Die Antwort ist Liebe
ANNE MATHER
Zwei Männer hatten bisher Marilyns Leben bestimmt: ihr verstorbener Mann und ihr Ch...
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Die Antwort ist Liebe
ANNE MATHER
Zwei Männer hatten bisher Marilyns Leben bestimmt: ihr verstorbener Mann und ihr Chef Adrian Sinclair, der sie seit Jahren zärtlich umwirbt. Beide boten ihr Sicherheit und Geborgenheit, brachten ihr Wärme und Verständnis entgegen. Doch als die junge Witwe Nicholas Vitale kennenlernt, merkt sie, daß Liebe auch anders sein kann. Die Leidenschaft, die sie für ihn empfindet, erschreckt sie, beglückt sie aber auch über alle Maßen. Doch ihre halbwüchsige Tochter Diana ist gegen ihre Verbindung mit Nicholas. Muß Marilyn nicht um ihretwillen auf ihre große Liebe verzichten?
RomanaRomane erscheinen in der KORALLE VERLAG GmbH Berlin – Hamburg. Redaktion und Verlag: 2 Hamburg 36, KaiserWilhelmStraße 6,
Telefon (040) 347(1).
FS 212.009 korad
Verantwortlich für den Inhalt: TheaTauentzien, Hildegard Matthes.
Anzeigenleitung: Eckart Dems – Vertriebsleitung: Gerhard Bergmann.
Anzeigen nach jeweils gültiger Anzeigenpreisliste.
© by Anne Mather
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Mills & Boon Limited, London. DeutscheÜbersetzungl974byKORALLEVERLAGBerlin – Hamburg.
Alle Rechte vorbehalten. RomanaRomane dürfen nicht Verlag AG, oder zum erwerbsmäßigen Umtausch verwendet werden.
Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages.
Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung.
Satz: Axel Springer Verlag AG, Hamburg.
Druck: Ernst Klett Druckerei, Stuttgart.
Printed in Western Germany
1. KAPITEL Marilyn faltete den letzten Brief zusammen und schob ihn erleichtert in den
Umschlag. So, das war wieder einmal geschafft!
Während sie ihren Ledermantel überzog, vergewisserte sie sich mit einem Blick,
daß ihr Büro ordentlich aufgeräumt war, wie es sich für das Wochenende
gehörte. Dann trat sie auf den Korridor hinaus und zog die Tür hinter sich zu.
Jetzt, wo die Jungen und Mädchen fehlten, der Lärm, den sie machten,
erschienen ihr die Gänge der Schule öde und ohne Leben.
Plötzlich tauchte George Jackson, der Hausmeister der Schule, am Ende des
Ganges auf und kam auf sie zu. Marilyn, die den älteren pflichtbewußten Mann
gern mochte, lächelte ihm zu.
„Noch immer da, Mrs. Scott?“ fragte er. „Es ist schon fünf vorbei.“
Marilyn nickte. „Ich gehe eben, George. Die letzten Briefe habe ich, wie immer,
auf meinen Schreibtisch gelegt.“
„Ich kümmere mich darum.“ George wühlte in seinen Taschen nach seiner Pfeife.
„Gehen Sie nur, meine Liebe. Ihre Tochter wird sich schon fragen, wo Sie sind.“
„Da könnten Sie recht haben.“ Wieder lächelte Marilyn. „Bis Montag also.“
Sie drehte sich um und ging den Korridor entlang. Trotz der Leere übte die
Schule noch einen eigenen Reiz auf sie aus. Sie arbeitete gern für Adrian Sinclair,
den Direktor der Schule, dessen Sekretärin sie seit mehr als fünf Jahren war.
Fast so lange, wie sie in Otterbury lebte.
Ihr Moped stand einsam auf dem Parkplatz der Schule, und während sie es in
Gang brachte, fröstelte sie. Zwar ging der März seinem Ende zu, aber morgens
und abends war die Luft noch ziemlich kalt, und es machte nicht soviel Spaß auf
dem Moped zu sitzen wie während der warmen Sommermonate.
Am Tor verlangsamte sie die Fahrt, um sich in den strömenden Verkehr
einzufädeln. Seit das große Automobilwerk in Otterbury entstanden war,
herrschte viel Betrieb in der kleinen Stadt. Die Bevölkerungszahl war sprunghaft
angestiegen, und immer mehr Häuser wurden gebaut.
Marilyn genoß die Freiheit, die sie stets empfand, sobald sie auf ihrem Moped
saß. Die Fahrzeuge, die sie drohend zu umschwärmen schienen, störten sie dabei
nicht.
Auf einmal raste ein großer roter Wagen an ihr vorbei. Marilyn verzog das
Gesicht, als der Fahrtwind des Monsters sie wie eine Meereswoge überrollte.
Kaum fand sie ihr Gleichgewicht wieder, da mußte sie auch schon mit voller Kraft
bremsen. Der Fahrer des roten Wagens hatte abrupt angehalten.
Marilyn war schon zu nahe heran. Zwar versuchte sie, mit den Füßen
abzubremsen, aber das Moped rutschte, prallte im nächsten Augenblick gegen
den großen Wagen und überschlug sich. Marilyn landete auf der Straße. Dabei
kam sie sich so lächerlich vor wie ein Schulmädchen, das vom Fahrrad gefallen
war.
Als sie versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, wurde sie von zwei starken
Armen gestützt. Zugleich vernahm sie eine Stimme, in der Eisschollen zu klirren
schienen: „Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?“
Ihre Augen weiteten sich. Sie sah zu dem Mann auf, der so zornig vor ihr stand.
Schob er die Schuld etwa ihr in die Schuhe? Er hatte den Unfall doch verursacht!
„Das ist eine Hauptstraße, kein Kinderspielplatz!“ fuhr er aufgebracht fort. „Sie
sollten auf den Verkehr aufpassen oder zu Hause bleiben.“
„Jetzt hören Sie aber mal“, wandte Marilyn empört ein. „Es war doch Ihre Schuld.
Weil sie so plötzlich anhielten!“ Sie sah, wie er sie mit spöttischem Blick
musterte, und fragte sich, welcher Nationalität er wohl war. Ein kaum spürbarer
Akzent verriet den Ausländer. „Diese Straße wurde nicht für Autorennen gebaut, und jeder Fahrer hat seine Absichten anzuzeigen...“ „Das weiß ich“, unterbrach er sie. „Also gut. Ich gebe zu, abrupt angehalten zu haben. Hätte ich es nicht getan, wäre etwas weit Schlimmeres passiert. Wenn Sie um den Wagen herumgehen, werden Sie sehen, was ich meine.“ Marilyn ging mit etwas wackeligen Beinen um das rote Monster herum. Jäh blieb sie stehen: Drei Fahrzeuge, ein Last und zwei Personenwagen, waren mitten auf der Fahrbahn zusammengeprallt. Die Polizei war bereits alarmiert, aber glücklicherweise schien niemand ernstlich verletzt. „Nun?“ sagte der Fremde etwas freundlicher. „Sind Sie jetzt von der Richtigkeit meiner Reaktion überzeugt?“ Marilyn hob die Schultern. „Natürlich. Es tut mir leid, daß ich so wütend war. Aber ein Moped hat nun mal keine so starken Bremsen wie Ihr Wagen.“ Der Mann neigte zustimmend den Kopf, um dann etwas verspätet zu fragen: „Sind Sie verletzt?“ Marilyn konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. „Nein, ich bin noch ganz. Sie sollten lieber Ihren Wagen untersuchen, er wird eher eine Behandlung brauchen.“ Auch sein Lächeln war spöttisch, und Marilyn dachte unwillkürlich, wie attraktiv dieser Mann doch war. Groß, breite Schultern, schmale Hüften, ein gebräuntes Gesicht und blaue Augen. Sein sehr dunkles Haar brachte sie auf den Gedanken, daß er vielleicht Spanier oder Italiener war. Er bewegte sich mit Grazie. Eine gewisse Trägheit schien gebändigte Vitalität zu verbergen. Sein Anzug war tadellos gearbeitet, und sein fehlerloses Englisch ließ trotz des Akzentes auf eine ausgezeichnete Erziehung schließen. Sie fragte sich, wer er wohl sein mochte. Sie kannte die meisten einflußreichen Persönlichkeiten der Stadt vom Sehen. Dieser Mann war ihr jedoch fremd. Als lese er ihre Gedanken, sagte er: „Da ich zu den SheridanWerken gehöre, brauchen wir uns wegen der Reparatur meines Wagens nicht zu sorgen. Wie Sie sehen, handelt es sich ohnehin nur um eine kleine Beule.“ Die SheridanWerke stellten Autos her und waren die erste Zweigstelle eines italienischamerikanischen Konzerns in England. Dies schien auch seinen Akzent zu erklären. Er war zweifellos italienischer Abstammung, mochte aber längere Zeit in den Staaten gelebt haben. „Dann ist es ja gut“, erwiderte sie und wollte ihr Moped aufheben. Er kam ihr jedoch zuvor. „Ihr Fahrzeug scheint in Ordnung zu sein“, erklärte er nach einer flüchtigen Überprüfung. „Sollte sich noch ein Schaden herausstellen, lasse ich ihn beheben. Rufen Sie einfach Otterbury 2001 an.“ Marilyn dankte ihm und wurde sich plötzlich bewußt, wie zerzaust sie aussehen mußte. Während er ihr Moped aufhob, ruhte sein ungeniert abschätzender Blick auf ihr, und sie spürte, wie sie vor Verlegenheit rot wurde. „Da… danke“, stammelte sie und war froh, daß ihr Moped gleich beim ersten Versuch ansprang. „Leben Sie wohl.“ „Au revoir Miss...?“ Er wartete lächelnd auf ihre Antwort. „Mrs. Scott“, verbesserte sie ihn und fuhr mit einem kühlen Lächeln davon. Sie ahnte, daß er ihr nachsah, und hoffte, daß ihre Haltung eindrucksvoll war. Einige Sekunden später jagte er an ihr vorbei, hob grüßend die Hand, und die Spannung wich von ihr. Marilyn wohnte mit ihrer Tochter Diana in dem Vorort Evenwood Gardens, in der Nähe des Flusses Otter. Jedesmal, wenn sie nach Hause kam, freute sie sich aufs neue. Es war eine so hübsche Wohnung, und Otterbury eine so freundliche Stadt. Als sie die Tür aufschloß und die kleine Diele betrat, rief sie fragend:
„Diana? Bist du da?“ Keine Antwort. Sie schlüpfte aus ihrem Mantel und warf einen Blick ins Wohnzimmer, einen relativ großen Raum mit hellen Wänden und einigen hübschen Bildern. Der blaue Teppichboden, für den Marilyn lange gespart hatte, paßte gut zu der Sitzgarnitur aus weißem Leder. Die Heizung war leider elektrisch, Marilyn wäre ein offener Kamin lieber gewesen. Das Zimmer machte einen warmen, gemütlichen Eindruck. Eine Glasvitrine enthielt Porzellan und Gläser. Den übrigen Platz nahmen Bücherregale ein, Fernsehapparat und Dianas Plattenspieler standen darauf. Marilyn zündete sich eine Zigarette an und drückte auf die Taste des Fernsehers. Die Zubereitung des Abendessens in der winzigen Küche würde nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Sie stellte sich alles zurecht und setzte den Wasserkessel auf. Es war fast sechs Uhr, Diana mußte jeden Augenblick kommen. Die Wohnung hatte nur ein Schlafzimmer, das sie mit Diana teilte, und ein kleines Bad. Eigentlich war alles für eine Person gedacht, aber eine größere Wohnung hätte Marilyn nicht bezahlen können. Sie war zufrieden. Diana jedoch kam jetzt in das Alter, wo sie gern ein eigenes Zimmer gehabt hätte. Damals, als sie nach Joes Tod nach Otterbury zogen, war Marilyn froh gewesen, sich überhaupt eine solche Wohnung leisten zu können. Während sie sich im Bad wusch, fragte sie sich unwillkürlich, welchen Eindruck der Mann in dem roten Wagen von ihr gehabt haben mochte. Sie fand ihn ungeheuer attraktiv, jede Frau mußte das finden. Wie alt war er wohl ungefähr? Sie schätzte, in ihrem Alter: sie war dreiunddreißig. Sie löste ihr Haar, das sie während der Arbeit in einem Knoten trug. Es fiel schwer auf ihre Schultern herab, und sie bürstete es kräftig durch. Für wie alt mochte er sie gehalten haben? Sie wußte, daß sie jünger aussah als ihre Jahre. Adrian Sinclair behauptete, sie sähe eher wie Dianas Schwester aus, kaum wie ihre Mutter. Aber Adrian wollte sie heiraten, und das war nun einmal seine Art zu reden. Diana murrte nicht selten darüber, daß Marilyn sich nicht so anzog, wie es sich für eine Schulsekretärin und respektable Witwe gehörte. Vielleicht lag es an dem Einfluß, den Joe auf Diana gehabt hatte, daß sie jetzt so altmodische Ansichten äußerte. Etwas kritisch stellte Marilyn fest, daß ihre Augen das hübscheste in ihrem Gesicht waren, grünbraun mit goldenen Lichtern. Ihr dichtes Haar schimmerte wie Seide und hatte die Farbe goldenen Bernsteins. Sie war groß, fast zu groß, fand sie immer, langbeinig und schlank, doch wenigstens nicht eckig. Alles in allem ein ganz ansehnliches, aber ziemlich durchschnittliches weibliches Wesen, dachte sie, das in keiner Weise aus der Masse herausragte. Der Mann dagegen war in jeder Beziehung etwas Besonderes. Wahrscheinlich hatten das auch schon viele Frauen gefunden. Der Zug von Überdruß um seinen männlichen Mund verriet, daß sein Leben ihn langweilte. Gewiß war er sich seiner eigenen Anziehungskraft allzu bewußt. Marilyn schnitt sich im Spiegel eine Grimasse. Auf was für Ideen kam sie bloß? Lieber Himmel, sie benahm sich wie ein Teenager. Nur, weil sie zufällig einem aufregenden Mann begegnet war, der aber völlig anderen Kreisen angehörte als sie! Während sie in ihren Hausmantel schlüpfte, nahm sie sich fest vor, den Fremden zu vergessen. Was immer sie auch empfand, ihre Hauptsorge war und blieb Diana. Die arme Diana, die bis zum heutigen Tage Joes Tod nicht verwunden hatte. Sie war sieben gewesen, als er starb. Marilyn verließ das Schlafzimmer. Da wurde die Wohnungstür von außen
aufgeschlossen. Diana kam hereingewirbelt, bis auf das dunkelbraune Haar eine
schlanke, jüngere Ausgabe ihrer Mutter. Sie war nun sechzehn und besuchte eine
Handelsschule in Otterbury. In letzter Zeit kam sie oft spät nach Hause, da ihre
Klasse ein Theaterstück einstudierte, in dem sie eine der Hauptrollen spielte. Der
Erlös der Aufführung sollte wohltätigen Zwecken zugute kommen.
Diana war nicht so groß wie Marilyn und trug ihr Haar modisch lang. In ihrem
dunkelgrauen Dufflecoat und mit der karierten Umhängetasche war sie ein
typischer Teenager.
„Hallo, Mutti“, rief sie und warf die Tasche auf einen Stuhl. „Kalt ist das heute.
Ich bin total erfroren!“
Marilyn nickte. „Ja, sehr frühlingshaft ist es nicht gerade. War die Probe gut?“
„Teils teils“, antwortete Diana gleichgültig. „Miss Hawkes versucht das Ganze
zwar wie einen Zapfenstreich aufzuziehen, aber davon abgesehen, ging es
leidlich. Es ist ein solches Durcheinander, daß ich das Gefühl habe, es wird nie
klappen.“
Marilyn lachte. „Am Tage der Aufführung klappt es bestimmt. Kopf hoch, bald ist
alles vorbei. In drei Wochen fangen die Ferien an, nicht wahr?“
„Ja, dem Himmel sei Dank. Zwei ganze Wochen nur faulenzen. Einfach toll!“
Marilyn lächelte und ging in die Küche. Während sie das Abendessen zubereitete,
entschloß sie sich, Diana nichts von dem Sturz vom Moped zu erzählen.
Schließlich war nichts passiert, und Diana verlangte schon lange, daß sie
während der Hauptverkehrszeit den Bus benutzte. Ab und zu übertrieb sie ihre
Sorge um die Mutter etwas, vielleicht, weil sie keine anderen Verwandten hatten.
Marilyn wollte ihr jedenfalls nicht noch nachträglich einen Schreck einjagen.
Nach dem Essen saßen sie entspannt vor dem Fernseher, Marilyn rauchte zu
ihrem Kaffee eine Zigarette.
„Soll ich abwaschen?“ fragte Diana und dehnte sich wohlig. „Kommt Onkel Adrian
heute vorbei?“
„Ich glaube schon, und es wäre nett, wenn du abwaschen würdest. Ich möchte
mir etwas Angemesseneres überziehen.“ Diana stand lächelnd auf, und Marilyn
sah sie fragend an. „Gehst du heute abend aus?“
„Warum? Jeff hat mich in den Seventieth Club eingeladen.“
„Hm“, machte Marilyn.
„Hast du etwas dagegen?“
Marilyn zögerte. „Nein, nein. Warum sollte ich?“
„Weiß nicht. Aber mir ist schon aufgefallen, daß du nicht sehr begeistert bist,
wenn ich mit ihm ausgehe.“
Marilyn lächelte etwas mühsam. „Tut mir leid, Liebling. Natürlich mußt du
gehen.“
Diana zuckte die Achseln. „Es ist wenigstens eine Abwechslung“, sagte sie
leichthin.
„Ja. Außerdem kommt Adrian. Zwar wollte er noch Hefte korrigieren, aber
irgendwie richtet er es schon ein.“
„Für dich findet er immer Zeit“, meinte Diana anzüglich.
Marilyn preßte die Lippen zusammen. „Das mag zutreffen, aber es bedeutet
nichts. Gar nichts, Diana.“
Wieder zuckte Diana die Achseln. Sie räumte den Tisch ab und ging in die Küche.
Marilyn suchte das Schlafzimmer auf. Sie war etwas erbost über Dianas ständige
Andeutungen, Adrian und sie betreffend. Gewiß, sie mochten nicht aus der Luft
gegriffen sein, Marilyn wünschte nicht, aus Andeutungen Tatsachen werden zu
lassen.
Während sie ihren Hausanzug überstreifte, wünschte sie sich nicht zum ersten
Male, Joe möge noch am Leben sein. Diana wurde erwachsen und auf manche Weise eine große Verantwortung für sie. Die Zuneigung zwischen Diana und Joe war gegenseitig gewesen. Ehe er Marilyn heiratete, hatte er viele Jahre als Junggeselle verbracht und Diana dann unwiderstehlich gefunden. Marilyn fragte sich manchmal, ob die späte Ehe mit ihren Belastungen seinen Zustand verschlechtert hatte. Aber seine Krankheit war unheilbar gewesen, und die Ärzte hatten ihr wiederholt versichert, wie sehr sie ihm die letzten Lebensjahre verschönt hatte. Sie entschloß sich, ihr Haar offenzulassen. Jung und hübsch wirkte sie, als sie aus dem Schlafzimmer auftauchte. Diana legte eben Lidschatten und Lippenstift auf, ihre olivenfarbene Haut benötigte keine weiteren kosmetischen Hilfsmittel. Sie warf einen kritischen Blick auf ihre Mutter. „Ist Onkel Adrian mit Hosenanzügen einverstanden?“ fragte sie spitz. Marilyn lächelte amüsiert. „Ich wüßte nicht, was er dagegen haben könnte“, antwortete sie ungerührt. „Schließlich trage ich sie, nicht Onkel Adrian.“ „Ich weiß. Aber ehrlich, Mutti, vielleicht heiratest du ihn eines Tages, und dann wirst du dich mehr seiner Stellung angemessen kleiden müssen.“ „Meine liebe Diana, ich habe nicht die Absicht, ihn zu heiraten. Das habe ich ihm und auch dir schon hundertmal gesagt. Lieber Himmel, ich bin dreiunddreißig, nicht dreiundfünfzig. Obgleich dir das schon uralt vorkommen mag, habe ich nicht vor, mich schon jetzt in einem Schaukelstuhl zur Ruhe zu setzen.“ Diana runzelte die Stirn. „Onkel Adrian ist nicht älter als Vater heute wäre, wenn...“, sie verstummte. „O Liebling, ich weiß. Aber das war anders.“ „Wieso?“ Marilyn sah auf ihre Uhr. „Müßtest du nicht gehen?“ „Wahrscheinlich. Okay, wie du willst.“ Diana zog ihren Dufflecoat an. „Dann gehe ich also.“ „Gut, Liebling. Paß auf dich auf.“ Diana küßte ihre Mutter auf die Wange und wirbelte aus der Wohnung. Marilyn ging in die Küche, um die Spuren von Dianas hektischen Aufräumungsarbeiten zu beseitigen. Der Fußboden schwamm förmlich, das Geschirr war nicht fortgestellt. Nachdem Marilyn Ordnung gemacht hatte, kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. Sie saß kaum vor dem Fernsehapparat, als es auch schon klingelte. Sie stand ohne jede Hast auf, um Adrian Sinclair die Tür zu öffnen. Er war ein hochgewachsener Mann Anfang der Fünfzig, zwanzig Jahre älter als Marilyn. Als Junggeselle innerlich unausgefüllt, fand er seine Sekretärin äußerst charmant und begehrenswert. Ihre Gleichgültigkeit ihm gegenüber regte ihn nur um so heftiger an. Marilyn fragte sich oft, warum sich ältere Männer so von ihr angezogen fühlten. Sie fand die Unterhaltungen mit Adrian interessant, er war ein vielseitig gebildeter Mann. Aber eine Ehe konnte nicht auf Intellekt allein aufgebaut werden. Jedenfalls gelang es ihm nicht, auf anderem Gebiet Fortschritte bei ihr zu erzielen. „Treten Sie ein, Adrian“, sagte sie lächelnd. „Ist es noch immer so kalt draußen?“ „Kälter“, erklärte er, seinen Mantel aufknöpfend. „Ach, dieses gemütliche Zimmer, Marilyn! Ich fühle mich hier immer wie zu Hause.“ „Das freut mich.“ Marilyn schloß die Tür und nahm ihm seinen Mantel ab, bevor sie ihm ins Wohnzimmer folgte. „Möchten Sie einen Drink, ehe ich mich hinsetze?“ „Gern, vielen Dank. Einen kleinen Whisky würde ich nicht verachten.“ Er nahm auf der Couch Platz. Marilyn gesellte sich zu ihm, nachdem sie den Drink eingeschenkt hatte.
Sie mochte Adrians Gesellschaft und seinen stets bereiten Humor. Allerdings war sie froh, daß er nie den Versuch machte, ihre eindeutige Beziehung mit Gewalt zu verändern. Zwar sprach er öfter vom Heiraten, aber Marilyn hatte von Anfang an klargemacht, daß es zwischen ihnen nicht mehr als Freundschaft geben konnte. Adrian kam zu ihr, so oft er Zeit hatte, ganz gleich, ob Diana zu Hause war oder nicht. Er wußte, das Mädchen hatte ihn gern, seit ihrem elften Lebensjahr war er Onkel Adrian für sie. Er besaß ein Haus in Otterbury, das in der Nähe der Schule lag, von einer tüchtigen Haushälterin geführt wurde, und viele wertvolle Kunstgegenstände enthielt. Falls er einmal heiratete und Kinder hätte, dachte Marilyn bisweilen, würde er ständig Todesängste um seine Sammlungen ausstehen. „In Otterbury ist heute ein Unfall passiert“, sagte er jetzt beiläufig. „Zwei Personenwagen und ein Transporter sind zusammengestoßen. Es stand in der Spätausgabe.“ „Wirklich?“ Marilyn tat, als wisse sie von nichts. Auch Adrian sollte nichts von ihrem Mißgeschick erfahren. Ebenso wie Diana war auch er dagegen, daß sie auf dem Moped zur Arbeit fuhr. „Die Leute fahren viel zu schnell. Die meisten dieser Unfälle könnten mit ein bißchen Einsicht vermieden werden.“ „Der Meinung bin ich auch“, pflichtete Marilyn ihm bei und hoffte, daß ihr Gesichtsausdruck sie nicht verriet. „Der Verkehr vom SheridanWerk her ist ziemlich dicht.“ „Zu schnell vor allem. Die Fahrer benutzen die Straßen von Otterbury als Rennstrecke. Ich bin froh, daß unsere Schulkinder vor Arbeitsschluß den Heimweg antreten. Wenn sie sich mit ihren Fahrrädern in den fließenden Verkehr einreihen müßten – gar nicht auszudenken, was dann alles passieren würde!“ Marilyn nahm eine Zigarette von ihm entgegen. Als sie beide rauchten, fragte sie: „Haben Sie das Werk schon einmal besichtigt?“ „Nein, nur einen Teil bei der Eröffnung. Aber ich habe mir das enorme Gelände angesehen, als gebaut wurde. Sobald das Werk ganz in Betrieb genommen ist, wird es etwa fünftausend Leute beschäftigen. Einige Spezialisten aus Italien und dem Werk in Detroit sind bereits hier. Ich hörte, daß auch Nicholas Vitale höchstpersönlich aus Rom eingetroffen ist, um sich zu vergewissern, daß alles zufriedenstellend anläuft. Natürlich hält er sich nur besuchsweise hier auf. Er ist der große Boß. Ein Mann namens Masterson leitet die Geschichte für ihn, der ist Amerikaner und hat seine Familie mitgebracht. Sie haben das Haus gemietet, das früher einmal dem alten Lord Otterbury gehörte. Ich glaube, es wird Ingleside genannt.“ „Ich kenne es, Adrian, ein riesiger Bau. Es muß schön sein, keine Geldsorgen zu haben.“ „Meine liebe Marilyn, auch Sie wären frei davon, wenn Sie mir erlaubten, für Sie zu sorgen.“ „Ich weiß, Adrian, und ich erkenne Ihre guten Absichten an. Aber ich kann mich einfach nicht als Frau eines Schuldirektors sehen, die Tee an die Eltern der Schüler ausschenkt und sie mitfühlend berät. Ich bin eben nicht der richtige Typ dafür.“ „Unsinn, Marilyn, Sie würden sich sehr schnell umstellen“, versicherte Adrian. „Ich sehe überhaupt kein Hindernis. Diana wäre bestimmt damit einverstanden, wenn sie mich heirateten. Sie ist schon heute wie eine Tochter für mich.“ Marilyn lachte. „Sie ist ein großer Fürsprecher ihrer Interessen. Es ist nur – na ja, ich liebe meine Freiheit, und was noch wichtiger ist – wir sind nicht ineinander verliebt.“
„Waren Sie in Joe verliebt?“ Adrian runzelte die Stirn, als Marilyn nicht antwortete. „Außerdem liebe ich Sie, Marilyn. Verliebt zu sein ist etwas für junge Leute. Wir sind erwachsen. Reife Menschen, die sich nicht nach den Sternen am Himmel sehnen. Möchten Sie sich nicht manchmal ausruhen, statt Tag für Tag ins Büro zu gehen?“ Marilyn seufzte. Alles, was Adrian sagte, stimmte. Diana wäre selig, wenn sie heirateten. Sie würde sich als Tochter des Schuldirektors sehr bedeutend vorkommen. Und wie schön wäre es, einmal alle Bücher lesen zu können, für die man sonst nie Zeit hatte, Museen, Kunstausstellungen zu besuchen. Vielleicht sogar weitere Kinder zu haben. Bei diesem Gedanken zuckte sie zusammen. Nie wieder könnte sie sich an die Art von Leben gewöhnen. Sie war nicht berechnend von Natur, und die Vorstellung, jemanden nur um materieller Vorteile willen zu heiraten, stieß sie ab. Sie brachte es nicht über sich. Sie und Diana waren bis jetzt durchgekommen. In zwei Jahren würde das Mädchen selbst verdienen und sich all das leisten können, was sie ihr vorenthalten mußte. „Tut mir leid, Adrian“, sagte Marilyn, „so sehr ich Sie schätze und verehre, es ginge einfach nicht. Ich glaube, Sie sind auch zu sehr an Ihre Ordnung gewöhnt, um sich noch ändern zu können. Ein Teenager im Haus bringt Unruhe und Lärm mit sich. Sie haben keine Ahnung, wie es sein würde.“ Adrian blickte sie an. Er sah das Widerstreben auf ihrem Gesicht und zuckte die Achseln. „Vergessen wir es. Wo ist Diana übrigens?“ „Sie ist mit Jeffrey Emerson in den Seventieth Club gegangen. Kennen Sie Jeffrey?“ „Ich habe von ihm gehört“, antwortete Adrian nachdenklich, „sein Bruder besucht meine Schule. Jeffrey geht aufs Gymnasium, nicht wahr?“ „Er ist erst siebzehn, hat aber seine Abschlußprüfung bestanden und wartet auf einen Platz an der Universität.“ „Ach ja. Hetherington sprach davon, als wir letzthin zusammen aßen.“ Mr. Hetherington war der Direktor des Gymnasiums. „Er sagte, seine Mutter sei ganz anders, kaum zu glauben, daß Jeffrey ihr Sohn ist. Eine ziemlich gewöhnliche Person, nehme ich an.“ Marilyn biß sich auf die Unterlippe. „Jeffrey ist ein hübscher Junge und, wie Sie sagten, sehr intelligent. Aber ich frage mich oft, ob er nicht recht wild ist.“ Adrian runzelte die Stirn. „Das mag zutreffen. Fürchten Sie seinen Einfluß auf Diana?“ „Offengestanden, ja.“ „Aber das Mädchen ist doch vernünftig.“ „Das schon.“ Marilyn rutschte unruhig hin und her. „Es ist nur, weil sie so jung ist.“ „Heutzutage reifen die Kinder schneller. Diana ist ein verständiges Mädchen, da bin ich ganz sicher. Sie würde keine Dummheit machen.“ „Wirklich nicht?“ Marilyn erhob sich und lächelte etwas angestrengt. „Nein, das würde sie wohl nicht.“ Auch Adrian lächelte. „Ich weiß, wie Ihnen zumute ist. Sie haben die Verantwortung. Sogar die doppelte Verantwortung, weil sie keinen Vater mehr hat.“ Marilyn trat ans Fenster und blickte beklommen hinaus. Nichts wußte Adrian, dachte sie, gar nichts. Niemand kannte das Geheimnis ihrer Vergangenheit… Der Seventieth Club lag über einem Cafe in der Hauptstraße von Otterbury. Seine Mitglieder setzten sich aus Teenagern zusammen, für die Musik sorgte ein Musikautomat, den der Besitzer kostenfrei zur Verfügung stellte.
An diesem Freitagabend war der Club überfüllt. Es wurde pausenlos getanzt. Aufpeitschende Rhythmen füllten den Raum. An einer niedrigen Bar gab es Kaffee und CocaCola, die Beleuchtung war gedämpft. Diana Scott und Jeffrey Emerson tanzten miteinander, und als die Musik für einen Moment verstummte, ließ Diana sich lachend gegen ihren Partner sinken. „Himmel“, ächzte sie, „ich bin total erschöpft. Setzen wir uns ein Weilchen?“ Jeffrey grinste auf sie herab. Seine Arme schlossen sich um sie, er hielt sie fest wie eine Gefangene. „Ich möchte lieber so bleiben“, murmelte er zärtlich. Diana wurde feuerrot. Sie konnte Jeff gut leiden und freute sich, daß ihre Beziehung letzthin ernsthafter geworden waren. Sie hatte noch nie einen ständigen Freund gehabt und wollte wie die anderen Mädchen sein, die sich miteinander über die Vorzüge der verschiedenen Jungen unterhielten, mit denen sie ausgingen. Trotzdem befreite sie sich jetzt aus Jeffs Armen, nahm seine Hand und zog ihn zur Bari Nebeneinander saßen sie auf Hockern. Jeff bestellte Kaffee und bot Diana eine Zigarette an. Sie schüttelte den Kopf. „Ich dachte, du wolltest das Rauchen endlich mal versuchen“, bemerkte er lässig und zündete sich selber eine Zigarette an. „Will ich auch.“ „Du hast ja Angst“, höhnte er, und sie warf den Kopf zurück. „Hab ich nicht! Gib mir eine.“ Mit einem Achselzucken hielt er ihr das Päckchen hin und gab ihr Feuer. Diana zog, wie sie es bei anderen gesehen hatte und begann heftig zu husten. Jeff grinste, klopfte ihr den Rücken, und Diana schüttelte sich. „Ist ja scheußlich“, rief sie. „Ich verstehe nicht, wie du rauchen kannst.“ Sie warf die Zigarette auf den Boden und trat sie mit dem Fuß aus. „He!“ Jeff nahm ihr das höllisch übel. „Die wachsen nicht auf Bäumen, weißt du.“ „Nein. Dort wachsen Blätter“, gab Diana sarkastisch zurück, und Jeff starrte sie wütend an. „Sehr komisch, ha, ha“, sagte er kalt, stand auf und stolzierte davon. Diana starrte ihm nach. Sie hatte nicht im Traum daran gedacht, daß er sie einfach sitzenlassen würde. Ihr Herz klopfte wie wild, dabei spürte sie eine sonderbare Kälte in sich. Sie wußte, daß all die anderen Mädchen im Klub sie wegen ihrer Freundschaft mit Jeffrey Emerson beneideten. Er war ein gutaussehender Junge und hätte jedes Mädchen haben können. Daß er sich ausgerechnet sie aussuchte, war ihr eine große Genugtuung gewesen, denn bis vor zwei Monaten hatte er sie wie ein Kind behandelt. Seit sie auf die Handelsschule ging, wirkte sie viel erwachsener, nur wußte sie selbst nicht, wie hübsch sie war mit ihrem seidigen Haar und den großen Augen. Als er sich mit ihr zu verabreden begann, stieg ihr Ansehen bei den anderen beachtlich. Die Musik hatte wieder eingesetzt, und Diana sah, daß er ein schlankes blondes Mädchen zum Tanz aufforderte. Wie konnte er sie so behandeln? Vor Wut brannten ihr die Augen, und am liebsten wäre sie nach Hause gegangen. Aber sie brachte es nicht fertig. Sie bestellte sich noch einen Kaffee, den sie nachdenklich trank, als sie eine Bewegung hinter sich spürte. Sie sah sich um und erkannte zu ihrer Freude, daß es Jeff war. „Willst du tanzen?“ fragte er mit unbewegtem Gesicht. „Gern.“ Sie rutschte bereitwillig von ihrem Hocker. Jetzt war die Musik gedämpft und einschmeichelnd, ein Liebeslied, gesungen von einem populären Plattenstar. Jeff zog Diana in seine Arme und legte seine Wange gegen ihr Haar. Sie bewegten sich langsam, die Arme umeinandergeschlungen.
Diana begann zu zittern, und er murmelte – „Entspanne dich.“
„Es tut mir leid“, flüsterte sie und wußte, daß sie wegen nichts um Verzeihung
bat. Aber alles war besser als Gleichgültigkeit. Jeff sah auf sie herab. „Wirklich?“
fragte er.
„O Jeff, ich weiß, daß ich manchmal .dumm bin. Können wir unseren Streit
vergessen?“
Sein Blick wurde weich. „In Ordnung. Habe ich dich eifersüchtig gemacht?“
Diana errötete. „Ja, das ist dir gelungen“, murmelte sie gegen seinen Hals und
spürte, wie seine Arme sich besitzergreifender um sie schlossen.
Als die Musik verklang, sah Jeff auf seine Uhr.
„Halb zehn“, sagte er leise. „Gehen wir, ja?“
Draußen war es bitterkalt, und sie gingen raschen Schrittes zur Bushaltestelle.
Obgleich Jeff am anderen Ende von Otterbury wohnte, begleitete er Diana stets
bis nach Hause.
In der Nähe des Hauses, in dem die Scotts wohnten, blieben sie in einer kleinen
Anlage im Schutz der Büsche stehen. – Diana blickte zu Jeff auf. „Ich danke dir,
daß du mich begleitet hast.“
„War mir ein Vergnügen“, antwortete er leise und zog sie an sich, eng an seinen
warmen Körper. „O Diana“, stöhnte er leidenschaftlich, und sein Mund senkte
sich auf ihren.
Diana warf die Arme um ihn und erwiderte seinen Kuß viel erregter als sonst. Ihr
kleiner Streit hatte nur dazu gedient, ihre Gefühle füreinander stärker zu
entfachen. Alle beide empfanden sie bei ihrer Umarmung weit mehr als je zuvor.
Diana wußte nur wenig über die Art so zu küssen, sie war nicht so erfahren wie
Jeff. Aber sie ahnte die Gefahr, die nicht sehr weit weg lauerte. In einem jähen
Umschwung der Gefühle entzog sie sich ihm unvermutet und trat zurück. Das
Schlucken fiel ihr schwer.
Jeff knöpfte mit unsicheren Fingern seinen Mantel zu. „Hast du eine Ahnung, was
einem solch ein Kuß antut?“ fragte er mühsam.
Diana biß sich auf die Lippen. „Ist… ist irgend etwas nicht in Ordnung?“
Jeff lachte kurz und freudlos. „Ach, gar nicht.“ Er sah zornig aus.
„Ich muß jetzt gehen.“
„Sehen… sehen wir uns morgen?“
Er hob vage die Schultern. „Wahrscheinlich. Morgen nachmittag bin ich
Schiedsrichter beim Rugbymatch. Willst du mitkommen? Hinterher könnten wir
bei meiner Mutter Tee trinken und abends ins Kino gehen. Falls du Lust dazu
hast.“
Diana wirkte schon entspannter. „Natürlich, das weißt du doch.“ Sie lächelte Jeff
zu, er erwiderte ihr Lächeln und steckte die Hände in die Manteltaschen. „Bis
morgen“, sagte er. „Wir treffen uns an der Schule.“
Er verließ sie an der Haustür und ging durch die Anlagen zur Bushaltestelle
zurück.
Als Diana die Wohnung betrat, bereitete ihre Mutter eben den Kaffee und belegte
Brote, während sich Adrian ein Fußballspiel auf dem Bildschirm ansah.
Marilyn lächelte ihrer Tochter fröhlich entgegen. „Nun?“ fragte sie. „Hast du dich
gut unterhalten?“
„Ja, danke“, antwortete Diana und war verwirrt bei dem Gedanken, wie Jeff und
sie sich eben geküßt hatten. Wahrscheinlich war es der erste wirkliche Kuß ihres
Lebens. Bisher hatte es nur leichte, freundschaftliche Küsse ohne Bedeutung
gegeben. Aber jetzt auf einmal war alles anders geworden. Der heutige Kuß war
voller Leidenschaften gewesen, von deren Existenz sie nichts geahnt hatte.
Marilyn betrachtete sie neugierig und sagte schließlich: „Warum diesen
verträumten Ausdruck in den Augen? Wo seid ihr gewesen?“
„Nur im Klub.“ Diana errötete und war schrecklich verlegen. „Ich… wir… ich
möchte dann gleich zu Bett gehen, Mutti.“
„Natürlich, Liebling.“ Marilyn runzelte die Stirn. Irgend etwas war heute abend
anders an Diana, sie fühlte es. Ihr wurde klar, daß Diana die Phase erreicht
hatte, wo sie ihrer Mutter nicht mehr alles erzählte.
2. KAPITEL Am Sonnabendmorgen kauften Marilyn und Diana meistens ihren gesamten Wochenbedarf ein, den sie dann geschickt in ihrer winzigen Küche verstauten. Die verderblichen Lebensmittel verschwanden im Kühlschrank. „Ich gehe heute nachmittag mit Jeff zum Rugbymatch“, erklärte Diana, als sie beim Mittagessen saßen. „Danach trinken wir bei ihm zu Hause Tee und sehen uns anschließend einen Film an.“ „Ach so?“ Marilyn hob die dunklen Brauen. „Wird es seiner Mutter recht sein?“ „Warum nicht? Wir bleiben ja auch nicht lange dort.“ „Kennst du seine Familie schon?“ „Nein. Aber das macht nichts.“ „Ich wünsch' dir jedenfalls, daß es nett wird. Sag mal, deutet das alles nicht etwa schon auf Zukunftspläne hin? Das möchte ich nicht hoffen. Ihr seid beide noch sehr jung.“ „O Mutter!“ rief Diana aus und lief mit ihrem Teller in die Küche. Während sie den Kaffee bereitete, trat Marilyn zu ihr. „Vergiß nicht“, sagte sie ruhig, „du bist noch ein Kind, und Jeff geht noch zur Schule. Im Herbst will er auf die Universität. Es hat also für euch beide keinen Sinn, Dummheiten zu machen.“ „Es besteht gar kein Grund für dich, so mit mir zu sprechen“, protestierte Diana aufgebracht. Sie haßte es, als Kind behandelt zu werden. „Schließlich habe ich überhaupt nichts gesagt, nicht wahr?“ „Nein. Aber gestern abend warst du ziemlich merkwürdig, als du nach Hause kamst.“ Dianas Wangen brannten, und sie ärgerte sich darüber. „Das hatte nichts auf sich“, versetzte sie abweisend. Marilyn fragte sich, ob sie sich Dianas wegen zuviel Sorgen machte. Adrian hatte gesagt, daß die Mädchen heutzutage schneller erwachsen wurden, und er baute auf ihre Vernunft. Oh, wie sehr sie hoffte, daß er sich nicht irrte. Während Marilyn das Geschirr abwusch, zog Diana sich um. Als sie wieder auftauchte, trug sie einen Tweedrock und einen dicken Pulli, sie sah sehr jung aus. Darüber hatte sie einen gesteppten Anorak gezogen, der eigentlich Marilyn gehörte. Sie sah ihre Mutter bittend an. „Du hast doch nichts dagegen?“ „Würde es etwas ändern?“ gab Marilyn lachend zurück. „Nein, geh nur. Du steckst wenigstens warm darin. Und du trägst auch deine neuen Stiefel, wie ich sehe. Ich bin froh, daß du sie hast, obgleich sie so teuer waren.“ „Ich möchte nett aussehen, wenn er mich seinen Eltern vorstellt“, sagte Diana. „J…ja“, murmelte Marilyn. „Dann also viel Spaß!“ „Danke. Auf Wiedersehen.“ Nachdem Diana gegangen war, machte Marilyn die Wohnung sauber. Als sie damit fertig war, begnügte sie sich mit einem kleinen Imbiß. Adrian ging sonnabends immer mit ihr aus, meistens in ein Hotel am Rande der Stadt, das berühmt für seine gute Küche war. Da Marilyn während der Woche niemals ausging, freute sie sich jedesmal auf die nette Abwechslung. Jetzt zog sie ein Kleid aus bernsteinfarbenem Jersey an und nahm ihr Haar zu einem französischen Knoten zusammen. Während sie ein dezentes Makeup auflegte, stellte sie zufrieden fest, daß ihre Augen glänzten und ihre Haut gut war, glatt und faltenlos. Sie wirkte jünger als ihre dreiunddreißig Jahre. Über ihre eigenen Gedanken erheitert, wurde ihr bewußt, daß sie sich neuerdings viel intensiver mit sich befaßte als früher. Das war auf den Mann im roten Wagen
zurückzuführen, und wieder einmal fragte sie sich, ob sie ihn je wiedersehen würde. Adrian kam gegen halb acht, elegant und beinahe schlank in einem rehbraunen Straßenanzug. Marilyn lächelte, als sie ihn einließ. „Sie sehen heute abend sehr smart aus“, bemerkte sie. Adrian hob die Brauen. „Danke. Sie auch. Die ‚Krone' wird gar nicht fein genug für uns sein, nicht wahr?“ Marilyn zog einen leichten Wildledermantel über. „Es wird dort bestimmt so nett sein wie immer“, meinte sie überzeugt. Adrian fuhr einen alten Rover, der sehr bequem war. Obgleich er behauptete, einen neuen Wagen kaufen zu wollen, würde wohl kaum etwas daraus werden. Adrian liebte keine Veränderungen, er war ein Gewohnheitsmensch. Schon aus diesem Grund konnte sie sich eine Ehe mit ihm nicht vorstellen. Die ,Krone' lag nur drei Meilen von Otterbury entfernt. Ein französischer Koch hatte sie zum weithin bekannten Feinschmeckerlokal gemacht. Die Straße zum Hotel führte an den SheridanWerken vorbei, und unwillkürlich wurden Marilyns Augen im Vorbeifahren davon angezogen. Sie fragte sich, welchen Posten der Fremde wohl darin einnahm. Vermutlich war er einer der Manager. Schon allein der Wagen, den er fuhr, sprach dafür, von seinem tadellos sitzenden und sicher teuren Maßanzug ganz zu schweigen. Das Restaurant war stark besetzt, da aber ihr Tisch Woche für Woche für sie reserviert wurde, konnten sie unbesorgt sein. Seit der Eröffnung der Fabrik schien die kleine Stadt überall aus den Nähten zu platzen. Adrian stellte das verärgert fest, während er sich durch die Menge zur Bar drängte, um Drinks zu holen. Marilyn blieb in der Nähe des Eingangs. Mit einem Wodka für sie und einem . Whisky für sich kehrte Adrian zurück. „Welch ein Gewimmel!“ schimpfte er und nahm neben ihr Platz. „Fast wie in einem Fußballstadion. So war es hier früher nie.“ „Die Hoteliers werden kaum etwas dagegen einzuwenden haben“, sagte Marilyn leise. „Für sie ist das Geschäft ein Gewinn.“ „Für uns aber wird es immer ungemütlicher. Die Luft in der Bar kann man mit einem Messer schneiden.“ Marilyn lächelte. Sie hatte nichts gegen viele Menschen einzuwenden, aber sogar sie sah ein, daß ein Aufenthalt in diesem Raum kein großes Vergnügen war. „Wir können ja hineingehen und essen“, schlug sie vor. „Im Speisesaal wird uns der Drink bestimmt besser schmecken.“ „Ein guter Vorschlag. Bitte, gehen Sie voran.“ Auch der Speisesaal war, wie sie vorhin bereits festgestellt hatten, fast überfüllt. Doch ihr Tisch am Fenster erwartete sie. Sie nahmen dankbar Platz, und Marilyn legte ihren Mantel ab. Sie aßen gegrillten Lachs und danach Pfirsichsouffle. Marilyn fühlte sich rundum zufrieden, als sie ihren Kaffee trank. „Das war einfach köstlich“, lächelte sie. „Sie müssen zugeben, Adrian, daß wir in keinem anderen Hotel ein solches Essen vorgesetzt bekämen. Es wäre also unsinnig, unser Stammlokal zu wechseln.“ Adrian stimmte ihr zu. „Sie haben vermutlich recht. Auch ich sehe die Dinge jetzt wieder mit anderen Augen.“ Sie rauchten und sprachen geruhsam über einen Roman, den sie beide gelesen hatten, als ein Schatten über den Tisch fiel. Überrascht blickten sie zu dem Mann auf, der nähergetreten war. Adrian sprang hoch. „Hetherington!“ rief er. „Wir haben uns lange nicht gesehen.“ „Darf ich mich einen Augenblick zu Ihnen setzen?“ fragte Mr. Hetherington
lächelnd.
„Natürlich. Das ist übrigens meine Sekretärin, Mrs. Scott. Ich glaube, Marilyn,
daß Sie Mr. Hetherington, den Direktor des Gymnasiums, noch nicht kennen.“
Nachdem Hetherington Platz .genommen hatte, sagte er:
„Ich sehe, daß auch Ihnen die Küche hier zusagt.“
„O ja“, nickte Marilyn begeistert. „Kommen Sie oft her?“
„Nur, wenn ich meine Frau in guten Händen weiß. Sie ist körperbehindert,
müssen Sie wissen, und ich lasse sie ungern allein.
Heute jedoch hatte ich eine berufliche Verpflichtung und wollte hinterher einen
Happen essen.“ Er wandte sich Adrian zu. „Ich bin froh, daß ich Sie zufällig
getroffen habe, Sinclair. Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen.“
„Möchten Sie, daß ich Sie allein lasse?“ fragte Marilyn.
Hetherington schüttelte den Kopf und holte seine Pfeife aus der Tasche. „Aber
nein. Stört es Sie, wenn ich rauche?“
Sie verneinte. Nachdem Hetherington seine Pfeife umständlich in Betrieb gesetzt
hatte, wandte er sich an Adrian.
„Kennen Sie zufällig Conrad Masterson, den Direktor der SheridanWerke? Er hat
das Haus gekauft, das früher Lord Otterbury gehörte.“
„Persönlich kenne ich ihn nicht, aber sein Name ist mir geläufig. Warum?“
„Nun, sein Sohn, Conrad junior, besucht meine Schule. Jetzt suchte Masterson
mich höchstpersönlich auf, um mich und meine Frau für Montag auf einen Drink
einzuladen. Ich mußte ihm erklären, daß Mary nicht in der Lage ist, Besuche zu
machen, und er schlug daraufhin vor, ich sollte meine Bekannten mitbringen. Ich
dachte sofort an Sie. Masterson ist Amerikaner, sehr gesellig, er möchte die
Leute hier kennenlernen. Was halten Sie von meinem Vorschlag?“
Adrian fühlte sich offensichtlich geschmeichelt.
„Ich freue mich darüber und gebe offen zu, daß mich die neuen Bewohner
unserer Stadt sehr interessieren.“
Marilyn unterdrückte ein Lächeln, als ihr einfiel, wie widerwärtig ihm eben diese
Menschen gewesen waren, als er sich vor dem Abendessen seinen Weg durch
ihre Mitte bahnen mußte, um die Drinks von der Bar zu holen.
„Ich war noch nie in Amerika“, fuhr Adrian fort, „und würde gern mit Leuten
darüber sprechen, die wirklich Bescheid wissen. Natürlich komme ich mit.“
„Schön.“ Hetherington lächelte zufrieden. „Es wird bestimmt ein anregender
Abend werden.“ Er wandte sich Marilyn zu. „Arbeiten Sie gern für unseren
Freund, Mrs. Scott?“
„Sehr gern. Adrian ist ein verständnisvoller Arbeitgeber, kein Sklaventreiber.“
„Bei einer so hübschen jungen Frau wie Sie könnte man sich auch nichts anderes
vorstellen. Haben Sie nicht Lust, ihn aus seinem Junggesellenstand zu reißen?
Soviel ich weiß, sind Sie doch Witwe.“
Marilyn betrachtete ihre Zigarette, um dann mit einem Funkeln in den Augen zu
sagen: „Ich glaube, daß Adrian mit seinem Leben ganz zufrieden ist, nicht wahr?“
Nur mühsam hielt sie ein Lachen zurück.
„Wir sind keine Kinder“, warf Adrian sarkastisch ein. Er fand das Ganze gar nicht
lustig. Seiner Meinung nach war Hetheringtons Bemerkung nicht sehr taktvoll.
„Dessen bin ich sicher“, bestätigte Hetherington schmunzelnd. „Warum bitten Sie
Mrs. Scott nicht, Sie am Montag zu begleiten, Sinclair? Ich glaube, daß es ihr
Spaß machen würde.“
„Bestimmt“, nickte Adrian besänftigt. „Kommen Sie mit, Marilyn?“
„Ich… ich weiß nicht recht. Ich bin nicht eingeladen und…“
„Unsinn“, rief Hetherington kopfschüttelnd. „Masterson wird Sie nur zu gern
willkommen heißen. Außerdem werden Sie nicht allein sein. Adrian wird neben
Ihnen stehen.“
Marilyn zögerte, und Adrian redete ihr zu anzunehmen. „Bitte, sagen Sie, daß Sie
mitkommen, Marilyn.“
„Aber Diana – “
„Kann sehr gut für einen Abend auf sich selbst aufpassen“, warf Adrian energisch
ein. „Ja, Hetherington, wir werden beide erscheinen. Soll ich Sie abholen?“
„Nun… ja. Das wird am besten sein, und danach holen Sie Mrs. Scott ab.“ Er
erhob sich. „Jetzt darf ich Sie nicht länger stören.“ Seine Augen zwinkerten
Marilyn zu. „Passen Sie gut auf ihn auf, Mrs. Scott!“
Marilyn amüsierte sich über Adrians empörtes Gesicht, und Hetherington ging,
immer noch lachend, davon.
„Ich weiß nicht, was ihm eingefallen ist!“ rief Adrian aufgebracht. „Unmöglich,
solche Bemerkungen!“
„Ich finde, daß er ein reizender alter Herr ist. Regen Sie sich doch nicht auf,
Adrian, er hat nur Spaß gemacht.“
„Vermutlich haben Sie recht, wie immer. In seiner Nähe fühle ich mich stets wie
einer seiner Schüler.“
Marilyn lachte fröhlich. „Ein etwas betagter Schüler, finden Sie nicht auch?“
Später fuhren sie zu Marilyns Wohnung zurück. Es war erst gegen zehn Uhr, also
lud sie Adrian noch zu einer Tasse Kaffee ein. Diana kam kurze Zeit nach ihnen
nach Hause.
Sie schien nicht so verträumt wie am vergangenen Abend, und Marilyn war
darüber fast erleichtert. Andererseits wirkte Diana niedergeschlagen, ein neuer
Grund für ihre Mutter, sich zu sorgen, aber sie entschloß sich, so zu tun, als
merke sie nichts. Sie hatte nicht vor, nach einem so angenehmen,
entspannenden Abend gleich wieder anzufangen, sich Sorgen zu machen.
„War es nett heute abend?“ fragte Diana, wobei sie Adrian ansah.
„Sehr nett, danke, Diana. Komm, erzähle mir ein wenig von deinem Freund. Habt
ihr euch gut unterhalten?“
„Ja, danke.“ Diana zog ihren Mantel aus und setzte sich neben Adrian auf die
Couch. „Wir haben bei seiner Mutter Tee getrunken und sind dann ins Kino
gegangen. Ein Western lief.“
„War es ein guter Film?“
Diana krauste die Nase. „Ganz gut. Meistens sehen wir nicht viel davon.“ Sie
kicherte und wartete auf Adrians schockierte Reaktion.
Sie wurde nicht enttäuscht. Seine Brauen hoben sich mißbilligend. Marilyns
Tochter hatte sich unbedingt verändert. Allmählich wuchs sie sich zu einem
Problem aus.
„Bist du gut mit seinen Eltern ausgekommen?“ erkundigte sich Marilyn, die mit
dem Tablett aus der Küche kam.
Diana hob ausdrucksvoll die Schultern. „Na ja. Seine Mutter machte ein paar
bissige Bemerkungen. Er vernachlässige in letzter Zeit seine Schularbeiten – als
sei ich schuld daran. Und er müsse sich sehr zusammenreißen, falls er erwarte,
im Herbst auf die Uni gehen zu dürfen. Der arme Jeff!“ Diana holte tief Luft. „Er
sah richtig wütend aus und gab ihr zu verstehen, das sei ganz allein seine Sache,
ob er zur Uni ginge oder nicht. Ich glaube, er will sich das noch einmal
überlegen.“
„Aber du hast ihm hoffentlich gesagt, daß er unbedingt bei seinem ersten
Entschluß bleiben muß, nicht wahr, Diana?“ meinte Marilyn unruhig. „Er ist ein
kluger Junge, sein Direktor hat das gesagt. Du darfst dich nicht zwischen ihn und
sein Studium stellen.“
Diana blickte aufsässig vor sich hin, schwieg jedoch, und Adrian wechselte einen
Blick mit Marilyn.
„Was habt ihr heute abend gegessen?“ fragte sie dann unvermutet. Marilyn ging
auf den Themawechsel ein, beschrieb den Verlauf des Abends und berichtete von
der Begegnung mit Hetherington und der sich daraus ergebenden Einladung zu
den Mastersons.
„Toll!“ rief Diana neiderfüllt. „Glaubst du, daß ich mitgehen könnte?“
Adrian runzelte die Stirn. „Ich fürchte, nein, Diana. Das ist nur etwas für
Erwachsene. Du würdest dich schrecklich langweilen.“
Diana preßte die Lippen aufeinander. „Erwachsene“, murmelte sie. „Und was bin
ich?“
Adrian griff nach seinem Zigarettenetui. „Kaum mehr als ein Schulmädchen“,
antwortete er freundlich. „Dein Leben liegt noch vor dir, Diana. Genieße, was dir
heute gehört. Sehne dich nicht nach der Zukunft ehe sie da ist.“
Diana verdrehte die Augen. „Ich habe nicht um eine Vorlesung gebeten, Onkel
Adrian. Jedenfalls wird es sicher eine tolle Party. Wer wird alles kommen?“
„Die leitenden Angestellten der Fabrik, nehme ich an. Es sind meistens
verheiratete Männer, die ihre Familien mitgebracht haben. Wie ich schon sagte,
eine ziemlich langweilige Sache.“
„Was soll ich bloß anziehen?“ rief Marilyn plötzlich.
„Es wird Ihnen schon etwas einfallen“, antwortete Adrian lächelnd. „Da fällt mir
ein, ich muß Hetherington anrufen und. fragen, wann man uns erwartet.“
„O ja“, nickte Marilyn. „Sie können es mir am Montag sagen.“ Sie dehnte
entspannt ihren schlanken Körper. „Bin ich müde. Es war ein langer Tag.“
„Das ist mein Stichwort“, sagte Adrian trocken und erhob sich. „Sehen wir uns
morgen?“
„Wenn Sie wollen, können Sie gern vorbeikommen. Falls nicht, sehen wir uns am
Montag.“
„Gut. Dann also auf Wiedersehen.“
„Gute Nacht, Onkel Adrian.“ Diana küßte ihn auf die Wange. „Und vorsichtig
fahren!“
Nachdem Adrian fort war, ging Marilyn in die Küche, um abzuwaschen. Diana half
ihr dabei.
„Wirst du Jeff morgen treffen?“
„Ja. Warum? Brauchst du mich für irgend etwas?“
„Eigentlich nicht.“ Marilyn lächelte etwas ungewiß. „Wo wollt ihr hin?“
„Wir wollen nur nachmittags Spazierengehen“, antwortete Diana leise.
„Möchtest du ihn zum Tee mitbringen?“
Dianas Augen verloren den düsteren Ausdruck. „Darf ich das wirklich?“
Marilyn lächelte ihrer Tochter zu. „Natürlich. Nach dem Tee könnten wir, falls
Onkel Adrian kommt, Monopoly oder irgend etwas spielen.“
Diana sah sie entrüstet an. „Oh, Mutti, Jeff und ich sind doch nicht für solche
Spiele!“
Marilyn zuckte die Achseln. „Na gut. Was wollt ihr sonst machen?“
„Vielleicht gehen wir in den Seventieth Club.“
Marilyn runzelte die Stirn. Es gefiel ihr nicht, daß Diana am Sonntagabend ein
solches Lokal aufsuchte, andererseits war es ein Vorteil zu wissen, wo sie sich
aufhielt. Es war immer noch besser, als wenn die beiden in den Straßen
herumwanderten.
„Also gut“, sagte sie, „macht was ihr wollt.“
Am Montag schweiften Marilyns Gedanken während der Arbeitszeit immer wieder
ab. Sie dachte an den Abend, der vor ihr lag. Es war neu für sie, in der Woche
auszugehen. Wohl hatte sie mit Adrian ab und zu ein Konzert in London besucht.
Aber im allgemeinen waren sie wochentags beide zu beschäftigt, um sich so etwas zu leisten. Marilyn ließ Diana außerdem nicht gern allzulange allein. Am Sonntag war Adrian zum Tee gekommen und hatte Jeff kennengelernt. Der Junge war außerordentlich intelligent und konnte mit Adrian über Themen diskutieren, bei denen die beiden Frauen nicht mitreden konnten. Marilyn fand ihn ganz reizend. Wieder fragte sie sich, ob sie sich grundlos Sorgen wegen Diana machte. Immerhin mußte es doch möglich sein, daß junge Leute miteinander befreundet waren, ohne in Schwierigkeiten zu geraten. Jeff war ein gutaussehender Junge, der trotz seiner etwas seltsamen Familie auf sich hielt und sich zu benehmen verstand. Am Montag suchte Marilyn während der Mittagspause das Einkaufszentrum auf. Sie hatte sich entschlossen, für die großartige Einladung ein ganz besonderes Kleid zu kaufen. Sogar Diana gab zu, daß eine solche Gelegenheit einem nicht jeden Tag geboten wurde. Marilyn vermutete, daß ihre Tochter auf eine Veränderung ihrer Beziehungen zu Adrian hoffte, und falls das der Fall war, würde sie sie enttäuschen müssen. Sie fand, was sie suchte, in einem kleinen Geschäft in Gilesgate. Es kostete zwar mehr als sie anlegen wollte, aber sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, es anzuprobieren. Das Kleid war aus blattgrünem Chiffon, das Oberteil mit Pailletten bestickt. Der Ausschnitt war rund und ziemlich tief, die langen Ärmel endeten in Bündchen, die ein Muster aus gleichfarbigen Perlen zeigten. Es war das ideale Kleid für diesen Anlaß, und sie kehrte sehr zufrieden mit ihrem Kauf an ihren Arbeitsplatz zurück, weigerte sich jedoch, Adrian an ihrer Freude teilnehmen zu lassen. „Warten Sie bis heute abend“, sagte sie heiter. „Ich möchte Sie überraschen.“ Adrian lachte. „Ganz wie Sie wollen, meine Liebe. Ich bestehe jedoch darauf, das Kleid zu sehen, ehe wir losfahren.“ Marilyn schüttelte lächelnd den Kopf. Adrian war wirklich zu nett, dachte sie mit einem unhörbaren Seufzer. Warum konnte sie sich nicht entschließen, ihn zu heiraten? Sie wurden um neun von den Mastersons erwartet, und Adrian holte Marilyn zehn Minuten vorher ab. Mr. Hetherington wartete bereits unten im Wagen. Diana wollte an diesem Abend nicht ausgehen. Jeff arbeitete zu Hause, also hatte sie Zeit, ihre Haare zu waschen und Platten zu hören. Marilyn schlüpfte in einen leichten hellen Wollmantel. Diesmal trug sie ihr Haar nicht in einem Knoten, sondern ließ es lose auf die Schultern herabfallen. Sie sah nicht älter als fünfundzwanzig aus. Diana musterte sie und sagte ziemlich bissig: „Lieber Himmel, Mutti, keiner würde glauben, daß du eine sechzehnjährige Tochter hast!“ „Um so besser, nicht wahr?“ entgegnete Marilyn. Doch Diana schien mit ihr nicht zufrieden zu sein. Vielleicht war sie doppelt abhängig von ihrer Mutter, seitdem Joe gestorben war, und darum doppelt bereit, etwas gegen die jugendliche Erscheinung der Mutter zu haben. Es war beinahe, als fürchte sie, Marilyn könnte ganz und gar vergessen, daß sie überhaupt eine Tochter besaß. Das war natürlich lächerlich. Aber wahrscheinlich wäre Diana ein gemütlicher, rundlicher Typ lieber, überlegte Marilyn, eine Frau, die wenig Ansprüche stellte und nicht unbedingt die Blicke auf sich zog. Vielleicht protegierte sie Adrian deshalb so offen, weil sie hoffte, er würde ihre Mutter in dieser Beziehung beeinflussen. Marilyn ging mit Adrian zum Wagen. Sollte sie ihn etwa tatsächlich heiraten, nur um die beiden glücklich zu machen? Nein, dadurch würde doch keiner von ihnen wirklich glücklich werden!
Hetherington machte ihr sofort Komplimente über ihr Aussehen. Adrian hatte bereits festgestellt, daß sie in ihrem neuen Kleid ein Traum war, und Marilyn wurde dadurch in ihrem Vorsatz bestärkt, sich gut zu amüsieren. Sie begann sich auf den Abend zu freuen. Das Haus der Mastersons lag ganz in der Nähe. Hell beleuchtet wirkte es äußerst eindrucksvoll, als sie durch das offene Tor in den parkartigen Garten einfuhren. Obgleich bereits mehrere Wagen vorgefahren waren, konnte Marilyn nirgends den roten Straßenkreuzer entdecken, mit dem sie neulich zusammengestoßen war. Das Haus war erst kürzlich renoviert worden. Einiges von seinem reizvollen, elisabethanischen Charakter war dadurch verlorengegangen. Die hohe, breite Halle mit der geschnitzten Decke erstrahlte im Licht unzähliger Lampen, das sich in der Holztäfelung widerspiegelte. Der Parkettboden glänzte, er mußte sich gut zum Tanzen eignen. Die meisten Gäste schienen jedoch in dem großen Gesellschaftsraum rechts der Halle versammelt. Der Diener, der ihnen die Mäntel abnahm, verschwand in der Menge, um dem Gastgeber ihr Erscheinen zu melden. Marilyn war begeistert von dem Haus und bewunderte gerade die Empore, als eine zierliche Frau in einem lila Hosenanzug herbeigeeilt kam, um sie zu begrüßen. Sie stellte sich als Lucie Masterson vor und sagte, ihr Mann würde später erscheinen. „Im Augenblick hat er sich mit Nicholas Vitale zurückgezogen“, erklärte sie, nachdem ihre Gäste sich vorgestellt hatten. „Sie tun nichts, als andauernd über Geschäfte zu reden, und ich hoffe, Sie halten meinen Mann nicht für unhöflich. Aber Nicholas ist der Boß. Es gibt viel zu besprechen, solange er hier ist.“ „Wir verstehen vollkommen, Mrs. Masterson“, sagte Hetherington lächelnd. „Danke“, strahlte Lucie. Ihr Alter war schwer zu schätzen, sie konnte fünfunddreißig, aber auch fünfundvierzig sein. Marilyns erster Eindruck war, daß sie ein wenig oberflächlich wirkte. Sie folgten Lucie in den Gesellschaftsraum, in dem sich etwa dreißig Gäste befanden und miteinander plauderten. Irgendwoher kam leise Musik, es duftete nach französischem Parfüm und Tabak aus Havanna. Bei den meisten der Anwesenden schien es sich um Ehepaare zu handeln, die wiederum zur einen Hälfte aus Italienern, zur anderen aus Amerikanern bestanden. Die SheridanWerke besaßen in beiden Ländern Fabriken. Als Hetherington und Adrian in ein technisches Gespräch verwickelt wurden, geriet Marilyn in die Gesellschaft eines amerikanischen Ehepaares, Fran und Dave Madison. „Leben Sie in Otterbury?“ fragte Fran interessiert, während Marilyn eine Zigarette von Dave annahm. „Ja, ich habe eine Wohnung nicht weit von hier“, antwortete Marilyn. „Und Sie?“ „Wir auch“, bestätigte Dave. „Etwas später werden wir ein Haus in der Nähe des Fabrikgeländes bekommen.“ Marilyn wandte sich Fran zu. „Gefällt Ihnen England?“ „Es ist wahrscheinlich in Ordnung“, sagte Fran ohne große Begeisterung. „Es gibt wenig Abwechslung hier, nicht wahr? Wir hoffen, später nach Italien zu kommen. Waren Sie schon einmal dort?“ „Nur in Frankreich“, meinte Marilyn bedauernd. „Seit dem Tode meines Mannes sind meine Tochter und ich kaum gereist.“ „Sie haben eine Tochter?“ rief Dave überrascht. „Ein Baby?“ „Keine Spur, sie ist bereits sechzehn“, lächelte Marilyn. „Ich danke Ihnen jedoch für das nette Kompliment.“
„Es war ehrlich gemeint“, verteidigte sich Dave grinsend. „Ich würde sagen, Sie sehen kaum älter aus als fünfundzwanzig.“ Fran blickte ein wenig verdrießlich drein, und Marilyn war froh, als jetzt ein anderer Mann zu ihnen trat. Er war wie Dave groß, blond, mit sympathischen Zügen. „Hallo“, sagte er lässig. Offensichtlich kannte er die Madisons gut. „Ist dies ein neues Mitglied unserer Firma?“ „Leider nicht“, antwortete Dave, sich ihm zuwendend. „Marilyn, das ist Harvey Cummings – auch er gehört zum SheridanClan.“ Marilyn nickte dem Neuankömmling höflich zu. „Wie fühlen Sie sich in Otterbury?“ „Blendend“, bestätigte Harvey schmunzelnd. „Vor allem, wenn mich eine bezaubernde Frau danach fragt. Sagen Sie, haben Sie in dieser Runde irgendwo einen Ehemann?“ „Ich bin Witwe“, erklärte Marilyn errötend. Seine direkte Art machte sie verlegen. „Wunderbar. Für mich, meine ich. Ich dachte mir gleich, daß sie ein bißchen einsam wirken. Darf ich mich Ihnen anschließen?“ Marilyn sah etwas hilflos die Madisons an. „Ist Ihre Frau nicht hier?“ fragte sie sicherheitshalber. Dave brüllte vor Lachen. „Harvey verheiratet? Sie machen mir Spaß! Wer würde eine solche Verantwortung auf sich nehmen?“ „Kümmern Sie sich nicht um ihn“, warnte Harvey mit gespielter Verachtung. „Es ist nur so, daß mich keiner versteht.“ Marilyn lachte. Die harmlose Neckerei gefiel ihr. Sie war schon lange nicht mehr in so junger Gesellschaft gewesen. Adrian war trotz seiner ungezwungenen Art nicht der Typ, sich über sich selbst lustig zu machen. Auch Joe hatte nicht viel Sinn für Humor gehabt. Durch ihre frühe Ehe war Marilyn an fröhliche Unterhaltung nicht mehr gewöhnt. „Da kommt Con“, sagte Dave plötzlich. „Und unser berühmter Chef. Die Diskussion scheint demnach beendet zu sein.“ Marilyn und die anderen drehten sich um. Zwei Männer hatten den Raum betreten, beide hochgewachsen. Der eine war breiter in den Schultern, er sah unerhört gut aus. Beide trugen dunkle Anzüge, aber der breitschultrige Mann war von südlichem Typ. Marilyn erkannte sofort in ihm den Fahrer des toten Wagens. Wer war er? Conrad Masterson oder Nicholas Vitale? Er konnte doch unmöglich – „Welcher der beiden ist Mr. Vitale?“ fragte sie Fran etwas atemlos. „Der dunkle. Ein gutaussehender Mann, nicht war? Italiener, aber er hat lange in den Staaten gelebt. Natürlich haben wir uns alle in ihn verliebt. Doch wie Sie sehen, entschied ich mich dann für Dave.“ Fran lachte über Daves empörtes Gesicht. „Liebling, Nicholas Vitale ist der zauberhafteste Mann seit Adam!“
3. KAPITEL Marilyn spürte, wie ihr das Blut in den Adern stockte. Sie war in den Wagen des Besitzers der SheridanWerke hineingefahren. Kein Wunder, daß er ihr seinen Ärger so unverhüllt gezeigt hatte! Nicholas Vitale musterte die Versammlung im Hause Masterson mit einem zynisch gelangweilten Ausdruck in den Augen. Anlässe dieser Art langweilten ihn immer. Zuviel zu trinken, zu viele aufdringliche Frauen, die ihn umschwärmten. Ohne die notwendig gewordene Rücksprache mit Masterson wäre er heute abend gar nicht gekommen. Er hatte in London einen hübschen kleinen Klub gefunden, der mehr nach seinem Geschmack war. Aber jetzt war er einmal da, und es wurde von ihm erwartet, daß er wenigstens kurze Zeit blieb. Sein scharfer Blick suchte Harvey Cummings, der sein persönlicher Assistent und Verbindungsmann war. Harvey liebte Partys dieser Art, sie hatten sich manchmal auch recht gut amüsiert. Aber heute hatte Nicholas das Gefühl, daß das kaum der Fall sein würde. Er stellte fest, daß Harvey mit den Madisons und einem ihm fremden weiblichen Wesen zusammenstand. Er entschuldigte sich bei dem Gastgeber und bahnte sich einen Weg durch die Menschen, ohne – zum Leidwesen der Frauen – mit irgend jemandem ein Gespräch anzuknüpfen. Obgleich er zeitweise überhaupt kein Privatleben kannte, hatte er doch manches Liebesabenteuer hinter sich gebracht. So war es kein Wunder, daß ihm in dieser Beziehung allerhand nachgesagt wurde. Er selbst jedoch wußte, daß die Frauen, die vorübergehend eine Rolle in seinem Leben spielten, nicht mehr von ihm erwarteten, als er ihnen gab. Waren sie bereit, das Spiel nach seinen Regeln zu spielen, hatte er nichts gegen ein Abenteuer einzuwenden. Nur Harvey kannte den echten Nicholas Vitale und nicht nur die diplomatische Maske, hinter der er sich zu verbergen pflegte. Harvey und seine neue Freundin schienen in ein Gespräch vertieft, als er sich ihnen näherte. Er hatte Zeit, darüber nachzudenken, wer das Mädchen wohl sein mochte, und worüber sie sprachen. Sie war hochgewachsen und schlank. Prachtvolles Haar von einer ungewöhnlich schönen Farbe hing ihr lose auf die Schultern herab. Unwillkürlich dachte er, daß Harvey es verstand, sich die Frauen auszusuchen. Er legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: „Hast du etwas dagegen, wenn ich dieses Teteátete unterbreche?“ Harvey fuhr herum und stöhnte: „Ich dachte schon, es wäre der Arm des Gesetzes. Mußt du dich so heranschleichen?“ Nicholas grinste, aber plötzlich wurden seine Augen schmal. Harveys Mädchen war ihm bekannt. Es hatte auf dem Moped gesessen, das am vergangenen Freitag in seinen Wagen hineingefahren war. Offensichtlich war auch er erkannt worden, denn das Gesicht des schönen Geschöpfes überzog sich mit einer glühenden Röte. „Na so etwas“, murmelte er. „Ist die Welt nicht klein?“ Harvey schaute verwirrt von einem zum andern. „Was ist los? Habt ihr euch früher schon einmal kennengelernt?“ „Mrs. Scott und ich hatten neulich einen Zusammenstoß“, sagte Nicholas trocken. „Ich saß in meinem Wagen, sie auf ihrem Moped.“ „Wirklich?“ Harvey hob die Brauen. „Als Nick eintrat, haben Sie mir nicht gesagt, daß Sie ihn kennen, Marilyn.“ „Mr. Vitale hat mir beim Aufstehen geholfen“, wandte Marilyn verlegen ein. „Wir wurden einander nicht vorgestellt.“ Nicholas amüsierte sich heimlich. Letzten Freitag hatte er ihr Gesicht lediglich
interessant gefunden, aber heute abend war sie ganz bezaubernd. Er wollte mehr
über sie wissen. Was tat sie hier mit Harvey, zumal sie doch verheiratet war? Sie
schien nicht zu den Frauen zu gehören, die neben ihrer Ehe noch andere Männer
brauchten. Sie machte einen offenen, anständigen Eindruck. Ihre großen,
schönen Augen blickten ehrlich.
„Sei so nett, Harvey, und besorge mir einen Drink“, bat er ohne Rücksicht auf
Harveys Miene.
„Warum bist du überhaupt zu uns gekommen?“ versetzte Harvey verdrossen.
„Damit du mir einen Drink besorgen kannst“, meinte Nicholas selbstzufrieden.
„Nun lauf schon, alter Freund.“
Harvey holte tief Luft und sah Marilyn an.
„Okay. Wir müssen alle unser Kreuz tragen“, erklärte er und marschierte
gekränkt davon.
Als er weg war, spielte Marilyn nervös mit ihrem Glas. Sie wußte nicht, was sie
sagen sollte. Ihr war klar, daß Nicholas sie die ganze Zeit nachdenklich musterte.
„Sie sind doch nicht böse, daß ich Ihre Unterhaltung mit Harvey gestört habe?“
fragte er endlich.
Marilyn blickte auf und schüttelte energisch den Kopf.
„Lieber Himmel, nein! Ich kenne ihn ja erst seit einer halben Stunde.“
„Ach! Und ich nahm an, Sie seien vielleicht seine neueste Eroberung.“
Marilyn lächelte. „O nein, nichts dergleichen.“
„Gut.“ Nicholas wurde ernst. „Rauchen Sie?“ Er bot ihr sein Zigarettenetui an.
Nachdem sie sich bedient hatte, fragte er: „Und Ihr Mann? Ist er heute hier?“
„Nein. Mein Mann starb vor neun Jahren.“
„Neun?“ wiederholte er erstaunt. „Verzeihen Sie, aber ich glaubte, Sie seien jung
verheiratet.“
„Oh, bitte nicht“, wehrte Marilyn ab. „Ich bin dreiunddreißig. Und sagen Sie jetzt
nicht, daß ich wie ein Teenager aussehe.“
Er lächelte. Sie war so ganz anders als die meisten Frauen, die stets für jünger
gehalten werden wollten, als sie tatsächlich waren.
„In Ordnung“, versprach er. „Aber Sie sind eine sehr attraktive Frau. Ich glaube,
ich sollte mich wegen meines flegelhaften Benehmens neulich entschuldigen. Ich
war nicht sehr höflich, und das bedaure ich. Normalerweise bin ich nicht so
ungalant. Hätten wir uns heute nicht zufällig getroffen, wäre es mir bestimmt
gelungen, Ihre Adresse ausfindig zu machen, um mich bei Ihnen zu entschuldigen.“ „Das ist gar nicht nötig“, murmelte Marilyn. „Ich bin anderer Meinung. An jenem Nachmittag hatte meine Tochter mich angerufen, ich ärgerte mich über sie und war dadurch im großen und ganzen
schlechtgelaunt.“
„Das macht doch nichts.“ Marilyn überkam unvernünftigerweise ein Gefühl von
Enttäuschung, als er seine Tochter erwähnte. Sie hätte doch wissen müssen, daß
er wahrscheinlich verheiratet war. „Ist… ist Ihre Frau auch hier in England?“
„Meine Frau ist ebenfalls tot“, antwortete er mit einem Achselzucken. „Sie starb
vor fünfzehn Jahren bei Marias Geburt.“
„Ich verstehe.“ Marilyn neigte den Kopf. „Ich habe auch eine Tochter. Sie ist ein
Jahr älter, sechzehn.“
„Tatsächlich?“ Er sah sie ungläubig an. „Maria ist noch in Rom. Sie möchte zu mir
kommen. Natürlich paßt es ihr nicht, daß ich dauernd unterwegs bin, und da sie
mit meiner Mutter lebt, ist sie ziemlich verwöhnt.“
„Wollen Sie längere Zeit hierbleiben?“
„Zwei, vielleicht drei Monate. Ich bin erst zehn Tage hier. Wenn es mir gefällt,
bleibe ich vielleicht länger.“ Harvey kam mit den Drinks zurück. Nach einer Weile gesellten sich noch Con Masterson und ein junges Ehepaar Lucas zu ihnen. MaryLee Lucas begann sofort ein Gespräch mit Marilyn, erzählte ihr, daß sie vier Kinder habe und schien sich durch Nicholas Vitales Nähe nicht gehemmt zu fühlen. Marilyn dagegen wurde nicht ganz mit der Situation fertig. Masterson redete auf Nicholas ein, der ihm aufmerksam zuhörte. Auch im Profil sah er ausnehmend gut aus, seine Wimpern waren lang, dicht und tiefschwarz. Sie war sich nicht klar, ob sie sich freute, daß ihre Unterhaltung unterbrochen worden war oder nicht. Sie hatte gern mit ihm gesprochen, aber vielleicht war es ganz gut, daß Harvey zurückgekommen war. Denn es lag auf der Hand, daß Nicholas Vitale viel Erfahrung im Umgang mit Frauen hatte, während sich ihr praktisch nie Gelegenheit bot, sich mit Männern seiner Art zu unterhalten. Später trat Adrian zu ihnen. Marilyn war etwas beschämt, als sie erkannte, daß sie ihn und. Mr. Hetherington während der letzten halben Stunde völlig vergessen hatte. Adrian nahm ihren Arm und sagte: „Sie scheinen sich gut zu unterhalten.“ Nicholas, dem diese besitzergreifende Geste nicht entging, wandte sich an Masterson: „Ist das der Schuldirektor, Con, von dem Sie mir erzählt haben?“ Con nickte. „Einer der beiden. Ich mache Sie bekannt.“ Gleich darauf fand sich Adrian in ein Gespräch mit dem Chef der SheridanWerke verwickelt, der ihn interessiert über seine Schule ausfragte. „Meine Tochter Maria ist fünfzehn und interessiert sich wenig für die Schule. Ich möchte sie in ein Internat in England geben. Könnten Sie mich da beraten?“ „In ein Internat für Mädchen oder gemischt?“ fragte Adrian. Nicholas lächelte. „Ich glaube, das sollte Maria selbst entscheiden. Falls sie sich überhaupt einverstanden erklärt, in England zur Schule zu gehen, muß ich ihr wenigstens erlauben, ihre eigene Wahl zu treffen, nicht war?“ „Hm, in diesem Fall… natürlich.“ Adrian preßte die Lippen zusammen, Marilyn ahnte, daß er eine solche Einstellung für völlig falsch hielt. Adrian behauptete immer, daß Kinder nie wüßten, was gut für sie wäre, und es den Erwachsenen zustand, für sie zu entscheiden. „Wird sie Sie nicht vermissen, wenn sie hier zur Schule geht, während Sie sich in Italien aufhalten?“ fragte sie, unfähig, diese Frage zu unterdrücken. Nicholas Vitales blaue Augen hielten sekundenlang ihrer! Blick fest und ihr war, als habe sie eben ein Wettrennen mitgemacht und könne kaum atmen. Es gelang ihr nicht, von ihm wegzusehen. Erst später, als er selbst jemand anders anschaute, war sie wieder in der Lage, klar zu denken. Zu dumm, sie benahm sich wie eine Siebzehnjährige, dachte sie und wollte sich zwingen, ihn nicht wieder anzusehen. Freilich war das schrecklich schwierig, zumal sie von jeder seiner Bewegungen, von jedem seiner Worte so fasziniert war! „Ich würde schon Zeit finden, sie ab und zu zu besuchen“, beantwortete er Marilyns Frage. „Außerdem möchte meine Mutter einige Monate in Amerika verbringen. Sie wäre dadurch der Verantwortung für Maria enthoben.“ Adrian nickte zu seinen Worten, und Marilyns Finger schlossen sich fester um ihr Glas. Falls Maria in ein Internat käme, würde auch Nicholas Vitale öfter in England sein, vielleicht sogar in der Nähe der Fabrik wohnen. Möglicherweise sah sie ihn dann wieder! Ihr Verstand tadelte sie wegen dieses impulsiven Wunsches. Marilyn sagte sich selbst, daß es doch lächerlich war, sich einzubilden, er könne sich für sie
interessieren. Reich und bedeutend, wie er war, mußte er darauf gefaßt sein, daß jede Frau sich danach drängte, näher mit ihm bekannt zu werden. Sein eigenes Interesse konnte jedoch allenfalls vorübergehender Natur sein, und am Ende war sie es, die verletzt wurde. War sie nicht eine respektable Witwe mit einer heranwachsenden Tochter? Diana wäre entsetzt, wenn Sie entdecken müßte, daß sie, ihre Mutter, sich dazu bereit fände, ein Verhältnis mit einem italienischen Millionär anzufangen! Wirklich, es war zum Lachen. Dabei hatte Nicholas Vitale sie noch nicht einmal um ein Rendezvous gebeten! Und doch – irgend etwas an der Art, wie er sie ansah, gab ihr die Gewißheit, daß er genau das tun würde! Schließlich trat auch Hetherington zu ihnen, er war weit besser dazu geeignet, Vitale betreffs einer Schule zu beraten. Das Gespräch ging weiter, Marilyn war ihren Gedanken überlassen. Sie ahnte nicht, wie oft Vitales Blick in ihre Richtung ging, wie sehr er sich wünschte, die anderen möchten gehen, damit er sich mit ihr unterhalten konnte. Seit Jahren hatte keine Frau ihn so auf Anhieb gefesselt. Frauen dienten ihm normalerweise nur zu einem bestimmten Zweck und waren danach schnell vergessen. Die Unterhaltung mit ihnen war begrenzt, die Themen abgedroschen. Marilyn Scott, davon war er überzeugt, gehörte nicht in diese Kategorie. Marilyn lauschte auf seine tiefe, erregende Stimme, wenn er sprach. Manchmal hatte sie das unsinnige Gefühl als sei alles, was er sagte, nur für sie bestimmt. Tatsächlich begann das Gespräch, ihn zu langweilen. Ihm war klar, daß er Marilyn im Beisein der anderen unmöglich näher kennenlernte. Indem er seine Zigarette im nächsten Aschenbecher ausdrückte, brach er die Unterhaltung abrupt ab: „Ich danke Ihnen allen für Ihren Rat. Sobald ich Maria sehe, werde ich mit ihr darüber sprechen.“ „Sie… Sie fahren wieder nach Italien?“ fragte Marilyn. Sie konnte die Worte nicht zurückhalten. Sein Blick war etwas ausdruckslos. „Nein. Maria kommt hierher. Meine Mutter wird ihr einige Zeit später folgen.“ „Ach so.“ Marilyn zog sich wieder in sich selbst zurück. „Haben Sie schon ein Haus hier?“ fragte Hetherington erstaunt. „Ich habe ein Appartement im ,Hirsch' gemietet“, antwortete Nicholas trocken. Das Verhör kam ihm langsam wie der dritte Grad vor. Der „Hirsch“ war das größte Hotel in Otterbury, luxuriös und verschwenderisch ausgestattet. Zur gleichen Zeit wie die Fabrik erbaut, war es ganz auf Gäste wie Nicholas Vitale zugeschnitten. Ein kluger Schachzug der Besitzer, die vorausgesehen hatten, daß von nun an Leute nach Otterbury kommen würden, die mehr verlangten, als kleinstädtische Hotels geben konnten. Lucie Masterson tauchte auf. Sie blickte Nicholas vorwurfsvoll an und sagte schmollend: „Mein lieber Nick, Sie sollten sich wirklich ein wenig den anderen Gästen widmen. Wir sehen Sie in letzter Zeit so selten.“ Marilyn, die Nicholas Vitale beobachtete, fragte sich, welche Wünsche Lucie wohl um den Chef ihres Mannes ranken mochte. Aber stimmte es, daß früher einmal eine engere Beziehung zwischen ihnen bestanden hatte? Irgend etwas in ihrem Benehmen deutete darauf hin, und Marilyn verspürte eine leichte Übelkeit Nicholas zuckte die breiten Schultern und sah auf seine Uhr. „Tut mir leid, Lucie“, entgegnete er kühl. „Ich bin ein vielbeschäftigter Mann.“ „Sie arbeiten viel zu hart. Ab und zu sollten Sie auch entspannen.“ Nicholas sah auf sie nieder, und Marilyn bemerkte, daß seine Augen schmal
wurden. „Woher wissen Sie, daß ich das nicht tue?“ fragte er herausfordernd.
Lucie erstarrte. Marilyn wandte den Blick ab, sie hatte genug gesehen.
Nicholas entging ihre Reaktion nicht. Er war entschlossen, noch einmal mit ihr zu
reden, ehe er die Party verließ.
„Sie sind unmöglich!“ rief Lucie mit leiser, zorniger Stimme.
„Ja, nicht wahr?“ meinte er gleichgültig, um hinzuzusetzen: „Entschuldigen Sie
mich. Da ist jemand, mit dem ich sprechen möchte.“
Nicholas trat zu Marilyn, die jetzt abseits von den anderen stand, in Gedanken
versunken.
„Erlauben Sie mir, Sie nach Hause zu bringen?“ fragte er weich und mit
eindringlichem Blick.
Marilyn sah erschrocken zu ihm auf. Ihre Augen waren groß, sie spürte, daß sie
errötete. Er schien sie zu hypnotisieren, und die Abneigung, die sie wegen seiner
Beziehung zu Lucie empfunden hatte, wich von ihr. Ihr war klar, daß er wissen
mußte, welche Wirkung er auf sie hatte. Unwillkürlich erschauerte sie.
„Ich…ich bin mit Adrian Sinclair gekommen“, erklärte sie.
„Ich frage nicht, mit wem Sie gekommen sind“, erwiderte er trocken. „Ich frage,
ob ich Sie nach Hause bringen darf.“
„Aber… Adrian erwartet, daß i… ich mit ihm fahre“, stotterte sie und kam sich
ziemlich dumm vor.
„Ist Ihnen das wichtig?“
War es das? Marilyn konnte beim besten Willen nicht behaupten, daß Adrian ihr
in anderer als freundschaftlicher Beziehung wichtig war. Aber schuldete sie ihm
nicht mehr, als diesem Fremden? Sie war unentschlossen und nervös. Sie wollte
den Sprung wagen und ihm sagen, wie gern sie sich von ihm nach Hause
begleiten ließe. Doch irgend etwas hielt sie zurück. Es war, als würde sie nach
zwei Seiten gezogen. Wenn sie allerdings ehrlich war, mußte sie zugeben, daß
schon der Gedanke, mit Nicholas Vitale irgendwohin zu fahren, unendlich
erregend war. Adrian konnte niemals aufregend sein!
Nicholas beobachtete sie aufmerksam. Er sah ihre Unentschlossenheit und sagte
amüsiert: „Wenn Sie so lange überlegen müssen, kann die Antwort doch nur
,nein' lauten.“
Marilyn gab sich Mühe, ihr Zögern zu kaschieren. Was mußte er von ihr denken?
„Sie haben wohl recht“, gab sie zu. „Immerhin sind Adrian und ich alte Freunde.
Ich darf seine Gefühle nicht verletzten.“
„Was Sie wirklich meinen, ist, daß er sich für Sie interessiert, nichtwahr?“
„Mag sein. Wir kennen uns schon fünf Jahre.“
„Und die ganze Zeit waren Sie Witwe?“ fragte Nicholas.
„Ja.“
„Dann muß er entweder sehr dumm oder sehr hartnäckig sein.“
Marilyn lächelte. „Eher das letztere. Keiner kann Adrian dumm nennen.“
Nicholas zuckte die Achseln. „Das hilft uns nicht weiter. Möchten Sie mit mir
kommen? Vorausgesetzt, daß Sinclair sich nicht einmischt?“
Marilyn fuhr sich unruhig mit der Hand über die Haare. „Ich… oh, ich denke
schon“, antwortete sie.
Nicholas war zufrieden. „Fein. Dann werde ich mit Sinclair reden.“
„O nein, bitte nicht.“ Marilyn starrte ihn flehend an. „Sie würden ihm nur einen
falschen Eindruck vermitteln.“
„Wieso?“ Nicholas zog sein Zigarettenetui aus der Tasche und hielt es ihr hin. Als
sie beide rauchten, sagte sie:
„Adrian würde nie verstehen…“
In diesem Moment trat Adrian zu ihnen. „Sind Sie bereit mitzukommen. Marilyn?“
fragte er. „Hetherington möchte seine Frau nicht zu lange allein lassen.“
Nicholas schaltete sich ein.
„Habe ich richtig verstanden? Sie bringen Hetherington nach Hause?“
Adrian runzelte die Stirn. „Ja. Warum?“
Nicholas deutete auf Marilyn zu. „Dann würde ich vorschlagen, da Mrs. Scott es
ja nicht eilig hat, daß ich sie später nach Hause begleite und Sie von dieser
Verantwortung entbinde.“
Adrian war verblüfft. Er wollte den Italiener nicht beleidigen, andrerseits hatte
Vitale ihm auch keine andere Wahl gelassen, als sein Angebot anzunehmen. Nur
Marilyn konnte die Situation verändern. Er sah sie fragend an.
Marilyn kam sich schuldbewußt vor. Das war jetzt ein völlig neues Wagnis für sie,
und sie fürchtete die Konsequenzen. Trotzdem war sie unfähig, die Worte
auszusprechen, die Adrian hören wollte: Daß sie mit ihm gehen würde, gleich, in
dieser Minute.
„Nun gut“, erklärte Adrian zurückhaltend, als ihm klar wurde, daß Marilyn bleiben
wollte. „Möchten Sie wirklich noch nicht gehen, Marilyn?“
Sie lächelte ein wenig mühsam. „Nicht unbedingt. Und es ist sehr nett von Mr.
Vitale, daß er angeboten hat, mich nach Hause zu bringen.“
„Ich verstehe.“ Adrian war nicht überzeugt. Er hatte die beiden miteinander
reden sehen und sich gefragt, was sich da anbahnte. Jetzt wußte er es. Es
überraschte ihn, daß Marilyn sich so unvernünftig verhielt. Schließlich kannte sie
den Mann kaum. Adrian aber hatte manches über Nicholas Vitales abenteuerliche
Beziehungen zu Frauen gehört. Da ihm nichts über den Vorfall der vergangenen
Woche bekannt war, mußte ihm alles noch weit schlimmer vorkommen. Nie im
Leben hätte er gedacht, daß seine Sekretärin so hinterlistig sein könne.
Er zögerte noch kurz, drehte sich dann abrupt um und ging auf Hetherington zu,
der bereits auf ihn wartete. Marilyn fühlte sich noch etwas schuldbewußter, sie
kam sich fast gemein vor. Das ertrug sie nicht. Sie wandte sich Nicholas zu.
„Es tut mir leid, Mr. Vitale, aber ich fahre doch lieber mit ihm. Er wird finden, daß
ich schrecklich undankbar bin. Ohne ihn wäre ich heute abend gar nicht hier.“
Nicholas streckte die Hand aus, um sie zurückzuhalten. Seine Finger umspannten
fest ihren Oberarm, und sie spürte, daß sie unsicher wurde.
„Vielleicht nicht“, sagte er leise. „Aber jetzt sind Sie da, und ich möchte Sie nach
Hause bringen. Ich bekomme meistens, was ich mir wünsche“, setzte er hinzu.
Sein Ton war arrogant, Marilyn ärgerte sich darüber.
„Ich kann meine eigenen Entschlüsse fassen, danke“, sagte sie abweisend.
„Können Sie das wirklich? So oder so ist es jetzt zu spät. Er ist schon weg.“
Tatsächlich. Nachdem Adrian sich von den Gastgebern verabschiedet hatte, war
er ohne einen weiteren Blick auf sie gegangen. Die Entscheidung war also für sie
getroffen worden.
In einem jähen Gefühl der Angst sah Marilyn sich um. Der elegant möblierte
Raum war voller Fremder. Sogar der Mann neben ihr war ihr fremd. Sie mußte
vollkommen verrückt sein! Adrian würde das jedenfalls annehmen.
Sie wurde sich bewußt, daß Nicholas' Hand noch immer ihren Arm umfaßt hielt.
Fragend sah sie zu ihm auf. Gerade als er ihren Blick erwiderte, kam Harvey auf
sie zu, und sofort war sie frei. Sie rieb ihren Arm, wo er ihn gehalten hatte und
spürte, wie das Blut durch ihre Adern jagte.
„Haben Sie sich gut unterhalten?“ fragte Harvey. Seine Augen tanzten.
Marilyn lächelte höflich. „Sehr gut, danke.“
Harvey grinste. „Sie kommen mir vor wie ein Schulmädchen, das seinem Lehrer
für den Ausflug dankt.“
„Das hier war wirklich etwas Neues für mich.“
„Dann müssen Sie es bald wiederholen“, sagte Harvey leichthin. „Auf solchen Partys laufen immer ein paar Junggesellen wie ich herum, die sich gern mit einer schönen Frau unterhalten.“ Er sah bei seinen Worten Nicholas Vitale an, aber der war in eine Unterhaltung mit einem anderen Partygast vertieft. „Habe ich recht gehört?“ fuhr Harvey gedämpft fort. „Bringt Nick Sie wirklich nach Hause?“ „Ja. Warum fragen Sie?“ Harvey stieß einen leisen Pfiff aus. „Sie sind jedenfalls ein tapferes Mädchen. Passen Sie gut auf. Nick verspeist kleine Mädchen wie Sie zum Frühstück.“ „Reden Sie keinen Unsinn“, versetzte Marilyn gereizt. Schon jetzt wußte sie, daß es ein Fehler war, ohne Adrian hierzubleiben. Diese Leute hier paßten einfach nicht zu ihr, sie lebten in einer anderen Welt. Harveys Neckerei verstimmte sie nur. „Ich kann schon auf mich aufpassen, danke.“ „Wirklich?“ Harvey machte einen skeptischen Eindruck. Wieder blickte Marilyn Nicholas an, seine schlanken, gebräunten Hände, die eben eine technische Erklärung unterstrichen, die er abgab. Marilyns Herz klopfte im Hals. Wie mochte es wohl sein, von diesen Händen berührt, gestreichelt zu werden? Irgend etwas an diesem Mann zog sie unwiderstehlich an. Es war beängstigend, so zu empfinden. Bis jetzt hatte kein Mann diese Wirkung auf sie gehabt, und Joe ganz gewiß nicht. Es war eine beunruhigende, neue Erfahrung. Als spüre er ihren Blick, sah Nicholas plötzlich zu ihr hin. Er schien zu bemerken, daß sie verstört war. „Möchten Sie jetzt gehen?“ fragte er. Marilyn blickte sich hilflos um. „Ich… ich möchte Sie in Ihrer Unterhaltung nicht stören. Ich kann leicht ein Taxi bekommen.“ Sie wußte, daß sie von hier weg mußte, und zwar schnell! Eine Art Panik ergriff sie, sie konnte sich nicht dagegen wehren. Nicholas Vitale runzelte die Stirn, seine Brauen zogen sich zu einer zornigen Linie zusammen. „Das wird nicht nötig sein“, entgegnete er kühl. „Harvey, kannst du Belmont den neuen Verteilerkopf erklären?“ „Sicher, Nick. Sehen wir uns morgen früh?“ „Bestimmt. Später muß ich zum Flughafen, um Maria abzuholen.“ „Okay.“ Harvey zwinkerte Marilyn zu, aber sie fand die Situation gar nicht so komisch wie er. Die Mastersons schienen erstaunt, sie zusammen weggehen zu sehen. Sie verabschiedeten sich, und Lucie wirkte ausgesprochen wütend, so daß Marilyn froh war, als sich die Tür hinter ihnen schloß. Es regnete heftig. Sie liefen über den Hof zum Wagen. Nicholas half ihr einzusteigen und nahm dann neben ihr Platz. Die Sitze waren breit, luxuriös und herrlich bequem. Marilyn lehnte sich zurück. Nicholas ließ den Motor an, wandte sich ihr jedoch zu, ehe er den Wagen anfahren ließ. Wieder dachte Marilyn, daß er ein umwerfend gutaussehender Mann war. „Warum sagten Sie das mit dem Taxi?“ fragte er. „Weil Sie in einem Gespräch waren und ich nicht wollte, daß Sie es meinetwegen abbrechen“, antwortete sie scheu. Er hatte die Innenbeleuchtung angeknipst, und sie spürte selbst, wie erregt sie wirken mußte. „Ehrlich“, rief sie, „ich bin eine ganz alltägliche Witwe, bilde mir nicht ein, schön zu sein, habe eine fast erwachsene Tochter. Ich kann Sie doch überhaupt nicht
interessieren! Ich bin bestimmt nicht Ihr Typ.“
Nicholas zuckte kaum merklich die Achseln und knipste das Licht aus. Der Wagen
bewegte sich die Auffahrt entlang und bog in die Straße nach Otterbury ein.
Lautlos glitten sie dahin. Marilyn fragte sich, ob sie sich je wieder normal fühlen
würde.
„Wie kommen Sie darauf, daß ich mich für Sie interessieren könnte?“ fragte er
nach einer Weile.
Marilyn wußte nicht, was sie darauf antworten sollte. Dieser Mann brachte sie aus
der Fassung. Sie entschloß sich, seine Frage einfach zu ignorieren und sagte:
„Ich lebe hier ganz in der Nähe. An der nächsten Kreuzung rechts ab. Wenn Sie
am Ende der Straße halten, kann ich das letzte Stück gut zu Fuß gehen…“
Er schwieg, doch der Wagen bog ab und fuhr weiter.
„Dort wohne ich“, rief Marilyn. Er hielt sofort an. Die Anlagen waren
menschenleer. Der Regen verlockte nicht dazu hinauszugehen.
Marilyn griff nach ihrer Handtasche, bereit, auszusteigen, aber er sagte
zielbewußt: „Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“
Das Blut schoß ihr ins Gesicht, und sie war froh, daß das Licht nicht brannte.
„Haben Sie denn eine Antwort erwartet?“
„Natürlich.“ Als er sich zu ihr umdrehte, streifte sein Oberschenkel den ihren.
„Ich möchte es wissen.“
Ihm entging bestimmt nicht, welche Wirkung er auf sie hatte. Seine Nähe war
atemberaubend und überwältigend. Obwohl sie eigentlich zornig auf ihn sein
müßte, sehnte sie sich nur danach, ihm körperlich noch näher zu sein. Sie war
wie unter einem Bann.
„Sie wollen mich doch bloß ärgern“, sagte sie endlich in einem sinnlosen Versuch,
einen leichteren Ton anzuschlagen.
„Ganz und gar nicht“, kam es amüsiert zurück.
Sie drückte sich in ihre Ecke und erschauerte. Nie hätte sie geglaubt, daß ein
Mann so erregend sein könnte. Noch nie im Leben war sie in einer solchen Lage
gewesen.
Nicholas Vitale blickte sie unverwandt an. „Sagen Sie, haben Sie Angst? Zittern
Sie darum so? Was hat Harvey Ihnen über mich erzählt?“
Er beugte sich vor und legte den Arm auf die Lehne hinter ihrem Rücken. Jetzt
schlossen sich seine Finger um ihre Schulter.
„N… nichts“, stotterte sie.
„Etwas hat er bestimmt gesagt“, beharrte er.
Seine Nähe und die Berührung seiner Hand gaben ihr das Gefühl in Flammen zu
stehen. Er forderte sie absichtlich heraus, ließ sie empfinden, daß sie eine Frau
war.
„Ich muß gehen“, stieß sie hervor und legte die Hand auf die Klinke. Nicholas
griff an ihr vorbei und hinderte sie am Aussteigen. Er hatte nicht vor, sie gehen
zu lassen, jedenfalls nicht so einfach. Innerhalb einer winzigen Zeitspanne hatte
sie Gefühle in ihm entfacht, die er für immer abgetötet geglaubt hatte.
„Noch nicht“, sagte er leise. „Ich möchte wissen, wann ich Sie wiedersehe.“
Marilyn starrte ihn an. „Meinen Sie das ernst?“
„Selbstverständlich. Oder dachten Sie, ich würde Sie nach Hause bringen, um
danach für immer aus Ihrem Leben zu verschwinden?“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht glaubten Sie, ich sei...“
„Abenteuerlustig?“ ergänzte er. „Das habe ich keinen Augenblick geglaubt. Wann
also?“
„Ich kann mir nicht vorstellen, warum Sie denn ausgerechnet mich wiedersehen
wollen.“
„Nein?“ er lächelte spöttisch „Nein, wahrscheinlich nicht. Für eine Frau, die
verheiratet war, sind Sie unglaublich naiv.“
„Danke“, sagte Marilyn etwas gekränkt.
„Das ist in mancher Beziehung ein Kompliment. Wissen Sie, daß Sie eine sehr
begehrenswerte Frau sind?“
Marilyn erschauerte wieder. „Ich bin eine ganz normale Hausfrau, die sich ihren
Lebensunterhalt verdienen muß“, erklärte sie.
„Für mich sind Sie mehr.“ Er rollte eine ihrer bernsteingelben Haarlocken um
seinen Finger. „Bitte, entschließen Sie sich. Morgen abend, ja?“
„Ich weiß nicht.“ Marilyn fiel das Sprechen schwer. „Warum nicht? Weichen Sie
mir nicht aus, Marilyn, das ist zwischen uns nicht nötig. Sie wollen dasselbe wie
ich. So einfach ist das. Ich errege Sie ebenso, wie Sie mich erregen.“
„Ich… ich errege Sie?“ Sie starrte ihn fassungslos an.
Seine Augen waren dunkel und unergründlich, aber sie spürte die Kraft hinter
seinen Worten. Mit beiden Händen packte er fest ihre Schultern und gab sie
abrupt frei.
„Hören Sie auf, mich zu reizen“, warnte er sie. „Morgen abend also. Um welche
Zeit?“
„Meine Tochter wird nicht einverstanden sein.“
„Wie schrecklich.“ Auf einmal war sein Ton arrogant. „Ich hole Sie um halb acht
hier ab, in Ordnung?“
„Gut.“ Marilyn neigte den Kopf. Ihr fehlte die Kraft, zu widerstehen.
„Fein.“ Er nahm eine Handvoll ihrer Haare, zog ihren Kopf daran zurück und
blickte auf ihr Gesicht herab. „Seien Sie pünktlich.“
Marilyns Lippen teilten sich, während sie ihn anstarrte, und er preßte einen
Moment die Zähne aufeinander.
„Bringen Sie mich nicht dazu, Sie zu küssen, oder ich lasse Sie jetzt nicht
gehen.“
Marilyn entzog ihm ihren Kopf und hatte im nächsten Augenblick den Wagen
verlassen. Zu ihrer Überraschung stieg auch er aus. Sie standen zusammen im
Regen.
„Vergessen Sie es nicht“, sagte er weich. All seine Arroganz war von ihm
abgefallen.
„Als ob ich das könnte!“ rief sie hilflos und lief hastig ins Haus.
4. KAPITEL Diana saß in einem Lehnstuhl und blickte von einem Buch auf, als ihre Mutter eintrat. „Ist Onkel Adrian nicht mitgekommen?“ Marilyn zog ihren feuchten Mantel aus, ehe sie antwortete. Sie war aufgewühlt, und es fiel ihr schwer, so zu tun, als sei nichts Außergewöhnliches geschehen. „Ich bin nicht mit Adrian nach Hause gefahren“, sagte sie endlich sanft. „Er verließ die Party etwas früher, um Mr. Hetherington heimzubringen. Ich kam mit einem anderen Wagen hierher.“ Diana warf ihr einen mißtrauischen Blick zu, und Marilyn fragte sich, ob sie wohl die Gedanken ihrer Mutter lesen konnte. „Wer war es?“ fragte Diana. Marilyn fuhr sich unsicher über ihr Haar. „Mr. Vitale, Liebes.“ Diana runzelte die Stirn. Der Name war ihr bekannt. Natürlich, der Besitzer der SheridanWerke hieß so! Sie konnte es nicht fassen. „Vitale? Du meinst den Mann, dem die Autofabrik gehört?“ „Genau.“ Marilyn versuchte strahlend zu lächeln. „Ist das nicht eine Überraschung? Hast du schon gegessen?“ Statt zu antworten, stand Diana auf. „Hast du dich mit Onkel Adrian gestritten, Mutti?“ Marilyn errötete. „Natürlich nicht. Ich bin doch nicht für Adrians Entscheidungen verantwortlich, nicht wahr?“ Dianas Gesichtsausdruck wurde noch mißtrauischer. Das Ganze war höchst merkwürdig, fand sie. Niemals vorher war ihre Mutter mit einem Mann weggefahren, um mit einem anderen zurückzukommen. Genaugenommen war sie seit dem Tod des Vaters außer mit Onkel Adrian nie mit niemandem ausgegangen. „Hast du dich wenigstens gut unterhalten?“ fragte sie höflich. „Oh, ja. Es war sehr interessant“, versicherte Marilyn etwas unzulänglich. „Es waren auch eine Menge Amerikaner da.“ „Dieser Mr. Vitale ist aber Italiener, oder?“ „Vermutlich. Zwar weiß ich wenig über ihn, doch ich nehme es an.“ Es war Diana anzusehen, daß sie das alles nicht begriff. Marilyn war jedoch entschlossen, das Thema zu wechseln. Was die Verabredung für den morgigen Abend betraf, so hatte sie keine Ahnung, wie sie ihrer Tochter gegenüber davon sprechen sollte, ohne nochmals in Verlegenheit zu geraten. „Ich sehe, du hast dir die Haare gewaschen“, bemerkte sie auf dem Weg in die Küche, wo sie den Kaffee bereiten wollte. „Ja.“ Diana warf sich wieder in ihren Sessel. Das Verhalten ihrer Mutter beschäftigte sie noch immer, obwohl deutlich war, daß Marilyn nicht darüber zu sprechen wünschte. Wie war der Mann, der sie nach Hause gebracht hatte? Jung oder alt? Warum entschloß er sich überhaupt, ihre Mutter zu begleiten? Er konnte sich doch unmöglich für sie interessieren! Diana schluckte krampfhaft. Nein, bestimmt machte sie aus einer Mücke einen Elefanten. Schließlich war es logisch, daß ein Mann sich anbot, eine Dame mitzunehmen und auf seinem Wege abzusetzen, zumal Onkel Adrian andere Verpflichtungen gehabt hatte. Am nächsten Morgen verschliefen sie. Marilyn kam zu spät in die Schule und fürchtete die Begegnung mit Adrian. Er würde auf jeden Fall eine Erklärung von ihr verlangen, die sie ihm einfach nicht geben konnte. Es war doch unmöglich, ihm zu sagen, daß sie mit Nicholas Vitale nach Hause gefahren war, weil sie sich
unwiderstehlich von ihm angezogen fühlte.
Auch Diana hatte sie nichts weiter über den Abend erzählt. Ihr Leben schien
kompliziert zu werden.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und begann, Briefe zu tippen.
Normalerweise erschien Adrian immer erst nach der ersten Stunde, heute jedoch
kam er bereits nach der Morgenandacht. Marilyn tat sehr beschäftigt und hoffte,
er würde erst später auf die Vorfälle des vergangenen Abends zu sprechen
kommen. Aber er fing sofort an.
„Nun“, sagte er, „sind Sie gut nach Hause gekommen?“
„Ja, danke.“ Marilyn lächelte flüchtig. „Es war ein interessanter Abend, nicht
wahr?“
„Enorm interessant“, gab er sarkastisch zurück.
Marilyn entschloß sich, den Stier bei den Hörnern zu packen. „Hören Sie, Sie
haben nicht das Recht, meine Handlungen zu kritisieren.“
Adrian schnaubte wütend. „Selbst wenn unsere Beziehungen zueinander rein
beruflich wären, was nicht der Fall ist, hielte ich es für meine Pflicht, Sie vor
Vitale zu warnen.“
„Mich zu warnen?“ Marilyn starrte ihn verwundert an.
„Ja, Marilyn. Nicholas Vitale ist ein Mann der großen Welt. Er ist nichts für Sie. Er
sollte sich an Frauen halten, die zu ihm passen und seinen Ansprüchen genügen.“
„O Adrian! Mr. Vitale hat mich lediglich nach Hause gebracht.“
„Möglich. Aber er hätte Sie…sagen wir…belästigen können.“
Fast hätte Marilyn gelacht. „Wie altmodisch Sie sind, Adrian. Ich glaube nicht,
daß Vitale derartige Taktiken nötig hat. Bei seinem Aussehen!“
Adrian erstarrte. „Meine liebe Marilyn, ich habe Sie stets für eine kluge und
vernünftige Frau gehalten, mit der ich sogar gern mein Leben geteilt hätte. Aber
seit gestern abend scheinen Sie sich in ein verantwortungsloses Schulmädchen
verwandelt zu haben. Ich muß sagen, ich bin tief enttäuscht von Ihnen.“
„Warum denn bloß?“
„Obgleich Sie verheiratet waren, hatte ich immer den Eindruck, daß Sie wenig
Erfahrung mit Männern haben. Sie waren so blutjung, als Sie Joe heirateten. Sie
hatten sicher Ihre Gründe dafür, und ich will mich nicht in Ihre
Privatangelegenheiten mischen. Aber glauben Sie mir, Nicholas Vitale ist ganz
anders als Joe, der Sie auf ein Piedestal stellte. Sie wirken so – unberührt, und
gerade das habe ich immer so an Ihnen bewundert Marilyn. Ich weiß, daß Sie ein
Kind haben, bezweifle jedoch, daß Sie je wirkliche Leidenschaft empfanden.
Zweifellos ist Vitale, äußerlich betrachtet, sehr attraktiv. Aber haben Sie eine
Ahnung von den rohen, animalischen Neigungen, die in manchen Männern
schlummern?“
Marilyn unterbrach ihn zornig. Man sah ihr an, wie peinlich berührt sie war.
„Bitte, Adrian, sprechen Sie nicht weiter. Ich will nichts mehr hören.“
„Das kann ich mir denken. Es beweist jedoch nur, daß Sie genau wissen, was Sie
tun.“
„Was habe ich denn getan? Ich ließ mich nach Hause bringen, nicht wahr?“
„Werden Sie ihn wiedersehen?“
„Ich weiß nicht“, wich sie aus.
Adrian sah sie ungläubig an, widersprach ihr aber nicht. „Meine liebe Marilyn, ich
möchte nicht, daß Ihnen weh getan wird. Ich denke nur an Sie. Das wissen Sie
doch.“
Marilyn zündete sich aufatmend eine Zigarette an. Adrians Worte hallten in ihr
nach. Wirkte sie wirklich so naiv und lächerlich verletzlich? Sogar Vitale hatte
nach kurzer Bekanntschaft behauptet, sie sei naiv. Der Gedanke, heute abend
mit ihm auszugehen, begann, sie allmählich mit Schrecken zu erfüllen. Wäre es
nicht besser, ihn anzurufen und die Verabredung abzusagen? Falls Adrian recht
hatte und Nicholas sich tatsächlich nur mit ihr amüsieren wollte – was dann?
Sie war nicht dazu geeignet, die Frau für eine flüchtige Episode zu sein. Im
Grunde war sie ernst. Sie hatte auch gar nicht die Absicht, sich auf eine billige
Affäre einzulassen, so aufregend sie im Augenblick auch erscheinen mochte.
Während sie über diese Dinge nachdachte, kehrte die Erinnerung an Joe zurück.
An seine Güte, seine Zärtlichkeit. An die Liebe, die er ihr so selbstlos geschenkt
hatte, ohne dafür etwas zu fordern. Instinktiv spürte sie, daß Nicholas Vitale
ebenso viel nehmen wie er leidenschaftlich geben würde. Selbstlos war er nicht.
„Es ist halb zehn“, sagte sie endlich mit einem Blick auf die Uhr. „Ihre Klasse
wird auf Sie warten.“
Adrian trat vom Fenster fort. „Schon gut. Wir werden uns später
weiterunterhalten müssen.“
Marilyn sah nicht auf, als er den Raum verließ. Sie war entschlossen, daß es
heute keine Debatten mehr geben sollte. Es war für ihren Geschmack schon viel
zuviel geredet worden.
An diesem Abend war Diana vor Marilyn zu Hause und hatte bereits den Tisch
gedeckt als ihre Mutter kam. Sie machte einen gutgelaunten Eindruck, und
Marilyn hoffte, daß sich nichts daran ändern würde, wenn sie ihr von der
heutigen Einladung erzählte.
„Hattest du heute viel zu tun?“ erkundigte sich Diana.
„Es ging. Diana, macht es dir etwas aus, wenn ich heute abend ausgehe?“
Marilyn fragte es beinahe überstürzt, und Diana musterte sie besorgt.
„Ausgehen? Du meinst, mit Onkel Adrian?“
„N…nein. Mit Mr. Vitale.“
Diana schien einen Moment ratlos. „Mr. Vitale?“ wiederholte sie.
Marilyn nickte. Sie ahnte, daß Diana nicht vorhatte, sich mit den gegebenen
Umständen abzufinden, und sie fragte sich, ob sie im Verlauf der Jahre nicht
zuviel Rücksicht auf ihre Tochter genommen hatte. Schließlich war sie noch jung,
andere Frauen ihres Alters, ob unverheiratet oder verwitwet, gingen mit Männern
ihrer Generation aus. Sobald Diana erwachsen war und selbst heiratete, würde
sie auch nicht daran denken, Rücksicht auf ihre Mutter zu nehmen und dann
vielleicht Marilyns Lage verstehen.
„Aber Mutti“, rief Diana jetzt aus, „du kennst ihn doch kaum! Er ist nicht einmal
Engländer. Und Besitzer einer Fabrik. Wie stellst du dir das alles vor?“
„Ich stelle mir gar nichts weiter vor.“
Diana schluckte. Ihr Gesicht war gerötet, sie sah sehr unglücklich aus.
„Und Onkel Adrian?“ schrie sie kindisch. „Onkel Adrian wird das doch sicher nicht
recht sein!“
Marilyn zuckte die Achseln. „Reg dich nicht auf, Liebes. Onkel Adrian hat nichts
damit zu tun. Er ist nur ein Freund und nicht mein Aufpasser.“
„Er will dich heiraten.“
„Und ich will ihn nicht heiraten“, erwiderte Marilyn geduldig. „Er ist zu alt, Diana,
zu gesetzt.“
„Er ist nicht älter als Vati war.“
Marilyn sah ihre Tochter ruhig an. „Mag sein, aber das ändert nichts an den
Tatsachen.“
„Und dieser Mr. Vitale. Ist er wie Vati?“
„Nein. Ganz und gar nicht.“
„Dann erzähle mir von ihm. Ich habe ein Recht, es zu wissen.“
„Nun, er ist sehr nett“, sagte Marilyn nachdenklich. Es war schwierig, Nicholas
Vitale zu beschreiben, ohne den Eindruck zu erwecken, daß man übertrieb. Er
war so dynamisch, so selbstsicher.
„Ist er jung oder alt?“
„Vermutlich älter als ich.“
„Ziemlich alt also“, meinte Diana gehässig.
Marilyn ließ sie dabei, wahrscheinlich kam sie Diana alt vor. Es hatte wenig Sinn,
mit ihr zu streiten und dadurch eine Szene heraufzubeschwören.
„Ich bin überzeugt, er wird dir gefallen“, sagte sie in zuversichtlichem Ton.
„Und ich bin überzeugt, daß das nicht der Fall sein wird“, entgegnete Diana und
verschwand in der Küche.
Marilyn nahm nur ein paar Bissen zu sich. Sie war nicht hungrig, außerdem
würde Nicholas sie sicher zum Essen einladen. Sie wünschte jetzt, ihm keine
Zusage gegeben zu haben. Wenn Diana sich jedesmal so aufführte, sobald sie
eine Einladung annahm, wäre es besser, sie würde in Zukunft zu Hause bleiben.
Als sie sich später zurechtmachte, wurde ihr klar, daß sie den Wunsch hatte,
möglichst gut auszusehen. Sie trug ein Cocktailkleid aus schwarzer Spitze, das
sie schon mehrere Jahre besaß. Es war ursprünglich ein teures Modell gewesen,
die schmale Form und der runde Ausschnitt waren zeitlos. Eine Perlenkette, die
Joe ihr einmal geschenkt hatte, lag um ihren Hals.
Sie wollte eben ihren leichten Wollmantel überziehen und nach unten gehen, als
es klingelte.
Diana öffnete die Tür. Ein hochgewachsener, breitschultriger Mann stand vor ihr.
Gebräunte Haut und die blauesten Augen, die sie je gesehen hatte. Der Anzug,
den er unter seiner Lammfelljacke trug, war beste Maßarbeit, die Krawatte
offensichtlich das Symbol irgendeiner bedeutenden Universität. Sein Haar war
blauschwarz, die Wimpern lang und gebogen. In einer Stadt wie Otterbury, wo
Geld und gutes Aussehen selten Hand in Hand gingen, war er ein Unikum.
Konnte das der Mann sein, mit dem ihre Mutter ausgehen wollte?
„Ja?“ sagte sie mit kleiner, kalter Stimme. Gegen alle Vernunft hoffte sie noch
immer, daß es jemand anders wäre.
Der Mann lächelte. „Sie sind Marilyns Tochter, nicht wahr?“
„Ja, ich bin Diana. Sind Sie Mr. Vitale?“
Noch ehe er antworten konnte, erschien Marilyn auf der Schwelle des
Schlafzimmers. Sie war in Strümpfen, ihr Haar lockte sich sanft um ihr Gesicht.
Als sie Nicholas entdeckte, veränderte sich ihr Ausdruck. Sie fühlte, wie ihr
Herzschlag sich beschleunigte. „Hallo“, rief sie. „Wollen Sie nicht
hereinkommen?“
Diana trat etwas benommen beiseite. Nicholas Vitale war ganz anders, als sie
vermutet hatte. Nie im Leben hätte sie gedacht, daß jemand wie er sich für ihre
Mutter interessieren könnte, und alt war er schon gar nicht. Wenn sie sich die
beiden zusammen vorstellte, wurde sie von Panik erfaßt. Dieser Mann war nicht
wie Onkel Adrian, der ihre Mutter wie eine gute alte Bekannte behandelte. Dieser
Mann würde Wert auf weit intimere Beziehungen legen. Der Gedanke entsetzte
und erschreckte sie. Sie wünschte, irgend etwas könnte die Verabredung
vereiteln.
Nicholas trat ein und sah sich anerkennend um. Die helle moderne Einrichtung
gefiel ihm.
„Diana haben Sie ja bereits kennengelernt“, sagte Marilyn, hastig in ihre Pumps
schlüpfend.
„Gehen Sie noch zur Schule, Diana?“ erkundigte er sich.
„Auf die Handelsschule“, antwortete sie lässig.
„Gefällt es Ihnen dort?“
„Manchmal.“ Diana drehte ihm den Rücken zu und warf sich in ihren Sessel.
Nicholas beobachtete sie nachdenklich. Diana konnte ihn nicht einschüchtern, ihr
Benehmen gefiel ihm nicht. Seiner Meinung nach hätte dieses Mädchen einen
ordentlichen Rüffel verdient, und er wäre nicht abgeneigt, ihn ihr zu verpassen.
Welchen Ruf er auch immer haben mochte, Diana war nichts davon bekannt, und
sie mußte wissen, daß ihre Mutter eine anständige, nette Frau war. Frau… Er
lächelte vor sich hin. Marilyn war selbst fast noch ein Mädchen. Ihr Anblick hatte
sofort wieder die gleichen Gefühle in ihm mobilisiert wie gestern. Merkwürdig war
das.
„Sind Sie fertig?“ Er sah Marilyn mit einem zärtlichen Blick an, und sie spürte,
wie das Blut in ihre Wangen stieg.
„Ja“, murmelte sie. „Ich komme nicht spät zurück“, setzte sie, zu Diana gewandt,
hinzu.
Diana sah kaum von der Zeitschrift auf, die sie hielt. „Du brauchst dich nicht zu
beeilen. Ich finde schon allein ins Bett.“
Marilyn biß sich auf die Lippen. Dianas Versuch, ihr weh zu tun, war gelungen.
Der Abend schien verdorben, noch ehe er begann.
Auf der Fahrt versuchte Marilyn, Dianas Unfreundlichkeiten zu vergessen und sich
zu entspannen. Aber ihre Schweigsamkeit verstimmte Nicholas, so daß er
ärgerlich sagte:
„Ich scheine bei Ihrer Tochter recht unbeliebt zu sein. Warum?“
„Diana versteht nicht, warum ich Adrian Sinclair nicht heirate. Das ist der Grund,
glaube ich. Außerdem ist sie der Meinung, jeder Mann wäre gut genug für mich,
vorausgesetzt, sie ist mit ihm einverstanden.“
„Warum ist sie mit mir nicht einverstanden?“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht hat es gar nichts mit Ihnen zu tun, sondern mit mir.
Ich bin ihre Mutter…“
Er lächelte. „Sie sehen nicht alt genug aus, um jemandes Mutter zusein.“
„Das ist vielleicht ein Teil der Schwierigkeiten“, sagte Marilyn.
Sie fuhren durch Otterbury zum .Hirsch', und Marilyn fiel plötzlich ein, daß heute
seine Tochter aus Italien angekommen war. Ob sie wohl mit ihr zusammen essen
würden?
An der Bar bestellte Nicholas für sie einen Martini, für sich selbst einen Bourbon.
Sie nahmen auf Hockern Platz und rauchten. Er betrachtete sie.
„Sie sehen wunderschön aus, Mrs. Scott.“
„Danke, Mr. Vitale.“ Sie war nun doch entspannt und bereit, den Abend zu
genießen. Nur die Erinnerung an Diana störte ihre vollkommene Freude.
„Ich bin glücklich, daß Sie mitgekommen sind.“
Sie runzelte die Stirn. „Dachten Sie, ich käme nicht?“
„Es hätte Sie doch jemand daran hindern können, oder? Dieser Sinclair zum
Beispiel. Es wundert mich, daß er keinen Einspruch erhoben hat.“
Marilyn lachte leise. „Oh, Adrian hatte eine Menge zu sagen. Er riet mir, Sie nicht
wiederzusehen.“
„Aha. Hat er ein Recht, Ihnen zu raten?“
„Eigentlich nicht.“
„Bleibt also nur Diana. Wenn ich es mir genau überlege, ist ihre Reaktion
vielleicht verständlich.“
„Wieso?“ Marilyn sah ihn aufmerksam an.
„Diana ist alt genug, um die körperlichen Bedürfnisse von Mann und Frau zu
verstehen, zu wissen, was sie zueinanderzieht. Sie war überrascht, daß Sie mit
einem Mann ausgehen, der ihrer Meinung nach den Wunsch haben wird, Sie zu
lieben.“
Marilyn neigte den Kopf, um ihre Verlegenheit zu verbergen, und er fuhr leiser
fort:
„Das erschreckt sie ein wenig. Noch nie hat Ihre Tochter vor einem solchen
Problem gestanden, nicht wahr? Wenn Adrian ein Musterexemplar Ihrer
bisherigen Männerbekanntschaften ist, wird sie kaum damit konfrontiert worden
sein.“
„Seit Joes Tod bin ich nur mit Adrian ausgegangen“, warf Marilyn ein.
„Okay. Das ist also die Situation. Ziemlich beunruhigend für Diana. Maria ist da
ganz anders.“
„Ich verstehe. Und was genau sind meine körperlichen Bedürfnisse?“ Sie fragte
es leichthin, aber sein Blick wurde warm und zärtlich.
„Das erkläre ich Ihnen später“, meinte er träge und lachte über ihren
schockierten Gesichtsausdruck.
Danach verlief ihre Unterhaltung in weniger persönlichen Bahnen. Nicholas war
ein amüsanter Partner, er erzählte von seinem Haus in Rom und seiner Firma,
die er von seinem verstorbenen Vater geerbt hatte. Er kannte viele Länder,
Marilyn hörte ihm voller Interesse zu.
Nach dem zweiten Drink verließen sie die Bar und gingen durch die Halle auf den
Lift zu. Da der Speisesaal gleich links lag, war Marilyn etwas verwirrt.
„Wohin gehen wir?“ fragte sie.
„In meine Privaträume“, sagte er ungerührt. „Regen Sie sich nicht auf. Wir
werden oben essen. Es ist viel netter dort.“
Marilyn war für einen Moment sprachlos. Dann wandte sie ein: „Ich weiß nicht,
ob ich…“
Er schüttelte den Kopf. „Seien Sie nicht prüde. Lieber Himmel, ich habe doch
nicht vor, Sie zu überfallen.“
„Entschuldigen Sie.“ Marilyn schien bedrückt, und er sah sie beinahe zornig an.
Der Lift kam herunter und gleichzeitig fiel Marilyn Maria ein. Natürlich, seine
Tochter würde mit ihnen essen. Darum fuhren sie zu seinen Räumen hinauf.
An mehreren Türen vorbei erreichten sie Nicholas Vitales Zimmerflucht. Als er
öffnete, blieb Marilyn überrascht stehen. Noch nie hatte sie so viel Luxus
gesehen, einen solchen Raum betreten. Es dauerte ein Weilchen, bis ihr klar
wurde, daß außer ihnen niemand darin war.
Nicholas legte seinen Mantel ab und beobachtete ihr atemloses Erstaunen.
„Ich schätze, daß der Raum Ihre Anerkennung findet“, bemerkte er, und sie fuhr
hastig zu ihm herum.
„Es ist wie eine Filmdekoration“, murmelte sie. „Ich kann kaum glauben, daß ich
hier bin. Träume ich?“
Er lächelte. „Ziehen Sie Ihren Mantel aus.“
Marilyn fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. „Ich dachte, daß Ihre
Tochter heute angekommen ist.“
„Ist sie auch. Warum?“
„Wo ist sie?“
„Ich nehme an, in ihrem Zimmer. Möchten Sie etwas trinken?“
Während er den Raum durchquerte, legte Marilyn sich die Hand auf den Magen.
„Ich glaube nicht. Ich bin nicht an Alkohol gewöhnt.“
„Unsinn. Ein Glas mehr wird Ihnen nicht schaden.“ Er schenkte ein und sah dann,
daß sie ihren Mantel immer noch nicht abgelegt hatte. Er ging auf sie zu, um ihr
dabei zu helfen. Als er sie jetzt ansah, war sein Blick ernst.
„Ich lese in Ihnen wie in einem offenen Buch, Marilyn. Maria hat ihre eigenen
Räume ein Stück weiter oben im Korridor. In einer Wohnung zusammen wären
wir uns dauernd im Wege. Sie ist nicht allein, sie hat eine Art Gesellschafterin bei
sich, verstehen Sie?“
„Führen alle diese Türen hier nicht ins Schlafzimmer?“
„Nur zwei davon. Möchten Sie sich einmal umschauen?“
Marilyn fühlte sich noch immer unsicher. Ihm entging ihre Verlegenheit nicht.
„Kommen Sie“, sagte er. „Ich wollte Ihnen ohnehin etwas zeigen.“
Er riß die Tür auf, die in ein großes, feudales Schlafzimmer führte und schob sie
sanft in den Raum hinein. „Bitte. Wie gefällt Ihnen das?“
Der Blickfang in diesem riesigen Zimmer war das sehr breite Doppelbett. Im
Grunde ein Himmelbett, dessen weiße Satinvorhänge herabgelassen werden
konnten. Die Decke über dem Bett war geschnitzt und zeigte Amor, den
Liebesgott, mit Pfeil und Bogen.
„Ich vermute, daß dies die Brautgemächer des Hotels sind“, lachte Nicholas.
„Können Sie sich vorstellen, daß ich darin schlafe?“
Marilyn blickte zu ihm auf. „Eigentlich nicht.“
„Jedenfalls… nicht allein.“ Ihre Augen erinnerten ihn daran, wie allein sie hier
waren und er zwang sich, von ihr wegzusehen. „Kommen Sie weiter, ich zeige
Ihnen mein Zimmer.“
Er öffnete eine andere Tür, die in ein sehr männliches Zimmer mit schweren
dunklen Möbeln führte. Es hatte nichts von der üppigen Ausstattung des
Nebenraums.
„Das Bett ist bequem“, bemerkte er spöttisch. „Ich bin jederzeit bereit
zuzugeben, daß ich Wert auf ein bequemes Bett lege.“
Marilyn wandte sich ab. Sich Nicholas im Bett vorzustellen, war ein zu
verwirrender Gedanke.
„Und jetzt“, sagte er, „habe ich ein Geschenk für Sie.“
„Für mich?“ fragte Marilyn überrascht.
Er nahm einen durchsichtigen Karton vom Tisch und legte ihn in ihre Hände. „Da
ich mir dachte, Diana würde nicht einverstanden sein, zog ich es vor, mit der
Überreichung zu warten, bis wir allein sind.“
Marilyn blickte auf einen Orchideenzweig mit bernsteinfarbenen Blüten, so hell
wie ihr Haar. Sie war noch nie mit diesen schönen, kostbaren Blumen beschenkt
worden. Vorsichtig hob sie den Deckel und nahm den Zweig aus der Hülle.
„Die sind ja wundervoll!“ rief sie und blickte zu ihm auf. „Ich danke Ihnen so sehr
dafür.“
Er zuckte die Achseln. „Sie müssen sie an Ihr Kleid stecken, erst dann kommen
sie voll zur Wirkung.“
Marilyn befolgte seinen Rat.
Ein Klopfen an der Tür kündete die Ankunft zweier Kellner an, die auf einem
Servierwagen das Essen brachten, das Nicholas bestellt hatte. Der Tisch war
bereits mit schimmerndem Silber und Kristall gedeckt, Kerzen brannten. Die
Kellner blieben zur Bedienung, und Marilyn war sich ihrer neugierigen Blicke
bewußt. Wahrscheinlich ahnten sie, daß sie eine solche Umgebung nicht gewöhnt
war. Sie bildete es sich jedenfalls ein, und das hatte zur Folge, daß ihr fast der
Appetit verging.
Dabei waren die Gerichte vorzüglich zubereitet, der Koch schien noch besser zu
sein als der im Hotel Krone. Zum Nachtisch gab es flambierte Kirschen mit Eis.
Endlich räumten die Kellner den Tisch ab, und nachdem sie den Kaffee serviert
hatten, zogen sie sich zurück.
„Sie haben zuwenig gegessen“, sagte Nicholas, wobei er ein Glas Bananenlikör
vor sie hinstellte.
Marilyn sah ihn offen an. „Ich bin nicht daran gewöhnt, beim Essen so beobachtet
zu werden.“
„Dann soll es nicht wieder geschehen. Hat es Ihnen trotzdem besser gefallen als im großen Speisesaal?“ „Davon abgesehen, ja.“ Sie lächelte. „Der Likör ist köstlich.“ „Freut mich. Wollen wir es uns nicht etwas gemütlicher machen und uns dort drüben hinsetzen?“ Marilyn erhob sich sofort und ging neben ihm auf die Sitzgarnitur zu, um in den weichen Kissen des weißen Ledersofas fast zu versinken. Zu ihrem Erstaunen nahm Nicholas neben ihr Platz. Er lehnte sich zurück und musterte sie aufmerksam. „Erzählen Sie mir mehr von sich“, bat er. Marilyn versuchte, auszuweichen. „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Wie spät ist es übrigens?“ Nicholas warf einen Blick auf seine Uhr. „Viertel nach neun.“ „Schon?“ Marilyn konnte nicht fassen, wie schnell die Zeit verflogen war. „Es ist noch früh“, berichtigte Nicholas. „Wechseln Sie nicht das Thema. Ich möchte mehr über Dianas Vater wissen. Wie war er?“ Die Hände wurden ihr feucht. Befangenheit ergriff sie. „Sie… Sie meinen…Joe?“ „Wen sonst? Erzählen Sie mir von ihm. Wie war er?“ Marilyn straffte die Schultern. „Joe war ein ganz normaler Mensch, gar nicht außergewöhnlich…“ „Was haben Sie zu verbergen?“ unterbrach Nicholas sie ungeduldig. Marilyn erschauerte. Er schien entspannt, aber der Schein trog. In seinen Zügen lag die Wachsamkeit eines Raubtiers, das bereit ist, sich jeden Augenblick auf seine Beute zu stürzen. „Nichts“, sagte sie und zwang ein Lächeln auf ihre Lippen. „Ich finde nur, daß mein Leben – im Vergleich zu Ihrer Art zu leben – äußerst langweilig ist.“ Nicholas blickte sie skeptisch an. Anscheinend glaubte er ihr nicht. Trotzdem konnte er unmöglich einen Verdacht haben. „Sie sind nervös“, erklärte er direkt und lehnte sich vor, um sein Glas abzustellen. Marilyns Blicke folgten jeder seiner Bewegungen. Nicht aus Neugier, sondern weil sie sich magnetisch von ihm angezogen fühlte. Was war es, das ihm diese physische Anziehungskraft verlieh? „Ich… ich glaube, ich sollte gehen“, murmelte sie. Sie neigte den Kopf und drehte den Ehering an ihrem Finger. Ihr Haar fiel wie ein seidener Vorhang herab und verbarg ihm ihr Gesicht. Sie hätte beinahe aufgeschrien, als sie die Berührung seiner Hand spürte. Er strick ihr das Haar auf seiner Seite hinters Ohr zurück. „Damit ich Sie besser sehen kann“, lächelte er. Sie hob den Blick. Er wirkte entspannt wie zuvor und war es nicht. Seine Hand bewegte sich weiter, legte sich liebkosend auf ihren Nacken. Er begann sie zu streicheln, sein Daumen beschrieb dabei einen kreisenden Zirkel. Es weckte Gefühle, vor deren Intensität sie sich fürchtete. Ihr war klar, daß hinter allem, was er tat, eine große Erfahrung lag. Aber das änderte nichts an der Wirkung, die er auf sie ausübte. „Bitte“, protestierte sie leise und hob die Hand, um ihn abzuwehren. Aber er fing4hre Hand auf, hob sie an seine Lippen und küßte die Handfläche mit leidenschaftlicher Beharrlichkeit. „Sie haben so viel Angst“, sagte er. „Das* ist unnötig. Ich werde Ihnen nicht weh tun.“ „Ich fürchte mich nicht!“ rief sie empört. „Dann rücken Sie näher heran.“ Marilyn sprang hastig auf und entzog ihm ihre Hand. O ja, sie hatte Angst, es stimmte. Adrian hatte recht. Sie war Nicholas Vitale nicht gewachsen. Er war
erfahren, sie nicht. Falls sie erwartet hatte, er würde nun ebenfalls aufstehen, so wurde sie enttäuscht. Er blieb einfach sitzen und ergötzte sich an ihrer Verwirrung. Sie warf zornig ihr Haar in den Nacken. „Sie scheinen das sehr amüsant zu finden!“ Nicholas zuckte die Achseln. Er hatte nicht vor, seine eigenen Gefühle zu analysieren. Meistens neigte er dazu, den Widerstand einer Frau zu brechen. Bei Marilyn spürte er den fast überwältigenden Wunsch, sie zu beschützen. Sogar vor sich selbst, falls es nötig wurde. „Setzen Sie sich wieder“, sagte er nachsichtig. Marilyn schüttelte den Kopf. „Nein, ich muß gehen.“ Jetzt erhob er sich. Er war noch wesentlich größer als sie, und sofort fühlte sie sich im Nachteil. Auch sehnte sie sich plötzlich unerträglich nach diesem Mann. Sie begehrte ihn, und konnte sich nicht dazu zwingen, mehr Abstand zwischen ihn und sich zu legen. Seine Augen waren wieder dunkel und unergründlich. Sie glaubte, ein leises Lächeln um seine Lippen spielen zu sehen. „Nun, Marilyn“, sagte erweich. „Nun – was?“ fragte sie atemlos. Er hob beide Hände, griff nach ihren Schultern und zog sie an sich. Sie spürte die Härte seines Körpers, fühlte, wie sie nachgab und sich an ihn lehnte. Er beugte sich über sie, sein Mund berührte ihren Hals, und diese warme, zärtliche Berührung stieg ihr schwerer zu Kopf als alles, was sie heute abend getrunken hatte. Er küßte ihre Schultern, ihre Ohren, den Haaransatz, und Marilyn brannte darauf, daß er auch ihren Mund küßte. Aber er tat es nicht. Sie schlang die Arme um seinen Hals. Mit bebender Stimme bat sie: „Bitte, hören Sie auf, mich zu quälen.“ Er sah auf sie nieder, der Blick dunkel und fordernd. Sein Mund öffnete sich, und mit einem Aufstöhnen preßte er seine Lippen auf ihre. Marilyn umfaßte seinen Nacken, sie drückte sich an ihn und erlebte ein Entzücken, das ihr bisher unbekannt gewesen war. Ihre Leidenschaft kam der seinen gleich. Nur ahnte sie nichts von seinen Qualen, bis er sie jäh losließ und sanft von sich schob. „Lieber Himmel!“ murmelte er. Er trat an den Tisch und goß sich einen Whisky ein. Als er das Glas geleert hatte, drehte er sich zu ihr um und betrachtete sie aufmerksam. „Ich hatte recht“, sagte er wie zu sich selbst. „Aber haben Sie eine Ahnung, wie gefährlich das mit uns beiden ist?“ Marilyn war immer noch atemlos. Doch sie bereute nichts, hatte keinerlei Schuldgefühle, im Gegenteil. Mit einem Gefühl der Verzückung dachte sie an die vergangenen Minuten zurück. „Ich glaube, meine Angst vor Ihnen ist verflogen“, lächelte sie. Ihre Augen tanzten. Nicholas kam wieder auf sie zu. Fest packte er ihre Schultern. „Marilyn, so darfst du mich nicht herausfordern! Weißt du denn überhaupt, ob du mir vertrauen kannst? Hast du eine Ahnung, wie nahe ich daran war, völlig die Beherrschung zu verlieren?“ Marilyn fuhr ein wenig zurück. „Nun gut“, sagte sie hastig, „jetzt bin ich aufgeklärt. Ich werde meinen Mantel holen.“ Aber Nicholas zog sie wieder an sich. Sie fühlte seinen Mund auf ihrem Haar, sein Atem ging schwer. „Marilyn, ich bin nicht in der Verfassung, dich so zu halten und normal zu reden. Ich begehre dich. Gott, wie begehre ich dich! Aber was ich für dich empfinde, ist
mehr, hörst du, mehr als ich vielleicht je für eine Frau empfunden habe.“ Er sah
sie an, er war blaß unter der Sonnenbräune. „Marilyn, zwinge mich nicht, mich
selbst zu hassen.“
„Warum denn?“ Marilyn legte ihm zärtlich die Hand an die Wange. „Du hast den
Verstand verloren, Nicholas. Wahrscheinlich wirst du das alles schon morgen früh
bereuen.“
Er lächelte nicht. Er fragte ernst: „Wenn ich dich jetzt lieben wollte, Marilyn,
könntest du dich mir dann verweigern?“
Es gelang ihr nicht, ihre Verlegenheit zu verbergen. Aber sie schüttelte den Kopf
in wortloser Verneinung.
„Ich bin also sehr ritterlich, nicht wahr?“ sagte er leise und schob sie von sich.
„Ich bringe dich jetzt nach Hause.“
Während er Marilyn in den Mantel half, beobachtete er sie. Noch nie war es einer
Frau gelungen, seine Gefühle derart aufzurühren. Als er sie für den heutigen Tag
eingeladen hatte, war ihm klar gewesen, daß etwas Bedeutungsvolles geschah.
Aber erst jetzt erkannte er, wie mächtig es war. Seit Joannas Tod hatte er
Dutzende von Frauen gekannt, die sich von ihm und besonders von seinem
Reichtum angezogen fühlten. Marilyn, das wußte er, war anders. Er war davon
sogar fest überzeugt, obgleich er sie kaum kannte. Er verspürte nicht den
Wunsch, rücksichtslos mit ihr umzuspringen. Er wünschte sich, ihre Gedanken
ebenso kennenzulernen wie die Wonnen ihres schönen Körpers. Das war ein ganz
neues Gefühl für ihn. Er empfand eine unvernünftige Eifersucht auf den toten
Joe.
Marilyn wandte sich ihm zu. „Ich bin fertig.“
„Wann sehe ich dich wieder?“ fragte er.
Sie hob die schmalen Schultern. „Ich weiß es nicht.“
Nicholas schlüpfte in seinen warmen Mantel. „Wirklich nicht?“
Marilyn sah ihn hilflos an. „Du darfst dich nicht über mich lustig machen.“ Sie
neigte den Kopf in der ihr eigenen Art und ließ ihr seidiges Haar über ihre
Wangen fallen.
Nicholas knöpfte seinen Mantel zu. Er wagte nicht, sie noch einmal zu berühren.
Er war es nicht gewohnt, sich etwas zu versagen, und Marilyn wirkte so
verführerisch, daß er sie am liebsten bei sich behalten hätte.
„Okay“, sagte er heiser. „Morgen.“
„Aber morgen… Diana wird das Schlimmste annehmen. Ich kann sie doch nicht
zwei Abende hintereinander allein lassen.“
„Warum nicht?“ Er überlegte. „Also gut, bring sie mit, und ich werde Maria
einladen, mit uns zu essen. Wie wäre das?“
Er machte diesen Vorschlag nur ungern, doch er mußte sie einfach morgen
sehen.
Marilyn lächelte. „Danke“, murmelte sie, aber er wandte sich ab.
„Darf ich dich morgen anrufen, um dir Bescheid zu geben?“
Nicholas verzog das Gesicht. „Gewiß. Klingt es sehr unhöflich, wenn ich die
Hoffnung ausspreche, daß sie ablehnt? Komm, gehen wir!“
5. KAPITEL Die Fahrt bis zu den Evenwood Gardens war nur kurz, und Marilyn bedauerte,
daß der Abend vorbei war. Sich von Nicholas zu trennen, war fast, als trenne sie
sich von einem Teil ihrer selbst.
„Du rufst mich morgen am besten in der Fabrik an. Ich werde den ganzen Tag
dort sein. Du kennst die Nummer. Mein Liebes“, sagte er, „ich werde sehr auf
deinen Anruf warten. Schade, daß du arbeitest. Ich könnte dich öfter sehen,
wenn du frei wärst.“
Marilyn nickte „Hm, das wäre schön. Aber ich muß jetzt gehen, es ist schon spät.
Ich danke dir noch einmal, Nicholas.“
„Nenne mich Nick“, bat er. Ein Lächeln stieg in seine Augen, das sich in den ihren
widerspiegelte.
Diana war noch wach. Sie lag lesend im Bett, als Marilyn eintrat. Es war erst
zehn, aber Diana schien äußerst verärgert.
„Ihr habt fast zehn Minuten im Wagen gesessen!“ sagte sie vorwurfsvoll.
Marilyn sah sie erstaunt an. „Hast du mir nachspioniert?“
Diana hatte den Anstand, verlegen zu werden. „Ich hörte den Wagen vorfahren“,
erklärte sie, „und vermutete, daß ihr es wart.“
„Ach so.“ Marilyn zog ihren Mantel aus und hängte ihn in den Schrank. „Hat
Nicholas Vitale dir gefallen?“ fragte sie.
„Um ein Urteil abzugeben, kenne ich ihn zuwenig“, gab Diana mürrisch zurück.
„Er scheint in Ordnung.“
Marilyn atmete auf. „Diana“, sagte sie behutsam, „er hat eine Tochter, die etwas
jünger ist als du. Möchtest du morgen abend mit ihnen essen?“
Diana starrte ihre Mutter an. „Allein?“
„Natürlich nicht.“ Marilyn seufzte. „Zu viert.“
Diana antwortete nicht sofort, sondern überlegte, ob sie zusagen sollte oder
nicht. Wenn sie es nicht tat, würde Marilyn vielleicht wieder allein mit ihm essen
gehen, erklärte sie sich jedoch einverstanden, dann sah es so aus, als freue sie
sich über diese neue Bekanntschaft ihrer Mutter. Das war jedoch keineswegs der
Fall.
Marilyn begann sich zu entkleiden und ging ins Badezimmer. Sie hoffte, Diana
würde sich einverstanden erklären; dann hätte sie Gelegenheit, sich ein besseres
Urteil über Nicholas zu bilden.
Diana schien einen schweren Kampf mit sich auszufechten. Endlich entschloß sie
sich zu einer Zusage, ihre Neugier siegte.
Welch ein Triumph, wenn sie den Mädchen in der Schule erzählen konnte, daß sie
mit dem Besitzer der AutoWerke essen würde!
„Also gut“, sagte sie, wenn auch etwas verdrossen. „Erwarte aber keine
Begeisterungsausbrüche von mir, was Mr. Vitale betrifft. Vielleicht amüsiert er
sich nur ein wenig auf deine Kosten. Man weiß ja, wie diese Leute leben!“
„Ich freue mich, daß du mitkommen willst“, erwiderte Marilyn. Sie wußte, Diana
versuchte gegen sie anzukämpfen. Und sie kannte ihre Tochter gut genug, um zu
ahnen, daß diese am morgigen Abend Unfrieden säen würde.
Am Mittwoch fand Marilyn es schwierig, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Der
kommende Abend zeichnete sich beinahe unheilverkündend vor ihr ab. Diana
bereitete ihr Sorgen. Wenn sie sich nun ungezogen benahm? Sie verfügte über
ihre Mutter wie über einen Besitz und ertrug es nicht, daß plötzlich ein
Außenstehender ein solches Interesse an ihr nahm.
In der Frühstückspause fand Marilyn Gelegenheit, Nicholas anzurufen. Sie
telefonierte aus dem Kantinenbüro, um Adrian nicht zu weiteren Kommentaren
herauszufordern, falls er zufällig dazukam.
Nicholas meldete sich sofort.
„Nun, wie lautet das Verdikt?“ fragte er mit seiner dunklen Stimme, die ihr unter
die Haut ging.
„Sie wird mitkommen, aber ich kann nicht behaupten, daß ich mich darauf
freue.“ Als er auflachte, setzte sie hinzu: „Du kennst Diana noch nicht. Vielleicht
stellt sie etwas Schreckliches an und bringt uns alle in Verlegenheit.“
„Nimm es nicht so wichtig. Sie ist noch ein Kind, und mit Kindern bin ich noch
immer fertiggeworden.“
„Ich wünschte, ich hätte deine Zuversicht“, sagte Marilyn.
„Keine Angst. Sollte es nötig werden, nehme ich mir Diana vor.“
„Wenn tatsächlich etwas Unvorhergesehenes geschieht, wirst du dann keine Notiz
von dem nehmen, was sie sagt? Ich meine...“
„Marilyn, mein Herz“, unterbrach Nicholas sie, „ich habe selbst eine Tochter.
Außerdem weiß ich mehr über das Leben als du. Es ist kaum möglich, daß irgend
etwas, das sie sagt, mich beeinflussen könnte.“
Marilyn dachte noch lange über seine Worte nach. Vielleicht hatte er recht. Aber
dennoch – wie würde er über ihre Geschichte urteilen, wenn er etwas erführe? In
seinen Augen war sie jung und naiv, das bezauberte ihn. Würde er sie noch für
naiv halten, wenn er alles von ihr wüßte?
Nicholas holte sie um sieben Uhr fünfzehn ab. Marilyn trug ein schwingendes
grünes Jerseykleid, das gut zu ihrem Haar paßte, Diana ein erdbeerfarbenes
langes Kleid. Beide sahen modisch und attraktiv aus, Nicholas machte keinen
Hehl aus seiner Bewunderung.
Diana hielt an allen ihren Zweifeln fest. Aber sie mußte zugeben, daß Nicholas
blendend aussah. Er wirkte ausgeglichen und selbstsicher. Marilyn empfand das
gleiche Glücksgefühl wie immer, wenn er plötzlich vor ihr stand.
Im Hotel fuhren sie sofort zu Nicholas' Suite hinauf. Diana hatte auf der Fahrt
wenig gesprochen. Jetzt war sie damit beschäftigt, die ihr ungewohnte
Atmosphäre von Luxus und Reichtum in sich aufzunehmen. Sie befanden sich in
Nicholas' Wohnzimmer. Von der weißledernen Couch erhob sich ein zierliches,
dunkelhaariges Mädchen.
„Das ist Maria, Marilyn“, sagte Nicholas, die Finger um Marilyns Handgelenk
geschlossen. „Maria: Mrs. Scott.“
Maria Vitale machte einen besonnenen Eindruck, sie schien ganz und gar nicht
der verwöhnte Teenager, den Nicholas beschrieben hatte. Ihr dunkles, leicht
gelocktes Haar war lang. Sie trug einen Hosenanzug aus dunkelblauem Samt,
dem man ansah, daß er aus einem teuren Laden stammte.
„Ich freue mich“, sagte sie und schüttelte Marilyn herzlich die Hand.
„Ebenfalls, Maria“, lächelte Marilyn. Nicholas' Blick war voller Rätsel, aber sie war
sicher, daß er sich über ihr Erstaunen amüsierte.
Zögernd trat Diana näher. Auch sie fand Maria ganz anders als sie erwartet
hatte.1 Ihre eigene Unzulänglichkeit bedrückte sie, sie wirkte gehemmt und
verdrossen. Maria jedoch schien es nicht zu bemerken. Nachdem sie Marilyns
Tochter die Hand gereicht hatte, trat sie neben ihren Vater.
„Essen wir hier oben?“
Nicholas wandte sich Marilyn zu. „Möchtest du unten essen?“ fragte er, und
Marilyn wurde sich Dianas Mißbilligung bewußt, weil er sie duzte und es für nötig
befand, ihre Meinung einzuholen.
„Es wird wohl am besten sein“, antwortete sie leise.
„Gut. Wir trinken hier etwas und gehen dann hinunter. Was möchtest du?
Dasselbe wie gestern?“
Marilyn nickte, und Maria, die Nicholas zur Hausbar folgte, sagte zu Diana: „Ich
nehme eine Orangeade. Ist Ihnen das auch recht, Diana?“
„Danke, das wäre mir sehr lieb.“
Die Atmosphäre war wie mit Elektrizität geladen. Vielleicht bildete Marilyn sich
das auch nur ein, aber Dianas Anwesenheit ließ es so erscheinen.
Nachdem sie Platz genommen hatten, wandte sich Maria Marilyn zu.
„Sagen Sie, haben Sie Ihr ganzes Leben in Otterbury zugebracht?“
Marilyn schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin in London geboren. Wir haben bis vor
fünf Jahren dort gelebt.“
„Ach so. Ich liebe London“, sagte Maria begeistert. „Ich bin schon mehrmals in
England gewesen und möchte gern in London wohnen, zumindest ab und zu.“
„Dann wirst du einen Engländer heiraten müssen“, bemerkte Nicholas scherzend.
Aber Maria schüttelte den Kopf.
„Ich glaube, ich werde einen Italiener heiraten“, meinte sie nachdenklich. „Sie
sind so attraktiv und haben so ausdrucksvolle Gesichter. Finden Sie nicht auch,
Mrs. Scott?“
Marilyn war die Frage zu direkt. „Ich weiß im Grunde sehr wenig über Italiener“,
wich sie aus.
„Das wird sich bestimmt bald ändern“, erklärte Maria heiter.
Marilyn senkte die Wimpern, und Maria blickte Diana an. „Was meinen Sie dazu?“
fragte sie, bemüht, Diana in die Unterhaltung einzubeziehen.
Diana zuckte lässig die Achseln. „Ich werde wohl kaum heiraten. Ich finde, daß
es wichtiger ist, Karriere zu machen, als die Sklavin irgendeines Mannes zu sein.“
Marilyn fuhr herum. Diana hatte sich also entschlossen, schwierig zu sein. Sie
wollte eben einen Tadel aussprechen, als Nicholas die Hand hob und sich in
seinem Sessel vorbeugte.
„Die Sklavin irgendeines Mannes!“ wiederholte er lächelnd. „Was wissen Sie
darüber, Diana?“
„Ich weiß, daß die meisten Männer von ihren Frauen bedient werden wollen!“
antwortete Diana mürrisch.
„Das kommt doch ganz auf die Verhältnisse an“, wandte Nicholas ein. „Viele
Männer meiner Bekanntschaft kümmern sich ebenso um ihr Heim und die
Erziehung der Kinder wie ihre Frauen. Außerdem ist eine Ehe doch weit mehr als
das Führen eines Haushalts.“
Diana krauste die Nase und gab zu verstehen, daß sie an seiner Meinung nicht
interessiert war. „Ich kann mir jedenfalls etwas Besseres denken, als mir die
langweiligen Ansichten eines Mannes anhören zu müssen.“
Marilyn war entsetzt. Aber Nicholas hob lediglich die dunklen Brauen und blickte
angemessen gekränkt drein. Dabei sprühten seine Augen vor Spott, so daß Diana
das entsetzliche Gefühl bekam, sich lächerlich gemacht zu haben. Auch Maria
wirkte auf einmal reif und überlegen, obwohl sie doch jünger war als sie. Diana
preßte wütend die Lippen zusammen, Haß erfüllte sie.
Der Abend wurde ein Mißerfolg. Marilyn fühlte sich die ganze Zeit über
beklommen. Sie war froh, als das Essen vorbei war und sie aufbrechen konnten.
Zwar hatten Nicholas und Maria sich Mühe gegeben, sie aufzuheitern. Aber es
half nichts, sie wollte fort.
Gegen halb zehn brachte Nicholas sie nach Hause. Als sie ihr Ziel erreicht hatten,
wandte er sich auf seinem Sitz um und sagte:
„Bitte, gehen Sie doch schon nach oben, Diana. Ich möchte noch mit Ihrer Mutter
sprechen.“
Diana stieg wortlos aus. Sie verschwand ohne Gruß, ohne sich für das köstliche
Essen zu bedanken. Marilyn entschuldigte sich für die Manierenlosigkeit ihrer
Tochter.
„Was für ein schrecklicher Abend“, sagte sie unglücklich. „Ich weiß nicht, was ihr
von uns denken werdet.“
Nicholas legte ihr eine Hand ans Gesicht und betrachtete sie nachdenklich.
„Dianas Benehmen hat nichts mit dir zu tun, Liebes. Sie ist nur ganz
durcheinander. Verwirrt von Dingen, die sie nicht versteht.“ Er machte eine
Pause. „Ich habe dir auch nicht Besonders helfen können, nicht wahr?“
Sie ließ den Kopf an seine Schulter sinken. „Sie hat keinen Grund, so zu sein.
Nach all den Jahren muß sie doch wissen, daß ich ihr unter keinen Umständen
weh tun würde.“
Nicholas' Lippen streichelten ihre Wange. „Ich muß weg“, sagte er widerstrebend.
„Können wir uns morgen sehen?“
„Vielleicht übermorgen?“ fragte sie unsicher. „Bis dahin ist es mir vielleicht
gelungen, Diana zu überzeugen.“
„Also gut. Wir essen zusammen, einverstanden?“
Marilyn stieg aus und sah ihn noch einmal bittend an. „Du verstehst mich,
Nicholas, nicht wahr?“
Er lächelte. „Ich versuche es jedenfalls. Sorge dafür, daß du bereit bist, wenn ich
dich in zwei Tagen abhole.“ Er warf ihr noch einen nachdenklichen Blick zu und
fuhr davon.
Als Marilyn in ihre Wohnung kam, lag Diana bereits im Bett und tat, als ob sie
schliefe. Es hatte wenig Sinn, unter diesen Umständen eine Auseinandersetzung
anzufangen. Also legte auch Marilyn sich ohne den üblichen Gutenachtgruß hin.
Am Morgen verließ Diana das Haus, ohne sich zu verabschieden. Obgleich es
Marilyn schmerzte, hielt sie sie doch nicht zurück. Warum mußte sich Diana so
benehmen? Es war doch keinerlei Entscheidung gefallen. Diana wußte lediglich,
daß ihre Mutter und Nicholas Vitale befreundet waren. Es bestand gar kein Grund
für ihre Abneigung, außer reiner Eifersucht, und die mußte Diana ausgetrieben
werden.
In der Schule arbeitete Marilyn ganz automatisch, während ihre Gedanken sich
mit dem vergangenen Abend beschäftigten.
Als sie und Diana abends beim Essen saßen, fragte Diana:
„Gehst du heute wieder aus?“
Marilyn sah auf. „Nein. Warum?“ Es fiel ihr nach wie vor schwer, das Verhalten
ihrer Tochter zu verstehen.
Diana zuckte die Achseln. „Ich frage nur. Bist du böse mit mir?“
Marilyn wollte nicht gleich nachgiebig sein. „Wie kommst du wohl darauf?“
erkundigte sie sich kühl.
Diana zuckte die Achsel. „Es wäre mir auch egal. Ich wollte ja von vornherein
nicht mitgehen. Das ist nicht unsere Art von Leuten.“
Marilyn starrte sie aufgebracht an. „Und wer ist dann unsere Art?“ fragte sie
wütend. „Wahrscheinlich wirst du jetzt wieder Adrian ins Gespräch bringen.“
„Er amüsiert sich jedenfalls nicht auf deine Kosten“, gab Diana bissig zurück. „Du
bildest dir doch hoffentlich1 nicht ein, daß Nicholas Vitale ernst zu nehmende
Absichten hat!“
„Du kannst sehr häßlich und egoistisch sein“, sagte Marilyn mühsam. „Aber
glaube nur nicht, daß du mich auf irgendeine Weise gegen ihn beeinflussen
kannst. Ich bin alt genug, mich um meine Angelegenheiten selbst zu kümmern.“
„Du bist also entschlossen, einen Narren aus dir zu machen!“ schrie Diana.
Einen rasenden Herzschlag lang verspürte Marilyn den Wunsch, Diana ins Gesicht
zu schlagen. Ihre Tochter hatte kein Recht, so zu ihr zu sprechen, ganz gleich,
welcher Art ihre Gefühle sein mochten.
Aber Marilyn beherrschte sich. Sie ging ins Schlafzimmer und zog die Tür hinter
sich zu. Diana merkte bereits, daß sie zu weit gegangen war, irgendein kleiner
Teufel in ihr hatte sie angetrieben.
Als Marilyn sich am nächsten Abend zum Ausgehen bereit machte, überlegte sie,
ob es nicht falsch war, wegen eines Mannes, den sie kaum kannte, die Zuneigung
ihrer Tochter aufs Spiel zu setzen. Aber dann ging sie die Treppe hinunter, um
ihn zu treffen, und alle ihre Zweifel waren verflogen.
Es war wärmer heute. Sie trug ein Kostüm aus bronzefarbenem Tweed, dessen
schmale Form sie gut kleidete. Das Haar hatte sie zu einem Knoten geschlungen,
nur ein paar bernsteinfarbene Löckchen ringelten sich sanft und schimmernd vor
ihren Ohren.
Der Frühling schien endlich gekommen zu sein. Die Luft war rein und frisch. Das
Murmeln des nahen Flusses beruhigte ihre Nerven, und sie fühlte plötzlich, daß
sie richtig handelte.
Nicholas half ihr beim Einsteigen. Seine Augen nahmen ihre Erscheinung in sich
auf. „Warum trägst du dein Haar heute nicht offen?“ fragte er ein wenig
mißmutig.
„Gefällt es dir so nicht?“
„Offen mag ich es lieber. Laß es dir nie abschneiden, hörst du?“
Marilyn lächelte entspannt. Seine Augen liebkosten sie, ehe er den Wagen in
Bewegung setzte.
Heute fuhren sie aus Otterbury heraus zu einem kleinen Hotel, das Marilyn bisher
unbekannt war. Ehe sie ausstiegen, wandte Nicholas sich ihr zu.
„Ich dachte, es wäre vielleicht besser, wenn wir nicht miteinander allein sind“,
sagte er. „Ist es dir recht?“
„Immer, solange ich nur bei dir bin“, erwiderte Marilyn. Er zog sie rasch an sich
und küßte sie.
Er behielt sie im Arm. „Liebes, ich habe schlechte Nachrichten.“
Marilyn spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. „Was ist geschehen?“
fragte sie erschrocken.
Er blickte in ihre weiten Augen. „Ich fliege morgen nach Rom. Wirst du mich
vermissen?“
„Muß ich dir das erst sagen?“ murmelte Marilyn.
„Aber ich werde nur einige Tage fort sein.“
„Mein Gott…“ Marilyn starrte ihn an. „Ich glaubte, du gingest für immer fort.“
Nicholas lachte leise. „Ich weiß, ich wollte nur deine Reaktion prüfen.“
Sie zog die Brauen zusammen. „Das war gemein“, sagte sie vorwurfsvoll.
„Böse?“ Er lächelte, und sie legte die Hände um seinen Nacken. Es war
wundervoll, so vertraut mit ihm zu sein. Sie küßte ihn leicht auf den Mund und
fühlte, wie es ihn erregte. Er preßte sie an sich. Die Erregung sprang auf sie über
wie ein Funke. Atemlos und von Leidenschaft erfüllt klammerten sie sich
aneinander. „Wie soll ich das auf die Dauer nur aushalten?“ stöhnte Nicholas.
„Willst du wirklich, daß es mit uns weitergeht? Spielst du nicht etwa nur mit
mir?“ fragte Marilyn dicht an seinem Ohr.
Nicholas zwang sie, ihn anzusehen. Zorn war in seinen Augen.
„Ich wette, daß deine Tochter für diese Bemerkung verantwortlich ist“, gab er
wütend zurück.
„Ja“, gestand Marilyn, nahm seine Hand und legte sie in die sanfte Kurve ihres
Halses. Irgend etwas drückte hart. Sie zog seine Hand heran, um die Ursache zu
untersuchen. Es war ein schwerer Siegelring mit einem viereckig geschliffenen
Smaragd, den er am kleinen Finger trug. Der Ring mußte ein Vermögen wert
sein.
„Gefällt er dir?“ fragte er, als sie den Stein und die Buchstaben seines Monogramms berührte, die in das Gold graviert waren. „Er ist wunderbar. Hat deine Frau ihn dir geschenkt?“ Er schüttelte den Kopf. „Joanna und ich kannten uns nur wenige Monate, als wir heirateten. Ihr Vater hatte eine leitende Stellung in meiner amerikanischen Filiale. Ich erkannte damals nicht, daß Joanna in mir vorwiegend eine Möglichkeit sah, inmitten der internationalen Gesellschaft zu leben, das machte ihr Spaß. Als sie unser Baby dann erwartete, beschuldigte sie mich ernsthaft, ihr Leben ruiniert zu haben. Unglücklicherweise kam das Kind zu früh zur Welt. Joanna zog sich eine Infektion zu und starb bald darauf. Natürlich machte ich mir Vorwürfe, aber die Zeit heilt alle Wunden, und Maria war für mich ein guter Grund, weiterzuleben.“ „Wie traurig“, murmelte Marilyn verlegen. „Das liegt weit zurück“, meinte Nicholas. Er zog den Ring vom Finger. Auf einmal nahm er Marilyns Hand, entfernte den Ehering und ersetzte ihn durch den Siegelring. Sie blickte ihn verblüfft an. Er sagte leise: „Du bist die erste Frau, die einen Ring von mir in Liebe trägt. Bei Joanna war das anders. Man könnte fast sagen, daß mein Vater Joanna für mich gekauft hatte. Sie entstammte einer alten Bostoner Familie.“ Marilyn drehte den Ring an ihrem Finger. „Ich kann ihn doch unmöglich tragen, Nick“, wandte sie ein. „Warum denn nicht?“ Er zog sacht die Nadeln aus ihrem Haar, so daß es weich auf ihre Schultern herabfiel. „So ist es schon besser. Jetzt kann ich wenigstens meine Finger hindurchgleiten lassen.“ Marilyn erschauerte in seinen Armen. Er küßte sie, und es dauerte lange, bevor er sie freigab. „Ich rufe dich Montag aus Rom an und werde ständig mit dir Kontakt halten. Mittwoch oder Donnerstag müßte ich wieder hier sein. Trage meinen Ring, solange ich weg bin, bitte.“ Marilyn gab nach. „Also gut. Wenn du es willst.“ Angesichts der drohenden Trennung war der Rest des Abends bittersüß. Marilyn ahnte, daß die nächsten Tage ihr wie Jahre vorkommen würden. Auch Nicholas wurde sich bewußt, wie wichtig Marilyn für ihn geworden war. Am liebsten hätte er sie gebeten, mit ihm zu kommen, ihn zu heiraten. Aber es war zu früh dafür. Er mußte ihr etwas mehr Zeit lassen. Wenn er aus Italien zurückkam, wollte er ihr sagen, wie sehr er sie liebte. Vor ihrem Haus verließ er sie beinahe überstürzt, nachdem er nochmals versprochen hatte, sie so oft wie möglich anzurufen. Da sie zu Hause kein Telefon hatte, konnte er sie nur in der Schule erreichen, das störte ihn. Marilyn war den Tränen nahe, als sie die Schlußlichter seines Wagens verschwinden sah. Aber ihre Finger berührten seinen Ring, und sie fürchtete sich nicht mehr. In den folgenden Tagen lebte Marilyn wie unter einer Glasglocke, aus der sie nur auftauchte, wenn Nicholas anrief. Seine Stimme klang so nahe, als hätte er nie das Land verlassen. Diana gegenüber erwähnte sie nichts von seiner Abreise, und falls Diana den Ring bemerkte, so sagte sie jedenfalls nichts darüber. Es stand jedoch ein langer Artikel über Nicholas Vitales RomReise in der Zeitung. Den konnte Diana ganz bestimmt nicht übersehen haben. Am Sonnabend war Adrian erschienen, um sich zu erkundigen, ob ihre gewohnte Verabredung noch auf dem Plan stand. Marilyn sagte etwas ratlos: „Ja, wenn es Ihnen recht ist.“ Adrian runzelte die Stirn. „Sehen Sie diesen verdammten Italiener immer noch?“
Als Marilyn ihn verwundert anschaute, setzte er hinzu: „Ich habe Diana gestern
in der Stadt getroffen. Sie erzählte mir, daß sie mit Vitale ausgehen.“
„Kaum“, sagte sie abweisend. „Im Augenblick ist er in Rom.“
Adrian schien verblüfft. „Ist er so schnell zurückgefahren?“
„Er hat Geschäfte zu erledigen“, erklärte Marilyn und betrachtete ihre
Fingernägel, um seinem Blick auszuweichen.
„So.“ Adrian wandte sich zum Gehen. „Ich komme also um die gewohnte Zeit.“
„Noch etwas, Adrian: Ich möchte aber keine Wiederholung dieser Unterhaltung.
Wenn wir ausgehen, bitte ich Sie, Mr. Vitale aus dem Gespräch zu lassen.
Einverstanden?“
„Wie Sie wollen.“ Adrians Gesicht war gerötet, und es fiel ihm offensichtlich
schwer, weiterzusprechen. „Nimmt – nimmt Diana es gut auf?“
„Hat sie es Ihnen nicht gesagt?“ Marilyns Stimme klang eisig.
„Sie schien nicht allzu begeistert“, gab Adrian zu.
„Sie ist es nicht. Aber sie macht auch gar nicht den Versuch, Nick zu mögen.“
„Diesen Eindruck hatte ich nicht“, erwiderte Adrian trocken. „Sie sträubt sich
lediglich gegen Ihren – wie sie es nennt – lächerlichen Versuch, sich an Ihre
Jugend zu klammern.“
Es verschlug Marilyn die Sprache. Wie konnte Diana es wagen, mit Adrian über
sie zu reden?
„Ich… ich habe sie natürlich zurechtgewiesen“, gestand Adrian etwas verlegen.
Marilyn zog die feinen Brauen zusammen. „Wirklich? Haben Sie sie nicht noch
ermutigt? Sie ist Ihre Verbündete, nicht meine.“
„Das war unfair von Ihnen, Marilyn. Sie ist Ihre Tochter.“
„Glauben Sie, daß man mich das je vergessen läßt?“ rief sie verzweifelt. „Oh,
gehen Sie, Adrian. Lassen Sie mich in Ruhe.“
Doch er ging nicht. Er blieb. „Diana braucht einen Vater“, sagte er energisch.
„Nur dürfte es kein anderer als Sie sein“, versetzte Marilyn aufgebracht.
„Diana findet, daß ich wie Joe bin!“
Auf Marilyns Zunge brannten Worte, die sie nicht aussprechen durfte. Ihr
Geheimnis mußte sie für sich behalten.
„Sie haben mir von Dianas Vater erzählt“, fuhr Adrian erbarmungslos fort. „Ich
kann nur annehmen, daß Ihre Tochter Ihnen nach gerät, denn Joe scheint kein
stürmischer Charakter gewesen zu sein. Diana braucht jemanden, der Einfluß auf
sie hat, sie leitet. Den Einfluß eines Mannes, der an Kinder gewöhnt ist.“
Marilyn schüttelte den Kopf. „Geben Sie denn nie auf, Adrian? Ich liebe Sie nicht.
Wenn ich aber wieder heirate, dann nur aus Liebe. Können Sie das nicht
verstehen?“
Adrian fragte resigniert: „Werden Sie Vitale wiedersehen?“
„Ja, ja!“ Marilyn schrie es fast.
Er musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. „Sie scheinen ihn tatsächlich
ernst zu nehmen. Er muß im Lauf der Jahre Hunderte von Frauen kennengelernt
haben. Haben Sie eine Ahnung von dem Leben, das ein solcher Mann führt? Von
den Frauen, mit denen er geschlafen hat?“
„Hören Sie auf!“
„Nein! Jemand muß Ihnen Verstand beibringen, es wird höchste Zeit. Vielleicht
ist er schon jetzt bei einer anderen Frau. Wissen Sie, was er in Rom treibt?“
Noch ehe Marilyn sich zurückhalten konnte, schlug ihre Hand zu. Adrian hielt sich
die Wange.
Das hatte sie nicht gewollt. Ihr war schrecklich zumute, und sie ließ sich in einen
Sessel fallen. „Es tut mir leid, Adrian“, sagte sie erschöpft. „Aber ich fürchte, Sie
haben es herausgefordert.“
Er ging langsam zur Tür. „Sind Sie sicher, daß Sie mich heute abend sehen wollen?“ fragte er. „Das kommt auf Sie an.“ Er zuckte die Achseln. „Vielleicht haben Sie recht. Sie müssen Ihr eigenes Leben führen. Ich werde Ihnen nicht mehr im Wege stehen.“ Marilyn wußte, wieviel ihn diese Worte kosteten. Sie lächelte mühsam. „O Adrian“, sagte sie traurig. „Sie sind wahrscheinlich zu gut für mich.“ Auch Adrian lächelte, seine Wange glühte noch von dem festen Schlag ihrer Hand. „Wahrscheinlich“, bestätigte er und ging zur Tür. „Bis heute abend.“ Während Marilyn sich an ihre Hausarbeit machte, dachte sie über manches nach. Nicks Reichtum, zum Beispiel. Wer sollte ihr glauben, daß sie ihn auch ohne das alles lieben würde? Dann Diana… Ihre Tochter war offensichtlich gegen diese Verbindung. Sie mochte Nicholas nicht, auch wenn Adrian anderer Meinung zu sein schien. Ob Diana sich wohl freute, daß Nicholas abgereist war? Ob sie glaubte, daß es das Ende ihrer Beziehung bedeutete? Auch an ihre Vergangenheit dachte Marilyn. Sie würde Nicholas die Wahrheit über alles sagen müssen, sonst konnte sie es nicht wagen, ihn zu heiraten. Wenn er erst später von anderer Seite die Zusammenhänge erfuhr, würde sie nie wissen, wie er wirklich darüber dachte. Es war alles kompliziert und niederdrückend. Sie fühlte sich sehr allein. Ein einsames Wochenende lag vor ihr, das alles nur noch düsterer erscheinen ließ. Sie wünschte sich verzweifelt, Nicholas noch heute sehen zu können. Seine Nähe hätte sie mit Zuversicht erfüllt, alle Probleme würden an Bedeutung verlieren.
6. KAPITEL Das gewohnte Abendessen mit Adrian wurde kein Erfolg. Er gab sich zwar große
Mühe, aber Marilyn spürte, daß er nicht glücklich war. Diana schien schon
halbwegs zu einem Waffenstillstand bereit zu sein. Nach außen hin wirkte alles
ganz friedlich. Aber dann wurde ein großer Strauß roter Rosen für Marilyn
abgegeben, und Diana erkannte, daß Nicholas' Abwesenheit nichts geändert
hatte. Er wollte gar nicht vergessen.
Marilyn fühlte sich trotz der Rosen bedrückt. Das Abendessen in der „Krone“ war
so vorzüglich wie immer, es gab sogar für eine Weile den Gesprächsstoff ab.
Gerade waren sie bei der Nachspeise angelangt, als eine erfreute Stimme
ertönte:
„Na, so eine Überraschung!“ Marilyn glaubte im ersten Moment, es sei Nicholas.
Aber es war Harvey Cummings, der neben ihnen auftauchte.
„Hallo, Harvey“, sagte sie lächelnd. Dieser Mann war mit Nicholas bekannt, sie
waren gute Freunde, der Geliebte schien ihr dadurch näher. „Wie nett, Sie zu
sehen.“
„Ich bin mit MaryLee und Paul Lucas zusammen, wir wollten jetzt tanzen gehen.
Möchten Sie beide nicht mitkommen?“
„Ich glaube nicht“, meinte Marilyn. Sie wußte, daß Adrian sich nichts aus Tanzen
machte. „Wir gehen nach dem Essen immer gleich nach Hause.“
„Aber wenn Sie es gern möchten“, warf Adrian ein. „Warum nicht?“
Marilyn schüttelte den Kopf. „Nein, lieber nicht. Danke, Harvey, daß Sie an uns
gedacht haben.“
Harvey blickte mißgestimmt drein. „Na gut, wie Sie wollen.“ Er nickte ihnen
beiden zu und ging zu seinen Freunden zurück.
„Sie hätten mitgehen können“, bemerkte Adrian leise. „Ich wäre eben nach
Hause gefahren. Cummings wäre sicher gern Ihr Partner gewesen.“
Marilyn machte schmale Augen. „Ich glaube, Sie wollen mich mit Harvey
verkuppeln“, beschuldigte sie ihn heiter. „Meinen Sie, daß ein Mann so ist wie der
andere? Ich versichere Ihnen, daß ich daran nicht glaube. Sie hätten dadurch
nichts gewonnen.“
Adrian wirkte etwas betreten, und sie wußte, daß sie den Nagel auf den Kopf
getroffen hatte. Seltsam, daß ein Mann wie er in diesem Punkt so verbohrt war,
sogar bereit, die Gewohnheit vieler Jahre aufzugeben.
„Machen Sie sich doch nicht so große Sorgen, Adrian“, setzte sie mit ihrer
ruhigen Stimme hinzu. „Vielleicht wird wirklich nichts daraus. Wenn Sie recht
behalten, können Sie über mich lachen und die Scherben auflesen.“
„Das will ich wirklich nicht“, murmelte er. „Ich muß sehr durchsichtig sein.“
„Für mich schon“, bestätigte sie und hob ihr Glas.
Erst jetzt entdeckte Adrian den Smaragdring. Seine Augen wurden rund, und er
wunderte sich: „Wo haben Sie denn den her, und wo ist Ihr Trauring?“
„Nick gab ihn mir.“ Sie wußte sofort, was er dachte. „Er ist wunderschön, nicht
wahr?“
„Einzigartig und nicht mit Geld zu bezahlen“, bestätigte er. „Allein die Fassung ist
das Schönste, was ich je gesehen habe.“
Marilyns Herz schlug wild. Nick hatte ihr nicht gesagt, wie wertvoll der Ring war.
Adrian wußte über diese Dinge besser Bescheid. Sie spürte, wie sein Blick auf ihr
ruhte.
„Vielleicht habe ich mich doch geirrt“, sagte er nach einer Weile. „Wenn Vitale
Ihnen diesen Ring gegeben hat, kann er keine schlechten Absichten hegen.“
„Wie kommen Sie darauf?“ fragte sie überrascht.
„Weil er Ihnen ebensogut einen hübschen anderen Ring hätte schenken können.
Ich meine, er hätte nicht etwas wegzugeben brauchen, woran er hing.
Möglicherweise ist Mr. Vitale doch nicht so schwarz, wie er immer gemalt wird.“
Marilyn lächelte. „Davon bin ich überzeugt, Adrian.“ Sie leerte ihr Glas.
Als sie nach Hause zurückkehrten, kam Adrian wie gewohnt mit herauf. Diana
war daheim und bewußt oder unbewußt führten die beiden ihr vor, wie prächtig
sie einander verstanden, wie glänzend sie miteinander auskamen. Es deprimierte
Marilyn geradezu. Sie versank in Niedergeschlagenheit.
Die nächste Woche schlich dahin, Nicholas' Anrufe waren die einzigen Lichtblicke.
Mutter und Tochter kamen zeitweise etwas besser miteinander aus. Aber Marilyn
wußte eben, daß es nur eine vorübergehende Phase war. Nicholas' Rückkehr
verzögerte sich, bei seinen Anrufen schien er verändert.
Eine Woche später klingelte es am Sonntagmorgen. Marilyn saß gerade beim
Frühstück, Sie war noch nicht angezogen, Diana lag noch im Bett.
Mit einem inneren Beben öffnete sie die Tür. Aber nicht Nicholas stand auf der
Schwelle, sondern Maria. In einem leuchtendroten Hosenanzug mit weißem
Strohhütchen sah sie bezaubernd aus.
„Hallo“, sagte sie lächelnd. „Darf ich hereinkommen?“
Marilyn trat zurück. „Natürlich.“ Kalte Furcht griff ihr ans Herz. Was bedeutete
dieser Besuch am frühen Morgen?
Maria sah sich zufrieden um. „Was für ein hübsches Zimmer“, sagte sie
unbefangen. „Eine eigene Wohnung zu haben, muß nett sein. Jeder verdient ein
Plätzchen, wo er allein sein kann.“ Sie sah Marilyn an. „Nick bat mich, Sie
aufzusuchen.“
Marilyns Finger schlossen sich um die Kordel ihres Morgenmantels. „Ist er wieder
in England?“
„Nein, er rief mich gestern abend an.“
„Ach so. Bitte, nehmen Sie doch Platz.“ Marilyn versuchte, nicht zu gespannt zu
wirken.
Maria setzte sich auf die Couch. „Ich habe den Eindruck, ihm ist nicht sehr wohl
zumute. Er wollte doch schon letzte Woche zurück sein, Donnerstag oder Freitag.
Nun fürchtet er, daß Sie die Verzögerung falsch verstehen könnten.“
„Ich?“ Marilyn fühlte, wie die Spannung von ihr abfiel. „Sie meinen, daß er sich
meinetwegen Sorgen macht?“
„Genau das.“
„Mein Gott, wie seltsam.“ Marilyn hätte am liebsten laut herausgelacht, so froh
und leicht war ihr auf einmal zumute. „Und deshalb sind Sie hier?“ fragte sie
ungläubig.
Maria nickte. „Er möchte heute mit Ihnen sprechen. In der Schule ruft er Sie
nicht gern an, wissen Sie.“
Vielleicht hatte er darum am Telefon so zurückhaltend gewirkt, überlegte Marilyn.
„Sie haben meinen Vater sehr gern, nicht wahr?“ fragt Maria mit entwaffnender
Offenheit.
Marilyn nickte. „Haben Sie etwas dagegen?“
„Nein, obgleich ich weiß, daß er zum ersten Male einer Frau gegenüber
Rechenschaft über seine Handlungen ablegt.“
„Sie nehmen das alles sehr vernünftig auf.“
„Warum nicht? Ich kenne meinen Vater lange genug, um über ihn Bescheid zu
wissen. Er ist… ein wunderbarer Mensch. Ich liebe ihn sehr. Aber eigentlich
mögen ihn alle, wissen Sie. Er ist ungezwungen und amüsant. Viele Frauen
wollten ihn heiraten, arme und reiche.“
„Kann ich mir denken“, meinte Marilyn. Auf ihre Weise war Maria ebenso auf sich
allein gestellt wie Diana. Aber während Diana versuchte, das Glück ihrer Mutter zu zerstören, bemühte sich Maria, Nicholas zu helfen, selbst wenn es auf ihre Kosten ging. Marilyn ging in die Küche, um noch einmal Tee aufzugießen. Maria lehnte sich entspannt auf der Couch zurück. Marilyn Scott gefiel ihr. Sie wußte ganz genau, wieviel sie Nick bedeutete. Dennoch spielte sie das keinen Moment aus. Sie war nicht besitzergreifend, sondern bescheiden. Klar, dachte Maria, sonst könnte ihr Vater sie nicht lieben. Sie hatte sofort geahnt, daß diese Beziehung für ihn kein flüchtiges Abenteuer war. Seine Haltung Marilyn gegenüber bewies es. Wie würde es weitergehen? Maria dachte an die Zukunft. Aber in einem Punkt machte sie sich nicht die geringsten Sorgen: Sie wußte, Marilyn und sie würden einander verstehen. Außer ihrer Großmutter hatte es nie eine Frau gegeben, die ihr wirklich nahestand. Maria sehnte sich danach, sich ab und zu jemandem anvertrauen zu können. Sie spürte, Marilyn war verständnisvoll, sie könnte diese Frau sein. Plötzlich öffnete sich eine andere Tür, und Diana stand auf der Schwelle, noch im Pyjama, einen Kamm in der Hand. Als sie Maria entdeckte, kam ein unsicherer Ausdruck in ihre Augen. Maria lächelte. Sie war stets höflich, welcher Meinung sie auch immer über jemand sein mochte. Diana hielt sie für eine ziemlich verzogene Göre. „Hallo“, sagte sie. „Sie müssen gut geschlafen haben.“ Diana lächelte nicht. „Ist Ihr Vater hier?“ Maria schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin allein.“ „Prima.“ Diana nahm den Kamm hoch und begann, ihr Haar zu kämmen. Maria entschloß sich, ihre Unhöflichkeit zu ignorieren. Wenn Diana kindisch sein wollte, konnte niemand sie daran hindern. Merkte sie denn nicht, wie schwierig sie alles für ihre Mutter machte, weil sie ihr jede Freude verdarb? Marilyn kam mit einem Tablett aus der Küche. „Hier ist frischer Tee, Diana, setz dich. Sie trinken doch eine Tasse mit, Maria, ja?“ „Danke, gern“, sagte Maria höflich. Diana ließ wortlos den Kamm fallen und hockte sich auf die Sessellehne. Mit düsterem Blick beobachtete sie, was vorging. „Gehst du heute aus, Diana?“ fragte Marilyn, die hoffte, daß ihre Tochter die feindselige Haltung aufgeben würde. „Ich gehe mit Jeff zur Schule“, gab Diana Bescheid. „Die jüngeren Schüler üben Cricket, und er muß sie beaufsichtigen.“ „Jeff ist Ihr Freund?“ erkundigte sich Maria lächelnd. Diana musterte sie geringschätzig. „Natürlich!“ sagte sie kalt. „Ich will kein Frühstück, Mutter. Ich ziehe mich jetzt an.“ Marilyn blickte ihr etwas ratlos nach. Dann sah sie Maria an. Dianas Dickköpfigkeit würde eine Freundschaft zwischen den beiden Mädchen verhindern. „Bitte, entschuldigen Sie“, sagte sie. „Diana kann sich einfach mit gewissen Tatsachen nicht abfinden.“ „Sie wird es müssen, nicht wahr? Mir ist vollkommen klar, daß mein Vater daran denkt, sein Leben zu verändern.“ Marilyn schoß das Blut ins Gesicht. „Wie können Sie das wissen, Maria?“ sagte sie fast verlegen. „Ich kenne ihn“, antwortete Maria fest. „Sie sind die erste Frau, mit der er mich auf diese Art und Weise bekanntgemacht hat.“ Marilyn lächelte. Balsam waren Marias Worte nach all der Unsicherheit der letzten Tage. Wenig später tauchte Diana in Hosen und Marilyns Anorak auf. Sie sah die beiden
abweisend an und erklärte: „Jeff holt mich mit dem Lieferwagen seines Vaters ab, er wird gleich hier sein.“ Im selben Augenblick klingelte es auch schon, und Diana lief zur Tür. Sie brachte Jeff mit in die Wohnung, weil sie hoffte, Maria würde sie um ihren hübschen Freund beneiden. Aber es kam etwas anders, als sie dachte. Als Jeff nämlich Maria sah, starrte er sie begeistert an. Diana ahnte gleich, daß sie einen Fehler begangen hatte. Nun konnte sie nicht mehr zurück. „Maria“, sagte sie, „das ist Jeff Emerson. Jeff…Maria Vitale.“ Jeffs Augen wurden noch größer, als er den Namen hörte. Er konnte den Blick nicht von dem eleganten Wesen im roten Anzug wenden. Maria war ganz anders als die Mädchen, die er kannte, das sah er sofort. Zorn blitzte in Dianas Augen auf, Maria hingegen amüsierte sich. Seit frühester Jugend verstand sie, mit Jungen umzugehen, sie hatte viel von dem Charme ihres Vaters. „Bist du soweit, Jeff?“ fragte Diana wütend. „Ich warte.“ Er fuhr herum. „Ja… ja, natürlich. Auf Wiedersehen, Mrs. Scott – Maria.“ Maria nickte, und Marilyn schloß die Tür hinter den beiden. Sicher würde Diana Jeff eine Szene machen. „Sorgen Sie sich nicht“, sagte Maria vernünftig. „Sie denkt vermutlich, daß er wunderbar ist, nur weil er gut aussieht. Ich halte ihn für einen Wolf. Vollkommen harmlos für mich, nicht so ganz für Diana. Aber sie wird bald genug von ihm haben.“ „Hoffentlich. Wie sind Sie übrigens hergekommen?“ fragte Marilyn und zündete sich eine Zigarette an. „Harvey Cummings brachte mich her. Er will mich gegen elf wieder abholen. Er mag Sie auch, nicht wahr? Er erzählte, er hätte Sie gestern abend gesehen.“ „Ja, in der ,Krone'. Wir haben beide dort gegessen.“ Maria schien ein wenig verwirrt. „Waren Sie allein?“ „Ich war mit Adrian Sinclair dort, Ihr Vater kennt ihn. Er ist Schuldirektor und mein Arbeitgeber.“ „Ach so.“ Maria betrachtete ihre Schuhspitzen. „Hat Nick nichts dagegen, daß Sie ohne ihn ausgehen?“ Marilyn zuckte die Achseln. „Warum sollte er? Adrian ist harmlos genug.“ Maria lächelte. „Ich habe ja auch nur Spaß gemacht.“ Nachdem Marilyn sich angekleidet hatte, saßen sie und Maria nebeneinander auf der Couch und unterhielten sich. Mit Maria war gut reden. Sie erzählte Marilyn eine Menge über Nicks Haus in Rom und seine Mutter, die dort lebte. „Großmutter ist eine phantastische Frau“, sagte sie begeistert. „Sie ist erst Ende der fünfzig. Sie war achtzehn, als Nick geboren wurde. Mein Großvater soll sich auf Anhieb in sie verliebt haben. Es heißt immer, so etwas gäbe es nur in Romanen, aber ich glaube das nicht. Meistens spürt man doch sofort, ob ein Mensch zu einem paßt oder nicht. Finden Sie nicht auch?“ Marilyn mußte ihr beipflichten. War es bei Nick und ihr nicht von Anfang an so gewesen? „Und wie steht es mit Ihnen, Maria? Kein Freund in Sicht?“ Maria schüttelte den Kopf. „Jungen langweilen mich. Vielleicht, weil ich soviel mit Nick zusammen bin. Harvey mag ich, aber er sieht nur ein frühreifes Kind in mir. Er hat mich gern, aber er ist über dreißig, und ich bin noch nicht einmal sechzehn.“ Marilyn nickte. „Dann sind Sie noch viel zu jung, sich zu entscheiden. Eines Tages werden Sie eine Menge netter junger Männer kennenlernen und Harvey Cummings vergessen.“ „Das bezweifle ich“, sagte Maria ernst, um gleich wieder zu lächeln. „Reden wir
über etwas anderes – Ostern zum Beispiel. Dann fahren wir nach Italien,
Großmutter besitzt ein Haus in Vilentia. Das ist ein Dorf an der Mittelmeerküste,
fünfzig Meilen von Rom entfernt. Das Haus ist bezaubernd, der Garten voller
Blumen und Springbrunnen, die Einwohner des Dorfes sind herzlich und
zutraulich.“
„Klingt sehr schön“, bestätigte Marilyn lächelnd.
„Es ist schön. Ich mag auch unsere Jacht. Mein Vater hat sie nach mir ,Maria
Christina' getauft. Auch meine Großmutter heißt Christina.“
„Eine Jacht?“ fragte Marilyn verwirrt.
„Wußten Sie nichts davon? Sie liegt im Augenblick in der Bucht von Neapel, aber
Nick wird sie wahrscheinlich nach Vilentia bringen.“ Sie lachte. „Das braucht Sie
nicht zu ängstigen. Natürlich hat mein Vater alles, was Geld kaufen kann.“
„Das ist ziemlich erschreckend“, gestand Marilyn. „Es liegt ein solcher Abgrund
zwischen uns. Mich wundert, daß er überhaupt in meine Richtung geblickt hat.“
Maria legte beruhigend die Hand auf Marilyns Arm. „Vielleicht ist das gerade die
Erklärung. Nick hat die verwöhnten Frauen satt, die nur nach reichen Männern
Ausschau halten und ein Vermögen ausgeben, um immer gut auszusehen. Sie
sind ganz anders, natürlich und zurückhaltend. Sie brauchen keine teuren
Kosmetika, um Ihre Haut zu verbessern. Ein Mann wünscht sich eine Frau, die
beim Aufstehen ebenso hübsch aussieht wie am Abend vor einer Party.“
Marilyn starrte sie überrascht an. „Kaum zu glauben, daß Sie erst fünfzehn sind!“
rief sie. „Sie scheinen so vieles zu verstehen.“
Maria lächelte. „Wie ich schon sagte, ich habe sehr viel von meinem Vater
gelernt. Ich würde mich nie von Äußerlichkeiten beeinflussen lassen, nach all den
Erfahrungen, die er gemacht hat.“
Marilyn mußte feststellen, daß Nick seine Tochter besser erzogen hatte, als ihr
das mit Diana gelungen war.
Es klingelte, und Maria stand auf. „Das wird Harvey sein. Ich mache ihm auf.“
Harvey schlenderte lächelnd herein. „Hallo!“ sagte er. „Wie geht es der
bezaubernden Witwe?“
Er brachte Marilyn fast in Verlegenheit. Maria kicherte.
„Neulich haben Sie mich ganz schön abgewimmelt“, fuhr er vorwurfsvoll fort.
„Kaum ist Nick außer Lande, gehen Sie schon mit diesem Schleicher Sinclair
essen.“
„Adrian ist kein Schleicher!“ versetzte Marilyn aufgebracht. „Und Nick weiß über
ihn Bescheid. Außerdem sehe ich nicht ein, was Sie das angeht.“
„Ignorieren Sie ihn“, riet Maria und nahm ihren Hut auf.
„Ich bin Ihr Vormund, solange Ihr Vater nicht da ist, und bitte mir etwas mehr
Respekt aus, Maria“, warf er gutmütig ein. Darauf wandte er sich wieder Marilyn
zu. „Wie wäre es, wenn Sie mit uns zu Mittag essen würden, Marilyn? Sie werden
ja ohnehin um halb drei im Hotel sein, um Nicks Anruf entgegenzunehmen. Da
können Sie auch gleich mitkommen.“
„O ja, bitte“, sagte Maria eifrig. „Harvey hat ganz recht.“
Marilyn runzelte die Stirn. „Es geht nicht. Ich kann Diana nicht allein lassen.
Trotzdem vielen Dank für die Einladung. Ich komme dann später auf meinem
Moped nach.“
„Wie Sie wollen.“ Harvey zuckte die Achseln. „Ich finde es trotzdem verrückt, daß
Sie meine Einladung zum Essen ablehnen.“
Marilyn lachte, und sie gingen alle zur Tür. „Wir sehen uns später. Sie sind ja mit
Harvey zusammen, Maria.“
„Das bestimmt, nur daß meine Gesellschafterin darauf bestehen wird,
dabeizusein. Sie ist eine englische Lady und schon seit meiner Kindheit bei mir.
Darum kann ich wohl so gut Englisch. Wir sprechen es zu Hause oft.“
„Ah, die gute Miss Sykes!“ grinste Harvey.
Maria schob ihn zur Tür hinaus. „Sie ist ganz in Ordnung, nur ein bißchen
altmodisch. Bis später, Marilyn. Ich darf Sie doch so nennen?“
„Gern, Maria.“ Als die beiden gegangen waren, schloß Marilyn die Tür und lehnte
sich einen Moment erschöpft dagegen. Jetzt hatte sie Zeit, darüber
nachzudenken, was Nicholas ihr sagen wollte, und ihr war wieder beklommen
zumute.
Während sie das Mittagessen zubereitete, wünschte sie sich, Diana wäre mehr
wie Maria. Dann hätten sie mit Maria und Harvey zusammen essen können.
Harvey war recht unterhaltsam, begreiflich, daß Maria ihn mochte.
Diana kam schlechtgelaunt nach Hause. Jeff hatte sie den ganzen Vormittag lang
nur nach Maria ausgefragt, das paßte ihr gar nicht. Maria war nicht ihre Freundin,
sie gehörte zum ,Feind'. Darum wollte sie ohnehin nicht über sie sprechen.
Sie aß in mürrischem Schweigen. Als Marilyn erwähnte, daß sie zum Hotel
hinüberginge, um dort auf einen Anruf zu warten, erhob sie keine Einwände.
Marilyn wußte nicht, was sie vorzog, die finster grübelnde Diana oder die
aggressive Widersacherin. Beide waren nicht sonderlich erfreulich.
Sie zog sich nicht weiter um, ehe sie in den ‚Hirsch' fuhr, sondern schlüpfte
lediglich in ihren Lammveloursmantel. Das Wetter war gut. Aber der überzogene
Himmel kündigte Regen an. Der Wind war noch kalt.
Im Hotel herrschte reger Betrieb, als sie an die Rezeption trat. Der Portier
musterte sie gleichgültig.
„Ja, Madam, was kann ich für Sie tun?“
„Würden Sie bitte Miss Maria Vitale sagen, daß ich hier bin? Mein Name ist Mrs.
Scott.“
Sofort wurde der Mann bedeutend höflicher. Die Vitales waren seine wichtigsten
Gäste. Wenn sie Maria Vitale besuchte, mochte er annehmen, gehörte sie sicher
auch zur Gesellschaft.
„Gewiß, Madam…“ Gleich darauf geleitete ein Page sie zum Lift und weiter zu
Marias Räumlichkeiten.
Maria öffnete und zog sie ins Wohnzimmer, das ebenso kostbar möbliert war wie
das von Nick.
Eine Frau erhob sich von einem Sessel, als sie eintraten. Sie trug ein farbloses
Tweedkostüm, war ziemlich knochig und ein wenig kurzsichtig. Marilyn erriet
sogleich, daß es sich um Miss Sykes handelte. Sie entsprach verblüffend genau
dem Bild, das man sich von einer Erzieherin machte.
Aber ihr Lächeln war gewinnend, Marilyn fand sie sympathisch.
Maria machte sie miteinander bekannt und sah auf ihre winzige Armbanduhr aus
Platin.
„Es fehlt noch eine Viertelstunde“, sagte sie lächelnd. „Nehmen Sie Platz,
Marilyn. Ich habe Kaffee bestellt. Wir können uns unterhalten, während wir auf
den Anruf warten.“
Marilyn fühlte die Spannung in ihren Nerven. Sie freute sich auf den Anruf und
fürchtete ihn gleichzeitig.
„Wie ich höre, arbeiten Sie für einen Lehrer“, begann Miss Sykes das Gespräch
und bot, sehr zu Marilyns Verwunderung, Zigaretten an.
Marilyn war froh, von ihren Gedanken abgelenkt zu werden. „Ich bin Sekretärin
von Adrian Sinclair, dem Direktor einer der Schulen von Otterbury.“
Miss Sykes nickte verständnisvoll. „Ich war auch einmal Sekretärin. Aber nicht
bei einem Lehrer, mein Chef war Schriftsteller. John Brooks – haben Sie von ihm
gehört?“
„Selbstverständlich“, rief Marilyn interessiert. „Ich habe alle seine Bücher
gelesen. Er schreibt faszinierend.“
„Wer ist faszinierend? Sprechen Sie von mir?“ Eine Tür hatte sich geöffnet, und
Harvey schlenderte herein. Sofort schlug das Gespräch in heitere Neckerei um.
Sie lachten mit Harvey. Der Kaffee wurde gebracht, und Harvey meinte, daß
etwas Alkoholisches mehr nach seinem Geschmack wäre.
„Ein Gentleman trinkt Alkohol nicht vor achtzehn Uhr“, belehrte ihn Miss Sykes.
Pünktlich um halb drei schrillte das Telefon. Marilyn zuckte nervös zusammen,
und Maria sprang auf.
„In meinem Schlafzimmer befindet sich ein Nebenanschluß“, erklärte sie und
deutete auf eine der Türen. „Möchten Sie den Anruf dort entgegennehmen,
Marilyn?“
Marilyn erhob sich ebenfalls. „O ja, vielen Dank, Maria.“
Sie verschwand hastig im Schlafzimmer und nahm den Hörer des Apparates ab,
der auf dem Frisiertisch stand. Maria telefonierte nebenan noch mit ihrem Vater,
sie hörte sie sagen: „Marilyn wartet am anderen Apparat. Du kannst sofort mit
ihr sprechen.“
Marilyn ließ sich auf den fellbezogenen Hocker fallen, und dann drang Nicholas'
dunkle Stimme an ihr Ohr: „Bist du es, Marilyn?“
Sie konnte vor Erregung kaum sprechen. „Ja, Nick, ich bin hier bei Maria. Wie
geht es dir? Wann kommst du?“
Er lachte leise. „Hast du mich vermißt?“
„Sehr. Du mich auch?“
„Mehr als ich sagen kann, mein Liebes.“ Seine Stimme war rauh, und in Marilyns
Ohren begann das Blut zu rauschen. „Schlimm ist, daß wir noch länger
aufeinander warten müssen. Ich kann vor nächstem Sonnabend nicht
zurückkommen. Was sagst du dazu?“
Marilyn hielt den Hörer mit beiden Händen fest. „Ich möchte weinen“, sagte sie
enttäuscht.
„Das sollst du nicht, mein Herz. Ich möchte nicht, daß du traurig bist. Deshalb
habe ich dich gebeten, heute ins Hotel zu kommen: damit wir in Ruhe
miteinander reden können. Verstehst du mich?“
„Ich verstehe schon“, murmelte sie und hörte, wie Nicholas tief Luft holte. „Es
geht eben nicht anders, nicht wahr?“
„Leider, Marilyn. Glaube mir, ich würde mich am liebsten in die nächste Maschine
setzen. Aber ich muß hier noch an ein paar wichtigen Besprechungen teilnehmen.
Das bringt das Geschäftsleben so mit sich, daß man nicht frei über seine Zeit
verfügen kann. Ich werde dich jeden Tag anrufen, um dich zu trösten. Meinst du,
daß du's dann ein bißchen leichter erträgst?“
Zärtlichkeit war jetzt in seiner Stimme. Seine Sorge rührte sie. „Bestimmt“,
antwortete sie mit einem Lächeln. „Es ist wundervoll, so mit dir zu sprechen.
Fast, als wärst du im gleichen Raum.“
„Ich wünschte, es wäre so! Hast du eine Ahnung, wie sehr ich mir das wünsche?
Statt dessen muß ich mir einen einsamen, tristen Sonntag um die Ohren
schlagen. Ich denke, ich werde auf den Golfplatz gehen.“
Marilyn empfand einen dünnen Stich von Eifersucht. „Mit wem wirst du spielen?“
fragte sie rasch.
Er begriff augenblicklich. „Mit meinem Schwager“, sagte er und setzte hinzu: „Du
brauchst keine Angst zu haben, Liebste. Es gibt keine anderen Frauen mehr in
meinem Leben, nur noch dich.“
Marilyn wurde ganz heiß. Sie blickte in den geschliffenen Spiegel über dem
Frisiertisch und wunderte sich selbst über ihr strahlendes Gesicht. „Nick, ich bin
glücklich“, rief sie leise, „so glücklich, daß du mir das sagst.“
Sie hörte ihn lachen. „Das mußt du doch auch so gewußt haben, oder? Hör zu,
Marilyn, möchtest du mich dann Sonnabend vom Flugplatz abholen?“
„O ja, herrlich! In London?“
„Ja, ich komme mit der Maschine, die gegen neunzehn Uhr landet. Die genaue
Zeit wirst du leicht herausfinden.“
„Holt Maria dich auch ab?“ fragte Marilyn.
„Lieber Himmel, nein. Ich will dich ganz allein haben!“ erklärte er
leidenschaftlich. „Maria weiß schon Bescheid. Es bleibt dir also gar nichts anderes
übrig, als dich pünktlich auf dem Flughafen einzufinden. Gut?“
„Wundervoll!“ In sechs Tagen würden sie zusammen sein.
„Wie ist es dir ergangen?“ fragte Nicholas plötzlich. „Was hast du die Woche über
gemacht?“
„Nichts Besonderes. Gestern abend habe ich mit Adrian gegessen, wie üblich.
Das ist dir doch recht, Nick?“
„Ein bißchen spät, danach zu fragen“, erwiderte er trocken. „Aber auf Adrian bin
ich nicht eifersüchtig. Wen hast du sonst noch gesehen?“
„Harvey. Der tauchte zufällig auch in der ,Krone' auf.“ Marilyn horchte in den
Apparat. „Warum lachst du auf einmal?“
„Weil ich Harvey aufgetragen habe, ein bißchen auf dich aufzupassen, Marilyn.
Nun weiß ich, daß er das auch macht.“
„Das hast du wirklich getan?“ fragte Marilyn. Sie freute sich, daß Nicholas in
jeder Weise vorgesorgt hatte. Darauf wäre sie nie gekommen. Umsonst hatte sie
sich so viele trübe Gedanken gemacht.
Er erzählte ihr, daß es ihm in Rom gar nicht mehr gefiele. „Meine Mutter versteht
nicht, warum ich unbedingt so schnell nach London zurück will. Freilich begreift
sie auch nicht, warum ich nicht, wie sonst immer, jeden Abend ausgehe.“
„Wie geht es deiner Mutter?“ erkundigte sich Marilyn höflich. „Ist sie gesund?“
„Alles bestens. Sie freut sich darauf, ihre Verwandten in Amerika zu besuchen.
Aber vielleicht ahnt sie auch etwas“, fuhr er fort. „Sie hat nämlich bemerkt, daß
ich ein paar Kilo abgenommen habe.“
„Wieso?“ rief Marilyn. „Ißt du so wenig?“
„Nein. Aber meine Sehnsucht nach dir ist so groß. Also bis Sonnabend.“
„Ich freue mich. Noch eine Woche. Paß gut auf dich auf, Nick, – und sei brav.“
„Marilyn, die einzige Frau, die ich begehre, ist tausend Meilen von mir entfernt!
Ich kann nur brav sein. Auf Wiedersehen, Geliebte.“
„Auf Wiedersehen.“
Marilyn legte den Hörer hin und spürte, wie Tränen ihr heiß in die Augen stiegen.
Zum erstenmal in ihrem Leben weinte sie vor Glück. Sie wünschte, sie hätte sich
jetzt davonschleichen können, noch mit Nicholas' Stimme im Ohr. Sie sehnte sich
danach, sich jedes einzelne seiner Worte noch einmal ins Gedächtnis zu rufen.
7. KAPITEL Die Woche, die folgte, schien sich endlos hinzuziehen. Nicholas rief Marilyn zwar jeden Tag an, aber wieder in der Schule während ihrer Frühstückspause und stets nur kurz. Ein Gespräch wie am Sonntag wurde es nie mehr. Diana machte sich ihre eignen Gedanken. Sie wußte, daß Nicholas nach Italien gefahren war. Einmal hatte er rote Rosen geschickt. Da er aber min schon die zweite Woche fort war, begann sie zu hoffen, daß er überhaupt nicht so bald zurückkommen würde. Sie nahm an, daß er von Zeit zu Zeit alle Filialen kontrollierte. Sie traf sich mehrmals mit Jeff. Er fragte sie jedesmal nach Maria Vitale und hoffte offensichtlich, sie wiederzusehen. Es kränkte Diana, was sie ihm natürlich nicht sagte. Sie stritten sich, und Marilyn mußte die schlechte Laune ihrer Tochter ertragen. Marilyn hatte mehrmals versucht, Diana zu erzählen, daß sie mit Nicholas in Verbindung war und vorhatte, ihn am Sonnabend in London vom Flughafen abzuholen. Aber sie spürte den abweisenden Widerstand ihrer Tochter. Diana igelte sich regelrecht ein, und Marilyn schwieg. Erst am Freitag sagte sie ohne Umschweife: „Ich gehe morgen abend aus.“ Diana zuckte die Achseln. „Ich auch. Mit Jeff in den Club.“ „Ich treffe mich nicht mit Adrian“, fuhr Marilyn fort „Möchtest du wissen, was ich vorhabe?“ Diana preßte einen Moment die Lippen zusammen. „Da du es so spannend machst, willst du mir sicherlich beibringen, daß du dich mit Nicholas Vitale triffst. Ich sollte wohl nicht wissen, daß er wieder in England ist.“ „Das ist er nicht, jedenfalls noch nicht.“ „Was willst du von mir, Mutter?“ brauste Diana auf. „Wir wollen doch endlich einsehen, daß wir in diesem Punkt verschiedener Meinung sind. Ich weiß nicht, was für Erwartungen du hast, aber ich bin sicher, daß Vater sich im Grab umdrehen würde, wenn er von der Sache wüßte.“ „Mach dich nicht lächerlich, Diana“, erwiderte Marilyn ruhig. „Joe war nicht prüde. Du bist es.“ „Prüde? Ich prüde?“ Diana war verletzt und wütend. Jeff hatte sie genauso genannt, an jenem Abend, als sie gegen die Leidenschaftlichkeit seiner Küsse protestierte. „Ich will nur nicht, daß du leiden mußt, Mutter.“ Das war schrecklich, denn es stimmte nicht. Marilyn fragte sich, warum ihre Tochter vorgab, sich um sie zu sorgen. Ihre Kratzbürstigkeit war leichter hinzunehmen als ihre Heuchelei. Aber Marilyn ließ sich nichts anmerken: „Niemand wird mir weh tun, Diana, so ist Nick nicht. Wenn du das nur verstehen wolltest. Sei doch ein bißchen aufgeschlossener, Kind, versuche, ihn richtig kennenzulernen. Vielleicht magst du ihn dann sogar!“ Diana wandte den Blick ab. „Du willst dich also wieder mit ihm treffen? Die Sache soll weitergehen?“ „Natürlich. Warum nicht?“ fragte Marilyn unglücklich. „Es war so schön mit uns beiden!“ rief Diana. „Und jetzt verdirbst du alles!“ „Wieso? Was verderbe ich denn? Stell dir einmal vor, ich würde Nick heiraten...“ „Heiraten?“ unterbrach Diana sie schrill. „Oh, Mutter, ich wette, daß er nie an Heiraten gedacht hat. Du lebst ja in den Wolken!“ „Sprich nicht so mit mir, Diana.“ „Warum nicht? Onkel Adrian ist auch meiner Meinung. Wir können uns nicht
beide irren.“ „Ich will nicht, daß du mit ihm über mich sprichst, Diana.“ „Wir gehören doch nicht in diese Kreise. Abgesehen davon, du bist etwas zu alt für so eine Romanze!“ Alt… das knallte Diana ihr ins Gesicht wie eine Ohrfeige. Marilyn holte tief Luft und schwieg dann wieder. Es hatte keinen Sinn zu reden, wenn Diana nicht hören wollte, was ihr nicht paßte. Aber unwillkürlich fragte Marilyn sich doch, ob nicht sie selbst sich etwas vormachte. Nick kannte ihr Leben nicht. Das seine lag wie ein offenes Buch vor ihr, umgekehrt konnte sie das nicht behaupten! Nicholas schloß den Sicherheitsgurt. Die Maschine nach London hob sich in die Lüfte, bald würde er Marilyn wiedersehen. Seine Pulse jagten. Es waren zehn lange Tage gewesen. Eigentlich hatte er sich von der ersten Stunde an nach ihr gesehnt. Und bis zum letzten Augenblick hatte seine Mutter gehofft, sie könnte ihn zurückhalten. Ahnte sie wirklich etwas? Oder nicht? Jedenfalls fand er es besser, ihr noch nichts von Marilyn zu erzählen. Vielleicht ging nicht alles so glatt, wie er es erhoffte. Seit Jahren wünschte seine Mutter, daß er Sophia Ridolfi heiratete, eine entfernte Verwandte und reiche Erbin. Sophia war achtundzwanzig, eine attraktive Frau, schwarzhaarig, glutäugig, mit perlblasser Haut. „Sie brennt darauf, dich zu heiraten“, hatte die Mutter ihm noch vor seiner Fahrt zum Flughafen gesagt. Aber zum erstenmal im Leben war Nicholas der Gedanke an jede andere Frau lästig. Nur Marilyn zählte noch für ihn. Er mußte sie bei sich haben, und zwar für immer. Er wollte sich möglichst nie mehr von ihr trennen. Dabei war der Gedanke an eine zweite Heirat ihm in den letzten Jahren immer seltener gekommen. Er hatte nicht damit gerechnet, daß eine Frau ihn einmal derart gefangennehmen würde wie Marilyn. Keiner anderen war das gelungen. Nicht einmal Joanna hatte dieses Feuer in ihm entfacht. Erst jetzt, nach allem, was das Leben ihm brachte, hatte er die Frau seiner Träume gefunden. Und doch war er sich seiner eigenen Anziehungskraft nicht ganz sicher. Marilyn war keineswegs eine wohlhabende Frau. Die Tatsache, daß er reich war, mußte ihr etwas bedeuten. Was war interessanter an ihm, sein Geld oder er selbst? Seine Gedanken bedrückten ihn. Er starrte aus dem Fenster – das Gefühl der Freude war verflogen. Geld war etwas Teuflisches. Manchmal wußte man nicht, was überwog, die Vor oder die Nachteile? Aber sofort rief er sich zur Ordnung. Natürlich die Vorteile. Seine Firma bedeutete ihm ungeheuer viel, er hätte ohne sie gar nicht sein mögen. Übrigens hatte sein Vater seine Mutter geheiratet, als sie nur die arme Tochter eines italienischen Fischers war. Er hatte dadurch nichts verloren. Die, Ehe war bis zu seinem Tode glücklich gewesen. Seine Eltern liebten einander, und das Geld hatte keine Rolle gespielt. Bald darauf landete die Maschine. Während Nicholas sein Handgepäck zusammensuchte, dachte er über Marilyns ersten Mann nach. Schon einmal war ihm der Verdacht gekommen, daß es möglicherweise niemals einen „Mr. Scott“ gegeben hatte. Auch fragte er sich, warum er so jung gestorben war. Ein Unfall? Oder war er vielleicht Jahrzehnte älter gewesen als Marilyn? Warum hatte sie ihn dann geheiratet? Merkwürdig, wie sehr er diese Frau liebte und dabei sowenig von ihr wußte. Er schlüpfte in seinen Wettermantel und folgte den übrigen Passagieren zum Ausstieg. Als er in die feuchte Abendluft hinaustrat, stellte er fest, daß es hier noch kälter war als in Rom, wo es leichten Frost gab. Da er auf dem Flugplatz bekannt war, dauerte die Abfertigung nur wenige Minuten. Sein Gepäck wurde zum Hotel in Otterbury weitergeschickt.
Die Halle war übervölkert. Er schaute nach Marilyn aus, konnte sie aber nirgendwo entdecken. Es war bereits kurz vor acht Uhr. Er zündete sich eine Zigarette an und schob sich durch die Menge zur Bar. Nachdem er einen Bourbon on the Rocks getrunken hatte, durchquerte er noch einmal die riesige Halle. Enttäuschung griff nach ihm, hielt ihn umfangen. Plötzlich hörte er hastige Schritte hinter sich. Er fuhr herum und stand Marilyn gegenüber, die impulsiv seinen Arm packte. „O Nick!“ rief sie atemlos. „Ich hatte solche Angst, ich würde dich verpassen. Der Bus ist im Verkehr steckengeblieben und nachher geschlichen wie eine Schnecke. Es tut mir so schrecklich leid.“ Sie sah ihn mit ihren großen glänzenden Augen an, sichtlich froh, ihn gefunden zu haben. Ihre Zähne schimmerten feucht, das prachtvolle Haar fiel ihr in weichen Wellen auf die Schultern herab. „Warum hast du kein Taxi genommen?“ fragte er und zwang sich, seiner Stimme einen gelassenen Tonfall zu geben. „Daran habe ich gar nicht gedacht“, antwortete sie offen. „Außerdem wäre auch ein Taxi im Verkehr steckengeblieben…“ Sie ließ ihn los. Auf einmal wurde ihr bewußt, daß sie sich ihr Wiedersehen ganz anders ausgemalt hatte'. Wahrscheinlich war es ihre Schuld. Sie wünschte, sie hätte alles anders angefangen. Durch eine Auseinandersetzung mit Diana hatte sie den früheren Zug nicht erreicht. Aber wie konnte sie Nicholas das erklären, wenn er sie so kühl und reserviert anschaute? Er würde es für eine Ausrede halten. „Dann nehmen wir jetzt ein Taxi“, sagte er. Seine Stimme klang noch immer so unpersönlich. Marilyn nickte und verließ vor ihm das Flughafengebäude. Er konnte feststellen, wie schlank und schick sie in ihrem dunkelgrünen glockigen ^Tweedmantel aussah. Sie hatte Geschmack, das freute ihn. Es gelang ihnen sehr schnell, ein Taxi zu bekommen. Nicholas nannte dem Fahrer die Adresse eines Klubs in der St. James's Street. „Ich schlage vor, daß wir in meinem Klub essen“, meinte er, als der Wagen sich in Bewegung setzte. „In deinem Klub? Ich hatte keine Ahnung, daß du in London so zu Hause bist.“ Sie zog nervös ihre Handschuhe aus. Nicholas zuckte die Achseln. „Es gibt eine Menge Dinge, schätze ich, die wir noch nicht voneinander wissen“, erwiderte er rätselhaft. Marilyn sah aus dem Fenster. In dieser Stimmung verstand sie ihn einfach nicht. War etwas geschehen, das die Dinge so drastisch verändert hatte? Sie blickte auf ihre Hände herab, auf den Ring, der so wunderbar leuchtete. Krampfhaft überlegte sie, was sie sagen konnte, um diese Barriere der Fremdheit zwischen ihnen niederzureißen. Nicholas saß schweigsam in seiner Ecke, starrte in den vorbeiströmenden Verkehr hinaus, während sie sich bemühte, ihn nicht allzuoft anzuschauen. Auf einmal wandte er sich ihr zu. Sie spürte seinen Blick und senkte die langen dunklen Wimpern. Der Vorhang ihres dichten seidigen Haares fiel herab und verbarg ihm ihr Gesicht. Er rückte dicht an sie heran. „Marilyn…“ sagte er weich. Nicholas konnte der Versuchung nicht länger widerstehen. Er hielt es keine Sekunde mehr aus, er mußte sie küssen. Sacht strich er ihr das Haar aus dem Gesicht, nahm sie in die Arme und preßte seinen Mund auf ihre halbgeöffneten Lippen. Nun hatte er einmal angefangen und konnte nicht wieder aufhören, sie zu küssen. Er spürte ihren Herzschlag und ihre Hingabe. Ein paar Augenblicke lang
vergaß er, daß sie in einem Londoner Taxi saßen. Marilyn wurde es bewußt und
sie löste sich von ihm.
„Nein“, murmelte sie, „o nein…“
Nicholas fuhr sich mit unsicherer Hand übers Haar. Es war genauso, wie er es in
Erinnerung hatte, nur noch intensiver. Marilyn war all das, was er sich je in einer
Frau gewünscht hatte. Jetzt konnte er seine Gefühle nicht mehr so unter
Kontrolle halten wie früher.
„Nein – was?“ fragte er.
Marilyn legte die Hände an ihren Hals, dort wo die Schlagader klopfte. Sie ahnte,
ihr Lippenstift war verschmiert, ihr Haar zerzaust, es verwirrte sie. Wollte
Nicholas nicht mit ihr in seinen Klub? „Was ist los, Nick?“
„Was soll sein?“ lächelte er. „Vermutlich war ich zu lange fort.“ Er hielt sie immer
noch im Arm.
„Aber am Flughafen warst du doch ganz fremd, und… und jetzt auf einmal…“ Sie
brach ab. Verstört legte sie den Kopf an seine Schulter.
Er ließ seine Finger durch ihr Haar gleiten und brachte es noch mehr in
Unordnung. „Am Flughafen war ich befangen, Marilyn“, sagte er zärtlich, „nicht
fremd. Verstehst du das nicht? Befangen ist man, wenn – ach, zum Teufel mit
den Erklärungen!“
Nicholas riß sie wieder an sich.
„Ich bin verrückt nach dir, Marilyn! Ich brauche dich, das mußt du doch wissen.“
Sie spürte seinen Mund an ihrem Hals. Drängende, fordernde Küsse waren es.
„Du willst alles“, murmelte sie.
„Ja“, gab er zu. „Ich liebe dich, ich will dich heiraten.“
Sie küßten sich wie im Fieber. Marilyn war es, als könne sie nie wieder aus dem
Rausch dieser Umarmung auftauchen. Sie gehörte in seine Arme. Der Funke war
von Anfang an dagewesen. Aber nun war ein Waldbrand daraus geworden, den
ein Kuß im Taxi nicht mehr beschwichtigen konnte.
„Du brauchst mir nichts zu versprechen, Nick“, sagte sie in einer Atempause.
„Ich möchte nur wissen, ob du mich liebst. Sag es mir, Marilyn“, bat er. Sein
heißer Atem strich über ihr Gesicht.
„Nick“, flüsterte sie, „ich habe dich vom ersten Augenblick an geliebt. Aber mir
liegt etwas auf der Seele. Ich muß dir von Joe und Diana erzählen…“
Nicholas sah sie forschend an. „Was muß ich wissen? Daß es einen Joe nie
gegeben hat?“
Marilyns Augen weiteten sich. „Wie kommst du darauf? Würde es dich stören,
wenn es so wäre?“
Er zögerte. „Nicht sonderlich.“
„Nun… es gab ihn, und ich war mit Joe verheiratet. Er war ein sehr gütiger
Mensch.“
„Gütig?“ Nicholas gab sie frei, sie näherten sich dem Zentrum der Stadt. „Das ist
ein seltsamer Ausdruck, den eigenen Mann zu beschreibe!?.“
„Güte war die Basis unserer… Ehe.“
„Wieso? Ihr hattet Diana.“
Marilyn atmete schwer. „Ich möchte dir das alles nicht hier im Taxi erzählen,
Nick. Sind wir nicht bald am Ziel?“
„In ein paar Minuten. Du kannst es mir dann beim Essen erzählen.“ Er nahm ihre
Hand. „Mein Gott, habe ich dich vermißt, Liebste.“
„Wirklich? Als du ankamst, sahst du aus, als wünschtest du dir, mich nie
kennengelernt zu haben. Kann man derartig befangen sein?“
Nicholas lachte leise. „Hätte ich auch nicht gedacht, daß ich das kann. Ich
sträubte mich einfach, so völlig von einer einzigen Frau unterjocht zu werden. Es
ist eine ganz neue Erfahrung für mich.“ Marilyn sah ihn an. „Stört es dich?“ „Dumme Frage! Nach all dem, was ich dir gesagt habe!“ „Hast du das nicht nur in der Hitze des Augenblicks gesagt, Nick?“ fragte Marilyn. Er schüttelte den Kopf. „Bestimmt nicht. Jedes Wort war ernst gemeint. Ich lasse dich nie wieder los.“ Seine dunkle leidenschaftliche Stimme erregte sie. Sie fuhr sich rasch mit dem Kamm durch ihr Haar und schob beim Aussteigen ihre Hand in seine. „Ich will ja gar nicht von dir loskommen“, sagte sie. Im Klub wurde Nicolas herzlich begrüßt. Sie gingen sofort in den Speisesaal, es war mittlerweile ziemlich spät geworden. Während sie aßen, beobachtete Nicholas Marilyns junges, lebhaftes Gesicht. Am Ausdruck der Augen sah er, daß etwas sie bedrückte. Er goß ihr Wein nach und sagte: „Nun, Liebes, fang an. Ich möchte mehr über deine Ehe erfahren.“ Da die Tische weit auseinander standen, konnte sie reden, ohne das Gefühl zu haben, daß jemand ihr Gespräch belauschte. „Nun ja“, begann sie verlegen. „Ich habe meine Eltern im Krieg verloren und wurde von meiner Großmutter erzogen. Sie meinte es gut mit mir, aber sie war sehr streng. Ich mußte auch mit fast siebzehn noch um halb zehn zu Hause sein, sie wollte stets wissen, wohin ich ging und mit wem. Aus purer Rebellion schloß ich mich einer ziemlich wilden Gruppe von Jugendlichen an. Verstehst du das? Ich besuchte die Handelsschule. Großmutter besaß ein Haus in Kensington. Ich ging jeden Abend tanzen oder fuhr mit einem Jungen der Gruppe auf seinem Motorrad herum.“ Sie blickte Nicholas gerade an. „Du ahnst vermutlich, was passierte.“ Er lehnte sich zurück. Seine Züge waren verschlossen, und Marilyn fürchtete jäh, er könnte sie für das, was sie getan hatte, hassen. „Wahrscheinlich wurdest du schwanger“, sagte er einfach. Marilyns Gesicht glühte. „Ja, du hast recht“, gab sie gepreßt zu. „Es war aber nur der eine Junge und nur ein einziges Mal. Er hieß Peter. Er war hübsch, und es schmeichelte mir, daß er unter all den Mädchen ausgerechnet mich gewählt hatte. Erst später erfuhr ich, daß er mit den anderen Jungen eine Wette abgeschlossen hatte, daß…“ Sie brach ab. „Muß ich dir alle Einzelheiten erzählen?“ Nicholas schüttelte den Kopf. „Nein.“ „Danke.“ Marilyn faltete ihre Serviette zusammen. Sie griff nach ihrem Weinglas, ohne zu trinken. „Hinterher hatte ich eine Riesenangst, aber Peter lachte nur und nannte mich eine Närrin.“ Sie bemerkte nicht, wie schmal Nicholas Augen wurden, wie zornig er aussah. „Eine Woche später verunglückte Peter mit seinem Motorrad. Er war sofort tot.“ Marilyn fröstelte in der Erinnerung an das Entsetzen, das sie damals empfunden hatte. Ihr wurde klar, daß sie allein war. Es gab niemanden, an den sie sich um Hilfe hätte wenden können. „Meiner Großmutter durfte ich nicht damit kommen, daß ich ein Baby erwartete. Das wollte ich ihr unter keinen Umständen antun, es wäre zu schlimm für sie gewesen. Ich war verzweifelt Wochenlang ging ich wie benommen herum, dachte an Selbstmord…“ Sie schluckte. Nicholas wartete, bis sie weitersprach: „Joe war Lehrer an der Handelsschule. Er lehrte Mathematik. Ich kannte ihn nur als Schülerin, aber ich mochte ihn. Eines Tages fand er mich ohnmächtig im Korridor. Er brachte mich in sein Zimmer und ahnte sofort, was los war. Als ich wieder zu mir kam, war er so verständnisvoll, daß ich mich ihm anvertraute. Ich
hörte kein Wort des Vorwurfs. Er trocknete meine Tränen und beruhigte mich. Es würde sich schon eine Lösung finden, sagte er. Später bat er mich dann, seine Frau zu werden.“ Marilyn erzählte Nicholas von ihrer Ehe, die im Grunde keine richtige Ehe gewesen war. Nicholas war kriegsversehrt, seine erste Frau hatte sich von ihm scheiden lassen. Er lebte allein. „Wenn ich für ihn sorgte, würde er für mich und mein Kind sorgen“, bot er mir an. „Ich war erst siebzehn, er Ende vierzig. Wenn ich an Großmutter dachte, blieb mir keine andere Wahl. Aber seine Güte machte es mir leicht, sein Angebot anzunehmen. Ich habe mich bemüht, Joe nie wehzutun, und ich hoffe, ich habe ihn ein wenig glücklich gemacht.“ Nicholas zündete sich eine Zigarette an. Er inhalierte tief. „Nun weiß ich, warum dein Wesen diese… diese gewisse Unschuld hat, das Unberührtsein. Das meinte ich, als ich dich naiv nannte. Erzähle weiter.“ Marilyn drehte nervös ihr Weinglas. „Diana weiß nichts davon. Sie glaubt noch immer, daß Joe ihr Vater war. Sie verstanden sich so gut, und obgleich es keine normale Ehe war, führten wir doch ein glückliches Leben.“ Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Diana war fünf, als die Ärzte bei Joe Lungenkrebs feststellten. Trotz Operation ging es ihm immer schlechter. Er mußte seine Stellung aufgeben. Damals fing ich an, als Sekretärin zu arbeiten, so daß wir über die Runden kamen. Sein Haus gehörte ihm, Diana ging schon zur Schule, es war nicht allzu schwierig.“ Noch nie hatte Marilyn das alles jemandem erzählt. „Als Joe starb, war Diana entsetzlich unglücklich, sie konnte nicht begreifen, daß sie ihn nie wiedersehen würde. Joe war ein wunderbarer Mensch, glaube mir, Nicholas. Allmählich nahm das Leben doch wieder einen normalen Verlauf. Das Haus mußten wir verkaufen. Wir mieteten eine Wohnung. Aber unser kleines Kapital schmolz dahin, und als ich dann eines Tages Adrians Annonce in der Zeitung fand, stürzte ich mich darauf. In einer Kleinstadt lebte man billiger, auch sollte mein Gehalt höher sein. Adrian verhalf mir zu unserer jetzigen Wohnung. Das wäre meine Geschichte bis zum heutigen Tage.“ Marilyn nahm die Zigarette, die Nicholas ihr anbot und blickte nachdenklich in sein Gesicht. Sie entdeckte keine Mißbilligung darin, nur Mitgefühl. „Hast du vor, Diana zu sagen, wer wirklich ihr Vater war?“ fragte er. Marilyn zog bekümmert die Brauen zusammen. „Ich weiß es einfach nicht. Sie hält die Erinnerung an ihren Vater so hoch. Es wäre hart für sie, wollte ich ihr das nehmen. Auch wenn Joe nur dem Namen nach ihr Vater war.“ Nicholas lächelte. „Gibt es eine schönere Art, die Liebe eines Kindes zu erringen, als durch bloße Anwesenheit und stete Fürsorge? Joe war Dianas Vater! Er muß ein großartiger Mensch gewesen sein.“ „Das war er.“ Nicholas schlanke, braune Hand schloß sich um ihre. „Hast du ihn geliebt?“ „Ja, das habe ich.“ Marilyn wich seinem Blick nicht aus. „Aber ich war natürlich nie leidenschaftlich in ihn verliebt.“ Der Ober brachte den Kaffee. Nachdem er fort war, sagte Nicholas mit etwas rauher Stimme: „Ich bezweifle ob du je erfahren hast, was Liebe zwischen Mann und Frau sein kann.“ Marilyn zuckte die Schulter. „Wahrscheinlich nicht. Dafür war Joe sehr verständnisvoll. Er gab mir jede Freiheit.“ „Hast du davon Gebrauch gemacht?“ Nicholas Gesicht war auf einmal fast grausam. Er zwang sie, seine Frage zu beantworten. „Nein, nie“, sagte Marilyn. „Aber er hätte es verstanden.“
„Erwarte von mir nicht die gleiche Behandlung“, erwiderte Nicholas trocken.
Plötzlich lächelte Marilyn. „Oh, Nicholas, glaubst du wirklich, daß ich mir das von
dir wünschen würde? Auch ich sehne mich nach dir. Ich möchte alles mit dir
teilen, immer bei dir sein. Ich wünsche es mir so sehr, daß es wehtut…“
„Schau mich nicht so an, Liebes, das ertrag' ich nicht“, stieß er hervor. „Komm,
gehen wir woanders hin.“
Sie besuchten einen kleinen, intimen Nachtklub, wo das Licht gedämpft und die
Musik erregend war. Sie tanzten miteinander auf der winzigen Tanzfläche,
engumschlungen, Körper an Körper, im Gleichklang der Bewegung. Nicholas
Lippen glitten unruhig über ihre Schläfen, ihre Wangen, bis sie das Gesicht hob.
Immer wieder küßte er sie, ohne jede Scheu.
Marilyn wußte, daß sie diesen Mann mehr liebte als sie je für möglich gehalten
hatte. Nicholas war klar, daß er sein ganzes bisheriges Leben nur nach einer Frau
wie Marilyn gesucht hatte. Er wollte sie beschützen und ihr all das bieten, was ihr
entgangen war. Sie hatte für den einzigen Fehltritt ihres Lebens teuer genug
bezahlen müssen. Sie ahnte ja nicht, was es hieß, sich zu amüsieren.
Er sagte ihr, daß Harvey um zehn kommen würde, um sie abzuholen, also in
wenigen Minuten.
„Ich weiß, daß es noch früh ist“, setzte er hinzu. „Aber um Dianas willen möchte
ich, daß du nicht zu spät nach Hause kommst.“ Sie kehrten an den Tisch zurück,
er sah sie ernst an. „Ehe wir uns trennen, möchte ich noch etwas klarstellen,
Marilyn. Was früher war, kümmert mich nicht, und es besteht kein Grund für
dich, Diana über ihren Vater aufzuklären. Mir geht es nur um dich und mich. Ich
will dich heiraten, sobald ich die Lizenz bekomme.“
„Das möchte ich auch“, sagte sie weich. „Aber Diana…“
„Diana muß zur Vernunft kommen. Sie ist doch kein Kind mehr. Sie ist fast
erwachsen und sollte auch so behandelt werden. Sie kann nicht bis in alle
Ewigkeit für dich entscheiden. Du mußt etwas energischer vorgehen.“
„Diana hofft noch immer, daß ich Adrian heiraten werde.“
„Hättest du es getan, wären wir uns nicht zufällig begegnet?“
Marilyn schüttelte den Kopf. „Nein, da bin ich ganz sicher. Meine Ehe mit Joe war
etwas Besonderes. Mit Adrian lägen die Dinge anders, denn er würde eine Ehe im
wahren Sinne des Wortes erwarten. Schließlich ist er ein gesunder, normaler
Mann. Warum sollte er auf eine Frau verzichten?“
„Ja, warum!“ Nicholas nickte. „Aber das löst nicht unsere Probleme. Diana darf
nicht länger über dein Leben verfügen. Vielleicht fürchtet sie, ein jüngerer Mann
als Adrian würde dich ihr wegnehmen. Auch, daß du noch andere Kinder haben
könntest.“
Marilyn drückte ihre Zigarette aus. „Vermutlich hast du recht, Nick.“
„Bestimmt. Ich habe Erfahrung mit Menschen, es gibt für alles immer eine
Erklärung.“ Er leerte sein Glas. „Ich möchte, daß wir vor Ostern heiraten. Das
Fest feiern wir in Vilentia, im Hause meiner Mutter. Diana kann mitkommen und
Maria Gesellschaft leisten. Meine Mutter sorgt schon dafür, daß wir in Ruhe
gelassen werden. Vielleicht holen wir auch die Jacht und segeln die adriatische
Küste entlang. Dann wären wir ganz allein. Mein Land wird dir gefallen, Marilyn.“
Sein zärtlicher Blick hüllte sie ein.
„Die Nächte sind lang und schwül. Ich werde dich lehren, was es heißt, zu lieben.
Liebes, laß mich nicht länger als bis Ostern warten!“ bat er leidenschaftlich.
Marilyn umfaßte fest seine Finger. „Ich komme…“ flüsterte sie, aber eine andere
Stimme brach in ihr Gespräch ein.
„Zeit aufzubrechen, Freunde!“ Es war Harvey.
Nicholas sah auf die Uhr. „Du kommst fünf Minuten zu früh“, tadelte er.
„Welch ein Willkommen!“ Harvey nahm neben Marilyn Platz. „Es scheint Ihnen
gutzugehen, stimmt's?“
„Wunderbar!“ bestätigte Marilyn. Sie blickte Nicholas an. „Fahren wir sofort los?“
„Moment mal!“ warf Harvey vorwurfsvoll ein. „Wollt ihr einem durstigen Burschen
nicht mal einen Drink kaufen?“ Nicholas grinste und gab dem Kellner ein Zeichen.
„War der Flug angenehm?“ erkundigte sich Harvey, als die Drinks vor ihnen
standen.
„Wie immer“, nickte Nicholas. „Übrigens möchte ich dich mit der zukünftigen Mrs.
Vitale bekanntmachen.“
Harvey starrte ihn ungläubig an. „Ist das dein Ernst?“
„Marilyn hat sich bereit erklärt, mich zu heiraten.“
Als Harvey diese Nachricht verdaut hatte, lachte er strahlend. „Das finde ich
richtig nett. Gratuliere!“ Er wandte sich Marilyn zu. „Ihnen gratuliere ich nicht Sie
wissen nicht, was Sie sich da aufgeladen haben!“
Sein gutmütiger Spott rundete den Abend ab. Marilyn war erleichtert, daß er sich
wirklich freute. Bei Diana konnte sie kaum mit einer solchen Reaktion rechnen.
Auf der Fahrt nach Otterbury saß Nicholas am Steuer, Marilyn neben ihm,
zwischen den beiden Männern. Aber sie war sich nur Nicks Nähe bewußt. Sie
setzten Harvey am ,Hirsch' ab und fuhren dann zu Marilyns Wohnung. Als der
Wagen hielt, zog Nicholas sie an sich. Sie küßten sich, und es war ihnen beinahe
unmöglich, sich voneinander zu trennen.
„Ich liebe dich“, murmelte er. „Wann sehe ich dich morgen?“
„Am besten kommst du zu uns, Nick.“ Marilyn fuhr ihm mit den Fingern durch
das dichte, kräftige Haar. „Ich werde Diana von uns erzählen, und ich möchte,
daß ihr euch besser kennenlernt.“
„Okay.“ Nicholas gab sie frei. „Geh jetzt, ehe ich dich noch einmal anrühre. Ich
komme gegen halb drei. Ist dir das recht?“
„Ja, sicher.“ Sie lächelte. „Und ich danke dir.“
„Wofür?“ fragte er stirnrunzelnd.
„Weil du an mich glaubst und nicht böse bist wegen dem, was einmal war.“
„Hast du das befürchtet?“ Er sah sie liebevoll an. „Wäre dein Leben anders
verlaufen, wärst du nicht die Marilyn, die ich liebe und anbete. Wie die Dinge
liegen, werde ich dein erster richtiger Ehemann sein. Das bedeutet eine Menge
für mich.“
Marilyns Blick verschwamm. „Bis morgen…“
Sie stieg rasch aus und lief ins Haus, ohne sich noch einmal umzudrehen.
8. KAPITEL Es gelang Marilyn nicht, Diana noch am selben Abend von Nicholas' Heiratsantrag
zu erzählen. Ihre Tochter lag bereits im Bett und schlief fest.
Marilyn dagegen verbrachte eine unruhige Nacht. Als sie am Morgen erwachte,
war ihr, als hätte sie überhaupt nicht geschlafen. Sie sah Diana auf dem Bettrand
sitzen und etwas trinken, das wie aufgelöstes Aspirin aussah.
„Fehlt dir etwas?“ fragte Marilyn verwundert.
Diana wirkte auffallend blaß. Da sie sonst eigentlich kaum je krank war, begann
Marilyn sich sofort zu sorgen. .
„Ich habe mich übergeben“, antwortete Diana undeutlich, als bereite ihr das
Sprechen Mühe. „Jetzt habe ich unerträgliche Kopfschmerzen. Ich glaube, ich
muß mich erkältet haben.“
Marilyn schlüpfte aus dem Bett, zog ihren Morgenmantel und ihre Hausschuhe
an. Danach trat sie an Dianas Bett und legte ihr prüfend die Hand auf die Stirn.
Sie fühlte sich etwas fiebrig an. Nachdenklich betrachtete sie ihre Tochter.
„Dann bleibst du am besten im Bett, Diana“, sagte sie liebevoll. „Möchtest du
frühstücken? Vielleicht Toast und ein weiches Ei?“
Diana schüttelte den Kopf. Sie schluckte den Rest des trüben Getränks hinunter,
und zog sich mit mürrischer, abweisender Miene unter ihre Bettdecke zurück.
Marilyn wollte in die Küche und öffnete die Tür.
„Wenn ich bitte eine Wärmflasche haben könnte“, sagte Diana auf einmal. „Und
vielleicht ein geschlagenes Ei mit Sahne und Zucker.“
Marilyn blickte sie zweifelnd an. „Wäre das richtig?“ meinte sie. „Wenn du dich
doch übergeben hast…“
„Ich habe Appetit darauf“, erklärte Diana, „dann bekommt es mir auch.“
„Na gut.“ Marilyn schloß die Tür hinter sich. Sie ging in die Küche und setzte
Wasser auf. Danach machte sie im Wohnzimmer Ordnung und drehte die
Zentralheizung an.
Nachdem sie Diana versorgt hatte, bereitete sie für sich selbst Toast und Kaffee.
Während sie frühstückte, überlegte sie, ob sie ihrer Tochter jetzt überhaupt von
Nicholas erzählen sollte. Dianas Stimmungsbarometer schien ohnehin auf dem
Nullpunkt zu sein, dazu die Erkältung, die sie sich anscheinend zugezogen hatte.
Die Nachricht von ihren Heiratsplänen würde vielleicht zu einem ernsten Konflikt
führen. Marilyn fühlte, daß sie auch ein wenig feige war, sie scheute die
Auseinandersetzung. Aber wenn Diana krank war, verdiente sie auf alle Fälle
Nachsicht.
Sie mußte also Nicholas informieren, damit er nicht aus der Schule plauderte,
wenn er kam.
Sie zog sich an, sagte Diana, sie müsse mit dem Hausmeister sprechen, und ging
telefonieren.
Es war bereits halb elf. Aber als Nicholas sich meldete, klang seine Stimme etwas
belegt, und sie erkannte, daß er noch geschlafen haben mußte.
„Wer ist da?“ fragte er.
„Ich bin es, Marilyn.“
„Marilyn?“ Seine Stimme wurde klarer. „Marilyn, was ist passiert? Warum rufst
du mich so zeitig an?“
„Gar so früh ist es gar nicht, Nick. Ich bin schon seit Stunden auf. Diana fühlt
sich nicht wohl, verstehst du? Ich fürchte, sie hat eine starke Erkältung und habe
ihr gesagt, sie soll im Bett bleiben.“
„Ja und?“ knurrte Nicholas.
„Es… oh, Nick, ich kann ihr heute nichts von unserem Entschluß erzählen.“ Sie
verstummte. Plötzlich kamen ihr die eigenen Worte so endgültig vor. „Versuche,
mich zu verstehen, ja?“
Er überlegte ein paar Augenblicke. „Meinetwegen, sage es ihr heute noch nicht.
Aber verlange nicht von mir, daß ich dich heute nicht sehe.“ .
„Du kommst trotzdem?“
„Selbstverständlich“, erklärte er entschieden. „Höre, Marilyn, du und ich heiraten,
ganz egal, was geschieht. Wenn nicht diese Woche, dann nächste, und so weiter.
Bitte, mach dir das klar.“
„Ich wünsche es mir doch, Nick!“ rief Marilyn.
„Diana muß sich daran gewöhnen, mich um sich zu haben“, fuhr er mit der
gleichen Entschiedenheit fort. „Da hilft alles nichts.“
„Ich bin ganz deiner Meinung“, versicherte Marilyn hastig. „Du darf st mir nicht
böse sein.“
„Ich bin nicht böse.“ Sein Tonfall war immer noch unnachgiebig.
„Dann sehen wir dich am Nachmittag.“
„Ja, gegen halb drei.“
Sie legte auf. Sie wußte, sie sehnte sich danach, ihn zu sehen. Aber sie fürchtete
seine Haltung Diana gegenüber.
Als sie zurückkam, warf Diana sich in ihrem Bett hin und her. Sie sah elend aus.
Marilyn holte einen Schwamm, um ihr das Gesicht mit kaltem Wasser
abzuwaschen.
„Möchtest du heiße Zitrone?“ fragte sie und strich Diana das Haar aus der Stirn.
„Vielleicht. Hast du Zitronen?“
„Ja, ich mache dir gleich etwas zurecht.“
Marilyn bereitete in der Küche das Zitronenwasser. Sie brachte es Diana, die das
Glas langsam leerte. „So, jetzt versuche, ein wenig zu schlafen, Kind. Ich sehe in
einer Weile wieder nach dir. Wenn es dir dann nicht besser geht, rufe ich Dr.
Foulds.“
Diana schüttelte den Kopf. „Ich brauche keinen Arzt“, sagte sie mürrisch. „Ich
habe mich erkältet. Morgen bin ich wieder in Ordnung.“
„Hoffentlich. Warten wir ab.“
Als Marilyn mittags ins Zimmer schaute, schlief Diana. Sie kochte eine
Gemüsesuppe, die sie ihr später bringen wollte. Sie selbst war zu nervös, um
Appetit zu haben. Sie sorgte sich abwechselnd wegen Dianas Zustand und Nicks
Heiratsantrag. Bis Ostern fehlten nur noch vier Tage, die Vitales wollten
spätestens am Donnerstag nach Italien fliegen. Und bis dahin sollte noch soviel
geschehen. Es war unmöglich, einfach unmöglich!
Nicholas kam schon kurz nach zwei Uhr. Diana schlief noch, und Marilyn ließ ihn
leise ein. Er trug unter seinem Mantel dunkle Hosen und einen marineblauen
Pullover, der die tiefe Sonnenbräune seines Gesichts unterstrich. Wenn sie ihn
ansah, empfand sie ein ungeheures Glücksgefühl.
„Nun?“ fragte er, ohne sie zu berühren. „Wie geht es Diana?“
„Nicht gut, fürchte ich. Sie hat bestimmt Temperatur und schläft schon den
ganzen Tag.“
„Das tut mir leid.“ Sie gingen ins Wohnzimmer.
Marilyn deutete auf die Couch. „Bitte, setz dich“, sagte sie etwas förmlich und
bemerkte, wie er die Brauen hochzog.
Fahrig trat sie ans Fenster. Es geschah nicht zum ersten Mal, daß sie in seiner
Gegenwart ihre Selbstsicherheit einbüßte. Sie wurde immer nervöser. Nicholas,
mit seiner Gabe sie zu durchschauen, packte ihr Handgelenk.
„Was bekümmert dich, Liebste? Ich meine, außer Dianas Schnupfen?“
Marilyn versuchte vergeblich, sich zu befreien. „Wie kommst du darauf, daß mich
etwas bekümmert?“
„Weiche mir nicht aus.“ Seine Augen wirkten ganz dunkel. „Komm her.
Verdammt noch einmal, ich wollte dich nicht anrühren, aber jetzt sehe ich, daß
es sein muß…“
Er zog sie näher, bis sie über ihn fiel. Er fing sie in seinen Armen auf, und für
eine Weile wurde es still im Raum.
In diese Stille hinein drang Dianas klagende Stimme:
„Mutti… bist du da?“
Marilyn sprang auf. Sie knöpfte ihre Bluse zu und glättete ihr Haar, während
Nicholas sich eine Zigarette anzündete. Unruhig trat sie ins Schlafzimmer.
„Freilich bin ich da, Diana. Möchtest du etwas Gemüsesuppe?“
„Nein, danke. Nur etwas zu trinken“, sagte Diana schlechtgelaunt.
Marilyn goß ihr Kirschsaft ein und hielt ihr das Glas an die Lippen, als Nicholas
auftauchte. Er kam nicht ins Zimmer, er blieb neben dem Türpfosten stehen.
Diana erblickte ihn. Ihre Augen weiteten sich ungläubig, und sie verschluckte sich
an dem Saft. Marilyn reichte ihr ein Taschentuch.
„Wir haben einen Gast“, erklärte sie dabei.
„Das sehe ich“, gab Diana kalt zurück.
„Hallo“, sagte Nicholas, „Ihre Mutter hatte mich gestern eingeladen.“
Diana legte sich in die Kissen zurück und wandte ihm den Rücken zu.
„Setz dich ein bißchen zu mir, Mutti“, bat sie plötzlich. „Ich fühle mich so
einsam.“
„Dann kommen Sie doch zu uns ins Wohnzimmer“, schlug Nicholas vor.
Diana warf ihm einen beleidigten Blick zu. „Ich fühle mich nicht gut.“
Nicholas wirkte nicht überzeugt. „War der Arzt da?“
„Noch nicht“, antwortete Marilyn.
„Ich sagte dir, daß ich keinen Arzt brauche!“ schrie Diana.
„Sie behandeln sich also selbst“, meinte Nicholas sarkastisch. „Ich finde, Sie
sollten doch besser einen Arzt konsultieren.“
Marilyn sah ihn ängstlich an. „Glaubst du wirklich?“
„Nein. Trotzdem meine ich, daß für Diana alles im Bereich des Möglichen
Liegende getan werden sollte.“ Er beachtete Dianas feindselige Haltung nicht.
„Könntest du ihn bitte für mich anrufen? Dr. Foulds. Du findest seine Nummer im
Telefonbuch.“ Marilyn beschrieb ihm den Weg zur nächsten Telefonzelle, und er
brach sofort auf.
Als er weg war, fuhr Diana ihre Mutter wütend an: „Das habt ihr zusammen
ausgeheckt. Ihr seid beide gemein!“
Marilyn starrte sie verständnislos an. „Aber wieso? Wir möchten nur, daß du
schnell wieder gesund wirst.“
„Klar. Damit ihr schnell wieder miteinander ausgehen könnt!“
„Das war ungezogen, Diana.“
„Tu nicht so gekränkt!“ Diana rebellierte noch immer. „Von mir aus holt den Arzt.
Mir ist es egal!“
Dr. Foulds kam unverzüglich. Nachdem er Diana untersucht hatte, kehrte er ins
Wohnzimmer zurück. Er blickte Marilyn an:
„Soweit ich das beurteilen kann, Mrs. Scott, fehlt Diana überhaupt nichts. Sie ist
höchstens ein bißchen erkältet.“
„Aber ihre Temperatur?“
„… ist völlig normal“, antwortete der Arzt lächelnd. „Ich fürchte, Ihre Tochter
simuliert, Mrs. Scott. Will sie morgen nicht zur Schule?“
Marilyn wagte kaum, Nicholas anzusehen. „Aber sie hat sich übergeben,
Doktor…“
„Waren Sie dabei – als sie sich übergab, meine ich?“
„Nein.“
„Eben. So habe ich es mir gedacht. Sie macht Ihnen etwas vor.“ Dr. Fould wurde
energisch: „Aber Ihre Tochter hat nicht das Recht, einen vielbeschäftigten Arzt
eines Schnupfens wegen zu einem Hausbesuch aufzufordern, Mrs. Scott.“
Marilyn entschuldigte sich verlegen. „Es tut mir schrecklich leid, Doktor, aber...“
„Schon gut“, winkte Dr. Fould ab, „Sie können nichts dafür. Schicken Sie Ihre
Tochter morgen zur Schule und raten Sie ihr, solchen Unsinn nicht wieder zu
machen. Sonst lege ich sie übers Knie, so groß sie auch ist.“ Lachend gab er
Marilyn die Hand.
Sie begleitete ihn zur Tür. Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, starrte Nicholas
aus dem Fenster. Er fuhr herum und sagte:
„Ist dir klar, daß diese ganze Vorstellung nur unseretwegen stattgefunden hat?“
Marylin schwieg. Sie wußte, daß er recht hatte.
„Sie muß glauben, daß wir komplette Idioten sind“, fuhr Nicholas fort. „Aber
damit kommt sie nicht durch.“
„Womit?“ Marilyn sah ihn fragend an.
„Mit ihrem Einfall, daß sie durch eine gespielte Krankheit unsere Pläne
beeinflussen kann.“
„Was wollen wir tun?“
„Ihr die Wahrheit sagen – jetzt!“ Nicholas schob die Hände in die Hosentaschen.
„Offensichtlich ahnt sie, daß du etwas vorhast, was ihr noch unangenehmer wäre
als eine vorübergehende Affäre.“
Marilyn lief zu ihm hin. „Du hast sicherlich recht, Nick. Aber wir können das alles
doch nicht jetzt besprechen!“
„Warum nicht?“ fragte er kalt.
Marilyn fehlten die richtigen Worte. „Ich möchte, daß alles im Guten geht, ohne
bösen Konflikt, Nick. Im Augenblick würden wir nur eine heftige
Auseinandersetzung provozieren, und niemand weiß, wie lange nachher die
Feindschaft dauert.“
„Marilyn, du hast doch bloß Angst, es ihr zu sagen“, rief Nicholas vorwurfsvoll.
„Heute ist Sonntag. Meine Mutter trifft Mittwoch ein, und Donnerstag fliegen wir
nach Vilentia. Wie lange willst du die Aussprache denn noch hinausschieben?“
„Ich weiß nicht…“ Marilyn wandte sich hilflos ab. „Es kommt alles so plötzlich.“
„Plötzlich? Verlangst du, daß ich auf unbestimmte Zeit warte, bis du genug Mut
gesammelt hast, um deiner Tochter zu gestehen, daß du ein neues Glück
gefunden hast?“
„Nein, ich will nicht warten. Ich bring's nur nicht über mich, ihr… ihr das Herz zu
brechen!“ sagte Marilyn verzweifelt.
„Ich glaube, das Herz deiner Tochter ist schwerer zu brechen als das anderer.
Wirst du es ihr jetzt sagen – oder nicht?“ fragte Nicholas unerbittlich.
„Ich… ich… Nick, bitte…“
Nicholas griff nach seinem Mantel. Sein Gesicht war ausdruckslos, nur in den
Augen loderte Zorn.
„W… wohin gehst du?“ fragte Marilyn mit hoher, dünner Stimme.
„Ins Hotel zurück.“
Er ging zur Tür.
„O nein! Nick, so darfst du nicht gehen…“ bat sie und spürte, wie jeder Tropfen
Blut aus ihrem Gesicht wich.
Nicholas riß die Tür auf. Er war verschwunden, noch ehe sie ihn zurückhalten
konnte. Auch für ihn war es eine bittere Erfahrung. Noch nie zuvor hatte sich ihm
eine Frau widersetzt. Es war um so demütigender für ihn, als er fühlte, daß er sie
trotz ihrer Unentschlossenheit und Feigheit noch immer haben wollte. Wäre er
nur ein wenig länger bei ihr geblieben, hätte er nachgegeben und sich mit einem
Hinausschieben des Hochzeitstermins einverstanden erklärt, um Marilyn nicht zu
verlieren…
Marilyn stand am Fenster und starrte ihm nach, schon blickblind vor Tränen.
Aufgelöst ließ sie sich dann auf die Couch sinken. Die Erkenntnis dessen, was sie
getan hatte, überfiel sie mit niederschmetternder Wucht.
Nicholas fuhr direkt ins Hotel zurück. Er war noch immer wütend, als er die Tür
zu Marias Räumen aufriß und einfach eintrat.
Maria war allein. Sie lag auf der Couch und blätterte in einer Zeitschrift. Ein
wenig träge lächelte sie ihm entgegen und fragte sich, warum er so schnell
wieder da war und was ihn in so sichtlich schlechte Laune versetzt haben
mochte. Im Laufe der Jahre hatte sie jedoch gelernt, solche Fragen nicht hart zu
stellen.
„Das ist ja eine Überraschung“, sagte sie nur.
Nicholas warf sich in einen Sessel. Er fühlte sich ziemlich angeschlagen. „Gib mir
einen Drink. Du weißt, was ich mag.“
„Und wie du es magst“, bemerkte Maria leichthin und erhob sich. Sie trug einen
Hausanzug, ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengenommen. Auf
Nicholas wirkte sie frisch und unkompliziert. Warum konnte Diana Scott nicht
auch ein normales, ausgeglichenes Mädchen sein?
„Recht so?“ Maria reichte ihm sein Glas. Sie runzelte die Stirn. „Fühlst du dich
ganz wohl?“ fragte sie.
Nicholas schüttelte den Kopf. „Nein, hundsmiserabel!“ Wut war in seiner Stimme.
Maria schwieg und zog sich auf die Couch zurück, um weiterzulesen. Nicholas
starrte zu ihr hinüber. „Wo ist Miss Sykes?“
„In ihrem Zimmer. Warum – möchtest du sie sprechen?“
„Nein“, knurrte er. „Was hast du gemacht, außer dich mit Konfekt vollzustopfen?“
Er deutete auf die halbgeleerte Schachtel neben ihr.
„Nicht viel. Wir sind spazierengegangen und haben irgendwo eine Tasse Kaffee
getrunken. Es war nicht aufregend.“ Sie lächelte.
Nicholas ertrug es nicht, stillzusitzen. Er wußte, er würde auch nachts nicht
schlafen können. Er hatte noch seinen Mantel an, zog ihn aus und warf ihn auf
einen Stuhl.
Rastlos tigerte er im Zimmer auf und ab. Wie ein prachtvolles, gefangenes
Raubtier, dachte Maria. Sie war sehr stolz auf ihren Vater. Aber jetzt spürte sie,
daß etwas nicht in Ordnung war.
„Bitte, tu das nicht, Nick. Es macht mich nervös.“
Er ignorierte ihre Bemerkung und fuhr fort, hin und her zu laufen. Nachdem er
sich einen weiteren Drink genommen hatte, fragte er: „Möchtest du eine
Spazierfahrt mit mir machen?“
„Ja… doch. Aber bist du ganz sicher, daß ich es bin, die du mitnehmen
möchtest?“
„Ganz sicher“, antwortete er wütend.
Maria zuckte die Achseln und erhob sich. „Reiß mir nicht den Kopf ab. Ich habe
nur eine Frage gestellt. So, wie du mich anschaust, könnte man denken, ich wäre
der letzte Mensch, mit dem du eine Spazierfahrt machen möchtest.“
Nicholas' Miene verdüsterte sich noch mehr. „Und was willst du damit andeuten?“
„Nun, es gibt weibliche Gesellschaft – und weibliche Gesellschaft“, meinte sie
leichthin. „Im Augenblick würde ich sagen, daß du etwas anderes brauchst als die
Begleitung deiner Tochter.“
„Ach, laß mich in Ruhe“, versetzte er. „Jedenfalls irrst du dich.“
„Wie wäre es dann mit Marilyn?“ Maria konnte die Frage einfach nicht
unterdrücken.
„Vergiß sie“, sagte er kalt. „Willst du dich umziehen?“
„Natürlich. Und sei bitte nicht so brummig. Ich bin es ja nicht, die dich in Zorn
versetzt hat.“
„Okay.“ Nicholas' Blick wurde vorübergehend weicher. „Laß mich nicht zu lange
warten.“
Als sie an ihm vorbeiging, gab er ihr einen liebevollen Klaps, und sie lachte
fröhlich zu ihm auf. Was immer ihn auch bedrücken mochte, er hatte
anscheinend nicht vor, es ihr jetzt zu erzählen.
Sie zog sich einen weißen Hosenanzug mit marineblauen Aufschlägen an. Sie sah
darin älter, eher wie eine Achtzehnjährige aus. Nicholas blickte ihr entgegen.
Maria wirkte ebenso selbstsicher und verwöhnt wie auch er sich normalerweise
fühlte. Im Moment war alles anders.
Als Maria neben ihm im Wagen Platz nahm, begann sie sich auf diesen
unerwarteten Ausflug zu freuen. Seit ihrer Ankunft in England hatte ihr Vater
immer wenig Zeit für sie gehabt. Sie war glücklich, daß sie einmal zusammen
waren.
Auf dem Marktplatz von Otterbury herrschte reger Betrieb. Junge Leute standen
herum, unterhielten sich und lachten miteinander. Maria beneidete sie. In Italien
hatte sie viele Freunde, hier vermißte sie die Gesellschaft gleichaltriger Jungen
und Mädchen.
Plötzlich lehnte sie sich auf ihrem Sitz vor. „Das dort ist Diana Scotts Freund.
Sieht aus, als warte er auf jemanden. Ob er wohl mit Diana verabredet ist?“
„Möglich“, meinte Nicholas. „Dann wird er vermutlich vergeblich warten müssen.
Sie liegt im Bett.“ Es klang spöttisch, und Maria warf ihm einen Blick zu.
„Ist sie krank?“
„So sagte sie.“ Nicholas' Finger schlossen sich fester um das Steuerrad.
„Sollten wir nicht anhalten und ihm Bescheid geben? Er sieht aus, als stünde er
schon eine ganze Zeit dort herum.“
Nicholas hatte wenig Lust, mit jemandem zu sprechen, der die Scotts kannte.
Aber ihm blieb keine Wahl, wollte er nicht eine Menge neugieriger Fragen
herausfordern.
Er wendete und fuhr dorthin zurück, wo Jeff stand.
Maria kurbelte das Fenster herunter. „Hallo!“ rief sie. „Warten Sie auf Diana?“
Jeff kam freudig überrascht näher, und Maria fragte hastig ihren Vater: „Wollen
wir ihn nicht einladen mitzukommen? Dann könnte ich mich mal mit jemand
unterhalten, der jung ist.“
„Danke.“ Nicholas warf ihr einen schrägen Blick zu, und sie kicherte. Indem
erreichte Jeff den Wagen.
„Ist etwas mit Diana?“ fragte er. Voller Bewunderung blickte er dabei Maria an,
und es war ihm völlig einerlei, ob Diana noch kam oder nicht.
„Sie liegt krank zu Bett“, sagte Maria. Ihre Augen sprühten. „Sie wird nicht
kommen. Und Sie wissen jetzt nicht, was Sie anfangen sollen, nicht wahr?“
Jeffs Augen wurden schmal. „Ja, das stimmt.“
„Möchten Sie nicht mit uns kommen? Ich weiß zwar nicht genau, wohin wir
fahren, aber es wäre immer noch besser als gar nichts.“
„Viel besser. Nur…“ Jeff musterte Nicholas, der unbeteiligt dasaß. „Hat Ihr… Ihr
Freund denn nichts dagegen?“
Maria lachte schallend auf. „Das ist mein Vater“, rief sie. „Ihm ist es recht.
Steigen Sie ruhig ein.“
Sie rutschte ein Stück, so daß Jeff neben ihr Platz nehmen konnte. Nicholas
mußte unwillkürlich daran denken, daß erst gestern Marilyn neben ihm gesessen
hatte, dicht neben ihm.
Neuer Zorn stieg in ihm auf. Er gab Gas, und einige Passanten sprangen
erschrocken beiseite.
Wie befürchtet, schlief Nicholas schlecht in dieser Nacht. Unruhig wälzte er sich
im Bett hin und her. Zweimal ging er ins Badezimmer, um Aspirin einzunehmen –
ohne jeden Erfolg. Um sieben stand er schlechtgelaunt auf, sein Kopf schmerzte
unerträglich.
Gegen halb elf traf er in der Fabrik ein. Der Portier winkte ihm zu.
„Mr. Vitale! Eine junge Dame wartet seit einer Stunde auf Sie. Sie sagte, es
handele sich um eine Privatangelegenheit, deshalb habe ich sie ins
Empfangszimmer gesetzt.“
Nicholas' Pulsschlag begann zu jagen. Marilyn! Nur sie konnte es sein, glaubte er.
Mit langen Schritten durchquerte er die geräumige Halle und riß ungeduldig die
Tür des Empfangszimmers auf. Von einem Stuhl neben dem Fenster erhob sich
ein Mädchen. Es war Diana Scott!
Vor Enttäuschung stockte ihm fast der Atem. Es kostete ihn Anstrengung, sich
zusammenzureißen und die Tür zu schließen. Seine Augen waren so kalt wie
Gletscher, als er Diana ansah. Ihre Hände verkrampften sich.
„Guten Morgen, Mr. Vitale“, sagte sie unsicher und setzte sich wieder hin.
Nicholas ging um den Tisch herum und stellte sich mit dem Rücken zum Fenster.
„Was wollen Sie hier?“
Diana errötete. „Ich werde es Ihnen sagen Mr. Vitale. Ich möchte, daß Sie damit
aufhören, meine Mutter zu treffen.“ Sie räusperte sich. „Und zwar für immer.“
Nicholas' Gesichtsausdruck war furchterregend, seine Stimme eigentümlich leise.
„Das meinen Sie ernst?“
Diana schluckte krampfhaft. „Hören Sie, wir waren sehr glücklich, bevor Sie
kamen und unseren Frieden störten und meine Mutter gegen mich auf hetzten.“
„Sie selbst sind an der Entwicklung der Dinge schuld, nicht ich“, erklärte er.
„Außerdem verstehe ich nicht, wie Sie solche Behauptungen aufstellen können,
wo Ihre Mutter doch stets Ihr Glück vor das eigene setzt.“
„So war es früher“, ereiferte sich Diana. „Aber jetzt… jetzt behandelt sie mich, als
sei ich eine Last für sie.“
„Das ist barer Unsinn!“
„Es ist wahr“, rief Diana höhnisch. „Sie bildet sich ein, Sie hätten
Heiratsabsichten, nur weil Sie mit ihr ausgehen und ihr rote Rosen schicken.“
Nicholas preßte einen Moment die Lippen aufeinander. „Ich weiß nicht, woher Sie
die Dreistigkeit nehmen, hierher zu kommen und in dieser Art über Ihre Mutter
zu sprechen“, entgegnete er beherrscht. „Was bilden Sie sich denn ein? Wofür
halten Sie sich überhaupt?“
Diana reckte ihr Kinn und ließ ihren Blick verächtlich an ihm herabfallen. „Ich
liebe meine Mutter. Ich will nicht, daß ihr weh getan wird. Onkel Adrian will sie
heiraten. Glauben Sie, er wird sie noch haben wollen… nach Ihnen?“
„Halten Sie den Mund!“ fuhr Nicholas sie an. „Wie können Sie behaupten, Ihre
Mutter zu lieben? Sie lieben nur einen einzigen Menschen: Diana Scott. Sie haben
Angst, Ihre Mutter könnte mich heiraten, es geht ihnen aber nicht darum, ob ihr
weh getan wird oder nicht. Sie haben nur die Angst, die zweite Geige spielen zu
müssen. Denn wir könnten schließlich noch weitere Kinder bekommen, nicht
wahr?“
Diana schrie so entsetzt, als habe er sie geschlagen. Mühsam erhob sie sich. „Ich
finde die ganze Sache abscheulich“, rief sie. „Wie können Sie so zu mir
sprechen?“
„Weil ich recht habe. Vor mir können Sie sich nicht verstellen, Diana, ich durchschaue Sie.“ Er war nicht geneigt, ihre Gefühle zu schonen. „Was ist übrigens an einer Heirat so abscheulich?“ „N… nichts. Aber Sie sind nicht wie Vati oder Onkel Adrian. Sie sind… gräßlich!“ Nicholas holte tief Luft. „Sagen Sie mir, warum?“ forderte er. „Wenn Sie es nicht können, will ich es für Sie besorgen.“ Dianas Finger verschlangen sich. „Was meinen Sie?“ „Ich meine, daß Sie bis vor vier Wochen in Ihrer Mutter nie die schöne junge Frau gesehen haben, die sie ist. Sie finden mich gräßlich, weil ich nicht Ihrer kindischen Vorstellung eines Mannes entspreche, den Ihre Mutter heiraten sollte. Haben Sie das vielleicht zu bestimmen? Wie ich schon sagte, Diana, Sie denken nur an sich. Dächten Sie wirklich an Ihre Mutter, müßten Sie auch einmal daran denken, daß sie jemanden gefunden haben könnte, der sie glücklich machen möchte… richtig glücklich.“ „Mit Ihnen wird sie nie glücklich sein!“ schrie Diana. Jetzt hatte Nicholas genug. „Hinaus, ehe ich ganz und gar die Beherrschung verliere. Hinaus!“ befahl er leise. Diana rannte zur Tür. „Sie sind wirklich abscheulich!“ rief sie und warf die Tür hinter sich zu. Nicholas lehnte sich gegen das Fensterbrett und zündete sich eine Zigarette an. Was für eine unangenehme Szene! Hier in seinem Büro machte sie ihm die Tochter seiner zukünftigen Frau. Wie benommen schüttelte er den Kopf: Aber wie die Dinge standen, konnte er Marilyn ja kaum mehr als seine zukünftige Frau bezeichnen. Er blies Rauch aus. Die ganze Geschichte machte ihn krank. Er hatte keinen leidenschaftlicheren Wunsch, als Marilyn zu heiraten. Aber wie konnte er eine Ehe auf sich nehmen, in der Diana von soviel größerer Wichtigkeit war als er selbst? Denn anders war Marilyns Verhalten nicht auszulegen.
9. KAPITEL Die Tage der Trennung waren schwer für Marilyn. Eine grenzenlose Traurigkeit erfüllte sie. Mechanisch verrichtete sie ihre Arbeit, draußen regnete es viel. Es war, als weine selbst der Himmel um ihre verlorene Liebe. Ab Montag ging Diana wieder wie gewohnt zur Schule. Sie begann ihre Mutter mit der früheren Zuneigung zu behandeln, aber Marilyn konnte sich kaum darüber freuen. Der Preis war zu hoch gewesen. Sie fühlte sich erschöpft und fürchtete sich vor einer Aussprache mit Adrian. Aber er erkundigte sich lediglich, ob Nicholas am Sonnabend zurückgekommen war. Dabei ließ er es bewenden. Marilyn hoffte heimlich, daß Nicholas anrufen würde. Er konnte doch nicht einfach Schluß gemacht haben, dachte sie hilflos. Aber er rief nicht an. Er war aus ihrer Wohnung gestürmt, weil er sie verachtete. Zumindest verachtete er ihre Feigheit Diana gegenüber und ihre Weigerung, ihn an die erste Stelle zu setzen. Am Montagabend kam Diana wütend nach Hause. Als Marilyn sich erkundigte, was nun wieder los sei, erklärte sie aufgebracht: „Die Tochter deines kostbaren Freundes war gestern mit Jeff aus!“ „Maria mit Jeff? Wieso? Und woher weißt du es? Du lagst doch im Bett.“ „Jeff hat es mir gesagt. Ich traf ihn mittags, er rieb es mir gleich unter die Nase. Als er gestern auf mich wartete, kamen Maria und ihr Vater im Wagen vorbei. Sie hielten an, und Maria fragte ihn, ob er mitfahren wolle. Sie fuhren nach London, sahen sich dort um, dann lud Mr. Vitale die beiden noch zu einem vornehmen Abendessen ein. Du hättest Jeff mal hören sollen! Er war ganz aufgeblasen, und Maria findet er einmalig.“ Diana war empört. Sie konnte ihrer Mutter nicht gut erzählen, daß Jeffs Zärtlichkeiten ihr in letzter Zeit zu gefährlich geworden waren. Ständig redete er auf sie ein, nicht so steif zu sein, wenn er sie im Arm hielt, sondern nachgiebig wie andere Mädchen. Er hatte behauptet, Maria sei bestimmt nicht so, und sie hätten viel Spaß miteinander gehabt, wären sie allein gewesen. Diana war verstört und eifersüchtig. Das ganze Leben schien ihr im Augenblick sehr kompliziert. „Ich Würde mir deswegen keine Sorge machen“, meinte Marilyn beruhigend. „Maria wird sich kaum mit Jeff Emerson abgeben. Jedenfalls nicht, solange ihr Vater ein Wort mitzureden hat.“ Dianas Wangen brannten, wenn sie an ihre Morgenunterhaltung mit Nicholas Vitale zurückdachte. Sie warf ihrer Mutter einen heimlichen Blick zu. Offensichtlich hatte er sie nicht angerufen, sondern die Sache für sich behalten. Ob er sich das, was sie ihm vorgehalten hatte, in aller Ruhe überlegen wollte? Sie hoffte, daß es so war. Sogar die Geschichte mit Jeff wäre dann nicht mehr so schlimm. Das ernste Gesicht ihrer Mutter schien darauf hinzudeuten, daß alles vorbei war. Der Mittwoch vor Ostern war der Tag, an dem die Schulaufführung stattfand, in der Diana mitspielte. Marilyn hatte Adrians Vorschlag, mit ihm hinzugehen, gleichgültig angenommen. Adrian ahnte etwas, wußte jedoch nicht genau, was zwischen ihr und Nicholas Vitale vorgefallen sein mochte. Ihre großen traurigen Augen verrieten eine ganze Menge. Er entschloß sich, nichts weiter zu sagen und hoffte, daß mit der Zeit alles wieder seinen normalen Gang gehen würde. Als Marilyn sich am Abend zurechtmachte, betrachtete sie im Spiegel aufmerksam ihr Bild. Ihre Augen waren dunkel umschattet, ihr Gesicht beinahe hager. Sie fand, daß sie heute älter aussah als je zuvor. Entmutigt wandte sie
sich ab.
Als Adrian sie abholen kam, bemerkte er sofort den hoffnungslosen Zustand, in
dem Marilyn sich befand. Er wünschte unwillkürlich, daß Nicholas Vitale sehen
könne, was er angerichtet hatte.
Die Aula der Schule war schon ziemlich besetzt. Für Adrian waren Plätze in der
ersten Reihe reserviert. Sie näherten sich ihren Stühlen und hörten eine Stimme:
„Hallo, Marilyn!“
Marilyn fuhr herum. Wieder einmal ließ sie sich durch den amerikanischen Akzent
täuschen und glaubte, Nicholas stünde hinter ihr. Statt dessen blickte sie in
Harveys Gesicht.
„Oh, hallo, Harvey“, sagte sie mit einem erzwungenen Lächeln. Adrian ging
taktvoll weiter, um sie allein zu lassen.
„Was ist geschehen, Marilyn?“ fragte Harvey und betrachtete besorgt ihr Gesicht.
„Ich… ich weiß nicht, was Sie meinen“, murmelte sie verlegen.
„O doch. Sie waren ein paar Tage nicht mit Nick zusammen, ich ja. Er wirkt wie
ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch, sagt mir aber nicht, was los ist. Jetzt kann ich
es mir denken.“
Marilyn faßte sich erregt an den Hals. Was würde sie erfahren?
„Seine Mutter ist heute aus Italien gekommen und hat eine junge Dame
mitgebracht, eine entfernte Verwandte. Sie hofft vermutlich, die beiden
miteinander zu verkuppeln.“ Er senkte die Stimme. „Rufen Sie ihn an, Marilyn,
bitte. Sorgen Sie dafür, daß seine Mutter nicht den gewünschten Erfolg hat. Nick
wird langsam aber sicher verrückt, glauben Sie mir.“
Ich auch, dachte Marilyn. „Warum ruft er mich dann nicht an?“
Harvey zuckte die Achseln. „Er scheint Ihnen die Schuld an dem zu geben, was
geschehen ist. Es geht um Sie und Ihre Tochter, nicht wahr? Nick ist nicht stolz,
verstehen Sie? Weil er nicht nachgibt, muß es sich für ihn um ein großes Problem
handeln.“
„Sie haben recht.“ Marilyn fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. „Oh,
Harvey, meinen Sie wirklich, ich sollte es tun?“
„Bestimmt.“ Harvey sah Adrian nach. „Hat dieser Bursche Ihnen etwa das
Gegenteil geraten?“
„Nein. Er weiß gar nichts davon.“
Harvey grinste. „Sein Glück. Ich hätte ihm sonst eins auf die Nase gegeben.“ Er
packte ihr Handgelenk. „Marilyn, Nick ist ein großartiger Mensch. Noch nie hat er
sich wegen einer Frau so aufgeführt. Jetzt mit ihm zusammenzuarbeiten ist
einfach eine Zumutung.“
Marilyn lächelte vage. Im selben Moment drehte sich Adrian auf seinem Platz zu
ihr herum. „Kommen Sie, Marilyn“, rief er. „Das Stück beginnt gleich.“
Harvey musterte sie forschend, und sie nickte zögernd.
„Fein!“ sagte er, drückte noch einmal ihre Hand und kehrte dann an seinen Platz
zurück.
„Das Werk hat mehrere Karten erhalten“, bemerkte Adrian, als der Saal sich
verdunkelte. „Warum wohl Mr. Vitale nicht persönlich erschienen ist?“
„Seine Mutter ist heute aus Italien gekommen. Harvey ist sein Assistent, also
muß er wohl diese Pflichten übernehmen.“
Adrian nickte, und der Vorhang teilte sich. Das Stück war gut. Aber Marilyn sah
kaum, was auf der Bühne vorging. Ihre eigenen Probleme hielten sie gefangen.
Wenn sie wollte, konnte sie morgen Nicholas anrufen. Die Frage war nur, was sie
ihm sagen konnte?
Nicholas hatte aus Zeitgründen seine Mutter nicht in London abholen können. Er
schickte statt dessen Maria, und so war es eine Überraschung für ihn, bei seiner
Rückkehr ins Hotel nicht nur seine Mutter, sondern auch Sophia Ridolfi vorzufinden. Er küßte seine Mutter herzlich und ließ sich von Sophia auf die Wange küssen. Mit dieser Begegnung hatte er nicht gerechnet, obwohl er natürlich wußte, wie sehr seine Mutter die Verbindung mit Sophia wünschte. Aber er hatte nicht vor, sich verkuppeln zu lassen, auch wenn er Sophia im Grunde ganz gern mochte. Sie sah wie immer blendend aus, und Nicholas wurde bewußt, daß sie ganz der Typ war, den er eigentlich zu seiner Frau hätte machen müssen. Sie wäre die perfekte Gastgeberin, die mühelos die richtigen Worte für seine Geschäftspartner fand. Da sie selbst wohlhabend war, würde sie ihn nicht nur aus berechnenden Gründen heiraten. Er war überzeugt, daß sie Maria eine bezaubernde Stiefmutter sein würde. Warum erregte dann der Gedanke an eine Ehe mit ihr einen solchen Widerwillen in ihm? Er wußte natürlich die Antwort. Seit er Marilyn kannte, waren alle anderen Frauen bedeutungslos für ihn geworden. Er hätte jetzt unmöglich mit einer andern zusammenleben können. Selbst in diesem Augenblick sehnte er sich mit jeder Faser seines Körpers nach Marilyn. Nach ihrer Nähe, ihrer Zärtlichkeit, ihrer Liebe. Warum rief sie ihn nicht an, um ihm zu sagen, daß sie ihn trotz der Hindernisse, die Diana ihnen in den Weg stellte, sofort heiraten wolle? Er sah seine Mutter an. Sie war noch heute eine eindrucksvolle Frau mit ihrem rabenschwarzen Haar, das in Zöpfen um ihren gutgeformten Kopf lag. Jahrelang hatte sie versucht, Nicholas zu beherrschen, ohne Erfolg. Er ähnelte ihr zu sehr, um keinen eigenen Willen zu haben. Sie litt darunter, daß er sein Leben verschwendete, ohne Söhne in die Welt zu setzen. Um ihr Ziel zu erreichen, hatte sie Sophia mit nach England genommen, damit er endlich einsah, wie sehr diese geeignet war, die Mutter seiner Söhne zu werden. „Da ich ungern allein reise“, sagte sie jetzt, „habe ich Sophia gebeten, mich zu begleiten. Sie kann dann mit dir nach Italien zurückfahren.“ Nicholas fuhr sich mit dem Finger zwischen Hals und Kragen. „Es freut mich, daß Sophia dir Gesellschaft geleistet hat.“ Er warf Maria einen Blick zu. Auch seiner Tochter konnte ja nicht entgangen sein, was ihre Großmutter im Schilde führte. Maria hob nur etwas ratlos die Schultern, und er sagt: „Ich… werde Ostern vielleicht doch nicht nach Italien kommen.“ „O Nick!“ Sophia schob schmollend die Lippen vor. „Warum nicht? Du weißt doch, wie wir uns darauf gefreut haben. Ich dachte, es würde wunderbar werden, nur wir drei ganz allein.“ „Hm“, machte Nicholas und verbarg, wie peinlich berührt er war. „Leider ist mir etwas Unerwartetes dazwischengekommen.“ Das stimmte zumindest. „Kommt, wir wollen unten im Restaurant zu Mittag essen. Wir können über diese Frage später noch reden, wenn ihr euch ausgeruht habt. Ihr müßt nach der Reise müde sein.“ Nach dem Essen zogen sich die beiden Frauen zurück, ohne daß das Thema noch einmal erwähnt worden war. Nicholas war froh über diese Gnadenfrist. Er begleitete Maria zu ihrem Apartment. Miss Sykes schlief in einem Sessel, wachte aber sofort auf, als sie eintraten. Auch sie hatte bereits bemerkt, daß Nicholas seit einigen Tagen verändert war. Maria warf sich in einen Sessel und platze heraus: „Also, Nick, diesmal hat Großmutter sich vorgenommen, Fortschritte zu machen. Daß sie Sophia gleich mitgebracht hat! Ich würde mich an Sophias Stelle schrecklich fühlen!“ Nicholas runzelte die Stirn. „Du bist vorlaut“, sagte er tadelnd und setzte hinzu: „Was soll ich bloß machen?“
Aber er erwartete keine Antwort auf diese Frage. Er ging hinaus. Die Tür fiel laut
ins Schloß. Maria stöhnte leise:
„Armer Nick! Irgend etwas muß zwischen ihm und Marilyn vorgefallen sein, und
ich wette, daß ihre anmaßende Tochter dahintersteckt!“
Am Donnerstag brauchte Marilyn nur bis Mittag zu arbeiten. Sie fühlte sich matt
und mutlos. Die ganze Nacht hatte sie an Harveys Worte denken müssen. Aber
ihr fiel ein, daß Nicholas heute ja nach Rom fliegen wollte. Sie würde ihn kaum
noch erreichen.
Sie entschloß sich in der Frühstückspause wenigstens einen Versuch zu wagen.
Mit bebenden Fingern wählte sie die Nummer des Hotels. Die Telefonistin
meldete sich, konnte ihr aber nur sagen, daß Mr. Vitale nicht in seinen Räumen
sei.
„Vielleicht erreichen Sie ihn im Werk“, setzte sie hinzu.
„Danke.“
Marilyn legte auf und wählte die Nummer der Fabrik. Wieder hörte sie die
Stimme einer Telefonistin.
„Könnte ich bitte Mr. Vitale sprechen?“
„Wen darf ich melden?“
„Sagen Sie nur… daß… Marilyn möchte ihn sprechen. Dann weiß er schon
Bescheid.“
Es dauerte eine ganze Weile, bevor die Verbindung hergestellt war, und das
Warten beruhigte ihre Nerven nicht gerade. Es kam ihr endlos vor, ehe sie seine
Stimme hörte.
„Marilyn!“ rief er heiser. „Bist du es?“ Er schien es nicht glauben zu können.
Marilyn ließ beinahe den Hörer fallen. So groß war ihre Erleichterung. Er war
noch in England! Er war nicht nach Italien abgereist!
„Ja, ich bin es, Nick. Wie geht es dir?“
„Gut“, sagte er ungeduldig. „Warum rufst du mich an?“
„Ich möchte dich gern sehen. Hast du Zeit?“
„Ich habe immer Zeit für dich. Wann?“
„Heute. Wann du willst.“
„Jetzt gleich? Bist du im Büro?“ Er wurde immer ungeduldiger. Sehnsucht war in
seiner Stimme. Harvey hatte recht. Er schien auf ihren Anruf gewartet zu haben.
„Ja, ich arbeite. Aber…“
„Nichts – aber. Ich komme sofort.“ Er legte auf, ehe sie Einwände erheben
konnte. Marilyn starrte wie verzaubert das Telefon an.
Dann raffte sie sich zusammen. Wenn er kam, war es besser, ihn draußen zu
erwarten. Sie räumte hastig ihren Schreibtisch auf und schlüpfte in ihren Mantel.
Mit einiger Besorgnis öffnete sie die Tür zu Adrians Zimmer.
„Könnte ich wohl etwas früher gehen?“ fragte sie.
Er sah auf seine Uhr. „Es ist erst zwanzig nach zehn, Marilyn“, wandte er
verblüfft ein. „Ich weiß. Aber die Angelegenheit ist dringend.“
„Na gut.“ Adrian runzelte die Stirn. „Werde ich Sie dieses Wochenende sehen?“
„Kommen Sie in die Wohnung“, sagte sie verlegen. „Wenn ich zu Hause bin, sind
Sie stets willkommen, das wissen Sie doch.“
„Bis dann.“ Adrian wandte sich seinen Briefen zu, und Marilyn schloß die Tür mit
einem Gefühl der Dankbarkeit. Sie hatte einige persönliche Fragen wegen ihres
zeitigen Gehens erwartet.
Sie sah jetzt erst, daß draußen die Sonne schien. Es war ein wunderbarer
Frühlingstag, warm und sonnig, der Duft von Blüten lag in der Luft. Marilyn fühlte
plötzlich wieder, wie schön es war zu leben. Farbe kam in ihr blasses Gesicht, nur
ihre Augen verrieten noch die Qualen der vergangenen Tage.
Der rote Wagen hielt bereits am Schultor. Sie lief hin, Nicholas hielt ihr die Tür
auf, und sie schlüpfte hinein.
Sie blickten einander lange und forschend an. Beide genossen sie das Glück, sich
wiederzusehen. „Nun bin ich wieder an der Quelle meines Lebens“, murmelte
Nicholas. Dann berührte er sanft die dunklen Schatten unter ihren Augen.
„Du bist eine kleine Närrin, nicht wahr?“
Marilyn konnte nicht sprechen, sie nickte nur. Nicholas startete den Wagen und
sie fuhren davon.
Bald lag die Stadt hinter ihnen. Der große rote Wagen fuhr durch Heckenwege,
an Wiesen vorbei auf denen wilde Krokusse und Narzissen blühten. Ein Bach
sprang über glattgewaschene Steine unter der kleinen Brücke hindurch, die sie
überquerten. Marilyn spürte, wie im Glanz dieses Vormittags all ihre Ängste und
Befürchtungen dahinschmolzen. Der Frühling war da. Neben ihr saß der einzige
Mann, mit dem sie zusammen sein wollte. Jetzt mußte einfach alles in Ordnung
kommen.
Nicholas bog von der Straße auf einen Feldweg ab. Neben einer riesigen Eiche
brachte er den Wagen zum Stehen. Die Stille wurde nur noch vom Zwitschern
der Vögel und vom Tuckern eines Traktors unterbrochen, der gemächlich über
einen Acker fuhr.
Marilyn lehnte sich auf ihrem Sitz zurück. Sie sah zu Nicholas auf, auch er hatte
dunkle Schatten um die Augen. Sie fragte mit leiser Stimme: „Willst du mich
noch immer?“
Mit einem Aufstöhnen wandte er sich ihr zu, legte den Arm um sie und begann
ihr Haar, ihre weiche Wange zu streicheln.
„Ob ich dich will?“ wiederholte er langsam. „Das fragst du noch?“
Er neigte sich über sie und preßte seinen Mund auf ihren. Dann legte er ihr sacht
die Hand um den Hals. „Ich könnte dich töten für das, was du mir angetan hast“,
murmelte er.
Sie schlug die Augen auf und sah ihn furchtlos an. „Du könntest nicht so grausam
sein, Nick. Ich liebe dich und möchte dich heiraten.“
Nicholas lächelte in ihre Augen. „Nein, ich brächte es nicht fertig, wie du dich
auch entscheiden magst.“
Er gab sie frei und zog sein Zigarettenetui hervor. Er mußte sie nach Diana
fragen, so unangenehm ihm das auch war. Sie rauchten.
„Und was ist mit deiner Tochter?“ begann er.
„Wir werden sie heute unerwartet damit überfallen.“ Sie setzte sich abrupt auf.
„Aber du fliegst doch heute nach Italien!“
„Beruhige dich. Ich reise nicht – jedenfalls nicht heute.“ Als sie ihn fragend
ansah, zog er sie wieder an sich. „Ich hätte England nicht verlassen können,
ohne dich zu sehen. Ich bin froh, daß du angerufen hast, sonst hätte ich mich
gemeldet.“ Er küßte sie lange und leidenschaftlich.
„Ich sehe gar nicht gut aus“, sagte Marilyn nach einem kurzen Blick in den
Rückspiegel.
„Nur ein wenig müde. Konntest du nicht schlafen, Liebes? Ich auch nicht“,
gestand er. „Aber dagegen gibt es ein gutes Mittel.“
Sie lächelte. „Ich weiß. Ein sehr schönes Mittel.“
Wieder küßte er sie. Sie verloren sich in einer endlosen Umarmung, die die
Sehnsucht nach einer engeren Verbindung in ihnen weckte.
Als sie gegen Mittag in Marilyns Wohnung kamen, war Diana nicht zu Hause,
obgleich ihre Schule schon seit gestern geschlossen war.
„Sie wird einkaufen gegangen sein“, meinte Marilyn. „Möchtest du bei uns essen,
oder im Hotel? Wie ich hörte, hast du außer deiner Mutter noch anderen Besuch.
Harvey sagte es mir.“
Nicholas lachte und warf seinen Mantel auf einen Stuhl.
„Was ist mit dieser Sophia?“ fuhr Marilyn fort. „Hast du sie früher einmal
geliebt?“
„Nein. Meine Mutter findet, daß Sophia eine passende Kandidatin für den Posten
der Ehefrau von Nicholas Vitale ist. Aber das braucht dir keinen Kummer zu
machen, Liebste. Meine Mutter, Maria und Sophia sind in diesem Augenblick nach
Rom unterwegs.“
„Nein! Ich dachte, deine Mutter wolle nach Amerika!“
„So war es geplant. Als ich mich jedoch weigerte, Sophia nach Italien zu
begleiten, mochte sie sie nicht allein reisen lassen. Außerdem habe ich ihnen von
dir erzählt.“
„Wirklich? Lieber Himmel!“ rief Marilyn erschrocken. „Was haben sie dazu
gesagt?“
Nicholas grinste. „Zuerst sahen sie etwas grün aus, aber sie werden sich erholen.
Maria ist unsere beste Vermittlerin.“
Marilyn ging zu ihm und legte die Stirn auf seine Schulter. „O Nick“, flüsterte sie.
„Ich liebe dich.“
„Das möchte ich dir auch raten. Wenn man in Betracht zieht, daß ich bereits eine
Sonderlizenz habe…“
„Eine Sonderlizenz? Warst du dir meiner so sicher?“
„Nicht sicher – nur hoffnungsvoll, Geliebte.“
Marilyn schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihn. Es schien alles ein
Traum. Nach einigen Sekunden schob Nick sie von sich.
„Wir müssen vernünftig sein, Marilyn. Am besten, du kochst jetzt dein
Mittagessen, ja?“
Nachdem Marilyn in der Küche alles vorbereitet hatte, kehrte sie ins Zimmer
zurück. Nicholas lag häuslich auf der Couch und las die Zeitung. Unwillkürlich
mußte sie lachen.
„Ich kann noch immer nicht glauben, daß all das Wirklichkeit ist“, rief sie. „Als ich
heute morgen aufwachte, hatte ich Angst davor, dich anzurufen. Du hättest
schließlich sagen können, ich soll mich zum Teufel scheren.“
„Hast du eine Ahnung!“ Nicholas streckte den Arm aus, um nach ihr zu greifen.
Aber sie wich ihm aus und lief ins Schlafzimmer.
„Ich komme sofort“, rief sie durch die Tür.
Während sie sich wusch und umzog, überlegte sie, was sie Diana sagen sollte.
Auf jeden Fall würde es eine Auseinandersetzung geben. Aber sie war
entschlossen, fest zu bleiben. Noch einmal durfte sie Nicholas nicht enttäuschen.
Sie' legte eben Lippenstift auf, als die Tür sich öffnete. Nicholas stand auf der
Schwelle.
„Dein Dampfkochtopf gebärdet sich wie wild“, verkündete er. „Ich habe keinen
Schimmer, was man da macht. Vielleicht solltest du dich einmal darum
kümmern.“
Marilyn lächelte ihr hinreißendstes Lächeln. „Werde ich einen völlig hilflosen
Mann bekommen?“ fragte sie gedehnt.
Seine Augen wurden schmal. „Kommt darauf an, was du unter hilflos verstehst“,
sagte er. Er ging auf sie zu.
Marilyn trat lachend zurück. In diesem Augenblick war ihr, als höre sie draußen
ein Geräusch. Sie wandte den Kopf und sah an Nicholas vorbei zur Tür. „Was war
das? Hast du nicht auch etwas gehört?“
„Versuche nicht, mich abzulenken“, versetzte er und ging Schritt um Schritt
weiter auf sie zu. Sie wich in gespielter Angst vor ihm zurück. Sie war in
Strümpfen, und er wirkte sehr groß gegen sie.
Sie schlug mit den Kniekehlen gegen die Kante des Bettes und verlor die
Balance. Mit einem leisen Schrei fiel sie rückwärts aufs Bett und warf die Arme in
die Luft, um Nicholas aufzuhalten.
„Ich nehme alles zurück und behaupte das Gegenteil“, rief sie noch immer
lachend. Aber er bog ihre Arme zur Seite und beugte sich über sie, so daß sie
sich nicht rühren konnte. „Laß mich aufstehen“, bat sie atemlos.
Nicholas lachte nicht mehr. Seine Augen waren nachtdunkel, seine Züge straff
gespannt vor Leidenschaft. Sie fühlte, er konnte sie jetzt nicht mehr loslassen.
„Nicholas…“, flüsterte sie erregt. Aller Widerstand schien ihren Körper zu
verlassen. Sie schloß die Augen, als sein Mund sich auf ihre halbgeöffneten
Lippen senkte.
Aber etwas später richtete Nicholas sich auf. „Was würde wohl deine Tochter
denken, wenn sie uns so fände?“
„Wer könnte es ihr verübeln, wenn sie sich Gedanken machte“, gab Marilyn
benommen zurück.
Nicholas erhob sich vom Bett und trat ans Fenster. Er atmete ein paarmal tief
durch. Draußen flirrte die Sonne über dem ersten Grün einer Weide, deren
Zweige über eine Mauer herabhingen.
„Ob Diana sich nie Gedanken über deine Ehe gemacht hat, Marilyn? Nachträglich,
meine ich? Es war doch ein so gewaltiger Altersunterschied zwischen dir und Joe.
Glaubst du, sie hat nie bezweifelt, daß Joe ihr Vater war? Wie alt war übrigens
dieser Junge?“ fragte Nicholas plötzlich. „Dieser Peter?“
„Siebzehn, glaube ich. Warum?“
„Ich war nur neugierig.“ Er drehte sich um. „Alles, was dich betrifft, fasziniert
mich.“
„Wirklich, Nick?“
„Joe hätte ich gern gekannt“, fuhr Nicholas nachdenklich fort, „er muß ein
prächtiger Mensch gewesen sein. Nicht viele Männer hätten so gehandelt wie er.“
„Bestimmt nicht“, bestätigte sie. „Ja, er war ein einmaliger Charakter. Wenn ich
bedenke, wie dumm ich gewesen bin!“
„Nicht dumm. Nur jung und verängstigt.“
Marilyn erhob sich. „Ich glaube, ich muß mich jetzt um das Mittagessen
kümmern. Diana kann jeden Augenblick kommen.“
In ihre Worte hinein klang das Geräusch einer zufallenden Tür. Verwirrt sah sie
Nicholas an. Er stieß sich vom Fensterbrett ab und eilte mit langen Schritten ins
Wohnzimmer, wo er Diana vorzufinden glaubte. Aber niemand war im Zimmer.
„Kam nicht eben jemand?“ sagte er zu Marilyn. „War das nicht Diana?“
Marilyns Gesicht wurde fahl. „Sie muß eben fortgegangen sein. Vorhin, als ich
das Geräusch hörte, ist sie wahrscheinlich heimgekommen.“
Nicholas starrte sie an. „Willst du damit sagen, daß Diana uns die ganze Zeit
belauscht hat?“
Marilyn fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Ich fürchte, sie hat alles gehört,
was wir sprachen.“
„Na und?“ versetzte Nicholas jähzornig. „Sie hat wenigstens gemerkt, daß wir
uns hier nicht geliebt haben.“ .
„Nein, das nicht. Aber erinnere dich doch!“ rief Marilyn. „Wir haben über Diana
und ihren wirklichen Vater gesprochen. Zumindest war es leicht für sie, aus
unserer Unterhaltung die richtigen Schlüsse zu ziehen.“
Nicholas überlegte einen Moment. „Tatsächlich“, gab er zu. „Lieber Gott, das tut
mir leid, Marilyn. Das hatte ich vergessen. Aber schadet es denn? Ich meine,
dadurch hat sich das Problem gelöst, ob wir sie aufklären sollen oder nicht.“
Marilyn wandte sich ab. Warum hatte das geschehen müssen? Sie dachte an Dianas unglückliches Gesicht, das sie in letzter Zeit so oft gesehen hatte, und fühlte sich schuldig. Nicholas zog den Mantel an. „Ich hole sie zurück.“ „Willst du das tun? Es ist mir unheimlich, daß sie so davongelaufen ist, Nick.“ „Mir auch ein bißchen, offengestanden.“ Er lächelte ihr ermutigend zu. „Aber keine Sorge, Marilyn, es wird alles gut werden.“ Marilyn öffnete das Fenster. Sie sah Nicholas aus dem Haus treten und sich nach allen Richtungen umsehen. Sekunden später stieg er in seinen Wagen und fuhr los. Eine halbe Stunde verging, bevor er zurückkam. Er war allein. Marilyn blickte ihm verzweifelt entgegen. „Sie scheint sich in Luft aufgelöst zu haben“, sagte er. „Ich habe überall gesucht. Weit kann sie in der kurzen Zeit doch nicht gekommen sein. Ob sie mich gesehen und sich versteckt hat? Was denkst du?“ Marilyn ließ sich in einen Sessel fallen. „Ich weiß es nicht. Was machen wir bloß?“ „Wir können nur warten. Und erst einmal etwas essen. Sie muß früher oder später zurückkommen. Diana ist nicht der Typ, auf die Bequemlichkeiten des Daseins lange zu verzichten.“ „Glaubst du, sie so gut zu kennen?“ „Ein wenig. Ich sehe ein, Diana hat einen häßlichen Schock erlitten. Aber ehe sie nicht zurückkommt, können wir ihr nicht helfen.“ „Wird sie sich denn von mir helfen lassen?“ rief Marilyn aufgelöst. „Ich bin doch der Grund ihres Dilemmas!“ Nicholas legte besänftigend den Arm um sie. „Ich kenne Diana selbstverständlich nicht so gut wie du. Aber ich bin ziemlich sicher, daß sie mit so etwas gut fertig werden kann. Sie ist nicht so überempfindlich, nur ein bißchen verzogen, meine Liebe. Sie wird sich besinnen. Das mag sogar zu ihrem Guten sein. Vielleicht wird sie auch mich in einem wohlwollenderen Licht sehen, wenn sie erfährt, daß ihr leiblicher Vater nicht der Held war, für den sie ihn gehalten hat.“ Er hob Marilyns Gesicht. Sein Blick war weich. „Komme ich dir sehr herzlos vor?“ Sie lächelte etwas gequält. „Nein, ich weiß, daß du mich nur beruhigen willst. Komm, essen wir etwas.“ Um acht Uhr abends war Marilyn vor Sorge außer sich. Sie und Nicholas hatten am Nachmittag ganz Otterbury durchkämmt – vergebens. Diana schien vom Erdboden verschwunden. Es begann zu regnen, als sie in die Wohnung zurückkehrten. Diana war noch immer nicht da. „Vielleicht sollten wir einmal bei Jeff nachfragen“, schlug Marilyn schließlich vor. Nicholas runzelte die Stirn. „Du meinst den Jungen, den wir am Sonntag mitgenommen haben? Sind die beiden eng befreundet?“ „Ja. Aber seit er ihr erzählt hat, daß er mit dir und Maria ausgefahren ist, scheint sie böse auf ihn zu sein. Immerhin, es wäre eine Möglichkeit. Er wohnt in der Pappelallee. Nummer vierzehn, glaube ich.“ Wieder machten sie sich auf den Weg. Nicholas' Finger klammerten «ich um das Steuerrad. Er verspürte heftigen Zorn auf Diana, weil sie ihrer Mutter soviel Kummer bereitete. Gewiß, sie hatte etwas Unangenehmes erfahren. Aber das gab ihr nicht das Recht, davonzulaufen, ohne Marilyn die Möglichkeit einer Erklärung einzuräumen. Warum hatte sie überhaupt heimlich gelauscht, anstatt die Tür aufzureißen und sich zu stellen? Als sie das Haus erreicht hatten, in dem Jeff mit seinen Eltern wohnte, stieg Nicholas aus. Marilyn wollte im Wagen auf ihn warten. Ein Mann mittlerer Jahre öffnete ihm die Tür. Er wirkte ein wenig erschrocken beim Anblick des großen
amerikanischen Wagens vor dem Tor und des hochgewachsenen Fremden auf
seiner Schwelle.
„Ja?“ fragte er unsicher. „Kann ich etwas für Sie tun?“
„Das hoffe ich“, sagte Nicholas freundlich. „Sind Sie Mr. Emerson?“
„Der bin ich. Worum handelt es sich?“
„Sie haben einen Sohn…Jeff…“
„Stimmt. Ist ihm etwas zugestoßen?“ fragte er besorgt.
„Nein. Aber er hat eine Freundin… Diana Scott. Kennen Sie sie? Wir suchen das
Mädchen.“
„Sie ist nicht mehr hier.“
„Ist sie heute hier gewesen?“
„O ja. Sie hat mit uns Tee getrunken.“
„Und wo ist sie jetzt?“ fragte Nicholas geduldig.
„Was geht das Sie an? Sie sind doch nicht ihr Vater, denn sie hat keinen mehr.
Wer sind Sie überhaupt?“
Nicholas winkte Marilyn herbei und erklärte: „Ich bin ein Freund ihrer Mutter, hier
kommt sie schon. Diana ist seit Mittag nicht zu Hause gewesen. Wir suchen sie.“
In diesem Augenblick kam eine stark zurechtgemachte Frau aus der Küche. Mr.
Emerson wandte sich ihr zu. „Sarah, das ist Mrs. Scott und ein Freund von ihr.
Sie suchen Diana.“
Die Frau musterte sie abschätzend. Marilyn spürte instinktiv, daß die Frau über
ihre Beziehungen zu Nicholas nachdachte und zu peinlichen Folgerungen kam.
„Könnten Sie mir sagen, wo Diana jetzt ist?“ bat sie.
Mrs. Emerson schob die Unterlippe vor. „Sie hat uns erzählt, sie hätte heute viel
Zeit. Je später sie nach Hause käme, desto besser. Ich hatte den Eindruck, daß
sie über irgend etwas sehr erbost war.“ Ihr Blick richtete sich sekundenlang auf
Nicholas 1. „Ja, und da bot Jeff sich eben an, sie am Abend auszuführen. Da es
regnete, überließ Walter ihnen den Lieferwagen.“
Sie sprach höhnisch, in unverschämtem Ton. Hätte Marilyn nicht ihre Hilfe
gebraucht, wäre sie auf der Stelle gegangen.
„Wo sind die beiden hingefahren?“ fragte Nicholas.
„Weiter weg, wo sie doch den Wagen haben, nehme ich an. Und 'ne Menge Zeit.“
„War der Wagen in gutem Zustand?“
„Es ist ein neuer Wagen“, antwortete Emerson. „Jeff könnte närrisch genug sein,
nach London zu fahren.“
„O nein!“ rief Marilyn entsetzt.
„Er sprach Anfang der Woche von einem Klub in Soho, wo er mit Freunden war.
Sie haben ihn mitgenommen“, erzählte Emerson.
„Von Soho weiß ich nichts. Aber nach London habe ich selbst Ihren Sohn am
Sonntag mitgenommen“, sagte Nicholas.
„Tatsächlich!“ Mrs. Emerson schien überrascht.
„Vielleicht hat er den Klub nur vom Auto aus gesehen“, fuhr Nicholas fort.
„Können Sie uns weiter nichts sagen?“
Emerson schüttelte bedauernd den Kopf. Er war ein freundlicher Mann.
Nicholas wandte sich an Marilyn. „Dann wird es am besten sein, wenn wir in
Richtung London fahren. Vielleicht treffen wir sie unterwegs. Allzu spät werden
sie doch nicht zurückkommen, oder?“
„Er sollte um zehn hier sein“, sagte Mr. Emerson. „Wenn er dei Wagen hat, bin
ich stets in Sorge.“
„Gut. Versuchen wir's. Und vielen Dank.“
„Vielen Dank“, sagte auch Marilyn und blickte nur Mr. Emersoi an, nicht seine
Frau.
Er lächelte ihr zu. „Ich bin überzeugt, daß Diana bei Jeff gut aufgehoben ist.“ Hoffentlich, dachte Marilyn, während sie mit Nicholas zum Wagen ging. Aber sie bezweifelte, daß Jeff so vertrauenswürdig war, wie sein Vater glaubte. Ihr schauderte, wenn sie an die Nacht dachte, die vor ihnen lag.
10. KAPITEL Diana war in gereizter Stimmung, als der Wagen durch den Regen nach Otterbury zurückfuhr. Es war ein grauenhafter Tag gewesen. Zuerst die Eröffnung, daß sie gar nicht Joe Scotts Tochter war. Danach die jähe Erkenntnis, daß Jeff sie trotz seines hübschen Aussehens zu langweilen begann. Sie war heute nur mit ihm ausgefahren, weil sie sonst niemanden kannte, an den sie sich hätte wenden können. Wäre sie doch lieber zu Onkel Adrian gegangen! Als sie Jeff in ihrer ersten ungehemmten Verzweiflung anvertraute, was sie bedrückte, hatte er nur gelacht. Dann war er ernst geworden und hatte gemeint, wenn es Nicholas Vitale kalt lasse, brauche sie sich doch erst recht nicht den Kopf heiß zu machen. Sie fühlte sich allein und verlassen und hatte in ihrer Niedergeschlagenheit nichts dagegen gehabt, als er die Fahrt nach London vorschlug. Zu jenem Zeitpunkt wußte sie ohnehin nicht, wie sie ihrer Mutter je wieder begegnen sollte. Aber jetzt empfand sie schon ein wenig anders. „Das war ja eine mächtig aufregende Fahrt“, sagte sie sarkastisch zu Jeff. Er sah sie wütend an. Auch er war von Diana enttäuscht und lechzte danach, ihr weh zu tun, weil sie es wagte, ihn zu verhöhnen. „Du warst doch scharf darauf mitzukommen, als ich den Vorschlag machte!“ versetzte er. „Was ist los? Haben sich deine großen Erwartungen nicht erfüllt? Ich bildete mir eben ein, daß ein Mädchen wie du sich für die erste Nacht nicht mit einer primitiven Umgebung begnügen würde.“ Diana wurde rot. „Sei nicht ordinär“, sagte sie und blickte bewußt gelangweilt aus dem Fenster. „Tut mir leid. Habe ich etwas Falsches gesagt?“ spottete er. Dann aber gab er nach. „Lieber Himmel, Diana, es hat dich doch wenigstens von deinen Problemen abgelenkt! Als du am Nachmittag kamst, warst du der sterbende Schwan…“ „Du verstehst nichts.“ „Was verstehe ich nicht? Du hast eine völlig harmlose Unterhaltung belauscht, und der Lauscher an der Wand…“ „Harmlos!“ Diana preßte die Lippen zusammen. „Wenn ich erfahre, daß ich nur das Produkt irgendeiner Hintertreppenaffäre bin, während ich mir all die Jahre einbildete, einer äußerst harmonischen Ehe zu entstammen…“ „Höre auf, alles zu dramatisieren. Du spielst dauernd eine Rolle wie in einem großen Film, bist die Heldin, der von allen Leuten nur Unrecht geschieht. Werde erwachsen! Diana, deine Mutter ist eine fabelhafte Frau. Verdamme sie nicht wegen etwas, das jedem geschehen kann. Sie hätte dich auch in ein Heim oder zur Adoption freigeben können. Aber nein, sie brachte ein Opfer und heiratete einen Mann, der mehr als dreißig Jahre älter war als sie. Nur damit du nicht unehelich geboren wurdest.“ Diana starrte ihn an und erkannte, daß das richtig war. Warum hatte sie es nicht so gesehen? Es stimmte. Sie hatte die Heldin gespielt, während sie sich in Wirklichkeit nur lächerlich machte. Sie mußte an Maria Vitales nettes Verhältnis zu ihrem Vater denken, da gab es keine anmaßende Eifersucht. Maria schien sogar froh zu sein, daß er eine Frau gefunden hatte, die er liebte. Sie aber hatte ihrer Mutter alles verdorben. „Ich bin wohl sehr selbstsüchtig“, murmelte sie. „Warum hast du dich heute morgen nicht bemerkbar gemacht?“ Diana biß sich auf die Lippen. „Sie waren im Schlafzimmer, als ich hereinkam. Ich dachte zuerst, daß sie…“ Sie wurde wieder rot. „Aber dann belauschte ich sie – den Rest weißt du.“
„Und was taten sie wirklich?“ fragte er amüsiert.
„Ach, es war nur Neckerei. Sie schienen sehr glücklich.“ „Na also. Sie lieben sich eben.“ Jeff verzog das Gesicht. „Wer hätte das gedacht. Ich rede wie ein Ratgeber für unglücklich Verliebte.“ Diana entspannte sich ein wenig. Manchmal war Jeff ganz vernünftig, und sie war ihm für seinen guten Rat dankbar. Schade, daß er in anderer Beziehung so frühreif war. Sie war erst sechzehn und wünschte sich noch keine intimen Beziehungen. „Außerdem müßtest du verstehen, was die beiden füreinander empfinden“, fuhr Jeff fort. „Wieso?“ Diana warf ihm einen schrägen Blick zu. „Nun… du und ich, zum Beispiel.“ „Jeff, tut mir leid, daraus wird nichts. Wir machen Schluß! Ich mag dich, aber alles andere hat noch Zeit. Erst muß ich auslernen und Sekretärin werden. Dann sehen wir weiter. Ich muß wohl während der letzten Wochen trotz allem etwas erwachsener geworden sein.“ In Jeff stieg Zorn auf. „Kein Mädchen bricht mit mir“, erklärte er. „Wie meinst du das?“ fragte Diana erstaunt. „Ich habe es eben getan. Sei doch vernünftig, Jeff. Im Herbst gehst du auf die Uni. Dann wirst du keine Zeit mehr für mich haben.“ „ Und warum willst du jetzt schon Schluß machen?“ „Ich weiß es nicht, Jeff. Ich glaube, du bist zu alt für mich. Du selbst hast mich prüde genannt, und wahrscheinlich bin ich das auch.“ Jeff sah in den Rückspiegel. Er bog von der Straße ab und hielt unter einer kleinen Baumgruppe. Diana fröstelte unwillkürlich, sagte jedoch leichthin: „Komm, Jeff, hier können wir nicht halten. Es ist eine ungemütliche Nacht. Ich friere und möchte nach Hause.“ „Tatsächlich? Dir wird aber gleich warm werden. Dann wirst du gar nicht mehr nach Hause wollen.“ Diana schluckte schwer. Sie mußte einen klaren Kopf behalten. Jeff konnte nicht ernsthaft vorhaben, sie anzurühren. Die Straße war ziemlich befahren. Er konnte es nicht wagen. In diesem Augenblick dachte sie voller Sehnsucht an ihre Mutter und sogar an Nicholas Vitale. Sie fürchtete sich vor diesem Jungen, den sie im Grunde kaum kannte. Hätte sie ihm nur jetzt nicht gesagt, daß sie mit ihm brechen wollte. Erst dadurch war alles ins Rollen gekommen! Noch ehe sie protestieren konnte, zog Jeff sie an sich und drückte seinen heißen Mund auf ihren. Er hielt sie eng umfaßt, und sie versuchte verzweifelt, ihn abzuwehren. Sein Mangel an Beherrschung verursachte ihr Übelkeit. Sie wußte nicht, was sie tun sollte, ihn zurückzuhalten. „Jeff“, stöhnte sie, „laß mich los!“ „Warum? Du bist mir doch heute nachgelaufen. Du brauchtest mich, deine Sorgen loszuwerden. Das war wohl anders, wie?“ Diana bäumte sich auf. „Ich dachte, du hättest mich gern“, rief sie. „Jetzt behandelst du mich wie ein Straßenmädchen!“ Ihre Hilflosigkeit wurde ihr furchterregend bewußt. „Tu ich doch gar nicht, Baby“, sagte er heiser. „Sträube dich nicht. Alle Mädchen mögen ein wenig Spaß.“ „Ich jedenfalls nicht“, erwiderte sie. „Wenn du mich anrührst, dann schreie ich!“ Jeff war wütend. „Spiel kein Theater, Diana. Du wirst nicht schreien. Außerdem wäre das eine neue Erfahrung für mich. Ich bin noch nie zuvor auf Widerstand gestoßen.“ In ihrer Verzweiflung biß Diana ihm fest in die Hand, mit der er ihre Schulter
umklammert hielt. Mit einem Schmerzensschrei ließ Jeff sie einen Augenblick los, und sie ergriff die Gelegenheit, aus dem Wagen zu springen. Die Straße lag verlassen vor ihr. Sie konnte nicht hoffen, daß zufällig jetzt ein Wagen vorbeikam und zog es daher vor, in dem kleinen Wäldchen zu verschwinden. Sie hörte Jeff nach ihr rufen und rannte schneller. Sie mußte ihren kleinen Vorsprung nutzen. Das Wäldchen war dunkel. Immer wieder stolperte sie über Baumwurzeln, stieß gegen Stämme, die sie nicht rechtzeitig sehen konnte. Es regnete noch immer, und sie war ganz froh, daß der Mond nicht schien. Sie war nicht so leicht zu entdecken. Das Unterholz war dicht, der Boden verschlammt. In ihrer Angst dachte sie nicht daran, was vor ihr liegen mochte. Sie hoffte nur, daß sie irgendwo vielleicht eine Farm fand, wo man ihr helfen würde. Denn bis nach Hause war es viel zu weit. Sie hörte Jeff durch das Gebüsch brechen. Er rief immer wieder ihren Namen. Sie fragte sich auf einmal, ob die Mutter sich wohl große Sorgen um sie machte. Jetzt bereute sie eine ganze Menge, vor allem, daß sie heute morgen einfach weggelaufen war. Der Wald lichtete sich. Gleich darauf trat sie ins Freie. Sie sah sich ängstlich um und entdeckte, nur durch eine Wiese von ihr getrennt, ein Licht. Überglücklich begann sie, darauf zuzulaufen. Jeff tauchte nur wenige Sekunden nach Diana aus dem Wald auf. Sein Zorn war verflogen, er verfluchte sich, so unbedacht gehandelt zu haben. Diana war außer sich vor Angst, und er schämte sich, da er schuld daran war. Nur, weil sie ihm so gelassen erklärt hatte, nichts mehr mit ihm zu tun haben zu wollen, war er in Wut geraten und hatte sich vorgenommen, ihr eine Lektion zu erteilen. Würde sie ihm je glauben, daß er sie nur hatte erschrecken wollen? Er hatte sich wie ein Narr aufgeführt. Armes Kind, dachte er besorgt. Im nächsten Moment sah er Diana vor sich. Er rannte auf sie zu. Plötzlich aber hörte er sie schrill aufschreien, und dann war sie weg. Nirgendwo konnte er Diana mehr entdecken. Er blieb abrupt stehen. Sein Herz hämmerte. Kalter Schweiß brach ihm aus allen Poren. O Gott, dachte er, was war geschehen? Angsterfüllt tastete er sich dorthin, wo Diana verschwunden war. Unter seinen Füßen spürte er kein Gras mehr, sondern steinigen Boden. Seine Augen hatten sich schon an die Dunkelheit gewöhnt, er erkannte die Umrisse großer Maschinen, Traktoren vielleicht, oder Kräne. Der Regen machte ein genaues Erkennen unmöglich. Aber als er seine nähere Umgebung abtastete, wurde ihm klar, daß dicht vor ihm der Boden steil abfiel, und zwar offensichtlich in einen Steinbruch. Diana mußte in die Grube gestürzt sein. Vielleicht war sie tot! Er kniete nieder und rief: „Diana! Diana! Kannst du mich hören? Wenn du mich hörst, dann antworte, um Gottes willen!“ Das Echo seiner Stimme wurde durch den Regen gedämpft. Eine Antwort kam nicht. Noch einmal versuchte er es. Doch nur unheimliche Stille umgab ihn. Und das monotone Trommeln des Regens. Frierend erhob er sich. Er mußte Hilfe holen, aber wie? Der Steinbruch war riesig. Unsinnig, einen Weg nach unten zu suchen und zu riskieren, selbst abzustürzen. Nein, er mußte zum Wagen zurück, zur nächsten Telefonzelle fahren und den Rettungsdienst anrufen. Nach einem überstürzten Lauf durch das Dickicht kam er endlich zu dem Grasstreifen, auf dem er den Wagen geparkt hatte. Gesicht und Hände waren ihm zerkratzt. Er drehte den Zündschlüssel um.
Nichts geschah. Er versuchte es mit bebenden Fingern noch einmal. Wieder
nichts.
Keuchend und von Panik erfüllt, versuchte er es immer wieder, aber der Motor
sprang nicht an. Er erinnerte sich an die Pfützen, durch die er gefahren war, um
an diese Stelle zu gelangen. Sicher war der Verteiler naß geworden, und der
Motor würde erst anspringen, wenn die Kontakte getrocknet waren.
Er stieg aus, sah die Straße entlang. Irgendwann mußte doch ein Wagen
vorbeikommen.
Endlich aus Richtung London ein Licht! Jeff stellte sich mitten auf die Straße und
wedelte wild mit den Armen. Der Fahrer verlangsamte nur zögernd die Fahrt, als
sei er sich über Jeffs Absichten nicht ganz klar.
Jeff lief auf den Wagen zu. „Es ist ein Unfall passiert“, rief er. „Können Sie mich
bitte zur nächsten Telefonzelle mitnehmen?“
Nicholas fuhr langsam die Straße entlang, die Scheinwerfer seines großen
Wagens suchten die Gegend ab. Plötzlich zog er scharf die Luft ein. „Ist das dort
nicht der Junge, mit dem sie unterwegs war?“
Sie näherten sich einem Fahrzeug, das am Straßenrand stand, ein Junge redete
auf den Fahrer ein. Er sah naß und unglücklich aus, aber es war ohne Zweifel
Jeff.
„Nicholas!“ Marilyn wurde es eiskalt. „Glaubst du, daß etwas passiert ist? Wo ist
Diana?“
„Das werden wir bald erfahren.“ Nicholas hielt an und lief auf Jeff zu, der eben in
den fremden Wagen steigen wollte.
„Halt!“ rief er. „Jeff, was ist los? Wo ist Diana? Und wo steht der Lieferwagen?“
Jeff drehte sich um, er traute seinen Augen nicht. „Mr. Vitale!… Mrs. Scott!“
Marilyn war Nicholas auf den Fersen gefolgt. Jeff warf den Wagenschlag wieder
zu und sah den Fahrer hilflos an. „Es… ist ein Unfall passiert“, erklärte er. „Diana
ist in einen Steinbruch gestürzt!“
„Nein!“ Marilyn war einer Ohnmacht noch nie näher gewesen, sie klammerte sich
an Nicholas.
„Ruhig“, sagte er leise zu ihr und wandte sich wieder an Jeff: „Wie weit liegt der
Steinbruch von hier entfernt?“
„Nicht… nicht sehr weit. Dort, durch das Wäldchen…“
„Was habt ihr um Himmels willen in der Nähe eines Steinbruchs gemacht?“ rief
Marilyn verwirrt.
„Später, Liebes.“ Nicholas drückte beruhigend ihre Hand. „Und wohin waren Sie
jetzt unterwegs?“ fragte er Jeff.
„Unser Wagen sprang nicht an. Ich hielt diese Leute hier an und wollte Hilfe
holen.“
„Das stimmt“, sagte der Fahrer, offensichtlich ein Farmer.
Nicholas überlegte einen Moment. „Können Sie uns beschreiben, Jeff, wie man zu
dem Steinbruch kommt?“
Jeff wirkte im Scheinwerferlicht bleich und erschöpft. „Ja, ich glaube schon.
Warum?“
„Ich schlage vor, daß Sie um Hilfe telefonieren, während Mrs. Scott und ich
versuchen, Diana zu finden. Vielleicht gelingt es uns. Ich habe eine
Taschenlampe im Wagen. Sind Sie ganz sicher, daß sie in den Steinbruch
gestürzt ist?“
Jeff schluckte. „Ganz sicher.“
Marilyn starrte ihn an. „Dafür werden Sie uns eine Erklärung geben müssen,
Jeff“, sagte sie mit erstickter Stimme.
„Ja, Mrs. Scott“, antwortete Jeff eingeschüchtert.
„Also wo liegt der Steinbruch?“ Nicholas übernahm das Kommando, so, wie er es seit zwanzig Jahren in seiner Firma gewöhnt war. Als Jeff stockend zu erklären begann, mischte sich der Farmer ein: „Das ist der Steinbruch vom alten Davison. Den finden Sie ganz leicht. Ich möchte Ihnen zwar keine voreiligen Hoffnungen machen, Mrs. Scott, aber es gibt dort eine Menge Vorsprünge und Kanten. Es wäre möglich, daß Ihre Tochter gar nicht so tief abgestürzt ist. Sie kann allerdings das Bewußtsein verloren haben, so daß sie die Rufe des jungen Mannes nicht hörte.“ Marilyn nickte. „Ich hoffe, daß Sie recht haben.“ „Ich habe ein Seil im Wagen“, fuhr der Mann fort. „Möchten Sie es mitnehmen für den Fall, daß Sie sie erreichen können?“ „Gern. Das ist ein guter Einfall“, sagte Nicholas sofort. Der Farmer stieg aus, schloß den Kofferraum auf und reichte ihm das Seil. Dann stieg er sofort wieder ein. „Ganz in der Nähe ist hier eine Telefonzelle“, fuhr er fort. „Sie werden bald Hilfe erhalten.“ „Danke.“ Der Wagen fuhr davon. Nicholas und Marilyn bahnten sich ihren Weg durch das Wäldchen. Es regnete noch immer. Sie waren bald ebenso durchnäßt, wie Jeff es gewesen war. Marilyn machte sich schwere Vorwürfe, ohne einen Ton davon zu sagen. Aber hätte Diana, als sie nach Hause kam, sie nicht mit Nicholas angetroffen, wäre all das nicht passiert, dachte sie. Das Licht der Taschenlampe brachte sie schnell an den Rand des Steinbruchs. Dort erkannten sie, wie leicht es war, hineinzustürzen. Nicholas kniete nieder und schrie: „Diana? Kannst du mich hören?“ Jetzt war sie für ihn nur noch ein Kind in Not, dem er unbedingt helfen wollte. Keine Antwort kam. Er stand auf und ließ den Lichtstrahl der Lampe kreisen, so daß alle Wände des Steinbruchs beleuchtet wurden. Der Farmer hatte recht. Überall gab es scharfe Vorsprünge, der Abhang war uneben, hier und da ragte ein Baum oder ein Busch auf. Das Ganze wirkte gespenstisch. Marilyn mußte sich zusammenreißen, um die Nerven nicht zu verlieren. Sie fragte sich, wo in all der schwarzen Dunkelheit dort unten Diana wohl stecken mochte. Wie tief war der Steinbruch? Es ließ sich im Licht der Taschenlampe nicht abschätzen. Nicholas ging methodisch vor. Es waren nur wenige Minuten vergangen, als er rief: „Ich glaube, ich habe sie gefunden!“ Marilyns Herzschlag setzte einmal aus. „Wo?“ „Dort.“ Nicholas richtete den Strahl der Lampe abwärts. Diana war anscheinend bewußtlos. Zwei Büsche hatten den Sturz gebremst und sie aufgefangen. Ihr Kopf hing schlaff herab. Aber sie war nicht tief gefallen und konnte kaum ernstlich verletzt sein. „Gott sei Dank!“ murmelte Marilyn. „Das sieht nicht gefährlich aus, nicht wahr?“ Sie blickte Nicholas an. Sogar in dem matten Schein hinter dem Strahl der Lampe wirkte sein Gesicht düster. „Was… was ist los?“ rief sie. „Glaubst du, sie könnte ernstlich verletzt sein?“ „Das nicht, aber…“ Er zögerte. „Schau, wenn Diana das Bewußtsein wiedererlangt… wenn sie sich bewegt…“ „Du meinst, daß sie die Gefahr nicht erkennen würde, in der sie schwebt?“ „Das befürchte ich“, gab Nicholas zu. „Möglich, daß sie nicht zu sich kommt, bevor Hilfe eintrifft. Aber können wir uns darauf verlassen und dieses Risiko eingehen?“
Marilyn schluckte, Übelkeit befiel sie. „Welche andere Möglichkeit haben wir?“
„Daß ich mich an dem Seil zu ihr herablasse, es um sie binde, wieder nach oben
klettere und versuche, sie hochzuziehen. Und schaffe ich es nicht, wieder nach
oben zu kommen, spielt das keine Rolle. Ich könnte unten bleiben. Sie wäre am
Ende des Seils in Sicherheit, falls sie sich bewegt.“
„Ist das die einzige Möglichkeit?“ fragte Marilyn beklommen.
„Ja. Komm, Liebes, wir verschwenden Zeit. Paß auf, ich befestige das Seil an
jenem Baum dort. Du brauchst dann nur noch den Strahl der Lampe auf mich zu
richten, während ich zu Diana unterwegs bin, möglichst ohne mich zu blenden.“
Er lächelte. „Keine Sorge, ich bin noch nicht altersschwach.“
Ehe er, das Seil befestigte, machte er noch mehrere Knoten hinein. „Eine Hilfe
beim Klettern“, erklärte er. „Das habe ich bei den Pfadfindern gelernt.“ Er
versuchte, sie zu beruhigen, aber Marilyn fragte sich, wie viele Männer in einer
solchen Situation ihr Leben aufs Spiel setzen würden. Jahre waren vergangen,
seit Nicholas solche Übungen mitgemacht hatte, er war nicht mehr so gelenkig
wie früher und kam nur langsam voran. Marilyn beobachtete ihn furchtsam,
gleichermaßen um ihn wie um Diana besorgt.
Es gelang ihm, hinter den zwei Büschen einen Halt zu finden, so daß er das Seil
loslassen und versuchen konnte, das Ende um Diana zu binden. Der gefährlichste
Augenblick kam, als er sie anheben mußte. Ihr Körper bewegte sich und fiel
schwer gegen ihn. Er packte mit der Hand den nächsten Zweig, den er erreichen
konnte, und hielt sich daran fest. Es dauerte eine Weile, bis er den Schreck
überwunden und seine Sicherheit wiedererlangt hatte.
Marilyn unterdrückte einen Schrei. Nur das Zittern des Lichtstrahls zeigte ihre
Angst an.
Endlich war Diana fest an das Seil gebunden. Ihre Bewußtlosigkeit dauerte noch
immer an, und Nicholas konnte eine böse Verletzung an ihrer Stirn sehen.
Außerdem war sie völlig durchnäßt.
Mit größter Vorsicht kletterte er wieder nach oben. Marilyn zog ihn über die
Kante, und er lag ein paar Minuten keuchend auf dem nassen Boden.
„Alles in Ordnung?“ flüsterte sie und strich mit der Hand über sein nasses Haar.
Er setzte sich auf. „Klar. Ich bin nur aus der Übung, muß wieder mehr Sport
treiben. Diese Vorstellung zeigt mich wirklich in einem schlechten Licht.“
Er sprang auf und zog sich seinen Mantel wieder an.
„Jetzt holen wir sie herauf“, sagte er „Es ist viel zu kalt dort unten.“
„Schaffen wir das, ohne sie zu verletzen?“ fragte Marilyn.
Nicholas nickte nachdenklich. „Ich glaube schon. Die Wand des Steinbruchs
scheint sich ein wenig nach innen zu neigen. Dadurch müßte es möglich sein, sie
ganz sanft heraufzubringen.“
Trotzdem dauerte es eine Weile, bis sie Diana oben hatten. Nicholas trug sie zum
Rande des Waldes und legte sie aufs Gras unter den Bäumen. Behutsam tastete
er sie ab.
„Ich glaube nicht, daß sie sich etwas gebrochen hat“, sagte er zu Marilyn.
„Freilich muß sie geröntgt werden, und sicher hat sie eine Gehirnerschütterung.
Meinst du, wir sollten sie zum Wagen bringen? Hier kann sie sich ja eine
Lungenentzündung holen.“
„Ja, zum Wagen“, sagte Marilyn und blickte Nicholas an. „Ich weiß nicht, was ich
ohne dich anfangen sollte, Nick.“
Sie leuchtete ihm, so gut es ging, durch den Wald. Aber es war, als kenne er
jeden seiner Schritte und wisse genau, wohin er gehen mußte.
Plötzlich tönten die Sirenen des Unfallwagens durch die Nacht. „Da kommt die
Truppe“, meinte Nicholas trocken. „Wie immer, wenn alles vorbei ist!“
Die nächsten Stunden waren ein Alptraum. Auch die Polizei wollte Einzelheiten
wissen. Diana wurde dann sofort ins Krankenhaus gebracht, Marilyn begleitete
sie.
Unterwegs kam sie für einen Moment zu sich, schien ihre Mutter zu erkennen,
aber was sie sagte, ergab wenig Sinn. Sie wurde gleich wieder bewußtlos.
Nicholas folgte ihnen in seinem eigenen Wagen mit Jeff, der bereits von der
Polizei kurz vernommen worden war. Später mußte Jeff auf dem Polizeirevier
eine Erklärung abgeben, bevor man ihn nach Hause entließ. Der diensthabende
Beamte hatte ihm wegen seines Verhaltens ordentlich die Leviten gelesen und
ihn auf mögliche Folgen aufmerksam gemacht.
Marilyn blieb bei ihrer Tochter im Krankenhaus. Zwar konnte sie nichts für Diana
tun, aber da die Schwester ihr ein Bett anbot, nahm sie hocherfreut an.
Dennoch schlief sie kaum. Nicholas war in sein Hotel zurückgekehrt, und
vermutlich fand er, daß man Diana nach diesem Vorfall kaum sagen konnte, sie
hätten vor, sofort zu heiraten. Damit wäre es Diana diesmal ganz unabsichtlich
gelungen, einen Aufschub der Dinge auf längere Zeit erreicht zu haben.
Der nächste Morgen war Karfreitag. Marilyn erwachte schon um sechs. Nachdem
sie sich angezogen hatte, lief sie den Gang entlang zum Schwesternzimmer.
„Wie geht es Diana?“ fragte sie sofort, nachdem die Oberschwester sie zum
Eintreten aufgefordert und ihr beruhigend zugelächelt hatte.
„Viel besser. Sie ist bei vollem Bewußtsein, eine Schwester ist bei ihr. Sie können
Ihre Tochter besuchen und sich selbst von ihrem Zustand überzeugen.“
„Oh, danke!“ sagte Marilyn ergriffen.
„Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Weg.“
Dianas Augen wandten sich sofort der Mutter zu, als die Tür aufging. Sie war
sehr blaß, hatte einen Verband um die Stirn, aber von der gefürchteten
Gehirnerschütterung war sie verschont geblieben.
„Hallo, Liebling“, sagte Marilyn herzlich und trat neben das Bett. „Geht's dir gut?“
Diana lächelte tapfer. „Ich glaube, ja. Mein Kopf schmerzt, aber das war wohl
nicht anders zu erwarten.“
„Meine Kleine…“ Marilyn sah die Oberschwester an. „Wann darf ich sie mit nach
Hause nehmen?“
„Morgen vielleicht. Heute möchten wir sie noch beobachten, aber ich denke nicht,
daß wir uns Sorgen machen müssen.“
„Das ist ja wundervoll!“ Marilyn setzte sich auf die Bettkante. „Darf ich ein
Weilchen bleiben?“
„Gewiß“, nickte die Oberschwester und gab der Pflegerin ein Zeichen, worauf
beide das Zimmer verließen. Marilyn nahm Dianas Hand.
„Wir hatten solche Angst um dich, Kind.“
Diana war echt verlegen. „Ich weiß, Mutti, und es tut mir ehrlich leid, wirklich.“
Marilyn blickte sie gedankenvoll an. „Warum bist du so besinnungslos vor Jeff
davongelaufen? Es hätte dein Tod sein können!“
„Ich weiß, aber ich… ich hatte eben auch Angst. Und ich wußte nichts von dem
Steinbruch.“
Marilyn sah zum Fenster. „Nun, jetzt kann dir nichts mehr geschehen. Das ist die
Hauptsache.“
Diana nagte an ihrer Unterlippe. „Mutti! Es war Nicholas Vitale, der mich rettete,
nicht wahr?“
Marilyn runzelte die Stirn. „Woher weißt du das?“
„Die Schwester sagte es mir, sie war ganz begeistert von ihm. Sie muß ihn
gesehen haben, als er gestern abend noch herkam. Sie fand ihn toll.“
Marilyn errötete fast. „Ach, fand sie das wirklich?“
Diana griff impulsiv nach Marilyns Hand. „Du weißt doch, daß ich gehört habe,
was ihr gestern gesprochen habt!“
„Ich ahnte es. Nicholas ist dir sofort nachgefahren.“
„Ich weiß. Ich wartete, bis er das Haus verlassen hatte, ehe ich weglief.“
„Ich kann dich verstehen, Diana“, sagte Marilyn leise. „Es muß ein Schock für
dich gewesen sein. Soll ich dir jetzt alles erzählen?“
Diana sah ihre Mutter fest an. „Du brauchst mir gar nichts zu erzählen. Jeff sagte
gestern etwas sehr Vernünftiges darüber, daß du mich in ein Heim hättest geben
können…“
„Aber ich wollte dich doch bei mir behalten!“ rief Marilyn. „Sobald man dich mir
in die Arme legte, liebte ich dich, Diana. Auch vorher war mir nie der Gedanke
gekommen, dich nach der Geburt zur Adoption freizugeben.“
Diana lächelte. „Deshalb hast du dann geheiratet, nicht wahr? Es war das einzig
Mögliche. Denn es sieht doch aus, als ob Vati… Joe?“
„Vati!“ warf Marilyn mit Nachdruck ein.
„Nun, daß Vati genau Bescheid wußte.“
„Er wußte von Anfang an die ganze Wahrheit. Ich habe ihm nie eine Lüge erzählt.
Joe brauchte jemanden, der sich um ihn kümmerte, und so schlossen wir einen
Pakt. Er bekam eine Hausfrau ich einen Ehemann… dem Namen nach.“
„Ich begreife.“ Diana nickte. „Warum hast du es mir nie erzählt?“
„Ich war zu feige. Ich neige dazu, Entscheidungen auszuweichen.“
Diana streichelte ihre Hand. „So wie jetzt, zum Beispiel.“
„Was meinst du?“
„ Dich und Nicholas Vitale. Will er dich wirklich heiraten, Mutti?“
Marilyn zögerte. „Ja“, gab sie dann zu. „Auch wenn du's nicht glaubst.“
„Ach, ich war einfach zu dickköpfig, das einzusehen. Und vor allem zu egoistisch.
Du hast immer nur für mich gelebt, und deshalb wollte ich dich jetzt nicht
hergeben. So war das. Als Vati starb, klammerte ich mich an dich. Hätte ich
gewußt, daß er nicht mein leiblicher Vater war, wäre ich vielleicht selbständiger
geworden. Seit gestern habe ich viel Zeit gehabt, über alles nachzudenken.“
Marilyn blickte ihre Tochter liebevoll an. „Für jemand, der erst gestern im Regen
an einem Busch im Steinbruch hing, redest du zuviel.“ Sie erhob sich. ' „Bitte,
geh nicht“, bat Diana. „Es geht mir doch gut.“
„Ich weiß nicht…“
„Es gibt nur wenige Männer, die mich gerettet hätten, nachdem ich mich ihnen
gegenüber derart unmöglich benommen habe. Ich glaube, daß ich deinen Mr.
Vitale liebgewinnen werde, Mutti. Aber wird er mich mögen? Und Maria? Ich war
gemein zu ihnen.“
Marilyn war überwältigt von der Einsicht ihrer Tochter. Es schien, als sei sie in
diesen Wochen reifer geworden. Oder erst in dieser Nacht?
„Beide werden bereit sein, mit dir Freundschaft zu schließen, Diana“, sagte sie.
„Sie sind sehr großzügig.“
„Ja, nicht wahr?“ Diana seufzte. „Ich werde mir viel Mühe geben müssen, Mutti.
Aber ich verspreche dir, ich will es.“
In diesem Augenblick erschien die Oberschwester an der Tür. „Sie müssen jetzt
gehen, Mrs. Scott, Diana bekommt ein Beruhigungsmittel. Sie können sie am
Nachmittag wieder besuchen.“
„Gut, dann komme ich wieder.“ Marilyn beugte sich über Diana und küßte sie
zärtlich auf beide Wangen. „Bis nachher, mein Kind.“
Als sie den Korridor entlangging, war ihr, als schwebe sie auf Wolken. Sie konnte
es kaum fassen. Was würde Nicholas sagen? Sie kannte die Antwort. Er wäre
ebenso erfreut wie sie, daß ihr gemeinsamer Lebensweg nun durch keinerlei
Hindernisse mehr versperrt war.
Zwei Monate danach lag die Jacht „Maria Christina“ in der Bucht von Monte Carlo
vor Anker. Sie schimmerte in der Sonne und spiegelte sich im blauen Wasser.
Marilyn lag entspannt auf ihrer Luftmatratze, nur mit dem winzigsten Bikini
bekleidet. Ihr Körper war gleichmäßig sonnengebräunt, ihr Haar heller als früher.
Sekunden später wurde die eisigkalte Unterseite eines Glases auf ihren Rücken
gestellt. Sie fuhr auf und starrte Nicholas vorwurfsvoll an. Auch er war
braungebrannt. In seiner langen weißen Hose wirkte er riesig, wie er so vor ihr
gegen den Himmel stand.
Er lächelte auf sie herab und reichte ihr das Glas mit dem eisgekühlten Drink.
Dann setzte er sich neben sie, ebenfalls ein Glas in der Hand.
„Danke“, sagte Marilyn lächelnd. „Aber das war eine Gemeinheit, Nick! Das Glas
war so kalt wie Eis.“
Nicholas lachte. „Der schnellste Weg, dich aufzuschrecken. Du machtest einen
gar zu stillzufriedenen Eindruck, wie du so dalagst.“
Marilyn schnurrte behaglich. „Ich bin zufrieden, Nick. In meinem ganzen Leben
war ich noch nie so glücklich!“
Zärtlichkeit war in Nicholas' Augen. „Ich auch nicht.“ Er küßte ihre nackte
Schulter.
Marilyn blickte zum Ufer hinüber. Der leichte Wind spielte mit ihrem Haar.
„Schade…“ murmelte sie, „morgen müssen wir dieses Paradies verlassen.“
Nicholas leerte sein Glas und ließ sich auf die Luftmatratze zurücksinken. „Mit dir,
Liebste, werde ich jedes Fleckchen Erde als Paradies empfinden.“
Sie beugte sich über ihn. „Das war ein hübsches Kompliment.“
„Etwas blumenreich, vielleicht. Aber es verrät, wie mir zumute ist. Stell dein Glas
hin und komm dicht zu mir.“
Marilyn schmiegte sich an ihn und streichelte ihn zärtlich. „Wie mögen sich wohl
die beiden Mädchen vertragen?“ sann sie. Nach der Hochzeit vor sechs Wochen,
waren Diana und Maria zusammen nach Vilentia zu Nicholas' Mutter geflogen. Sie
und Nicholas hatten eine himmlische Woche in Paris verbracht und waren dann in
Neapel an Bord der Jacht gegangen.
„Ich bin überzeugt, wir werden an Diana eine große Veränderung feststellen“,
antwortete er träge. „Maria versteht sich aufs Reformieren, sie ist darin wie ihre
Großmutter. Zwischen den beiden wird Diana auch ihre restlichen Komplexe
verloren haben. Außerdem gibt es eine Menge gutaussehender junger Männer in
Vilentia, für die englische Mädchen stets etwas Reizvolles sind.“ Er strich
beruhigend über Marilyns Stirn. „Keine Sorge, Mama ist sehr streng. Italienische
Großmütter sind etwas ganz Besonderes, weißt du?“
Marilyn lächelte. „Ich muß gestehen, daß sie ziemlich einschüchternd wirkt.“
Nicholas zog sie eng an sich. „Keine Angst, du wirst es schon schaffen.“ Er küßte
sie. „Morgen fliegen wir nach Rom und fahren von dort nach Vilentia weiter. Am
Wochenende geht es nach Rom zurück, und ich zeige dir mein Haus. Freust du
dich darauf?“
Marilyn sah ihm nahe ins Gesicht. „Das weißt du doch. Unser Heim. Es klingt
schön!“
„Eine ganze Zeitlang werden wir allein darin wohnen“, versprach er. „Meine
Mutter hat sich bereit erklärt, die beiden Mädchen in Vilentia zu behalten, sie
versteht, daß wir allein sein müssen. Nur wir beide – eine neue Familie.“
„Es wird wundervoll sein!“ sagte Marilyn verträumt.
Sie legte den Köpf auf seine Brust und sah in den blauen Himmel hinauf. Keine
einzige Wolke war zu sehen. Wolkenlos sollte auch der Horizont ihres künftigen
Lebens sein.