger konnte. Mike sah die Beklommenheit in Hollys Augen. »Ich sag euch was: Wir lassen unser Zeug einfach hier und laufen.« »Laufen?« Megan zeiget sich entsetzt. »In die Stadt sind es fünf Meilen.«
Holly, die es ebenfalls kaum erwarten konnte, vom Haus wegzukommen, sagte: »Liebling, es sind höchstes drei bis vier Meilen. Und bis zu unserem nächsten Nachbarn nur halb so weit. Wir schauen dort vorbei und fragen, ob wir ihr Telefon benutzen dürfen, um uns ein Taxi zu rufen.« »Aber wenn du nur zum Telefon unseres Nachbarn willst, warum müssen wir dann alle gehen?«, wollte Megan wissen. »Warum können nicht du oder Dad hingehen, und der Rest von uns hier bleiben?« »Weil wir eine Familie sind und Familien zusammenhalten«, gab Holly zurück, womit sie das Einzige aussprach, was ihr einfiel. »Ein kleiner Fußmarsch hat noch keinem geschadet. Das wird lustig, du wirst schon sehen.« »Was ist mit unseren Sachen?«, bohrte Megan nach. »Was, wenn jemand vorbeikommt und sie stiehlt?« »Bis wir zurückkommen, sind sie sicher«, erwiderte Mike. »Niemand verirrt sich hier heraus.« Megan weigerte sich, die Koffer einfach auf dem Boden stehen zu lassen, und so mussten sie alles wieder in den Van laden. Weitere Zeit wurde vergeudet. Mike überlegte indes, ob er die Schrotflinte mitnehmen sollte oder nicht, entschied jedoch letztlich, sie im Wagen zu lassen. Es gäbe ein merkwürdiges Bild ab, wenn er zu Fuß mit einer Schusswaffe in der Stadt eintrudelte, außerdem könnte es die Nachbarn verschrecken, wenn er bei ihnen anklopfte, um ihr Telefon zu verwenden. »So, alles wieder drin. Machen wir uns auf den Weg.« Er drückte die Heckklappe des Vans zu und schloss den Wagen ab. Megan hatte sich immer noch nicht mit dem Gedanken angefreundet, in die Stadt laufen zu müssen, trotzdem schwieg sie, als sie sich die Auffahrt hinunter in Bewegung setzten. Als sie die Straße erreichten, drehte Mike sich um und schaute zum
Haus zurück. Zwar konnte er nichts erkennen, dennoch beschlich ihn das eindeutige Gefühl, beobachtet zu werden.
Sam Tochi lief in seinem Wohnzimmer auf und ab und wurde von Minute zu Minute beunruhigter. Was er gestern erfahren hatte, nagte an ihm, hatte eine Furcht aufgewühlt, die er seit Jahren nicht mehr verspürt hatte. In der vergangenen Nacht hatte er kaum geschlafen, obwohl er die doppelte Dosis seines Schmerzmittels genommen und genug Salbei und Liebfrauengras verbrannt hatte, um ein Pferd zu ersticken. Die Frau, die ihn aufgesucht hatte, Holly Anthony, hatte gesagt, dass sich die Kachinas in ihrem Haus bewegt hatten. Nicht bloß eine oder zwei, sondern alle. Das war alles andere als ein gutes Zeichen. Es konnte nur bedeuten, dass die Sipapuni wieder offen stand, zumindest teilweise, und dass die Schreckgespenster von der anderen Seite hindurchdrängten. Erschwerend kam hinzu, dass die dumme Frau die Kachinas und Holzmasken entfernt hatte, sodass nun überhaupt keine Medizin mehr den Eingang in diese Welt bewachte. Dumme Frau. Dumme Bahanna. Sam hatte sie zwar gewarnt, ihr gesagt, dass die Kachinas mächtige Medizin enthielten und unbedingt zurückgestellt werden müssten, um die Schreckgespenster davon abzuhalten, durch die Öffnung zu gelangen, aber er war nicht sicher, ob die Frau ihm geglaubt hatte. Sie war rasch nach Hause geeilt und hatte gemeint, sie würde die Puppen wieder aufstellen, doch vielleicht wollte sie nur so schnell wie möglich weg von ihm. Vielleicht hielt auch sie ihn bloß für einen verrückten alten Mann. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Weißen die Augen vor dem verschlossen, was er zu sagen hatte. Den Bewohnern Braddocks hatte er jahrelang von der Sipapuni und den Schreckgespenstern zu erzählen versucht, aber sie lachten nur
über ihn. Vivian Martin war die Einzige gewesen, die ihm überhaupt je zugehört hatte, doch selbst das hatte nur daran gelegen, dass sie die Schreckgespenster mit eigenen Augen gesehen hatte und jedem zugehört hätte, der ihr helfen konnte. Sie hatte ihm zugehört, aber auch sie war als verrückt bezeichnet worden. Sam ergriff seine Pfeife aus dem Aschenbecher neben dem Stuhl, zündete sie jedoch nicht an. Er hatte es satt, dass die Leute ihn verrückt nannten und über ihn lachten. Eigentlich sollte er seine Sachen packen, ins Reservat zurückkehren und all die dummen Bahannas sich selbst überlassen, doch das konnte er nicht. Die Schreckgespenster verkörperten nicht nur eine Bedrohung für die Menschen in Braddock und Umgebung. Wenn sie die Sipapuni öffneten, würden sie zu einem Problem für jedes Lebewesen auf dem Planeten. Ein überaus ernstes Problem. Nein, er konnte sich nicht einfach abwenden und weggehen. Das wäre falsch. Er musste etwas tun, um zu helfen, auch wenn seine Hilfe nicht gewürdigt wurde. Er durchquerte das Zimmer, ergriff das Telefon und wählte die Auskunft. Die Frau, die ihn besucht hatte, war neu in der Stadt, also würde ihre Nummer noch nicht im Telefonbuch stehen, doch vielleicht könnte er sie über die Auskunft in Erfahrung bringen. Leider teilte man ihm mit, dass weder eine Holly noch ein Michael Anthony gelistet seien, es musste sich also um eine Geheimnummer handeln. Sam überlegte gerade, was er als Nächstes tun sollte, als eine Bewegung seine Aufmerksamkeit erregte. Er drehte sich um und sah, dass eine der Kachinas oben auf dem Bücherregal zu zittern begann. Anfangs war es eine leichte, kaum wahrnehmbare Bewegung, doch während er hinschaute, verstärkte sich das Zittern, bis die Puppe heftig
vibrierte. Sam stockte der Atem; furchtsam beobachtete er, was weiter geschah. Eine zweite Puppe auf demselben Regal begann ebenfalls zu vibrieren, wie die erste zunächst kaum merklich, dann immer stärker. Dann drehten sich beide Kachinas vor Sams Augen langsam nach Westen – in die Richtung von Vivian Martins altem Haus. Die Kachinas wandten sich der Sipapuni zu, bereit, gegen das Böse anzutreten, das versuchte, auf diese Welt zu gelangen. Sam stand mit offenem Mund reglos da und beobachtete die winzigen Statuen mehrere Minuten, doch sie hörten wieder auf, sich zu bewegen. Keine der anderen Kachinas begann, zu vibrieren oder sich zu drehen. Was jedoch keine Rolle spielte, er hatte die Botschaft verstanden: Die Kachinas warnten ihn davor, dass die Sipapuni sich öffnete und ihm die Zeit ausging. Er griff zum Telefon und tätigte einen weiteren Anruf. Sam musste jemanden Bescheid darüber geben, was vor sich ging, um vor der Gefahr zu warnen. Ihm war klar, dass man ihm wahrscheinlich nicht glauben würde, trotzdem musste er es zumindest versuchen. Vielleicht würde ja dieses eine Mal jemand auf ihn hören, statt seinen Rat als das Geschwafel eines schwachsinnigen alten Mannes zu verwerfen. Er wartete, bis sich am anderen Ende der Leitung jemand meldete, dann sagte er, was er sich vorgenommen hatte, und legte auf. Dann suchte er im Zimmer nach den Schlüsseln für seinen Pritschenwagen und fand sie unter einem alten Hut. Er fuhr selten mit dem Wagen, weil er in der Regel nicht anspringen wollte, aber vielleicht würde er diesmal Glück haben. Sam steckte die Schlüssel in die Tasche, ging ins Schlafzimmer und holte sein Medizinbündel aus dem Versteck hinter dem Schrank hervor. Außerdem nahm er einen geladenen Revolver Kaliber .22 aus der Nachttischschublade
und steckte ihn sich in den Gürtelbund seiner Jeans. Sam wusste, dass ihm die Waffe wenig helfen würde, dennoch fühlte er sich sicherer damit. Sam verließ das Haus, schloss hinter sich ab und stieg in seinen rostigen, alten Ford. Er steckte den Schlüssel ins Zündschloss, trat das Gaspedal ein paar Mal durch und betete, der Wagen möge anspringen, ohne ihm Probleme zu bereiten. Offenbar wurde er erhört, denn der Motor des alten Pritschenwagens setzte sich auf Anhieb in Gang. »Danke«, sprach er laut aus, als er auf die Straße hinaus zurücksetzte. Seine sich bewegenden Kachinas konnten nur bedeuten, dass Holly Anthony ihr Versprechen nicht gehalten hatte – sie hatte die Kachinas in ihrem Haus nicht wieder aufgestellt. Deshalb wollte Sam der Familie Anthony einen Besuch abstatten. Er würde versuchen, sie davon zu überzeugen, die Puppen wieder auszupacken, bevor es zu spät dafür wäre. Er verließ Braddock und folgte der Landstraße 315 westwärts in Richtung der Sawmill Road. Allerdings hatte er nicht vor, so weit auf der Landstraße zu bleiben, denn er kannte eine nicht mehr verwendete Abfuhrstraße, die eine Abkürzung von ein paar Meilen verhieß. Jene Straße wies einen ziemlich üblen Zustand auf, weshalb sie kaum noch jemand verwendete, aber Sams Pritschenwagen war mit Allradantrieb ausgestattet und würde daher keine Probleme mit Baumwurzeln und Schlaglöchern haben. Die Abfuhrstraße endete am Bloodrock Creek unmittelbar an der Rückseite von Vivian Martins Grundstück. Früher hatte es an der Stelle eine Brücke über den Bach gegeben, damit Lastwagen Baumstämme zum alten Sägewerk bringen und Holz von dort abholen konnten, doch die Brücke war bereits vor Jahren weggeschwemmt worden.
Was keine Rolle spielte; sobald Sam den Bach erreichte, konnte er den Rest des Wegs zum Haus laufen. Er bog von der 315 auf die alte Abfuhrstraße und konzentriert sich, um zumindest den größeren Schlaglöchern auszuweichen. Der Pritschenwagen holperte und polterte, drohte, jeden Augenblick auseinander zu fallen, doch letztlich schaffte Sam es bis zum Bloodrock Creek. Er spielte mit dem Gedanken, zu versuchen, durch den Bach zu fahren, verwarf ihn jedoch gleich wieder. Wenngleich das Wasser nicht tief war, würde er wahrscheinlich mit den Reifen im weichen Bachbett einsinken. Sam stellte den Motor ab, ergriff sein Medizinbündel und stieg aus dem Wagen. Er setzte dazu an, auch die Pistole mitzunehmen, beschloss dann aber, sie doch im Auto zu lassen. Wenn er mit einer Waffe aufkreuzte, würde er die Ausgangssituation nur verschlimmern. Statt auf ihn zu hören, würden Holly und ihr Mann vermutlich eher die Polizei rufen. Sobald Sam den Wagen verlassen hatte, spürte er, dass etwas nicht stimmte. Im Wald rings um ihn war es still – zu still. Er spähte in die Wipfel über ihm, konnte jedoch keinerlei Vögel entdecken. Nicht einen einzigen. Ebenso wenig hörte er welche in der Ferne. Die Stille wirkte so absolut, als hätte jedes Tier im Wald beschlossen, sein Ränzlein zu schnüren und das Weite zu suchen. Sam hatte in eben diesem Wald etwas Ähnliches schon einmal erlebt. Es war die Stille, die in der Gegend Einzug gehalten hatte, als die Schreckgespenster vor vielen Jahren zum ersten Mal aufgetaucht waren. »Das ist nicht gut«, murmelte er kopfschüttelnd bei sich. »Überhaupt nicht gut. Womöglich ist es schon zu spät.« Mit dem Medizinbündel an die Brust gedrückt watete er langsam durch den Bloodrock Creek. An der Stelle, an der er den Bach durchquerte, war das Wasser kaum dreißig Zentimeter hoch, dennoch bewegt er sich langsam, um auf den glitschigen Steinen nicht auszurutschen. An der anderen Seite
angelangt, hielt er inne, um der Stille um ihn herum zu lauschen. Sie wirkte gespenstisch und kündete von ungesehenen Gefahren. Sam ging weiter, indem er Trampelpfaden folgte, die sich zwischen den Bäumen und dem Unterholz hindurchwanden. Zwei weitere Male blieb er stehen, um auf Geräusche zu lauschen, doch es änderte sich nichts. Die einzigen Laute, die er vernahm, waren jene, die er selbst verursachte. Ein paar Minuten später brach er aus dem Wald hervor und betrat den Obstgarten hinter Vivian Martins Haus. Es fühlte sich zutiefst erleichternd an, wieder unter freiem Himmel zu sein. Sam durchquerte den Obstgarten und ging um das Haus herum zur Vordertür. Er trat auf die Veranda und klopfte, doch niemand antwortete. Als er sich umsah, fiel ihm der in der Auffahrt geparkte Van auf, demnach musste jemand zu Hause sein. Es sei denn, die Familie besaß ein zweites Auto. Abermals klopfte er, doch wieder rührte sich nichts. Da er wusste, dass die Zeit knapp wurde, griff Sam in der Hoffnung zur Tür, sie unversperrt vorzufinden, was nicht der Fall war. Allerdings war nur das Riegelschloss im Knauf selbst abgesperrt; das Zylinderschloss hingegen nicht. Sieht so aus, als wären sie eilig aufgebrochen, dachte er bei sich, während der die Tür betrachtete. Vielleicht sind sie nur kurz weg. Sam holte seine Brieftasche hervor und entnahm ihr eine Telefonwertkarte. Er schob sie zwischen die Tür und den Rahmen, dann unter den Riegel, den er anhob. Nachdem er die Wertkarte in seine Gesäßtasche gesteckt hatte, öffnete er die Tür und ging ins Haus. »Hallo?«, rief er, als er über die Schwelle trat. »Hallo? Ist jemand hier?« Er erhielt keine Antwort. Sam hatte Vivian Martin nur wenige Male besucht, dennoch erinnerte er sich an die allgemeine Anordnung des Hauses.
Allerdings überraschten ihn die Veränderungen, die sich seit seinem letzten Besuch vollzogen hatten. Das Chaos, das fast jeden freien Fleck beherrscht hatte, war verschwunden. Musste er sich damals zwischen Kartons und Tüten hindurchzwängen, konnte er nun bequem von Zimmer zu Zimmer gehen. Er schloss die Tür hinter sich ab und bahnte sich den Weg durch den Flur ins Wohnzimmer. Der Raum erwies sich als sauber, ordentlich und mit Möbeln eingerichtet, die von praktischem und gutem Geschmack zeugten. Aber Sam interessierte nicht die Innenausstattung, weshalb er der Einrichtung nur einen flüchtigen Blick widmete. Stattdessen konzentriert er die Aufmerksamkeit auf die gegenüberliegende Wand. Besorgt blickte er auf die leere Holzablage, die sich über die gesamte Breite des Raums erstreckte – eine Ablage, auf der einst Hunderte Kachinas gestanden hatten. »Sie hat sie nicht zurückgestellt«, sprach er laut aus. Zorn stieg in ihm auf. »Sie hat es versprochen, aber sie hat gelogen. Dumme Frau. Dumm, dumm, dumm.« Sam verließ das Wohnzimmer und eilte in die Bibliothek, wo er wiederum eine Ablage bar jeglicher Kachinas vorfand. Neben der leeren Ablage sprang ihm sofort ein langer, vertikaler Riss ins Auge, der die Wand hinab verlief. Er durchquerte den Raum und legte die rechte Handfläche über den Riss, allerdings nur kurz, denn die Kälte, die er spürte, ließ ihn die Hand vor Angst jäh zurückziehen. Es war eine Kälte, die nicht aus dieser Welt, sondern von einem dunklen und bösen Ort stammte. Der Riss zog sich von der Decke bis zum Fußboden, und Sam fragte sich, ob er sich womöglich bis in den Keller hinab fortsetzte. Wenn dem so war, hatte er im Keller dieselbe Größe, oder war er dort sogar noch größer? Er musste es herausfinden, denn die Größe der Risse würde ihm vielleicht verraten, wie weit die Sipapuni geöffnet worden war. Wenn
die Pforte zur Unterwelt wenigstens noch teilweise geschlossen wäre, bestünde vielleicht eine Chance, sie zu versiegeln, bevor es zu spät wäre. Er verließ die Bibliothek und lief durch den Flur in die Küche. Sam hatte sie bereits halb durchquert, als er die Gesichter auf dem Boden bemerkte. Es war lange her, dass er zuletzt solche Fratzen gesehen hatte, dennoch bestand kein Zweifel daran, was sie darstellten: die Gesichter der böswilligen Kreaturen, die in der Welt unter jener der Menschen hausten. Die Gesichter der Schreckgespenster. Kurz hielt er inne und starrte sie an, wobei ihn schlagartig das Gefühl beschlich, beobachtet zu werden. Er sah sich im Raum um, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches erkennen. Abgesehen von den Fratzen auf dem Boden war es eine ganz normale Küche. Und er schien der Einzige im Raum zu sein, doch Sam wusste, dass die Dinge nicht immer so waren, wie sie zu sein schienen. Sam öffnete sein Medizinbündel, griff hinein und holte einen winzigen Lederbeutel daraus hervor, der geheiligtes gelbes Maismehl enthielt. Zwischen Daumen und Zeigefinger entnahm er dem Beutel eine Prise davon, flüsterte ein Gebet der Reinigung und ging langsam im Uhrzeigersinn um die Gesichter auf dem Küchenboden. Dabei verstreute er das geheiligte Maismehl in der Hoffnung, die bösen Kreaturen davon abzuhalten, durch den Boden zu dringen. Vier mal lief er im Kreis, weil vier als heilige Zahl galt, dann verschloss er den Beutel und verstaute ihn wieder in seinem Medizinbündel. Er wandte sich von den Fratzen auf dem Boden ab, durchquerte den Raum und öffnete die Tür, die in den Keller führte. Unten herrschte tiefe Finsternis, und er hatte nicht daran gedacht, eine Taschenlampe mitzubringen, aber zum Glück fand er den Lichtschalter. Sam betätigte ihn und stieg die Holztreppe in den Keller hinab.
Beinah erwartete er, im Kellerboden eine Sipapuni vorzufinden, aber natürlich war keine solche Öffnung zu sehen. Was nicht bedeuten musste, dass sie nicht vorhanden war. Vielleicht waren derlei Dinge nur für Geister und Kachinas sichtbar. Vielleicht müsste er erst sterben, bevor er die Pforte zur Unterwelt sehen könnte. Er fand also keine Öffnung im Boden, dafür sechs mit Kachinas gefüllte Kartons. Abermals flammte sein Zorn auf. »Dumme Frau. Sie hat mich belogen. Sie hat gesagt, sie würde sie zurückstellen, aber sie hat es nicht getan. Aber egal. Jetzt bin ja ich hier. Werde ich es eben tun.« Der alte Indianer ergriff einen der Kartons und kehrte damit zur Treppe zurück. Er hatte die Stufen gerade erreicht, als die Tür zur Küche mit lautem Knall zuschlug. Sam hielt inne, schaute hinauf und fragte sich, wer sie geschlossen haben mochte. Waren die Hausbesitzer nach Hause gekommen und hatten sie zugemacht, weil sie gesehen hatten, dass sie offen stand? Nein. Er hätte es gehört, wenn jemand die Küche betreten hätte. Die Schritte auf dem Boden unmittelbar über ihm hätte er auf jeden Fall wahrgenommen. Wenn also kein Mitglied der Familie Anthony die Tür geschlossen hatte, wer dann? Während er darüber nachdachte, ging plötzlich das Licht aus, wodurch er in völlige Dunkelheit getaucht wurde. Sam setzte zu einem Ruf an, besann sich jedoch eines Besseren. Es konnte niemand in der Küche sein, er hatte niemanden gehört. Abgesehen von dem Knall der Tür vorher und seinen eigenen Atemgeräuschen umgab ihn völlige Stille. Vielleicht hatte der Wind die Tür zugeworfen. Das schien noch möglich, aber Sam bezweifelte, dass der Wind etwas mit dem Verlöschen des Lichts zu tun haben konnte. Und wie sollte überhaupt ein Luftzug im Haus herrschen, wenn alles fest verschlossen war? Eine gute Frage, und dennoch war da
ein Wind. Sam spürte ihn. Während er am Fuß der Treppe stand, blies ihm ein eisiger Luftzug in den Nacken. Woher konnte er hier im Keller stammen? Furcht umströmte Sam Tochis Herz und presste es zusammen. Es war nicht die Angst vor dem Unbekannten, denn schlagartig wurde ihm klar, wer – oder vielmehr was – die Tür zur Küche zugeworfen hatte. Während er in der Finsternis stand und den frostigen Luftzug spürte, begriff er, dass die Sipapuni viel weiter offen stand, als er vermutet hatte. Außerdem erkannte er, dass er in eine Falle getappt war – die ihm von Kreaturen gestellt worden war, wesentlich intelligenter, als er je gedacht hätte. »Ihr wollt also spielen, meine kleinen Brüder, ja?« Sam lächelte und stellte den Karton mit den Kachinas ab. »Das ist schon in Ordnung. Ich spiele auch gern.« Er griff in seine Tasche, holte sein Butanfeuerzeug hervor und drehte das Zündrad. Die Flamme, die das Feuerzeug hervorbrachte, war nicht besonders hell, aber das Licht genügte, um zu erkennen, dass er in Schwierigkeiten steckte. In großen Schwierigkeiten. Der Boden rings um ihn schien zu wogen und zu rollen, als Schatten durch die Dunkelheit wuselten, die sich gerade ein Stück außerhalb des Lichtkegels der Flamme des Feuerzeugs hielten. Die Schreckgespenster umzingelten ihn wie ausgehungerte Haie und lauerten auf ihre Chance, sich auf den alten Indianer zu stürzen. Sam hatte eine Heidenangst, wusste aber, dass er es lebendig aus dem Keller schaffen konnte, solange er das Feuerzeug hatte. Sein erster Gedanke war, die Treppe zu erklimmen und zu versuchen, wieder in die Küche zu gelangen, aber sein Instinkt legte ihm nahe, dass die Tür wahrscheinlich abgeschlossen war. Trotzdem war noch nicht alles verloren, denn ihm blieben immer noch sein Medizinbeutel und die
Kartons mit den Kachinas. Wenn er einen Kreis aus Medizingegenständen um sich baute, würde er vielleicht in Sicherheit sein, bis die Familie Anthony nach Hause zurückkäme und ihn im Keller vorfände. Hinter ihm ertönte ein seltsames Flüstergeräusch. Sam wirbelte gerade noch rechtzeitig herum, dass er sah, wie ein Schreckgespenst in den Lichtkegel huschte und sogleich wieder daraus wegrannte. Das war nicht gut. Überhaupt nicht gut. Offensichtlich war der vom Feuerzeug geworfene Schein nicht hell genug, um die Kreaturen in Schach zu halten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, vermutlich bloß weniger Minuten, bis die Schreckgespenster ihre Furcht überwinden und ihn angreifen würden. Er musste etwas unternehmen, und zwar rasch. Sam riss den Karton auf und begann, Kachinas auf dem Boden rings um ihn zu verteilen. Er hatte keine Zeit, die Puppen richtig anzuordnen, und konnte nur hoffen, dass ihm die Medizin der Kachinas ein paar Minuten zusätzlicher Zeit verschaffen würde. Ein paar Minuten, um über eine Möglichkeit nachzudenken, die Schreckgespenster abzuwehren. Er musste die Sipapuni, die Öffnung zur Unterwelt schließen, allerdings hatte er keine Ahnung, wo sie sich befand. Sam konnte sie weder sehen, noch fühlten. Aber Augenblick – vielleicht konnte er sie doch fühlen. Er spürte einen eisigen Wind, der im Keller wehte, einen Wind, in dem der Moder des Todes mitschwang. Er musste aus der Öffnung stammen, von einem Ort, an dem bösartige Kreaturen lebten. Ein Blick auf die Neigung der flackernden Feuerzeugflamme verriet ihm, woher der Wind wehte. Sam betete, dass sein Feuerzeug noch ein paar Minuten halten würde, und eilte quer durch den Keller. Im Schein der Flamme gelangte er zu einer der fernen Mauern. Wie die Wand
in der Bibliothek darüber wies auch sie einen Riss auf, aus dem ein seltsamer Luftzug drang, in dem der Geruch des Todes und die Geräusche flüsternder Kreaturen mitschwangen. »Das kann nicht die Sipapuni sein«, murmelte er und legte die Hand auf den Riss. »Dafür ist der Riss zu klein. Aber vielleicht führt er zur eigentlichen Öffnung.« Ohne sicher zu sein, ob er die richtige Stelle gefunden hatte oder nicht, nahm Sam die Hand vom Riss, öffnete unter Zuhilfenahme seiner Zähne sein Medizinbündel und holte einen der Beutel mit Maismehl daraus hervor. Er ließ das Medizinbündel zu Boden fallen, öffnete den Beutel und klemmte hastig eine Prise Maismehl zwischen die Finger. Dann trat er näher an die Wand und streute das geheiligte Maismehl in den Riss. Kaum hatte er es getan, schnellte ein schwarzer Fleck daraus hervor und erfasste seine Hand. Sam schrie auf und versuchte zurückzuweichen, doch es war zu spät. Eines der Schreckgespenster hatte ihn und zerrte seine Finger in den Riss. Ein lautes Knacken ertönte, als die ersten beiden Finger seiner linken Hand wie trockene Kreidestücke brachen. »Nein!«, brüllte Sam, als ihm Schmerzen den linken Arm hinaufrasten. Er versuchte, sich von der Wand zu lösen, aber die Schreckgespenster ließen nicht los. Weitere schwarze Schemen quollen aus der Wand und packten ihn, zogen seine Hand noch tiefer in den Riss. In der Hoffnung, die Flamme des Feuerzeugs würde die Kreaturen vertreiben, schob Sam die anderen Hand dicht an den Riss, doch die Schattengestalten fürchteten sich nicht, denn allmählich ging das Gas zur Neige, und die Flamme wurde schwächer. Statt zurückzuweichen umfassten die Schreckgespenster auch seine rechte Hand und zerrten sie in die Wand. Wieder ertönten jähe Knacklaute, als die Fingerknochen seiner rechten wie Salzstangen brachen.
Sam brüllte vor Schmerzen und trat gegen die Wand, konnte sich jedoch nicht befreien. Er war hilflos wie ein Fisch am Haken. Weitere Knochen gaben nach, als die Schreckgespenster ihn langsam tiefer in die Mauer zerrten. Blut spritzte aus seinen Fingern, aber er konnte es nicht sehen, weil er das Feuerzeug fallen gelassen hatte und sich in pechschwarzer Finsternis befand. Er konnte nur spüren, wie das Blut nass und warm über seine Handgelenke hinabrann. Zentimeter um Zentimeter verschwanden erst die Hände, dann die Handgelenke und Arme des alten Indianers in dem Riss. Weitere Knochen brachen, und Fleisch wurde gequetscht, bis seine Brust flach an der Wand anstand. Sam Tochi lebte zwar noch, doch er brüllte und wand sich nicht mehr. Er stand nur da, starrte mit blicklosen Augen in Schwärze und bewegte den Mund, ohne dass Worte daraus drangen. Sams Verstand und Geist waren an einen warmen und sicheren Ort entschwunden. Er nahm weder die Wand vor seinem Gesicht noch die Schwärze wahr, die sich streckte, um seinen Kopf und den Rest seines Körpers durch den Riss in eine dunkle und kalte Welt zu zerren. Stattdessen sah er die Wüstenlandschaft von Third Mesa und die aus Lehmziegelbauten bestehende Ortschaft Hoteville. Ein Ort warmen Sonnenscheins und schlichter Vergnügen, wo zeremonielle Musik in Kivas erklang und Kachinas durch die Nächte wandelten. Dies waren die Anblicke, die sich ihm boten, während die Schreckgespenster seinen Körper langsam, Zentimeter um Zentimeter durch die schmale Öffnung zwängten, denn Sam Tochis Geist war heimgekehrt. Mike und seine Familie hatten erst etwa eine Meile die Straße hinab zurückgelegt, als er ein seltsames Geräusch aus dem Wald zu seiner Linken vernahm. Er verlangsamte die Schritte, ließ sich von den anderen zurückfallen und lauschte angestrengt. Fast sofort fiel ihm auf, dass die heimischen
Singvögel, die noch kurz zuvor lebendig gezwitschert hatten, keinen Laut mehr von sich gaben. In jener unvertrauten Stille hörte er deutlich ein seltsames Flüstern, als führte ein Dutzend Leute eine leise Unterhaltung unter dem Blätterdach der Bäume. Es war dasselbe Flüstern, das unmittelbar vor dem Angriff der Schreckgespenster aus dem Riss in der Wand der Bibliothek gedrungen war. Mike drehte sich in die Richtung des Geräuschs. Obwohl er nichts erkennen konnte, nahm er unverkennbar wahr, dass der Laut sich durch den Wald bewegte. Das Flüstern schien ihnen zu folgen und seine Geschwindigkeit ihren Schritten anzupassen. Dann ertönte es auch von der gegenüberliegenden Straßenseite. Wieder sah Mike nichts. Sie sind uns auf den Fersen. Für ihn bestand kein Zweifel daran, dass die Schreckgespenster ihnen vom Haus gefolgt waren. Ihre Geräusche waren unverkennbar, erinnerten an leise Stimmen… erregte, hungrige Stimmen. Er wusste nicht, wie viele der Schattenkreaturen sich ihnen an die Fersen geheftet hatten, aber solange er mit seiner Familie auf der Straße blieb, sollte ihnen das Sonnenlicht Schutz bieten. Da er die anderen nicht beunruhigen wollte, setzte er sich wieder in Bewegung und ging schneller, um zu ihnen aufzuschließen. Holly und die Kinder führten eine angeregte Unterhaltung und hatten nicht bemerkt, dass er stehen geblieben war, was er als glücklichen Umstand empfand. Es hatte keinen Sinn, sie in Panik zu versetzen, wenn es nicht sein musste. Nach einer Kurve hielt er abermals inne. Weiter vorne verengte sich die Sawmill Road zu kaum mehr als einem holprigen Pfad, der durch einen äußerst dichten Abschnitt älteren Waldes führte. An der Stelle herrschte unabhängig von der Tageszeit immer Dunkelheit, weil die hoch aufragenden
Eichen jegliches Sonnenlicht blockierten. Mike konnte zwar keine offensichtlichen Anzeichen von Gefahr erkennen, dennoch wusste er, dass in der Finsternis jenes Straßenabschnitts etwas auf sie lauerte. Rasch drehte er sich um und schaute zurück. Immer noch konnte er weit und breit nichts erkennen, aber die Flüsterlaute verfolgten sie nach wie vor. Nein, sie verfolgten sie nicht. Sie pirschten sich an. Die Schreckgespenster hatten Mike und seine Familie in eine Falle getrieben. Er war völlig sicher, dass weiter vorne in der Dunkelheit auf der Straße weitere Schattenkreaturen auf sie warteten. Es war eine perfekte Falle, in die er seine Familie beinah geführt hätte. »Wartet! Halt!«, rief Mike. Sein Mund fühlte sich trocken vor Angst an. Die anderen blieben stehen, und Holly warf ihm einen besorgten Blick zu. »Was ist denn, Daddy? Warum bleiben wir stehen?« »Pssst…« Mike musterte die Dunkelheit vor ihnen, dann drehte er sich um und schaute die Straße zurück. Dabei wurde ihm bewusst, wie spät es inzwischen geworden war. Die Sonne ging zwar noch nicht unter, aber in den Wald hatte bereits zunehmende Finsternis Einzug gehalten. Schlagartig wurde ihm sein Fehler klar, durch den er seine Familie in Gefahr gebracht hatte. Genau das hatten die Schreckgespenster damit bezweckt, dass sie den Wagen sabotiert hatten. Sie wollten sie unter freiem Himmel, allein im Wald haben. In der schattigen Dunkelheit weiter vorne konnten sie von allen Richtungen aus angreifen. Fünf Meilen bis in die Stadt? Ebenso gut hätten es fünfhundert sein können. Sie würden es niemals schaffen. Ich muss etwas unternehmen, und zwar schnell. Aber was? Was können wir tun? Denk nach, Mann. Denk nach. Du bist ein verdammter Schriftsteller, benutz deine Fantasie und lass dir was einfallen.
Während er, von seiner Familie beobachtet, mitten auf der Straße stand, ersann und verwarf er ein Dutzend verschiedene Vorgangsweisen. Er war unbewaffnet, folglich konnte er die Schreckgespenster nicht bekämpfen, wenngleich eine Schusswaffe ohnehin nichts gebracht hätte. Somit blieb im Grunde genommen nur eine Möglichkeit: Sie mussten fliehen. Allerdings konnten sie nicht vorwärts; den dunklen Abschnitt vor ihnen würden sie nie und nimmer überstehen. Ihre einzige Verteidigung bestand in Rückzug. Er versuchte, seiner Stimme einen ruhigen Klang zu verleihen, was sich alles andere als einfach gestaltete. »Tommy, erinnerst du dich daran, was wir im Park oft gespielt haben? Unsere Wettrennen, bei denen du immer gewonnen hast? Tja, ich wette, inzwischen bist du noch schneller geworden. Wollen wir ein Rennen zurück zum Haus machen, um zu sehen, wer am schnellsten von uns ist?« »Zurück zum Haus?«, fragte Tommy. »Du hast doch gesagt, wir gehen von dort weg.« »Das können wir auch noch später, aber jetzt möchte ich ein Wettrennen zurück zum Haus machen.« Mike wandte sich Holly und Megan zu. Eigentlich hatte er gedacht, seine Tochter würde protestieren, doch sie blieb stumm. Anscheinend hatte auch sie die ihnen folgenden Geräusche gehört und spürte, dass etwas nicht stimmte. Aus ihren Augen sprach Angst. »Also, wie sieht’s aus? Lust auf ein Rennen?«, fragte Mike. Sowohl Holly als auch Megan nickten. »Also gut, ein Familienrennen.« Mike rang sich ein Lächeln ab und ließ den Blick über den Wald entlang der Straße wandern. »Alle auf die Plätze. Und nicht schummeln.« Er begab sich auf selbe Höhe mit Holly und den Kindern und drehte sich wie sie der Richtung zu, aus der sie gekommen waren.
Seine Frau ergriff seine Hand und drückte sie kurz, um ihm zu bedeuten, dass sie verstanden hatte, was los war. Er sah sie an und lächelte matt. »So, macht euch alle bereit.« Tommy beugte sich vor und ahmte bestmöglich eine Sprinterhaltung nach. Anscheinend hatte er als Einziger die Stimmen nicht gehört und wusste nicht um die Gefahr, die sie alle umgab. Auch Megan beugte sich vor; ihr hingegen war klar, dass dieses Rennen keinesfalls ein Spaß sein sollte. »Auf die Plätze… fertig… los!« Im Laufschritt setzten sie sich in Richtung des Hauses in Bewegung. Kaum waren sie losgerannt, explodierte der Wald ringsum vor Geräuschen. Es mussten Dutzende, vielleicht Hunderte Kreaturen sein. Mike und seine Familie waren völlig umzingelt. »Beeilt euch!«, schrie Holly und achtete darauf, dass die Kinder vor ihr blieben. »Nicht anhalten.« »Schneller, Tommy. Lass mich bloß nicht gewinnen«, rief Mike, um seinen Sohn zusätzlich anzuspornen. Er warf einen Blick über die Schulter zurück und sah etwas, das ihm beinah den Atem verschlug. Hinter ihnen, wo die Straße schmaler wurde und die hoch aufragenden Bäume ewige Dunkelheit schufen, schien der Waldboden zu wogen und zu brodeln. Allerdings lag es an keinem natürlichen Phänomen, sondern an Hunderten, wenn nicht gar Tausenden der Schattenkreaturen, die aus ihren Verstecken entlang jenes Straßenabschnitts hervorhuschten, um Mike und seine flüchtende Familie zu verfolgen. Oh, großer Gott! Wie aus einem Abflussrohr hervorwuselnde Küchenschaben strömten die Schreckgespenster aus dem finsteren Wald und eröffneten die Jagd. Sie bewegten sich wie ebenholzschwarze Flüssigkeit, flossen um Bäume und Büsche herum über den
Boden. Dabei begleitete sie jenes unerträgliche Flüstern, das lauter wurde, bis es alle anderen Geräusche verschluckte. Mike vernahm die eigenen Schritte nicht mehr und konnte sich selbst kaum noch hören, als er seinem Sohn und seiner Tochter anfeuernde Worte zubrüllte. Das Flüstern füllte seine Ohren wie das schrille Zirpen einer Million hungriger Heuschrecken und ließ Angst und Wahnsinn in ihm aufsteigen. Tommy schaute zu seinem Vater zurück. Mittlerweile lächelte der Junge nicht mehr; auch er wusste, was die Geräusche bedeuteten. Seine Augen hatten sich vor Furcht geweitet. Mike wollte ihm zurufen, dass alles gut werden würde, doch die Stimme versagte ihm den Dienst. Sie erreichten die Auffahrt, rasten auf den Hof und blieben stehen, als sie am Wagen angelangten. Mike drehte sich mit der Erwartung um, dass eine Armee von Schatten hinter ihnen herhetzen würde, doch da war nichts. Die Schreckgespenster waren im Wald geblieben, wagten sich nicht unter freien Himmel hervor, wo immer noch Sonnenlicht das Land liebkoste. Auch das entsetzliche Flüstern war verstummt und durch eine allumfassende Stille ersetzt worden, die genauso Furcht erregend wirkte. »Wir sind in Sicherheit«, flüsterte Holly und umarmte ihren Mann. »Sie ertragen das Licht nicht.« »In Sicherheit?« Mike schaute zum Himmel auf. Bis zum Einbruch der Dunkelheit blieb nur noch wenig Zeit. Vorerst, solange sie im Sonnenlicht blieben, mochten sie in Sicherheit sein, doch schon bald würde die Nacht über sie hereinbrechen, und mit ihr die Schreckgespenster.
KAPITEL 29
Die Nacht brach an. Die Sonne war im Westen bereits hinter die Baumwipfel gesunken und warf lange Schatten über den vorderen Rasen. Mit der Dunkelheit würden die Schreckgespenster kommen. Mike wollte nicht zurück ins Haus, wäre lieber draußen geblieben, aber er hatte keine Wahl mehr. Drinnen gab es Licht, um sich die gefährlichen Schatten vom Leib zu halten. Solange sie Licht hatten, wären sie in Sicherheit. Er schloss die Vordertür auf und führte seine Familie zurück ins Haus. Kaum waren sie eingetreten, begann Holly die Lichter einzuschalten, ohne eine Aufforderung dazu abzuwarten. Am Kücheneingang jedoch verharrte sie mit dem Finger über dem Lichtschalter. Selbst in der Dunkelheit erkannte sie, dass sich etwas verändert hatte. Der Anblick, der sie erwartete, als sie das Licht einschaltete, entsetzte sie. Die Zahl der grässlichen Fratzen auf dem Boden hatte sich mindestens verdoppelt, wenn nicht verdreifacht. Und sie beschränkten sich nicht mehr nur auf den Boden. Sie prangten auch an den Wänden und an der Decke, starrten sie von ihrer Welt aus an, versuchten, auf diese Seite zu gelangen. Der Anblick versetzte Holly einen solchen Schreck, dass sie beinah laut aufgeschrien hätte: Neben den Gesichtern erblickte sie auf dem Boden einen seltsamen Kreis aus gelbem Pulver. »Mike. Mike, komme doch mal her, schnell!« Sie hörte Schritte, die sich durch den Flur näherten, dann betrat ihr Mann die Küche.
»Was ist?« Als er die über die gesamte Küche verteilten Fratzen erblickte, erstarrte er. »Großer Gott. Das sind ja mindestens doppelt so viele wie zuvor.« Holly drehte sich um, drängte sich an ihm vorbei und flüchtete in die Bibliothek. Doch die Gesichter beschränkten sich nicht auf die Küche. Nicht mehr. Sie prangten im Flur, in der Bibliothek, im Wohnzimmer und in Mikes Arbeitszimmer, Dutzende davon, an den Wänden, Decken, Böden – sogar den Teppichböden – und starrten in die Welt, in die sie einzudringen versuchten. »Sie versuchen, durchzubrechen«, sagte Holly. Angst erstickte ihre Stimme zu kaum mehr als einem Flüstern. »Noch haben sie es nicht geschafft«, gab Mike zurück und sah sich um. »Und solange wir die Lichter eingeschaltet lassen, wird es ihnen auch nicht gelingen.« Er wandte sich Holly zu. »Sieh nach, ob wir irgendwo Kerzen oder sonst etwas für noch mehr Licht haben. Ich gehe nach oben und schalte dort alle Lampen ein. Die Kinder sollen im Wohnzimmer bleiben. Dort ist es am hellsten, und sie sollten in Sicherheit sein.«
Obwohl sie das Haus so hell erleuchtet hatten, wie es ihnen möglich war, lockerte sich die Furcht, die Mikes Herz mit eisiger Faust umklammerte, nur unwesentlich. Holly hatte einen Karton mit Kerzen gefunden, die sie angezündet und über das Erdgeschoss des Hauses verteilt hatte. Mit den meisten davon hatte sie im Wohnzimmer einen großen Kreis gebildet. In dessen Mitte, umgeben von winzigen, flackernden Flammen, versammelte sich die Familie, kauerte sich auf dem größeren der beiden Sofas aneinander, warteten, bis die Nacht vollständig über ihr Heim herfiel und hofften, sie würden sie überleben.
Im Verlauf der langsam verstreichenden Stunden beschlich Mike und Holly das Gefühl, beobachtet zu werden. Außerdem hielt eine unheimliche Stille Einzug, die so knisternd anmutete wie die Ruhe vor einem Sommergewitter. Mike ergriff seine Flinte, stand auf und durchquerte langsam das Wohnzimmer. Als er aus dem Kreis der Kerzen trat, hielt er inne und lächelte seiner Frau und den Kindern ermutigend zu. Niemand erwiderte die Geste. Stattdessen sprachen aus ihren Augen Angst und nervöse Erwartung. Er verließ das Wohnzimmer und hielt im Flur inne. Er lauschte auf Geräusche, die Gefahr ankündigen mochten, hörte jedoch nichts Ungewöhnliches. Abgesehen vom leisen Summen des Kühlschranks herrschte Stille. Er hatte gerade die Küche betreten, als die Lichter ausgingen. »Mike!«, kreischte Holly aus dem Wohnzimmer. »Was ist mit dem Licht passiert?« »Eine Sicherung muss durchgebrannt sein«, rief er zurück, wenngleich er wusste, dass es nicht stimmte. Sämtliche Sicherungen waren brandneu – er hätte gleich nach ihrem Einzug alle ersetzt. »Der Sicherungskasten ist im Keller; ich sehe gleich mal nach.« Er legte die Flinte auf den Tisch, ergriff eine der Kerzen und steuerte auf die Kellertür, zu. Kaum hatte er die ersten Schritte zurückgelegt, nahm er rings um sich Bewegung wahr. Er drehte sich um und beobachtete voll Grauen, wie die Gesichter am Boden, an der Decke und an den Wänden sich zu bewegen begannen. Mit blinzelnden Augen und stumm kreischenden Mündern glitten sie über die Fliesen und die Wände hinauf, umkreisten ihn wie Haie. Der Boden schien sich unter ihnen aufzubäumen, die Wände neigten sich Mike zu. Sie versuchen, die Grenze zu überwinden. Das Kerzenlicht reicht nicht, um sie zurückzuhalten.
»Mike, sie kommen!«, kreischte Holly. Er packte die Flinte und rannte zurück in den Flur. Holly hatte das Wohnzimmer verlassen, stand vor der Tür zur Bibliothek und deutete hinein. Auch die Wände der Bibliothek wölbten sich nach innen, als ob unsichtbare Hände auf der anderen Seite dagegen drückten. Ein scharfes Knacken hallte durch den Raum, als die Risse an der gegenüberliegenden Wand länger und breiter wurden. Aus den Rissen blies ein eisiger Wind, der die Flammen der Kerzen auf den Tischen flackern ließ und zu löschen drohte. Sollte das geschehen, würde die Bibliothek in völlige Finsternis getaucht, und die Schreckgespenster würden zu Hunderten hereinströmen. Der Schrei eines Kindes zerriss die Nacht. Mike und Holly rasten zurück ins Wohnzimmer. Megan und Tommy standen auf dem Sofa in der Mitte des Raums und starrten mit vor Grauen geweiteten Augen auf das Geschehen rings um sie. Wie in der Bibliothek und in der Küche erschauderten die Wände und wölbten sich nach innen. Dämonische Fratzen erschienen darauf, starrten die Kinder an, verhöhnten sie mit stummem Gelächter. Auch im Wohnzimmer bildeten sich Risse in den Wänden und an der Decke. Verputz rieselte herab, als die Risse sich von einem Winkel der Decke zum anderen ausbreiteten. Mike beobachtete, wie ein dunkler Schemen sich aus einem der Risse hervorwand. Er glitt zu Boden und huschte unter die Anrichte. Ein zweiter Schatten folgte aus demselben Riss. Frustriert, weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte, setzte Mike die Flinte an der Schulter an und feuerte auf den Schatten. Die Wand explodierte, aber der Schatten war immer noch da. Auch er sank zu Boden und verschwand unter der Anrichte.
»Verdammt noch mal, Mike, hör auf zu schießen! Du könntest eins der Kinder treffen!« »Ich ziele doch gar nicht in ihre Richtung«, rief Mike zurück, wütend darüber, dass die Waffe keinerlei Wirkung gegen die Schatten erzielte. Plötzlich ertönte vor dem Haus ein lautes Krachen, dann polterte etwas Großes durch den Flur. Mike wirbelte herum, lud die Flinte durch und setzte sie abermals an der Schulter an, als ein breiter Schatten über die Schwelle ins Wohnzimmer fiel. Sein Finger bewegte sich bereits am Abzug, doch er hielt inne, als er erkannte, dass der herannahende Schemen eine vertraute Form aufwies. Sheriff Jody Douglas trat durch die Tür und erstarrte, als er die Flinte in Mikes Händen sah. »Ich habe einen Schuss gehört. Was, zum Teufel, ist hier drin los?« Rasch senkte Mike die Waffe. »Keine Zeit für Erklärungen. Wir müssen hier raus.« Der Sheriff rührte sich nicht. »Niemand geht irgendwohin, bis ich herausgefunden habe, was hier los ist. Vor etwa einer Stunde rief Sam Tochi bei uns an und sagte, ich müsste so schnell wie möglich hier rauskommen. Also, was um alles, in der Welt läuft hier?« »Sie kommen durch«, sagte Mike und deutete auf die gegenüberliegende Wand. »Wer kommt durch?«, fragte Sheriff Douglas, gebannt von den Bildern, die über die Wände und die Decke trieben. »Die Schreckgespenster«, brüllte Mike fast zurück. »Sie kommen von der anderen Seite durch. Meiner Großmutter wollten Sie ja nicht glauben, aber vielleicht glauben Sie Ihren eigenen Augen. Sehen Sie gut hin, aber tun Sie es rasch, denn wir müssen weg.« Mike packte die Kinder und scheuchte sie durch das Zimmer. Er war fast an der Tür angelangt, als Holly ihn aufhielt.
»Mike, draußen ist es dunkel. Wir schaffen es nie und nimmer zu seinem Wagen.« Mike blieb stehen und deutete auf Jody Douglas. »Wenn er es bis ins Haus geschafft hat, dann schaffen wir es auch hinaus. Komm jetzt.« Holly rührte sich nicht von der Stelle. »Sie haben uns schon einmal daran gehindert zu gehen.« »Was schlägst du dann vor? Einfach hier bleiben?« Sie drehte sich um und deutete auf die leere Ablage an der gegenüberliegenden Wand. »Was ist mit den Kachinas? Sam Tochi hatte Recht. Er sagte, die Puppen halten die Schreckgespenster davon ab, durch die Öffnung zu gelangen. Wir müssen sie wieder aufstellen. Wenn wir es nicht tun, werden Millionen dieser Dinger in diese Welt schwärmen. Sie werden alles zerstören. Bitte, Mike. Das ist vielleicht unsere einzige Chance, unversehrt zu fliehen. Denk an die Kinder.« Mike Schultern sackten herab. »Na schön, ich hole die verfluchten Puppen.« Er gab Holly die Flinte. »Ich kann nicht die Kartons und die Waffe tragen.« »Ich helfe ihnen«, meldete sich Jody Douglas zu Wort. Mühevoll löste er den Blick von den umherschnellenden Gesichtern an der gegenüberliegenden Wand uns sah Mike an. »Ich habe nicht den blassesten Schimmer, was hier los ist. Und erst recht nicht, was das für Dinger sind. Aber wenn der alte Indianer weiß, wie man sie bekämpft, dann denke ich, wir sollten auf seinen Rat hören.« Mike wollte den Sheriff schon auffordern, hier zu bleiben, um Holly und die Kinder zu beschützen, dann jedoch fiel ihm ein, dass seine Pistole wirkungslos gegen die Schreckgespenster sein würde. Und der Sheriff hatte eine Taschenlampe. »In Ordnung«, nickte Mike. »Gehen wir.«
Sie eilten durch die Küche, öffneten die Kellertür und stiegen die Treppe hinab. Mike ging voraus, der Sheriff folgte dicht hinter ihm. Selbst mit der Taschenlampe blieb es im Keller zu dunkel, um sich auch nur annähernd sicher zu fühlen. Sie durchquerten den Raum und erreichten die Stelle, an der Holly die Puppen eingelagert hatte. Fünf der Kartons waren verklebt, einer jedoch war geöffnet worden. Mehrere Puppen waren ihm entnommen und über den Boden verstreut worden. Mike fragte sich, wer die Kachinas aus dem Karton geholt haben mochte, aber nur kurz. Die beiden Männer ergriffen je zwei volle Kartons und hasteten zurück zur Treppe. Keiner der beiden wollte auch nur einen Augenblick länger als notwendig im Keller verbringen, denn die sie umgebende Dunkelheit schien von wuselnden Leben erfüllt. Außerdem drangen aus jener Dunkelheit ein frostiger, böswilliger Wind und die seltsamen Flüsterlaute. Auf halbem Wege zu den Stufen hob sich der Kellerboden unter ihren Füßen wie eine riesige Blase. Er stieg an und sank wieder ab; die Betonplatten brachen und gaben unter ihnen nach. Die Brocken verschwanden wie durch Magie in einen großen, runden Schacht, der sich plötzlich mitten im Keller aufgetan hatte und geradewegs in die Eingeweide der Erde hinabzureichen schien. Die Sipapuni öffnete sich. Mike lief an vorderer Position. Als er bemerkte, dass der Boden sich unter ihm bewegte, hechtete er vorwärts und rollte sich ab. Jody Douglas hatte weniger Glück. Als der Boden einbrach, stürzte er in den Schacht. »Helfen Sie mir!« Mike rappelte sich auf die Knie, drehte sich um und sah die Öffnung, die mitten im Kellerboden klaffte. Die Dunkelheit darin schien zu vibrieren, zu pulsieren, als wäre sie von Millionen wuselnder Schaben erfüllt. Allerdings waren es
keine Schaben, sondern Schreckgespenster, die sich in dem Schacht darum drängten, in diese Welt vorzudringen. Herr im Himmel, es ist zu spät. Sie kommen. Millionen von ihnen. Mike fühlte sich vor Angst wie gelähmt, konnte weder den Blick abwenden, noch versuchen, in Sicherheit zu flüchten. Doch in der Öffnung befand sich noch etwas anderes. Sheriff Douglas klammerte sich mit kaum mehr als den Fingerspitzen an den abgebrochenen Rand des Kellerbodens und kämpfte verbissen darum, nicht in den Schacht zu stürzen. »Helfen Sie mir! Bitte!«, schrie der Sheriff. Aus seinen Augen sprach Furcht. Echte Furcht. Zum vielleicht ersten Mal in seinem Leben steckte Jody Douglas in der Rolle des Opfers. Bitte? Hat er bitte gesagt? Als Mike den Sheriff ansah, spürte er plötzlich, wie sein Herz erkaltete. Bettelte der Sheriff um seine Hilfe? Hatte er tatsächlich »bitte« gesagt? Hatte nicht Vivian Martin dasselbe Wort verwendet, als sie Jody Douglas und seine Spießgesellen angefleht hatte, sie in Ruhe zu lassen und nicht mehr zu quälen? Hatte Douglas damals auf sie gehört? Hatte er Mitgefühl oder Gnade gezeigt? Nein. Er hatte sie weiter gepeinigt, ihr das Leben zur Hölle gemacht. Ebenso wenig hatte der Sheriff Mitgefühl für Mike und seine Familie erkennen lassen. Sie hatten ihn bei mehreren Gelegenheiten um Hilfe gebeten, doch er war nur sarkastisch geworden und hatte sich über sie lustig gemacht. »Bitte?« Mike sprach das Wort laut aus, ließ es langsam von seiner Zunge und seinen Lippen rollen. Warum sollte er dem Sheriff nach all den abscheulichen Dingen helfen, die dieser ihm und seiner Familie angetan hatte? Sollte er doch abstürzen. Welches grausige Schicksal ihn am Ende des Schachts auch erwarten mochte, er verdiente es. Warum sollte Mike ihm helfen?
Weil es das Richtige ist. Mike spürte, wie die Wut langsam aus ihm wich; er wusste, er hatte keine andere Wahl, als dem Sheriff zu helfen. Es wäre nicht richtig, ihn sich selbst zu überlassen. Und Mike hatte in seinem Leben immer das Richtige getan, das hatten ihm seine Eltern und seine Großmutter beigebracht. Immer noch auf Händen und Knien kroch Mike hastig durch den Keller. Als er den Rand des Schachts erreichte, ließ er sich auf den Bauch nieder und streckte dem Sheriff die Hand entgegen. »Geben Sie mir die Hand.« Der Sheriff wand und krümmte sich, versuchte, sich aus dem Schacht hochzuziehen. »Ich kann nicht. Ich rutsche ab.« »Geben Sie mir die Hand«, wiederholte Mike. »Beeilen Sie sich, bevor der ganze Boden wegbricht.« Jody Douglas versuchte es erneut. Mit letzter Kraft hievte er sich ein wenig hoch und schwang Mike die rechte Hand entgegen. Mike griff danach, packte sie und begann, den Sheriff aus dem Schacht zu ziehen – doch es war zu spät. Die wirbelnde Masse der Dunkelheit im Schacht brandete empor, als Tausende Schreckgespenster der Öffnung aus ihrer Welt entgegenschnellten. Sie schwärmten über den Sheriff wie Ameisen, griffen ihn an, zerrten ihn in die Tiefe. Mike hielt ihn mit aller Kraft fest, doch die Kreaturen entrissen Jody Douglas seinem Griff. Ein gellender Schrei hallte durch den Keller, als der Sheriff von den Schreckgespenstern hinabgezogen wurde, ein Schrei, der von unvorstellbarem Grauen zeugte. Mike schob sich von der Öffnung weg und rappelte sich rasch auf die Beine. Die Taschenlampe des Sheriffs lag noch dort auf dem Boden, wo er sie hatte fallen lassen, daneben befand sich ein Schlüsselbund. Mike ergriff beides, rannte durch den Keller und hielt nur einmal inne, um zwei Kartons mit Kachinas aufzuheben. Er war gerade oben an der Treppe
angelangt, als der Rest des Kellerbodens in den Schacht verschwand. Mike raste zurück ins Wohnzimmer, öffnete einen der Kartons und begann, in aller Eile die Kachinas zurück auf die Ablagen zu stellen. Holly griff sich den anderen Karton und half ihm. »Wo ist der Sheriff?«, fragte sie, während sie eine Hand voll Puppen aus dem Karton hob. »Er hat es nicht geschafft«, antwortete Mike. »Die Schreckgespenster haben ihn erwischt.« Einen Lidschlag lang starrte sie ihn entsetzt an, dann stellte sie die Kachinas doppelt so schnell auf die Ablage. »Es ist zu spät!«, stieß Mike hervor, als er spürte, wie der Boden unter seinen Füßen erbebte. Auch die anderen spürten es. Mit vor Angst geweiteten Augen wich Tommy aus der Mitte des Raums zurück und stieß gegen die Wand. Schlagartig strömten Dutzende Schatten aus den Rissen und schwärmten über den Jungen. Tommy kreischte und versuchte, von der Wand wegzukommen, aber die Kreaturen hatten ihn fest im Griff. »Tommy!«, gellte Holly. Mike ließ den Karton mit Kachinas fallen und preschte los, um seinem Sohn zu helfen. Allerdings hatte er kaum drei Schritte zurückgelegt, als Tommy von den Schreckgespenstern vom Boden emporgehoben und zum oberen Rand der Mauer gehievt wurde. Mit den Beinen um sich tretend, hing der Junge in der Luft, der Kopf gegen die Decke gepresst, während die Schreckgespenster versuchten, ihn durch den Riss in ihre Welt zu zerren. Mike sprang hoch und packte den linken Knöchel seines Sohnes, versuchte, ihn von der Decke zu ziehen, aber die Kreaturen ließen nicht locker, und alles, was sich löste, war der
Turnschuh des Jungen. Mike ließ ihn fallen, sprang erneut hoch und packte Tommys Knöchel abermals. Tommy schrie auf, als sein Kopf gegen die Decke geschlagen wurde. Als sein Vater an seinem Knöchel zog, brüllte er wieder. Es waren lang gezogene, schrille Schreie der Angst und des Schmerzes. »Hilf ihm, Mike! Hilf ihm!«, kreischte Holly. »Lass ihn nicht los!« Mike schloss den Griff um Tommys Knöchel fester und zerrte daran. Dabei betete er, dass er seinem Sohn nicht das Knie verrenken oder das Bein aus der Gelenkspfanne ziehen würde. Er wusste, dass er dem Jungen wehtat, doch er hatte keine andere Wahl. Ließe er los, würden die Schreckgespenster Tommy noch höher die Wand hinaufschleifen und ihm das Genick brechen, da sein Kopf bereits jetzt gegen die Decke gepresst wurde. Oder vielleicht würden sie ihn irgendwie durch den Riss quetschen und in ihre Welt entführen, wie sie es mit dem Sheriff getan hatten. »Die Taschenlampe!«, rief er Megan zu. »Hol die Taschenlampe und ziel damit auf deinen Bruder! Wir müssen diese Dinger von ihm wegkriegen!« Megan stand wie erstarrt vor Angst da, sah ihren Vater an, ließ jedoch keine Regung erkennen, dass sie ihn gehört hatte oder seiner Aufforderung Folge zu leisten gedachte. »Megan, um Himmels willen, beeil dich!«, brüllte Mike. Das Mädchen blinzelte und schüttelte den Kopf. Sie raste durch das Zimmer, ergriff die Taschenlampe und richtete sie auf ihren Bruder. Als der helle Strahl über Tommy strich, ließen mehrere Schreckgespenster von ihm ab und flüchteten zurück in die Wand. »Genau so, genau so!«, rief Mike, der spürte, dass sein Sohn ein paar Zentimeter die Wand herabglitt. »Direkt auf ihn. Und
auf die Wand rings um ihn. Geh näher ran. Sie hassen das Licht.« Mit der Taschenlampe gleich einem Schwert vor sich gestreckt bewegte Megan sich durch das Zimmer auf ihren Bruder zu. Als sie sich näherte, lösten ein paar weitere Schreckgespenster den Griff um den Jungen und flüchteten in den Riss. Tommy rutschte weiter die Wand herab, genug, damit Mike hochspringen und ihn an der Hüfte packen konnte. Mit dem Wissen, dass er vielleicht keine zweite Chance, bekommen würde, umklammerte er seinen Sohn und zog an ihm, so kräftig er konnte. Ein gequältes Stöhnen entrang sich Tommy, gefolgt vom Geräusch zerreißender Kleidung, dann hatte er den Jungen befreit. Mike entriss Tommy dem Griff der Schreckgespenster so heftig, dass er rücklings fiel und sein Sohn auf ihm landete. Mike rollte sich zur Seite und rappelte sich rasch auf die Beine. Er hob Tommy auf und vergewisserte sich, dass sein Sohn nicht verletzt war. Abgesehen von einem zerfetzten TShirt schien der Junge unversehrt zu sein. Kaum hatte er Tommy von der Wand geholt, durchlief ein entsetzliches Zittern das Haus. Damit einher ging das Geräusch des Flüsterns, das mit jeder Sekunde lauter wurde. Es drang aus dem Keller unter ihnen. Der Durchgang hatte sich vollständig geöffnet, und die Schreckgespenster betraten diese Welt zu Tausenden. Mike wirbelte herum, versuchte, sich etwas einfallen zu lassen, hielt Ausschau nach einer Waffe oder nach einem Ausweg für sich und seine Familie; aber sein Verstand war durch die Dinge, die er bezeugt hatte, von solchem Grauen erfüllt, dass er ihm den Dienst verweigerte. Er hatte keinen Plan, keinerlei Idee. »Brenn es nieder!«
Er drehte sich dem Klang der Stimme zu, hatte die Worte nicht wahrgenommen. »Was?« »Brenn es nieder!«, schrie Holly. »Brenn das Haus nieder. Im Sägewerk hat das Feuer die Schreckgespenster aufgehalten. Die Arbeiter haben es angezündet. Brenn es nieder, Mike. Sie ertragen das Licht nicht. Das ist unsere einzige Chance, die Öffnung zu versiegeln.« Mike zog sein Feuerzeug aus der Tasche, durchquerte das Zimmer und hielt die Flamme an einen der Vorhänge. Der Stoff begann zwar zu brennen, aber langsam, viel zu langsam. »Das funktioniert nicht. Ich brauche Benzin oder sonst etwas leicht Entzündliches.« »Hol die Reinigungslösungen aus meinem Atelier«, brüllte Holly. »Die sind leicht entzündlich.« »Gute Idee.« Er steckte das Feuerzeug zurück in die Hosentasche. »Du wartest hier mit den Kindern. Rührt euch nicht vom Fleck.« Er griff sich die Taschenlampe, rannte aus dem Zimmer und versuchte, die Fratzen an der Wand zu ignorieren, die mit ihm den Flur entlangzurasen schienen. In Hollys Atelier schnappte er sich einige Flaschen Reinigungslösung von den Regalen. Da so gut wie alles, was sie verwendete, leicht entzündlich war, sparte er sich die Mühe, die Etiketten zu lesen. Rasch öffnete er eine der Flaschen, verspritzte die Flüssigkeit durch das Atelier und wich zurück hinaus auf den Flur. Den Inhalt des zweiten Behälters verteilte er durch den Gang, bildete eine flüssige Spur zu seinem Arbeitszimmer und wieder zurück zum Atelier. Dann warf er den leeren Behälter beiseite und holte das Feuerzeug aus der Tasche hervor. »Ich hoffe, das funktioniert.« Er ließ das Zippo aufschnappen und drehte das Rad – doch nichts geschah. Mike versuchte es erneut. Nichts.
»Mach schon, mach schon. Das ist nicht der richtige Augenblick für Zicken. Mach endlich, du Mistding!« Erneut drehte er das Rad – und diesmal klappte es. »Danke! Danke!« Er hielt die Flamme an die Pfütze zu seinen Füßen. Mike blieb kaum Zeit zurückzuspringen, bevor die verschüttete Reinigungslösung Feuer fing. Die Flammen züngelten die Wände hoch und breiteten sich brüllend den Flur hinab zu seinem Arbeitszimmer aus. Mike packte die verbliebenen Behälter und rannte zurück ins Wohnzimmer. »Alle raus, sofort. Holly, nimm die Kinder und bringt sie zur Vordertür. Aber geht erst ins Freie, wenn ich es euch sage.« »Was ist mit dir?«, fragte sie. »Ich komme gleich nach.« Mike wartete, bis seine Familie den Gefahrenbereich verlassen hatte, dann betrat er das Wohnzimmer und begann, alles mit der entzündbaren Flüssigkeit zu bespritzen. Er durchtränkte den Teppichboden und die Vorhänge, die Wände und die Möbel. In der Bibliothek und der Küche wiederholte er denselben Vorgang, dann setzte er alle drei Räume in Brand. Als die Flammen aufzüngelten, erfüllte ein schauriger, zischender Kreischlaut die Luft rings um ihn. Es funktioniert – sie hassen das Feuer. Triumphierend beobachtete Mike, wie Dutzende Schreckgespenster vor den Flammen flüchteten und wieder in den Rissen verschwanden, aus denen sie gekommen waren. Als das Feuer sich ausbreitete, verblassten die Gesichter an den Wänden, Decken und Böden, bis sie gänzlich verschwunden waren, und auch die Risse schlossen sich langsam. Da er sich vergewissern musste, dass die große Öffnung sich ebenfalls schloss, rannte Mike in die brennende Küche und eilte zur Kellertür. Er riss sie auf, trat auf die Treppe und zielte
mit der Taschenlampe in die Tiefe. Der Schacht, der in die geheimnisvolle Welt der Schattenkreaturen führte, war noch da, aber deutlich kleiner als zuvor. Während er hinsah, schrumpfte die Öffnung, bis sie völlig verschwand. Die Schreckgespenster waren in ihr Reich zurückgekehrt und hatten die Tür hinter sich zugemacht. »Mike!« Er wandte sich ab und hetzte die Treppe zurück hinauf. Der Anblick, der sich ihm bot, löste Panik in ihm aus. Das Feuer hatte sich schneller ausgebreitet, als er erwartet hatte. Eine fast undurchdringliche Flammenmauer schnitt ihn vom Rest des Hauses ab. In wenigen Minuten würde das ganze Gebäude über ihnen zusammenbrechen. Mike nahm allen Mut zusammen, duckte sich unter den züngelnden Flammen hindurch und raste durch die Küche in den Flur. Er wandte sich nach rechts und sprintete den Gang hinab zur Vordertür. Der Rauch war so dicht und die Hitze so intensiv, das Mike dachte, es könnte bereits zu spät sein. Seine Hoffnung, es zu schaffen, schwand rapide, doch irgendwie erreichte er die Tür, wo er Holly und die Kinder umarmte. »Es funktioniert – das Feuer vertreibt sie.« Er griff zum Türknauf. »Schnell, wir müssen hier raus.« »Was ist mit den Schreckgespenstern draußen?«, fragte Holly. »Hoffen wir, dass sie nicht mehr da sind.« Damit zog er die Tür auf und scheuchte seine Familie hinaus. Im Laufschritt hetzten sie über die Veranda und blieben erst stehen, als sie sich weit genug vom lodernden Haus entfernt befanden, um sich sicher zu fühlen. Halb rechnete Mike damit, angegriffen zu werden, doch aus der Dunkelheit raste nichts auf sie zu. Er griff in die Hosentasche und holte den Schlüsselbund daraus hervor, der einst dem Sheriff gehört hatte. Nach mehreren Versuchen fand er den Schlüssel für den
Streifenwagen. Er wartete, bis Holly und die Kinder eingestiegen waren, dann startete er den Motor und rollte vom Haus weg. Am Ende der Auffahrt blieb er kurz stehen und beobachtete, wie ihr neues Heim in Flammen aufging. Eigentlich hätte ihn der Verlust des Hauses und all dessen, was sie besaßen, bestürzen oder traurig stimmen müssen, doch dem war nicht so. Sie hatten immer noch einander, und das zählte für ihn mehr als jeder materielle Wert. Auch die Aussicht, nach New York City zurückzukehren, entsetzte ihn nicht, denn genau das würden sie tun. Das Leben in einer Großstadt mochte Gefahren bergen, aber wenigstens Gefahren bekannter Art. Außerdem würde alles, womit ihn der Big Apple konfrontieren könnte, neben dem verblassen, was er auf dem alles andere als friedlichen Land erlebt hatte. Mike setzte aus der Auffahrt zurück und fuhr langsam die Sawmill Road hinab los. Hinter ihm brannte das Haus weiter. Die Schatten, die rings um das Gebäude tänzelten, waren nur jene, die von den züngelnden Flammen verursacht wurden. Die Schreckgespenster waren verschwunden, in ihre Welt zurückgekehrt. Getauft von den Flammen, hatte der Durchgang im Keller sich wieder geschlossen.
ANMERKUNG DES AUTORS
Im August 1971 tauchte im Dorf Belmez in der Nähe von Cordoba, Südspanien, ein Bild eines menschlichen Gesichts auf dem Küchenboden einer betagten Frau auf. Das seltsame Bild, das auf rosa Fliesen erschienen war, wies keinerlei erkennbare Farbpigmente auf. Erschrocken und verwirrt ließen die Hausbesitzer den Boden herausreißen und die Fliesen durch Beton ersetzen. Drei Wochen später allerdings tauchte ein zweites Gesicht auf. Ein drittes folgte, später ein viertes, dann eine ganze Reihe. Die örtlichen Behörden wurden verständigt, und die Küche wurde abgesperrt und versiegelt. In einem anderen Teil des Hauses erschienen vier weitere Gesichter, darunter das einer Frau. Sie jedoch waren die letzten, denn das Phänomen verschwand so unerklärlich, wie es aufgetreten war. Bis zum heutigen Tage konnte niemand eine befriedigende Erklärung dafür bieten, was geschehen war. Die Gesichter von Belmez bleiben ein Rätsel.